Heroes - Repräsentationen des Heroischen in Geschichte, Literatur und Alltag 9783839441152

"Heroes" are everywhere: in politics, history and everyday life, in texts and images. This multidisciplinary v

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Heroes - Repräsentationen des Heroischen in Geschichte, Literatur und Alltag
 9783839441152

Table of contents :
Inhalt
Zur Einführung
Helden 2.0
Zur Genese der Gewalt der Helden
Die Sakralisierung des Individuums
Kriegsheld_innen
Fotogene Heldinnen
Das fragile Geschlecht der Kriegsheldin
»Jüdische Kriegshelden« im Ersten Weltkrieg
Zwischen Abwehr und Reifizierung
Remember Vukovar
Figuren des politischen Widerstands im 20. Jahrhundert
The making of national heroes in contemporary Croatia
Helden, Widerstand und Alltag
Von Dissidenten und Deserteuren an der ethnischen Front
Dietrich Bonhoeffer (1906–1945)
Historische Figuren: Die Geschichte der Gegenwart
Tells Sprung
Stefan Fadinger
»So wahr i dá Huatárá z’Ágáthá bin«
Der frühmittelalterliche König – ein Held?
Bohemund von Tarent
Intersektionale Figurenanalysen in Literatur und Film
Heroik und ihre Subversion
Nikos Kazantzakis und seine Helden
Heroes
Open End
Graf Dracula – Ein Held?
»So würde ich gerne sein, darf es aber nicht«
(Super-)Held_innen für Kinder
Alltagsheld_innen als Wegzeiger der Veränderung
Eine Sehnsucht nach Freiheit
Life begins at the end of your comfort zone
»They should have been famous!«
Wirkungsmacht per Tastendruck
Autorinnen und Autoren

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Johanna Rolshoven, Toni Janosch Krause, Justin Winkler (Hg.) Heroes – Repräsentationen des Heroischen in Geschichte, Literatur und Alltag

Edition Kulturwissenschaft  | Band 156

Johanna Rolshoven, Toni Janosch Krause, Justin Winkler (Hg.)

Heroes – Repräsentationen des Heroischen in Geschichte, Literatur und Alltag

Gefördert von der Karl Franzens Universität Graz

© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Johanna Rolshoven, Toni J. Krause, Justin Winkler Satz: Toni J. Krause Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4115-8 PDF-ISBN 978-3-8394-4115-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Z UR E INFÜHRUNG Helden 2.0 Zur Einleitung

Johanna Rolshoven | 11 Zur Genese der Gewalt der Helden Gedanken zur Wirksamkeit der symbolischen Geschlechterkonstruktion

Elisabeth Katschnig-Fasch | 21 Die Sakralisierung des Individuums Eine religions- und herrschaftssoziologische Konzeptionalisierung der Sozialfigur des Helden

Stephan Moebius | 41

K RIEGSHELD _ INNEN Fotogene Heldinnen Die »Milicianas« in der spanischen Revolution 1936 und ihr mediales Nachleben

Karl Braun | 69 Das fragile Geschlecht der Kriegsheldin Diskursivierungen weiblicher Heilungs- und Verletzungsmacht im Ersten Weltkrieg

Heidrun Zettelbauer | 91 »Jüdische Kriegshelden« im Ersten Weltkrieg

Gerald Lamprecht | 127

Zwischen Abwehr und Reifizierung (Post-)heroische (Selbst-)Zuschreibungen von Bundeswehr-Soldatinnen und Soldaten

Marion Näser-Lather | 147 Remember Vukovar Emplacing war-time memories, constructing a hero-city in present-day Croatia

Sanja Potkonjak and Nevena Škrbić Alempijević | 171

F IGUREN DES POLITISCHEN IM 20. J AHRHUNDERT

W IDERSTANDS

The making of national heroes in contemporary Croatia Remembering Franjo Tuđman

Kristina Vugdelija | 193 Helden, Widerstand und Alltag Die französische Résistance im Zweiten Weltkrieg

Johanna Rolshoven und Justin Winkler | 219 Von Dissidenten und Deserteuren an der ethnischen Front Norbert Conrad Kaser und Alexander Langer als zeitgemäße Helden?

Ingo Schneider | 247 Dietrich Bonhoeffer (1906-1945) Widerstandskämpfer, Märtyrer, Vorbild, Held?

Christin U. Schmitz | 269

H ISTORISCHE F IGUREN : D IE G ESCHICHTE DER G EGENWART Tells Sprung Zur ironischen Demontage alpinen Heldentums

Martin Scharfe | 295 Stefan Fadinger Repräsentationen zwischen Historie und Fiktion

Lisa Erlenbusch | 317

»So wahr i dá Huatárá z’Ágáthá bin« Die Figur Fadingers in »Der oberösterreichische Bauernkriag« von Norbert Hanrieder

Christian Neuhuber | 341 Der frühmittelalterliche König – ein Held? Die Konstruktion von Männlichkeit bei Widukind von Corvey

Käthe Sonnleitner | 359 Bohemund von Tarent Idealbild eines Kreuzzugshelden

Ingrid Schlegl | 383

I NTERSEKTIONALE F IGURENANALYSEN UND F ILM

IN

L ITERATUR

Heroik und ihre Subversion Entwicklungslinien des Antiheroischen in der bosnische n, kroatischen, montenegrinischen und serbischen Literatur

Renate Hansen-Kokoruš und Dijana Simić | 407 Nikos Kazantzakis und seine Helden

Basilius J. Groen | 425 Heroes Der Westernheld und seine (Re-)Inkarnationen

Klaus Rieser | 443 Open End Vampirinnen als alternative Heldinnen und der Aufbruch tradierter Geschlechterrollen in »Let the right one in« und »A girl walks home alone at night«

Theresia Heimerl | 457 Graf Dracula – Ein Held? Die Repräsentation des vermeintlich Bösen in John Badhams »Dracula«

Karin Graf-Boyko | 473

»So würde ich gerne sein, darf es aber nicht« Repräsentationen von Heldinnen und Helden für Kinder

Anna-Kathrin Bartl | 497 (Super-)Held _ innen für Kinder Umstrittene Heldenfiguren zwischen Realität und Fiktion

Johanna Nußbaumer | 513

ALLTAGSHELD _ INNEN DER V ERÄNDERUNG

ALS

W EGZEIGER

Eine Sehnsucht nach Freiheit Autoethnographische Zugänge zur Repräsentation von Männlichkeit bei Harley-Davidson-Fahrern

Michael Bittner | 531 Life begins at the end of your comfort zone Alltagsoptimierung als heldenhafte Grenzüberschreitung

Barbara Frischling | 553 »They should have been famous!« From historical hero to herstorical heroine

Jeffrey D. Wilhelm | 567 Wirkungsmacht per Tastendruck Mannwerdung im digitalen Spiel

Harald Koberg | 581 Autorinnen und Autoren | 599

Zur Einführung

Helden 2.0 Zur Einleitung J OHANNA R OLSHOVEN »Wir glauben nicht, daß die Helden, die wir aus der Geschichte oder der Literatur kennen, ob sie nun die Liebe, die Einsamkeit, die Angst vor dem Sein oder Nichtsein, die Rache aus sich herausgeschrien oder sich gegen Ungerechtigkeit oder Demütigung erhoben haben, sich jemals dazu veranlaßt sahen, als einzigen und letzten Anspruch ein starkes Gefühl der Zugehörigkeit zur Gattung Mensch zum Ausdruck bringen.« ROBERT ANTHELME1

Heldenfiguren als Motive oder reale Personen durchziehen die ›Landschaft‹ der Kultur. Ihre Evidenz, ihre prägnante sowohl mediale und diskursive als auch historische Präsenz und ihre spezifische Eignung als Vorbilder verleiten zu der Annahme, eine Gesellschaft brauche Helden. Heldinnen und Helden scheinen uns das Handeln abnehmen zu wollen, selbst etwas in die Hand zu nehmen und Richtungen aufzuzeigen, die einzuschlagen wir selbst entweder nicht den Mut oder keine Möglichkeit haben. Sie entlasten das Individuum möglicherweise überhaupt vom aktiven politischen Handeln. Diese Dimensionen des Übernehmens und Abnehmens verleihen ihrer Glorifizierung die Zugkraft, die von Herrschaftsinteressen politisch genutzt wird. Das Mindeste, was Kulturwissenschaft heute leisten kann, ist, hier zu differenzieren: nach Zeit und Raum, nach Genre und Wirklichkeitsausschnitt, nach 1

Anthelme, Robert (2001 [1957]): Das Menschengeschlecht. Frankfurt am Main, S. 10.

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Geschlecht und Schicht, nach ideologischer Funktionalität und Alltagswirksamkeit. Dies ist das Anliegen des vorliegenden Bandes. Es erweist sich, dass das breite Spektrum der Heroisierung theoretisch kaum in ein einziges kohärentes Erklärungsmodell gefasst werden kann. Dem trägt die Unterteilung des Buches in sechs thematische Blöcke Rechnung, deren Inhalte am Ende dieser Einführung zusammengefasst werden.

W AS IST H ELDENTUM ? W ER KANN H ELDIN ODER H ELD WERDEN ? Heldentum ist der Bruch mit der Gegenwart: Politisch motivierte Menschen gelangen zu geschichtlicher, heroischer, bisweilen transnationaler Vorbildhaftigkeit: Mohamed Bouazizi etwa, der Gemüsehändler aus Tunis, der sich am 17. Dezember 2010 selbst verbrannte und damit den Tunesischen Frühling entfachte.2 38 Jahre vor ihm, am 15. Mai 1972, hat Romas Kalanta in Kaunas mit seiner Selbstverbrennung eine nationale Widerstands- und Befreiungsbewegung ausgelöst; wie vor ihm Jan Palach am 16. Januar 1969 in Prag und Ryszard Siwiec am 8. September 1968 in Warschau. Sie haben sich als einzelne Männer in der Selbstopferung erkennbar gemacht und die Revolte ausgelöst. Ein anderer Heldentypus dagegen, der Partisan, ist nicht Auslöser der Revolte, sondern verkörpert diese selbst, an deren Ursprung sowohl die Wiederherstellung alter Ordnung als auch das Aufwerfen des Neuen stehen: »La résistance est la résultante d’une dynamique de l’action qui combine conservation et rupture.« [»Der Widerstand ist das Ergebnis einer Dynamik des Handelns, die die Bewahrung und den Bruch vereint.«]3 Partisanengruppen wie die französische Résistance oder die jugoslawischen Partisan_innen im Zweiten Weltkrieg begründeten mit ihren Taten den politischen Gründungsmythos der erfolgreichen politischen Nachkriegssysteme. Die vielen Opfer in den eigenen und in den feindlichen Reihen erfahren ex post eine den Sieg legitimierende Sakralisierung, die den Opfern des Unrechtsregimes in anderen Fällen versagt wird. Diese Ambivalenz ist dem Helden stets eingeschrieben. Ein aktuelles Beispiel ist die jüngste politische Heroisierung litauischer Freiheitskämpfer, der sogenannten Aktivistenfront LAF, die in den 1940er

2

Vgl. Merk, Roland: Wege zur Transkulturalität oder von der Philosophie eines Zusammenlebens in Würde, in: Kuckuck. Notizen zur Alltagskultur 1: Arabesken, 2017 S. 18-24, hier S. 19.

3

Semelin, Jacques: Qu’est-ce que »résister«?, Esprit 1 1994, S. 50-63, hier S. 60.

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Jahren mit der Gestapo des Hitlerregimes kollaborierte und nach dem Rückzug der sowjetischen Armee, noch vor Eintreffen der deutschen Truppen, massenhaft und auf grausamste Weise in Kaunas Juden und Jüdinnen ermordete. 4 Heldentum ist zweifelhaft und umstritten: Das Gute und das Böse, das Ethische und Unethische, Gewalt und Humanität, Gerechtigkeit und Unrecht laufen in den Gestalten des Heroischen, die sich eine Gesellschaft, eine gesellschaftliche Gruppe schmiedet, zusammen. Nicht nur Untugenden einer politisch korrekten Gesellschaft werden im Heldentum weißgewaschen, sondern eigentliche Verbrechen an der Menschlichkeit, von Vergewaltigung zu Totschlag und Massenmord in einem Ausmaß, dass man sich wundert, dass eine Umwertung überhaupt gelingen kann. Die Herstellung des Helden ist letztlich ein krimineller Akt und die bürgerliche nationalstaatliche Ordnung legitimiert ihn über das Kriegsrecht. Heldentum ist männlich: Und sofort stellt sich die Frage, ob Frauen an sich Heldinnen sein können, oder ob sie es nur auch sind? Männer und Frauen unterscheiden sich deutlich in der Repräsentanz, in der Performativität und in der gesellschaftlichen Wahrnehmung des Heroischen. Der Begriff der »Heldin« unterwandert das Problem der Asymmetrie der Geschlechterrollen im Heroischen und entzieht sich der geschlechtergerechten Sprachform.5 Damit zwingt er uns zu einem theoretischen Durchdenken, Judith Butler folgend, die Geschlecht als einen Akt der kulturellen Hervorbringung und Bestätigung definiert hat.6 Die Kulturgeschichte ebenso wie die Repräsentationen des Heroischen in der Gegenwartsgesellschaft offenbaren als Vordergründigstes den engen Zusammenhang von Männlichkeit und Heldentum. Heldentum ist männlich, die Frau »ein Individuum ohne Signifikanz«7. Sie entsendet ihn, sie akklamiert ihm, sie 4

Vgl. u.a. Katz, Dovid: Lithuanian Ministry of Defense honors ›Lithuanian Activist Front‹ (LAF) Nazi Collaborators, in: Defending History IX (3079) 2018: http://defend inghistory.com/lithuanian-ministry-of-defense-honors-lithuanian-activist-front-laf-naz i-collaborators-no-mention-of-participation-in-onset-of-the-lithuanian-holocaust/2711 4 vom 12.12.2017.

5

Wir sind uns bewusst, dass die korrekte Schreibweise Held_inn_en wäre. Da die gendergerechte Schreibweise nur einem totalen bürokratischen System »korrekt« werden kann, nehmen wir in dieser einem unbürokratischen Kulturbegriff verpflichteten Publikation diese Unschärfe in Kauf.

6

Butler, Judith: Körper von Gewicht: die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Aus

7

Vgl. Weidinger, Martin: Nationale Mythen – männliche Helden. Politik und Ge-

dem Amerikanischen von Karin Wördemann, Berlin: Berlin-Verlag 1995. schlecht im amerikanischen Western, Frankfurt am Main/New York: Campus-Verlag 2006, S. 106.

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beschützt und tröstet ihn und beklagt ihn schließlich 8; dadurch macht sie den Mann zum Helden. Männlichkeit hat »einen ungewissen und mehrdeutigen Status« und die männliche Identität ist ein schwieriger Lernprozess, ein gleichsam »kinetischer Prozess« des Durchlaufens von Kampf, Demütigung und »schmerzhafter Initiation«.9 Vor dem Hintergrund ethnologischer Studien argumentiert der Literaturwissenschaftler Stefan Horlacher, dass Gesellschaften zu allen Zeiten Männlichkeit als »soziale Barriere« angesehen hätten, die sie »gegen inneren Verfall, menschliche Feinde, Naturkräfte, gegen die Zeit und alle menschlichen Schwächen, die das Leben der Gruppe gefährden, errichtet« haben.10 Ihr – im Ergebnis – hegemonialer Status mache Männlichkeit zu einer Leistungskategorie, während Frausein und Weiblichkeit, so die psychoanalytisch unterfütterte Deutung, von Natur aus qua Geburt bereits gegeben schienen und nicht der handelnden Affirmation bedürften.11 Demnach werde Maskulinität zu einer relativen »Position […] innerhalb des symbolischen Feldes sozialer Machtbeziehungen« – das letztlich auch »Natur« definiert und damit Geschlecht als »biologisch« gegebene Kategorie dem Zugriff entzieht. Die Kulturanalyse muss sich solcher Determinierung enthalten, da sie den Geschlechterunterschied nicht als Essenz, sondern dezidiert ›nur‹ als sich zueinander verhaltende Relation verstehen kann, als sozial ungleich codierte Differenz und als Produkt einer symbolischen Ordnung.12 Der Held trägt Waffen: Zentrales Moment des Heroischen und damit der Konstruktion von Maskulinität ist die Gewalt des Helden, die Elisabeth Katschnig-Fasch vor dem Hintergrund der Ereignisse während der Jugoslawienkriege in den 1990er Jahren beschreibt. Die Legitimierung von Gewalt ist kulturell und zeitlich gebunden. In Kriegszeiten legitimiert sie das Kriegsrecht, während sie in Friedenszeiten »pathologisiert und rationalisiert« wird, damit – so Jörg Bar-

8

Anne Erikson unterstreicht diese traditional-relationale Rolle der Frau, die nur als Jungfrau, Mutter, oder Märtyrerin Heldin sein kann. Vgl. dies.: Être ou agir ou le dilemme de l’héroïne, in: Pierre Centlivres/Daniel Fabre/Françoise Zonabend (éds.), La fabrique des héros. Paris: Éditions de la Maison des Sciences de l’Homme 1999, S. 149-164, hier S. 152.

9

Vgl. Horlacher, Stefan: Überlegungen zur theoretischen Konzeption männlicher Identität aus kulturwissenschaftlicher Perspektive, in: Martina Läubli/Sabrina Sahli (Hg.), Männlichkeiten denken. Aktuelle Perspektiven der kulturwissenschaftlichen masculinity Studies, Bielefeld: transcript 2011, S. 19-82; hier S. 19-22 und S. 59.

10 Ebd., S. 33. 11 Vgl. ebd., S. 32. 12 Vgl. ebd., S. 68f., S. 76f.

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berowski – ihre »Alltagsnormalität nicht ständig irritiere«.13 Die Waffe als »unverzichtbarer Ausdruck der Männlichkeit des Helden«, steht für die Effizienz der Konfliktbewältigung.14 Sie sichert die Performanz des Helden als »Figuration männlicher Herrschaft und Ordnung«15. Diese Figur des kämpfenden Mannes als potenzieller Held scheint in der westlichen Gesellschaft an Aktualität eingebüßt zu haben. De jure gewährt diese Gesellschaft die gesetzliche Gleichberechtigung der Geschlechter; sie repräsentiert eine in Frieden lebende demokratische, sich demilitarisierende Gesellschaft, in der Militärdienst für junge Männer und bisweilen auch Frauen freiwillig geworden ist. Individueller Waffenbesitz ist hier streng reglementiert und ein ziviler bewaffneter Kämpfer erscheint wie ein historisches Relikt oder rückschrittliches Modell, das nur in den USA, auf fernen Kontinenten und in unüberblickbaren Kriegsgebieten aufscheint. In Friedenszeiten scheinbar funktionslos, tritt die Waffe als Accessoire harmloser Freizeittätigkeiten wie Sportschießen oder Jägerei in Erscheinung oder – wie im Fall der sogenannten schlagenden Verbindungen politischer Männerkorporationen, die sich mit Fechtdegen schmücken und artikulieren – als Symbolding archaisch sein wollender Männlichkeitsrituale.16 Diese kulturelle Repräsentation der sich denationalisierenden »Friedenslandschaft Europa« hat auf ihrer Unterseite des Realen eine florierende Waffenproduktionswirtschaft mit einem beeindruckenden Kontingent von legal, halblegal und illegal zirkulierenden Feuerwaffen, Munition und Kriegsgeschütz. Es ist nicht ein unrealistisches kritisches Gedankenexperiment, sondern ein in aufgeklärter Kenntnis der Zivilisations- und Mentalitätsgeschichte nicht nur Europas gezogener Schluss, dass wir damit rechnen müssen, dass der bewaffnete Mann, der heute als Sportschütze, Jäger, Burschenschaftler, Waffensammler, ExWehrdienstler ein ziviles friedliebendes Mitglied der demokratischen Gesellschaft ist, sich morgen im Falle einer Entwicklung zur Entdemokratisierung oder 13 Vgl. Barberowski, Jörg: Gewalt verstehen, zitiert nach Uta Fenske/Gregor Schuhen: Geschichte(n) von Macht und Ohnmacht. Eine Einleitung, in: Dies. (Hg.), Geschichte(n) von Macht und Ohnmacht. Bielefeld: transcript 2016, S. 7-29, hier S. 8, S. 11. 14 Vgl. Weidinger, Martin: Nationale Mythen – männliche Helden. Politik und Geschlecht im amerikanischen Western. Frankfurt am Main/New York: Campus 2006, S. 100. 15 Vgl. Lücke, Martin: Hegemonie und Hysterie. Perspektiven der Männlichkeitsgeschichte, in: Ders. (Hg.), Helden in der Krise. Didaktische Blicke auf die Geschichte der Männlichkeiten. Berlin: Lit 2013, S. 11-29, hier S. 15. 16 Vgl. die Pionierarbeit von Frevert, Ute: Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft. München: Beck 1991; dies.: A Nation in Barracks: Modern Germany, Military Conscription and Civil Society. Oxford: Berg Publishers 2004.

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Totalitarisierung in einen Soldaten oder Milizionär ›verwandelt‹: ihm sind Gewalt- und Tötungsbereitschaft historisch eingeschrieben und daher real, er ist ein Schläfer und übt sich heute bereits als Amokläufer. Konnte der Westen Europas das grausame Tötungsgeschehen in den Regionen Südosteuropas der 1990er Jahre noch einer spezifisch-archaisch veranlagten Kultur des »Balkans« zuschreiben und sich davon unbetroffen fühlen, so ist dies in der Gegenwart der dschihadistischen Angriffe auf den Westen, bei gleichzeitiger Rekrutierung junger Männer und Frauen aus eben diesem Westen, nicht mehr möglich. Seit dem Ausruf des Heiligen Krieges schneit der bewaffnete Kampf erneut ins europäische Haus, und mit ihm bekommt das Bild des kämpfenden Helden, zuvorderst des Selbstmordattentäters, mediale und repräsentative Aktualität.17 Wenn aber Guerilleras in diese Kriege ziehen oder Soldatinnen ihre Nationen verteidigen, wird ihr Heldinnenstatus neben und nicht auf die Sockel zu stehen kommen. Das muss nichts Schlechtes bedeuten, sondern steht schlicht für die Verteilung von Macht und Repräsentanz in der Gesellschaft. Nur vor dem kulturellen Hintergrund der Frau als Nichtheldin kann der Mann Held sein. Heroen als Idealbilder des Wünschenswerten ebenso wie des Abschreckenden sind grundlegend vergeschlechtlicht. Die Heldinnen-Bilder der griechischen Mythologie sind weitaus älter als die männlichen Heldenbilder; sie wurden gründlich verdrängt. Robert von Ranke-Graves spricht von einem matriarchalischen Götterhimmel bis zum zweiten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung, der allmählich von einem patriarchalischen Götterhimmel abgelöst wurde.18

D IE HISTORISCHE T IEFENSTRUKTUR DES H ELDEN Die Heroen der Antike prägen die Gegenwartsgesellschaft seit sie im Laufe der Formierung der Nationalstaaten für die bürgerlichen Gesellschaften Mitteleuropas wichtige Sozialisationsfiguren wurden. In Familie und Schule orientierte man sich an der römischen und griechischen Mythologie, die von Halbgöttern und -göttinnen als Akteurinnen der Gründungsmythen bevölkert waren und – in den Bereichen Krieg, Familie, Politik – Vorbilder für die Staatsführung ebenso

17 Siehe Rolshoven, Johanna: Kultur, ein Theater der Komplikationen. Unfertige Gedanken zum Selbstmordattentat, Philipps-Universität Marburg, Online-Schriften aus der Marburger kulturwissenschaftlichen Forschung und Europäischen Ethnologie (Band 7) 2016; https://archiv.ub.uni-marburg.de/es/2016/0009/. 18 Ranke-Graves, Robert von: Griechische Mythologie. Quellen und Deutung, Hamburg: Rowohlt 1960.

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wie für die individuelle Handlungsethik darstellten. Die Wirkmächtigkeit der Heroen der klassischen Mythologie hat Roland Barthes zu seinem erweiterten Begriff des Mythos inspiriert. Er nimmt das mythische Narrativ nicht nur als Ursprungserzählung, sondern auch als Verweis auf »unbewusste und kollektive Bedeutungen« in der Gegenwart, die wiederum auf Machtkonstellationen beruhen. Seine »Semiologie« ist heute zur Grundlage der anthropologischen kritischen Theorie geworden, für die Zeichensysteme auf ideologische und hegemoniale gesellschaftliche Bedeutungen verweisen. Die antiken Heroen repräsentieren Idealvorstellungen, in denen nicht nur positive Erhabenheit, sondern auch Grausamkeit zum Ausdruck kommen. Als herrschende Repräsentationen zeichnen sie Bilder von Männlichkeit in Narrativen: Erzählungen, Epen und anderen Genres, als gemalte Bilder, in Stein gehauen... So markieren die tiefen heroischen Zeiten auf der Höhe der Gegenwart ihre Präsenz: Eingeschrieben in die Städte als Erinnerungslandschaften 19, auf deren Sockeln Könige, Ritter, Fürsten, Generäle, Kirchenmänner wie Päpste, Bischöfe, zivile Staatsmänner, anonyme Kämpfer und Soldaten, aber auch Gelehrte, Literaten, Künstler, Kapitäne, Löwen und andere Symbole der Machtrepräsentanz, des Exemplarischen, von Kampfbereitschaft, Heldentum, Ehre, Gottesfurcht postiert sind.

Z U DEN B EITRÄGEN DES VORLIEGENDEN B ANDES Der erste Teil des Buches behandelt den männlichen Helden in zwei gegensätzlichen Ausprägungen: Männlichkeit und Sakralität, Gewalttätigkeit und olympischer Geist laufen in der Figur des Helden in widersprüchlicher Weise zusammen. Der erste Beitrag ist der Wiederabdruck eines Textes der 2012 verstorbenen Kulturanthropologin Elisabeth Katschnig-Fasch. Er in der Zeit der Jugoslawienkriege verfasst und ist eine Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang Nationalstaat, Heldentum und männlicher Gewalt. »Krieg ist männlich« ruft die Autorin, und mahnt, auch die Vorstufen zum Krieg mit Wachheit zu sehen und zu benennen. Stephan Moebius betrachtet in der Durkheim-Nachfolge die Heldenwerdung beziehungsweise das Heldenmachen als Prozess der Sakralisierung. Überhöhung und Überlegenheit der Heldengestalt haben ihm zufolge die gesell-

19 Siehe Hénaff, Marcel: Toward the Global City: Monument, Machine, and Network, »Imagining Citizenship«, Journal of the Institute for the Humanities at Simon Fraser University, «Citizenship and the City«, October 2006: http://journals.sfu.ca/humanitas /index.php/humanities/article/view/4/6 vom 20.2.2018.

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schaftliche Funktion des Stiftens von Zusammenhalt und Unterschied. Notwendigerweise ist die positive oder negative Konnotation des Helden von der gesellschaftlichen Position abhängig. Der zweite Teil des Buches gilt biografisch fassbaren Figuren des politischen Widerstands im 20. Jahrhundert. Kristina Vugdelija beobachtet die nationale Verehrung des ersten kroatischen Präsidenten Franjo Tuđman am Beispiel seiner Heldenstatuen, ihrer Inszenierung und Mediatisierung. Johanna Rolshoven und Justin Winkler behandeln das Konzept des Heldischen in der französischen Zelebration des Widerstands gegen die deutsche Besetzung Frankreichs durch Hilterdeutschland im Zweiten Weltkrieg. Das Augenmerk liegt auf der Entstehung des Widerstands aus dem Alltag eines besetzten Landes heraus und im Besonderen dabei der Rolle der Frauen. Ingo Schneider wirft einen Blick auf die jüngere Geschichte Südtirols, namentlich die zwei wider Willen zu Helden mutierten intellektuellen Dissidenten Norbert C. Kaser und Alexander Langer. Christin U. Schmitz befragt die Heldenhaftigkeit des Kirchenmannes und Widerstandkämpfers Dietrich Bonhoeffer, und analysiert empathisch und engagiert die Vorbildrolle eines aktualisierten, gelebten Christentums. Im dritten Teil des Buches geht es um Kriegsheldinnen und -helden, in den ersten beiden Beiträgen ausdrücklich um Frauen: Karl Braun zeigt, wie die zahlenmäßig unbedeutenden milicianas im Spanischen Bürgerkrieg eine ikonische Bedeutung erlangen konnten, die ein Gegengewicht zu dem männlich dominierten Kriegsgeschehen bildete. Heidrun Zettelbauer zeigt am Beispiel der Heimatfront des Ersten Weltkriegs die Heldinnenkarrieren von Frauen in dem Zusammenhang der Kriegsführung. Im Spiel zwischen (physischer) Verletzung und Heilung wurden Frauen in den Rollen der Heilenden illuminiert, um nach dem Krieg wieder unmittelbar in die Vergessenheit entlassen zu werden. Gerald Lamprecht beschreibt die bürgerlichen Integrationsbemühungen der österreichischen Juden in und durch die Teilnahme am Ersten Weltkrieg. Marion Näser-Lather untersucht den Umgang mit dem Heldenbegriff in der gegenwärtigen deutschen Bundeswehr im kriegsprofessionellen Kontext und zugleich mit den Risiken der Produktion von ›internen‹ heldischen Distinktionen. Sanja Potkonjak und Nevena Škrbić Alempijević analysieren kollektives Heldentum am Beispiel des bosnischen Vukovar, das 1991 von der serbisch-jugoslawischen Armee erobert wurde. Eine ganze Stadt wurde in den Heldenstatus erhoben, der durch Orte und Rituale in der Erinnerung wachgehalten wird. Historische Heldenfiguren sind Thema des vierten Themenblocks. Sie wurden zum Teil – dies auch im fünften Themenblock – durch wissenschaftliche Tandems erarbeitet, das heißt sie sind im Austausch zwischen je einer etablierten Wissenschaftlerin oder einem Wissenschaftler und einer Nachwuchsforscherin,

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einem Nachwuchsforscher entstanden. Die historischen Figuren alimentieren die Geschichte der Gegenwart. Martin Scharfe zeigt den alpinen Helden Wilhelm Tell in ironischer Position und damit dessen Unterkonstruktion: den bis zur eigenen Parodie kulturell durchkonstruierten Helden, der die Herrschaft des Scheines entlarvt. Lisa Erlenbusch und Christian Neuhuber behandeln die historische, oberösterreichische Heldengestalt Stefan Fadingers, dessen belegbare geschichtliche Biografie und volksliterarisch aufgefrischte Präsenz in der Region seines Wirkens. Judith Schlegel und Käthe Sonnleitner befassen sich mit dem Heldenbild der feudalen Oberschicht des frühen Mittelalters. Sie zeigen die Bedeutung der Erzählung der vitae heldischer Könige, der Bestätigung ihrer heldischen Rolle und der Lösung des Widerspruchs zwischen christlicher Friedfertigkeit und kriegerischer Aggressivität sowie von religiöser und weltlicher Reputation. Der fünfte Teil des Buches gilt ausgewählten intersektionalen Figuren des Heldischen in Film und Literatur. Renate Hansen-Kokoruš und Dijana Simić vermitteln die Darstellung des Kriegsalltags und seiner psychologischen Folgen in der bosnischen, kroatischen, montenegrinischen und serbischen Literatur. Sie stellen fest, dass die aus dem Kontext der Weltkriege bekannten Strategien von Texten zu Krieg und Frieden die überhöhte Vorstellung von Kriegsheldentum demaskieren. Theresia Heimerl und Karin Graf-Boyko loten das Bild der Vampire und der literarischen Gestalt von Dracula als Helden des Dunkels aus. AnnaKatrin Bartl und Johanna Nußbaumer sehen in Kinderheldengestalten und den sogenannten »Superhelden« das Potenzial von Widerstand gegen Erwachsenennormen neben kommerzieller Massenproduktion. Basilius J. Groen porträtiert den »Gipfelstürmer«, den kretischen Autoren Nikos Kazantzakis, mit seiner hohen, schwer einlösbaren Ethik und Asketik in der Spannung zum tatsächlichen Leben. Klaus Rieser behandelt Rocker, Rider und Westernhelden aus der Erzählung des Films, die eine liminale Männlichkeit und sozial in charakteristischer Weise unvollständige Gestalten zur Schau stellen. Im letzten Teil des Buches werden Anmutungen des Heldischen in zeitgenössisch-alltäglichen Praktiken als Wegzeiger der Veränderung verstanden und analysiert. Michael Bittner erkundet in seinem Road-Narrativ die Phänomenologie der männlichen Selbstüberhöhung mit Motorrädern, namentlich des »einsamen Wolfes«. Barbara Frischling untersucht die Ambivalenz zwischen zeitgenössischer Selbstvermessung und Selbstoptimierung und an die Grenzen des Schmerzes gehender Produktion von individuellem Quasiheldentum. Jeffrey D. Wilhelm horcht verstummten weiblichen Autorinnenstimmen nach. Er liest die »Unterseite« offizieller Heldenerzählungen ab und nähert sich dem Thema mit einem exemplarischen Schreibprojekt methodologisch differenziert. Harald Koberg schließlich begibt sich in die Welt der digitalen Spiele und untersucht in

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den dort zu findenden Routinen der Bestätigung der Männlichkeit und die Verteilung von männlichen und weiblichen Heldenrollen und -gestalten.

Zur Genese der Gewalt der Helden Gedanken zur Wirksamkeit der symbolischen Geschlechterkonstruktion 1 E LISABETH K ATSCHNIG -F ASCH

Angesichts einer Welt, in der sich Gewalt in Form von Kriegen und in Ausländerhass in unerwarteter Heftigkeit entlädt, angesichts einer Situation, in der […] versucht wird, über diese eruptive Gewalt, die Teile Europas heimsucht, nachzudenken, will sich der Zusammenhang von Gewalt und Sexualität als primärer Erklärungsstrang nicht gerade aufdrängen, auch wenn Berichte von Massenvergewaltigungen in Kriegsereignissen nicht unbekannt sind […]. Die sogenannten Balkankriege der 1990er Jahre in Ex-Jugoslawien zeichnete sich durch besondere Grausamkeit der Akteure aus. Menschen wurden hingeschlachtet und vertrieben, zudem Frauen systematisch vergewaltigt, für ihr weiteres Leben entehrt oder getötet. Die Selbstverständlichkeit der Assoziation »Krieg ist Männersache« lässt das Denken an Frauen zunächst auch gar nicht zu. Die enge Verflechtung zwischen männlicher Sexualität und Gewalt ist allerdings nicht nur an diesen Kriegsereignissen unübersehbar. Sie scheint darüber hinaus unserem gesamten kulturellen Gefüge eingeschrieben.

1

Der vorliegende Beitrag der 2012 verstorbenen Grazer Kulturanthropologin Elisabeth Katschnig-Fasch ist ein freundlich genehmigter Wiederabdruck ihres 1993 veröffentlichten Aufsatzes, der zuerst in dem Tagungsband zum 29. Deutschen Volkskundekongress 1993 in Passau zum Thema »Gewalt in der Kultur« erschienen ist: Rolf W. Brednich/Walter Hartinger (Hg.): Gewalt in der Kultur. Bd. 1, Passau 1994: Universität Passau (=Passauer Studien zur Volkskunde) S. 97-117. Mit orthographischen Korrekturen.

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In diesem Beitrag […] möchte ich Fragen nach der Genese der sexuellen Gewalt stellen. Es ist dies im Bewusstsein der Grenzen dieses Ansatzes ein Versuch, Gewalt als Kriterium der kulturellen Konstruktion der Männlichkeit aus der Logik der symbolischen Konstruktion der Geschlechterkultur zu erklären – ohne Anspruch, alle Formen von Gewalt und noch nicht einmal alle Formen männlicher Gewalt gegen Frauen erklären zu wollen. Ich beschränke meine Gedanken auf die Ereignisse der sexuellen Gewalt in kriegerischen Auseinandersetzungen vor dem Hintergrund von Krieg und Eroberung im Allgemeinen und im speziellen am Beispiel des Balkankrieges, wo mir dieser Zusammenhang wieder unübersehbar deutlich erscheint. Es ist immer der Krieg, der Gewalt in den Begriff der Männlichkeit und seine Bedeutung »enkodiert«.2 Der Historiker Thomas Wanger definiert in seiner Arbeit »Männerherrschaft ist Krieg« die sexuelle Gewalt als den Rahmen des männerherrschaftlichen Systems, das durch Gewalt im Allgemeinen gekennzeichnet ist. »Der sexuellen Gewalt folgt die religiöse und die politische Machtergreifung – alle drei haben systembegründende und systemerhaltende Funktion.«3 Außer diesem konstitutiven Zusammenhang auf der Ebene des menschlichen Umgangs verbindet auf der Ebene der Wissenschaftstradition Gewalt und Sexualität zudem, dass beide Themen lange Zeit weitgehend tabuisiert blieben. […] Aber keinem, der über das Wesen der menschlichen Angelegenheiten nachdenkt und sich mit Kultur beschäftigt, dürfte […] die Rolle der Gewalt im Allgemeinen und zwischen den Geschlechtern im Besondern entgehen. Um mit Hannah Arendt4 zu fragen, die als eine der ersten die theoretischen Begründungen von Gewalttätigkeiten analysierte: Hat man Gewalt ausgeblendet, weil man sie im Widerspruch zu kulturellen Quellen und Kräften wähnte? […] Im nie verarbeiteten Trauma unserer Geschichte der industriellen Menschenvernichtung kann und muss vergessen werden. Die Beschäftigung mit dem Thema der Tat und der Täter ist tabuisiert. Anders empfunden und gedacht, bleibt schließlich auch nur die Frage, was es nach Auschwitz überhaupt noch zur Gewalt zu sagen gibt. Man kann sich zwar mit den Opfern beschäftigen, aber man

2

Ehrenreich, Barbara: »Die Gewaltdebatte seit Adam und Eva«, in: Johanna Dohnal (Hg.), Test the West. Geschlechterdemokratie und Gewalt, Wien 1993: Bundesministerin für Frauenangelegenheiten (=Gewalt gegen Frauen 1992-1993), S. 29-42.

3

Wanger, Thomas: »Männerherrschaft ist Krieg. Waffenkult und politischer Frauen-

4

Arendt, Hannah: Macht und Gewalt, Aus dem Englischen von Gisela Uellenberg,

ausschluss«, in: L’Homme: Krieg, 3(1) 1992, S. 45-63. München/Zürich: Piper 1993 [1970], S. 11.

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verletzt eine psychische Grenze des eigenen Selbstverständnisses, wenn man Fragen nach dem Täter und ihren Motiven stellt.5 Es kam nicht von ungefähr, dass sich zunächst die kritischen linken Intellektuellen der 68er Bewegung mit Gewalt und Gesellschaft auseinandersetzten. J.P. Sartre entdeckte in Anlehnung an Marx und Hegel in der ununterbrochenen Gewalt die sich selbst schaffende Produktion des Menschen. Eine wesentliche Erkenntnis, die Rhetorik der Linken wurde jedoch nach und nach zur theoretischen Verherrlichung der Gewalt im Denken. War es bei Marx noch die »massenhafte Veränderung des Menschen«6, womit er die Revolution des Bewusstseins meinte, so spricht J.-P. Sartre schon von der Befreiung des einzelnen durch Gewaltakte. Daraus ergebe sich, so Sartre, der Weg zum »Töten, Foltern, Versklaven«7. Schließlich entdeckte man, »dass nur die Gewalt sich auszahle«, wie

5

Diese Erfahrung musste auch Maya Nadig auf der in Retzhof/Steiermark abgehaltenen Frauenforschungstagung zu »Fremde Nähe – nahe Fremde« machen, als sie in ihrem Vortrag »Antworten auf das Fremde« nach den Wellen des Ausländerhasses im vereinten Deutschland den Motiven der Täter und derer, die offene Zustimmung leisteten, nachging und auf der analytischen Ebene des »Verstehens« nach Erklärungen suchte und dabei auf heftigen Widerstand stieß. So, als könnte Gefahr bestehen, den Schleier der Verdrängung der eigenen Gewaltphantasien vor der Öffentlichkeit zerreißen zu müssen und durch diese Erinnerung nur noch in Panik zu geraten, wird auch in akademischen Auseinandersetzungen um die Gewalt die emphatische Frage nach der Gewalt und den Tätern, die ja auch immer Identifikation bedeutet, abgewehrt. Der Gegenstand der Auseinandersetzung muss in Distanz bleiben, bei den anderen lokalisiert sein. Die Auseinandersetzungen mit Gewalt bleiben daher eher auf der abstrakten Ebene der politischen Ethik oder auf der Ebene der soziologischen Strukturen. Zu diesem Phänomen: Maya Nadig. Antworten auf das Fremde. Ethnopsychoanalytische Perspektiven auf den Rassismus, in: Wissenschafterinnen in der Europäischen Ethnologie (Hg.): Nahe Fremde – fremde Nähe. Frauen forschen zu Ethnos, Kultur, Geschlecht, Wien 1993: Wiener Frauenverlag (=Reihe Frauenforschung Bd. 24 Wiener Frauenverlag), S. 15-56.

6

Marx, Karl/Engels, Friedrich, Gesamtausgabe 1. Abh. Bd. 5. 1932, S. 59f. (Zit. nach H. Arendt, Macht und Gewalt. S. 87f.).

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Sartre, Jean-Paul: Kritik der dialektischen Vernunft. Deutsch von Traugott König, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1967, S. 466-468. Dieser Ansatz wird von Hanna Arendt ausführlich diskutiert und kritisiert. Siehe H. Arendt, Macht und Gewalt, S. 87ff.

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dies der einflussreiche französische Philosoph Frantz Fanon 1961 in seinem Buch »Die Verdammten dieser Erde« vertritt.8 So gesehen kommt es nicht von ungefähr, dass es erst Wissenschaftlerinnen, also Frauen waren, vor allem innerhalb der Frauenforschung 9, die im gewalttätigen Umgang der Menschen, ja schon in den Machtstrukturen der Gesellschaft, Gewalt als ein konstitutives Element entdeckten, das sich zentral aus den Bildern der Geschlechtlichkeit speist.10 Auch in der Volkskunde blieb die Erkenntnis des fundamentalen Zusammenhanges von Gewalt und Geschlecht – an den sich die Frau bindet, ob er nicht wesentlicher ist als die Arbeitsteilung – bislang im Wesentlichen der Frauenforschung vorbehalten.11 Mit dieser Tagung, in der das Thema nicht mehr allein in der Frauenforschungssektion erörtert bleibt, ließe sich lesen, dass dies in unserem Fach nunmehr anders geworden ist. Die unsichtbare Botschaft, symbolische Systeme beziehungsweise ihre Wirkung auf das kollektive Unbewusste in den Mittelpunkt der Deutungen zu stellen, ist im Empfinden der Volkskunde ein umstrittener Weg, einer, der wenig Akzeptanz im wissenschaftlichen Gewerbe hat. Hermann Bausinger weist in seiner grundsätzlichen Überlegung zu den Symbolfragen in der Volkskunde12 – einem kleinen, aber für diesen Zusammen8

Fanon, Frantz: Die Verdammten dieser Erde. Aus dem Französischen von Traugott König, Frankfurt am Main: 1966, S. 25 (Originalausgabe: Les Damnés de la Terre, Paris: Maspero 1961).

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Mitscherlich, Margarete: Die friedfertige Frau, Frankfurt am Main: Fischer 1985.

10 Zum Beispiel: Irigaray, Luce: Ethique de la différence sexuelle, Paris: Minuit 1984 Die feministische Psychoanalytikerin Nancy Chodorow folgert aus der scharf abgegrenzten Arbeitsteilung, die den Frauen die Kindererziehung fast in allen Gesellschaften zur Gänze überträgt, dass Frauen deshalb auch leichter zur eigenen Identität finden. Jungen hingegen erst einen Identitätsbruch zu vollziehen haben, in dem die Gewalt und die Vernichtung des Weiblichen als übermächtige Mutter-Imago eingeschrieben ist, um zur männlichen Identität zu kommen. Chodorow, Nancy: Das Erbe der Mütter. Psychoanalyse und Soziologie der Geschlechter, München: Frauenoffensive 1985. 11 Dazu vor allem die Veröffentlichungen der Arbeitsgruppen in der Kommission Frauenforschung der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde, in denen diese Thematik stets im Blickfeld der Auseinandersetzung ist. 12 Bausinger, Hermann: Symbolfragen in der Volkskunde, in: Tübinger Korrespondenzblatt, hg. im Auftrag der Tübinger Vereinigung für Volkskunde 37 Dezember 1990), S. 3-7.

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hang wichtigen Aufsatz – darauf hin, dass die Herstellung der Bedeutung durch den Gebrauch gegenüber dem ›Wesen‹ nicht unterschätzt werden dürfe. »Die symbolische Konstruktion«, so Bausinger, »ist Potentialität. Sie ist die Möglichkeit, die unter bestimmten Bedingungen aktiviert wird«. Diese SymbolPotentialität ist also nichts Unhistorisches – wie der Haupteinwand gegen die Symbolforschung lautet –, »nichts für alle Zeiten archetypisch Angelegtes, sondern die in einer bestimmten historisch-kulturellen Situation gegebene Summe möglicher Bedeutungen«.13 Die Aktualisierung bestimmter Zusammenhänge ist also immer von ganz bestimmten historischen Ereignissen und Lagen abhängig. Dem unbewussten Gedächtnis einer Kultur vergleichbar, können unter bestimmten Bedingungen durch die symbolische Konstruktion einer Kultur tendenzielle Reaktionen ab- und hervorgerufen werden; können – freilich, aber individuell nicht müssen. Im historischen Ereignis der […] kriegerischen Auseinandersetzung am Balkan wird der katastrophale Zusammenhang bestimmter Bedingungen und deren Auswirkungen wieder unübersehbar. Wobei diese Bedingungen – das Zusammenwirken patriarchaler Strukturen und der Gewalttätigkeit gegen Frauen – durchaus nicht nur im Kriegsgeschehen am Balkan, am Krieg, jener, die in den Augen Westeuropas nur zu oft als rückständigste der Gesellschaften Europas gehandelt werden – unübersehbar sind. Ich will hier nur an die Praktiken im Zweiten Weltkrieg erinnern oder an das […] Schicksal der japanischen Trösterinnen. Die Konturen des Zusammenspieles von Männlichkeitskult und Vernichtungspotential am Geschlecht sind in dem mit traditionellen Mitteln geführten Krieg im ehemaligen Jugoslawien, wo die Körper über den Tod hinaus massakriert werden, nur schärfer. Nach der Definition der kategorienfreudigen Soziologie der 70er Jahre ist nach der Wirkung einer symbolischen Gewalt auf die »strukturelle« Gewalt zu fragen, die nie aus dem bewussten Kalkül entsteht. Strukturelle Gewalt, und als solche kann durchaus auch der Krieg bezeichnet werden, ist nichts individuell Zufälliges, aber auch nicht Phänomen, das kalkuliert auftritt. Daher ist es für mich zunächst notwendig, nach jenem kulturwissenschaftlichen Zugang zu suchen, der die Wirkung symbolischer Konstruktionen auf das Unbewusste der Kultur zur Erkenntnis macht. Ein Zugang, der mit den ethnopsychoanalytischen Einsichten Mario Erdheims zum »gesellschaftlichen Unbewussten«14 einerseits und feministischer kritischer Theorie anderseits begleitet ist. Erdheim legt den irrationalen Kern der Herrschaft und den Verlust an Realität als Hauptursache der 13 H. Bausinger: Symbolfragen in der Volkskunde, S. 4. 14 Erdheim, Mario: Psychoanalyse und Unbewußtheit in der Kultur, Aufsätze 19801987, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 269-363.

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destruktiven und selbstdestruktiven Tendenzen in der Kulturgeschichte frei. Die hier verwendete feministische Theorie sucht den Zusammenhang zwischen realen und symbolischen Geschlechterkonstruktionen. In der europäischen Geschichte ist die soziale und kulturelle Entwicklung immer eine Folge von Herrschaft, trotz humanistischer Aufklärung. Dies ist das Erbe der Kolonial- und Expansionspolitik seit der Wende zur Neuzeit und einer darin durch die christliche Offenbarungsreligion gestützten kirchlichen Gewalt. Die Durchsetzung von Hierarchie und Macht hat immer unter Gewalt stattgefunden, philosophisch und staatstheoretisch in der Art abgestützt, die sogar den Krieg als zum Wesen des Staates gehörend legitimiert. 15 Ein Aspekt, auf den nun Mario Erdheim hinweist, ist für meinen Gedankengang zentral: Die Aggression gegen die Herrschaft musste in ihrer langen Geschichte unbewusst gemacht werden, wollte man überleben. Wut und Hassgefühle, so Erdheim, gegen Zwänge und Herrschaft verschwanden zwar aus dem Bewusstsein, suchen sich jedoch ihr Ventil in vielen Formen des unbewußten Handelns, in Traditionen und Bräuchen, in Religion, in Widerstandsformen, in geschaffenen Räumen von »erlaubter« Aggression oder in der totalen Verinnerlichung des Herrschaftssystems. Daher entwickelte sich auf dem Boden extremer patriarchaler Herrschaftssysteme mit ihrer typischen Rollenkongruenz: Oberhaupt–Herrscher–Held– Vater–Priester eine besondere Geschichte der Völkerbegegnungen.

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Dem realen Merkmal in allgemein verbreiteten patriarchalen Gesellschaften, der Tatsache, dass Männer bevorzugten Zugang zu bedeutsamen Machtpositionen haben, was ihnen die Macht verleiht, alles was nicht das eigene ist, auszuschließen, entsprechen bestimmende Faktoren einer dahinterliegenden symbolischen Ordnung der Kultur: Patriarchale Gesellschaften weisen stets ein männlich determiniertes Symbolsystem auf, das die gesamte Wertorientierung herstellt und legitimiert. Alle

15 Hier ist an Max Webers Definition vorn Staat als »ein auf das Mittel der legitimen Gewaltsamkeit gestütztes Herrschaftsverhältnis von Menschen« zu erinnern. Vgl. H. Arendt: Macht und Gewalt, S. 36f. Die Autorin verweist dabei sogar auf jene Autoren, die in ihrer Argumentation weit davon entfernt sind, den Staat als einen Überbau anzusehen.

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wesentlichen Werte, wie Macht, Ehre, Tapferkeit sind primär männlich konnotiert und männlich repräsentiert, ganz abgesehen davon, dass auch der identitätsschaffende Schöpfergott männlich ist. Die Ebene der Symbole bleibt so den Frauen verschlossen. Dieses Symbolsystem verleiht den Phantasien von der Dominanz des Mannes auch Identität. Es verwehrt sich auch gleichzeitig anders lautenden Phantasien.16 Das, was Weiblichkeit ausmacht und sein soll, das sind in patriarchalen Gesellschaften Entwürfe und Produkte von Männerphantasien – was Klaus Theweleit, zu einer eindrucksvollen Beweissammlung aus dem Faschismus veranlasste.17 Das ungleiche Verhältnis zwischen Mann und Frau wird durch die symbolische Konstruktion der Kultur vorgegeben und durch die aus der Erziehung verbannten projektiven Bedürfnisse und aufgestauten verbotenen Bilder letztlich im Kampf für Größe und Vaterland bestimmend. Die patriarchalen Konstruktionen innerhalb Europas haben natürlich ihre unterschiedliche Dichte, auf die hier einzugehen nicht der Ort ist. Eines bleibt ihnen jedoch durchgehend: Typisch weibliche und typisch männliche Eigenschaften sind kulturelle Konstrukte. Dass es bisher auch keinerlei Nachweise biologischer Bedingtheiten jener typisch weiblichen oder männlichen Eigenschaften und Verhaltensweisen, welche die angeblichen Geschlechtscharaktere ausmachen, gibt, muss hier nur am Rande erwähnt und nicht weiter ausgeführt werden. Selbst die bei Buben und Männern offenbar höhere Disposition zu aggressivem Verhalten, die von allen geschlechtstypischen Zügen am ehesten mit einem biologischen Substrat in Verbindung gebracht wird18, kann auf eine unterschiedliche, kulturell determinierte Verarbeitung und Äußerung der aggressiven Impulse oder Triebregungen zurückgeführt werden. Das in Habitus und Mentalität unterschiedliche Geschlecht ist in den jeweiligen Gesellschaften mit einem entsprechenden Wert-und Normsystem ausgestattet, das jede zweckrationale Begründung überflüssig macht. Generalisierungen und Mythologisierungen fixieren und statuieren die Rollen und legitimieren sie durch einen ideologischen Überbau – durch die symbolische Geschlechterkonstruktion der jeweiligen Kultur. Männliche Durchsetzungs- und Eroberungsmentalität den einen, bewahrende und dienende Opferungsmentalität den anderen. Transportiert in immer wieder aktualisierten Erzählungen, in Geschichten, in Epen und Liedern, in den Mythen. Eine Tatsache, die gerade am Balkan eine ganz besondere, kaum überschätzbare, Rolle spielt. So unterschiedlich die My16 Rohde-Dachser, Christa: Expedition in den dunklen Kontinent. Weiblichkeit im Diskurs der Psychoanalyse, Berlin/Heidelberg: Springer 1991, S. 27. 17 Theweleit, Klaus: Männerphantasien, 2 Bände, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1980. 18 C. Rohde-Dachser: Expedition in den dunklen Kontinent, S. 24.

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then auch sind, eines ist ihnen in allen patriarchalen Gesellschaften gemeinsam: Sie sind wesentlicher Teil des Sozialisationsprozesses. Danach orientieren sich emotionale Dispositionen und Fähigkeiten. Dass von dem jeweilig mächtigeren Teil der Gesellschaft die Mythen für allgemein gültig erklärt werden, ist die logische Konsequenz. Die Mythen denken uns (Levi-Strauss), und keine rationale aufgeklärte Haltung scheint Grenzen bieten zu können. Geschichte und Geschichten, Erzählungen, Lieder und die so tradierte Vorstellungswelt liefern damit auch die Legitimationsbasis für die Asymmetrie der Verhältnisse. Zwischen der Herausbildung der Geschlechterhierarchien und der Mythenbildung besteht also ein dichter Zusammenhang. Als Herrschaftsmythen organisieren sie das ontologische System, abgestützt und reproduziert in vermeintlich unveränderbaren kulturellen Ordnungssystemen, bestätigt und aufrechterhalten im Funktionieren der Praxis. Der Lebenspraxis der Geschlechter zueinander steht also eine Ordnung gegenüber – verankert und genährt in religiösen oder säkularen Systemen, im kollektiven Unbewussten, dem aus der Sprache und dem Bewusstsein Verdrängten.19 Daraus ergeben sich erste Hinweise darauf, wie es dazu kommen könnte, dass sich Mythen, Phantasiegebilde, Vorstellungen oder Glaubenssysteme derart zwingend in die Wirklichkeit übersetzen und was es für Frauen und Männer bedeutet, sich mit den so transportierten Zuschreibungen zu befrachten. Vor allem dort, wo sich die patriarchalen Strukturen im Symbolsystem der Kultur wenig gelockert haben, wie am Balkan, ist die weibliche Psyche, trotz angestrebter und deklarierter Postulate von der politischen und sozialen Gleichberechtigung, von den Spuren des jahrtausendalten Unterdrückungszusammenhanges noch immer gekennzeichnet.20 Bei der Analyse der Gewalt auf den Teil der Patriarchatsgeschichte zu verzichten, hieße demnach, sich den Blick auf einen entscheidenden Zusammenhang zu verstellen.

19 Lorenzer, Alfred: »Tiefenhermeneutische Kulturanalyse«, in: Alfred Lorenzer/HansDieter König (Hg.), Kultur-Analyse, Frankfurt am Main: Fischer 1986, S. 11-98. Zit. nach Rohde-Dachser: Expedition, S. 25. 20 Erdheim, Mario: Mann und Frau, Kultur und Familie, in: Karola Brede (Hg): Befreiung zum Widerstand. Aufsätze zu Feminismus, Psychoanalyse und Politik, Margarete Mitscherlich zum 70. Geburtstag, Frankfurt am Main: Fischer 1987, S. 65-71.

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D ER E INZELNE UND DIE I NSTITUTION DER H ERRSCHAFT Je massiver Macht oder Gewalt in einer Gesellschaft wirkt, so Freud in »Massenpsychologie und Ich-Analyse«, desto wesentlicher wird der Prozess des Unbewusstmachens als Voraussetzung für ihr Funktionieren. Die Kirche als gewöhnlich gut funktionierendes Terrain der Unbewusstmachung, im Sinne des Ausagierens im Glauben, war im ehemaligen Jugoslawien und in den kommunistischen Ländern des Balkans verboten. Das staatliche Herrschaftssystem musste einen anderen Mythos reaktivieren, einen, der in der Geschichte der vielen Eroberungskriege, in vielen Legenden und Epen, im Alltagsbewusstsein und in den Traditionen bereits präsent war. Er brauchte nur neu dienstbar gemacht zu werden: der Mythos vom Helden. Die politischen Herrschaftsapparate bemühten sich darum, diesen Mythos für sich nutzbar zu machen. Er nimmt den Druck des auf Veränderung ausgerichteten Bewusstseins einer Gesellschaft und unterstützt auf seine Weise die Selbstverständlichkeit der Macht. Staatsmacht und Held verschmolzen in diesem Staatssystem zu einem und blieben so unangetastet. Die Geschichte blieb im Sinne der Herrschaft eingefroren. Mario Erdheim nennt diese Mythen »Kühlsysteme«.21 Sie werden als Sicherungen für jene Teile der Kultur eingesetzt, die besonders auf die Veränderung von etablierter Herrschaft drängen könnten – nach Freud »Hüter des Schlafes«, Traumbilder, umstrahlt vom Schein der Realität, die Intensität und ein aktives Leben vorgaukeln. Das letzte, das entscheidende Versatzstück der Geschichte der Macht und Herrschaft, der Männlichkeitskult im Töten, gibt sich als das Aktuellste und Gegenwärtigste. Sobald der einzelne, das Individuum, unter den Einfluss von Herrschaft gerät, regrediert es. Wenn die Verbindung des einzelnen zur Realität, die kritische Einschätzung der Wirklichkeit durch Bilder und Illusionen unterbrochen wird, ist dies die Legitimation der Herrschaft der Institution (ob Faschismus, Nationalismus oder Sozialismus). Die institutionalisierte Person des Führers wird zum Helden, zum Vater – um es mit Freud zu sagen – zum Überich. Was den einen Tito war, ist den verbliebenen Milošević oder Karadžić oder […] Milan Martić, Bürgermeister von Knin und […] zum Präsidenten gewählt, der wegen seiner Aktionen gegen die Kroaten von den bosnischen Serben der Krajina in vielen Heldenliedern besungen wird. Der personifizierte Held verspricht, aus der persönlichen Ohnmacht zu helfen. Das wird ersehnt. Und diese Sehnsucht verspricht immer Erfüllung. Die

21 M. Erdheim: Psychoanalyse, S. 332.

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Sicht auf die reale Funktion des Helden in der Verkörperung der gesellschaftlichen Macht und Gewalt ist verstellt. Die regressive Leere der persönlichen Ohnmacht unter der institutionellen Macht ist gefüllt. Man identifiziert sich, wird selbst Teil des Helden, Teil des herrschenden Systems. Gedanken, Gefühle und Affekte nähren sich aus dem Unbewussten. Die Bilder sind als solche nicht mehr erkennbar. Sie werden zur erlebten Realität.

K RIEG IST MÄNNLICH Eine jener besonderen staatlichen Institutionen, die als regelrechte »Illusionsmaschinen«22 fungieren, ist das Militär. Hier wird Heldentum als Männlichkeit produziert, vorbereitet auf das Ereignis, an dem die Welt wieder neu geordnet und konstituiert werden muss oder kann. Und das »Ereignis« ist immer Krieg: »Die Völker, die den Krieg lieben, sind männliche Völker. Man kann die Männer außerhalb des Krieges und die Frauen außerhalb der Mutterschaft nicht beurteilen. Der Krieg gibt den Männern die Erhabenheit [...], der Krieg ist der natürliche Zustand des Mannes.« (Aus dem Erfahrungen des Ersten Weltkrieges des franz. Biologen René Quinton 23).

Die Regression, in die Menschen während einer kriegerischen Auseinandersetzung versetzt werden, lässt die symbolische Konstruktion der Kultur in Mythen mit Gründungs- und Ordnungsfunktion wieder aufleben – abgetrennt vom Fluss der Realität und der Geschichte der gesellschaftlichen Entwicklung. Die wesentlichste Koordinate der neuen Ordnung ist die Unterscheidung zwischen fremd und eigen. Das Fremde ist zunächst immer das Nicht-Eigene, in der patriarchalen Kultur das Nicht-Männliche. Wenn Männlichkeit die Pose des Eroberers und des Siegers ist, dann ist Weiblichkeit die des Versagens. Die Besiegten, die Fremden, die Feinde, sind in den Augen der Eroberer immer die Verweiblichten. Um dies zu manifestieren, werden sie in der Folter zu Weibern gemacht24. Das Geschlecht ist die in der

22 Ebd., S. 336. 23 Zitiert nach ebd. 24 Um Soldat zu werden, muss der Rekrut eine weibliche Arbeit des Bettenbaus und des Schrubbens verrichten, um quasi durch Geschlechtsumwandlung zum Mann zu werden und zu den Rängen der Macht ausübenden Herrschaftsränge gelangen zu können. Dürr (Dürr, Hans Peter: Der Mythos vom Zivilisationsprozess, 3. Obszönität und Gewalt, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, S. 211ff.) rührt dazu zahlreiche Beispiele

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Entwicklungsgenese erste und in der Kultur auch wesentlichste Unterscheidung zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Der Krieg auf Leben und Tod, um Herrschaft und Abhängigkeit, wird daher auch darüber ausgetragen. Und nur der Tod des anderen – der physische oder psychische Tod durch die Vergewaltigung, als die bestätigte Herrschaft der Männlichkeit, sichert das Selbst, das kontinuierliche Weiterleben der eigenen kulturellen Identität. Die Gewalt ist so die Geburt des Selbst, die Filiation der Macht, die sich über alle Wirklichkeit hinwegsetzt und ein großes Ich gebiert, so groß, dass es mit der Welt ident zu sein glaubt. Dies ist das einzige Verhältnis, in dem Leben überhaupt möglich erscheint, ohne zusammenzubrechen. »Wir sind die Herren der Welt, die Könige der Meere […]«, wie es in diesem und ähnlich vielen anderen Volksliedern heißt. Selbst der eigene Tod ist dieser Neugeburt näher als das Leben des eigenen Körpers, der ja ›nur‹ individuelle Vergänglichkeit ist. Hier manifestiert sich der für die Aufrechterhaltung des kulturellen Systems so wichtige Zusammenhang zwischen Tod und Gewalt, zwischen Vergewaltigung und Männlichkeit: Ein Zusammenhang, der in Gestalt der für den Massenkonsum bestimmten Darstellungen erotischer Gewalt ständig zu Tage tritt und durch die Literatur bekannt ist. 25 Mit den Mechanismen der Herrschaftsaneignung muss sich der einzelne gänzlich identifizieren, er muss selbst beherrschbar gemacht werden – ein Zwang, wie ihn der zweiundzwanzigjährige, von einem bosnischen Kriegsgericht verurteilte serbische Kriegsverbrecher Boris Herak in einem Interview einem kroatischen Photographen schilderte: »Ich wagte nicht, mich zu weigern, weil jener Befehl eingeführt worden ist: für die Verweigerung gibt es eine Kugel in den Kopf. Da hatte ich begonnen zu trinken. In Sarajevo wäre es mir nicht eingefallen, auch nur ein Huhn zu schlachten. Nun war mir alles egal geworden.«26

historischen und gegenwärtigen Kriegsverhaltens an, in denen der besiegte und gefolterte Gegner koitiert, das heißt in seiner männlichen Identität endgültig vernichtet wird. 25 Ich verweise hier nur auf die erotische Unterwerfung in der »Geschichte der 0«. Dazu: Benjamin J.: »Herrschaft – Knechtschaft: Die Phantasie von der erotischen Unterwerfung«, in: Elisabeth List/Herlinde Studer (Hg.), Denkverhältnisse. Feminismus und Kritik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 511-539. 26 Die Zeit 25 vom 18. Juni 1993, S. 51.

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K RIEG AM B ALKAN : K RIEG DES E IGENEN GEGEN DAS F REMDE UND GEGEN EIGENE . K RIEG DER G ESCHLECHTER Auch der Krieg am Balkan gehört zu jenen Konflikten, die innerhalb der letzten Jahrzehnte in Europa unerwartet auftauchten, weil wir sie längst von der Zivilisationsentwicklung erledigt wähnten. Ob in den kapitalistischen oder den sozialistischen Ländern, ob in den hochentwickelten oder den unterentwickelten, es entstanden Spannungsfelder um soziokulturelle Einheiten, von denen man annahm, die Geschichte hätte sie längst aufgelöst. Aber sie waren nur »eingefroren«, um Erdheims Begriff zu verwenden. Ihr Wiederauftauchen war nicht einmal an ökonomische Probleme gebunden. Sie alle sind Befreiungskriege aus zentralistischen Großverbänden. Gerade am Balkankrieg wird es offensichtlich, dass es dabei nicht nur um eine Legitimationskrise des menschlichen Zusammenlebens ging beziehungsweise geht, sondern um eine Krise des Zentralstaates und der Bedingungen, die ihn ermöglichten. Aber diese strukturelle Macht konnte und wollte auch das ethnische Prinzip als solches nicht ganz zerstören. Es gelang – beispielsweise – das Durchsetzen der Idee des kommunistisch/sozialistischen Einheitsstaates soweit, dass die darin aufgehobenen Lebensformen entwertet und bedroht waren. Was blieb und nicht durch die Ideologie des Einheitsstaates aufgefüllt werden konnte, war die Leere des Verlustes der nationalen Zugehörigkeit und ihrer Geschichte. Jetzt, nach dem Zusammenbruch der erzwungenen nationalen Einheitsidentität, ist die Wiedererinnerung von Geschichte nur noch Regression. Jetzt trägt die Wiederherstellung der Identität als ethnisches Bewusstseins schwere Züge des Ungleichgewichtes und führt somit – zwangsläufig – zu Gewalt, Verrichtung, Destruktion und Selbstdestruktion. Dieser aufgebrochene Nationalismus beruht wieder auf der gleichen sozialen Identität wie jedes Herrschaftssystem, das den einen die Rolle allmächtiger Väter, den anderen diejenige der unmündigen Kinder zuweist. Und es ist noch mehr: Die Durchsetzung der Herrschaft ist die Dekulturation der Beherrschten, die Vernichtung, die Entehrung des Anderen. Im Ereignis des Krieges garantiert sich die Identität nur durch die gewalttätige Säuberung von allem Anderen, dem »Fremden«. Hier sammeln sich wieder verdrängte Wut- und Hassgefühle, die sich ursprünglich gegen die Zwänge der Herrschaft richteten, und dringen von dort wieder in das Bewusstsein und damit in das aktive Handeln des einzelnen ein. Hier bedarf es nicht unbedingt eines heldenhaften etablierten Militärs, hier kämpft der eine gegen den anderen. Jeder ist potentieller Held. Männer, Frauen und Kinder werden »abgeschlachtet« (Boris Herak), Frauen systematisch vergewaltigt, getötet am Leben, an ihrer Würde und an ihrem Wert. Dieser Nationa-

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lismus erweist sich als ein Gewaltsystem, das den Aufbau einer Identität, die auch ethnische Identität in sich aufnehmen kann, verunmöglicht. Das, was das Agens dieser außergewöhnlichen und für das Ende des 20. Jahrhunderts so unglaublichen Auseinandersetzung ausmacht, ist die Identifikation des einzelnen mit der Nation als einem Höheren, die Identifikation mit dem symbolischen Einen. Eine nach dem männlich konnotierten Symbolsystem ausgerichtete Identität, die den Anspruch auf Universalität erhebt und die ihr Wesen aus dem Negieren all jener, die nicht diesem Modell entsprechen, bezieht. Die Identität wird aus dem Anspruch auf die Entstehung aus dem symbolischen Selben, dem Einen abgeleitet. Die weibliche Identifikation mit der Nation als dem Höheren ist hingegen verfehlt. Für sie ist der (symbolische) Vater der genealogisch Andere. Während die männliche Identifikation mit dem Selben gerade in der Ablehnung des Anderen, des Weiblichen, als des Nicht-Selben stattfindet, impliziert strukturell eine weibliche Identifikation mit dem Höheren auch die Identifikation mit dem Anderen. Das Denken des Anderen ist also strukturell vorgegeben, während es für das männliche Geschlecht nicht möglich ist. Das soll jedoch nicht heißen, dass Frauen nicht zu Nationalistinnen, ja zu gewaltausübenden Kriegsteilnehmerinnen werden können. Ihre Identifikation mit jener »höheren Instanz« ist die der Gewalttätigkeit, die erst den historischen Umständen zufolge auch männlich ist. Es gibt auch keine Hinweise auf Angriffe von Frauen auf die geschlechtliche Integrität der Männer. Ihre Gewalt ist die ihrer Verteidigung. Dieses Selbe in der symbolischen Ordnungsstruktur ist – ich erinnere an vorangegangene Überlegungen – in patriarchalen Systemen immer auch gespeichert als das männliche Subjekt im Mythos epischer Helden. Es ist immer der Mythos vom Ursprung, von der Neugeburt des symbolischen Selben. In Krisenzeiten legitimiert der Mythos, vielmehr er motivierte das gefährdete Selbe zu Gewaltakten gegen das Andere. So konstituiert der Mythos, das Lied vorn Helden, das Selbst immer wieder neu. Gründungsmythen nehmen daher einen zentralen Platz in diesem Geschehen ein. Sie gehen Hand in Hand mit der Zerstörung und rechtfertigen in der entsprechenden Rhetorik die privilegierte Rolle des »Einen« als des »Unseren«. Das Fremde als das Nicht-Selbe muss vertrieben und vernichtet werden. Nur der Held hat die Kraft zu töten, um etwas Neues: sich selbst zu gebären. Rada Iveković, eine in Paris lehrende kroatische Philosophin, wies […] auf das Phänomen der Vernichtung der Städte hin,27 ein Phänomen, das auch in diesem 27 Iveković, Rada: Intellektuelle zwischen Nationalismus und Demokratie, in: Johann Gaisbacher et al. (Hg.), Krieg in Europa, Linz: Sandkorn 1992 , S. 108-120.

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Zusammenhang der Wirkung der symbolischen Konstruktion der Kultur zu sehen ist. Städte sind immer kulturelle Mischung, »métissage«, bunte kulturelle Kontraste. Ihre mit unvorstellbarer Gewalt betriebene Vernichtung soll die Rückkehr der Vorgeschichte, den Fortbestand des Selben als der einzig denkbaren Identität garantieren. Alles was fremd ist, muss ausgelöscht und gesäubert werden. Die Autorin bezeichnet daher diesen Krieg als zivilisations- und kulturfeindlichen Krieg gegen Städte. Die Berufung auf die Nation, so die Autorin, sei eine sekundär nachgereichte Motivation als Inhalt für das ideologische Vakuum, das die Erschöpfung der kommunistischen Ideologie hinterlassen habe. »Schwurbruder, Königsohn Marko! Heutzutage denken und sprechen die Leute, dass es keine drei besseren Helden gebe als uns, die drei serbischen Vojoden. Besser ist es für uns, und unser Vaterland, gemeinsam zu fallen, als jetzt schmachvoll davon zu laufen.«28

Auch Boris Herak begründete in dem in der ZEIT erschienenen Interview seine Teilnahme an der Vergewaltigung und der anschließenden Tötung von etwa 40 jungen Mädchen mit seiner Verpflichtung gegenüber einer serbischen Moral, dass »das« für Serbien gemacht werden müsse, nach einem aus Belgrad kommenden entsprechenden Befehl.29 Jener Augenblick, der Tod und Vernichtung brachte, war die Geburt eines Mythos, die Neugeburt, in diesem Falle, der serbischen Nation, das Geheimnis der männlichen Selbstgeburt im Töten, geschützt und abgestützt durch Institutionen, die Gefühle und Mitleid, persönliches Empfinden ausschließen und die Taten der Gewalt entkriminalisieren. Die Gründungsmythen suggerieren die männliche Unabhängigkeit, das Sein unter sich. Wesentlich scheint es, dass sie sich stets auch vom Mythos des Opfers nähren. Die Opferung des Anderen ist immer die Opferung des Eigenen. Die mögliche oder die als self-fulfilling prophecy in Erfüllung gegangene Niederlage wird als Opferung immer mythisch glorifiziert, zum Beispiel im serbischen Mythos von Kosovo. Die Schlacht am Amselfeld machte die Osmanen zu Siegern, und sie nahm ihnen – was entscheidend ist – den Mythos des Opfers. Zurzeit gibt es in Restjugoslawien eine Inflation von Geschichten über Helden und mythische Opferungen, eine Inflation an Literatur zur nationalen Geschichte. Das zu vernichtende Andere ist so auch immer das Andere in einem, das vernichtet werden 28 Ein Beispiel unter vielen aus: Braun, Maximilian: Das serbokroatische Heldenlied, Vuk II. 38, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1961. 29 Die Zeit 25 vom 18. Juni 1993, S. 51f.

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muss. Das Freud’sche Ich tritt an die Stelle des Ermordeten, das Leben erhält im Jetzt seinen höheren Sinn. Der Krieg bekommt Sinn, wie das im serbischen nationalistischen Diskurs heißt. »Der Akt der Gewalt markiert den Kontext mit einer großen Null« (Rada Ivecović). Der Feind wird einverleibt, sein Lebensinhalt mit dessen Tod absorbiert. »Je unschuldiger das Opfer ist, desto abscheulicher die Tat, je abscheulicher die Tat, umso effizienter ist sie – als Opfer – und verleiht dem Gewalttäter einen höheren Status im symbolischen System der neuen Zeit.«30 Es entsteht eine »Kultur des Todes«. Der Belgrader Regisseur Dušan Makavejev spricht von einer »Extase der Todessehnsucht«, vom »Genuss der Vorwegnahme eines riesigen Blutbades«, eine Spur, die sich in den Reden des ehemaligen Präsidenten Restjugoslawiens und Ependichters Dobrica Ćosić fortsetzt, wenn er schon im Titel seines Buches »Zeit des Todes« den Autismus dieses Systems verrät. Ein markantes und in diesen Zeiten häufiges Sprichwort der Serben bündelt in sich die völlige Umkehr der zivilisatorischen Werteskala Krieg und Frieden: »Die Serben verlieren im Frieden und gewinnen im Krieg« – was allerdings auch von anderen balkanischen Völkern, so der Historiker und Balkanspezialist Karl Kaser, gesagt werden könnte. Auch er glaubt Erklärungen dieses fürchterlichen Krieges sowohl in den kulturanthropologischen Zusammenhängen der männlichen Aggressivität in diesen balkanisch-patriarchalischen Kriegerkulturen als auch in historischen eines halben Jahrtausends osmanischer Herrschaft finden zu können.31 Den wesentlichsten Unterschied dieser patriarchalen Kulturen zu denen anderer europäischer macht Kaser in dem hier immer noch vorherrschenden Prinzip der Patrilinearität aus, das Gesellschaften auf absolute, gewalttätige und aggressive Männerdominanz ausrichtet. Es ist das fatale Zusammenwirken von Blutrache, Ahnenkult, Verehrung des Hauspatrons32, Patriarchalismus und kriegerischem Heroismus in einem größtenteils mit dem Kriegsgebiet identischen Verbreitungsgebiet, in dem – und dies scheint ebenso wesentlich – Angehörige mehrerer Nationen und unterschiedlicher Religionszugehörigkeit leben. Mit Serbien im Zentrum erstreckt sich das Gebiet auf Bosnien-Herzegowina, Teile Kroatiens, auf das Mündungsgebiet der 30 R. Iveković: Intellektuelle, S. 8. 31 Kaser, Karl: Hirten, Kämpfer. Stammeshelden. Geschichte und Gegenwart des balkanischen Patriarchats, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 1992; auch: Patriarchalismus und Gewalt am Balkan, in: Kuckuck. Notizen zu Alltagskultur und Volkskunde, 7/2 (1992), S. 19-23. 32 Zu diesem Phänomen: Kaser, Karl: Ahnenkult und Patriarchalismus auf dem Balkan, in: Historische Anthropologie. Kultur. Gesellschaft. Alltag, Jg.1/1 (1993), S. 93-122.

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Neretva, das Küstenland von Makarsko bis zur Bucht von Kotor, über Montenegro, Makedonien, Nord- und Zentralalbanien. Die Kerngebiete, wo die Elemente von komplexen, patrilinearen sozialen Verbanden, der Organisation des Mehrfamilienhaushaltes, noch bis ins 20. Jahrhundert bestimmend waren und auch noch sind, zeichnen sich übrigens zudem noch – gegenüber den Rändern, in denen die Phänomene nur noch sporadisch auftreten – durch ein Patriarchat aus, das mit seiner Patrilokalität und seiner Patrilinearität eine besondere balkanische Ausformung männlicher Ordnung garantiert. Diese Organisationsmuster, so Kaser, entsprechen in ihrer archaischen Form einem Rückgriff auf traditionelle Modelle, als eine Art Regression nach dem Schock osmanischer Eroberung und Herrschaft und der dadurch ausgelösten ungeheuren Migration, die bestehende mittelalterliche Reiche auseinanderbrechen ließ. Unter der osmanischen Herrschaft vom 14. bis Anfang des 20. Jahrhunderts konnte sich die patriarchale Zivilisation voll entfalten und erhalten. Die Organisation des Mehrfamilienhaushaltes, der zadruga (slawisch), erforderte eine strenge Arbeitsteilung, die wiederum eine extrem polarisierte Geschlechterrollenverteilung nach sich zog. Hier ist es notwendig, einen gedanklichen Exkurs in den psychoanalytischen Zusammenhang der gegenseitigen Abhängigkeit, die eine rigide Geschlechterrollenteilung produziert, zu machen. Die Unfähigkeit, das Andere als ein Autonomes existieren zu lassen, ist ein vielbeschriebenes Phänomen auch unserer Kultur, dramatisch eingeschrieben in unsere Geschichte, und nicht nur Phänomen eines extremen balkanischen Patriarchalismus. Nur die ständige Symbolisierung männlicher Herrschaft garantiert den Unterschied zwischen den Geschlechterrollen. Hierin liegt auch das Motiv ihrer gegenseitigen Abhängigkeit. Nur das Subjekt-Objektverhältnis garantiert das Subjekt. Die Durchsetzung des Verhältnisses durch Gewalt sichert bei wechselseitiger Abhängigkeit, dass die Grenze, die antagonistische Polarität der beiden Rollen, aufrechterhalten bleibt. Gewalt ist ein Versuch, Abhängigkeit von sich zu weisen, die eigene Autonomie durchzusetzen und gleichzeitig den anderen Menschen als Objekt in Besitz zu behalten. Hegel analysierte den Zusammenhang des Ringens um die eigene Identität und das Herrschaftsstreben als Knecht-Herr-Verhältnis.33 Danach will das Selbstbewusstsein, das Ich, uneingeschränkt sein und bleiben, was nur auf Kosten des Anderen möglich ist. Allerdings lernt der Mensch, dass ihm nur die Abhängigkeit den Wunsch nach Anerkennung als Subjekt erfüllt. Wenn aber der Herr von seinem Knecht abhängig ist, droht er sich selbst zu verlieren, denn der 33 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie Geistes. Sämtliche Werke Bd. 5, Hamburg: Meiner 1952. Kap. IV a, »Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewusstseins; Herrschaft und Knechtschaft«, S. 140-150.

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andere Mensch ist in einer männerdominierten Gesellschaft immer ein außerhalb des ›Subjektes‹ befindlichen und damit also auch immer ›Objekt‹. Die Impulse der Gewalt und Unterwerfung entsprechen, wie pervertiert sie auch sein mögen, den tiefverwurzelten Wünschen nach Eigenständigkeit und Anerkennung. Diese Eigenständigkeit muss sich der männliche Jugendliche vor dem Hintergrund der ausschließlichen mütterlichen Präsenz und Zuständigkeit in der Kindheit durch besondere Abgrenzungsmechanismen erst erobern. Ein Prozess, der sich zwischen dem Bedürfnis nach Anerkennung durch eine andere Person und dem Bedürfnis nach autonomer Identität als ein permanenter Konflikt einschreibt. Die Verweigerung von Anerkennung des weiblichen Geschlechtes als gleichwertiges erwächst also aus dem Erleben der Abgrenzung. Hinter der ausübenden Gewalt verbirgt sich stets die Angst vor der Unfähigkeit, sich selbst zu behaupten und gleichzeitig die Angst vor dem Verlassenwerden und dem Verlust des Anderen – was übrigens auch aus der Perspektive der erlebten Gewalt, also aus der Perspektive der Frauen, gilt. Psychoanalytisch gesehen, bedeutet das Verharren in den traditionellen Rollen der Abhängigkeit gleichzeitig die Manifestation des Wunsches nach Eigenständigkeit durch Anerkennung des anderen Geschlechtes – eine Erklärung, die einer oft zitierten und spekulierten Freiwilligkeit und Zustimmung der Frauen in diese Beziehungsform nicht das Wort reden will. Ganz im Gegenteil – es gilt vielmehr, die immerwiederkehrenden Anklagen und Rechtfertigungen auf eine Ebene zu heben, wo es wenigstens ansatzweise um ein Verstehen geht. Das symbolische Bezugssystem extrem patriarchaler Kulturen – um wieder zur Frage nach der sexuellen Gewalt im Balkankrieg zurückzukehren – nährt sich aus einem ständigen historischen Bewusstsein entlang der männlichen Abstammungslinie. Die Genealogie schuf damit die Praxis des unbewussten Handelns, lesbar auch in sprachlichen und grammatikalischen Strukturen. Diese eine Welt ist hier unter Ausschluss der Frau entstanden. Sie ist hier ohne gesellschaftlichen Wert, sie befindet sich in einer anderen Welt. Eine rigide alltägliche Kommunikation steht hinter der strukturellen Gewalt gegen Frauen. Gefügig gemacht durch verschiedene Riten: zum Beispiel musste die in den neuen Haushalt eintretende Frau allen Männern, auch den männlichen Kindern des Hauses, zu Hände küssen. Riten und Bräuche, die die personale Gewalt nicht einmal mehr erforderlich machten. Ich erinnere auch an das Recht, ja sogar an die Pflicht des Mannes, seine Frau bei Ehebruch zu töten, die absolute Kontrolle über weibliche Sexualität, die sich sowohl aus dem männlichen und dem patriarchalen Selbstverständnis als auch aus dem Ahnenkult bestätigt glaubt. Noch zu Anfang des 20. Jahrhunderts wurden in Albanien Mütter außerehelicher Kinder öffentlich gesteinigt, wenn sie nicht von ihrem Mann beziehungsweise Bruder

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getötet wurden. Gänzlich gefangen in der Welt der Ahnen, in einem symbolischen System, das rein männlich ausgerichtet war, wurde das Töten zur heiligen Pflicht. Welche Potentialität in einem Ahnenkult, der den symbolischen Bezug Hausvater = Priester = Richter durch die Vererbung auf ausschließlich männliche Nachkommen für diesen Krieg steckt, wird mit Margarete Mitscherlich klar, die als zwangsläufige Folge einer verweigerten Entidealisierung der Eltern in der Pubertät die erheblichen Störung des Realitätssinnes diagnostiziert. Die psychische Reife wird gehemmt, die gesellschaftliche Wirklichkeit muss verleugnet werden, weil sie nicht wahrgenommen werden kann. Sie führt so in die soziale und kulturelle Destruktion.34 Wenn sich auch die Formen des Zusammenlebens der Geschlechter in ihrer rituellen Absicherung und Bestätigung heute weitgehend geändert haben, so ist ihre kulturelle Struktur in ihren Konturen erhalten geblieben. Kaser sieht darin auch ein Motiv, weshalb der Krieg am Balkan derart gewalttätig war. In dieser Welt der Patrilinearität und des Männerkultes blieben bis heute die Frauen die Fremden. Ihre sexuelle Differenz, die ihren Körper zeichnet, ohne ihm eine Bedeutung zu geben, ist ihre Falle.35 Sie ist die Fremde, die zu Vernichtende – wie alles Fremde, weil sie keine Teilhabe an der Geschichte hat und haben durfte. Der Ehrenkodex dieser patrilinearen und patriarchalen, in der Geschichte oft bedrohten Gesellschaften verlangt vom anerkannten Führer, sich wie ein Krieger jederzeit aggressiv und gewalttätig zu verhalten. Verwurzelt im Unbewusstsein, gilt dies besonders in Krisenzeiten, welche die durch Rechtsstaatlichkeit geänderten Rahmenbedingungen immer schnell zum Verschwinden bringen. Damit wird auch klar, wie eng der Zusammenhang zwischen männlicher Sexualität, als der männlichen Neugeburt, und Gewalt ist. Die Frau, als das Andere, wird an ihrem Geschlecht getötet, wenn sich gleichzeitig die Männlichkeit mit ihrer Schändung auch genealogisch bestätigt. Die Geburt der Nation bestätigt sich durch die Geburt des Einen (männlichen) in der Vernichtung des Anderen. Hier eröffnet sich uns ein für viele ungewöhnliches Bild der Wirksamkeit der Traditionen und Erzählungen – in Heldenmythen, in epischen Erzählungen und Volksliedern – als eine gefährliche Potentialität. Sie gilt es im Auge zu behalten, um sie von daher transparent machen zu können. Wie den Frauen gilt es, den Helden die Bewunderung zu versagen, um das zerstörerische Zusammenwirken der äußeren und den inneren Mentalitäten der Geschlechter in ihren sadomaso34 M. Mitscherlich, Die friedfertige Frau, S. 133. 35 Vgl. auch Libreria delle donne di Milano. Un laboratorio di pratica politica. Letture di archivio, a cura di Chiara Martucci, Milano: Angeli 2008; Eine neue politische Praxis. S. 33.

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chistischen Wünschen nach Anerkennung aufzudecken. Den Gedanken von Franz Boas erinnernd: wenn wir als Volkskundlerinnen die Fesseln erkennen können, welche die Tradition auferlegt, dann findet sich auch ein Weg – vielleicht – um sie auch zerreißen zu können.

Die Sakralisierung des Individuums Eine religions- und herrschaftssoziologische Konzeptionalisierung der Sozialfigur des Helden S TEPHAN M OEBIUS

Will man sich der Sozialfigur des Helden1 nähern, so gibt uns die Soziologie, auch wenn sie zuweilen selbst Heldenkult betreibt, einige wertvolle theoretischkonzeptionelle Werkzeuge an die Hand. Interessanterweise sind es in der Soziologie jedoch eher vergessene und im soziologischen Diskurs randständige Soziologen, die bereits früh über Helden geforscht haben.2 Gemeint sind Stefan

1

An späterer Stelle im Artikel (Fußnote 20) begründe ich, warum ich hier vor allem

2

Wie jede wissenschaftliche Disziplin hat auch die Soziologie eine Art Olymp, den,

vom Helden in der männlichen Form schreibe. wie in den meisten Disziplinen, strukturell männliche Helden bewohnen und die es anzuführen, zu zitieren oder zumindest zu erwähnen gilt, will man in der eigenen scientific community ernst genommen werden. Zu den Helden der Soziologie gehören etwa Klassiker der Soziologie wie Auguste Comte, Émile Durkheim, Max Weber, Talcott Parsons, Niklas Luhmann oder Jürgen Habermas (vgl. Kaesler, Dirk: »Postklassische Theorien im Haus der Soziologie«, in: Ders. [Hg.], Aktuelle Theorien der Soziologie, München: C.H. Beck 2005, S. 11-40). Je nach theoretischen oder theoriepolitischen Vorlieben und feldstrategischen Gesichtspunkten unterscheidet sich, wem Heldenstatus zugeschrieben wird oder nicht. Im deutschsprachigen soziologischen Feld sticht insbesondere Max Weber hervor, der zwar vielleicht nicht Kultstatus genießt, in dem Sinne, dass man ihn enthusiastisch und mit hoher Leidenschaft zitiert, der aber doch als der weit über die Soziologie hinaus bekannte Soziologe geschätzt, vor allem aber zur symbolischen Absicherung und Bekräftigung eigener Argumentationen gerne herangezogen wird. Genießt er vielleicht einen so großen Heldenstatus,

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Czarnowski und Henri Hubert, die enge Mitarbeiter von Marcel Mauss waren und gemeinsam mit Robert Hertz den religionssoziologischen Kreis der Durkheim-Schule bildeten. Czarnowski verfasste 1913 die kaum bekannte Studie Le culte des héros et ses conditions sociales: Saint Patrick, héros national de l’Irlande, die 1919 mit einem längeren Vorwort seines Lehrers Henri Hubert erschien.3 Die Religionssoziologen der Durkheim-Schule sind insbesondere durch ihre Studien über das Sakrale und Sakralisierungsprozesse berühmt geworden, die für das gemeinhin bekanntere religionssoziologische Hauptwerk Émile Durkheims, Die elementaren Formen des religiösen Lebens4, konstitutiv waren.5 Die Wirkungen dieser Studien des Sakralen sind nicht nur in der französischen Soziologie, Ethnologie und Literaturwissenschaft sichtbar, man denke an die Sakralsoziologie des Collège de Sociologie Ende der 1930er Jahre mit Namen wie Georges Bataille, Michel Leiris, Roger Caillois, Pierre Klossowski, Walter Benjamin, Hans Mayer u.a.6, sondern sie sind auch heute etwa in Forschungen zur Genealogie der Menschenrechte bei Hans Joas in produktiver Weise deutlich erkennbar.7 dass selbst grundsätzliche Kritik (vgl. zum Beispiel Steinert, Heinz: Max Webers unwiderlegbare Fehlkonstruktionen. Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Frankfurt am Main/New York: Campus 2010) an seiner berühmten Studie über den Zusammenhang zwischen protestantischer Ethik und dem Geist des Kapitalismus nicht an diesem Heldenstatus zu rütteln vermag? Natürlich wäre die Schlussfolgerung falsch, Klassiker müssten abdanken, weil ihre Analysen widerlegt sind. Der Klassikerstatus konstituiert sich ja unter anderem aus innovativen Herangehensweisen und neuartigen Ideen, die aber nicht unbedingt unwiderlegbar sein müssen. Was hier lediglich in Frage gestellt wird, ist, ob Klassiker zugleich auch ein solchermaßen normativ aufgeladener Heldenstatus zugeschrieben werden sollte, dass sie zwangsläufig über jede Kritik erhaben zu sein scheinen. 3

Vgl. auch Isambert, Francois A.: »At the frontier of folklore and sociology: Hubert, Hertz and Czarnowski, founders of a sociology of folk religion«, in: Philippe Besnard (Hg.), The Sociological Domain. The Durkheimians and the Founding of French Sociology, Cambridge/New York: Cambridge University Press 1983, S. 152-176.

4

Durkheim, Émile: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt am Main: Suhrkamp [1912] 1981.

5

Vgl. Moebius, Stephan: »Die Religionssoziologie von Marcel Mauss«, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 19 1-2 (2012), S. 86-147.

6

Vgl. Moebius, Stephan: Die Zauberlehrlinge. Soziologiegeschichte des Collège de

7

Vgl. Joas, Hans: Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte,

Sociologie (1937-1939), Konstanz: UVK 2006. Berlin: Suhrkamp 2011.

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Im Folgenden soll die Heldenverehrung und Heroisierung im Anschluss an religionssoziologische Konzepte der Durkheim-Schule und Hans Joas als eine Sakralisierung bestimmter Individuen näher analysiert werden. Fasst man die Heldenverehrung im Anschluss an die durkheimiens als Sakralisierungsprozess, so kommen dadurch auch die affektiv-emotionalen, religiösen und ambivalenten Dimensionen der Sozialfigur des Helden besser zum Vorschein, als nähme man allein den Zuschreibungscharakter des Heldentums in den Blick. Anders gesagt: Auch wenn Helden insbesondere durch Zuschreibungen ihren Heldenstatus und ihr Charisma erlangen, so dürfen dabei nicht die affektiv-emotionalen, kollektiven Erfahrungsmomente aus dem Blick geraten, die diesen Zuschreibungen eine identitätsstiftende und aufgeladen-wertbesetzte Dimension verleihen und somit den bindenden und sakralen Charakter der Heldenverehrung konstituieren.

D ER H ELDENKULT ALS F ORM DER S AKRALISIERUNG DES I NDIVIDUUMS Wie Repräsentant_innen des Freiburger Sonderforschungsbereichs 948 zu »Helden – Heroisierungen – Heroismen« festhalten, muss die Sozialfigur des Helden als »personale Verdichtung gesellschaftlicher Wertordnungen und Normengefüge, ihre Heroisierung als komplexe, von unterschiedlichen Akteuren getragene, und mediale Prozesse untersucht werden«.8 Die heroische Figur sei als »kulturelles Konstrukt ein Fremd- und Selbstzuschreibungsphänomen«, wobei der Vorgang der Zuschreibung sozialer, kommunikativer Prozesse bedarf, die »affektiv wie normativ aufgeladen sind«.9 Man könnte auch sagen, Helden sind Individuen, die eine Sakralisierung, eine Art religiöse Aufladung erfahren haben.10 Ich möchte im Folgenden vorschlagen, die Heldenverehrung und die Konstituierung von Individuen zu Helden ausgehend von der Durkheimʼschen Soziologie als einen Prozess aufzufassen, der mit der Kategorie des Sakralen/der Sakralisierung

8

Hoff, Ralf von den et al.: »Helden – Heroisierungen – Heroismen. Transformationen und Konjunkturen von der Antike bis zur Moderne. Konzeptionelle Ausgangspunkte der Sonderforschungsbereichs 948«, in: helden. Heroes, héros. E-Journal zu Kulturen des Heroischen, Band 1.1.2013, S. 7-15, hier S. 8, https://freidok.uni-freiburg.de/data/

9

10877 vom 27.1.2017. Ebd.

10 »Heros« (Held) und »hieros« (heilig) sind im Altgriechischen vielleicht deshalb auch nicht weit voneinander entfernt. Zwischen den Wörtern könnte ein etymologischer Zusammenhang bestehen.

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erfasst werden kann. »Sans doute le héros tient au sacré. [...] Sans doute, les sentiments qui s’attachent au héros ont quelque chose de religieux. [...] Plus loin du monde, plus près des hommes, plus près du siècle, telle est la place qu’occupent les héros par rapport aux démons, aux dieux, aux saints.«11 Mit »Sakralisierung des Individuums« meine ich eine affektive, emotionale und/oder normative Vorrangstellung, mitunter radikale Überhöhung und angenommene beziehungsweise zugeschriebene außeralltägliche (insbesondere moralische, künstlerische, wissenschaftliche, religiöse etc.) Überlegenheit eines bestimmten Individuums und seiner/ihrer Eigenschaften, wobei die in Zuschreibungsprozessen vollzogene, fraglose Überhöhung der Legitimation und Beurteilung sozialer Handlungen sowie der Herstellung und Kohäsion sozialer Ordnung dient.12 Wie ich im Folgenden noch näher ausführen möchte, entspringt die Vorstellung des Sakralen aus kollektiven Vorstellungen und emotionalen Erfahrungen. Die Figur des Helden ist demnach das Ergebnis einer Art von »kollektivem Konsens«, wie Henri Hubert13 schreibt; ein Konsens, der sich in gesellschaftlichen 11 Hubert, Henri: »Préface«, in: Stefan Czarnowski, Le culte des héros et ses conditions sociales: Saint Patrick, héros national de l’Irlande, Paris: Felix Alcan 1919, S. IXCIV, hier S. XXXV. 12 Die Sakralisierung des Individuums kann sich dabei sowohl auf einer religiösen Ebene auf Personen beziehen, etwa in der Heiligenverehrung, oder aber auf nichtreligiöse Personen. Wird der Begriff der Sakralisierung nicht auf den Bereich religiöser Glaubensvorstellungen bezogen, spricht Volkhard Krech (Wo bleibt die Religion? Zur Ambivalenz des Religiösen in der modernen Gesellschaft, Bielefeld: transcript 2011, S. 249f.) von »immanenter Sakralisierung«. Gemeint ist damit der Prozess, »in dem eine nichtreligiöse Kommunikation von sich aus auf religiöse Sinngehalte zurückgreift oder sie erzeugt und dadurch ›profane‹ Sachverhalte mit einer religiösen Aura ausstattet. Sie ist sowohl von religiöser Kommunikation als auch von Kommunikation über Religion abzugrenzen und steht gewissermaßen zwischen beiden. Im Unterschied zur Kommunikation über Religion handelt es sich bei Sakralisierungsprozessen um eine Fusion von religiösen Elementen mit anderen Kommunikationsbereichen. Im Unterschied zu religiöser Kommunikation, die auf der Unterscheidung zwischen Immanenz und Transzendenz basiert und mittels dieser Unterscheidung die gesamte Realität verdoppelt, ›auratisiert‹ und verfremdet die Sakralisierung etwas, was zugleich Gegenstand anderer Kommunikation bleibt. Sie stattet konkrete, weil kommunikativ bereits bestimmte, Sachverhalte mit einem Geheimnis und der Weihe unhinterfragbarer Geltung aus. Sie ist eine Art der Kontingenzbewältigung [...].« (Hervorhebung im Original) Dabei können nicht nur Sachverhalte, sondern eben auch Individuen oder bestimmte Vorstellungen von Personen sakralisiert werden. 13 H. Hubert: Préface, S. II.

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Ritualen ausdrückt und manifestiert. Heldenfiguren repräsentieren aus seiner Sicht die Ideale und Werte einer Gruppe14, sie symbolisieren den Gruppenkonsens und integrieren dadurch wie ein Totem die Gemeinschaft.15 Sie bilden, wie man mit den Vertreter_innen des SFB 948 sagen könnte, eine »Projektionsfläche für gesellschaftliche Normen, Handlungsorientierungen und Werte«; sie sind demnach eine »Reaktion auf ein kollektives Bedürfnis«16, eine Projektion, die sich sowohl auf ein homogen gedachtes »Volk«, eine »Nation«, also auf kollektive Helden, oder eben auf ein Individuum richten kann17, oder auch auf beides, wie man es etwa in den USA gegenwärtig mit Trump und der rechtspopulistischen Konstruktion eines »Volks« beobachten kann.

D IE S AKRALISIERUNG UND DIE K ONSTITUIERUNG EINES KONSTITUTIVEN A USSEN In den meisten Fällen geht die Konstituierung beziehungsweise Sakralisierung eines Helden einher mit der Konstruktion eines »konstitutiven Außens«. Das konstitutive Außen ist in der poststrukturalistischen Theoriebildung jenes Außen beziehungsweise jene Alterität, die einer Identität erst ihre Form, Struktur und Einheit verleiht, also im Grunde die Bedingung der Möglichkeit von Identität. 18 Helden sind aus dieser Sicht bestimmte, affektiv-emotional aufgeladene Zeichen/Signifikanten, Fixierungen von Bedeutungen (»Knotenpunkte«), Verknüpfungen und Verdichtungen von unterschiedlichen diskursiven Zuschreibungen, die eine diskursive Einheit ermöglichen, dadurch eine integrative Funktion ausüben und die Gemeinschaft integrieren. Nach poststrukturalistischer Auffassung gelingt dies jedoch nur dann, wenn sich diese Vorstellungen beziehungsweise diskursiv hergestellten Sinnzuschreibungen von einem konstitutiven Außen/ Anderen abgrenzen, das dann, als die emotional aufgeladene Negativfolie der eigenen Identität, konstitutiv für diese ist. In der politischen Theorie von Ernesto

14 Ebd. 15 Ebd., S. LXX. 16 R. v. d. Hoff et al.: Helden – Heroisierungen – Heroismen, S. 9. 17 Vgl. Dumont, Louis: Individualismus. Zur Ideologie der Moderne, Frankfurt am Main/New York: Campus 1991. 18 Vgl. Moebius, Stephan: Die soziale Konstituierung des Anderen. Grundrisse einer poststrukturalistischen Sozialwissenschaft nach Lévinas und Derrida, Frankfurt am Main/New York: Campus 2003, S. 173ff.

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Laclau und Chantal Mouffe19 würde man von einer Logik der Äquivalenz (diskursive Einheit) und Logik der Differenz (Antagonismus zu etwas Anderem) sprechen. Übertragen auf Helden und ihre diskursive Legitimierung bedeutet das, dass Helden ihrem eigenen Selbstverständnis nach und aus Sicht ihrer Anhänger_innen sich vielfach gegen ein »Anderes/Andere« in Stellung bringen, sei es eine Übermacht oder andere Macht (die Helle und die Dunkle Seite der Macht wie bei Star Wars), andere (Anti-)Helden, das Establishment, das gemeine Volk, die Eliten etc. Das Andere kann dabei rein profan sein, etwa das gemeine Volk oder aber selbst als ein anderes Sakrales aufgefasst werden, das, was ich an späterer Stelle in diesem Aufsatz mit Robert Hertz als das »linke« Sakrale bezeichne. Diese Konstruktion von Grenzlinien und eines Antagonismus kann auch auf größerer kollektiver Ebene beobachtet werden, etwa wenn sich ein ganzes Land als heldenhaft erfährt, wie in den so genannten »Ideen von 1914«, als Deutschland seitens nationalistischer Intellektueller als das Land der Kultur und der Helden anderen Ländern wie Frankreich oder England als den Ländern der bloß technischen, aber nicht geistigen Zivilisation und der Händler normativ gegenüber gestellt wurde.

H ELDENTUM UND M ÄNNLICHKEIT Ein für die Sakralisierung zum Helden zentraler, die gesamte Gesellschaft durchziehender Antagonismus stellt die binäre Strukturierung zwischen männlich und weiblich konnotierten »Eigenschaften« dar; in unseren patriarchal strukturierten Gesellschaften wird insbesondere den mit Männlichkeit assoziierten »Eigenschaften« wie Mut, Tatkräftigkeit und Kampfeslust eine besondere Anerkennung und Wertschätzung zuteil.20 »Held« ist männlich codiert. So sehr sind von antiken Heldenmythen bis heute meist Männer Helden21, dass wenn in man-

19 Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien: Passagen 1991. 20 Siehe zu Heldentum und Männlichkeit den instruktiven Aufsatz »Zur Genese der Gewalt der Helden. Gedanken zur Wirksamkeit der symbolischen Geschlechterkonstruktion« von Elisabeth Katschnig-Fasch im vorliegenden Band. Da es sich bei Helden meist um Männer beziehungsweise um stereotype männliche Eigenschaftszuschreibungen handelt, wurde auf die weibliche Form in diesem Aufsatz verzichtet. 21 So spielen etwa, wie Medienstudien zeigen, im deutschen Kinderfernsehen vorwiegend männliche Figuren die Heldenrollen, vgl. Götz, Maya: Männer sind die Helden.

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chen Filmen etwa Frauen die Rolle der Heldin zuteil wird, meist auch diese männlich codierten Zuschreibungen das Heldenhafte der Frau ausmachen, etwa im Bild der kampfeslustigen Amazone.22 Das heißt: Gemäß dem Theorem der symbolischen Herrschaft, auf das ich gegen Ende des Artikels zu sprechen komme, sind auch die Frauen, die von Herrschaft Betroffenen, nicht davor gefeit, genau die männlich codierten Verhaltens-, Deutungs- und Beurteilungsschemata qua Sozialisation zu übernehmen und als besonders verehrungswürdig zu betrachten. Praktiken, Handlungsorientierungen und Verhaltensmuster, die in unserer patriarchalen Gesellschaft »dem Weiblichen« zugeschrieben werden, werden dagegen meist dem Bereich des Profanen zugeordnet und erlangen selten Heldenstatus23, es sei denn das Weibliche wird gemäß, passend und innerhalb der patriarchalen Ordnungsmuster und Strukturkategorien sakralisiert, wie etwa die Frau als leidensbereite, selbstaufopfernde und Kinder schenkende Mutter im Nationalsozialismus.

I DENTIFIZIERUNG MIT UND L UST AUF H ELDEN Will man die affektiv-emotionale Ebene der Sakralisierung zum Helden noch näher in den Blick nehmen, so fällt ein Begehren auf, eine Lust am Helden; eine Lust, genau die in der patriarchal strukturierten Gesellschaft besonders anerkannten, ins Heldenhafte gesteigerten männlichen Verhaltensmuster am Werke zu sehen, sie zu verehren und sie in die eigene Ich-Erfahrung zu integrieren.

Geschlechterverhältnisse im Kinderfernsehen, http://www.br-online.de/jugend/izi/text/ mayaheld.htm vom 19.7.2017. 22 Wobei das Muster oftmals so aussieht, dass der Heldin dann ein mindestens ebenbürtiger Held zur Seite gestellt wird. 23 Tanja Paulitz, der ich an dieser Stelle für zentrale Hinweise und die Zusendung einiger wertvoller Beiträge zum Thema Männlichkeit und Heldentum danke, macht zum Beispiel auf die je nach Disziplin und Kontext feldspezifischen Dynamiken, Geschlechtersymboliken und Distinktionsmuster aufmerksam, mit denen Frauen in den Wissenschaften der Heldenstatus verwehrt wird und dadurch stets männliche Forscher als heldenhafte Entdecker und Abenteurer erscheinen. Siehe Paulitz, Tanja: »Die ›feinen Unterschiede‹ der Geschlechter in Naturwissenschaft und Technik. Kultursoziologische Perspektiven auf rechnende Frauen«, in: Sibylle Krämer (Hg.): Ada Lovelace. Die Pionierin der Computertechnik und ihre Nachfolgerinnen, München: Fink, S. 115-127; siehe auch Oreskes, Naomi: »Objectivity or Heroism? On the Invisibility of Women in Science«, in Osiris. Science in the Field, 2nd, 1/1996, S. 87-113.

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Nach Edgar Zilsel24, der die Heldenverehrung und Ehr-Furcht im Rahmen seiner Analyse der Geniereligion untersucht hat, bestehe im Heldenkult »die Neigung, ihnen unser Icherlebnis einzulegen, sie als ein Du zu fühlen«; es gibt in der Heldenverehrung eine Art jouissance (Lacan), könnte man vielleicht in heutiger Theoriesprache sagen, eine Art Lustgefühl und Genuss: »so genießen wir in jedem Athleten zugleich unsere eigene Kraft, in jedem König befriedigt sich unser eigenes Machtbedürfnis, in jedem Entdecker und produktiven Menschen zugleich unser eigener Schaffensdrang. [...] Hiezu kommt noch, daß Verehrung die Selbsteinschätzung des Verehrers im nachhinein beträchtlich erhöht, denn dieser glaubt sich durch das Band des Gefühles mit seinem Heiligsten verknüpft. Die Ehrfurcht färbt von dem Helden auf seine Verehrer ab und die Schar der Verehrer kann sich nun jedem Profanen überlegen fühlen: ›denn er war unser‹ wird zu ihrem Losungswort. Es werden also die Verehrer zu Priestern und Mittlern, auf denen ein Abglanz von Ehrfurcht ruht, die sich deshalb auch gedrängt fühlen, ihr Heiligstes zu erhöhen und mit ihm selbst zu wachsen. So wird der Held schließlich bis ins Übermenschliche und Göttliche gesteigert, bis die Verehrung einen religionsähnlichen Gefühlston annimmt [...].«25

Funktionalistisch ausgedrückt: Helden erfüllen die Funktion, den Zusammenhalt der Gemeinschaft zu verkörpern und zu garantieren, sich der dafür notwendigen Werte und Normen zu versichern sowie die Gemeinschaft – durch Nachahmung und Orientierung an der Heldenfigur – in sozialen Praktiken zu reproduzieren. Die Gemeinschaft spiegelt sich im Helden und grenzt sich so vom »bösen« oder bloß »Anderen« ab. Oft gehen Sakralisierungen von nationalen, ethnischen, politischen oder religiösen Gemeinschaften mit der Sakralisierung/Heroisierung von bestimmten Individuen einher, wie Czarnowskis Studie über St. Patrick und Irland zeigt, wo der Held und Heilige St. Patrick die Einheit der Nation symbolisiert. Die funktionalistische Erklärung sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Menschen mit ihrer Heldenverehrung ganz konkrete Gefühle und Erfahrungen verbinden, die sie dann als »Resonanz«26 des Helden interpretieren. Wie

24 Zilsel, Edgar: Die Geniereligion. Ein kritischer Versuch über das moderne Persönlichkeitsideal, mit einer historischen Begründung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 160. 25 Ebd., S. 160ff. 26 Der Verbindung zwischen dem Resonanz-Theorem von Hartmut Rosa (Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2016) und dem Sakralisierungskonzept werde ich an anderer Stelle nachgehen.

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Hubert27 in seinem Vorwort zu Czarnowskis soziologischer Analyse des Heldenkults weiter ausführt, bedarf es zur Sakralisierung des Individuums auch bestimmter Deutungsgeschichten, Narrationen wie Legenden und Mythen, »Origin-Stories«28 würde man heute sagen, zuweilen auch sakralisierter Orte – man denke etwa an Mausoleen, Schlachtfelder oder aktuell an den golddurchfluteten »Trump-Tower« – und Zeiten; Hubert29 betont mit Blick auf die Heroisierung und den damit notwendig einhergehenden Ritualen insbesondere den performativen, memorativen und konstitutiven Charakter von kollektiven, efferveszenten Festen.30

D IE E NTSTEHUNG DES S AKRALEN : D IE R OLLE DER E MOTIONEN UND DER S ELBSTTRANSZENDENZ Eine weitere Dimension ist für die Sakralisierungs- und Zuschreibungsprozesse ganz zentral: die Dimension der Erfahrung, insbesondere Erfahrungen gesteigerter Affektivität und hochemotionaler Ergriffenheit. Sakralität entsteht in solchen ergreifenden menschlichen Erfahrungen, die Hans Joas in seinen Arbeiten zu Sakralisierungsprozessen hervorhebt.31 Neben Pragmatisten wie William James und Josiah Royce haben bereits früh die religionssoziologischen Arbeiten von

27 H. Hubert: Préface, S. IIf. 28 Dath, Dietmar: Superhelden, Stuttgart: Reclam 2016, S. 21. 29 H. Hubert: Préface, S. LXVIff. 30 Vgl. auch Hubert, Henri: Essay on Time. A Brief Study of the Representation of Time in Religion and Magic, Oxford: Berghahn [1905] 1999; Caillois, Roger: Theorie des Festes, in: Denis Hollier (Hg.), Das Collège de Sociologie 1937-1939, mit einem Nachwort von Irene Albers und Stephan Moebius, Berlin: Suhrkamp [1939] 2012, S. 555-593. – Aber nicht nur Feste, auch Gewaltphänomene können Sakralisierungsprozesse initiieren, etwa die Erfahrungen von Krieg und Genozid eine Hinwendung zu den Idealen der Menschenrechte und zur Sakralität der Person bewirken, vgl. H. Joas: Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte. Oder man beschreibt wie Roger Caillois (Der Mensch und das Heilige. Durch 3 Anhänge über den Sexus, das Spiel und den Krieg in ihren Beziehungen zum Heiligen, erweiterte Ausgabe, München/Wien: Carl Hauser 1988) den Krieg selbst als sakralisiertes/ sakralisierendes Fest. 31 Joas, Hans: »Sakralisierung und Entsakralisierung«, in: Friedrich Wilhelm Graf/ Heinrich Meier (Hg), Politik und Religion. Zur Diagnose der Gegenwart, München: Beck 2013, S. 259-285, hier S. 263.

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Mauss, Hubert und Durkheim darauf aufmerksam gemacht; Mauss und Hubert in ihren Arbeiten über die Magie, Durkheim in seiner späten Religionssoziologie. Die durkheimiens sehen in kollektiven Erregungszuständen die Ursprünge religiöser Deutungsmuster und die Basis für die Unterscheidung zwischen dem Sakralen und Profanen. Auch wenn diese These zur Entstehung des Sakralen eine kollektive Innovation der Durkheim-Schule war, so erlangte doch vor allem der »soziologische Held« Émile Durkheim mit seiner Beschreibung der »kollektiven Efferveszenz« Berühmtheit.32 Durkheim geht in der Studie Die elementaren Formen des religiösen Lebens33, dem Kulminationspunkt seiner (späten) Religionssoziologie, von der Annahme aus, dass das Objekt religiöser Verehrung die Gesellschaft selbst sei. Das kollektive Leben, insbesondere intensiv erlebte Vergemeinschaftungserfahrungen, erwecken ihm zufolge religiöse Überzeugungen und Praktiken. Religion definiert er dabei als ein »solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf sakrale, d.h. abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und Praktiken beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kirche nennt, alle vereinen, die ihr angehören«.34

Religion geht in diesem Sinne über die Götter- oder Geisteridee hinaus. Denn entscheidender für ein religiöses Deutungs- und Wahrnehmungsmuster ist Durkheim zufolge die Zweiteilung der Welt in einen Bereich des Sakralen und einen Bereich des Profanen.35 Diese für die »religiöse Idee« zentrale Dichotomie ergibt 32 Nur am Rand: Auch in der Soziologie, die theoretisch eigentlich von Grund auf sensibel für die kollektive Wissensproduktion ist, scheint in der Kanonisierung soziologischen Wissens diese soziale Tatsache der kollektiven Wissensproduktion gerne zugunsten personalisierter, meist männlicher Heldengeschichten verdrängt zu werden. Was Durkheims Theorie des Sakralen angeht, siehe S. Moebius (Die Religionssoziologie von Marcel Mauss 2012) im Kontext einer detaillierten Analyse der kollektiven Erkenntnis des Sakralen in der Durkheim-Schule. 33 E. Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens. 34 Ebd., S. 75, (kursiv i.Org.). 35 Vgl. ebd., S. 300. Wobei sich der Bereich des Sakralen noch einmal in ein reines und unreines Sakrales unterteilen lässt (dazu später mehr). Siehe dazu die Studien von Robert Hertz (Das Sakrale, die Sünde und der Tod. Religions-, kultur- und wissenssoziologische Untersuchungen, hg. von Stephan Moebius und Christian Papilloud, Konstanz: UVK 2007), der diese Ambiguität des Sakralen innerhalb der Durkheim-Schule wohl am eindringlichsten analysiert hat. Das heißt aber auch, dass die kollektive Ef-

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sich aus extrem intensiv erlebten Interaktions- oder Gemeinschaftssituationen, die Durkheim mit dem Begriff der »effervescence« bezeichnet.36 Die hochaffektiven und -emotionalen Erfahrungen legen es für die Teilnehmenden nahe, zwischen ihrer alltäglichen profanen Lebensweise und diesen außeralltäglichen sakralen Situationen zu differenzieren. Die meist durch Rituale vermittelten und wiederholten außeralltäglichen Erfahrungen der kollektiven Efferveszenz, resultierend aus den situativen, wechselseitigen, zeichenvermittelten und sinnhaften – kognitiven wie emotionalen – »Gemeinsamkeitswahrnehmungen«37, drücken sich darin aus, dass sich die Teilnehmer_innen in diesen Situationen über sich selbst hinausgerissen fühlen.38 Nach Durkheim39 könne man sich »leicht vorstellen, daß sich der Mensch bei dieser Erregung nicht mehr kennt. Er fühlt sich beherrscht und hingerissen von dieser Macht, die ihn zwingt, anders als gewöhnlich zu denken und zu handeln.« Diese Erfahrungen werden dann als Wirkungen externer Mächte gedeutet, anstatt sie als das zu erkennen, was sie in Wirklichkeit sind: die Effekte der Sozialität selbst, mit den Ritualen als Mittel der Herstellung und regelmäßigen Stabilisierung von sozialer Kohäsion.40 Das heißt, die Idee des Sakralen – oder in den Worten Durkheims: das »religiöse Prinzip« – ist »nichts anderes als die hypostasierte und transfigurierte Gesellschaft«.41 ferveszenz nicht immer mit Erfahrungen eines positiven Sakralen einhergehen muss, sondern etwa auch mit Gewalterfahrungen (vgl. dazu auch Pettenkofer, Andreas: Radikaler Protest. Zur soziologischen Theorie politischer Bewegungen, Frankfurt am Main/New York: Campus 2010, S. 232ff.). 36 Vgl. E. Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, S. 301. 37 A. Pettenkofer: Radikaler Protest, S. 222ff. 38 Vgl. Joas, Hans: Die Entstehung der Werte, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 93ff. 39 E. Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, S. 300. 40 Zur Darstellung und Diskussion dieser religionssoziologischen Position, insbesondere zur Kritik daran, wie denn aus der Erfahrung kollektiver Efferveszenz auch gleich die Deutung dieser Erfahrungen herauswachsen soll, vgl. H. Joas: Die Entstehung der Werte, S. 87ff. Zur Diskussion des mit der Annahme einer endogenen Eigendynamik von Gruppenprozessen verbundenen Naturalismusproblems bei Durkheim siehe auch die instruktiven Interpretationen in A. Pettenkofer: Radikaler Protest, S. 209ff. 41 E. Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, S. 468. Matthias König weist zu Recht darauf hin, dass es Durkheim hier nicht nur um die Sakralisierung der Gesellschaft geht, sondern der Akzent auch darauf liegt, »das Moment des Sakralen in Formen kultureller Integration zu identifizieren«. (König, Matthias: Menschenrechte bei Durkheim und Weber. Normative Dimensionen des soziologischen Diskurses der Moderne, Frankfurt am Main/New York: Campus 2002, S. 61).

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Wie andere Schriften von Durkheim deutlich machen, sah er in modernen Gesellschaften im Zuge der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung und Arbeitsteilung insbesondere eine »Sakralität des Individuums« als sozialintegratives Glaubenssystem wirksam werden, eine »Religion, in der der Mensch zugleich Gläubiger und Gott ist«.42 Damit ist weder die heldenhafte Verehrung eines bestimmten Individuums noch die Huldigung eines selbstbezogenen, utilitaristischen Individualismus gemeint, wie Hans Joas43 in seiner instruktiven Analyse zur »Sakralität der Person« hervorhebt: »Ein Kult des Individuums um des Individuums willen kann von Durkheim dann als abergläubische Verfallsform des wahren Individualismus gedeutet werden. Ich selbst spreche von der Sakralität der Person und nicht des Individuums, um ganz sicherzugehen, daß der damit umschriebene Glaube an die irreduzible Würde jedes Menschen nicht sofort verwechselt wird mit einer gewissenlos egozentrischen Selbstsakralisierung des Individuums und damit einer narzißtischen Unfähigkeit, sich aus der Selbstbezüglichkeit zu lösen.«

Während also die Sakralität der Person für Durkheim und Joas ein Glaube an die Menschenwürde und Menschenrechte kennzeichnet, der aufgrund kontingenter historischer Prozesse entstanden ist44, ist der Glaube an und die Sakralisierung einzelner Individuen in Form der Heldenverehrung eine Art »Verfallsform« der Sakralität der Person, die es freilich schon vor der Sakralität der Person und dem mit ihr verbundenen modernen Ideal der Menschenwürde zum Beispiel in der Antike gegeben hat. Die Antike, um bei diesem Beispiel zu bleiben, war ein Abschnitt in der Geschichte der Menschheit, in dem die sakrale Aufladung von Personen bereits möglich war. Ich will diesen Gedanken in knapper Form anhand der Überlegungen von Hans Joas45 entwickeln: Im Anschluss an Durkheim hebt Joas hervor, dass Idealbildungen und Sakralisierungen »in ihrer ursprünglichen Gestalt eine Idealisierung bestimmter besonders gelungener Zustände des Kollektivs [sind], aus dem dieses Ideal hervorgeht; die Sakralisierung bestimm42 Durkheim, Émile: »Der Individualismus und die Intellektuellen«, in: Hans Bertram (Hg.), Gesellschaftlicher Zwang und moralische Autonomie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986 [1898], S. 54-70, hier S. 57. 43 H. Joas: Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, S. 85f. Vgl. Durkheims Kritik am utilitaristischen Individualismus in E. Durkheim: Der Individualismus und die Intellektuellen, S. 56. 44 Vgl. H. Joas: Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte. 45 Vgl. H. Joas: Sakralisierung und Entsakralisierung, S. 269ff.

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ter Gehalte ist ursprünglich immer auch eine Selbstsakralisierung des Kollektivs. Nur aus einer anachronistischen individualistischen Perspektive denken wir zuvörderst an das Individuum und seine Erfahrung der Diskrepanz zwischen dem Ideal und seinem realen Vermögen.«46

Während in früheren archaischen Gesellschaften nach Joas noch kein Individuum »dauerhaft als Verkörperung des kollektiven Idealzustands erlebt« wurde, änderte sich dies mit der Zeit, ohne dass die Selbstsakralisierung des Kollektivs verschwunden wäre. Man sprach nun denen, die die Selbsttranszendenz befördernden Rituale am besten kannten, den »Experten« der Ritualdurchführung wie etwa den Alten, Schamanen, Priestern etc., besondere Eigenschaften oder Vorbildcharakter zu. Ebenso wurden besonders mutigen Kämpfern und Kriegern, die gegen andere als »unheilig« empfundene Kollektive und die sie repräsentierenden Personen kämpften, sakrale Kräfte zugesprochen.47 Der Einzelne wurde in archaischen Gesellschaften dennoch noch nicht als absolutes Ich wahrgenommen, sondern als Organ des Clans. Die Heroisierung, die nun nicht mehr nur das Kollektiv betraf oder seine besonderen Vorbilder, Rollen oder Funktionsträger, sondern auch Einzelne im modernen Sinne von individueller Person, war indes nur möglich durch die Herausbildung einer Vorstellung von Individualität, die wiederum mehrere Entwicklungsschritte durchlief. Anders gesagt: Die allmähliche Veränderung hin zu einem Bewusstsein von sich selbst als vom Kollektiv losgelöstes Individuum hängt zusammen mit gesellschaftlichen Wandlungsprozessen wie etwa zunehmender Arbeitsteilung und der Bildung von Privateigentum, durch die sich immer mehr ein Bewusstsein von Individualität herausgebildet hat. Marcel Mauss hat diese Prozesse beschrieben. Er ist der Entstehung der Idee von Individualität, der Entwicklung der Vorstellung des Ich und der Person in einem eindrücklichen Vortrag mit dem Titel »Eine Kategorie des menschlichen Geistes: Der Begriff der Person und des Ich« nachgegangen.48 Das römische Recht, schließlich die Philosophie der Stoa und dann das Christentum markieren ihm zufolge zentrale Schritte hin zum Bewusstsein von Individualität. 46 Ebd., S. 270 (Hervorhebung im Original). 47 Vgl. ebd. S. 271; siehe auch zu engen Verbindung von Heldentum und der Figur des Kriegers: Kuzmics, Helmut/Haring, Sabine: Emotion, Habitus und Erster Weltkrieg: Soziologische Studien zum militärischen Untergang der Habsburger Monarchie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013, S. 471ff. 48 Mauss, Marcel: »Eine Kategorie des menschlichen Geistes: Der Begriff der Person und des Ich«, in: Ders., Soziologie und Anthropologie, Band 2, Frankfurt am Main: Fischer 1999, S. 221-252.

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Mit der Entstehung von Religionen im Sinne einer »professionellen Systematisierung des Sakralen« und der »Herausbildung elementarer staatlicher Strukturen« kam es schließlich nach Joas zu einer »[…] Steigerung der Konzentration der Sakralität in machtvollen Personen, die es schon bei der Sakralisierung von ›Häuptlingen‹ gab, in Orten ihres Lebens oder ihrer Totenruhe und des durch sie oder in ihrem Auftrag durchgeführten Kultes ins Unermeßliche. Nun kann keine Rede mehr davon sein, daß das Ideal einfach ein gehobener Zustand des Kollektivs oder ein als vorbildhafter erlebter Mensch sei; jetzt können Machtmittel zur Befestigung des einen Kultes eingesetzt werden, Ansprüche auf Unterordnung durch die kosmische Rolle des Herrschers begründet, Opferpraktiken auf Menschenopfer hin ausgeweitet [werden].«49

Einen bedeutenden Schritt in diesem Verlaufsprozess stellt die so genannte »Achsenzeit« (Jaspers) dar. Damit ist jene Zeitspanne zwischen 800 und 200 v. Chr. gemeint, in der in parallelen, aber weitgehend voneinander unabhängigen Prozessen alle großen Weltreligionen und Philosophien entstanden sind: Konfuzianismus, Hinduismus, Buddhismus, die griechische Philosophie, im Iran die Lehre Zarathustras als Vorläufer des Islam, das Judentum, später (ausgehend vom Alten Testament) das Christentum. Was sich in dieser Zeit änderte, war die Auffassung von der Spannung zwischen dem Weltlichen und dem Göttlichen. Nun wurde die Welt scharf von dem Bereich des Göttlichen getrennt. Die Achsenzeitkulturen lösten die Spannung entweder säkular (etwa der Konfuzianismus oder die griechische Philosophie), außerweltlich (Buddhismus, Hinduismus) oder in einer Mischung aus außer- und innerweltlicher Perspektive (die Kulturen der monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam). Als Folge wurde die Welt innerhalb der Achsenzeitkulturen im Vergleich zum nun abgetrennten Ideal des Himmelreichs als unvollständig und minderwertig empfunden, als erlösungsbedürftig. Es findet eine Art Entsakralisierung der politischen Macht statt, da diese sich immer gegenüber dem Göttlichen rechtfertigen muss, der charismatische Führer, Häuptling oder König ist nun nicht mehr selbst ein Gott, sondern von dieser Welt. Aber wie man weiß, ließ sich der Bereich des Göttlichen dennoch immer wieder »als Quelle neuer religiöser Legitimation politischer Macht in den Dienst nehmen«50, ein Führer konnte sich als von Gott eingesetzt oder auserwählt inszenieren. Für die Analyse des Heldentums hat dies folgende Konsequenzen: Die Legitimation und die Möglichkeit von Heldentum konnte sich historisch ändern und 49 H. Joas: Sakralisierung und Entsakralisierung, S. 271. 50 Ebd., S. 275.

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nach der Achsenzeit unterschiedliche Wege gehen. Heldenhaftigkeit beziehungsweise Sakralität kann noch wie in vorachsenzeitlichen Kulturen einem sich für das Kollektiv aufopfernden, im Kampf für das Kollektiv bewährten Krieger zugeschrieben werden. Heldentum kann sich über die Auserwählung legitimieren, wenn der Held dem erlösungsbedürftigen Kollektiv als von Gott auserwählt gilt. Und in der modernen Gesellschaft kann dies wieder der Fall werden, wenn die Bezüge zu den achsenzeitlichen Religionen und ihrer scharfen Trennung zwischen dem Göttlichen und der Welt gekappt werden. Dann erscheint der Führer selbst als der Herrgott. »In den Totalitarismen des zwanzigsten Jahrhunderts [...] finden sich Formen der Selbstsakralisierung des Staates und der politischen Führer, die in ihrer Wucht an den archaischen Staat erinnern, aber immens gesteigert durch die technischen Mittel, die jetzt zur Verfügung stehen. Diese Totalitarismen erinnern an den archaischen Staat, stellen aber keine Rückkehr zu ihm dar, weshalb man in ihrem Fall von einer Sakralisierung der Politik im Unterschied zu einer Sakralisierung der Macht gesprochen hat.«51

Fassen wir das bis hier Gesagte noch einmal zusammen: Wie deutlich wurde, hat Hans Joas mittlerweile in unterschiedlichen Arbeiten Durkheims Erklärung der Entstehung des Sakralen aufgegriffen und in kritischer Auseinandersetzung damit weiter ausgearbeitet.52 Er fasst dabei die Erfahrungen, »in denen Menschen sich über sich selbst hinausgerissen fühlen« als Erfahrungen der »Selbsttranszendenz«, als ein Über-sich-hinausgerissen- beziehungsweise Ergriffen-Werden, wobei in der Regel die dabei erfahrene Übersteigung des Selbst auf außerhalb seiner selbst liegende Quellen zurückgeführt wird. »Ganz wichtig ist, daß es sich bei der Idealbildung nicht um einen intentionalen Prozess handelt. Wir können nicht beschließen, etwas als Ideal zu betrachten, sondern wir müssen umgekehrt davon ergriffen werden, weshalb wir in allen solchen Fällen uns als passiv erleben, als Empfänger einer Gabe, Hörer einer Botschaft, Gefäß einer Inspiration.«53 Dieses situative Ergriffen-Werden kann, vor dem Hintergrund spezifischer Deutungsmuster, meist in Form von emotional aufgeladenen Narrativen, Mythen, biografischen Erzählungen ganz unterschiedlich interpretiert und artikuliert werden.54 Die Sakralisierung erwächst somit nicht einfach automatisch aus den 51 Ebd., S. 283. 52 Vgl. H. Joas: Die Entstehung der Werte; Die Sakralität der Person; Sakralisierung und Entsakralisierung, um nur diese zu nennen. 53 H. Joas: Sakralisierung und Entsakralisierung, S. 265. 54 Im Falle der Sozialfigur des Helden konnten zum Beispiel Cambell, Joseph/Koehne, Karl: Der Heros in tausend Gestalten, Frankfurt am Main: Insel Verlag 1999, einige

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Erfahrungen, sondern, wie Joas an unterschiedlichen Stellen hervorhebt, aus einem komplexen Wechselspiel zwischen der Ebene der präreflexiven Erfahrungen wie des Ergriffen-Werdens oder der Selbsttranszendenz, der erlebten Situation und der Gefühle, der Ebene unserer individuellen Artikulation und intersubjektiven Interpretation dieser Erfahrungen und der Ebene der kulturell vorhandenen Deutungsschemata, die niemals gänzlich die Artikulation determinieren. 55 Halten wir also fest: Die Zuschreibung von Sakralität verläuft in sozialen Prozessen, in Erfahrungsmomenten der Selbsttranszendenz und den damit einhergehenden Deutungsversuchen. »Die Qualität ›Sakralität‹ wird Objekten spontan zugeschrieben, wenn sich eine Erfahrung eingestellt hat, die so intensiv ist, daß sie das gesamte Weltbild und das Selbstverständnis derer, die diese Erfahrung gemacht haben, konstituiert oder transformiert. Die Elemente der Erfahrungssituation werden mit der Ursache dieser Intensität in Verbindung gebracht. Heilige Gegenstände stecken andere Gegenstände an und breiten so Heiligkeit aus [...].«56 Ähnlich in Bezug auf sakralisierte Individuen: diese stecken andere an und breiten so Sakralität aus. Für die Analyse der Sakralisierungsprozesse sind neben den genannten emotional-affektiven Erfahrungen und deren Artikulationen und Interpretationen nach Joas noch weitere Dimensionen zu berücksichtigen, insbesondere das Zusammenspiel von Institutionen, Werten und Praktiken: »Institutionen, z.B. das Recht, übersetzen Werte in bindende Regeln. Sie sind viel präziser als Werte, aber in ihrer Beschränkung auf bindende Regeln reduzieren sie auch den potentiellen Sinn eines Werts auf einen ganz bestimmten Inhalt. Werte figurieren in diesem Zusammenhang als diskursive Artikulationen von Erfahrungen, aus denen eine Bindung hervorgeht, die als subjektiv evident und affektiv intensiv erfahren wird. In Praktiken lebt ein prä- oder nicht-diskursives Bewusstsein dessen, was gut oder böse ist. Wenn wir so im Schema eines Dreiecks von Institutionen, Werten und Praktiken denken, ist es nicht überraschend, dass immer Spannungen zwischen diesen drei Dimensionen aufkommen. Institutionen beziehen ihre Legitimation aus artikulierten Werten. [...] Artikulationen von Erfahrungen und konstitutive Bindungen sind nie definitiv. Werte schöpfen andererseits quasi-universelle, idealtypische Verlaufs- und Strukturmuster von Heldennarrativen festmachen. 55 H. Joas: Die Entstehung der Werte, S. 210ff.; Ders.: »Säkulare Heiligkeit. Wie aktuell ist Rudolf Otto?«, in: Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München: C.H. Beck 2014, S. 255281, hier S. 276; Ders.: Braucht der Mensch Religion? Über Erfahrungen der Selbsttranszendenz, Freiburg i.Br.: Herder 2004, S. 62. 56 H. Joas: Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, S. 93.

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auch Praktiken nie ganz aus [...]. Für das Verständnis kultureller Transformationsprozesse und in diesem Zusammenhang von Prozessen der Sakralisierung ist es wesentlich, dass solche Prozesse ihren Ausgang von jeder der drei Ecken des Dreiecks nehmen können. Institutionalisierung im Sinn rechtlicher Kodifizierung kann am Anfang stehen. Das westdeutsche Grundgesetz ging meines Erachtens der Etablierung einer demokratischen Kultur in Deutschland voraus. Werte können auch am Anfang stehen: eine intellektuelle Debatte darüber, was als gut gerechtfertigt werden kann, kann chronologische Priorität haben; aber dasselbe trifft für Praktiken zu. [...] Wie die genaue Konstellation in einem spezifischen Sakralisierungsprozess aussieht, ist dann eine rein empirische Frage.«57

Die Prozesse der Sakralisierung eines Individuums, die dieses zu einer heroischen, mit bestimmten Weihen und symbolischem Kapital ausgestatteten Sozialund Integrationsfigur konstituieren, und die mit der Sakralisierung einhergehende Institutionalisierung des Heldentums erfolgen jeweils in einem spezifischen historischen, kulturellen und gesellschaftlichen Kontext und sind somit – wie erwähnt – jeweils empirisch zu analysieren. Auch sind sie in ihrem Verhältnis, sei es in ihren Bündnissen, Konflikten oder Indifferenzen, zu anderen Sakralisierungsprozessen (etwa Sakralisierung der Nation, religiöser Gemeinschaften, bestimmter Personenkonzepte wie des homo oeconomicus) zu erforschen. Dabei ist im Sinne des vorliegenden Vorschlags, die Heroisierung als Sakralisierungsprozess zu begreifen, zusammenfassend gesagt darauf zu achten, neben der Analyse der Institutionalisierungen des Heldentums, also den Versuchen, die Sakralität des Helden zu legitimieren, zu kodifizieren und somit auf Dauer zu stellen, ebenso stets die affektiven und emotionalen Erfahrungsmomente und ihre Interpretationen, lustvollen Projektionen und das subjektive Evidenzempfinden der Akteure ins Auge zu fassen. Im Zusammenhang damit ist zu untersuchen, wie diese Erfahrungen, Artikulationen, Interpretationen und Projektionen nicht nur von bestimmten gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen und kulturellen (Macht-)Verhältnissen, Situationen und Deutungsmustern geprägt sind, sondern auch, wie sie in den Diskursen und (Alltags-)Praktiken zu Tage treten, die es für die Menschen augenscheinlich, attraktiv und vernünftig erscheinen lassen, ein Individuum zu sakralisieren/heroisieren. »Der Terminus ›Sakralisierung‹ darf nicht so aufgefaßt werden, als habe er ausschließlich eine religiöse Bedeutung. Auch säkulare Gehalte können die Qualitäten annehmen, die für die Sakralität charakteristisch sind: subjektive Evidenz und affektive Intensität. Sakralität kann neuen Gehalten zugeschrieben werden; sie kann wandern oder transferiert wer57 H. Joas: »Die Sakralität der Person«, in: Heinrich Wilhelm Schäfer (Hg): Hans Joas in der Diskussion. Kreativität – Selbsttranszendenz – Gewalt. Frankfurt am Main/New York: Campus 2012, S. 147-165, hier S. 155f.

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den, ja das ganze System der Sakralisierung, das in einer Kultur gilt, kann umgewälzt werden.«58 Die Sakralisierungsprozesse unterliegen also historisch kontingenten Dynamiken; das heißt, Ideen, Personen, Dinge oder Gemeinschaften können ihren sakralen Charakter verändern und auch wieder verlieren.59

S AKRALISIERUNG ODER C HARISMATISIERUNG ? D IE D YNAMIK UND DIE ZWEI S EITEN DES S AKRALEN UND H EROISCHEN Nicht nur die durkheimiens haben sich mit Sakralisierungsprozessen beschäftigt, bekannt ist ebenso das Charisma-Konzept von Max Weber60, der sich neben den Zuschreibungs- auch auf die Veralltäglichungs- und Institutionalisierungsprozesse des Charismas sowie auf die herrschaftssoziologische Relevanz charismatischer Führerschaft bezieht. »›Charisma‹ soll eine als außeralltäglich (ursprünglich, sowohl bei Propheten wie bei therapeutischen wie bei Rechts-Weisen wie bei Jagdführern wie bei Kriegshelden: als magisch bedingt) geltende Qualität einer Persönlichkeit heißen, um derentwillen sie als mit

58 H. Joas: Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, S. 18. 59 Siehe etwa die ideengeschichtlichen Veränderungen dessen, was als heldenhaft begriffen wurde, aber auch die im Rahmen militärischer Auseinandersetzungen stattfindenden Dynamiken der Sakralisierungsprozesse zum Helden, wie sie Kuzmics/Haring: Emotion, Habitus und Erster Weltkrieg, S. 471ff. beschreiben; so kann das Heldenhafte etwa in besonderer Tapferkeit gesehen werden, aber auch in der Überwindung der Angst. Wie Kuzmics und Haring zeigen, gab es durchaus unterschiedliche Deutungen im Ersten Weltkrieg, was das Verhältnis zwischen Angst und Heldentum ausmachte, etwa ob gerade die Überwindung der Angst heldenhaft ist oder ob nicht gerade die völlige Inexistenz von Angst zum Helden gehört; siehe auch S. 473: »Das, was Zeitgenossen der Frontkämpfer als heldisch erschienen sein mag, mag 2013 bisweilen als närrisch oder gar verabscheuungswürdig empfunden werden. Das Eingestehen von Angst beispielsweise ist am Beginn des 21. Jahrhunderts durchaus gesellschaftsfähig, während es am Beginn des 20. Jahrhunderts noch wesentlich schambesetzter war.« 60 Vgl. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft, Frankfurt am Main: Zweitausendeins [1909] 2005, S. 179ff. und 832ff.; Gebhardt, Winfried: »Einleitung: Grundlinien der Entwicklung des Charismakonzepts in den Sozialwissenschaften«, in: Ders. et al. (Hg.): Charisma. Theorie. Religion. Politik, Berlin/New York: De Gruyter 1993, S. 1-12.

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übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen, nicht jedem zugänglichen Kräften oder Eigenschaften (begabt) oder als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als ›Führer‹ gewertet wird. Wie die betreffende Qualität von irgendeinem ethischen, ästhetischen oder sonstigen Standpunkt aus ›objektiv‹ richtig zu bewerten sein würde, ist natürlich begrifflich völlig gleichgültig: darauf allein, wie sie tatsächlich von den charismatisch Beherrschten, den ›Anhängern‹, bewertet wird, kommt es an. [...] Über die Geltung des Charisma entscheidet die durch Bewährung – ursprünglich stets: durch Wunder – gesicherte freie, aus Hingabe an Offenbarung, Heldenverehrung, Vertrauen zum Führer geborene, Anerkennung durch die Beherrschten.«61

Der Zuschreibungscharakter steht bei Weber im Mittelpunkt; aber auch – und das macht den charismatischen Führer mitunter auch gefährlich: er steht permanent »unter einem gesteigerten Bewährungszwang«.62 Charismatisierung scheint darüber hinaus für Weber die Antwort auf eine anthropologische »Dauerproblematik« zu sein, wie Winfried Gebhardt63 betont: »Diese besteht in der dauernden Erfahrung der sich aus der nur unzureichenden Erfolgssicherheit des menschlichen Handelns ergebenden spezifischen ›Sinnlosigkeit der Welt‹, die insbesondere in der Form des persönlichen Leids, der Minderbefriedigung materieller Bedürfnisse und sozialer Ungerechtigkeit erfahren wird.« Anstatt die wahren, in den gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen liegenden Ursachen für diese Probleme aufzuspüren und zu beseitigen, werden Menschen von den Profiteuren der Herrschaft dazu gebracht, so diese über Weber hinausgehende Interpretation, die »Lösung« ihrer Probleme wiederum in kulturindustriell verfertigten, ekstatischen Erlebnissen und charismatischen Führern zu suchen.64 Insofern ist die Charismatisierung beziehungsweise Sakralisierung von Individuen nicht als anthropologische Konstante, sondern als spezifische Suche nach letztem Sinn, nach Sinnerfüllung und als Bewältigung und (am Problem vorbeigehende) historisch-situierte Antwort auf gesellschaftliche (Herrschafts-)Probleme und Krisen zu definieren.65 61 M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 179. 62 Schluchter, Wolfgang: Die Entstehung des modernen Rationalismus. Eine Analyse von Max Webers Entwicklungsgeschichte des Okzidents, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 247. 63 W. Gebhardt: Einleitung, S. 4. 64 Vgl. Bauman, Zygmunt: Die Angst vor den anderen. Ein Essay über Migration und Panikmache, Berlin: Suhrkamp 2016, S. 49ff. 65 Es kann dabei historisch beobachtet werden, dass die als krisenhaft wahrgenommene Wirklichkeit nicht nur oftmals durch die Sehnsucht nach charismatischen Führern oder durch Sakralisierungen von (nationalen, religiösen, lebensreformerischen etc.)

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Weber selbst verfiel dem Glauben an das Charisma im Sinne der Befürwortung eines »heroischen Individualismus«66 als Lösungsweg aus gesellschaftlichen Krisen: Vor dem Hintergrund der weit verbreiteten kulturpessimistischen Stimmung seiner Zeit67 teilte Weber mit Nietzsche »die Überzeugung, daß nur der einzelne, und in aller Regel nur der große einzelne, in der Lage sei, der Gesellschaft neue Ziele zu setzen und neue Impulse zu geben. [...] Die charismatische Persönlichkeit wirkt als ›Wertebringer‹, als Unterbrecher der Lebensroutinisierung in Zeiten, in denen die traditionalen oder legalen Legitimitätsgrundlagen einer Gesellschaft in Zweifel gezogen werden, indem sie den Glauben an die Legitimität der etablierten Ordnung und der traditionalen Glaubenssysteme erschüttert.«68 Weber wollte jedoch, bei all seinem Glauben an die Notwendigkeit einer heroischen Führerpersönlichkeit, paradoxerweise die Irrationalität des Charismas entschlüsseln und soziologisch in den Griff bekommen, um sie rational zu bewältigen.69 Allerdings, und das macht die durkheimiens für eine Analyse von Sakralisierungsprozessen ungleich interessanter als Weber, wird dessen Charismatheorie nach Hans Joas »nicht der Breite der Phänomene gerecht [...], für die sich dessen Verwendung angeboten hätte. Weber setzt hier im wesentlichen voraus, daß es die Zuschreibung außeralltäglicher Qualitäten an Personen gibt, und daß die so betrachteten Individuen deshalb als ›Führer‹ gewertet werden. Was ihn interessiert, sind nicht die handlungstheoretischen Fragen: weGemeinschaften zu bewältigen versucht wurde, ebenso konnte die Wahrnehmung und Problemlösung in eine resignative Sichtweise umschlagen, der zufolge jede und jeder die Gegenwart wie ein Held ertragen müsse; dann finden wir eine Veralltäglichung und Fatalisierung des Heldenhaften, eine Propagierung einer heroisch-tragischen Existenzweise vor, wie sie etwa Helmuth Plessner (Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, Frankfurt am Main: Suhrkamp [1924] 2001, S. 104) angesichts des unaufhaltsamen modernen Vergesellschaftungsprozesses bei gleichzeitiger Kritik an romantischen Gemeinschaftssehnsüchten empfahl. Vgl. dazu auch Winfried Gebhardt: »›Warme Gemeinschaft‹ und ›kalte Gesellschaft‹. Zur Kontinuität einer deutschen Denkfigur, in: Günter Meurer/Henrique Ricardo Otten (Hg.), Der Aufstand gegen den Bürger. Antibürgerliches Denken im 20. Jahrhundert. Würzburg: Königshausen & Neumann 1999. S. 165-184, hier S. 180. 66 Kamphausen, Georg: »Charisma und Heroismus. Die Generation von 1890 und der Begriff des Politischen«, in: Winfried Gebhardt et al. (Hg.): Charisma. Theorie. Religion. Politik. Berlin/New York: De Gruyter 1993, S. 221-246, hier S. 228. 67 Vgl. Moebius, Stephan: Kultur, Bielefeld: transcript 2011, S. 20ff. 68 G. Kamphausen: Charisma und Heroismus, S. 229. 69 Vgl. ebd., S. 230.

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der die Beschaffenheit dieser Personen noch die genauere Analyse der Situationen, in denen diese Zuschreibungen erfolgen, noch der Interaktionen zwischen Charismatikern und Anhängern noch der Bedürfnisse von Kollektiven, die vom ›Charisma-Hunger‹ getrieben werden [...].«70

Aus der von Joas verfolgten pragmatistischen Theorieperspektive wäre demnach zu analysieren, welche Personen wie, vor welchem Hintergrund und warum einem Individuum Charisma zuschreiben, in welcher Situation und aufgrund welcher Erfahrungen dies geschieht, welche Bedürfnisse und Problemlagen dem zugrunde liegen und wie dies als Interaktionsprozess zu interpretieren ist. Begreift man den Heldenkult mit den durkheimiens als einen Sakralisierungsprozess und nicht nur im Sinne von Webers Charisma-Konzept, bekommt man analytisch zudem noch besser die Ambiguität der Helden in den Blick; eine Ambiguität, die mit der Ambiguität des Sakralen einhergeht. Gemeint ist die insbesondere von Robert Hertz erforschte Zweiseitigkeit des Sakralen. Diese Zweiseitigkeit kennen wir beispielsweise noch in unseren Vorstellungen des guten Nikolaus und des bösen Krampus; in allen mir bekannten Religionen existieren Vorstellungen von bösen Dämonen, gefallenen Engeln und Teufelsfiguren. »Sacer« bedeutet ja auch im Lateinischen sowohl heilig als auch verflucht. Vor allem in Hertz’ Untersuchungen über die Vorherrschaft der rechten Hand und Die kollektiven Repräsentationen des Todes71 kristallisiert sich der Begriff des linken Sakralen heraus. Das Sakrale steht dem Profanen gegenüber und kann nach Hertz selbst noch einmal in zwei Pole von links und rechts differenziert werden: Steht das rechte Sakrale für Reinheit, Ordnung und das Erhabene, so das linke Sakrale für das Niedere, den Tod, die Sünde und die Unreinheit. Die positive Assoziation mit der rechten Seite findet sich dann ebenso in der Vorherrschaft der rechten Hand wie auch in anderen symbolischen Ordnungen, in denen der rechten Seite das Gute, der Linken das Böse zugesprochen wird. Diese Dualität ist jedoch nicht fixiert, die Seiten können wechseln. Als Beispiel für den Wechsel vom linken zum rechten Sakralen betrachtet Hertz das Ritual der zweiten Bestattung bei den Ngadju Dayak aus Borneo: Ist der Leichnam vor der Verwesung noch unrein, so sind die Knochen nach der Verwesung verehrungswürdige »Reliquien«, also rechtes Sakrales.72 Folgt man bei der Analyse von Heldenverehrungen dem Konzept der Sakralisierung so ist zu beachten, dass die Sakralisierungsprozesse in ihren normativen Orientierungen nicht nur nach mehreren Seiten verlaufen können wie rechts70 Joas, Hans: Die Kreativität des Handelns, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S. 72. 71 Vgl. R. Hertz: Das Sakrale, die Sünde und der Tod. 72 R. Hertz: Das Sakrale, die Sünde und der Tod, S. 115ff.

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links, sondern auch höchst dynamisch sind, aus Antihelden können Helden werden und umgekehrt – und in Anlehnung an und passend zu Laclaus/Mouffes Konzept des konstitutiven Außen: Für die Konstituierung der Helden bedarf es (neben dem meist weiblich konnotierten Profanen) der Antihelden, die das so genannte linke Sakrale repräsentieren.73

S AKRALISIERUNG / H EROISIERUNG ALS P ROZESS SYMBOLISCHER H ERRSCHAFT Sakralisierungsprozesse sind Macht- und Herrschaftsprozesse.74 Das CharismaKonzept ist nicht ohne Grund innerhalb von Webers Herrschaftssoziologie angesiedelt. Auch sind die Zuschreibungsprozesse zum Helden gemäß des Theorems der produktiven Macht nach Michel Foucault deutbar. Das Theorem der produktiven Macht besagt, dass Macht nicht nur mit Zwang oder Verboten operiert, sondern mit der Produktion von Normen oder Subjekten. In Bezug auf das vorliegende Thema heißt das, dass in den diskursiven Zuschreibungen der Held erst als Subjektposition konstituiert wird und diese Subjektkonstituierung wie jede diskursive Praxis mit bestimmten Normen einhergeht, die manche Subjektpositionen und Heldentypen, besonders männliche Heldentypen, in eine mächtigere, hegemoniale Position bringen als andere Subjekte.75 Für eine Analyse der Sakralisierung bestimmter Individuen zum Helden ist es deshalb zentral, dass auch nach den Diskursen und Klassifikationsstrukturen geforscht wird, die den Held erst auf bestimmte Weise hervorbringen und auch die »Differenzmarkierungen«76 in den Blick genommen werden, also die Ausschlüsse dessen, was in diesen Diskursen nicht als heldenhafte Tat/Subjektposition betrachtet und prämiert wird. Dies lässt sich dann im Anschluss an Pierre Bourdieu mit feldsoziologi-

73 Vgl. Bröckling, Ulrich: »Negationen des Heroischen – ein typologischer Versuch«, in: helden. heroes, héros. E-Journal zu Kulturen des Heroischen 3.1. (2015), S. 9-13. https://freidok.uni-freiburg.de/data/10932 vom 27.1.2017. Dieses linke Sakrale erscheint in der US-amerikanischen Politik etwa in Form der so genannten »Schurkenstaaten« oder gegenwärtig der Medien. 74 Vgl. H. Joas: Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, S. 99. 75 Vgl. Reckwitz, Andreas: Subjekt, Bielefeld: transcript 2008, S. 23ff.; Ders.: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist: Velbrück 2006. 76 A. Reckwitz: Subjekt, S. 28.

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schen Überlegungen ergänzen, also mit der Frage nach Distinktionsmustern, strategischen Differenzmarkierungen und feldspezifischen hegemonialen Diskursordnungen.77 In der Untersuchung der herrschafts- und machtbesetzten Sakralisierungsprozesse scheint mir aber dem feldsoziologischen noch ein weiteres Konzept Bourdieus besonders fruchtbar: das Konzept der symbolischen Herrschaft. 78 Kennzeichnend für die symbolische Herrschaft ist, dass sie auf der symbolischsinnhaften Ebene des Selbstverständlichen und Alltäglichen sowie mit unhinterfragten, nicht mehr reflektierten Kategorien, sozialen Zuschreibungen und kulturellen Mustern operiert. Das führt durch die präreflexive Aneignung in Sozialisationsprozessen zur Bejahung, Verinnerlichung und Verschleierung von gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen.79 Bezogen auf die Sakralisierung eines Individuums zum Helden bedeutet symbolische Herrschaft, dass die gesellschaftliche Praxis und der kollektive Charakter von Zuschreibungsprozessen, die Wirkungen feldimmanenter Diskursoperationen sowie die Rolle sie begünstigender allgemeingesellschaftlicher Verhältnisse – etwa männliche Herrschaft – bei der Heroisierung für die Gesellschaftsmitglieder nicht mehr in den Blick geraten. Der außergewöhnliche sakrale Status – ähnlich wie bei der Annahme von Genialität oder Begabung – wird infolgedessen nicht als Ergebnis dieser sozialen Pro-

77 Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999. 78 Vgl. beispielsweise Bourdieu, Pierre: Die männliche Herrschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005a; Ders.: Was heißt sprechen? Zur Ökonomie des sprachlichen Tausches, 2. Aufl., Wien: Braumüller 2005; Ders.: »Die verborgenen Mechanismen der Macht enthüllen«, in: Ders.: Die verborgenen Mechanismen der Macht. Schriften zu Politik & Kultur 1, Hamburg: VSA 2005, S. 81-86; Ders.: »Politisches Feld und symbolische Macht. Gespräch mit Effi Böhlke«, in: Effi Böhlke/Rainer Rilling (Hg.), Bourdieu und die Linke. Politik – Ökonomie – Kultur, Berlin: Dietz 2007, S. 263-270. 79 Vgl. Peter, Lothar: »Prolegomena zu einer Theorie der symbolischen Gewalt«, in: Stephan Moebius/Angelika Wetterer (Hg.): Schwerpunktheft der Österreichischen Zeitschrift für Soziologie 4 (2011), S. 11-31; Moebius, Stephan: »Pierre Bourdieu: Zur Kultursoziologie und Kritik der symbolischen Gewalt«, in: Stephan Moebius/Dirk Quadflieg (Hg.), Kultur. Theorien der Gegenwart, 2. Auflage, Wiesbaden: Springer 2011, S. 55-69; Moebius, Stephan/Wetterer, Angelika: »Symbolische Gewalt«, in: Schwerpunktheft der Österreichischen Zeitschrift für Soziologie 4 (2011); Moebius, Stephan (Hg.): Symbolische Herrschaft. Sonderband der Zeitschrift für Literatur- und Theatersoziologie (LiTHes) 12 (2015), Graz: mp – Design & Text. Open Source: http://lithes.uni-graz.at/lithes/15_12.html.

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zesse, sondern als natürliche, intrinsische Eigenschaft des Individuums aufgefasst. Fasst man die wesentlichen Punkte symbolischer Herrschaft zusammen80, dann wirkt sie erstens vornehmlich durch Sprache, Kommunikationsbeziehungen sowie durch Denk- und Wahrnehmungsschemata. Ausgeübt wird sie zweitens durch Gesten, Rituale, Verhaltensweisen und Dinge. Hierbei geht es vor allem in einer Art »Amnesie der Entstehungsgeschichte der symbolischen Herrschaft« um die Verschleierung, Kaschierung und Naturalisierung der Machtverhältnisse, zum Beispiel die Naturalisierung der männlichen Herrschaft oder die Ideologie des von »Natur aus begabten« Menschen, woraufhin die Ungleichheits- und Machtverhältnisse legitimiert werden. Drittens setzt symbolische Herrschaft voraus, dass die Machtverhältnisse, auf denen die Gewalt und Herrschaft beruht, verkannt und zugleich »die Prinzipien, in deren Namen sie ausgeübt wird, anerkannt [und verteidigt, S.M.] werden«.81 Um die Mechanismen symbolischer Herrschaft, die bei einer Heroisierung am Werk sind, adäquat aus den Alltagsvorstellungen und -praktiken herauszudestillieren, sie analysieren und interpretieren sowie kritisch-dekonstruktiv hinterfragen zu können, bedarf es eines durch soziologische und ethnologische Analyse herbeigeführten Bruchs mit dem Alltagsverständnis: der doxa. Wie der Wissenschaftshistoriker Gaston Bachelard hervorgehoben hat, auf den Bourdieus Überlegungen zum Bruch mit der »Spontansoziologie« beruhen82, lassen sich erst durch diesen Bruch neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu Tage fördern und gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse offenlegen.83 Die Analyse von Helden geht demzufolge zwingend mit einer Analyse gesellschaftlicher Problemlagen, den damit zusammenhängenden Macht- und Herrschaftsverhältnissen sowie mit der »Reflexion auf die Notwendigkeit einer Entsakralisierung der jeweiligen politischen Macht«84 einher; Macht- und Herrschaftsverhältnisse, die ein wesentlicher Grund dafür zu sein scheinen, dass Menschen oder Gemeinschaften bestimmte Individuen zu Helden sakralisieren, 80 Vgl. Mauger, Gérard: »Über symbolische Gewalt«, in: Pierre Bourdieu: Deutschfranzösische Perspektiven, hg. von Cathérine Colliot-Thélène et al., Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005, S. 208-230, hier S. 218ff. 81 Ebd., S. 218. 82 Vgl. Moebius, Stephan/Peter, Lothar: »Pierre Bourdieu und die französische Epistemologie«, in: Gerhard Fröhlich/Boike Rehbein (Hg.), Bourdieu-Handbuch, Stuttgart: Metzler 2009, S. 10-15. 83 Vgl. auch Bourdieu, Pierre/Wacquant, Loïc: Reflexive Anthropologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S. 205. 84 H. Joas: Sakralisierung und Entsakralisierung, S. 285.

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sei es, weil gesellschaftliche Alternativen machtvoll ausgegrenzt wurden, die eine Sicherung und Repräsentation des sozialen Zusammenhalts auf egalitäre Weise, jenseits einer Projizierung auf die vermeintliche Erlösungskraft eines Helden möglich erscheinen ließen, oder sei es, weil die »verborgenen Mechanismen der Macht«85 die Existenz von »Halbgöttern« selbst als eine natürliche, fraglos gültige und hinzunehmende Tatsache im Habitus der Menschen verankert haben.

85 P. Bourdieu: Die verborgenen Mechanismen der Macht.

Kriegsheld_innen

Fotogene Heldinnen Die »Milicianas« in der spanischen Revolution 1936 und ihr mediales Nachleben K ARL B RAUN

R EVOLUTION IN S PANIEN UND F RAUEN AN DER W AFFE Wird der spanische Bürgerkrieg mediales Thema, sei es durch Jahrestage wie 2016 – 80 Jahre des Aufstands der Generäle gegen die Republik – in Zeitungs-, Rundfunk- oder Internetberichten, sei es aus anderen Anlässen wie der Veröffentlichung von wissenschaftlichen Arbeiten, von Belletristik, Graphic Novels oder politisch motivierten Broschüren zu diesem Thema, dann pflegt seit gut zwei Jahrzehnten die Miliciana, die waffentragende kämpfende Frau, mehr und mehr im Mittelpunkt der visuellen Gestaltung zu stehen. Bereits in den 1990er Jahren hatten zwei Spielfilme die kämpfenden Frauen ins Zentrum ihres Plots gestellt, Ken Loach: Land and Freedom (1995) und Vicente Aranda: Libertarias (1996). Sie haben das Thema nachhaltig popularisiert. »Vicente Arandas klare Stellungnahme für die notwendige Emanzipation der Frauen in revolutionären Zusammenhängen ähnelt derjenigen von Ken Loach; mit dem wichtigen Unterschied, dass die soziale Revolution hinter der Emanzipation der Frauen zurücktritt und überformt wird. Der diskursive Weg von ›Land and Freedom› zu ›Libertarias‹ könnte als Überlagerung der sozialen durch die Frauenfrage gesehen werden; eine nachträgliche Umgewichtung der historischen Ereignisse, bei denen die Frauen in Waffen, die ›Milicianas‹, zwar eine wichtige, aber dennoch nicht die entscheidende Rolle spielten.« 1

1

Braun, Karl: »Milicianas«. Zur Ikonographie kämpfender Frauen in der spanischen Revolution 1936, in: Michaela Fenske (Hg.): Alltag als Politik – Politik im Alltag.

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Während der ersten Phase des spanischen Bürgerkriegs, Juli 1936 bis Mai 1937, findet die tiefgreifendste soziale Revolution des 20. Jahrhunderts statt. Getragen vor allem von den Mitgliedern der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft, der Confederación National del Trabajo (CNT), und anderen linken Gruppierungen kommt es in Katalonien und Aragon zu umfassenden Kollektivierungen in Industrie und Landwirtschaft. Die sozial-revolutionäre Umgestaltung geht Hand in Hand mit dem Kampf gegen die aufständischen Generäle um Franco, die von Mussolini-Italien und Hitler-Deutschland unterstützt werden; nur durch die Revolution, so lautet die Devise der CNT, kann dem Faschismus in Spanien Einhalt geboten werden. Das Auftreten der Milicianas ist ein Phänomen dieses revolutionären Umbruchs. Die autonome Frauenorganisation innerhalb der CNT, die 1931 gegründete und von vielen männlichen Gewerkschaftsmitgliedern beargwöhnte Gruppe Mujeres Libres, fordert ihr Recht auf gleichberechtigte Teilnahme am Kampf gegen die spanische Reaktion – Militär, Großgrundbesitz, Klerus – ein: den Mono, den Overall der werktätigen Klasse, anzuziehen und mit den – vor allem männlichen Miliz-Freiwilligen – bewaffnet an die Front zu ziehen. Die Mujeres Libres stellen den Hauptanteil der Milicianas; obwohl zu Beginn des Bürgerkriegs auch in anderen linken Parteien und Gewerkschaften Frauen zu den Waffen gegriffen hatten. Zahlenmäßig (und sicher auch kriegstechnisch) sind die Milicianas kaum ins Gewicht gefallen. Ihr Anteil am Bürgerkriegsgeschehen ist eher repräsentativ zu werten, sie sind für die Zeitgenossen der »Blickfang«, der aufrüttelnde »Hingucker« der revolutionären Ereignisse in Spanien. Denn sie werden gesehen, weltweit gesehen, weil medial verbreitet: Ihre Fotos gehen um die Welt. Diese mediale Präsenz ist sowohl zeithistorischen Umständen wie technischen Neuerungen geschuldet. Revolution und Bürgerkrieg in Spanien stellen die ersten kriegerischen Ereignisse dar, die auch in den Medien ausgetragen werden. Die neuen Handkameras, als bekannteste seien Leica und Rolleiflex genannt, mit denen 36 Bilder in direkter Folge aufgenommen werden konnten, erlauben ein neues, direktes Dabeisein der Fotografinnen und Fotografen am Geschehen; die neue Drucktechnik der Illustrierten ermöglicht die schnelle Umsetzung dieser ereignisnahen Fotografien als Teil einer Massenware. Zu dieser technisch-innovativen Machbarkeit jedoch tritt im Juli 1936 ein inhaltlich entscheidendes Moment hinzu: die Anwesenheit junger Fotografinnen und Fotografen an den zentralen Orten des revolutionären Geschehens – einige von ihnen werden später die Avantgarde der Reportage-Fotografie bilden. Denn am 19. Juli 1936 sollte in

Dimensionen des Politischen in Vergangenheit und Gegenwart. Ein Lesebuch für Carola Lipp. Berlin/Münster: Lit, 2010, S. 413-432, hier: S. 418.

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Barcelona die Olimpiada Popular, die Volks-Olympiade, als Gegenveranstaltung zur Olympiade in Berlin eröffnet werden; das Datum war deswegen gewählt worden, weil am 20. Juli der für die Berliner Spiele neu erfundene Fackellauf vom griechischen Olympia nach Berlin über 3075 Kilometer begann. Für dieses antifaschistische Sport-Ereignis hatten die europäischen ArbeiterIllustrierten Zeitungen junge links-engagierte Fotografinnen und Fotografen nach Barcelona entsandt – diese dokumentierten jedoch nicht den Beginn der Gegen-Olympiade, sondern die Niederschlagung der gegen die Republik putschenden Generäle. Und sie dokumentierten die Aufstellung der Milizen gegen die aufständischen Militärs und das Einfordern der Gleichberechtigung durch die Mujeres Libres: wie an allen Fronten – Fortkommen der proletarischen Familien, Fortführung der Produktion, Ausbau gesellschaftlicher Gerechtigkeit – mit gleichem Recht neben den Männern auch an der direkten Kampf-Front »ihre Frau« zu stehen. Das Sujet Frau in Waffen schlägt durch: Die Fotos der Frauen im Kampfdress und mit Gewehr verkaufen sich gut und sie wecken Emotionen: Im linken Spektrum stehen diese Frauen für die Ernsthaftigkeit und Durchschlagskraft der Revolution, im rechten erwachen all die sexuell unterströmten Ängste vor dem »Flintenweib«, vor den »Amazonen« und deren – von den Männern übel imaginierten – Machtübernahme. Die soziale Revolution jedoch wird nicht vom reaktionären Spanien und den franquistischen Truppen beendet, sondern von der erstarkten Partido Comunista de España (PCE). Waren die Kommunisten bis 1936 eine – gegenüber der CNT und der sozialistischen Partido Socialista Obrero Español (PSOE) und ihrer Gewerkschaft Unión General de Trabajadores (UGT) – eher als kleine Splittergruppe einzuschätzende politische Kraft, ändert sich dies durch die Hilfe der Sowjetunion für die Republik ab dem Spätherbst 1936. Das Aufgeben der Sozialfaschismus-Theorie – Hauptfeind seien Sozialdemokraten und Sozialisten – und ihre Ersetzung durch die Volksfront-Politik kommt den bürgerlich-liberalen Vertretern der Zweiten Spanischen Republik entgegen: Der Slogan der Kommunisten – erst den Krieg gewinnen, dann die Revolution (aber keine anarchosyndikalistische) – entspricht ihrer Politik der Verteidigung der Republik unter Vermeidung revolutionärer Vorgänge. Der Putsch der Militärs um Franco war ja keineswegs unerwartet über Spanien hereingebrochen, sondern vorhersehbar. Der Forderung der CNT, PSOE und UGT nach Bewaffnung ihrer Mitglieder konnte die bürgerlich-liberale Regierung unter Manuel Azaña nicht nachkommen: Die Waffenausgabe an die Arbeiterschaft und das ländliche Proletariat hätte den sofortigen Ausbruch der sozialen Revolution bedeutet, ein Hinwegfegen der republikanischen Institutionen sowohl in den industriellen Ballungszentren wie in den ländlichen, von Latifundien-Besitz und Tagelöhner-Armut geprägten

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Gebieten – hier zeigte sich das Hauptversäumnis der Zweiten Republik: der mangelnde Mut zur Durchführung einer substanziell tiefgreifenden Landreform. Die Schwäche der Republik wurde aufgefangen durch die Komintern-Propaganda von Volksfront und republikanischer Ordnung; die Kommunistische Partei, die sowohl Teile der sozialistischen Partei, vor allem der Jugendorganisationen, als auch Teile des liberalen Bürgertums, vor allem Intellektuelle, für sich gewinnen konnte, wurde der entscheidende Machtfaktor auf republikanischer Seite. Der »Beweis« ihrer republikanischen Ehrlichkeit – im Mai 1937 war es in Katalonien und Barcelona zur offenen militärischen Auseinandersetzung zwischen Anarchisten und Kommunisten gekommen – war die Zerschlagung der sozialen Revolution durch kommunistisch kontrollierte Truppenteile unter Enrique Líster. Die trotz Volksfront-Rhetorik gut stalinisierte PCE nutzte die Beendigung der sozialen Revolution, um verschiedene missliebige linke Gruppen, wie die Partido Obrero de Unificación Marxista (POUM), als trotzkistisch zu denunzieren und ihre Mitglieder wie diejenigen Anarchisten, die zu keiner Zusammenarbeit mit den Institutionen der Republik bereit waren, zu verfolgen. Dies bedeutete die endgültige Auflösung der Milizen, und die Eingliederung der Milizen in das entstehende, unter kommunistischer Regie straff organisierte, Volksheer wiederum das endgültige Verschwinden der Milicianas aus der visuellen Geschichte des spanischen Bürgerkriegs. In Loachs Land and Freedom – teilweise dem Bericht Hommage to Catalonia von George Orwell, der auf Seiten einer POUM-Miliz gekämpft hatte, nachempfunden – ist die Entwaffnung der Milicianas ein Nebeneffekt der Niederschlagung der sozialen Revolution; die Degradierung der Frauen beraubt auch die Milizionäre jeglichen Glaubens an eine revolutionäre Möglichkeit. Die angedeutete bestalistische Ermordung der Milicianas in Arandas Libertarias durch Moros, marokkanische Soldaten im Solde Francos, steht in ihrer Brutalität – dies ohne direkten filmischen Bezug zur Beendigung der sozialen Revolution (der Zusammenhang wird wohl beim interessierten Publikum implizit vorausgesetzt) – symbolhaft für die Beendigung des Experiments der Befreiung der Frau durch die kämpfenden Mujeres Libres. Aber sind die historischen Milicianas, jenseits ihres medialen Nachlebens und ihrer vielgestaltigen Repräsentationsformen, als Heldinnen zu betrachten?

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H ELDINNEN ? U ND : WOZU H ELDINNEN ? Nach der Definition von Held, wie sie unter den fünf Stichworten im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm verzeichnet ist, sind Milicianas das wohl eher nicht: »Held, m. heros, vir fortis: 1) held, der durch tapferkeit und kampfgewandtheit hervorragende krieger: held robustus homo; 2) held im geistlichen sinne. Christus heiszt so, er hat hölle und tod besiegt; 3) held überträgt sich auf einen, der in irgend einem gebiete etwas ausgezeichnetes, hervorragendes leistet. so im guten und nützlichen; 4) held, der den mittelpunkt einer begebenheit, einer handlung bildende mann, zunächst in der dichtersprache. es musz diese bedeutung auf jene litteraturepoche zurückgehen, in der die hauptperson eines dramas oder epos ein held sein muszte, wie Opitz formuliert: in wichtigen sachen, da von göttern, helden, königen, fürsten, städten, und dergleichen gehandelt wird; 5) held, in der ältern sprache verallgemeinert zu dem begriff mann überhaupt, entsprungen aus der anschauung der allgemeinen wehrhaftigkeit.«2

Unter dem etwas schmalzeilig wie -lippig ausgefallenen Lemma »heldin, f. virago, heroina« ist zumindest die Anschlussfähigkeit zu Punkt 4 vermerkt, »nach held 4: die heldin eines schauspiels, eines romans, einer geschichte, einer begebenheit; sie war die heldin des abends«.3 Was heute »Protagonistin« heißen würde, betrifft zuerst, in Zeiten verdeckt aufbrechender Geschlechterverhältnisse des 19. Jahrhunderts, die Frauengestalten der Romantik wie diejenigen der europäischen Ehebruchsromane und -dramen: Gustave Flauberts Madame Bovary (1857), Leon Tolstois Anna Karenina (1878/79), Clarins (Leopoldo Arias’) La Regenta (1884/85), Theodor Fontanes Effie Briest (1895/96) sowie die naturalistische Bearbeitung ehelicher Problematik, vor allem bei Strindberg und Ibsen. Aber alle diese erzählungsführenden »Heldinnen« des verzweifelten Ausbruchs aus gesellschaftlicher Konvention sind weder »virago« noch »heroina«, sondern Opfer einer geschlechtsspezifisch angelegten gnadenlosen Doppelmoral. »Das lateinische Wort virago bietet immerhin eine erste Definition des Begriffs, der soviel bedeutet wie: eine männlich wirkende Jungfrau, auch Heldenjungfrau. Verwandte Worte

2

Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm Bd. 10. München 1984 (Re-

3

Ebd. Sp. 948f.

print Leipzig 1877), Sp. 930-934.

74 | K ARL BRAUN sind vir für Mann, daraus abgeleitet virtus für Tugend oder Mannhaftigkeit, und virgo für Jungfrau. Eine virago ist also eine vermännlichte Jungfrau.«4

Die Wiener Mediävistin Lydia Miklautsch hat dies bei der Eröffnungsrede des 10. Pöchlarner Heldengesprächs 2008 zum Thema »Heldinnen« festgestellt, sie fährt fort: »Sprachgeschichtlich besehen bedeutet Held einfach Mensch, Mann oder Krieger. Kann man daraus ableiten, dass Heldinnen nur in Abwandlung zum Männlichen existieren, dass das Anfügen des Suffix -in an den Wortstamm nicht mehr ist als eine Verlegenheitslösung?«5

Zum Verhältnis von virago und virgo sollte eines bedacht werden, das Miklautsch nicht in Betracht gezogen hat: In der Antike bedeutet der Status virgo die Nicht-Abhängigkeit der Frau von einem Mann, keineswegs körperliche Unberührtheit im Sinne von Jungfräulichkeit; die ehemals verheiratete oder verwitwete Frau kehrt, ist sie keinem Manne mehr untertan, in den Status der virgo zurück6, agiert sie zudem wie ein Mann wird sie zur virago, zur Heldin, zum heldischen Weibmann (da Held immer männlich gedacht wird), zur völlig unabhängig agierenden Göttin. Miklautsch zählt im Fortgang den – parallel zu neun männlichen Helden – gestalteten Kanon der neuen weiblichen preuses (Heldinnen) der frühen Neuzeit auf, der bis »ins 17. Jahrhundert für die Literatur- und Kunstgeschichte von erheblicher Bedeutung war«7. Zum Kanon dieser neun Heldinnen zählen die Amazonenköniginnen Sinope, Lampeto, Penthesilea und verschiedene Heerführinnen wie die skythische Thomyris oder die illyrische Teuta oder die babylonische Semiramis.8 Auch für den spanischen Bürgerkrieg tauchen Heldinnen-Listen auf. So in zwei bemerkenswerten deutschsprachigen Büchern, beide im Jahr 1937 erschienen:

4

Miklautsch, Lydia: Wozu Heldinnen? in: 10. Pöchlarner Heldengespräch: Heldinnen.

5

Ebd. S. 9f.

6

Vgl. Braun, Karl: Der Tod des Stiers. Fest und Ritual in Spanien, München: Beck,

7

L. Miklautsch, Heldinnen, S. 10f.

8

Ebd. 10f.

Hrsg. von Johannes Keller/Florian Kragl, Wien: Fassbender, 2010, S. 9-20, hier S. 9.

1997, S. 75f.

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Das Spanische Bilderbuch9 von Anna Siemsen und Spanien zwischen Tod und Geburt10 von Peter Merin. »Maria Silva, genannt ›Libertaria‹ […] ist gefallen. Es fiel die junge Kommandantin Lempina, die eine Frauengruppe des Bataillons ›Gorki‹ führte […]. Es fiel die achtzehnjährige Lina Ódena, die an der Vereinigung der sozialistischen Jugend Spaniens gewirkt hatte. […] Sie war jung, talentvoll und heroisch. […] In den Schulen Kataloniens, an den Wänden der Jugendkasernen sah ich oft ihr junges, klares Gesicht. Kinder wurden nach ihr benannt. Lieder besingen ihren Tod. […] Pasquita Escolano wurde in der Nähe des Escorial füsiliert, die Miliziana Remedios von Bataillon ›Octubre‹ unterhalb vom Guadarrama schwer verletzt. Angelita Cabrera, sechzehnjährig mußte zusehen, wie ihr Vater von den Faschisten füsiliert wurde. Mit erhobener Faust grüßte sie den Leichnam. Und wurde erschossen. […] Spaniens Vergangenheit kennt die Großmut und den Heroismus der Frau. Lina Ódena, Lempina, Libertaria, Ada Lafuente (gefallen im blutigen Herbst des Jahres 1934) sind die Erben.«11

Soweit die Litanei bei Peter Merin. Nicht die Erbinnen, sondern die Erben, vermännlichte, dem Tod zugefallene Heldinnen, die dem Kanon eines kommunistisch inspirierten Heroismus untergeordnet sind: Die Namen der genannten Bataillone Gorki, Octubre sprechen für sich; Lina Ódena (1911-1936), 1931/32 an der Arbeiterhochschule in Moskau, steht für die Vereinigung der sozialistischen mit der kommunistischen Jugend in Katalonien, einer der entscheidenden Schritte zur Etablierung der PCE. Peter Merin, Pseudonym von Ota Bihalji (19041993), kommunistischer Schriftsteller und Redakteur von Die Linkskurve. Monatszeitschrift des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller Deutschlands, scheint ab Ende Oktober 1936 in Spanien gewesen zu sein, denn sein Bericht bezieht sich auf Ereignisse seit diesem Zeitpunkt; es ist der Moment, in dem die Komintern in den spanischen Konflikt eingreift: einerseits durch den Einsatz der Interbrigaden bei der großräumigen Verteidigung Madrids, andererseits durch die Waffenhilfe aus der UdSSR: Bei Illescas, Ende Oktober 1936, kommen erstmals sowjetische Panzer, die T 26, zum Einsatz. 9

Siemsen, Anna: Spanisches Bilderbuch. Mit 26 Bildern. Paris 1937 (Editions Nouvelles Internationales; Internationale Verlags-Anstalt). Zu Anna Siemsens Spanienbuch siehe: Asholt, Wolfgang/Reinecke, Rüdiger/Schlünder, Susanne (Hg.), España en el corazón. Der Spanische Bürgerkrieg: Medien und kulturelles Gedächtnis, Bielefeld: Aisthesis-Verlag, 2008, S. 165-167.

10 Merin, Peter: Spanien zwischen Tod und Geburt, Zürich: Jean Christophe-Verlag, 1937. 11 P. Merin, Spanien, S. 203-205.

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Die Aufzählung der »Heldinnen« bei Anna Siemsen (1882-1951), die im Sommer 1937 das republikanische Spanien bereiste und die für die SPD von 19281930 im Deutschen Reichstag saß, klingt ein bisschen anders. Denn bei der linken Sozialistin Siemsen, promovierte Germanistin und linke Reformpädagogin, Lehrerin und in verschiedenen Schulverwaltungen an entscheidender Stellen tätig, wird der Volksfrontgedanke bei der Präsentation sichtbarer Frauen ernster genommen. »International bekannt, hundertmal abgebildet mit ihrem schönen leidenschaftlichen Gesicht ist die Pasionaria, die Bergarbeiterfrau, die Abgeordnete und hinreißende Rednerin, die fast zum Symbol des neuen Spanien wurde. International bekannt sind Margarita Nelken, Wissenschaftlerin und Politikerin, Isabel Oyarzábel de Palenzia, Botschafterin in Schweden, Federica Montseny, Anarchistin und Leiterin des Gesundheitsministeriums der Regierung Largo Caballero, Lina Ódena, die sich das Leben nahm, um nicht bei Malaga den Franco-Marokkanern in die Hände zu fallen (wie hätten klassische und ritterliche Zeiten diesen Tod besungen!), viele, viele andere hervorragende, hochgebildete, führende Frauen.«12

Es versteht sich von selbst, dass Dolores Ibarruri, Pasionaria genannt, auch bei Peter Merin die zentrale Position einnimmt: »In einer großen Frauendemonstration von Madrid im Oktober 1936 sah ich sie [Dolores Ibarruri, Anm. KB] zum erstenmal; es waren Tage der Unruhe, da der Feind sich der Stadt näherte. Da schritten die Frauen ein, eine Armee von Frauen. Auf den Straßen hielten sie die Männer an und fragten: Warum seid ihr nicht an der Front? Das Wort der Pasionaria ging dem Zug der Frauen von Madrid voran: Lieber Witwen von Helden, als Frauen von Memmen! Aus der Anonymität der asturischen Bergarbeitermasse tauchte sie auf. […] Sie ist die Tochter eines Bergarbeiters, die Frau eines Bergarbeiters. […] Siebzehnjährig war sie Sozialistin. […] 1920 ging sie zu den Kommunisten. Der Sieg der Arbeiter in Russland bestimmte diesen Weg. Seither war sie das Zentrum der Bewegung. […] Dem Reporter Gorin antwortet sie auf die Frage, was sie seit 1920 tat: ›Ich habe gekämpft. […] Was ich tat, war nichts Außergewöhnliches […] Hunderte von Frauen haben dasselbe getan. Warum stellt man mich in den Vordergrund?‹ Ich sah ein Foto von ihr: eine Frau, blaß, groß, schön, trägt die Fahne durch die Straßen von Bilbao. Im Mai 1931. So führte Louise Michel das Volk von Paris, so Rosa Luxemburg die Arbeiter von Berlin. Das scharfgeschnittene, vom dunklen Haar gerahmte Gesicht der Pasionaria und das von Louise Michel sind Bildnisse von Schwestern.«13 12 A. Siemsen, Bilderbuch, hier S. 30. 13 P. Merin, Spanien, S. 209f.

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Die Frage von Dolores Ibarruri, warum sie eigentlich in den Vordergrund gerückt worden sei, ist zwar rhetorisch, aber im Zusammenhang des spanischen Bürgerkriegs, zumal im visuellen, dennoch gut gestellt. Bevor genauer auf die »Super-Heldin«-Repräsentation der Pasionaria eingegangen werden kann, soll ein Blick auf die »unsichtbaren«, weil unbekannt gebliebenen Milicanas geworfen werden.

M ILICIANAS , GESEHEN 1937 Anna Siemens konstatiert auf ihrer Spanien-Reise im Sommer 1937 die NichtMehr-Präsenz der Milicianas. »Im Beginn des Krieges sah man überall die Bilder der Milizionärinnen. Eine lebende Milizionärin ist mir in Spanien nicht begegnet. […] Wo sind die Milizionärinnen geblieben? ›Sie sind aufgerieben‹, sagte man an der Front, ›aufgerieben schon in den ersten Monaten‹. Man hat sie aber auch von der Front zurückgezogen, weil die Sache sich eben doch als ein mehr oder minder ernstes Spiel erwies. Sieht man die Bilder, so ist das nicht erstaunlich. Wie diese jungen, fast immer hübschen und immer erheblich koketten Mädchen ihre Overalls, ihre geschulterten Gewehre und die ganz tadellos ondulierten Köpfe der Kamera vorführen, das erinnert ein wenig an die Oper, aber ganz und gar nicht an diesen Kampf auf Leben und Tod, in dem das spanische Volk steht. […] Gewiss haben es viele unter ihnen ernst gemeint und das mit ihrem Tod bewiesen. Aber im ganzen war dieses Intermezzo doch nur ein kleines Wellenkräuseln auf der viel tieferen und gewaltigeren Flut des Lebens. Heute sind die Frauen in der Retraguardia, und ihre Arbeit hier, unentbehrliche Arbeit, kann gar nicht hoch genug veranschlagt werden. Sie findet sich auf allen Lebensgebieten.«14

Soweit der weiblich-kritische Blick von Anna Siemsen. Peter Merin dagegen erzählt die Miliciana-Geschichte als heroische Romanze: »Als Maruja mit ihrer zerschossenen Hand ins Lazarett nach Albacete kam, hatte sie von ihrem Freund erzählt: Anschließend an die Stellung von ›Campesino‹ vor Illescas steht ein Bataillon der vereinigten sozialistischen Jugend. Es wird kommandiert von Silvio, ihrem Freund. Nun bringt sie ihn. Er ist hochgewachsen, sommersprossig, jung und sanft. Auf dem blauen abgeschabten Mono steckt der Stern des Kommandanten; der Stern strahlt wie Marujas Auge. […] Vor drei Monaten war Silvio Barmixer in einem Madrider Hotel und

14 A. Siemsen, Bilderbuch, S. 29.

78 | K ARL BRAUN sie Lehrtochter in einem Photoatelier. Sie ist neunzehn, er dreiundzwanzig. Sie ist Miliziana des Jugendbataillons, das vor Illescas kämpft; dort wurde sie verwundet. […] Und neben dem Bataillon der Jugend, neben den Bauern- und Arbeitermilizen stehen Spaniens Frauen. […] So erschien es dem, der das kämpfende Spanien in den ersten Monaten des Bürgerkriegs bereiste. Als es Not am Mann war, sind die Frauen gekommen. Im blauen Monteuranzug, den Mono azul gekleidet, mit dem Revolver am Gurt, haben die leuchtendroten Lippen den Schwur der Milizianos gesprochen. Mädchenhände bedienten das schwere und tödliche Instrument des Krieges, richteten das Maschinengewehr und haben den Sturm auf die Kasernen mitgemacht. Politische Kommissare wurden unter den Frauen erwählt, an den Fronten ergriffen sie das Wort, aus den Reihen der Frauen sind Heldinnen entstanden. Viele sind gefallen, neben den Männern, ihren Kameraden.«15

Beide Texte sind wohl ungefähr ein Jahr nach dem Aufstand der Generäle, also nach Juli 1937 zum Druck gegeben worden. Anna Siemsen scheint nur im Sommer 1937 in Spanien gewesen zu sein, Peter Merin ab Herbst 1936, wobei unklar bleiben muss, wie lange er sich in Spanien aufgehalten hat. Sowohl die zeitliche Präsenz als auch die politische Positionierung unterscheidet die Einschätzung der Milicianas: wohlwollende Skepsis bei Siemsen und melodramatisch inszenierter Abgesang bei Merin – »als es Not am Mann war […] sind Heldinnen entstanden«. In beiden Texten aber sind zum Zeitpunkt der Niederschrift die Milicianas im Kampfgeschehen nicht mehr präsent, sie sind als Kämpfende verschwunden: entweder aufgerieben oder aber aus militärorganisatorischer Überlegung in die Etappe zurückgezogen. Das Heldentum der Frauen findet nun andernorts statt, an für Frauen traditionelleren Schauplätzen wie Küche, Lazarett oder in symbolischer Verkörperung der Freiheitsgöttin. Die im September 1936 gefallene Jungkommunistin Lina Ódena (Abb. 1) wird, während die Frauen langsam, aber unaufhaltsam unter dem zunehmenden Einfluss der PCE aus dem direkten Kampfgeschehen verschwinden, als Postkarten-Heilige samt Heiligenschein aus Fahne und Schriftzug der Vereinigten Sozialistischen Jugend (JUS) zur kommunistisch gesteuerten Helden-Verehrung angeboten. Zur Bild-Heldin des republikanischen Spanien aber steigt – parallel zum ikonografischen Niedergang der Milicianas – Dolores Ibarruri auf.

15 P. Merin, Spanien, S. 201-203.

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Abbildung 1: Postkarte Lina Odéna. Barcelona 1937.

Quelle: Privatbesitz.

D OLORES I BARRURI : L A P ASIONARIA Dolores Ibarruri hatte gegenüber der im Alter von fünfundzwanzig Jahren umgekommenen Lina Ódena – sie waren bei der Kampagne für die Wahlen im Januar 1936, die zur Volksfront Regierung geführt hatte, gemeinsam aufgetreten – propagandistisch gesehen zwei Vorteile: Dolores Ibarruri, die Pasionaria, war keine tote, sondern eine vorzeigbare und überaus aktive Heldin und wurde – als mehrfache Mutter – zur Über-Mutter der PCE. Ähnlich wie Lina Ódena trägt auch sie mit einen Heiligenschein: Dominanz der Sichel vor dem Hammer; vor allem aber knüpft diese Repräsentation an das in Spanien sehr lebendige Register des Mütterlichen an: die Ikonografie der Virgen, der Muttergottes. Denn diese begleitet in der spanischen Volksreligiosität ihren Sohn bei allen Umzügen in der Passionswoche (Abb. 2) an entscheidender Stelle.16 16 Zur ikonischen Umgewichtung und zur »Mütterlichkeit« der Pasionaria siehe z.B. Dolores Ibarruri mit dem Generalsekretär der PCE José Diaz in: K. Braun, »Milicianas«, S. 424f.

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Abbildung 2: Foto Anonym. Desfile con la Imagen de la Pasionaria 1938.

Quelle: Elvira, Guerra civil, S. 31.

Die Pasionaria kann, wie in einem Vexierbild von alt und neu nicht als kämpfende virago, sondern als gute Mutter, Platz und Rolle der Virgen, der alten Heldin Spaniens einnehmen, und zwar ganz im Sinne der Grimmschen WörterbuchDefinition Held 2; allerdings lautet das säkularisierte Signum nicht mehr Sieg über Hölle und Tod, sondern Entschiedenheit und Überblick im Klassenkampf. Eine Fotomontage aus Peter Merin (Abb. 3) zeigt die Pasionaria – unter Goyas Stich »¡Que valor!«17 – in einem Einsatz, der jedoch nur sekundär auf den direkten Kampf, vor allem aber auf einen zivilen Führungsanspruch verweist: Die Pasionaria hat den Durchblick in jeder Hinsicht.

17 Augustina de Aragón an der Kanone, Aquatinta No 7 aus Desastres de la Guerra.

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Abbildung 3: Fotomontage von Goyas ¡Que valor! und Dolores Ibarruri.

Quelle: Merin, Spanien, neben S. 160.

D AS G ESICHT EINER M ILICANA 1936/1937 Eine weitere Montage bei Peter Merin zeigt einen asturischen Minenarbeiter und eine junge Frau auf der Plaza Real in Barcelona, die – auf einem Auto stehend – Freiwillige für die Front anwirbt. Der metaphorische Zusammenhang ist klar: Das Wort der Miliciana wirkt wie das Dynamit, mit dem die Dynamiteros genannten Kämpfer aus Asturien kriegswichtige Missionen für die Republik durchführten.

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Abbildung 4: Fotomontage einer namentlich nicht bekannten Miliciana und eines asturischen »Dinamitero«.

Quelle: Merin, Spanien, neben S. 161.

Fotografiert wurde diese Miliciana von Hans Namuth oder Georg Reisner18 (die beiden wechselten sich an ihren beiden Kameras ab) wohl bei der Einwerbung für die erste anarchosyndikalistische Miliz, die Columna Durruti, die Barcelona bereits am 24. Juli 1936 Richtung Zaragoza verließ; ob sie als Miliciana selbst kämpfte, wird man wohl nie in Erfahrung bringen können. Die Aufnahmen aber, die Namuth/Reisner von ihr gemacht haben, sind mehrfach verwertet worden: Am 6. November 1936 stellt die namentlich nicht bekannte Miliciana das Titelbild der französischen Arbeiterillustrierten Regards (No 147)19, am 30. Januar 1937 prägt ihre Person, ihr offener rufender Mund und ihre erhobene Faust, eine Fotomontage, die auf dem Titel von Ayuda: Semanario de la Solidaridad (No 40), der Zeitschrift des Socorro Rojo International (der Internationalen Roten

18 Namuth, Hans/Reisner, Georg: Spanisches Tagebuch 1936. Fotographien und Texte aus den ersten Monaten des Bürgerkriegs. Hrsg. von Diethart Kerbs, Berlin: Nishen, 1986. Hier sind zwei Fotos der Miliciana abgedruckt, S. 29/30; die Serie aber muss aus mehr Fotografien bestanden haben. Zu Hans Namuth und Gerog Reisner siehe: Diethart Kerbs, Zur Einführung, ebd. S. 9-22. 19 Abgebildet im Anhang der Graphic Novel von Jaime Martín, Jamás tendré 20 años, Barcelona: Norma Editorial, 2016, o.S. (S. 215). Das Cover dieser Graphic Novel zeigt eine Miliciana mit CNT-Mütze, roter Rose am Kleid und erhobener Faust. Die Cover-Zeichnung in der Geschichte, S. 88.

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Hilfe), zu sehen ist.20 Zur sichtbaren Heldin der Republik aber wird sie im spanischen Pavillon auf der Pariser Weltausstellung 1937 in der Abteilung Artes Populares (Volkskunst), umgeben von regionaltypischen Arbeits-, Kultur- und Lebensweisen, deren Präsentation durch kritische und aufklärende Fotomontagen begleitet wird.21 Abbildung 5: Das lebensgroße Bild der unbekannten Miliciana aus Barcelona im Kontrast zu einer volkstümlich geschmückten Frau aus La Alberca.

Quelle: Pabellón Español, S. 135.

Die Unbekannte wird in der Montage von Josep Renau mit einer Frau in traditioneller Festkleidung kontrastiert, die ländlichen Reichtum repräsentiert. Die Tracht gehört zum Ort Alberca, den Luis Buñuel in seinem Dokumentarfilm Las Hurdes. Tierra sin Pan (Die Hurden. Land ohne Brot; 1932) als Unterdrückungs- und Ausbeutungsort der hurdanischen Dörfer und Weiler gezeichnet

20 Abgebildet in Mendelson, Jordana: Documentar España. Los artistas, la cultura expositiva y la nación moderna, Madrid: Ediciones de la Central, 2012 (engl. EA 2005), S. 189. 21 Siehe: Pabellón Español. Exposición internacional de Paris 1937, Madrid: Centro de Arte Reina Sofía, 1987, S. 128-153, hier S. 135. Mit Kommentar auch in Mendelson, Documentar, S. 188.

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hatte. In meiner Lesart22 symbolisiert Luis Buñuel in diesem Film, der seinen zusammen mit Salvador Dalí gedrehten surrealistischen Filmen folgt, in stark akzentuierter Form die zwei Spanien, die sich in Revolution und Bürgerkrieg gegenüberstehen sollten: Das reiche, reaktionäre, sich selbst als von katholischen Werten und militärischem Ethos erfüllte und dem Recht auf Großgrundbesitz ohne jede soziale Verpflichtung zu geneigtes Spanien gegen ein, dieser klerikalmilitaristisch-latifundistischen Übermacht hilflos ausgeliefertes Spanien, das schuftet und arbeitet und dennoch arm bleibt – arm bleiben muss, weil die Mechanismen von offen durchgesetzter Ausbeutung, juristischer Rechtlosigkeit und das Fehlen von Bildung nichts anderes zulassen. Die Gegenüberstellung der scheinbar reichen Albercana und der Miliciana verhandelt die zwei Spanien auf dem Terrain der Handlungsmöglichkeiten von Frauen: Die Frau aus Alberca, mit wertvollem Schmuck über und über behängt, bleibt in diesem Reichtum in Stummheit gebannt und aktionslos gefangen, während die junge Miliciana, aus ihrer doppelten Unterdrückung heraus – aufgrund ihrer Herkunft sozial deklassiert und zudem aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit in der eigenen sozialen Schicht benachteiligt – zumindest in symbolischer Repräsentation auf der Pariser Weltausstellung das Wort ergreifen und ein doppeltes Recht einfordern kann: Engagement in der gesellschaftlichen Organisation und Gleichberechtigung als Frau. Der der Miliciana in den Mund gelegte Text auf der Installation im spanischen Pavillon lautet: »Se dégageant de son enveloppe de superstition et de misère de l’esclave immémoriale est née LA FEMME capable de prendre une part active à l’élaboration de l’avenir.« (Sich entbindend vom Eingehüllt-Sein in Aberglauben und dem Elend einer Sklaverei, deren Beginn kaum mehr erinnert werden kann, wird DIE FRAU geboren, die dazu fähig sein wird, tätig in die Gestaltung der Zukunft einzugreifen.)

22 Braun, Karl: Ethnographie und Modernisierung. Luis Buñuels »Las Hurdes/Tierra sin Pan«, in: Tranvia. Revue der Iberischen Halbinsel, Heft 56 (März 2000), S. 39-42. Ausführlicher: Las Hurdes/Tierra sin pan. Etnografía de una relación de dependencia social, in: Arnscheid, Geo/Joan Tous, Pere (eds.), »Una de las dos Españas« ... Estudios reunidos en hommenaje a Manfred Tietz, Madrid/Frankfurt am Main: Vervuert 2007, S. 373-380. Das visuelle Material der Fotomontagen im spanischen Pavillon der Weltausstellung 1937 entstammen zum Teil den Misiones Pedagógicas; siehe hierzu und zur Montagetechnik: Braun, Karl: Misiones Pedagógicas. Ein Bildungsprogramm der Zweiten Spanischen Republik für ländlich bildungsferne Schichten, in: Jahrbuch für Europäische Ethnologie. Spanien 9, 2014, S. 105-117. Auch: J. Mendelson, Documentar, S. 137-233.

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I KONE DES B ÜRGERKRIEGS : J AHRZEHNTE SPÄTER Hans Gutmann, ein junger, exilierter Deutscher – er wird unter dem Namen Juan Guzmán bekannt werden – war als Fotograf nach Barcelona zur Olimpiada Popular gekommen. Am 21. Juli 1936 trifft er die siebzehnjährige Marina Ginestà im Hotel Colón, das nach der Niederschlagung des Putsches der Hauptsitz der kommunistisch dominierten Partido Socialista Unificada de Catalunya (PSUC) geworden war; hier befand sich auch ein Rekrutierungsbüro für Milizionäre. Er fragt Marina Ginestà, Mitglied der Juventudes Socialistas Unificadas (JSU; Vereinigte Sozialistische Jugend) und aus einer Familie mit sozialistischem Engagement stammend, ob sie ihm nicht als Miliciana auf der Terrasse des Hotels Modell stehen würde. Die beiden leihen sich ein Gewehr aus – den Overall, den Mono, die Arbeiterkluft als Zeichen des Sieges über die Generäle, wird Marina Ginestà bereits getragen haben – und das Miliciana-Shooting über der Plaza Cataluña kann beginnen. Von den dabei entstandenen 20 Fotos ist – so zumindest der derzeitige Forschungsstand – zu Zeiten des Bürgerkriegs keines veröffentlicht worden. Eine dieser Aufnahmen jedoch ist im 21. Jahrhundert zu einer der sichtbarsten Ikonen des spanischen Bürgerkriegs aufgestiegen. 23 Begonnen hat diese Bild-Karriere mit der Cover-Gestaltung (Abb. 6) der historischen Dokumentation »Trece Rosas Rojas« von Carlos Fonseca.24 »Trece Rosas Rojas« ist

23 Aus der Presseerklärung der Fotoagentur EFE (La Fototeca, Madrid) zum Tod von Marina Ginestà. Juan Guzmáns Nachlass mit den Fotografien aus dem Spanischen Bürgerkrieg wurde 1987 von der Agentur EFE erworben. Zu den Fotografien mit Marina Ginestá schrieb Guzmán, zitiert in der Presseerklärung der EFE: »›File picture dated on 21 July 1936 that shows the armed militias woman Marina Ginesta member of the Comunist Catolonian Young member (JSU in Spanish symbols) posing in the Colon’s hotel terracein Barcelona, Catalonia, Spain.‹ Marina Ginesta has died last monday 6 January 2014 at 94 years old, but her image was one of the iconic pictures of the Spanish Civil War (1936-1939)«. https://efeeurope.newscom.com/nc/display OpenDetail.action?searchString=efephotos267702 vom 11.11.2017. 24 Das hier gezeigte Cover ist die erweiterte Ausgabe der Dokumentation 2014 zum 75. Jahrestag der Hinrichtung (EA 2004; hier: Sonderausgabe zum 75. Jahrestag 2014 ), ergänzt durch die Geschichte der »14. Rose«, einer Frau, die aus Versehen nicht mit den anderen Frauen hingerichtet wurde, sondern erst im Februar 1940. Fonsecas historischer Dokumentation »Trece Rosas Rojas« (2004) war der Roman von Jesús Ferrero »Trece Rosas« (2003) vorangegangen; im Jahr 2007 kam die Geschichte als Film »Las 13 Rosas« von Emilio Martínez Lázaro in die Kinos. Siehe hierzu: Rothauge, Caroline: Zweite Republik, Spanischer Bürgerkrieg und frühe Franco-Diktatur in Film

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die Geschichte von 13 jungen Frauen, die am 5. August 1939, neben 43 Männern, unter der Anklage »Unterstützung von Rebellion« hingerichtet wurden. Die Exekutionen waren Vergeltung für ein Attentat, eine rein politisch motivierte Aktion also, die sich gegen »rojas/rojos« – »Rote« richtete. Abbildung 6: Umschlagbild von Trece Rosas Rojas mit Marina Ginestà.

Quelle: Carlos Fonseca, Trece Rosas Rojas. Sonderausgabe Madrid 2014.

Marina Ginestà, die nach eigener Aussage aus Propagandagründen und nur an diesem Tag ein Gewehr in Händen gehalten habe25, wurde bereits im August 1936 Dolmetscherin für Michail Kolzow, dem Korrespondenten der sowjetischen Prawda, und befand sich damit im inneren Kreis der sowjetischen Einflussnahme auf den Krieg in Spanien. Sie hat als Miliciana nie direkt an der Front gekämpft – ihr Einsatz für die Republik ist jedoch unbestritten. Nichtsdesund Fernsehen: Erinnerungskulturen und Geschichtsdarstellungen in Spanien zwischen 1996 und 2011. Göttingen 2014, S. 135-157. 25 »[…] ich habe nie eine Waffe in den Händen gehabt. Nun gut, nur als dies Foto gemacht wurde.« Marina Ginestà in einem Interview für das Buch von Yvonne Scholten: Fanny Schoonheyt: een Nederlandse meisje strijdt in de Spaanse burgeroorlog. Amsterdam 2011, S. 128. (»Allemaal propaganda, […] ik heb nog nooit van mijn leven een geweer in mijn handen gehad. Nou ja, alleen toen dus, om die foto te maken.«)

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totrotz wird ihr in vielen Texten Kampf- und Waffeneinsatz zugeschrieben; wer ein Stück schauerlich-poststalinistischer Heldinnen-Verehrung lesen mag, die/der lese den Auszug von Pablo De la Torriente Brau, der im deutschen Wikipedia-Eintrag von Marina Ginestà zu finden ist und der wie folgt – prospektives Heldinnentum bis in den Tod – endet: »Marina ist bereits, mit ihren siebzehn Jahren, Organisationssekretärin des Militärkommitees. Sie wird eine berühmte Führerin werden. Und wenn sie eines Tages vor ein Erschießungskommando kommt, wird sie beim Singen der Internationalen sterben.«26

Solche Zuschreibung heldenhaften Sterben-Müssens ist – in Anlehnung an schreckliche Schicksale, wie das der »13 Rosas« – nichts als unverschämt. Marina Ginestà durfte nach einem Leben mit verschiedenen Exilstationen in Lateinamerika und Europa den späten ikonographischen Erfolg ihres Jugendbildes noch erleben und konnte ihn wohl auch genießen.27 Es gibt eine fotografische »Re-Study«, in der sie am 10. Mai 2008 mit dem gerahmten Gutmann-Foto in der Hand im Alter von 89 Jahren für den Fotografen Boris Zabiensky erneut über der Plaza Catalunya Modell steht.28 Was sich Marina Ginestà wohl nicht hätte träumen lassen, war, in welcher Art und Weise ihr Miliciana-Bild Karriere machen würde: als Cover für alles Mögliche und Unmögliche; als Poster, in Größe und Übergröße – passend zum Beispiel zum Format des Wohnzimmersofas; als antifaschistisches T-Shirt (Milicianas mit CNT-Fahne samt Mond) oder als Handyhülle und, falls frau/man die Heldin direkt auf den Leib würde tragen wollen, als Tattoo. 29 Das ikonische Bild der »Miliciana Marina« ist als weibliches Pendant von »Che« neben das Ernesto-Guevara-Porträt von Alberto Korda aus dem Jahr 1960 getreten, dessen Titel Guerillero Heroico längst unter dem (inzwischen zigarrenbestimmten) Revoluti26 De la Torriente Brau, Pablo: Cartas y crónicas de España (Briefe und Chroniken aus Spanien). La Habana: Ed. La Memoria, 1999, o.O. 2002, zit. nach: https://de.wikiped ia.org/wiki/Marina_Ginest%C3%A0 vom 22.11.2017. 27 Zur Biographie von Marinà Ginesta siehe: García Bilbao, Xulio: Marina Ginestà, icono femenino de la Guerra Civil, in: Frente de Madrid (=Grupo de Estudios del Frente de Madrid) No 13, September 2008, S. 25-29. 28 https://www.google.de/search?q=Boris+Zabiensky+ginesta vom 11.11.2017. 29 Poster: z.B. Disorder Rebel Store: http://disorder-berlin.de/home/254-marina-ginestaposter.html; Handyhülle; als Comicfigur: https://www.behance.net/gallery/27253061/ rocking-ladies-number-02-marina-ginesta; Tattoo: http://inkonsky.tattoo/search/?q=g inesta; Ginestà-T-Shirt mit CNT-Fahne samt Mond: https://www.teezily.com/mkt/mar ina-ginesta vom 22.11.2017.

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onskitsch, der nun auch das Bild von Marina Ginestà überschwemmt, verschwunden ist. Marina Ginestà selbst hat ihr ikonisch gewordenes Porträt ironisch und mit großem Verständnis für Popuarkultur, so kommentiert: »Es ist ein gutes Foto, es widerspiegelt das Gefühl, das wir damals hatten […] Man sagt, auf dem Foto habe ich einen hinreißenden Blick. Das ist gut möglich, denn wir lebten mit der Mystik der Revolution des Proletariats und den Hollywood-Bildern, von Greta Garbo und Gary Cooper.«30

»ACHILL DAS V IEH « ODER : H ELDINNEN WOZU ? Wozu Helden? Wird der Held, der auf dem Schlachtfeld verreckt, nicht besungen oder sonst medial verbreitet, wird aus ihm kein richtiger Held; er verbleibt in der Masse der unbekannten oder Großtaten im eigenen Namen verfehlenden Helden. Die Kriegerdenkmäler in Europa sind voller Namen von nutzlos gefallenen, aber doch zu namenlosen Helden erklärter Männer. Helden brauchen – jenseits der Scheinheiligkeit von Kriegerdenkmälern – vorzeig-, erzählbare Taten, um wirklich ins Heldenregister zu gelangen; für Heldinnen gilt Gleiches. Sind die Milicianas per se Heldinnen, weil sie – unter Missachtung der Rollenvorgaben – im revolutionären Geschehen zu den Waffen griffen und es den männlichen Milizionären gleichtaten? Diese Frage will der vorliegende Beitrag nicht beantworten, kann dies auch nicht. Die Frage lautet vielmehr, wie im Bereich des männlich konnotierten Helden medial ein Bewusstsein für Heldinnen hergestellt wird. Auch die kämpfenden Frauen an der Front, anonym ihren Mann stehend und glücklich davon- oder umkommend wie ihre männlichen Compañeros, namenlos beide, sind hier nicht das Thema. Dem Mut, dem Engagement der Milicianas kommt höchste Anerkennung zu; der Versuch, die doppelte Unterdrückung zu überwinden, die familiäre wie die gesellschaftliche wird Teil der Geschichte der Emanzipation der Frau bleiben. Die unbekannte barcelonesische Miliciana, leidenschaftlich wohl mehr für die Revolution als für die Republik werbend (von Peter Merin unzulässig als »politische Kommissarin« vereinnahmt, die sie im Juli 1936 gar nicht sein konnte), namenlos geblieben, zwar zeitgenössisch präsent, aber im Heldinnenregister

30 The Telegraph, 8. Jan. 2014, Marina Ginestà – obituary, http://www.telegraph.co.u k/news/obituaries/10559135/Marina-Ginesta-obituary.html vom 22.11.2017.

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weder der spanischen Revolution noch des Bürgerkriegs als bedeutend tradiert, taugt diese junge Frau zur Heldin? Sind die in sozial-revolutionären Momenten selbstbestimmt agierenden Frauen (nicht im Rahmen von weiblich-militärischer Eingliederung) – die behauptete Schwesternschaft von Louise Michel aus der französischen Revolution, Rosa Luxemburg und Dolores Ibarruri – schon als Heldinnen zu betrachten? Dolores Ibarruri, das Gesicht der PCE bis in die 90er Jahre, ist – zumindest bis Mitte der 50er Jahre – in der gezeigten Visualität dem stalinistischen Personenkult zuzuordnen, gewichtiger als andere, weil Frau. Jorge Semprún, langjähriger Inlandschef der illegalen PCE im franquistischen Spanien, hat den autobiografischen Bericht seines Bruchs mit der kommunistischen Partei: Federico Sanchéz verabschiedet sich um die Person von Dolores Ibarruri konstruiert.31 Er beginnt mit seiner jugendlichen Heldinnenverehrung der Pasionaria und endet mit ihrem Verdammungsspruch gegen ihn selbst und andere. Je mehr der Text voranschreitet, desto mehr erstarrt die Pasionaria zum mächtigen ParteiApparatschik, von allen hofiert. Dolores Ibarruri: eine Figur kommunistischer Hagiographie, aber Heldin? Marina Ginestà nähert sich in der Selbstinterpretation ihres Miliciana-Fotos durch die Zitierung von Greta Garbo und Gary Cooper der (ihr sicher unbekannten) Aussage von Anna Siemsen an: »Wie diese jungen, fast immer hübschen und immer erheblich koketten Mädchen ihre Overalls, ihre geschulterten Gewehre und die ganz tadellos ondulierten Köpfe der Kamera vorführen, das erinnert ein wenig an die Oper«32. Marina Ginestà hat sich wohl selbst nicht als Heldin betrachten wollen. Der Status von Heldinnen und Helden ist einer gewissen Irrationalität geschuldet; als Figuren transponieren sie politisch-soziale Positionen in ein festgefügtes, zur Identifikation einladendes Format von Erinnerungs- und Identitätspolitik. In der westlichen Kultur- und Repräsentationsgeschichte haben Heldinnen eigentlich keinen Platz, da der Begriff Held durchaus männlich konnotiert ist. Die Milicianas der spanischen Revolution, von denen viele tatsächlich zu den Waffen gegriffen und gekämpft hatten, forderten gleiche Rechte wie die Männer ein; dadurch wurden sie medial per se zu Heldinnen hochstilisiert: Identifikationsangebot samt Eleganz. Fotogene Heldinnen? Die mediale Präsenz der Milicianas, zu Zeiten des Bürgerkriegs wie ihr heutiges breit gestreutes Nachleben, 31 Semprún, Jorge: Federico Sánchez verabschiedet sich. Eine Autobiographie, Frankfurt am Main/Berlin/Wien: Ullstein, 1981 (Span. EA 1977). Das erste und das letzte Kapitel tragen den gleichen Titel und rahmen die gesamte Autobiographie: »Die Pasionaria meldet sich zu Wort«, S. 7-35; 384-391. 32 A. Siemsen, Bilderbuch, S. 29 (siehe Anmerkung 14).

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dürfte mit den kämpfenden Milicianas nur ansatzweise zur Deckung kommen. Aber geschieht das bei Helden nicht in gleicher Weise? Marina Ginestà und Ernesto Che Guevara sind somit durchaus Geschwister. Es gilt, die Heldinnen- und Helden-Konstruktion auszuhebeln: Werden wir vernünftig! Gedenken wir der Helden-Figuren, ob weiblich oder männlich, auch der unbekannten, aber vergessen wir sie als Identitätskrücke. Christa Wolf hat in ihren beiden, vielstimmig angelegten Romanen Kassandra und Medea den Versuch unternommen, die männlichen Heldenfiguren der antiken griechischen Literatur zu dekonstruieren: »Achill das Vieh«. Sie macht aus ihren Protagonistinnen keine Heldenfiguren, aber sie gibt den beteiligten Frauen eine Stimme. Christa Wolf präsentiert wort-, situations- und handlungsmächtige Frauen, die dem dumpf-aggressiven Geltungsdrang und zielgerichteten Liebes- und Siegeswillen ihrer männlichen Gegenspieler durch Sensibilität und Selbstreflexion weit überlegen sind. Solche Frauen braucht unsere Erinnerung, auch für die Revolution in Spanien.

Das fragile Geschlecht der Kriegsheldin Diskursivierungen weiblicher Heilungs- und Verletzungsmacht im Ersten Weltkrieg H EIDRUN Z ETTELBAUER

In der zeitgenössischen Deutung avancierte der Erste Weltkrieg zur »Katharsis«1 und diente der Abgrenzung von einer als »verweichlicht«, »verweiblicht« und dekadent angesehenen Vorkriegsmoderne. Im begeisterten Taumel der ersten Kriegsmonate schien der Krieg in allen kriegsführenden Staaten prädestiniert dafür zu sein, männliche Soldaten-Helden im Sinne Thomas Carlyles (1795-1881)2 hervorzubringen: »Führer«, »Bildner«, »Schöpfer«, allesamt »Great Men«, die sich durch Gestaltungswillen, Tapferkeit, Aufrichtigkeit, Weisheit, Unbeirrtheit und Tatkraft und durch die Ruhmesbezeugungen späterer Generationen auszeichneten.3 Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich männliches Heldentum auf den »Kampf für Vaterland und Nation« zugespitzt und durch die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in der Habsburgermonarchie 1868, spätestens jedoch im Kontext des Ersten Weltkriegs, zu einer »Demokratisierung« männli-

1

Vgl. Petra Ernst/Sabine A. Haring/Werner Suppanz (Hg.), Aggression und Katharsis. Der Erste Weltkrieg im Diskurs der Moderne (=Studien zur Moderne, Band 20), Wien: Passagen 2004.

2

Carlyle, Thomas: Über Helden, Heldenverehrung und das Heldentümliche in der Geschichte. Sechs Vorlesungen, Berlin: Deutsche Bibliothek 1912.

3

Vgl. Frevert, Ute: »Herren und Helden. Vom Aufstieg und Niedergang des Heroismus im 19. und 20. Jahrhundert«, in: Richard van Dülmen (Hg.), Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder 1500-2000, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 1998, S. 323-344, hier S. 323.

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chen Heldentums geführt.4 Bei den »Mittelmächten« entfaltete der Mythos von der »im Feld unbesiegten Armee«5 nach 1918 langfristig seine Wirkung. Soldatische Männlichkeitsentwürfe ersetzten bald nach Kriegsende die Friedenssehnsucht der letzten Kriegsmonate, führten in der Zwischenkriegszeit rasch zur einer Remaskulinisierung und Remilitarisierung6, die sich auf je spezifische Weise in verschiedenen paramilitärischen Formationen der Ersten Republik entluden.7 Der »Kriegsheld« scheint unabdingbar männlich; gleichzeitig – so suggerierten Debatten um 1900 – konnten auch alle Männer selbst individuell zum Helden avancieren. Die seit Ende des 19. Jahrhunderts eingeläutete »Demokratisierung« männlichen Heldentums scheint spätestens im Ersten Weltkrieg nicht nur zur 4

Vgl. U. Frevert, Herren und Helden, S. 328-330. Der Status als citoyen wurde unter Rekurs auf antike Vorstellungen seit der Französischen Revolution an die Pflicht zur wehrhaften »Verteidigung der Nation nach außen« und damit an Männlichkeit geknüpft. Der implizit männlich gedachte Staatsbürger sollte entsprechend dieser Denkfigur schichtübergreifend als »Bürger-Soldat« agieren. Zur gewaltsamen Disziplinierung im Militär, die in diesem Sinn als »Schule des Volkes« dienen sollte, vgl. Hämmerle, Christa: »›[…] dort wurden wir dressiert und sektiert und geschlagen […]‹ Vom Drill, dem Disziplinarstrafrecht und Soldatenmisshandlungen im Heer (1868 bis 1914)«, in: Laurence Cole/Christa Hämmerle/Martin Scheutz (Hg.), Glanz – Gewalt – Gehorsam. Militär und Gesellschaft in der Habsburgermonarchie (1800 bis 1918) (=Frieden und Krieg. Beiträge zur Historischen Friedensforschung, Band 18), Essen: Klartext 2011, S. 31-54, hier S. 35-36, S. 46-50.

5

Vgl. Überegger, Oswald: »Vom militärischen Paradigma zur ›Kulturgeschichte des Krieges‹? Entwicklungslinien österreichischer Weltkriegsgeschichtsschreibung im Spannungsfeld militärisch-politischer Instrumentalisierung und universitärer Verwissenschaftlichung«, in: Oswald Überegger (Hg.), Zwischen Nation und Region. Weltkriegsforschung im interregionalen Vergleich. Ergebnisse und Perspektiven (=Tirol im Ersten Weltkrieg, Band 4), Innsbruck: Wagner 2004, S. 63-122, hier S. 88.

6

Vgl. Hämmerle, Christa: »Fritz Weber – ein österreichischer Remarque? Soldatische Erinnerungskulturen«, in: Hämmerle, Christa: Heimat/Front. Geschlechtergeschichte/n des Ersten Weltkrieges in Österreich-Ungarn, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2014, S. 161-182; Hämmerle, Christa: »Krank, feige, mutlos … ›Eine Krise der Männlichkeit‹ nach dem Ersten Weltkrieg?«, in: C. Hämmerle: Heimat/Front, S. 183-202; vgl. Zumpf, Michaela: »Hier fallen Männer und Männer steigen aus Sturz und Nacht zu ewigem Ruhm empor ...«. Männlichkeitskonstruktionen des Kriegsschriftstellers Fritz Weber. Unveröffentlichte Diplomarbeit, Wien 2009.

7

Zu Rhetoriken um soldatische Männlichkeit im Ersten Weltkrieg sowie in der Ersten Republik vgl. Hanisch, Ernst: Männlichkeiten. Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2005, S. 17-70.

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weit verbreiteten Diskursfigur, sondern auch zum individuell sinnstiftenden Deutungsmuster8 vieler Soldaten geworden zu sein. Für weibliche Akteurinnen im Kontext des Ersten Weltkriegs jedoch gestaltete sich der Zugang zum heldenhaften Dasein keineswegs so geradlinig. Zwar konnten auch Frauen und Mädchen in medialen Deutungen zu »Heldinnen« aufsteigen9, der kulturell entworfene Raum ihres Heldentums bildete aber ‒ den hegemonialen Geschlechterdiskursen ‒ entsprechend gerade nicht das Schlachtfeld, sondern die sogenannte »Heimatfront«. Hier sollten sie ihrem Patriotismus Ausdruck geben durch die Aufrechterhaltung von Moral und Sittlichkeit, die Übernahme sozialer Aufgaben, umfassende Spende- und Fürsorgetätigkeiten, die Organisation von Ausspeisungen, Hilfsleistungen für Kriegswitwen und -waisen, im Rahmen von »Liebesgabensammlungen« oder durch freiwillige Pflegedienste in Soldatengenesungsheimen in der Heimat.10 Frauenbezogene Rhetoriken der Kriegspropaganda verwiesen auf diese Weise auf ein klar geschlechtsspezifisches Konzept von Held_innentum: Frauen und Mädchen sollten als »Soldaten des Hinterlandes«11 agieren – so ein Terminus, der sowohl Selbstdefinitionen patriotischer Frauenorganisationen als auch zeitgenössische Fremdzuschreibungen charakterisierte. Die in solchen Rhetoriken fassbare kulturelle Imagination 8

Vgl. Janz, Oliver: »Der Krieg als Opfergang und Katharsis. Gefallenenbriefe aus dem Ersten Weltkrieg«, in: Rüdiger Hohls/Iris Schröder/Hannes Sigrist (Hg.), Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte. Festschrift für Hartmut Kaelble zum 65. Geburtstag, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005, S. 397-400.

9

Vgl. beispielsweise die mediale Indienstnahme des »Heldenmädchens« Rosa Zenoch für die Kriegspropaganda: Postkarte von Rotem Kreuz, Kriegshilfsbüro und Kriegsfürsorgeamt, in: Kriegsalmanach 1914/1916, herausgegeben vom Kriegshilfsbüro des k.k. Ministerium des Inneren, [Wien] 1916.

10 Vgl. C. Hämmerle: Heimat/Front, S. 12-16. 11 (Frühe) Frauengeschichtliche Annäherungen an die Situation von weiblichen Akteurinnen im Ersten Weltkrieg haben dieses Bild der »Soldatinnen des Hinterlandes« zunächst affirmativ aufgegriffen, seither aber immer wieder konstruktiv gegen den Strich gelesen. Vgl. Svoboda, Silvia: »Die Soldaten des Hinterlandes«, in: Die Frau im Korsett. Wiener Frauenalltag zwischen Klischee und Wirklichkeit 1848-1920. Katalog zur Ausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien (Hermesvilla), Wien 1984/1985, Wien: Eigenverlag der Stadt Wien 1984, S. 50-53; vgl. jüngst etwa Ziegerhofer, Anita: »›Soldaten des Hinterlandes‹. Der Erste Weltkrieg und der Anteil der steirischen Frauen«, in: Werner Suppanz/Nicole-Melanie Goll (Hg.), Der Erste Weltkrieg auf lokaler/regionaler Ebene im Kronland Steiermark, Essen: Klartext [2018] [Druck in Vorbereitung].

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einer »männlichen Front« und eines »weiblichen Hinterlandes« bildete nicht nur den Kriegsalltag kaum ab, sondern hat in der Forschung auch dazu geführt, die direkte Involvierung weiblicher Akteurinnen in das Kriegsgeschehen lange Zeit aus dem Blick zu verlieren. Tatsächlich belegen geschlechterhistorische Studien seit den späten 1980er Jahren, dass »Front« und »Heimat« in hohem Maß miteinander verschränkte soziokulturelle Räume darstellten und sich keineswegs durch je geschlechtsspezifische Exklusivität auszeichneten.12 In den folgenden Ausführungen stehen mehrere Gruppen weiblicher Akteurinnen im Fokus, deren je spezifische Heroisierung eng mit Geschlechterdeutungen13 verschränkt war: erstens patriotische, konservative und völkische Protagonistinnen der freiwilligen Kriegsfürsorge an der »Heimatfront«, die ihre sozialen Tätigkeiten als »Heldentum der Liebe« ansahen und zugleich in Konflikt mit den Anforderungen des militärischen Sanitätswesens gerieten 14; zweitens Kriegskrankenschwestern und freiwillige Pflegerinnen, die in zeitgenössischen Deutungen zum Inbegriff weiblich-mütterlicher Opferbereitschaft avancierten und gleichzeitig mit ihrer Präsenz unmittelbar an und hinter den Gefechtslinien die vermeintliche Exklusivität »männlicher Fronterfahrung« in Frage stellten;15 und 12 Vgl. beispielsweise Karen Hagemann/Stefanie Schüler-Springorum (Hg.), HeimatFront. Militär und Geschlechterverhältnisse im Zeitalter der Weltkriege (=Geschichte und Geschlechter, Band 35), Frankfurt am Main/New York: Campus 2002. 13 Die folgenden Ausführungen folgen einem diskurs- und machtanalytisch gefassten Geschlechterbegriff und fokussieren mit Joan W. Scott auf kulturelles »Wissen um die Geschlechterdifferenz«, vgl. Scott, Joan W.: Gender and the Politics of History (=Gender and Culture), New York: Columbia University Press 1988, S. 42-43. 14 Vgl. Zettelbauer, Heidrun: Sich der Nation ver|schreiben. Politiken von Geschlecht und nationaler Zugehörigkeit in autobiographischen Selbsterzählungen von Akteurinnen des völkischen Milieus, unveröffentlichte Habilitationsschrift, Graz 2016, S. 147189. 15 In den letzten Jahren stellen Untersuchungen zu den Kriegskrankenschwestern und zum sogenannten »frontline nursing« eines der zentralen Themen der geschlechtergeschichtlichen Forschungen zum Ersten Weltkrieg dar, vgl. Schulte, Regina: »Die Schwester des kranken Kriegers. Verwundetenpflege im Ersten Weltkrieg«, in: Schulte, Regina: Die verkehrte Welt des Krieges. Studien zu Geschlecht, Religion und Tod (=Geschichte und Geschlechter, Band 25), Frankfurt am Main/New York: Campus 1998, S. 95-116; Schönberger, Bianca: »Mütterliche Heldinnen und abenteuerlustige Mädchen. Rotkreuz-Schwestern und Etappenhelferinnen im Ersten Weltkrieg«, in: Hagemann/Schüler-Springorum (Hg.), Heimat-Front (2002), S. 108-127; PankeKochinke, Birgit/Schaidhammer-Placke, Monika: Frontschwestern und Friedensengel. Kriegskrankenpflege im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Ein Quellen- und Fotoband,

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drittens Soldatinnen, die in kämpfenden Formationen der Armeen weder vorgesehen noch erwünscht waren, sich nichtsdestotrotz im Ersten Weltkrieg an nahezu allen Frontabschnitten vereinzelt oder auch als Massenphänomen belegen lassen16 und sich in ihrem Gewalthandeln eine als männlich codierte »Verletzungsmacht« aneigneten. So unterschiedlich die jeweiligen Handlungsräume dieser Akteurinnen auch waren, so zeigen sich dennoch Gemeinsamkeiten im Hinblick auf Formen geschlechtsspezifischer Heroisierung und daran geknüpfte Interessen und Strategien. Ihre jeweils höchst unterschiedlich argumentierte Instrumentalisierung als »Kriegsheldinnen« und die auf sie bezogenen öffentlichmedialen Diskursivierungen machen Prozesse der Transgression und der punktuellen Auflösung von zeitgenössischen Geschlechternormen ebenso sichtbar Frankfurt am Main: Mabuse 2002; Stölzle, Astrid: Kriegskrankenpflege im Ersten Weltkrieg. Das Pflegepersonal der freiwilligen Krankenpflege in den Etappen des Deutschen Kaiserreichs (=Medizin, Gesellschaft und Geschichte. Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Beiheft 49), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2013. – Zur Situation in der Habsburgermonarchie vgl. Hämmerle, Christa: »Seelisch gebrochen, körperlich ein Wrack … Gewalterfahrungen von Kriegskrankenschwestern«, in: C. Hämmerle: Heimat/Front, S. 27-54; Zettelbauer, Heidrun: »Krankenschwestern im Ersten Weltkrieg. Zwischen gesellschaftlichen Normvorstellungen und Gewalterfahrungen«, in: Diethard Leopold/Stephan Pumberger/Birgit Summerauer (Hg.), Wally Neuzil – Ihr Leben mit Egon Schiele, Wien: Brandstätter 2015, S. 131-151, S. 170-173; Salm-Reifferscheidt, Franziska: Frauen in der Kriegskrankenpflege im Ersten Weltkrieg am Beispiel der Rotkreuzschwester Marianne Jarka. Unveröffentlichte Diplomarbeit, Wien 2010; Zur internationalen Diskussion vgl. Higonnet, Margaret R.: Nurses at the Front. Writing the Wounds of the Great War, Boston: Northeastern University Press 2001; Toman, Cynthia: Sister Soldiers of the Great War. The nurses of the Canadian Army Medical Corps, Vancouver/Toronto: UBC Press 2016; Hallett, Christine E.: Nurse Writers of the Great War, Manchester: Manchester University Press 2016; Quiney, Linda: This Small Army of Women. Canadian Volunteer Nurses and the First World War, Vancouver/Toronto: UBC Press 2017. 16 Vgl. Leszczawski-Schwerk, Angelique: »›Töchter des Volkes‹ und ›stille Heldinnen‹. Polnische und ukrainische Legionärinnen im Ersten Weltkrieg«, in: Klaus Latzel/Franka Maubach/Silke Satjukow (Hg.), Soldatinnen. Gewalt und Geschlecht vom Mittelalter bis heute (=Krieg in der Geschichte, Band 60), Paderborn/München/Wien/Zürich: Schöningh 2011, S. 179-206; Leszczawski-Schwerk, Angelique: »Amazonen, emanzipierte Frauen, ›Töchter des Volkes‹. Polnische und ukrainische Legionärinnen in der österreichisch-ungarischen Armee im Ersten Weltkrieg«, in: Cole/Hämmerle/Scheutz (Hg.), Glanz – Gewalt – Gehorsam (2011), S. 55-76.

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wie Strategien der Re/Inszenierung und Re/Affirmation dichotomer Geschlechtervorstellungen. Die Wiener Soziologin und Historikerin Hanna Hacker hat bereits Ende der 1990er Jahre auf die Figur der »Transgression« als zentrales Moment in der kulturellen Wahrnehmung von Soldatinnen im Ersten Weltkrieg hingewiesen, darauf, dass deren Geschlecht sowohl in Selbst- wie auch Fremdwahrnehmung ebenso zu changieren scheint wie ihre militärischen Funktionen. 17 Eine ambivalente und konflikthafte Überschreitung von Geschlechternormen zeigt sich auch in den Debatten um Handlungsspielräume freiwilliger Akteurinnen in der Kriegsfürsorge, ebenso wie sich Momente des Inkongruenten und Fluiden in der Figur der Kriegskrankenschwester wiederfinden, auch wenn im Fall der beiden letztgenannten Gruppen eine Überinszenierung von Weiblichkeit die bedrohliche Transgression diskursiv abfederte. Die offenkundige Erschütterung und Fragilität von Geschlechterordnungen im Krieg führte – so die These, die den folgenden Ausführungen zugrunde liegt – in hohem Maß zu Prozessen der Re/Affirmation und Re/Inszenierung dichotomer Geschlechterkonzepte. Während in den kulturellen Wahrnehmungen Protagonistinnen der freiwilligen Kriegsfürsorge wie Kriegskrankenschwestern zu »Heldinnen« mutierten, wenn sie »mütterliche Frauenpflichten« überaffirmierten18, so konnten Soldatinnen dann zu »Kriegshelden« werden, wenn ihr »Frau-Sein« im Moment der Aneignung von »Verletzungsmacht« verschwand, soldatischer Männlichkeit wich und nach dem Akt des Gewalthandelns erneut eine Refeminisierung erfolgte. 19 Dieses Changieren von Geschlechterdeutungen im Moment der Heroisierung/Entheroisierung soll im Folgenden fokussiert werden. Zunächst gilt es jedoch, einige geschlechterhistorische Ausgangspunkte zu klären.

17 Hacker, Hanna: Gewalt ist: keine Frau. Der Akteurin oder eine Geschichte der Transgressionen, Königstein/Taunus: Ulrike Helmer 1998, S. 164-168. 18 Dies stand in Einklang mit dem modernen Konzept »geistiger Mütterlichkeit«, das in national-konservativen, völkischen Kreisen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstanden war und die angebliche (und biologisch fundierte) Bestimmung von Frauen zu Mutterschaft als Beleg für weibliche Sozial- und Fürsorgekompetenz in öffentlichgesellschaftlichen Bereiche heranzog. Vgl. Perchinig, Elisabeth: »Zur Situation weiblicher Intellektueller der bürgerlichen Schicht in der Zwischenkriegszeit und im Dritten Reich – ein Versuch über die Funktionalisierung eines marginalen Sozialtypus«, in: Zeitgeschichte 1992, 19. Jg., Heft 1-12, S. 215-223. 19 Ich beziehe mich hier auf H. Hacker: Gewalt ist: keine Frau, S. 148.

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G ESCHLECHTERHISTORISCHE ANNÄHERUNGEN AN DEN »G ROSSEN K RIEG « »As a first step, war must be understood as a gendering activity, one that ritually marks the gender of all members of a society, whether or not combatants«20, hielt die US-amerikanische Historikerin Margaret R. Higonnet 1987 fest und plädierte in diesem Sinne für einen dezentrierenden Blick auf die Geschichte moderner Kriege.21 Sie zeigte neben anderen Historikerinnen22, dass eine geschlechtergeschichtliche Perspektive auf den »Großen Krieg« nicht nur normative militärische und sozio-kulturelle Arbeitsteilungen zwischen Frauen und Männern oder »separierte Erfahrungsräume« erhellt, sondern dass damit Kriegsgesellschaften ganz grundlegend als komplexe soziale und kulturelle Systeme

20 Vgl. Margaret R. Higonnet/Jane Jenson/Sonya Michel/Margaret Collins Weitz (Hg.), Behind the Lines: Gender and the Two World Wars, New Haven/London: Yale University Press 1987, S. 4. 21 Die historische Forschung zum Ersten Weltkrieg hat sich seit einigen Jahren tendenziell weg von militärhistorischen und hin zu kulturgeschichtlichen Fragestellungen verlagert. Vgl. O. Überegger: Vom militärischen Paradigma, S. 63-122. Nichtsdestotrotz stellt das Einnehmen einer geschlechterhistorischen Perspektive auf den »Großen Krieg« auch in neueren Studien ein Desiderat dar: Das hat nicht zuletzt das Gedenkjahr 2014 gezeigt. Eine konsequente Berücksichtigung geschlechterhistorischer Zusammenhänge wird dabei weder in fachwissenschaftlich-historischen Zusammenhängen noch in den unzähligen populärhistorischen Thematisierungen des Krieges sichtbar. Dass sich der Erste Weltkrieg geschichtswissenschaftlich jedoch nicht adäquat erfassen lässt, wenn wir seine geschlechterhistorischen Dimensionen ausblenden, haben inzwischen zahlreiche Studien zweifelsfrei belegt. Als aktueller Überblick: Christa Hämmerle/Oswald Überegger/Birgitta Bader-Zaar (Hg.), Gender and the First World War, Houndmills/Basingstoke: Palgrave Macmillan 2014. 22 Vgl. Roberts, Mary Lou: Civilization without Sexes: Reconstructing Gender in Postwar France, 1918-1928 (=Women in Culture and Society Series), Chicago: University of Chicago Press 1994. Im Sinne einer transnationalen Annäherung an frauenhistorische Fragen zum Ersten Weltkrieg vgl. Thébaud, Françoise: »Der Erste Weltkrieg. Triumph der Geschlechtertrennung«, in: Georges Duby/Michelle Perrot (Hg.), Geschichte der Frauen, Band 5: Françoise Thébaud (Hg.), 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main/New York: Campus 1995, S. 33-92.

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diskutiert werden können.23 Es gilt – um Jay Winter und Antoine Proust zu zitieren – »to explore the history of gender as a prism through which to study society as a whole«24. Mit einem analytischen Blick auf Geschlechterbeziehungen im Ersten Weltkrieg wird der normative Charakter vermeintlich geschlossener Geschlechterräume in Kriegen sichtbar, können Prozesse der Verteilung von Arbeit, Mechanismen des Zuganges zu gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Ressourcen, interaktive Kommunikationsstrukturen zwischen Front und Hinterland oder der breite Prozess der Militarisierung der Zivilgesellschaft diskutiert werden.25 Die Geschlechtergeschichte konnte zeigen, auf welche Weise zeitgenössische Geschlechterkonstruktionen auch in den Geschichtswissenschaften bis weit ins 20. Jahrhundert hinein verlängert wurden 26, so etwa die von Historiker_innen lange Zeit unreflektiert prolongierte Vorstellung einer »männlichen Front« und einer »weiblichen Heimatfront«.27 Dieses kulturelle Konstrukt erwies sich zeitgenössisch als wirkmächtig, nicht nur in Hinblick auf Kriegspolitiken 23 Vgl. Winter, Jay/Prost, Antoine: The Great War in History: Debates and Controversies, 1914 to the Present (=Studies in the Social and Cultural History of Modern Warfare), New York: Cambridge University Press 2005, S. 166. 24 Ebd. 25 Gerade in der Zusammenschau dieser verschiedenen Ebenen wird deutlich, dass der Erste Weltkrieg als einer der ersten »totalen Kriege« in der Geschichte betrachtet werden muss. Vgl. C. Hämmerle: Heimat/Front, S. 10. 26 Vgl. Zettelbauer, Heidrun: »Krieg und Geschlecht im deutschnationalen Diskurs im Ersten Weltkrieg«, in: Ernst/Haring/Suppanz (Hg.), Aggression und Katharsis (2004), S. 187-218, hier S. 187-189. 27 Vgl. allgemein: Hagemann/Schüler-Springorum (Hg.), Heimat-Front (2002). Im Hinblick auf Österreich-Ungarn vgl. C. Hämmerle: Heimat/Front. ‒ Die Grundstrukturen patriotisch-nationaler Geschlechterordnungen lassen sich bis in die Zeit der napoleonischen Befreiungskriege zurückverfolgen und wurden in verschiedensten kriegerischen Auseinandersetzungen im Lauf des 19. Jahrhunderts immer wieder reaktiviert. Vgl. Planert, Ute: »Nationalismus und weibliche Politik: Zur Einführung«, in: Ute Planert (Hg.), Nation, Politik und Geschlecht. Frauenbewegungen und Nationalismus in der Moderne (=Geschichte und Geschlechter, Band 31), Frankfurt am Main: Campus 2000, S. 9-14, beziehungsweise Planert, Ute: »Vater Staat und Mutter Germania: Zur Politisierung des weiblichen Geschlechts im 19. und 20. Jahrhundert«, in: Planert (Hg.), Nation, Politik und Geschlecht (2000), S. 15-65. Zu sozialen Praktiken entlang dieses Konzeptes im Kontext der Habsburgermonarchie vgl. Zettelbauer, Heidrun: »Die Liebe sei Euer Heldentum«. Geschlecht und Nation in völkischen Vereinen der Habsburgermonarchie, Frankfurt am Main/New York: Campus 2005, besonders S. 177-210.

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und -repräsentationen, sondern auch auf daran geknüpfte kulturelle Geschlechterordnungen, in Bezug auf die Zuschreibung und Begrenzung von geschlechtsspezifischen Handlungsräumen sowie kulturell präformierte Selbstwahrnehmungen. Die vergeschlechtlichte Codierung von Front und Heimat wird in vielen medialen wie populärkulturellen Beispielen besonders zu Kriegsbeginn sichtbar. Der Kriegsdiskurs wertete dabei nicht nur »militarisierte Männlichkeit« auf, sondern nahm – wie die britische Philosophin Denise Riley gezeigt hat28 – zugleich eine diskursive »Überfeminisierung von Frauen« vor. So wurde das reproduktive Potential von Frauen, ihre potentielle Gebärfähigkeit und Mütterlichkeit zentral gesetzt oder Häuslichkeit propagiert. Wiederkehrende Topoi im hegemonialen Kriegsdiskurs waren »die liebende Ehefrau« des Soldaten, die »voll Sorge wartende Mutter«, die »kämpferische Patriotin« im Hinterland.29 Den »männlichen Helden am Schlachtfeld« wurden »weibliche Heldinnen der Liebe« gegenübergestellt,30 Männer sollten als »Bürgersoldaten« die Nation »nach außen« verteidigen und für »wehrlose Frauen und Kinder« daheim kämpfen. Frauen wiederum oblag es, die gesellschaftliche Ordnung im »Inneren« aufrecht zu erhalten und eine »innere Wehrhaftigkeit« gegen nationale Anfeindungen zu entwickeln.31 Viele griffen diese weit verbreiteten kulturellen Deutungsmuster auf, machten sie zu individuellen politischen Wahrnehmungen. Dies dokumentiert exemplarisch ein Brief, den Vertreterinnen katholisch-konservativer beziehungsweise national-patriotischer Frauenvereine in der Steiermark am 17. März 1916 an den kaiserlichen Statthalter, Graf Manfred von Clary und Aldringen, übermittelten. 28 Vgl. Riley, Denise: »Some Peculiarities of Social Policy concerning Women in Wartime and Postwar Britain«, in: Higonnet/Jenson/Michel/Collins Weitz (Hg.), Behind the Lines (1987), S. 260-271. 29 Beispielhaft bildet sich das in den vielen offiziellen Kriegspostkarten des Kriegsfürsorgeamtes oder des Kriegspressequartiers ab, die diese Geschlechterstereotypen in unzähligen Varianten wiederholen. Vgl. Schögler, Lisa: Das Symbol im Bild. Propagierte Geschlechterbilder auf Postkarten im Ersten Weltkrieg in Österreich-Ungarn. Unveröffentlichte Diplomarbeit, Graz 2011. 30 Vgl. H. Zettelbauer: Die Liebe, S. 183-195. 31 Dass Diskursfiguren wie diese in nahezu allen modernen Kriegen präsent sind, darauf hat etwa die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin Cynthia Enloe hingewiesen. Vgl. Enloe, Cynthia: »Alle Männer sind in der Miliz, alle Frauen sind Opfer. Die Politik von Männlichkeit und Weiblichkeit in nationalistischen Kriegen«, in: Brigitte Fuchs/Gabriele Habinger (Hg.), Rassismen & Feminismen: Differenzen, Machtverhältnisse und Solidarität zwischen Frauen, Wien: Promedia 1996, S. 92-110, hier S. 99.

100 | H EIDRUN Z ETTELBAUER »Euer Exzellenz! Seit 20 Monaten tobt der Krieg und zahllos sind die Opfer, die er fordert. Nicht nur unsere todesmutigen Helden kämpfen und leiden, auch wir im Hinterlande, wir Frauen und Mädchen, die klaglos, wenn auch mit blutendem Herzen ihr Liebstes hingeben für Kaiser und Vaterland. […] Mit tausend Tränen und bitterem Weh haben wir uns das Recht erkauft unsere Helden zu pflegen, ihre Schmerzen zu lindern, vielleicht ihre Todesstunde zu erleichtern. Nun ist uns dieses Recht genommen worden. Die abgeordneten Frauen und Pflegerinnen sind aus einem großen Teil der Spitäler ausgewiesen, […] sind nur geduldet, können jeden Tag wieder entlassen werden. Wir Frauen und Mädchen lassen uns […] dieses teuer erkaufte Recht nicht schmälern, […] unser Entschluß steht fest, dieses Recht zu verteidigen, um Gewährung unserer Bitte, wenn es sein muß, bis an die Stufen des Thrones zu gehen.«32

Im hier diskutierten Kontext erscheint der vorliegende Brief von Interesse, weil in ihm ganz grundlegend zentrale Elemente des zeitgenössischen Geschlechterdiskurses deutlich werden. Besonders Protagonistinnen konservativer Frauenvereine reproduzierten den hegemonialen Geschlechterdiskurs und affirmierten die in ihm fixierte geschlechtsspezifische Arbeitsteilung: die Pflege von verwundeten und kranken Soldaten wurde als genuin weibliche Pflicht aufgefasst, »weibliches Heldentum« im Krieg konnte sich aus der Erfüllung dieser »Frauenpflichten« speisen. Zugleich wurden männliche und weibliche Kriegstätigkeiten in Analogie zueinander positioniert: »männlicher Kampf« (Verletzung) und »weibliche Fürsorge« (Heilung) bilden einander entgegengesetzte Pole im hegemonialen Geschlechtermodell. In dem im Brief zentral gesetzten Begriff der »Wunden«, die der Krieg schlägt, werden die geschlechtsspezifischen Pflichten zusammengeführt: die »blutenden Wunden der Männer am Schlachtfeld« entsprechen den »blutenden Herzen der Frauen« in der Heimat. Männliche Heldentaten und das größte Opfer der Soldaten, nämlich ihr Tod auf dem Schlachtfeld, stehen der Liebes- und Fürsorgetätigkeit von Frauen und Mädchen gegenüber, ihrem »Heldentum der Liebe«33. Diese Deutungen einigten politische Akteurinnen offenkundig über konfessionelle oder politische Grenzen hinweg, nichtsdestotrotz 32 Brief steirischer Frauenorganisationen an den steirischen Statthalter vom 17.03.1916, Steiermärkisches Landesarchiv (StLA), Statth. Präs. M297c-1187/1916 K 1221, S. 40-41. 33 Explizit so formuliert in einem Kriegsgedicht von Karl-Adam Kappert, einem deutschnational-völkischen Autor, der sich als »Wegbereiter« nationalsozialistischer Ideologien erweisen sollte. Kappert, Karl-Adam: »Die Greuel des Krieges«, in: Mitteilungen des Vereins Südmark (MdVS) 1914, 9. Jg., Nr. 8/9, S. 273.

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erstaunt die Vehemenz, mit der die Schreiberinnen ein »frauenspezifisches Recht« der Verwundetenpflege einforderten und zugleich als Bedrohungsszenario in den diskursiven Raum stellten, sich – sollte ihrem Anliegen nicht entsprochen werden – sogar ans Kaiserhaus zu wenden. Auf den angesprochenen Konflikt soll an anderer Stelle nochmals zurückgekommen werden, hier mag der Hinweis genügen, dass die Protagonistinnen bürgerlich-konservativer und national-patriotischer Frauenvereine an die Erfüllung der ihnen zugewiesenen »Frauenpflichten« ganz offenkundig auch Forderungen knüpften – nämlich ihre Integration in öffentlich-politische Entscheidungsprozesse. Der zitierte Brief belegt die Präsenz und Wirkmächtigkeit kriegsbedingter Geschlechternormen: »richtiges weibliches Verhalten« wurde während des Krieges intensiv beschworen und exzessiv herbeigeschrieben. Zum Repertoire gehörte auch die Imagination von Bedrohungs- und gesellschaftlichen Auflösungsszenarien.34 Aus geschlechtertheoretischer Perspektive kann eine solche Intensivierung von Diskursen über »Geschlechter-Ordnungen« vor allem auch als Hinweis darauf gelesen werden, dass Geschlechterbeziehungen durch den Krieg – gemessen am hegemonialen Geschlechtermodell – bereits in hohem Maß »in Unordnung geraten«35 waren: viele Akteurinnen überschritten offenkundig jene Räume, die im hegemonialen bürgerlichen Geschlechtermodell als »zulässig« für weibliches Handeln erachtet wurden. Frauen oblag die unter den Kriegsbedingungen enorm erschwerte tägliche Versorgung der Familien36 und zwang viele zu außerhäuslicher Erwerbstä34 Als Beispiel vgl. einen Beitrag der Antifeministin und völkischen Akteurin von Rosen-Fabricius: von Rosen-Fabricius, Kathinka: »Frauenpflichten«, in: MdVS 1914, 9. Jg., Nr. 10/11/12, S. 293. Als »innere Feinde der Nation« fungieren, kaum erstaunlich, die Ziele der bürgerlichen Frauenbewegung: höhere Bildung, Selbstständigkeit von Frauen und das Streben nach politischer Partizipation. Vgl. auch eine Artikelserie der völkischen Schriftstellerin Ida Maria Deschmann: Deschmann, Ida Maria: »Laßt die Sonne herein«, in: MdVS 1916, 11. Jg., Nr. 11/12, S. 126-128. 35 Zum Zusammenhang von Destabilisierung und Stabilisierung im Kontext historischer Geschlechterdiskurse vgl. Scott, Joan W.: »Rewriting History«, in: Higonnet/Jenson/Michel/Collins Weitz (Hg.), Behind the Lines (1987), S. 21-31. Zit. n. Rouette, Susanne: »Frauenarbeit, Geschlechterverhältnisse und staatliche Politik«, in: Wolfgang Kruse (Hg.), Eine Welt von Feinden. Der Große Krieg 1914-1918, Frankfurt am Main: Fischer 1997, S. 94. 36 In dem Kontext steht auch die umfassende Mangel- und Ersatzmittelwirtschaft. Vgl. etwa Neue Kochvorschriften. Gesammelt im dritten Kriegsjahre vom Allgemeinen Deutschen Frauenverein Graz, Graz: Leuschner & Lubensky 1917; Kriegsküche 1915. Vom Allgemeinen deutschen Frauenverein gesammelte Kochvorschriften und Speisefolgen, Graz: Selbstverlag des Allgemeinen deutschen Frauenvereins 1915; Rubner,

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tigkeit. Der Arbeitsmarkt, vor allem die kriegswichtigen Betriebe37, kamen ohne Arbeiterinnen schlicht nicht aus; Frauen ersetzten in vielen Berufsbranchen und in der Landwirtschaft eingerückte Männer. Tausende Kriegskrankenschwestern und freiwillige Pflegerinnen waren an Front und Etappe eingesetzt und entlarvten die Vorstellung eines rein »männlichen« Frontraums ebenso als Fiktion wie die vielen Ärztinnen, die zum Teil in Offiziersrang in den Feld- und Militärspitälern Dienst versahen38. Dem standen auch die »weiblichen Hilfskräfte der Armee im Felde«39 entgegen, die durch ihren Einsatz in verschiedensten Verwaltungstätigkeiten ab 1917 Männer aus dem Etappengebiet für die Front »freimachen« sollten40. Und das galt schließlich nicht zuletzt auch für kämpfende Soldatinnen41, die zuweilen romantisierend in den Medien auftauchten, überwiegend jedoch ein beunruhigendes Gefühl evozierten. Alle diese Akteurinnen forderten den hegemonialen Geschlechterdiskurs heraus und führten die Rede vom »männlichen Frontraum« schlicht ad absurdum.42 Die Beschwörung einer neuen »Ideologie der Häuslichkeit« oder die Debatten um einen durch den Krieg endlich errungenen »Burgfrieden der Geschlechter«43 zeigen dahingegen tatsächlich einen Disziplinierungsdiskurs an, eine verschärfte Re/Akzentuierung bürgerlich-natioMax: »Unsere Ernährung«, in: Bund deutscher Gelehrter und Künstler (Kulturbund): Deutsche Volkskraft nach zwei Kriegsjahren. Vier Vorträge, Leipzig/Berlin: Teubner 1916. 37 Vgl. Daniel, Ute: »Der Krieg der Frauen 1914-1918. Zur Innensicht des Ersten Weltkriegs in Deutschland«, in: Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich (Hg.), Keiner fühlt sich hier als Mensch. Erlebnis und Wirken des Ersten Weltkriegs (=Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte, Neue Folge 1), Frankfurt am Main: Fischer 1993, S. 131149. Zur österreichischen Situation: Augeneder, Sigrid: Arbeiterinnen im Ersten Weltkrieg. Lebens- und Arbeitsbedingungen proletarischer Frauen in Österreich (=Materialien zur Arbeiterbewegung, Band 46), Wien: Europaverlag 1987. Jüngst: Schmidlechner, Karin M.: »Steirische Arbeiterinnen in der Kriegs- und Nachkriegszeit«, in: Suppanz/Goll (Hg.), Der Erste Weltkrieg [2018]. 38 Vgl. Stadler, Angelika: Ärztinnen im Krieg am Beispiel der Ärztinnen ÖsterreichUngarns. Unveröffentlichte Dissertation, Graz 2003. 39 Dieser Terminus galt für Österreich-Ungarn, im Deutschen Reich wurden sie als »Etappenhelferinnen« bezeichnet. Vgl. C. Hämmerle: Heimat/Front, S. 21. 40 Vgl. B. Schönberger: »Mütterliche Heldinnen«, S. 117. 41 A. Leszczawski-Schwerk: Amazonen, S. 55-76. Vgl. dazu auch C. Hämmerle, Heimat/Front, S. 20-21. 42 Vgl. A. Stadler: Ärztinnen, S. 91-94; H. Hacker: Gewalt ist: keine Frau, S. 281. 43 Zur Diskursfigur des »Burgfriedens«, den der Krieg zwischen den Geschlechtern hervorgebracht habe, vgl. H. Zettelbauer: Krieg und Geschlecht, S. 196.

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nalistischer Geschlechterideologien. Die Destabilisierung von Geschlechterbeziehungen sowie ihre Restabilisierung erweisen sich dabei als unabdingbar ineinander verschränkte Prozesse. In Anbetracht solcher Beobachtungen hat die neuere Geschlechtergeschichte auch die Vorstellung strikt separierter Geschlechterräume im Krieg als brauchbares Analysekonzept deutlich relativiert: Verwiesen wurde vielmehr auf ein »Gegen-, Neben- und Miteinander«, ein »dialogisches Verhältnis« von Front und Heimat als stark ineinander verschränkte soziokulturelle Räume44 sowie auf Ambivalenzen, Widersprüche, Konflikte um Geschlecht und die allgegenwärtige Transgression kultureller Geschlechternormen. Insbesondere die Kriegsfürsorge (und als Teil davon die Verwundetenpflege) erscheint ein geeignetes Untersuchungsfeld, um das Hineinragen des Krieges in die Zivilgesellschaft sichtbar zu machen wie auch Verfahren der Militarisierung der Zivilbevölkerung. In der Kriegsfürsorge – gefasst als »Schnittstelle« und »Überlappungszone« von »Front« und »Heimat«45 – bildet sich der weitreichende Prozess der Mobilisierung/Selbstmobilisierung weiblicher Akteurinnen für Kriegsziele ebenso ab wie das Changieren von Geschlechterbildern oder Transgressionen und Re/Affirmationen von Geschlecht.

L IEBENDE H ELDINNEN IM H INTERLAND Verletzte Soldaten und Angehörige von Gefallenen wurden in ÖsterreichUngarn sowohl von staatlich-militärischer Seite als auch durch halbstaatliche und private Kriegshilfeorganisationen betreut.46 Vor dem Krieg hatte es (in der

44 Vgl. C. Hämmerle: Heimat/Front, S. 20. 45 Zu Kriegsfürsorge und Verwundetenpflege als Überlappungszone von »Front« und »Hinterland« vgl. Zettelbauer, Heidrun: »Ansprüche | Beanspruchungen. Die Mobilisierung völkischer Akteurinnen im Ersten Weltkrieg und Karoline Kreuter-Gallés Kriegserinnerungen einer freiwilligen Pflegerin (1915)«, in: H. Zettelbauer: Sich der Nation ver|schreiben (2016), S. 147-190. 46 In der Habsburgermonarchie waren für den Bereich der Kriegsfürsorge das KriegsHilfs-Büro im Ministerium des Inneren, das Kriegsfürsorgeamt im Kriegsministerium sowie – und das war für die freiwillige Verwundetenpflege maßgeblich – die Österreichische Gesellschaft vom Roten Kreuz (Rotes Kreuz) mit vielen Landesverbänden und lokalen Zweigvereinen zuständig. Das Rote Kreuz kooperierte häufig mit den nach 1866 gegründeten Patriotischen Frauen-Hilfsvereinen (so auch in der Steiermark). Dazu kamen der Malteserorden und der Deutsche Ritterorden. Diese freiwilligen Vereine stellten die Hauptsäulen zur Unterstützung des militärischen Sanitätsap-

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gesamten Monarchie und auch in der Steiermark) wenig professionelle Ausbildungsmöglichkeiten für Krankenpflege gegeben. In der Steiermark hatte vor allem das Rote Kreuz in Leibniz einige Jahre vor dem Krieg begonnen, Berufspflegerinnen auszubilden. Die hier geschulten Pflegerinnen verpflichteten sich bereits seit 1909 dazu, sich in einem etwaigen Kriegsfall »gegen Entgelt und Verpflegung am Kriegsschauplatze verwenden zu lassen«.47 Zwei Jahre vor Kriegsbeginn wurden diese Bemühungen um militärisch einsetzbare Pflegekräfte intensiviert. Vor dem Hintergrund der Balkankriege 1912/13 sowie des Kriegsleistungsgesetzes (von 1912) setzte in der Habsburgermonarchie generell eine umfassende Institutionalisierung und Reorganisation des freiwilligen Sanitätswesens ein.48 Sichtbar wird von Beginn an ein breites Konzept der Integration von Frauen: sie sollten direkt in der Verwundetenpflege tätig sein (im Feld oder im Hinterland) oder die Kriegsfürsorge ideell und finanziell unterstützen .49 Diese Mobilisierungsversuche von Seiten der Landesverwaltung waren zunächst kaum erfolgreich: aus den steirischen Statthaltereiakten lässt sich rekonstruieren, dass sowohl von Seiten der Bezirksbehörden als auch von Seiten der explizit adressierten Frauen reserviert auf den angestrebten Einsatz weiblicher Akteurinnen in einem bevorstehenden Krieg reagiert wurde.50 Das änderte sich schlagartig im Kontext der »Julikrise« 1914, als erneut und offensiv weibliche Pflegekräfte für den Kriegseinsatz angeworben wurden. Basierend auf einem Erlass des Innenministers wurden eiligst mehrwöchige Kurse angeboten, die angehenden Hilfspflegerinnen erhielten theoretischen Unterricht, wurden zudem in Anatomie, Physiologie, Pathologie, Infektionskrankheiten und Krankenpflegetechnik unterrichtet und absolvierten eine praktische Ausbildung in lokalen Krankenhäusern. Im Sog der allgegenwärtigen Kriegsbegeisterung bedurfte es nun offenbar kaum parates dar. Die genannten Organisationen richteten ihre Aktivitäten nicht nur im engeren Sinne auf die Unterstützung von verwundeten Soldaten, ihre Familien oder Angehörige von Gefallenen, sondern verherrlichten alles Militärische, verlängerten die Kriegsdauer und befriedigten wohl mitunter eigene Eitelkeiten. Vgl. Sauermann, Eberhard: »Aspekte der österreichischen Kriegsfürsorge im Ersten Weltkrieg«, in: Österreich in Geschichte und Literatur mit Geographie (ÖGL) 2001, 45. Jg., Heft 2b-3, S. 98-121, hier S. 98. 47 Vgl. StLA, Präs. Statth. M297c-793/1911, K1220, S. 4-6. 48 H. Zettelbauer: Sich der Nation ver|schreiben, S. 157-158. 49 Verlautbarung des Präsidiums des Landes- und Frauenhilfsvereines vom Roten Kreuz für Steiermark Nr. 1390/St.V. vom 18.12.1912 an die Präsidien der Zweigvereine, vgl. StLA, Präs. Statth. M297c-2084/1912, K1220. 50 Vgl. Brief der Bezirkshauptmannschaft Graz an die Statthalterei vom 29.1.1913, StLA, Präs. Statth. M297c-793/1911, S. 47.

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mehr der Werbung. Bereits Ende August 1914 wurden in fast allen steirischen Bezirken entsprechende Ausbildungskurse durchgeführt – getragen von der Katholischen Frauenorganisation, dem Roten Kreuz, von deutschnationalen Vereinen oder von städtischen Krankenhäusern selbst. Die Kurse nahmen in kurzer Zeit so überhand, dass das Landeskrankenhaus (LKH) Graz bereits Mitte August vermeldete, dass es mit einer »derartige[n] Ueberschwemmung« mit Schülerinnen zu kämpfen habe, dass eine »gedeihliche Arbeit« unmöglich geworden sei. Die Beaufsichtigung so vieler Schülerinnen – klagte die Direktion des LKH – sei vollkommen unrealistisch und werde zur »Selbsttäuschung«51. Der Zustrom von Frauen wie auch die Organisationsfreudigkeit von Seiten bürgerlich-konservativer Frauenvereine hielt nichtsdestotrotz ungebrochen den ganzen Herbst über an. Mitte Oktober 1914 hatten bereits 1.070 weibliche und 74 männliche Hilfskräfte Kurse abgeschlossen und sich freiwillig für den Dienst in der Verwundetenpflege gemeldet. Dieser Befund bedeutet jedoch nicht automatisch, dass von einem flächendeckenden Einsatz der weiblichen Zivilbevölkerung gesprochen werden muss. Die Selbstmobilisierung von Frauen war zwar mitunter regional sehr hoch (vor allem in den steirischen Städten wie Graz, Leoben oder Pettau/Ptuj), aber es gab zugleich viele Regionen, in denen noch immer deutlich reserviert auf die Aufforderungen der Kriegspolitik reagiert wurde (so etwa in steirischen Industrieorten). Hier gab es kaum Nachfrage nach Kursen, oder lokale Ärzte (so beispielsweise in Mürzzuschlag oder Knittelfeld) weigerten sich dezidiert, solche anzubieten. Dazu kam, dass ausbildungswillige Frauen zwar oft in hoher Zahl in die Kurse strömten, dann aber zum Beispiel nur den theoretischen Unterricht besuchten, nicht aber die praktischen Kursteile. 52 Die patriotischen und zweifellos geschönten Berichte der Statthalterei an das Innenministerium bilden solche verhaltenen Reaktionen allerdings kaum ab. Auffallend im Kontext dieser Selbst/Mobilisierung der weiblichen Zivilbevölkerung ist die starke Präsenz patriotischer und völkischer Frauenvereine in der Organisation und Institutionalisierung der freiwilligen Kriegsfürsorge. Für konservative Akteurinnen bot sich hier offenkundig ein Feld, das sie zur Entwicklung eigener politischer Visionen und Handlungsräume nutzten. Paradigmatisch dafür steht etwa das Engagement des radikalen völkisch orientierten Vereins Südmark. Auf Initiative der weiblichen Mitglieder des Deutschtumsvereins 51 Brief der Direktion des Landeskrankenhauses (LKH) Graz an die Statthalterei vom 12.8.1914, StLA Statth. Präs. M297c-1741/1914, S. 37; vgl. Brief des Innenministers an die k.k. Statthalterei in Graz, 28.8.1914, ebd., S. 55-56. 52 Brief des Statthalters an den Innenminister vom 15.10.1914 inkl. tabellarischer Aufstellung über die Umsetzung der Ministerialerlässe, StLA, Statth. Präs. M297c1741/1914, S. 105-113.

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und unter ihrer wirtschaftlichen Leitung wurde in Graz-Kroisbach bald nach Kriegsbeginn ein Soldatengenesungsheim eingerichtet. Das Haus wurde zum Prestigeprojekt des Vereins, das insbesondere weibliche Aktivistinnen materiell wie diskursiv ausgestalteten. Das Genesungsheim wurde medial inszeniert als »Eiland völkischer Barmherzigkeit«, als Ort »deutscher Häuslichkeit«: am Dach »das deutsche Dreifarb und die Rot-Kreuz-Flagge«, der »Hauch eines Familienheims«, die Wände geschmückt mit Kriegspostkarten: »Das verbreitet Stimmung und gibt einen echt vaterländischen und zugleich kriegerischen Eindruck.«53 In der Vereinspresse avancierte das Heim zum locus amoenus, zum symbolischen Ort der »weiblichen Heimatfront«, einer unpolitischen »Insel der Friedfertigkeit«, Opferbereitschaft und mütterlichen Harmonie mitten im Kriegsalltag. Die Gewalt des Krieges, welche die Pflege verletzter Soldaten überhaupt nötig machte, bildet dabei eine diskursive Leerstelle. Das kann als Bewältigungsstrategie gelesen werden, oder – mit Hanna Hacker – als Ersatz eines Sprechens über Gewalt54. Zugleich verweist diese Rhetorik auch auf Strategien völkischer Aktivistinnen, die politischen Dimensionen ihres Tuns von sich zu weisen und Kriegsgewalt und -zerstörung mittels geschlechtsspezifischer Argumentationen zu legitimieren. Dass diese Strategie nicht aufging, belegt der eingangs zitierte Brief, der auch von einem prominenten weiblichen Mitglied des Vereins Südmark unterzeichnet wurde. Trotz der Affirmation hegemonialer Geschlechterdeutungen gerieten völkisch-patriotische Akteurinnen mit ihren politischen Visionen offenkundig in Konflikt mit militärischen Zielsetzungen. Im Frühjahr 1916 wurden in der Steiermark viele halbstaatliche und private Sanitätsanstalten (so auch das Südmark-Genesungsheim) zugunsten einiger weniger großer, von den Militärbehörden administrierter Einrichtungen55 geschlossen und gleichzeitig weibliche Delegierte des Roten Kreuzes aus Militärspitälern ausgewiesen (darunter zahlreiche Vertreterinnen bürgerlich-konservativer wohltätiger Frauenorgani53 Vgl. Adam, K.[arl]: »Im Soldatengenesungsheim der Südmark«, in: MdVS 1914, 9. Jg., Nr. 10/11/12, S. 296-298, Zitat S. 296. 54 H. Hacker: Gewalt ist: keine Frau, S. 170-173. 55 Vgl. etwa den Umbau des Kriegsgefangenenlagers Lebring in ein Militärspital (Hansak, Peter: Das Kriegsgefangenenwesen während des 1. Weltkrieges im Gebiet der heutigen Steiermark. Unveröffentlichte Dissertation, Graz 1991, S. 101) beziehungsweise die entsprechende Neunutzung des Kriegsgefangenenlagers Feldbach-Mühldorf (Dornik, Wolfram/Grasmug, Rudolf: »Der Lager-Komplex Feldbach-Mühldorf«, in: Elisabeth Arlt/Wolfram Dornik/Rudolf Grasmug/Beatrix Vreča (Hg.), Krieg, Fern der Front. Die Südoststeiermark im Ersten Weltkrieg (=Schriften aus dem ›Museum im Tabor‹, Band 13), Graz: Leykam 2014, S. 166-211.

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sationen). Bis dato beschäftigte freiwillige Pflegerinnen wurden entlassen; sie konnten nur mehr zu Bedingungen des Militärs wiederangestellt werden und wurden auf diese Weise in die militärischen Befehlsketten eingegliedert. Der kaiserliche Statthalter, der auch in seiner Funktion als Präsident des Roten Kreuzes die privaten und halboffiziellen Kriegsfürsorgemaßnahmen koordinierte, unterstützte die Unterzeichnerinnen in ihrem Protest gegen die Ausweisung und versuchte in der Causa tatsächlich beim zuständigen Militärkommando zu intervenieren – wenn auch vergeblich. Der Entscheid des Militärkommandos löste in der Folge einen handfesten Konflikt aus, der Kreise bis ins Innen- und Kriegsministerium sowie ins Kaiserhaus zog. Kriegsminister Krobatin etwa beanstandete – wie aus einer vertraulichen Mitteilung an den Ministerpräsidenten hervorgeht – in den privaten Anstalten eine »schwere Schädigung der Interessen des Staates und der Armee«, etwa durch zu reichliche Verpflegung der Soldaten oder durch die verspätete Entlassung »geheilter Mannschaften«. Die Kritik richtete sich aber insbesondere gegen die weiblichen Delegierten in den Militärspitälern: diese hätten sich »Uebergriffe und Einmengungen in militär.[ische] Angelegenheiten zu schulden« kommen lassen und sich angemaßt, »militär.[ische] Anordnungen und Einrichtungen einer Kontrolle zu unterziehen«. Dieses »angemaßte […] Inspizierungsrecht« sei ein für alle Mal abgestellt worden.56 In diesem Konflikt bilden sich Diskrepanzen ab, zwischen einer nach militärischen Gesichtspunkten strukturierten Pflegepolitik einerseits und einer entlang national-patriotischer Geschlechterdiskurse konzipierten Kriegsfürsorge andererseits. Deutlich wird, dass völkisch-konservative Akteurinnen die ihnen qua Geschlechternormen zugewiesenen Tätigkeitsfelder und das in Aussicht gestellt »Heldinnentum der Liebe« zur Entwicklung eigener politischer Visionen nutzten. Obwohl sie den politischen Gehalt ihres Tuns diskursiv immer wieder von sich wiesen, gerieten zivilgesellschaftliche und geschlechterspezifische Vorstellungen von heldenhaftem Verhalten in Konflikt mit den militärischen Anforderungen, der Status von Heroinnen wurde an der »Heimatfront« offenkundig sehr unterschiedlich ausgedeutet. Weibliche Akteurinnen in der Kriegsfürsorge machten die Erfahrung, dass sich zwar in anderen Feldern der sozialen Fürsorge im Hinterland (etwa der Nahrungsmittelversorgung oder Flüchtlingsbetreuung) an die Affirmation hegemonialer Geschlechternormen durchaus die Beanspruchung von zivilen Rechten knüpfen ließ. So wurden Vereine aus dem Umfeld der organisierten Frauenbewegung in den genannten sozialen Bereichen im Lauf des Krieges immer stärker in staatliche oder kommunale Institutionen integriert und 56 Abschrift einer Note des Kriegsministers an den Ministerpräsidenten 3.8.1916, Abt. 14, Nr. 14.836 von 1916, vertraulich übermittelt an den Statthalter, StLA Statth. Präs. M297c-1187/1916, K1221, S. 59-60.

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auf diese Weise in überregionale und regionale Entscheidungsprozesse miteingebunden.57 Im kriegswichtigen Feld der Verwundetenpflege und ihren militarisierten Strukturen wurde das Tun patriotischer und völkischer Akteurinnen und die von ihnen selbst ausgefüllten Rollen als »Heldinnen des Hinterlandes« von Seiten der Armee jedoch rasch als »systembedrohend« wahrgenommen und als Grenzüberschreitung weiblicher Handlungsradien geahndet.

H ELDENHAFTE S CHWESTERN -M ÜTTER IN VERBOTENEN Z ONEN Dass die Imagination eines exklusiv »männlichen Frontraums« kaum haltbar war, belegt die inzwischen umfangreiche geschlechterhistorische Forschung zu den vielen Frontschwestern im Ersten Weltkrieg, die in allen kriegsbeteiligten Ländern für die Pflege verwundeter Soldaten rekrutiert wurden. Zehntausende von Krankenschwestern erlebten den Krieg in einer für Frauen diskursiv so entworfenen »forbidden zone«58, oft in unmittelbarer Nähe zum Frontgeschehen, direkt involviert in das Leiden und Sterben unzähliger Soldaten. Krankenschwestern und Pflegerinnen arbeiteten unter schwierigsten und – auch für sie selbst – gefährlichen Bedingungen, die sie häufig an ihre Grenzen brachten: an die Grenzen körperlicher Belastbarkeit, aber auch die Grenzen der ihnen zugewiesenen Geschlechternormen.59 In der Verwundetenpflege bildet sich die Zerstörungswucht des modernen technisierten Krieges unmittelbar ab, auch für jene, die qua Alter, Geschlecht oder Berufstätigkeit von direkten Kampfhandlungen ausgeschlossen waren. Hier wurde der Krieg mit all seinen schockierenden Seiten sichtbar: in den entstellten Gesichtern, den verstümmelten, gelähmten und erblindeten Körpern der Soldaten sowie ihren verstörten Psychen – und das eben

57 So waren etwa Vereine aus dem Umfeld der organisierten Frauenbewegung im Kontext der Frauenhilfsaktion im Kriege (Wien) beziehungsweise ihren regionalen Ablegern, in der Steiermark etwa im Frauenhilfsausschuss, in staatliche und kommunale Entscheidungen involviert. Vgl. Hämmerle, Christa: »Die ›Frauenhilfsaktion im Kriege‹. Weibliche (Selbst-)Mobilisierung und die Wiener Arbeitsstuben«, in: C. Hämmerle: Heimat/Front, S. 84-103. Zur Steiermark vgl. A. Ziegerhofer: Soldaten des Hinterlandes, S. 3-5. 58 Den Begriff hat die Schriftstellerin Mary Borden, die selbst als Kriegskrankenschwester tätig war, geprägt. Borden, Mary: The Forbidden Zone, London: William Heinemann Ltd. 1929; vgl. H. Hacker: Gewalt ist: keine Frau, S. 222. 59 Vgl. C. Hämmerle: Seelisch gebrochen, S. 28.

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nicht nur im Frontbereich, sondern auch in Spitälern an der vermeintlich »sicheren Heimatfront«. Im Gegensatz zu anderen Staaten liegen für ÖsterreichUngarn keine gesicherten Zahlen zum weiblichen Sanitätspersonal vor. Die in der Literatur immer wieder angeführte Zahl von 25.000 Kriegskrankenschwestern, die ab 1917 um 35.000 bis 50.000 »weibliche Hilfskräfte der Armee im Felde«, darunter sogenannte »Armeeschwestern«, aufgestockt wurden, ist lediglich eine Schätzung. Auszugehen ist wohl von einer deutlich höheren Zahl von Schwestern, die in der Habsburgermonarchie für die Pflege verwundeter Soldaten eingesetzt waren.60 Nur eine ganz kleine Minderheit davon waren diplomierte Krankenschwestern, der weitaus überwiegende Teil bestand aus freiwilligen weiblichen Hilfskräften. Schon in den ersten Kriegswochen wurden aufgrund des dramatischen Mangels in der Habsburgermonarchie eine immense Zahl weiblicher Pflegekräfte rekrutiert, darunter auch viele schweizerische und reichsdeutsche Berufsschwestern. Die Militärverwaltung begegnete dieser Integration von Frauen in das Sanitätswesen von Beginn an mit großer Skepsis. Je länger der Krieg allerdings dauerte, umso unersetzbarer wurden sie. Ursprüngliches Ziel der Militärbehörden war es, die Schwestern vor allem im sogenannten »Hinterland« einzusetzen, maximal im als »sicher« angesehenen »Etappengebiet« ‒ das hätte auch den hegemonialen Geschlechterbildern entsprochen. Es zeigte sich jedoch rasch, dass dies unrealistisch war: Pflegerinnen arbeiteten nach nur kurzer Zeit in mobilen Feldspitälern, in chirurgischen Operationsstationen in Frontnähe, auf Hilfsplätzen unmittelbar hinter den Gefechtslinien, in Sanitätszügen, -zelten oder Sanitätsschiffen. Andere waren in Epidemie-Spitälern 60 Christa Hämmerle führt für das Deutsche Reich 92.000 diplomierte und HilfsSchwestern an, die ca. 2/5 des Sanitätsapparates stellten, für Frankreich 63.000 RotKreuz-Schwestern und ab 1916 30.000 Pflegerinnen. Für Großbritannien sind 47.000 Schwestern im »Voluntary Aid Detachment« [VAD] belegt. Ihre Anzahl wurde bis 1920 auf 83.000 erhöht, weitere 23.500 Schwestern arbeiteten in anderen Organisationen, dazu kamen 650 rekrutierte neuseeländische Schwestern. Für die USA waren 25.000 Krankenschwestern im Einsatz. Die vorhandenen Zahlen belegen, dass Krankenschwestern nicht nur aus den kriegsführenden Staaten selbst kamen und dort rekrutiert wurden, sondern aus vielen neutralen Ländern anreisten, die teils weit ab von den großen Kriegsschauplätzen lagen. Es gab etwa Krankenschwestern aus Australien, Neuseeland oder auch Kanada. – Für Österreich-Ungarn selbst wird in der Literatur immer wieder eine Anzahl von 25.000 Krankenschwestern und Pflegerinnen angeführt, ab 1917 wurden 35.000 bis 50.000 »weibliche Hilfskräfte der Armee im Felde«, darunter sogenannte »Armeeschwestern« rekrutiert. Hämmerle geht allerdings davon aus, dass diese Anzahl für die Habsburgermonarchie deutlich zu gering angesetzt ist. Vgl. C. Hämmerle: Seelisch gebrochen, S. 32-33.

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beschäftigt, oft nahe der Ost-, Südost- und Südwestfront. Viele überlebten ihren Einsatz nicht, konnten ‒ vor allem an der Ostfront oder Südwestfront, wo die Gefechtslinien deutlich dynamischer verliefen als im Westen ‒ unter Beschuss geraten, wurden getötet oder sie starben, weil sie sich mit einer kriegsbedingten Seuche angesteckt hatten. Auch eine genaue Zahl von verwundeten und getöteten Schwestern kann bis heute nicht bestimmt werden, da Frauen in den verfügbaren Verluststatistiken nicht eigens angeführt wurden. 61 Abbildung 1: Viele Selbstzeugnisse von Kriegskrankenschwestern belegen, dass besonders die Arbeit in den Seuchenlazaretten sehr gefürchtet war. Die Abbildung zeigt die Behandlung eines Flecktyphuskranken in der Spitalsbaracke Graz-Thalerhof 1914/15.

Quelle: Steiermärkisches Landesarchiv (StLA), ZGS-WKI-K-2-H-1-009-59.62

61 Viele Schwestern wechselten mehrfach den Einsatzort, häufig konnten sie aus einmal abgeschlossenen Verträgen nicht wieder leicht aussteigen. Die meisten Verträge (so der Befund von Hämmerle) waren auf drei Jahre abgeschlossen, einzelne Schwestern hatten sogar eine Verpflichtung bis Kriegsende unterschrieben. Vgl. ebd., S. 33; H. Zettelbauer: Sich der Nation ver|schreiben, S. 152-154. 62 Mit Genehmigung des Steiermärkischen Landesarchivs vom vom 15.03.2018.

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Die konkrete Arbeit der Schwestern stand meist in krassem Gegensatz zu den kulturellen Leitbildern, mit denen sie zeitgenössisch konfrontiert waren. Die Figur der Krankenschwester bildet im Kriegsdiskurs ohne Zweifel ein zentrales Gegenbild zum »tapferen deutschen, heldenmütigen Soldaten«. Sie verkörperte geradezu den »Inbegriff von Weiblichkeit«: pflegend, fürsorglich, opferbereit, dienend, demütig und heldenhaft selbstlos. Viele Medien der Kriegspropaganda vermittelten ein ähnlich stereotypes Bild der Krankenschwester als »Friedensengel«, als »Engel in Weiß« oder als »Todesengel«.63 Die Bilder zeigen eine starke Überhöhung, Allegorisierung und Sakralisierung der Figur der Kriegskrankenschwester. Abbildung 2: Dieses britische Plakat appellierte an die Spendenfreudigkeit der britischen Bevölkerung. Die Pièta-gleiche Darstellung zeigt eine überdimensionale Kriegskrankenschwester in der Pose einer christlichen Marienfigur mit einem kindlichen Soldaten auf einer Bahre im Arm.

Quelle: A. Earl Foringner, Red Cross War Relief Poster, 1918. Imperial War Museum.

63 Vgl. R. Schulte: Die Schwester, S. 101.

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Zeitgleich finden sich aber immer auch Abwertungen: Krankenschwestern wurden als sexuell verfügbar oder moralisch verwerflich gezeichnet, als abenteuerlustig, geldgierig oder eigennützig. Die Figur der Kriegskrankenschwester war und blieb während des gesamten Krieges ambivalent und widersprüchlich. Das verdeutlicht etwa ein Zitat der steirischen Autorin Ida M. Deschmann, die zu Kriegsbeginn mehrere ideologische Beiträge in deutschnational-völkischen Medien platzierte, in denen Krankenschwestern sexualisiert werden: »Zu Tausenden und Abertausenden eilen sie jetzt, die milden, hilfsfrohen Frauen, hin zu jenen, die für uns alle gelitten haben. O, daß sie alle, die da Barmherzigkeit üben, sich dessen auch ganz bewusst wären, welch hehres Werk sie tun! Daß in keiner von all jenen, die am Lager der Stöhnenden stehen, Gedanken wach wären, die das weiße Gewand helfender Liebe beflecken und das Kreuz zum Schandmal herabzerren!«64

Ungeachtet solcher Debatten war das Sanitätspersonal – kaum dass es an seinen Bestimmungsorten eingetroffen war – wie die Soldaten unmittelbar mit der Gewalt und der Zerstörungswucht des industrialisierten Krieges konfrontiert. Die Feldlazarette und -Spitäler erwiesen sich als »second battlefield« (Margaret R. Higonnet); Schwestern, Ärzte/Ärztinnen sowie männliche Pfleger hatten unmittelbar nach Angriffen dramatische Stresssituationen durchzustehen. Die britische Medizinhistorikerin Christine E. Hallett hat in ihren Studien gezeigt, dass Kriegskrankenschwestern versuchten, die Traumata, welche die Soldaten erlebt hatten, emotional aufzufangen. Aber das ist eben – wie Christa Hämmerle eindrucksvoll belegt hat – nur ein Aspekt. Vieles deutet darauf hin, dass diese nichtkämpfenden Kriegsteilnehmer_innen selbst in hohem Maß durch die erlebte Kriegsgewalt traumatisiert wurden.65 Wahrnehmungen von Kriegskrankenschwestern selbst pendeln dabei zwischen zwei gegensätzlichen Polen: Zunächst sind sie von einem Bedürfnis nach Kohärenz geprägt; von dem Versuch, die gemachten Erfahrungen zu ordnen und sie in verbindliche Kriegsdiskurse/Nach-Kriegsdiskurse einzuschreiben. Sichtbar wird ein Rekurs auf vorhandene Sinnstiftungsmuster, etwa eine Referenz auf »mütterliche Qualitäten« in der Pflege verwundeter Soldaten. Der hochpolitische Frontraum wurde – wie die deutsche Historikerin und Soziologin Regina Schulte zeigen konnte – auf diese Weise von vielen Schwestern geradezu als »Intimraum 64 I. M. Deschmann: Laßt die Sonne herein, S. 126-127. 65 Vgl. M. R. Higonnet: Nurses at the Front (2001), S. x; Hallett, Christine E.: Containing trauma. Nursing work in the First World War (=Cultural History of Modern War), Manchester: Manchester University Press 2009, zit. n. C. Hämmerle: Seelisch gebrochen, S. 35-36.

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bürgerlicher Familienidylle« reinszeniert und damit tendenziell auch verharmlost. Das Verhältnis zu den verwundeten Soldaten wurde immer wieder als »Mutter-Sohn-Verhältnis« imaginiert oder als »Schwester-Bruder-Beziehung«.66 Dies zeigt auch einer der wenigen zeitgenössisch publizierten Erinnerungstexte von Krankenschwestern aus der Steiermark: ein kurzer Text von der Grazerin Karoline Kreuter-Gallé, die sich bereits Jahre vor 1914 für den freiwilligen Pflegedienst im Falle eines Krieges gemeldet hatte. Sie war von September 1914 bis Jänner 1915 Mitglied einer freiwilligen Grazer Sanitätskolonne des Roten Kreuzes. Zunächst an der Nordostfront in Galizien eingesetzt, erfolgte – nach der ersten Einschließung der Festung Przemyśl – ihre Abberufung in ein ungarisches Spital in Kaschau/Kosice. Ihr Erinnerungstext wurde bereits im Frühjahr 1915 in der Zeitschrift des völkischen Vereines Südmark abgedruckt, was auch ihr politisches Naheverhältnis zu diesem Deutschtumsverein belegt. 67 In ihrer Selbsterzählung rekurriert Kreuter-Gallé in hohem Maß auf rassistisch-antisemitische Deutungen, die im deutschnational-völkischen Milieu bereits Jahre vor dem Krieg stark präsent waren. In der zugespitzten Situation im Frontraum gerinnen diese im politischen Diskurs präformierten Bilder nun zu Kreuter-Gallés »eigener Erfahrung«.68 Und auch die oben skizzierte Imagination eines Mutter-SohnVerhältnisses im Umgang mit Kriegsverletzten spiegelt sich in ihren »Kriegserinnerungen« wider: »Und wie lieb waren mir alle meine Pfleglinge, meine armen großen Kinder, die wie an einer Mutter an mir hingen und die Sorgfalt, die ich ihnen angedeihen ließ, mir mit heißem Dank lohnten. Und Gottes Segen ruhte auf meiner Samariterarbeit. [...] Und meine lieben, braven verwundeten Volksgenossen, prächtige Deutsche waren darunter, wie glücklich war ich, als sie unter meinen Händen gesundeten.«69

Gleich einer »Mutter«/»Schwester« galt es für die heldenhafte Schwester, den verletzten Soldaten die Hand zu halten, sie zu füttern, ihnen Geschichten vorzulesen, sie in den Schlaf zu singen. Kreuter-Gallé affirmiert wie viele Schwestern mit solchen Rhetoriken hegemoniale Geschlechterbilder und entpolitisiert zu66 Vgl. R. Schulte: Die Schwester, S. 108. 67 Vgl. H. Zettelbauer: Sich der Nation ver|schreiben, S. 168-178, 187-189. 68 In ihren Schilderungen von der Ostfront finden sich stereotype Verunglimpfungen von Ruthen_innen, etwa im Hinblick darauf, dass die Bevölkerung angeblich pauschal mit dem »russischen Feind« kollaboriere oder für letzteren spioniere. Vgl. Kreuter-Gallé, Lina: »Kriegserinnerungen einer freiwilligen Pflegerin«, in: MdVS 1915, 10. Jg., Nr. 1/2, S. 2-6, hier S. 3-4. 69 Ebd., S. 4.

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gleich ihre Präsenz im Frontraum. Vermeintlich »unpolitisch« kann sie teilhaben an »Ruhm und Ehre« der Soldaten, indem sie die kranken Krieger »wiederherstellt« und erneut der Front »opfert«. In den Worten der völkischen Autorin Deschmann: »Mit jedem deutschen Manne, der gesundet unter der sanften Wartung einer deutschen Frau, wird ein Stück deutschen Volkstums, deutscher Zukunft dem Leben neu geschenkt.«70 Regina Schulte hat in ihrer Analyse die hinter solchen Wahrnehmungen liegende symbolische Verarbeitung der »Schwestern-Heldinnen« auf den Punkt gebracht: In dieser Vorstellung wird die Kriegskrankenschwester dem Soldaten »lebenserhaltende Mutter [...] und [gebiert] der Front wieder Söhne«71. Solche Diskursfiguren72 – zweifellos eine extreme Zuspitzung und Überaffirmation hegemonialer Geschlechterdiskurse – dokumentieren jedoch auch die Fragilität dieser kulturellen Repräsentationen. Denn viele Erinnerungstexte von Frontschwestern verdeutlichen auch, dass Kriegskrankenschwestern ihre Erlebnisse mit denen der Soldaten gleichsetzten und sich selbst in die »männliche Frontgemeinschaft« einschrieben.73 Dies wird besonders im Bildgedächtnis deutlich, wenn sich Schwestern Seite an Seite mit den Soldaten ablichten ließen. In Briefen oder Memoiren betonten Krankenschwestern häufig den Aufbruch, das »Einrücken« und den »Abmarsch« gemeinsam mit den Soldaten an die Front, ihren geteilten gefährlichen Einsatz unmittelbar hinter den Gefechtslinien, ihren spezifischen Beitrag zur Aufrechterhaltung der Kampfkraft der Armee als »Kamerad Schwester«74. All das stellte für viele Schwestern Gleichheit und Selbstbestimmung in Aussicht und ermöglichte individuell-biografisch mitunter den Ausbruch aus einer als begrenzt wahrgenommenen bürgerlichen Vorkriegswelt. Implizit wird immer wieder der Anspruch auf eine »gleichberechtigte Teilhabe« an der »Verteidigung der Nation« formuliert – auch wenn das in diesem Diskurs angelegte Potential der Transgression normativer Geschlechterräume kaum explizit zur Sprache kommt. Dass die diskursive Überaffirmation »weiblich-mütterlicher Qualitäten« in kollektiven Erzählweisen die Gewalt und Zerstörungswucht dieses Krieges kaum überbrücken konnte, belegt Christa Hämmerle in ihrer kritischen Lektüre von 70 I. M. Deschmann: Laßt die Sonne herein, S. 126-128. 71 R. Schulte: Die Schwester, S. 111. 72 Vgl. Beispiele aus B. Panke-Kochinke/M. Schaidhammer-Placke, Frontschwestern und Friedensengel, S. 99-154, etwa die Brieftagebücher von Grete Josephson, ebd. S. 110-115. 73 Vgl. C. Hämmerle: Seelisch gebrochen, S. 38-40. 74 Vgl. Mierisch, Helene: Kamerad Schwester. 1914-1918, Leipzig: Hase & Köhler 1934.

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Selbstzeugnissen von Frontschwestern. Sie zeigt, dass im Subtext von Erinnerungstexten oder Korrespondenzen immer wieder die extremen Anstrengungen präsent sind, welche die Pflege verwundeter Soldatenkörper verlangte: Spuren enormer physischer und psychischer Belastung nach Fliegerangriffen, schwerem Artilleriefeuer oder dem verheerenden Einsatz von Giftgas. Sichtbar wird die Konfrontation mit den schlimmsten Folgen des industrialisierten Krieges: den zerfetzten und zerstückelten Körpern der Soldaten, den kaum mehr zählbaren Sterbenden und Toten. Viele Schwestern wurden selbst krank, mussten Entbehrung, Kälte, Ungeziefer, Schlafmangel, extreme Müdigkeit und Gefühle der Hilflosigkeit ertragen; scheinbar nie enden wollende Reihen von Verletzten, Angst, Panik und Ungewissheit, das Stöhnen und Jammern, das »Leid und Weh« – all das findet sich (wenn auch nur punktuell, manchmal als Randnotiz oder verschlüsselt) bei genauer Lektüre in den Erzählungen. Häufig führten die erlebten Traumata zu einer Desillusionierung bei den Frontschwestern und wirkten sich auch auf die späteren Leben aus. Viele Schwestern konnten nicht mehr anknüpfen an ihre Tätigkeiten vor dem Krieg, kamen aus den Kriegsgeschehen morphinsüchtig zurück oder führten ein leidvolles, unstetes, vom Krieg nachhaltig zerrüttetes Leben.75 Auf die erlebte Gewalt verweist letztlich auch die fragmentierte Sprache in den Erzählungen. Die inhaltliche Klammer vieler weiblicher Kriegserinnerungen bildet denn häufig gerade das Schweigen, das Unsagbare, Leerstellen. Das verweist letztlich auch auf Grenzen des Beschreibbaren angesichts von Chaos, Horror, Grauen, Gewalt und Zerstörung und – so Christa Hämmerle – auf die »schiere Unmöglichkeit, all dem irgendeinen Sinn abzugewinnen«76. Deutlich sichtbar werden angesichts solcher Befunde gerade die Grenzen eines affirmativen Rekurses auf hegemoniale Deutungsmuster zu Krieg und Geschlecht oder von kulturellen Imaginationen heldenhaft pflegender Frontschwestern. Die skizzierten Debatten belegen, dass die Matrix von »Verletzungsmacht« beziehungsweise »Heilungsmacht« im Kriegsdiskurs meist unreflektiert geschlechterstereotyp verhandelt wurde. Frauen wurden in diesem Deutungsrahmen unabhängig von ihrer konkreten Positionierung als Motiv, um in den Kampf zu ziehen, oder als »Opfer« des Krieges angesehen. Entsprechend hegemonialen Debatten würden Frauen und Mädchen in Kriegen aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit Verletzungen erfahren, während umgekehrt Männer qua Geschlecht diejenigen seien, die Verletzungen zufügten. Männer werden in dieser Denkweise ebenso selbstverständlich mit dem Handwerk des Tötens assoziiert wie Frauen mit einer angeblich »naturgegebenen« Fähigkeit, Kriegsverwundete 75 C. Hämmerle: Seelisch gebrochen, S. 45-50. 76 Ebd., Zitat S. 40.

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zu heilen oder die Toten zu betrauern. Kulturelle Betrachtungsweisen wie diese77 sind nicht nur ahistorisch, sondern negieren letztlich auch jene weiblichen Akteurinnen, die sich nicht in die kriegsbedingt zugespitzte Geschlechterordnung einpassen lassen – so etwa am Gewalthandeln des Krieges beteiligte Soldatinnen.

H ELDENHAFTER G ESCHLECHTSWANDEL IM AKT DER G EWALT Neuere theoretische Zugänge zu Krieg, Geschlecht und Gewalt haben sich von den skizzierten stereotypen Vorannahmen in konstruktiver Weise gelöst und fassen die für Kriegsdiskurse und -deutungen zentralen Begriffe von »Verletzungsmacht« und »Verletzungsoffenheit« weder als geschlechtsspezifisch, »naturgegeben« noch als körperlich/leiblich bedingt78. Aktuelle Studien belegen, dass die Vergeschlechtlichung und Naturalisierung dieser Begriffe in den Kriegsgesellschaften ‒ so auch im Ersten Weltkrieg ‒ tatsächlich eine ganz spezifische Funktion hat. Von der Stabilisierung der durch den Krieg nachhaltig erschütterten Geschlechterverhältnissen war bereits die Rede, ebenso davon, dass der Kriegsdiskurs die Vorstellung eines Kampfes männlicher Soldaten »draußen im Feld« für »Frauen und Kinder daheim« legitimierte und auch individuell als »Schutz und Verteidigung« der Familie daheim zum individuellen Sinnstiftungsmuster werden konnte. Was aber, wenn der kämpfende Soldat kein männlicher, sondern ein weiblicher war? Soldatinnen waren in Österreich-Ungarn im Ersten Weltkrieg in kämpfenden Formationen nicht vorgesehen und auch nicht erwünscht – weder in der k.u.k. Armee, beim Landsturm noch bei den ungarischen Honvèds. Tatsächlich fanden sich jedoch an allen Frontabschnitten weibliche Kombattantinnen, in vergleichsweise hoher Anzahl an der Ostfront, sowohl in der »Freiwilligen Ukrainischen Legion« oder in freiwilligen polnischen Einheiten, die auf Seiten der österrei-

77 Die Rede von der vermeintlichen »Friedfertigkeit der Frauen«, findet sich in historischen Analysen, auch frauen- oder sozialgeschichtlichen Studien, zum Ersten Weltkrieg bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Vgl. H. Zettelbauer: Krieg und Geschlecht, S. 187-189. 78 Vgl. Latzel, Klaus/Maubach, Franka/Satjukow, Silke: »Soldatinnen in der Geschichte: Weibliche Verletzungsmacht als Herausforderung«, in: Latzel/Maubach/Satjukow (Hg.), Soldatinnen (2011), S. 11-50, hier S. 11-15.

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chisch-ungarischen Armee kämpften79, als auch in serbischen Formationen oder auf russischer Seite in geschlechtersegregierten »Frauenbataillonen«80. Weibliche Akteurinnen kämpften einerseits erkennbar »als Frauen«, andererseits als sogenannte »Cross-Dresserinnen«, in männlicher Kleidung und mit männlicher Geschlechteridentität. Soldatinnen tauchten zuweilen romantisierend in den Medien auf, evozierten jedoch ganz offenkundig überwiegend beunruhigende oder bedrohliche Gefühle, nicht zuletzt deshalb, weil sie die hegemonialen Konstruktionen der Front als exklusiven Raum soldatischer Männlichkeit auf die Probe stellten.81 Einzelne Soldatinnen taten sich in Erfüllung militärischer Kriegsziele besonders hervor, weshalb Kaiser Franz Josef im Dezember 1915 per Dekret veranlasste, dass an Frontsoldatinnen wie an männliche Kombattanten militärische Auszeichnungen vergeben werden durften – obwohl sich dies offenkundig keiner großen Beliebtheit in den Reihen der militärischen Führung erfreute. 82 Auch wenn weibliche Akteurinnen als kämpfende Soldatinnen erst wieder in der Spätmoderne im Kontext der Diskussion um die Integration von Soldatinnen in europäische und globale Armeen ins kollektive Gedächtnis einzutreten scheinen, so waren kämpfende Frauen in der Geschichte westlicher Kulturräume seit dem Mittelalter kein Tabubruch.83 Zahlreiche Quellen und Erinnerungstexte belegen kämpfende weibliche Akteurinnen in vielen Kriegen, schildern Prüfungen, denen Soldatinnen in männlichen Gemeinschaften unterliegen, dokumentieren bestandene Kämpfe. All das lässt sich – so Hanna Hacker – in die hegemoniale Geschlechterordnung integrieren, solange eine Voraussetzung gewahrt blieb: nach dem Kampf erneut wieder zur »Frau« zu werden. Die zentrale Voraussetzung, um das »kriegerische Mädchen« in die Geschlechterhierarchie zu integrieren, ist also ihre Refeminisierung nach dem Kampf.84 Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde die Verbindung von Nationalstaat, Armee und soldatischen Männlichkeitskonstruktionen sukzessive verfestigt und mündete in Österreich-Ungarn 1868 in der Einführung einer allgemeinen Wehrpflicht für Männer. Der intendierte Ausschluss von Frauen aus dem militärischen Bereich wurde dabei flankiert von verschiedenen Maßnahmen im Kontext der Professionalisierung und Bürokratisierung der Armeen in der Moderne, etwa durch medizinische Untersuchungen und das Einfordern von Identitätsnachweisen bei der Rekrutierung von 79 Zu den freiwilligen ukrainischen und polnischen Einheiten vgl. A. LeszczawskiSchwerk: Töchter des Volkes, S. 179-206. 80 Vgl. H. Hacker: Gewalt ist: keine Frau, S. 211-222, S. 187-189. 81 Vgl. ebd., S. 143-228. 82 Vgl. ebd., S. 167. 83 Vgl. als Überblick: Latzel/Maubach/Satjukow (Hg.), Soldatinnen (2011). 84 Vgl. H. Hacker: Gewalt ist: keine Frau, S. 148.

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Soldaten.85 Ungeachtet dessen lassen sich Gewalt ausübende Akteurinnen in den meisten kriegerischen Konflikten des 19. Jahrhunderts nachweisen. Dem europäischen Diskurs, der kämpfende Frauen mitunter als exotisch-faszinierende »weiße Heldinnen« entwarf, blieb dabei immer auch ihr kolonialistisch strukturiertes imaginäres Gegenüber eingeschrieben, die Figur der gegnerischen, unterworfenen, gezähmten, grausamen und/oder vernichteten »schwarzen Kriegerin«.86 Zugleich wurde auch die je umkämpfte und verteidigte Landschaft einem umfassenden Vergeschlechtlichungsverfahren unterworfen: Die »Heimat«, das »Hinterland« wurden weiblich konnotiert, dort agierende Frauengruppen und Frauenbewegungen mit je eigenen Machtsprüchen ausgestattet und als »Heer der Heimat« oder »Soldatinnen des Hinterlandes« für die soziale Organisation dieses Hinterlandes zuständig erklärt. Das unmittelbare Kampfgeschehen, die »Front« konnte auf diese Weise als exklusiv männlicher Ort bewahrt und die vorhandene Bewegung weiblicher Akteurinnen an der Front ausgeblendet werden. Umgekehrt betrafen verunglimpfende Rhetoriken und Attribuierungen als »nichtmännlich«/»weiblich« auch Soldaten, denen etwa »Feigheit vor dem Feind« vorgeworfen wurde. Dies galt zudem für sogenannte »Drückeberger«, denen unterstellt wurde, bange in der Etappe zu »verharren« und sich vor dem »Einsatz draußen« zu drücken. Strategien der Feminisierung lassen sich nicht zuletzt auch in der Hysterisierung und Neurotisierung traumatisierter Kriegszitterer und shellshock-Opfer ausmachen. Umgekehrt wurden die ab 1917 rekrutierten »weiblichen Hilfskräfte der Armee im Felde«, unter ihnen viele Armeeschwestern, immer wieder durchaus abwertend als »männlich-entschlossen« wahrgenommen.87 Vergeschlechtlichungsverfahren verschränken sich in Kriegen zudem immer mit/in Körperdiskursen: Geht man mit Elaine Scarry davon aus, dass es im Kriegsgeschehen immer um Gewalt an und die Zerstörung von Körpern und um die Zufügung materieller Schäden geht, so können zentrale Deutungsfiguren des Kriegsdiskurses auch im Ersten Weltkrieg entlang eines »Körper[s] im Schmerz«88 entschlüsselt werden, etwa Rhetoriken der »Verwundung« oder »Beschädigung« oder des »Heil-Bleibens« von »Truppen-Körpern«. Krieg – so Scarrys These – zielt ab auf eine dauerhafte Einschreibung von Kriegsereignissen in die Körper der eingesetzten Kämpfer_innen. Die Körper der Soldat_innen müssen sich – so auch Hanna Hacker unter Bezugnahme auf Scarry – der Nati85 Vgl. ebd., S. 149. 86 Ebd., S. 154-155. 87 Vgl. ebd., S. 155-157. 88 Vgl. Scarry, Elaine: Der Körper im Schmerz: Die Chiffren der Verletzlichkeit und die Erfindung der Kultur, Frankfurt am Main: Fischer 2009, zit. n. H. Hacker: Gewalt ist: keine Frau, S. 158-159.

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on, dem Staat zur Gänze öffnen: um zu töten, sich Land anzueignen, zu erobern, zu verletzen oder sich verletzen zu lassen. Wie aber wird soldatisches Gewalthandeln mit geschlechtlicher Normalität beziehungsweise Nicht-Normalität verschränkt? Wie wird die Anwesenheit nicht vorgesehener weiblicher Akteurinnen in diesem Kontext argumentiert und wie schreiben weibliche Akteurinnen die Gewalt der/an der Front?89 Hacker kommt in ihrer Analyse dieser Fragen zu dem Schluss, dass im Kontext moderner Kriege – und der Erste Weltkrieg nimmt hier Deutungsmuster späterer Kriege vorweg – Gewalt und Zerstörung ganz grundlegend aus zeitgenössischen und retrospektiv verfassten Texten verschwinden, im Gegensatz zu Texten, die ältere Kriegsereignisse thematisieren und in denen (weiblichem) Gewalthandeln noch Raum gegeben wird. Kämpfende Akteure und Akteurinnen ordnen sich im Ersten Weltkrieg vielmehr der Maschinisierung und Technologisierung des modernen Krieges auf eine Weise unter, die den eigenen Anteil am Verletzen, Verstümmeln, Vernichten und Töten verselbständigt und entindividualisiert. In Erinnerungstexten wird zwar über die Verwundungen des eigenen Körpers und die erlittenen Verletzungen berichtet, nicht aber über selbst Zugefügtes.90 An dieser Stelle schließt sich der Kreis zu Erinnerungstexten von Frontschwestern: Während Gewalt und Zerstörung aus den Texten jener, die verletzen, verschwindet, taucht sie in den Texten von Frontschwestern offen oder als Subtext wieder auf. Selten wird also Gewalthandeln kämpfender Akteur_innen in autobiografischen oder auch journalistischen Texten thematisiert. Die wenigen vorhandenen Erzählungen wurden, wie im Fall männlicher Soldaten, schnell diskursiv und propagandistisch vereinnahmt. Wenn Gewalt und Tötungshandeln zur Sprache kommt, so dient dies bei männlichen Kämpfern meist der Argumentation einer »erfolgreichen Frontbiographie«, im Fall von Soldatinnen wird die geschilderte Gewalt hingegen häufig auf Anekdotenhaftes zu »kriegerischen Heldenmädchen« reduziert.91 Der Akt des Gewalthandelns und Tötens scheint darüber hinaus am Übergang kultureller Konstruktionen von Weiblichkeit und Männlichkeit angesiedelt zu sein: tötende Frauen werden nicht als »mutige Soldatinnen« angesehen, sondern als »tapfere Soldaten«. Anhand vieler Einzelfälle aus dem Ersten 89 Vgl. H. Hacker: Gewalt ist: keine Frau, S. 158-159. 90 Vgl. ebd., S. 159. Zum selben Schluss kommt auch Christa Hämmerle in ihrer jüngsten Analyse von Feldpostbriefen im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Vgl. Hämmerle, Christa: »Gewalt und Liebe – ineinander verschränkt. Paarkorrespondenzen aus zwei Weltkriegen: 1914/18 und 1939/45«, in: Ingrid Bauer/Christa Hämmerle (Hg.), Liebe schreiben. Paarkorrespondenzen im Kontext des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 2017, S. 171-230. 91 Vgl. H. Hacker: Gewalt ist: keine Frau, S. 161.

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Weltkrieg beleuchtet Hacker die Schwierigkeit, kämpfende und tötende Soldatinnen adäquat zu benennen oder konsequent zu vergeschlechtlichen. Immer wieder changierte das Geschlecht der im Akt des Gewalthandelns wahrgenommenen Personen: Da ist der gesehene Kämpfer »kein Mann«, sondern »ein Mädchen« mit dem »Gesicht und dem Instinkt einer Frau«92, dort kommen Soldatinnen in die Texte und werden wieder zum Verschwinden gebracht, weibliche Akteurinnen tauchen als »Krankenschwestern« und zugleich »Aufklärer« auf, Kämpferinnen werden anderswo als »Regimentsgeheimnis« neutralisiert. Erst nach dem Gewalthandeln wird in Erzählungen, Zeitungsberichten, Romanen oder Erinnerungstexten häufig wieder »eine Frau« sichtbar – nach einer erlittenen Verletzung im Lazarett, bei einem körperlichen oder psychischen »Zusammenbruch« oder manchmal erst im Tod. Dieses Changieren des Geschlechts von Soldatinnen wertet Hacker ebenso als Strukturmerkmal einer kulturellen Wahrnehmung von »männlicher Verletzungsmacht« wie das Verschwinden kämpfender Akteurinnen im Gefechtsraum respektive ihr (Wieder-)Auftauchen nach dem Akt des Gewalthandelns. Die paradoxe Gleichzeitigkeit rhetorisch präsenter und absenter Akteurinnen, welche im Frontraum Gewalt üben, wird etwa in einer besonders raffinierten diskursiven Variante deutlich, in der versichert wird, es könne gesehen werden, dass keine Frau zu sehen sei: »Im Text/Im Raum steht plötzlich eine Frau, die gerade eben noch nicht da war; mit ihrer Erscheinung verschwindet ein Soldat. ›Haben sie den jungen Infanteristen gesehen, der eben hier neben Ihnen stand?‹, fragt die Lazarettärztin die Journalistin, ganz so, als traue sie ihrer beider Wahrnehmung nicht. ›Im Baderaum hat sich das Geheimnis enthüllt‹ – nicht als Folge einer Entkleidung jedoch, sondern als deren Vorbedingung ›gestand‹ das Fräulein ›endlich‹, ein Mädchen zu sein‹.«93

Über die Irritation, die von Gewalt ausübenden Akteurinnen ausging, geben wochen- und mitunter monatelange Korrespondenzen und Aktenläufe in der Militärbürokratie über Sold-, Verpflegungs- oder Ausstattungsansprüche von kämpfenden Akteurinnen, über die Rechtmäßigkeit von Rang- oder Tapferkeitsauszeichnungen oder über in Lazarette eingelieferte »weibliche Fähnriche« Auskunft. Die nicht vorgesehene Präsenz von Kämpferinnen an der Front verschränkt sich dabei in medialen Repräsentationen oftmals mit angeblichen Beweisen über Täuschungen, Unwahrheit oder Verrat. Die kriegerischen »Heldenmädchen« können sich schnell zu Spioninnen wandeln. All diese Rhetoriken zeigen, dass »weibliche Verletzungsmacht« offenbar die bedrohliche Vorstel92 Vgl. ebd., S. 164-165. 93 Ebd., S. 165.

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lung provozierte, dass mit dem Einnehmen einer soldatischen, Gewalt ausübenden »männlichen Position« auch eine Inanspruchnahme männlicher Attribute in anderen Bereichen einhergehen könnte. Hacker kommt zum Schluss, dass das vielfältige, andächtige, ja fast ritualisierte Beschreiben der Absenz/Präsenz kämpfender Soldatinnen im Ersten Weltkrieg eine ganz bestimmte Funktion erfüllte: »Eine Diskursivierung des Sehen-oder-Nicht-Sehens des Geschlechts lenkt vom Raum der Gewalt ab, innerhalb dessen sexuelle Grenzen ge- oder über Dritte vollzogen wurden […].« Und auch auf autobiografischer Ebene werden »Darstellungsverfahren des Ver- und Entschlüsselns als Ersetzungen für die Wahrnehmung, in der Gewalt des Krieges zu sein«94, sichtbar. Frauen verschwinden im Frontraum und an ihrer Stelle erscheinen Soldaten, und umgekehrt. Die Art und Weise der jeweiligen Präsenz/Absenz-Modalität kann variieren, immer aber hat der Wandel des Geschlechts oder das Changieren von Männlichkeit/Weiblichkeit die Funktion, die im Kriegshandeln präsente Gewalt nicht auszusprechen und Täter_innenschaft und Zerstörung als Leerstelle kultureller Diskursivierungen zu überbrücken. Je mehr Gewalt, umso stärker funktioniert die Ausblendung der Aggression der kämpfenden Soldatinnen .95 Besonders im Feld des militärischen Sanitätswesens scheint sich Raum für das Changieren des Geschlechts von Akteur_innen aufzutun: zur Verteidigung bewaffnete Sanitäterinnen mit militärischen Uniformen und Rangbezeichnungen verwandelten sich in der Kampflinie/in der Nähe des Gefechtsraums in Sanitäts»Schützen« und Sanitäts-»Korporäle«.96 Hier scheinen allen militärischen Rangordnungen zum Trotz auch Funktionen mitunter ohne klare Konturen und fluide zu sein, ebenso auch wie das einzelnen Personen zugewiesene Geschlecht sich verändern konnte, kontextuell und situativ.97 Dabei gilt festzuhalten, dass den Bewegungsweisen von Akteurinnen an der Front immer eine implizite Hierarchie eingeschrieben blieb: diese bezog sich weniger auf die Reichweite des »Geschlechtswandels«, sondern vielmehr darauf, wie nahe weibliche Akteurinnen

94 Vgl. ebd., S. 166, S. 167. 95 Vgl. ebd., S. 170-173. Zu den Modalitäten von Absenz/Präsenz vgl. S. 167-170. 96 Vgl. K. Latzel/F. Maubach/S. Satjukow: Soldatinnen in der Geschichte, S. 28. Vgl. etwa die »Kriegsbiographie« der ausgebildeten Malerin und Zeichnerin Stefanie/ Stefan Hollenstein, H. Hacker: Gewalt ist: keine Frau, S. 176, S. 178-181. 97 Als biographisches Beispiel siehe Et[h]el Kamenyitzky, vgl. H. Hacker: Gewalt ist: keine Frau, S. 182; zu den militärischen Funktionen vgl. A. Leszczawski-Schwerk: Töchter des Volkes, S. 201.

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Tötungs- und Vernichtungshandlungen kamen.98 Die von Hacker angeführten biografischen Beispiele legen nahe, dass mit der Nähe zur Front, mit der Uniformierung als Kombattantin und einhergehend mit höheren Rangabzeichen eine konsequentere Wahrnehmung von weiblichen Akteurinnen als »Soldaten« einhergegangen zu sein scheint.99 An der Nordost-, Südost- beziehungsweise Südwestfront scheinen zudem durch die mitunter schnell wechselnden Frontverläufe, andere Bewegungen von weiblichen Akteurinnen als an der Westfront möglich gewesen zu sein. »Sich selbst in transgressiven Akten an Orte direkter Gewaltausübung zu bewegen, war entlang der Ränder der Armee und der Monarchie ›leichter‹ als in ihren Zentren. Militärische Ränge wie Korporal, Kadettaspirant, Wachtmeister, Feldwebel, Fähnrich kamen insbesondere den weiblichen Angehörigen nicht-deutscher Nationalitäten zu, einigen Polinnen, Ukrainerinnen, Kroatinnen, Ungarinnen. Soldatinnen waren vor allem an der ungarischen und slawischen Peripherie der Monarchie stationiert und kamen überwiegend an der Ostfront zum Einsatz. Armee-Einheiten, die sie aufnahmen, waren in militärischer Hinsicht von marginalerer oder subsidiärer Relevanz – Freiwilligenlegionen, Landwehr, Landsturm –, und mit ganz wenigen Ausnahmen beschränkte sich die Präsenz von Soldatinnen auf die nicht prestigeträchtigen Waffengattungen der Infanterie. Mit anderen Worten, es wurde die Existenz soldatischer Front/Frauen seitens der Militärbürokratie und der Berichterstattung im Krieg an den Rand des Hegemonialen verschoben; diese Verschiebung begleitete die bereits diskutierten Verfahren, mittels derer eine Wahrnehmung der Gewalt durch die Hervorhebung geschlechtlicher bzw. sexueller Überschreitungen ersetzt werden konnte.«100

Zu den von Hacker genannten Gruppen der Kombattantinnen in Freiwilligenlegionen gehörte auch die Grazer Studentin Sofija Halečko. Anders als der Großteil der freiwillig eingerückten Rutheninnen hatte sie vor Kriegsausbruch keine Beziehung zum paramilitärischen Verein Sič, aus dem sich ein Großteil der ukrainischen Soldatinnen rekrutierte.101 1891 als Tochter eines Postbeamten in Lemberg/L’viv geboren, hatte sie dort das private polnische Mädchengymnasium absolviert und begonnen, ab Herbst 1910 an der Karl-Franzens-Universität Graz Slawistik und Germanistik zu studieren. Im Laufe ihres Studiums in Graz lässt 98

Zur Aneignung von kulturell als exklusiv männlich wahrgenommenen Gewaltkompetenzen vgl. K. Latzel/F. Maubach/S. Satjukow: Soldatinnen in der Geschichte, S. 29-33.

99

Vgl. H. Hacker: Gewalt ist: keine Frau, S. 182-193.

100 Ebd., S. 192-193. 101 Vgl. A. Leszczawski-Schwerk: Töchter des Volkes, S. 179-191.

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sich ein Prozess der Nationalisierung konstatieren, Halečkos Politisierung hin zu einer nationalbewussten Ukrainerin, was auf ihre Motivation für einen Kriegseinsatz verweist. Bei Kriegsbeginn noch in Graz, ließ sie sich zunächst zur freiwilligen Pflegerin ausbilden, schlug sich in dieser Funktion bis an die Nordostfront durch und erreichte es, dort in die freiwillige ukrainische Legion als Soldatin aufgenommen zu werden. Sie wurde rasch zum »Feldwebel« befördert und in dieser Funktion bereits am 6. Dezember 1914 mit der »Silbernen Tapferkeitsmedaille 2. Klasse« für ihren Kriegseinsatz ausgezeichnet. Mit der Führung von Infanteriezügen betraut, stieg sie während ihrer Frontkarriere zum »LegionsFähnrich auf Kriegsdauer« auf.102 Soldatinnen – so belegen aktuelle Studien – erfuhren dann Akzeptanz in der männlichen Kampfgemeinschaft, wenn sie sich erfolgreich an ein männlich codiertes soldatisches »Kameradschaftsideal« anpassten, einen als männlich wahrgenommenen Habitus inkorporierten, der Gewalthandeln, Verletzungs- und Tötungsmacht inkludierte.103 Wohl auch in Halečkos Fall bildete die Aneignung männlich codierter »Verletzungsmacht« durch den Einsatz ihrer Waffe zum Tötungszweck einen entscheidenden Punkt in ihrer Selbstdefinition als »Soldat«, symbolisierte diese im Diskurs um soldatische Männlichkeit doch Macht, Sicherheit und eben Zugehörigkeit zu einer »männlichen Front- und Kampfgemeinschaft«. »Ein Fieber beherrscht mich. Ich nehme das Gewehr und schieße, wie auf dem Schießplatz […]. Ich lade, lege das Gewehr an und automatisch dehne ich mich. […] Kugeln, die wie Bienen an einem hellen, sonnigen Tag schwärmen, schwirren um mich herum [...].«104

In der Grazer Presse avancierte Halečko bereits zu Lebzeiten zu »[e]ine[r] Heldin unserer Universität«105. Den Mythos der »Kriegsheldin«, der sich um sie rankte, mag auch befördert haben, dass Halečko jung, ledig, »geheimnisumwoben« starb. Sie ertrank auf tragische Weise, die Presse munkelte von Selbstmord.106

102 Vgl. A. Ziegerhofer: Soldaten des Hinterlandes, S. 15. 103 Vgl. K. Latzel/F. Maubach/S. Satjukow: Soldatinnen in der Geschichte, S. 31. 104 Halečko, Sofija: »Tretja četa. Tovaryšam iz mojeji čety na spomyn spil’nych trudiv i bojiv« [Dritte Einheit. Den Kameraden meiner Einheit zur Erinnerung gemeinsamer Tagen und Kämpfe], in: Naše žyttja [Unser Leben], H. 3/4 (1984), S. 43, S. 44. Zit. n. A. Leszczawski-Schwerk: Töchter des Volkes, S. 203. 105 Vgl. Eine Heldin unserer Universität, in: Tagespost, 8. Februar 1915, o.S. zit. n. A. Ziegerhofer: Soldaten des Hinterlandes, S. 14. 106 Vgl. H. Hacker: Gewalt ist: keine Frau, S. 197-199.

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*** Die vorangegangenen Ausführungen belegen exemplarisch die kollektive Erschütterung hegemonialer Geschlechternormen während des Ersten Weltkrieges, eine Destabilisierung von Geschlecht, die zu einer Re/Affirmation dichotomer Konzepte von Weiblichkeit und Männlichkeit führte. Strategien der Heroisierung/Entheroisierung ganz unterschiedlicher Gruppen von Akteurinnen strukturieren diese Prozesse. Je mehr weibliche Protagonistinnen – und hier kann die Kriegsfürsorge und Verwundetenpflege als paradigmatisches Beispiel dienen – geschlechtsspezifisch begrenzte Handlungsräume überschritten, umso stärker wurden kulturelle Geschlechternormen akzentuiert. Dies wird exemplarisch sichtbar an der sogenannten »Heimatfront«, an der sich Aktivistinnen von patriotischen, bürgerlich-konservativen wie völkisch-nationalistischen Frauenvereinen unter Bezugnahme auf ein »weibliches Heldentum der Liebe« für die freiwillige Kriegsfürsorge engagierten und dabei in Konflikt mit militärischen Zielsetzungen gerieten. Diskursivierungen einer Transgression von Geschlechternormen begleiteten auch die Präsenz von weiblichen Akteurinnen an die und an der Front, die kulturell als »exklusiv männlicher Raum« imaginiert und für Frauen als »forbidden zone« entworfen wurde. Die hier präsenten Kriegskrankenschwestern und Pflegerinnen wurden medial als »heldenhafte SchwesternMütter« überhöht und integrierten diese Deutungsmuster mitunter in ihre Selbstwahrnehmung – auch wenn viele von ihnen traumatisiert wie die Kämpfer aus dem Krieg nach Hause kamen. Am deutlichsten verstießen wohl Kombattantinnen gegen die zeitgenössische Geschlechterordnung, indem sie dem Ausschluss von Frauen aus staatlich/national legitimierten Tötungsakten zuwiderhandelten. Ihre (unmittelbare) Nähe zu Zerstörung und Tod führte im kulturellen Diskurs des Krieges dazu, ihre Anwesenheit im Feld der Gewalt als irrelevant aufzufassen, ihre Positionen als nicht handlungsmächtig zu begreifen oder ihre patriotisch-nationalistischen Motive als solche nicht wahrzunehmen. Aus Kombattantinnen wurden im Akt des Tötens »Soldaten«, die erst nach ihrem Gewalthandeln durch Refeminisierung zu »Heldenmädchen« wurden. Generell blieben auch nach Kriegsende transgressive Bewegungen von weiblichen Akteurinnen im Hinterland für lange Zeit ebenso vergessen wie das Agieren von Krankenschwestern und Etappenhelferinnen in einer Zone des Verbotenen oder die direkte oder indirekte Beteiligung von Frauen an Tötungsakten. Unter Bezug auf Hanna Hacker kann für alle skizzierten Diskurse der Heroisierung weiblicher Akteurinnen festgehalten werden, dass »das Sprechen über geschlechtliche Dissidenz die Thematisierung von Gewalt ersetzt[e]«.107 Schließ107 Vgl. ebd., S. 226-227, Zitat S. 226.

D AS FRAGILE G ESCHLECHT

DER

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lich hatten auch die Akteurinnen selbst offenkundig Schwierigkeiten, ihre Erfahrungen innerhalb des hegemonialen dichotomen Geschlechterdiskurses zu verorten. Quellen erhellen Unverständnis und Ärger von Akteurinnen, die an der »Heimatfront« Kriegsziele mittrugen und sich immer wieder mit der Begrenzung ihrer Handlungsspielräume konfrontiert sahen. Erinnerungstexte von Schwestern belegen, dass viele Krankenschwestern sich selbst als Teil der »männlichen Frontgemeinschaft« wahrnahmen, gemeinsam mit den Soldaten als »Kamerad Schwester« einrückten und mit Soldaten die Wahrnehmung einer »gerichteten Landschaft« (Kurt Lewin) teilten, in der ein militärisches »Vordringen« als positiv, ein Zurückweichen negativ gewertet wurde.108 Kämpfende Soldatinnen scheinen tendenziell in dem Ausmaß Akzeptanz von ihrer männlich-soldatischen Umgebung erfahren zu haben, in dem sie solche Verhaltensweisen inkorporierten, die als männlich-soldatischer Habitus angesehen wurden und Verletzungsund Tötungsmacht inkludierte.109 Im Sprechen und Schreiben verschwinden die als »Frauen« wahrgenommene Kämpfer_innen, je näher sie in den Gefechtsraum und damit an das Gewalthandeln vorrückten, an Zerstörung und Tötungen herankamen; an ihrer Stelle erscheinen »Aufklärer«, »Infanteristen«, »Kadettaspiranten«, »Feldwebel«, »Fähnriche«. Alle hier nachgezeichneten Diskurse um »Kriegshelden_innen« erweisen sich letztlich als in hohem Maß fragil. Denn auch wenn kulturelle Deutungen die Versorgung zerfetzter Soldatenkörper im Frontraum des Krieges durch das Aufrufen bürgerlicher Familienbilder entpolitisierten, blieb die Desillusionierung und Traumatisierung vieler (weiblicher) Pflegekräfte angesichts der verheerenden Kriegsgewalt zurück. Und auch Soldatinnen, die durch ihre Aneignung von »männlicher Verletzungsmacht« die vergeschlechtlichte Arbeitsteilung von Kämpfen/Heilen in höchstem Maß infrage stellten, waren wie männliche Kämpfer kaum vor psychischen Zusammenbrüchen oder dauerhaften Kriegsverletzungen gefeit. Die Heroisierung der genann108 Vgl. Lewin, Kurt: Die gerichtete Landschaft (1917), ursprünglich publiziert in: Zeitschrift für Angewandte Psychologie, Wiederabdruck in: Gestalt Theory 2009, vol. 31, Nr. 3/4, S. 253-262. Zur Strukturierung der Wahrnehmung von Soldaten an der Ostfront im Rahmen dieses Konzepts von Lewin vgl. Haring, Sabine A.: »K. u. k. Soldaten an der Ostfront im Sommer und Herbst 1914. Eine emotionssoziologische Analyse«, in: Bernhard Bachinger/Wolfram Dornik (Hg.), Jenseits des Schützengrabens. Der Erste Weltkrieg im Osten: Erfahrung – Wahrnehmung – Kontext, Innsbruck/Wien/Bozen: Studienverlag 2013, S. 65-86. Auch die Raumwahrnehmung von Krankenschwestern orientierte sich an der »gerichteten Landschaft«, vgl. H. Zettelbauer: Sich der Nation verschreiben, S. 177. 109 Vgl. K. Latzel/F. Maubach/S. Satjukow: Soldatinnen in der Geschichte, S. 35-37, sowie S. 47.

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ten »Kriegsheldinnen«, die schon zu Kriegsbeginn widersprüchlich, inkongruent, fluide erscheint, war jeweils von ganz bestimmten Zielen und Interessen je verschiedener Akteur_innen getragen und sollte sich angesichts der bislang ungekannten Zerstörungswucht dieses Krieges und der Dauer des weiteren Kriegsverlaufs deutlich relativieren. Anders als im Fall männlicher »Kriegshelden« wurden die in den ersten Kriegsjahren noch intensiv beschworenen »Kriegsheldinnen« nach 1918 kaum mehr öffentlich wahrgenommen – zumindest solange nicht, bis sich ihr Heldinnentum unter geänderten Vorzeichen und Interessen erneut für eine politische Indienstnahme110 eignete.

110 Zu Instrumentalisierung von Frontschwestern des Ersten Weltkriegs im kriegstreiberischen Fahrwasser der 1930er Jahre vgl. C. Hämmerle: Seelisch gebrochen, S. 28-30.

»Jüdische Kriegshelden« im Ersten Weltkrieg G ERALD L AMPRECHT

Anlässlich von Chanukka 1914 schrieb der Badener Rabbiner Wilhelm Reich 1 in der Wiener jüdischen Zeitschrift Dr. Bloch’s Österreichische Wochenschrift einen Text mit dem Titel »Jüdische Kriegshelden«.2 In diesem Text legte Reich, der ab August 1914 bereits zahlreiche patriotische und kriegsbegeisterte Texte publiziert hatte, den mehrheitlich jüdischen Lesern der Wochenschrift knapp drei Monate nach Kriegsbeginn die lange Geschichte jüdischen Heldentums, jüdischen Kriegsheldentums dar. Diese jüdische Heldengeschichte hat ihre Wurzeln in den biblischen Zeiten von König David und reicht über den Aufstand der Makkabäer und die Geschichte des jüdischen Krieges, erzählt von Flavius Josephus, dem Untergang Jerusalems und dem Leben in der Galuth bis in die Gegenwart. Heldentum ist für Reich stets mit Krieg verbunden und folgt dem Leitsatz: »›Das Leben dem Ruhme hintanzusetzen,‹ das ist also der schöne große Gedanke, der Helden in die Welt setzt und sie über die Allgemeinheit erhebt.«3 Darüber hinaus ist jüdischer »Kriegsheldenmut« jedoch noch mehr, da die Bereitschaft zu sterben nicht nur der Aussicht auf bleibenden Ruhm folgt, sondern sich stets darin zeigt, das Leben zu wagen, »um einen Wunsch des Königs und Kriegsherren zu erfüllen«.4 Und auch, so Rabbiner Reich weiter, wenn viel Wis-

1

Zu W. Reich u.a. Schärf, Thomas E.: Jüdisches Leben in Baden. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Wien: Mandelbaum 2005, S. 120-122. Reich war auch dafür mitverantwortlich, dass 1921 eines der ersten jüdischen Kriegerdenkmäler in Baden errichtet wurde. Vgl. Kriegerdenkmaleinweihung in Baden bei Wien, in: Die Wahrheit, 7.7.1921, S. 11.

2

Reich, Wilhelm: »Jüdische Kriegshelden«, in: ÖW, 11.12.1914, S. 853-855.

3

W. Reich, Jüdische Kriegshelden, S. 854.

4

Ebd., S. 853.

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sen über den jüdischen Heldenmut in Vergessenheit geraten ist oder durch »parteiisches Verhalten der historischen Wissenschaft« bewusst verschwiegen wurde und werde, so lege die »Kriegsgeschichte unserer Zeit […] nun aber Zeugnis ab, daß das jüdische Kriegsheldentum nicht geschwunden ist; Hunderte und aber Hunderte unserer Glaubensgenossen, die im Kriege stehen, sind ausgezeichnet auf dem Felde der Ehre; sie stehen keiner Konfession und keiner Nationalität im Kampfe für das Vaterland nach, und wenn das Kriegsbuch dieser Zeit mit Gottes Hilfe geschlossen sein wird, werden wir mit Stolz und Genugtuung hinweisen können auf das goldene Buch, in welchem auch in stattlicher Zahl die Namen jüdischer Kriegshelden zur Verherrlichung der Judenheit fortleuchten werden! Die Namen jüdischer Kriegshelden als würdige Nachfolger der Makkabäer!«5 Rabbiner Reich hat mit seinem Text vordergründig das Kriegsgeschehen des Jahres 1914 und die aktive, loyale Beteiligung der jüdischen Soldaten im Blick. Sein an eine jüdische Leserschaft gerichteter Beitrag verbindet die jüdische und biblische Geschichte mit der Gegenwart. Er nimmt auf die Kriegserwartungen von großen Teilen der jüdischen Bevölkerung Bezug und macht Sinnstiftungsangebote. Denn viele Jüdinnen und Juden begrüßten den Krieg mit großer Euphorie und erhofften sich durch den jüdischen patriotischen Kriegsdienst in all seinen Ausformungen, dass auf die rechtliche Emanzipation von 1867 mit der staatsbürgerlichen nun auch die vollständige gesellschaftliche Gleichstellung in Form einer umfassenden Anerkennung durch die nichtjüdische Umgebungsgesellschaft folge.6 Anerkennung, die trotz erheblichen kriegsbedingten gesellschaftlichen und nationalen Homogenisierungsdrucks für Rabbiner Reich jedoch keinesfalls mit der Aufgabe von jüdischer Identität und jüdischem Selbstverständnis erkauft werden kann. Denn die angerufenen Makkabäer, deren Geschichte den Hintergrund von Chanukka bilden, waren nicht nur heldenhafte Krieger im Kampf gegen den Seleukiden Antiochos IV. Epiphanes und die Entweihung des Jerusalemer Tempels. Der Aufstand der Makkabäer war in gewisser Weise auch ein jüdischer Bürgerkrieg gewesen, in dem es um den Kampf der Hasmonäer für das Überleben des Judentums gegen eine innerjüdische, doch vor

5

W. Reich, Jüdische Kriegshelden, S. 855.

6

Vgl. Rozenblit, Marsha L.: Reconstructing a National Identity. The Jews of Habsburg Austria during World War I, Oxford: Oxford University Press 2001, S. 39-58; Rozenblit, Marsha L.: The European Jewish World 1914-1919: What Changed?, in: Marsha L. Rozenblit/Jonathan Karp (Ed.), World War I and The Jews. Conflict and Transformation in Europe, The Middle East, And America, New York-Oxford: Berghahn 2017, S. 32-55, hier S. 35-36.

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allem von außen dem Judentum aufgezwungene Hellenisierung ging. 7 Darüber hinaus standen die Makkabäer auch für einen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts sich vollziehenden Wandel jüdischen Selbstverständnisses innerhalb der Gesellschaft und Geschichte. Denn wurden während des Mittelalters und der Neuzeit die Leiden der jüdischen Bevölkerung durch Verfolgung und Unterdrückung stets mit der biblischen Geschichte von Isaak und somit mit einem göttlichen Willen verknüpft, so wandelte sich dieses passive Bild der Gottergebenheit im Zuge der Emanzipation und Verbürgerlichung. Mit den heldenhaften Makkabäern wurde ein neuer historischer Bezugsrahmen geschaffen, der eine aktive jüdische Position in der Gesellschaft ebenso wie in der Abwehr von antisemitischen Übergriffen und Anfeindungen festlegte.8

H ELDENNARRATIONEN Die diskursive Konstruktion von jüdischem Heldentum in Geschichte und Gegenwart, die ihren Ausdruck auch in den ab 1914 aufkommenden jüdischen Kriegserinnerungsdiskursen fand, zielte für Rabbiner Reich in mehrere Richtungen, wobei im generierten Bild des Heroischen das kulturelle Sinnsystem der jüdischen Gemeinschaft seinen Ausdruck fand.9 Die Konstruktion des jüdischen Helden hatte ähnlich wie jene der jüdischen Kriegserinnerung zunächst die Aufgabe, den Jüdinnen und Juden die zu ertragenden Leiden und Traumata des Krieges, das letztlich sinnlose Sterben der Menschen am Schlachtfeld, mit Sinn zu versehen.10 Eng damit verknüpft war seit dem späten 18. Jahrhundert stets die

7

de Vries, Simon Philip: Jüdische Riten und Symbole, Wiesbaden: marixverlag 2005, S. 123-127; Stern, Menahem: »Die Zeit des Zweiten Tempels«, in: Haim Hillel BenSasson, Geschichte des jüdischen Volkes. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München: C. H. Beck 5. Aufl. 2007, S. 231-373, hier S. 255-263.

8

Vgl. Penslar, Derek: »The German-Jewish Soldiers: From Participant to Victim«, in:

9

Vgl. Von den Hoff, Ralf/Ash, Roland G./Aurnhammer, Achim/Bröckling, Ul-

German History Vol. 29 (2001) No. 3, S. 423-444, hier S. 424. rich/Korte, Barbara/Leonhard, Jörn/Studt Birgit: »Helden – Heroisierungen – Heroismen. Transformationen und Konjunkturen von der Antike bis zur Moderne. Konzeptionelle Ausgangspunkte des Sonderforschungsbereichs 948«, in: Helden. Heroes. Héros. E-Journal zu Kulturen des Heroischen (2013) Band 1.1, S. 7-14, hier S. 7. 10 Vgl. u.a. Winter, Jay: Sites of Memory, Sites of Mourning. The Great War in European Cultural History, Cambridge: Cambridge University Press 1995; Koselleck, Rein-

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Frage der rechtlichen und gesellschaftlichen Gleichstellung. Es ging um staatsbürgerliche Gleichheit bei gleichzeitiger Akzeptanz von jüdischer Differenz 11 – eine Forderung, die im Zentrum jüdischer und nichtjüdischer Debatten des Emanzipationszeitalters stand, in denen die jüdische Kriegsdienstleistung stets eine wichtige Rolle spielte. Denn die jüdische Kriegsdienstleistung und mit ihr die Figur des jüdischen Soldaten und jüdischen Helden war fixer Bestandteil des Emanzipationsversprechens12, wonach im Tausch für die Bereitschaft des Einzelnen, für sein ›Vaterland‹, sein ›Volk‹ oder seine ›Nation‹ ins Schlachtfeld zu ziehen und auch zu sterben, entweder diesem oder der zugehörigen Gruppe die Partizipation am Gemeinwesen, die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft zugesichert werde. In diesem Sinne war der ›Heldentod‹ oder die Bereitschaft, diesen zu erleiden, auch der ultimative Beweis jedes Staatsbürgers für seine unverbrüchliche Loyalität gegenüber dem staatlichen Gemeinwesen. Generell wurde in diesem Kontext jegliche Kriegsunterstützung ebenso wie das Leiden der Kriegsflüchtlinge als patriotischer Akt und vaterländische, staatsbürgerliche Pflicht angesehen.13 Staatsbürgerliche Partizipation und kriegerisches Heroentum bedingten sich in diesem Bild, worauf auch Herfried Münkler verweist. »Aber die Vorstellung vom Helden ist doch zumeist eng mit Gewalt und Krieg verbunden. In jedem Falle aber ist für die Attribution des Heroischen der Gedanke des Opfers zentral: zum Helden kann nur werden, wer bereit ist, Opfer zu bringen, eingeschlossen das größte, das des Lebens. Für diese Bereitschaft zum Opfer wird dem Helden Anerkennung und Ehre zuteil. Die durch das Opfer des Helden vor Unheil oder Niederlage bewahrte Gemeinschaft dankt ihm dies mit Prestige zu Lebzeiten und ehrenhaftem Andenken nach dem To-

hart: »Einleitung«, in: ders./Michael Jeismann (Hg.), Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne, München: Wilhelm Fink Verlag 1994, S. 9-20. 11 Zum Konzept der Jewish Difference vgl. Silverman, Lisa: Becoming Austrians. Jews and Culture between the World Wars, Oxford: Oxford University Press 2012, S. 6-8; Silverman, Lisa: »Beyond Antisemitism: A Critical Approach to German Jewish Cultural History«, in: Nexus. Essays in German Jewish Studies (2011), S. 27-45. 12 Zum Konnex zwischen Emanzipation und Militärdienst vgl. Schmidl, Erwin A.: Habsburgs jüdische Soldaten 1788-1918, Wien: Böhlau Verlag 2014, S 29-32. 13 Vgl. dazu u.a. Frevert, Ute: Die kasernierte Nation. Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutschland, München: C.H. Beck 2001, S. 15f.; Buschmann, Nikolaus: »Vom »Untertanensoldaten« zum »Bürgersoldaten«? Zur Transformation militärischer Loyalitätsvorstellungen um 1800«, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts XII (2013), S. 105-126, hier S. 105.

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de. So sind Held und Gesellschaft durch die Vorstellung des rettenden und schützenden Opfers miteinander verbunden.«14

Der Held opfert sich für die Gemeinschaft, den Staat und diese/r wiederum bringt ihm Anerkennung entgegen und verpflichtet sich dazu, sich seiner zu erinnern. Die Voraussetzung dafür ist, dass von den Helden und ihren Heldentaten berichtet wird. Denn »wenn sie heroisch agieren, aber keiner da ist, der dies beobachtet und weitererzählt, ist ihr Status prekär: Sie müssen dann selber erzählen, was für Helden sie sind. Auch wenn man ihnen glaubt, riecht ihr Bericht nach Eigenlob.«15 Das Heroische ist ein in einem Selbst- und Fremdzuschreibungsprozess entstehendes kulturelles Konstrukt. Die Heldentaten der Kriegshelden müssen erzählt, sie müssen medial kommuniziert werden, wobei in diesen Erzählungen durch Dichter und andere Autoren auch die Regeln und Codizes für heldenhaftes Verhalten generiert und Regeln der Gewaltanwendung festgelegt werden.16 Für die jüdische Bevölkerung waren die Medien dieser Erzählungen ab 1914 vor allem die deutschsprachig-jüdischen Zeitschriften und Zeitungen ebenso wie einzelne Erinnerungspublikationen oder später Erinnerungszeichen in Form von Helden- oder Kriegerfriedhöfen, sowie Helden- oder Kriegerdenkmälern. Entsprechend der religiösen, politischen und kulturellen Ausrichtung der unterschiedlichen jüdischen Gruppierungen in Österreich sind an dieser Stelle Dr. Bloch’s Oesterreichische Wochenschrift17 für die liberale und weitgehend akkulturierte Elite, die Jüdische Zeitung18 sowie die Jüdische Volksstimme

14 Münkler, Herfried: »Heroische und postheroische Gesellschaften«, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken Jg. 61 (August 2007) H. 700, S. 742-752, hier S. 742. 15 Ebd., S. 742. 16 Vgl. ebd., S. 744. 17 Vgl. Lappin-Eppel, Eleonore: »Zensur und Abwehr des Antisemitismus: Dr. Bloch’s Österreichische Wochenschrift im Ersten Weltkrieg«, in: Michael Nagel/Moshe Zimmermann (Hg.), Judenfeindschaft und Antisemitismus in der deutschen Presse über fünf Jahrhunderte: Erscheinungsformen, Rezeption, Debatte und Gegenwehr Bd. 1, Bremen: edition lumière 2013, S. 299-316. 18 Hecht, Dieter J.: »Die Jüdische Zeitung (Wien 1907-1920): Ein nationaljüdisches Organ«, in: Eleonore Lappin/Michael Nagel (Hg.), Deutsch-jüdische Presse und jüdische Geschichte: Dokumente, Darstellungen, Wechselbeziehungen. Bd. II: Religion und Politik in der europäisch-jüdischen Presse vor der Shoah – Antisemitismus, Faschismus und Nationalsozialismus, 1880-1943 – Neuorientierungen nach der Shoah, Bremen: edition lumière 2008, S. 57-68.

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für zionistisch Orientierte und die Jüdische Korrespondenz für jene, die dem orthodoxen Judentum anhingen zu nennen. Vor allem Dr. Bloch’s Oesterreichische Wochenschrift sollte über die Kriegszeit hinweg übergeordnete Bedeutung als Sprachrohr der jüdischen Gemeinde sowie liberal-konservativer Gruppen erlangen. Seine Intentionen beschrieb Rabbiner Bloch in seinen posthum publizierten Erinnerungen. Demnach ging es ihm mit Kriegsbeginn sogleich um die Dokumentation des jüdischen Kriegseinsatzes.19 Diese sollte den heldenhaften Kampf der Soldaten, die Kriegsunterstützung durch die Zivilbevölkerung sowie die bereitwillige Zeichnung der Kriegsanleihen umfassen. Ein Schritt, der laut Bloch notwendig war, da das Kriegsministerium die nötigen Informationen nicht liefern wollte und die Kultusgemeinden auf Grund der Kriegsverhältnisse an der Ostfront dazu nicht in der Lage waren. Somit publizierte Bloch ab September 1914 regelmäßig allgemeine patriotische Texte und zahlreiche Artikel über jüdischen Heldenmut. Biografische Skizzen von jüdischen Gefallenen und Feldpostbriefe von der Front in die Heimat und umgekehrt wurden ebenso abgedruckt, wie die Namenslisten jüdischer Kriegsdekorierter. All diese Texte rückten den jüdischen Heldenmut sowie die Opferwilligkeit für Vaterland und Kaiserhaus ins Zentrum, wobei nicht nur die Gefallenen, sondern auch all jene galizischen Jüdinnen und Juden, die als Zivilisten der russischen Armee zum Opfer fielen, Helden waren; denn »auch das ist ein Opfer für das Vaterland.«20 Bloch räumte in seinen Erinnerungen jedoch auch ein, dass er bei seinen publizistischen Aktivitäten immer wieder auf Ablehnung stieß und in Konflikt mit der Zensurbehörde geriet, wenn es darum ging, positive Aussagen über den jüdischen Kriegsdienst von prominenten Nichtjuden zu publizieren.21 Der Held braucht somit den Erzähler und ebenso das Publikum – jüdisch und nichtjüdisch –, das diese Erzählung anerkennt. Dieser doppelten Adressatenschaft entsprechend äußerte sich den Texten in Dr. Blochs’s Oesterreichischer Wochenschrift folgend jüdischer Heldenmut nicht nur im Kampf der Soldaten auf dem Schlachtfeld, sondern stets auch in der Treue zum Judentum. In zahlreichen Texten, häufig von Feldrabbinern verfasst, wurde das regelmäßige Verrichten der Gebete, der Besuch der Synagoge ebenso wie das Abhalten religiöser

19 Bloch, Joseph Samuel: »Die österreichischen Juden im Weltkrieg«, in: Erinnerungen aus meinem Leben von Joseph Samuel Bloch Bd. III, Wien 1933, S. 228-245, hier S. 228-229. 20 Das jüdische Opfer des Krieges, in: ÖW, 4.9.1914, S. 609. 21 Bloch: Die österreichischen Juden im Weltkrieg, S. 228-245.

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Feiern im Felde beschrieben.22 So liest man beispielsweise im Dezember 1914: »Sehr geehrter Herr Redakteur! Vielleicht ist es für Sie von Interesse, zu erfahren, daß auch im Felde das Chanukafest gefeiert wurde. Ich glaube, es wird auch den österreichischen Juden Freude bereiten, wenn sie in ihrem sehr geschätzten Blatte etwas hievon hören werden.«23 Darauf folgt ein ausführlicher Bericht der »Chanukafeier im Felde«, die von Feldrabbiner Dr. Albert Schweiger, dem Rabbiner von Kremsier, abgehalten wurde. In seiner Ansprache rühmte er die »Heldentaten der Makkabäer und führte den Gedanken aus, wie es diesen gelang, die große Übermacht der Syrier zu vernichten, weil sie für das Recht und die Freiheit der Völker mit Begeisterung kämpften. So wird es auch unserem Vaterlande gelingen, die Übermacht der Finsternis und Knechtschaft zu besiegen, weil das Recht auf unserer Seite ist.« Und an all jene Soldaten gerichtet, die der Feier wegen ihres Kampfeinsatzes nicht beiwohnen konnten, spendete er den Segen und hielt fest. »Die feiern am würdigsten und idealsten Chanuka, indem sie im heldenmütigen Kampfe beweisen, daß sie die wahren Nachkommen der Makkabäer sind«.24

J ÜDISCHES K RIEGSGEDENKBLATT Während Bloch bei der Konstruktion der jüdischen Heldenerzählung in besonderem Maße auf Quantität setzte, indem ab 1915 regelmäßig Listen der Namen von jüdischen Kriegsdekorierten publiziert wurden, stellten der Schriftsteller Moritz Frühling mit seinem von 1914 bis 1917 in sechs Heften verlegten Jüdischen Kriegsgedenkblatt25 ebenso wie das ab Mai 1915 erscheinende Jüdisches Archiv26, das vom zionistischen Ideen nahe stehenden Komitee des Jüdischen

22 Exemplarisch: Kaddisch im Schützengraben, in: ÖW, 28.5.1915, S. 405-406; Die hohen Feiertage im Felde, in: ÖW, 8.10.1915, S. 737-738. 23 Channukafeier im Felde, in: ÖW, 25.12.1914, S. 898. 24 Ebd., S. 898. 25 Vgl. dazu die Annonce in ÖW, 4.12.1914, S. 855; Hecht, Dieter: »Spuren der Vergessenen. Das ›Jüdische Kriegsgedenkblatt‹ – Ein Erinnerungsforum«, in: zeitgeschichte Jg. 41, Juli/August 2014, H. 4, S. 222-241. 26 Vgl. Lappin, Eleonore: »Zwischen den Fronten: Das Wiener Jüdische Archiv. Mitteilungen des Komitees Jüdisches Kriegsarchiv 1915-1917«, in: Eleonore Lappin/Michael Nagel (Hg.), Deutsch-jüdische Presse und jüdische Geschichte I: Dokumente, Darstellungen, Wechselbeziehungen (Die jüdische Presse – Kommunikationsgeschichte im europäischen Raum 6), Bremen 2008, S. 229-246.

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Kriegsarchives ins Leben gerufen worden war und 1920 eine Neuauflage erfuhr, stärker einzelne und ausgewählte biografische Skizzen in den Mittelpunkt.27 Moritz Frühling, 1870 in Tlumacz in Galizien geboren war seit 1910 in Wien wohnhaft, wo er mit 48 Jahren im Oktober 1918 an der Spanischen Grippe verstarb.28 Das Hauptaugenmerk seiner publizistischen Tätigkeiten lag auf der Erforschung der jüdischen Soldaten. Ab 1911 publizierte er das »Biografische Handbuch der in der k. u. k. österreichisch-ungarischen Armee und Kriegsmarine aktiv gedienten Offiziere, Ärzte, Truppen – Rechnungsführer und sonstigen Militärbeamten jüdischen Stammes«29, sowie weitere Texte zu Juden in der Armee der Habsburger.30 Während des Krieges plante er zudem ein dreibändiges Lexikon mit dem Titel »Die Juden in der Wehrmacht Österreich-Ungarns auf Grund kriegsarchivalischen Materials bis auf die neueste Zeit bearbeitet von Moritz Frühling«, das im Verlag Halm & Goldmann in Wien erscheinen sollte und von ihm in seinem Kriegsgedenkblatt und weiteren Zeitungen und Zeitschriften ausführlich beworben wurde.31 Teil dieser umfangreichen publizistischen Tätigkeit war auch die Herausgabe seines Jüdischen Kriegsgedenkblattes (Abb. 1), dem er eine Widmung, dem Schma Jisrael angelehnt, voranstellte: »Ehre Ihrem Andenken! Israel, höre und meld’ es späteren Geschlechtern: Für Österreich-Ungarns Größe und Ruhm Sind diese Offiziere, deine Heldensöhne, gefallen Im Tode noch ihrem Kaiser und König getreu.«32

27 Führende Mitglieder des Komitees waren Nathan Birnbaum und Robert Stricker. Vgl. Aufruf des »Jüdischen Kriegsarchivs«, in: ÖW, 22.1.1915, S. 67. 28 Vgl. Hecht, Dieter: »Spuren der Vergessenen«, S. 229-230. 29 Frühling, Moritz: Biographisches Handbuch der in der k. u. u. österr.-ungar. Armee und Kriegsmarine aktiv gedienten Offiziere, Ärzte, Truppen, Rechnungsführer und sonstigen Militärbeamten jüdischen Stammes, Wien 1911. 30 Z.B. bereits 1910: Frühling, Moritz: »Wiener Juden fuer die oesterreichischungarische Armee«, in: Ost und West. Illustrierte Monatsschrift für das gesamte Judentum. Jg. 10 (August 1919) H. 8/9, Sp. 537-546. 31 Z.B. Jüdisches Kriegsgedenkblatt Heft 2 (1914-1917), S. 81-82. 32 Jüdisches Kriegsgedenkblatt Heft 1 (1914-1917), o. S.

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Abbildung 1: Frontispiz von Jüdisches Kriegsgedenkblatt (1914-1917), Heft 1.

Auf diese einleitende Widmung und die erste Aufzählung von Namen Gefallener folgen in den einzelnen Heften, auf deren Titelblatt Engelsfiguren mit Posaunen und dem Begleitspruch »Introite, hic sunt heroes!« (Tretet ein, hier sind Helden!) abgebildet sind, jeweils 22 Gedenkblätter in Form von biografischen Skizzen gefallener Offiziere, diverse weitere Porträts, Briefe und Gedichte. Jedes Gedenkblatt beinhaltet ein Bild der porträtierten Person, häufig in Uniform und militärischer Pose, einen kurzen Abriss der Lebensgeschichte sowie meist noch weiterführende Dokumente, wie Briefe an oder von den Eltern oder Schreiben von Kameraden und oder Vorgesetzten.

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Mit dieser Form der Darstellung rekurriert Frühling auf einen Heldendiskurs der Habsburgermonarchie, den Dieter A. Binder als einen Bestandteil der SelbstAristokratisierung innerhalb des bürgerlichen Emanzipationsprozesses im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts versteht.33 Dieser Prozess ging mit der Militarisierung der Gesellschaft und der Aneignung der Nation durch das Bürgertum einher. Das militarisierte Bürgertum, dem auch viele Juden angehörten 34, nahm sich, so Binder, den aristokratischen, königlichen Helden zum Vorbild und sah in »seiner Rezeption der Kultfigur eine Teilhabe an der feudalen Gesellschaft, um [seinem] Habitus Grandezza zu verleihen.«35 Ein Habitus, der unter anderem in den im Kriegsgedenkblatt abgebildeten Heldenporträts sichtbar wird. Die Gefallenen, »Unseres Volkes Stolz«, wurden bevorzugt in Uniform, strammer Haltung und stets mit Orden dekoriert dargestellt. Das auf diese Weise im Kriegsgedenkblatt generierte jüdische Heldenbild zielte auf eine Einschreibung in die allgemeine Heldenerzählung der Habsburgermonarchie, als Juden und gleiche Staatsbürger ab. Sichtbar wird das exemplarisch auch am Nachruf für den aus Böhmen stammenden und im Dezember 1914 in den Karpaten gefallenen Rechtsanwalt, Zionisten und Schriftsteller, Reserveleutnant Dr. Hugo Zuckermann, der vor allem für sein »Reiterlied« (Abb. 3) berühmt geworden war. Zuckermann, 1881 geboren, wurde in diesem mehrseitigen Nachruf als »ein glühender Nationalist und Zionist [charakterisiert], der […] wußte ebenso wie seine deutschvölkischen Kollegen durch Wort und Tat für Ruhm und Ehre seines Volkes einzutreten«.36 Er studierte in Wien Rechtswissenschaften und war zudem schriftstellerisch tätig, wobei er sich in seinen Texten vor allem mit jüdischen Themen und Stoffen befasste. Darüber hinaus setzte er, der als »Westjude« bezeichnete, sich mit der Kultur der sogenannten »Ostjuden« auseinander, übersetzte jiddische Literatur ins Deutsche und war Mitbegründer der »Jüdischen Bühne« in Wien und Herausgeber der Monatsschrift »Unsere Hoffnung«.

33 Vgl. Binder, Dieter A.: »Helden«, in: Johannes Feichtinger/Heidemarie Uhl (Hg.), Habsburg neu denken. Vielfalt und Ambivalenz in Zentraleuropa. 30 Kulturwissenschaftliche Stichworte, Wien-Köln-Weimar: Böhlau Verlag 2016, S. 82-88. 34 Als Beleg für die jüdische Teilhabe an diesem bürgerlichen Militarisierungsprozess ist die überrepräsentativ hohe Anzahl an jüdischen Reserveoffizieren zu sehen. Vgl. Deák, István: Der K. (.) K. Offizier 1948-1918, Wien-Köln-Weimar: Böhlau Verlag 2. Aufl. 1995, S. 207-215. 35 D. A. Binder: »Helden«, S. 85. 36 Dr. Hugo Zuckermann, in: Jüdisches Kriegsgedenkblatt (1914-1917) Heft 2, S. 68-76, hier S. 68.

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Abbildung 3: Österreichisches Reiterlied. Neue deutsche Bilderbogen für Jung und Alt, Berlin 1915 Nr. 8.

Nachdem er nach Meran übersiedelt war, engagierte er sich auch dort in der jüdischen Gemeinde und trat als Literatur- und Kulturkritiker in deutschösterreichischen Zeitungen und Zeitschriften in Erscheinung. Er war für Frühling somit ein »bewusster« Jude, ein Intellektueller, der auch über die Sphäre des Jüdischen hinaus Aufmerksamkeit erfahren und zur Kultur seines Landes beigetragen hatte. Vor allem sein unter dem Eindruck der Serbienkrise entstandenes und

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1913 erstmalig veröffentlichtes »Reiterlied« ist in diesem Kontext zentral. 37 Dieses wurde nämlich nach Kriegsbeginn im August 1914 im ganzen deutschsprachigen Raum breit rezipiert, mehrfach vertont und erlangte unter dem neuen Titel »Österreichisches Reiterlied« rasch den Status eines beliebten und oft vorgetragenen Volksliedes.38 Im drei Strophen umfassenden Gedicht huldigt Zuckermann der Soldatenpflicht und der Bereitschaft des Einzelnen, für das Vaterland zu sterben. Er schafft somit das geradezu idealtypische Heldenbild seiner Zeit und verkörpert für das Kriegsgedenkblatt letztlich den paradigmatischen, den österreichischen jüdischen Helden. Und konsequenterweise endet der Nachruf im Jüdischen Kriegsgedenkblatt wie folgt: »Die große Zeit des Weltkrieges brachte diesem herrlichen Menschenleben seine Erfüllung. Er fand den Heldentod, den er für sich herbeigewünscht hatte. Als Leutnant des Landwehrinfanterieregimentes Nr. 11 eilte er im Juli zu den Waffen: zum Rachefeldzug gegen den Erbfeind des Judentums und seiner österreichischen Heimat.«39 Zuckermann starb somit als aufrechter Jude und Österreicher, der mit seinem »österreichischen Reiterliede« darüber hinaus einen dauerhaften Beitrag zur österreichischen Soldatenkultur geleistet hatte. Sein Heldentum war ein Mehrfaches: als Soldat, als Österreicher, als Jude und Kulturschaffender.

H ELDENTUM UND KULTURELLES G EDÄCHTNIS Jüdisches Heldentum und die Erinnerung daran war stets auch Argument für die Abwehr von Antisemitismus. Um dies zu unterstreichen, wurde unter anderem die Schaffung von jüdischen Kriegschroniken angeregt. So veröffentlichte beispielsweise der Meraner Rabbiner Adolf Altmann 40, der von 1915 bis 1917 auch

37 Vgl. Drei Soldatenlieder, in: Danzer’s Armee-Zeitung, Jg. 18, 27.03.1913, Nr. 13, S. 8-9. 38 Vgl. Busse, Karl (Hg.), Deutsche Kriegslieder 1914-1915, Bielefeld-Leipzig: Verlag von Velhagen & Klasing 1915, S. XI. 39 Dr. Hugo Zuckermann, in: Jüdisches Kriegsgedenkblatt (1914-1917) Heft 2, S.V. 40 Zu Altmann vgl. Altmann, Manfred: »K. u. k. Feldrabbiner Dr. Adolf Altmann an der Kriegsfront (1915-1918) in Begegnung mit Feldmarschall Conrad von Hötzendorf und anderen Armeekommandanten«, in: Marko M. Feingold (Hg.), Ein ewiges dennoch. 125 Jahre Juden in Salzburg, Wien–Köln–Weimar: Böhlau Verlag 1993, S. 487-572; Altmann, Alexander: »Adolf Altmann (1879-1944)«, in: Leo Baeck Institute Yearbook, 1981, S. 145-167; Steinacher, Gerald: »Rabbi Adolf Altmann: Salzburg, Meran,

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als Feldrabbiner tätig war, im Februar 1915 in Dr. Bloch’s Oesterreichischer Wochenschrift einen Aufruf mit dem Titel »Jüdische Gemeinden, leget Kriegschroniken an!«.41 Darin verglich er zunächst den aktuellen Kampf gegen Russland mit jenem der Israeliten gegen die Amalekiter beim Auszug aus Ägypten. Und ebenso wie man sich der Taten Amaleks und vor allem des Sieges über ihn im religiösen Fest von Sabbat-Sachor erinnert, so sollte man sich in der Gegenwart und vor allem in der Zukunft auch an die Heldentaten der jüdischen Soldaten im Kampf gegen Russland, den Feind der Juden wie auch der Habsburgermonarchie, erinnern. Denn das »gegenwärtige, noch im Zuge befindliche Ringen ist, soweit es insbesondere Rußland betrifft, ein Kampf gegen Amalek, den Erbfeind des Judentums und vielleicht nicht minder den Erbfeind unseres Vaterlandes.«42 Altmann stellte ebenso wie zuvor Rabbiner Reich religiöse Bezüge her und bettete den Heldenmut und die Erinnerung daran in die jüdische Überlieferung ein. In einem weiteren Schritt stellte er jedoch auch einen Bezug zum kollektiven Gedächtnis der zukünftigen Nachkriegsgesellschaft her: Es ging ihm bei seiner Chronik nicht um eine bloße »Apologetik« jüdischer Kriegsteilnahme, wie er es dem »Jüdischen Kriegsarchiv« unterstellte, sondern vielmehr um eine zukünftige historische Bewertung der Ereignisse, eine Sicherung der jüdischen Helden- und Kriegserzählung. Die Kriegschroniken der Gemeinden sollten demnach Quellensammlungen sein, die es in späteren Zeiten ermöglichen, die Leiden und Opfer der jüdischen Soldaten in würdiger Form in die allgemeine Geschichte des Krieges einzuschreiben. Denn »viele bedeutsame, weltbewegende Ereignisse, an denen auch Juden nicht geringen Anteil hatten, sind von Seite des Judentums und für das Judentum überaus selten und viel zu schwach festgehalten worden. Nur ganz indirekt haben sich historische Daten in rein jüdischen Quellen erhalten.«43 Altmann hatte sich bereits als Rabbiner in Salzburg, das er 1914 in Richtung Meran verlassen hatte, mit der jüdischen Lokalgeschichte befasst.44 Mit seinem

Trier, Auschwitz«, in: Thomas Albrich (Hg.), Jüdische Lebensgeschichten aus Tirol. Vom Mittelalter bis in die Gegenwart, Innsbruck: Haymon Verlag 2012, S. 235-259. 41 Altmann, Adolf: »Jüdische Gemeinden, leget Kriegschroniken an!«, in: ÖW, 26.2.1915, S. 154-155. 42 Altmann, »Jüdische Gemeinden«, S. 154. 43 Ebd., S. 154. 44 Altmann, Adolf: Geschichte der Juden in Stadt und Land Salzburg. Von den frühesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Bd. 1. bis zur Vertreibung der Juden aus Salzburg 1498, Berlin 1913; Altmann, Adolf: Geschichte der Juden in Stadt und Land Salzburg. Von den frühesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Bd. 2. Von der Vertreibung der Juden aus

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Aufruf im Februar 1915 verfolgte er weniger die Sinnstiftung der unmittelbaren Kriegserlebnisse. Ihm ging es auf Grund seiner Erfahrungen mit nichtjüdischen, nicht selten deutschnationalen und antisemitischen Historikern bei Fragen der Verortung der jüdischen Geschichte in der österreichischen Geschichtsschreibung vielmehr um das zukünftige kulturelle Gedächtnis des Krieges und die jüdische Position darin. Ähnlich wie Rabbiner Altmanns Bemühungen sind auch jene des Grazer Landesrabbiners David Herzog45 zu sehen, der noch 1915 eine Sammlung von Kriegspredigten veröffentlichte.46 Sind die darin abgedruckten Predigten zunächst noch im Kontext der Mobilisierung und Sinnstiftung während der Kriegszeit zu sehen, so widmete er die Drucklegung dem »Andenken der auf dem Felde der Ehre gefallenen Helden unserer Gemeinde«. Im Vorwort führt Herzog aus, dass er von Mitgliedern seiner Gemeinde ebenso wie von Flüchtlingen und Soldaten dazu aufgefordert worden sei, diese Kriegspredigten zu veröffentlichen, »als Erinnerung an erhebende und trostreiche Stunden, die sie ihnen geboten«47 haben. Somit war bei der Auswahl für ihn das »historische Moment bestimmend, das heißt nur das abdrucken zu lassen, was auch in späterer Zeit, wenn einmal mit Gottes Hilfe friedliche Zeiten eintreten werden, geschichtlichen Wert für unsere Gemeinde behalten wird«.48 Neben dem bleibenden Erinnerungscharakter der Predigtsammlung beleuchtet Herzog in seinem Vorwort noch zwei weitere Aspekte, die im Kontext jüdischer Heldenerzählung und Kriegserinnerung von Belang sein sollten. Zum einen verweist er darauf, dass »das Endziel des wahrhaften Glaubens, ja aller menschlichen Kultur überhaupt doch nur im Erstreben eines ewigen Friedens liegen kann und daß, wie schon bei den Propheten, auch bei uns die Hoffnung auf dieses messianische Zeitalter den Grundaffekt der Politik, der Geschichte und der Religion bilden muß«49. Und zum anderen stellt er das Heldentum der jüdischen Soldaten jenem der nichtjüdischen gleich, »denn was namentlich unsere Helden, ohne Unterschied des Glaubens und der Nationalität, die lebenden und die auf dem Felde der Ehre gefallenen, unter welchen Salzburg (1498) bis zur Errichtung der israelitischen Kultusgemeinde Salzburg (1911), Trier 1930. 45 Zu David Herzog vgl. u.a. Lamprecht, Gerald: »Rabbiner Dr. David Herzog – Leben und Werk«, in: Heimo Halbrainer/Gerald Lamprecht/Andreas Schweiger (Hg.), Meine Lebenswege. Die persönlichen Aufzeichnungen des Grazer Rabbiners David Herzog, Graz: Verlag Clio 2013, S. 165-194. 46 Herzog, David: Kriegspredigten, Frankfurt am Main: Verlag von J. Kauffmann 1915. 47 Ebd., S. 5. 48 Ebd., S. 6. 49 Ebd., S. 7.

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auch die Kinder unserer Gemeinde reichen Anteil nehmen an schwärmerischer Begeisterung und idealer Hingabe und Aufopferungsfähigkeit geleistet haben, überragt selbst antike Größe!«50

H ELDENFRIEDHÖFE UND H ELDENDENKMÄLER Die Diskurse um den jüdischen Kriegsdienst und die Sinnstiftung kreisen, wie bereits dargestellt, um Gleichheit, Aufopferungsbereitschaft, Vaterlandsliebe und Kameradschaft. Sie sind eingebettet in die gängigen österreichischen Heldenund Kriegserinnerungserzählungen, die einem sich seit dem 19. Jahrhundert zunehmend demokratisierenden Heldenbild folgen und im Angesicht des massenhaften Leidens und Sterbens für das Vaterland die Überwindung ethnischer, religiöser und sozialer Differenzen vor Augen haben.51 Sichtbarster Ausdruck dafür sind die Debatten um die Errichtung von Heldenfriedhöfen und Heldendenkmälern. Diese waren die Objektivationen der Sinnstiftung des Massensterbens im Auftrag der Nation, des Vaterlandes und trugen dazu bei, das Leid verstehbar und betrauerbar zu machen. George L. Mosse folgend spiegelte sich das Massensterben auch in der Gestalt der europäischen Soldatenfriedhöfe. Die ungeheure Zahl an Opfern und ihre nationale Aufladung führten zur symbolischen Vereinheitlichung der Gräber. Es kam im Sinne der Kameradschaft und eines stilisierten Kriegs- und Schützengrabenerlebnisses zur sozialen Nivellierung. Im Tod für die Nation und das Vaterland seien alle Helden, unabhängig ihres militärischen Ranges und ihrer zivilen gesellschaftlichen Position gleich. 52 Dementsprechend gab man dem Einzelgrab gegenüber dem Massengrab den Vorzug ebenso wie man bestrebt war, alle Grabsteine und Gräber gleichförmig zu gestalten. Mit Kriegsbeginn wurden diesem neuen Leitbild des Heldengedenkens folgend in allen kriegsführenden Ländern eigene staatliche Kommissionen eingerichtet, die sich der Sammlung aller Namen der Gefallenen verschrieben hatten und die Errichtung von gemischtkonfessionellen Heldenfriedhöfen vorbereiteten

50 Ebd., S. 7-8. 51 Vgl. Laqueur, Thomas W.: »Memory and Naming in the Great War«, in: John R. Gillis (Ed.), Commemorations. The Politics of National Identity, Princeton–New Jersey: Princeton University Press 1996, S. 150-167, hier S. 152. 52 Mosse, George L.: Gefallen für das Vaterland. Nationales Heldentum und namenloses Sterben, Stuttgart: Klett-Cotta 1993, S. 101-116.

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oder umsetzten.53 Gerade diese Frage der gemischtkonfessionellen Heldenfriedhöfe, die dem Prinzip der absoluten Gleichheit gehorchten, führte innerhalb der jüdischen Gemeinden und Presse zu kontroversiellen Reaktionen und Positionen. So findet sich im Oktober 1914 in einem Beitrag in Dr. Bloch’s Oesterreichischer Wochenschrift eine erste Reaktion auf diese neue Entwicklung. Darin wird von einem Ansinnen des Stadtrates in Karlsruhe berichtet, wonach man beabsichtige, auf dem städtischen Friedhof einen gemeinsamen Ehrenplatz für alle in Karlsruhe verstorbenen Soldaten einzurichten.54 Obwohl der Stadtrat der jüdischen Gemeinde zusicherte, dass die Gräber auf ewige Zeit unberührt bleiben sollten, entschied sich der Oberrat der Israeliten, den man dazu befragte, schließlich gegen diese Vorgehensweise. Für Österreich interessant und zukunftsweisend ist dabei die Argumentation des Textes. Denn es sei zum einen mehrheitlich der Wunsch der Jüdinnen und Juden, »bei den Gräbern der Väter« beerdigt zu werden, und zum anderen sei es durch eine getrennte Beerdigung auch für die christliche Bevölkerung einfacher, die Heldenfriedhöfe als christliche zu führen, ohne dass es ihnen als Intoleranz gegenüber der jüdischen Bevölkerung ausgelegt werden würde. Zudem würden die jüdischen Gefallenen auf interkonfessionellen Friedhöfen, die ja meist christliche sind, nicht wahrgenommen werden und somit würden hinkünftig auch jüdische Heldendenkmäler und Heldenfriedhöfe fehlen, die allerdings als Beleg für jüdischen Heldenmut und Opferwilligkeit notwendig seien. Religiöse Bedenken gingen mit symbolischen einher. Ein Zwiespalt, der auch in einem Leserbrief in Dr. Bloch’s Oesterreichischer Wochenschrift in Jänner 1915 zum Ausdruck gebracht wurde: »[…] Es ist gewiß hoch zu schätzen, daß die Gemeinde Wien zwischen den Helden, die ihr Leben fürs Vaterland geopfert haben, keinen Unterschied machen und die alle gleich53 Die Errichtung und Pflege der Friedhöfe wurde in der Regel von eigenen staatlichen Organisationen übernommen. Während des Krieges gab es in Österreich-Ungarn bei allen Militärkommanden eigene Kriegsgräberabteilungen, die sich um die Feststellung der Namen der Toten, die Zusammenlegung aller gefährdeten Gräber auf Sammelfriedhöfen sowie um die würdige und künstlerische Ausgestaltung der Friedhöfe kümmerten. Nach dem Krieg übernahm diese Aufgabe in Österreich die nichtstaatliche Vereinigung des »Schwarzen Kreuzes«. Vgl. u.a. Reichl, Thomas: Das Kriegsgräberwesen Österreich-Ungarns im Weltkrieg und die Obsorge in der Republik Österreich.« Das Wirken des Österreichischen Schwarzen Kreuzes in der Zwischenkriegszeit, Unveröffentlichte Dissertation, Wien 2007. 54 Vgl. Gemeinsames Ehrengrab oder Ehrengrab auf dem israelitischen Friedhof, in: ÖW, 16.10.1914, S. 703-704.

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mäßig ehren will. Trotzdem würde ich mir gestatten, die Anregung zu geben, eine Anzahl jüdischer Gefallener, möglichst in eine Gruppe geordnet, auf der jüdischen Abteilung zu beerdigen, schon aus dem Grunde, daß es uns ermöglicht werde, in ruhigen Zeiten auch die jüdische Friedhofsabteilung durch ein Kriegerdenkmal zu ehren, damit der Mangel eines solchen bei der nächsten und nächstnächsten Generation nicht unliebsam auffalle und ein späterer Knabe nicht etwa seinen Vater fragen müßte: ›Haben die Juden im Jahre 1914 nicht mitgekämpft, weil auf dem jüdischen Friedhofe kein Kriegerdenkmal steht?!‹«55

Der Ausgangspunkt dieses Briefes war das Ansinnen der Stadt Wien im September 1914, auf dem Zentralfriedhof einen gemeinsamen Heldenfriedhof einzurichten. Zunächst schloss sich die jüdische Gemeinde diesem Ansinnen grundsätzlich an56, wollte jedoch sichergestellt wissen, dass die Beisetzung ebenso wie die rituellen Vorbereitungen den jüdischen Gesetzen entsprechen und von Rabbinern oder Funktionären der Kultusgemeinde durchgeführt würden. Zudem sollte im Fall, dass die Grabsteine neben den Namen auch konfessionelle Zeichen beinhalten, auf jüdischen Grabsteinen der übliche abschließenden Segensspruch (»Seine/Ihre Seele sei eingebunden in das Bündel des Lebens!« 1 Sam 25,29) angebracht werde.57 Und schließlich sei noch der Wunsch der Familie zu berücksichtigen, sollte sich diese für die Bestattung auf einem jüdischen Friedhof entschließen.58 Auch wenn 1914 die jüdische Gemeinde in Wien zunächst dem Ansinnen der Stadt, einen gemeinsamen Heldenfriedhof für alle gefallenen Soldaten errichten zu wollen, prinzipiell zugestimmt hatte, so zeigt die weitere Entwicklung, dass viele Angehörige davon Abstand nahmen und die Beisetzung der Gefallenen innerhalb der jüdischen Abteilung am Zentralfriedhof bevorzugten. Darauf reagierte auch die Kultusgemeinde, denn es wurde nun ein eigenes Gräberfeld für die Kriegsopfer innerhalb der jüdischen Abteilung des Zentralfriedhofes reserviert, ohne zunächst jedoch genaue Vorgaben für die Gestaltung der Grabsteine im

55 Stern, Hermann: »Ein jüdisches Kriegerdenkmal«, in: ÖW, 8.1.1915, S. 24-25. 56 Noch im September 1914 wurde ein Antrag des Friedhofsamtes der IKG innerhalb der jüdischen Abteilung am Zentralfriedhof ein eigenes Gräberfeld für die Soldaten zu errichten mit Hinweis auf die Absichten des Magistrates abgelehnt. Vertretersitzung, 22.9.1914. Central Archive for the History of Jewish People (CAHJP), Archiv der IKG Wien, A/W 1477. 57 IKG Wien an Bürgermeister Weisskirchner, 13.9.1914. CAHJP, Archiv der IKG Wien. A/W 1477. 58 Protokoll der Vertreter-Sitzung, 15.9.1914. CAHJP, Archiv der IKG Wien, A/W 1477.

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Sinne der Gleichförmigkeit zu machen.59 Der Grund dafür dürfte letztlich darin gelegen haben, dass man sich zum einen nicht über die spezifischen jüdischen Beerdigungsvorschriften hinwegsetzen wollte und konnte. Zum anderen dürfte aber auch das Argument der Sichtbarkeit jüdischen Heldenmutes und der jüdischen Gefallenen eine erhebliche Rolle gespielt haben. Dementsprechend folgten auch zahlreiche weitere jüdische Gemeinden, wie beispielsweise Graz 60, dem Wiener Vorbild und errichteten auf ihren Friedhöfen eigene Heldenabteilungen/Heldenhaine.

Z USAMMENFASSUNG Die Errichtung von separaten jüdischen Heldenfriedhöfen während des Ersten Weltkrieges, die in den Nachkriegsjahren häufig auch Ausgangspunkte für die Errichtung jüdischer Heldendenkmäler waren, steht letztlich für die gesamte Ambivalenz jüdischer Heldenbilder und jüdischen Kriegsheldentums. Diese waren stets eingebettet in die allgemeinen Heldendiskurse ihrer Zeit und folgten derselben Sprache und derselben Logik der Aufopferung für das Vaterland, die Nation auf dem Schlachtfeld, wie die nichtjüdischen. Darüber hinaus waren sie jedoch fest verwurzelt in der jüdischen Geschichte und Religion und vor allem den spezifischen jüdischen Erwartungen des Emanzipationszeitalters nach gesellschaftlicher Gleichstellung und Anerkennung bei Beibehaltung jüdischer Differenz. Sie rekurrierten letztlich stets auf das seit der Emanzipation gültige Versprechen, wonach im Gegenzug für den Wehrdienst, die heldenhafte Bereitschaft des Einzelnen sich für das Vaterland zu opfern, der Staat, die Gesellschaft, eben diesem Einzelnen politische und gesellschaftlich Partizipation ebenso zusichert wie Schutz. Wie tief dieses Narrativ in den Köpfen und Herzen der jüdischen Soldaten und der jüdischen Bevölkerung verwurzelt war, zeigt sich exemplarisch an einer, in Variationen aber vielfach, erzählten Geschichten im Kontext von NSVerfolgung der Jüdinnen und Juden. Als Generalmajor Emil Sommer, der erste Bundesführer des Bundes jüdischer Frontsoldaten Österreichs und spätere Leiter

59 Vgl. CAHJP, Archiv der IKG Wien, A/W 1176. 60 Z.B. Graz: Protokoll der Vorstandsitzung der Chewra Kadischa Graz, 12.2.1915. Russisches staatliches Militärarchiv (RGWA), 709-1-7; Ehrung gefallener jüdischer Helden!, in: ÖW, 24.12.1915, S. 941.

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der Legitimistischen jüdischen Frontkämpfer61, im Zuge des Pogroms im März 1938 in Wien von jungen SA-Männern zu einer sogenannten »Reibpartie« auf die Straße gezerrt wurde, habe dieser die Schergen darum gebeten, noch kurz in seine Wohnung gehen und sich etwas Passendes anziehen zu dürfen. Nach kurzer Zeit sei er dann in voller Uniform mit all seinen Kriegsdekorationen erschienen, woraufhin die SA-Männer »beschämt« von ihm abgelassen hätten.62 Einer anderen zeitgenössischen Quelle folgend wurde er nicht freigelassen, sondern musste in seiner Uniform in einer nicht einsehbaren Seitengasse die Demütigungen über sich ergehen lassen63, wobei er selbst diese Begebenheit im Oktober 1946 überhaupt in Abrede stellte.64 Unabhängig davon, wie sich diese Begebenheit mit Emil Sommer im März 1938 nun genau zugetragen hat, so findet man die Geschichte, wonach ehemalige jüdische Frontsoldaten im Angesicht der nationalsozialistischen Verfolgung ihre Uniformen und Orden hervorholten und anlegten oder in Bitt- und Begnadigungsschreiben an die NS-Behörden ihren Kriegsdienst hervorhoben, in Deutschland und Österreich vielfach und in ganz unterschiedlichen Ausformungen. Allen gemein ist, dass sie auf ein lange Zeit gültiges Heldenbild und die damit verbundenen Wertvorstellungen verweisen. Dieses Heldenbild wurde jedoch von den Nationalsozialisten rassistisch überformt, womit jüdische Helden keinen Platz mehr in der Gemeinschaft der Helden der Nation haben konnten.

61 Vgl. dazu: Lamprecht, Gerald: »Die jüdischen Soldaten der österreichischungarischen Armee«, in: Jahrbuch für Mitteleuropäische Studien 2014/15, Wien: new academic press 2016, S. 73-96. 62 Vgl. u.a. Chaimowicz, Thomas: »›Lacht nicht, ich wasche Gottes Erde‹«. Als Jude und Legitimist im Wien von 1938, in: Thomas Chorherr (Hg.), 1938 – Anatomie eines Jahres, Wien: Ueberreuter 1987, S. 292-299, hier S. 293. 63 Vgl. Organized Nazi Terrorism Goes On Secretly in Vienna, in: New York Times, 23.5.1938, S. 1 u. S. 12, hier S. 12. 64 Vgl. Austrian General Disclaims Role In Jewish Street-Sweeping ›Epic‹, in: New York Times, 15.10.1946.

Zwischen Abwehr und Reifizierung (Post-)heroische (Selbst-)Zuschreibungen von Bundeswehr-Soldatinnen und Soldaten M ARION N ÄSER -L ATHER

B UNDESWEHRSOLDATINNEN UND - SOLDATEN ALS H ELDINNEN UND H ELDEN ? 1 Der Held als kulturelles Konstrukt ist, so führen Ralf von den Hoff et al. aus, »ein Fremd- und Selbstzuschreibungsphänomen, das sich in seiner kultur-, gruppen- und zeitspezifischen Prägung essentialistischen Bestimmungen entzieht«.2 1

Zwar stellt der militärische oder kriegerische Heroe historisch betrachtet ein fast ausschließlich männlich konnotiertes Konzept dar, sieht man von Erzählungen über eine Ausnahme darstellende kämpfende Frauen ab, wie die Amazone Penthesileia oder die afghanische Heerführerin Malalai (eine Übersicht gibt David Jones: Women Warriors – A History, Washington u.a.: Brassey 1997). Frauen, die militärische Gewalt ausübten, wurden lange Zeit als deviant stigmatisiert (vgl. z.B. Hacker, Hanna: Gewalt ist: keine Frau. Der Akteurin oder eine Geschichte der Transgressionen, Königstein/Taunus: Helmer 1998). Im Text verwende ich dennoch, wo angebracht, die männliche wie die weibliche Form des Terminus »Held«, da durch die Liberalisierung der Geschlechterverhältnisse in den letzten Jahrzehnten eine ganze Reihe kämpfender »Heldinnen« in den popkulturellen Diskurs eingewandert sind und auch angesichts der Tatsache, dass seit 2001 Frauen in allen Verwendungen der Bundeswehr Dienst tun können und daher die Selbst- wie Fremdkonzeptualisierung als »soldatische Heldinnen« theoretisch möglich geworden ist.

2

Von den Hoff, Ralf/Asch, Ronald G./Aurnhammer, Achim/Bahr, Carolin/Bröckling, Ulrich/Butter, Michael/Friedrich, Andreas/Gelz, Andreas/Korte, Barbara/Leonhard,

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Heroisierung lässt sich aus der Wechselwirkung zwischen Normen und Einstellungen einer Gemeinschaft und den Eigenschaften von »Held_innen« begreifen, die damit auch gesellschaftliche Bedürfnisse spiegeln. Neben der Außergewöhnlichkeit ihrer Taten ist, wie von den Hoff et al. weiter erläutern, ihre potentielle normative Transgressivität kennzeichnend für Held_innen, die sich daher »zwischen Irritation und Stabilisierung sozialer Ordnung« bewegen.3 Vor diesem Hintergrund soll die Frage erörtert werden, ob Soldatinnen und Soldaten, zu deren Kernaufgaben das Töten zählt, in der gegenwärtigen bundesdeutschen Gesellschaft beziehungsweise in der Bundeswehr selbst als Heldinnen und Helden definiert werden und ob sie sich selbst einen solchen Status zuschreiben. Michael Daxner beschreibt die diskursive Verbindung zwischen dem Soldaten, dem Krieger und dem Helden als langfristiges Motiv von Nationalismus, Patriotismus und der Legitimierung hegemonialer Politiken.4 Während Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten in der Vergangenheit vor allem als bewaffnete Entwicklungshelfer figuriert wurden, hat die Miteinbeziehung in den »war against terror«, die wachsende Relevanz von Gefechten und die damit verbundene Neuausrichtung das Bild des Soldaten als »archaischen Kämpfer« wiederaufleben lassen,5 den die Streitkräfte laut Generalmajor Hans-Otto Budde nunmehr wieder benötigten.6 Ist damit eine Korrektur des Helden-Konzeptes verbunden, materialisiert sich also dieses im Nachkriegsdeutschland negativ besetzte und in seiner Konstruktion fiktiv erscheinende Abstractum in konkreten (positiven) ZuJörn/Lethbridge,

Stefanie/Mommertz,

Monika/Neutatz,

Dietmar/Schlechtriemen,

Tobias/Schreier, Gero/Seedorf, Thomas: Das Heroische in der neueren kulturhistorischen Forschung: Ein kritischer Bericht, in: H-Soz-Kult, www.hsozkult.de/literaturereview/id/forschungsberichte-2216 vom 28.07.2015. 3

Von den Hoff, Ralf u.a.: Helden – Heroisierungen – Heroismen. Transformationen und Konjunkturen von der Antike bis zur Moderne. Konzeptionelle Ausgangspunkte des Sonderforschungsbereichs 948* 2013. DOI: 10.6094/helden.heroes.heros./201 3/01/03, 2013, hier S. 9f.

4

Daxner, Michael: »Heimatdiskurs – ein deutsches Problem?«, in: Michael Daxner/Hannah Neumann (Hg.), Heimatdiskurs. Wie die Auslandseinsätze der Bundeswehr Deutschland verändern, Bielefeld: transcript 2012, S. 15-68, hier S. 42, S. 47.

5

Kümmel, Gerhard: »Militärische Aufträge und die Legitimation der Streitkräfte«, in: Sven Gareis/Michael Klein (Hg.), Handbuch Militär und Sozialwissenschaft, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004, S. 111-118.

6

Generalleutnant Hans-Otto Budde, zitiert nach Winkel, Wolfgang: »Bundeswehr braucht archaische Kämpfer«, in: Welt am Sonntag vom 29.04.2004, http://www.wel t.de/print-wams/article107173/Bundeswehr-braucht-archaische-Kaempfer.html vom 04.10. 2017.

ZWISCHEN A BWEHR UND R EIFIZIERUNG

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schreibungen und Sinnkonstruktionen von und über Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten? Anhand einer Diskursanalyse 7 von Zeitungsartikeln, Einsatzerfahrungsberichten von Soldat_innen, (Rechts-)Dokumenten der Bundeswehr, Forendiskussionsaussagen, Youtube-Videos und 2017 geführten problemzentrierten Interviews8 mit sieben Soldaten und einer Soldatin möchte ich einige Schlaglichter auf die Verwendung des Begriffs »Heldin« beziehungsweise »Held« in der Sicht auf Soldatinnen und Soldaten werfen, und in einem nächsten Schritt nachzeichnen, wie das Konzept des Heldischen sich zur Organisationskultur der Bundeswehr verhält und wie es durch Soldatinnen und Soldaten selbst diskursiviert wird.

D AS DISKURSIVE U MFELD : V ON DER (U N )M ÖGLICHKEIT SOLDATISCHER H ELDEN IN DER BRD Im 19. und frühen 20. Jahrhundert wurden Kriegshelden in die Begründungszusammenhänge ideologisch-nationaler Diskurse eingebunden9. In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bildete ein mit dem Heroischen verknüpftes soldatisches Männlichkeitsideal die Basis der patriarchalisch-gesellschaftlichen Grundordnung.10 Auch in der Weimarer Zeit bestand nach dem traumatischen Ereignis des

7

Die Diskursanalyse erfolgt nach der Methode von Siegfried Jäger. Siehe Jäger, Siegfried: Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung. 5. Auflage, Münster: Unrast-Verlag 2009.

8

Die Interviews wurden angelehnt an Andreas Witzel konzipiert, siehe: Witzel, Andreas: »Das Problemzentrierte Interview«, in: Forum Qualitative Sozialforschung 1 (1) 2000, http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/1-00/1-00witzel-d.htm vom 04.10. 2017. Befragt wurden: Offizier Klaus Behrend (10.08.2017), Stabsoffizierin Melanie Fiedes (06.04.2017), Stabsoffizier Ernst Fröhlich (05.08.2017), General Walter Gotthelf (04.04.2017), Stabsoffizier Joachim Herzog (07.04.2017), Stabsoffizier Nico Rassmann (07.08.2017), Stabsoffizier Maximilian Schwirig (01.04.2017) und Offizier Ralf Wenger (02.04.2017). Die Namen der Interviewten sind anonymisiert. Aus Gründen der Anonymisierung ist bei den Interviewten auch nicht der genaue Dienstgrad, sondern nur die Dienstgradgruppe angegeben.

9

R. von den Hoff u.a.: Helden – Heroisierungen – Heroismen, S. 7.

10 Hausen, Karin: Geschlechtergeschichte als Gesellschaftsgeschichte. 2. Auflage, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013, hier S. 296.

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verlorenen Ersten Weltkrieges ein Bedürfnis nach heroischer Orientierung, das sich im Gefallenenkult manifestierte.11 In der BRD wurde jedoch die Erfahrung der beiden Weltkriege im Sinne einer radikalen Ablehnung der Mythisierung militärischer Erfolge diskursiviert. 12 Das Reeducation-Programm der Alliierten negativierte Militarismus und Heldenverehrung und bewirkte gemeinsam mit dem Trauma der Niederlage eine entsprechende Einstellungsänderung in großen Teilen der Bevölkerung. 13 Auslandseinsätze der Bundeswehr werden heute, trotz überwiegend positiver Einstellungen gegenüber den Streitkräften, unter anderem mit Blick auf die Verluste von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt.14 Die Anwendung letaler Gewalt durch deutsche Soldaten und Soldatinnen im Ausland – seit 2001 können auch Frauen als Kämpferinnen eingesetzt werden – wird mit Blick auf die deutsche Geschichte kontrovers diskutiert.15 Angehörige der deutschen Streitkräfte bewegen sich daher in ihren Einsätzen potentiell außerhalb der in Friedenszusammenhängen vorherrschenden Normen: Der Einsatz letaler Gewalt als Handlungsoption wird in der Zivilgesellschaft teilweise tabuisiert. Einige Soldatinnen und Sol-

11 Mosse, George L.: »Soldatenfriedhöfe und nationale Wiedergeburt«, in: Klaus Vondung (Hg.), Kriegserlebnis. Der erste Weltkrieg in der literarischen Gestaltung und symbolischen Deutung der Nationen, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1980, S. 241-261. 12 Wagner, Armin/Biehl, Heiko: »Bundeswehr und Gesellschaft«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 44 (2013), S. 23-30, hier S. 25. 13 Tent, James F.: Mission on the Rhine: Reeducation and Denazification in AmericanOccupied Germany. Chicago: University of Chicago Press 1982. 14 Biehl, Heiko u.a.: Sicherheits- und verteidigungspolitisches Meinungsklima in der Bundesrepublik Deutschland. Ergebnisse und Analysen der Bevölkerungsbefragung 2015, Potsdam: Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr 2015, http://www.mgfapotsdam.de/html/einsatzunterstuetzung/downloads/forsch ungsbericht112bevoelkerungsumfragesipo2015.pdf , hier S. 29-40, S. 80-88. 15 Siehe zum Beispiel die Leser_innenkommentare zum ZEIT-Artikel von Ludwig Greven: »Frieden schaffen mit Waffen«, in: Die ZEIT vom 19.06.2014, http://www.zeit.d e/politik/deutschland/2014-06/auslandseinsaetze-gauck-debatte/komplettansicht vom 04.10.2017. Nach der Klage von Tanja Kreil, die sich als 1996 bei der Bundeswehr als Waffenelektronikerin beworben hatte, wurde der Einsatz von Frauen in allen Verwendungen durch ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte möglich (siehe www.presseportal.de: Europäischer Gerichtshof: Dienst mit der Waffe auch für Frauen Artikel vom 11. Januar 2000).

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daten berichten nicht nur vom »freundlichen Desinteresse« (Horst Köhler16), sondern auch von Anfeindungen.17 Auch die Einstellungen gegenüber Veteraninnen und Veteranen sind ambivalent: Einerseits sehen Teile der Bevölkerung sie als moralisch fragwürdige Menschen, die selbst schuld an eventuellen Folgeschäden wie physischen Verletzungen oder einem posttraumatischen Belastungssyndrom sind,18 und nicht als tapfer-heroische Verteidigerinnen und Verteidiger der Heimat – letzteres fiele auch schwer, angesichts der Tatsache, dass die bisherigen Einsätze nicht der Landesverteidigung dienten, sondern Interventionen darstellten.19 Andererseits erleben Einsatzrückkehrer_innen auch Unterstützung und Anerkennung.20 Eine Studie von Thomas Bulmahn von 2012 zeigt jedoch, dass »Veteranen« vor allem mit negativen, pathologischen Eigenschaften assoziiert werden, als »traurig« und »verbittert« bezeichnet, bedauert und als psychologische Krüppel, »alte Männer«, oder »Möchtegern-Kriegsheld« gesehen werden.21 In der Sicht auf hier ausschließlich männlich imaginierte Rückkehrer dominiert der Opferdiskurs im Sinne von Hilflosigkeit und psychischen Defiziten und nicht im Sinne 16 Köhler, Horst: Rede von Bundespräsident Horst Köhler bei der Kommandeurtagung der Bundeswehr in Bonn, http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Ho rst-Koehler/Reden/2005/10/20051010_Rede.html vom 10.10.2005. 17 Informelle Gespräche mit Soldaten, 2007. Siehe auch Fröhlich, Christian: »Helden ohne Status: Ansehen der Bundeswehrsoldaten sinkt«, in Thüringer Allgemeine vom 12.07.2010, http://www.thueringer-allgemeine.de/web/zgt/politik/detail//specific/Held en-ohne-Status-Ansehen-der-Bundeswehrsoldaten-sinkt-1848454880; Mingels, Guido/Würger, Takis: »Ein Opfer, ein Held«, in: Der Spiegel vom 05.03.2012, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-84251210.html vom 04.10.2017. 18 Herzog, Laura Mae/Kobsda, Christian/Neumann, Hannah/Oehlaf, Anna: »Von friedlichen Aufbauhelfern und professionellen Kämpfern – Die Darstellung der deutschen Soldat_innen im Heimatdiskurs«, in: Michael Daxner/Hannah Neumann (Hg.), Heimatdiskurs. Wie die Auslandseinsätze der Bundeswehr Deutschland verändern, Bielefeld: transcript 2012, S. 137-166, hier S. 145f. 19 Vgl. Daxner, Michael/Mann, Robert C.: »Veteranen – eine neue soziale Gruppe«, in: Österreichische Militärische Zeitschrift 54 (2016), S. 624-633. 20 Informelle Gespräche mit Soldatinnen und Soldaten, 2017. So wurden die aus dem Einsatz Zurückkehrenden für ihren Mut und ihre Einsatzsbereitschaft gelobt, sowohl im sozialen Umfeld als auch von lokalen Politikern. 21 Bulmahn, Thomas: Wahrnehmung und Bewertung des Claims »Wir.Dienen.Deutschland«: Image der Bundeswehr sowie Haltungen zum Umgang mit Veteranen. Ergebnisse der Bevölkerungsumfrage 2012. Kurzbericht, Strausberg: Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr 2012, hier S. 39f.

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eines heldenhaften Opfers. Herfried Münkler hat in diesem Zusammenhang den Begriff der postheroischen Gesellschaft geprägt. In den westlichen Gesellschaften werden junge Menschen aufgrund des demografischen Wandels zu knappen Ressourcen. In der Folge der beiden Weltkriege würden zudem bis heute Opferbereitschaft und Ehrakkumulation als in die Irre weisende Modelle verworfen .22 Gleichzeitig finde eine Transformation des Heldenbegriffs statt, weg vom Militärischen hin zu den »Helden des Alltags«, die sich durch Zivilcourage auszeichnen.23 Die positive Rezeption popkultureller militärischer Held_innen, etwa in Computerspielen, Filmen und Fernsehserien ist dagegen ungebrochen. Aber nicht nur im Bereich der fiktionalen und popkulturellen Diskursivierung von Krieg, auch in der aktuellen gesellschaftlichen Wahrnehmung von Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten, die in Einsätzen kämpfen, lässt sich ein Diskursstrang der Heroisierung erkennen, der häufig mit nationalkonservativen Argumentationsfiguren verknüpft ist. Ein Beispiel ist das Youtube-Video: »Gefallene Helden – Bundeswehr ISAF Tribut« von »inFreiheitDienen«24: Zu pathetischer Musik werden Bilder und Namen der – durchweg männlichen – »Gefallenen« vor Fotos des Afghanistan-Einsatzes eingeblendet. Ein Zitat des Verteidigungsministers zu Guttenberg positiviert das Opfer der Soldaten, indem dieses als Konsequenz humanitärer Hilfe dargestellt wird. Die Kommentare sind kontrovers. Einige der Kommentierenden mystifizieren die Toten über die Identifikation mit sagenhaften Heldengestalten, so »Lexifer«: »Mögen sie in Frieden ruhen und am Tisch der Helden speisen!« und »Deutscher Schwur«: »All diese Helden stehen in einer langen Ahnenreihe deutscher Helden«. Auch »Faynox Schmidt« ruft nationalistische Topoi auf, indem er darauf verweist, dass die Soldaten »bis zum letzten Atemzug für Freiheit, Volk und Vaterland […] Kämpfen […] Für mich sind Soldaten Helden. Sie setzen ihr Leben für uns ein. […]. EHRE UND ANERKENNUNG DEM DEUTSCHEN SOLDATEN!«. Daneben stehen jedoch auch kritische Kommentare. Die Äußerung von »Ingo Bernhardt« beispielsweise lässt sich in den Diskursstrang der historisch motivierten Kritik einordnen: »Ein deutscher Soldat hat im Ausland nix zu suchen«. Auch andere Youtube-Filme heroisieren Bundeswehrsoldaten, so etwa das Video »Helden der Bundeswehr – Eh22 Münkler, Herfried: »Kein Platz für Helden?«, in: Zur Sache Bw, Evangelische Kommentare zu Fragen der Zeit. Sonderheft: Helden. Brauchen wir nicht mehr. Oder?, 29/1 (2016), S. 8-13, hier S. 10. Münkler, Herfried: »Heroische und postheroische Gesellschaften«, in: Merkur 61 (2007), S. 742-752, hier S. 749f. 23 Bohrer, Karl Heinz/Scheel, Kurt (Hg.): Heldengedenken. Über das heroische Phantasma, Stuttgart 2009, zitiert nach von den Hoff et al., Das Heroische. 24 InFreiheitDienen: Gefallene Helden – Bundeswehr ISAF Tribut (HD), https://www.yo utube.com/watch?v=L65qLm-OUNQ vom 26.09.2012.

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renkreuz der Bundeswehr für Tapferkeit« von »SchutzundHeimat«25, in dem die Ehrenkreuzträger und ihre herausragenden Leistungen genannt werden. Vor allem Tapferkeit angesichts größter Gefahr und im einsamen Kampf gegen einen »überlegenen Feind« werden als heroische Eigenschaften hervorgehoben. Die Antworten auf einen Thread auf gutefrage.net zum Thema »Sind Soldaten Mörder oder Helden?«26 offenbaren eine große Bandbreite von Meinungen. »Fussballqueen97« beschreibt Soldaten als »in gewisser Hinsicht Helden«, denen er_sie »Respekt« entgegenbringt, und beklagt die mangelnde Anerkennung für deren Leistungen. Auch den Aspekt des Opfers für »unser Land«, der die soldatischen Heldnen als Kämpfer für die nationale Gemeinschaft konfiguriert, führt »Fussballqueen97« an. Im Gegensatz dazu verweist »antontirol1« auf die im Falle von Soldaten nicht vorliegende heroische Tat: »Heldentum kommt von Leistung, die man sich verdienen muss. Deswegen ist ein Soldat noch lange kein Held, vor allem dann nicht, wenn er tötet.« Heldentum spricht »antontirol1« Soldaten nur zu, wenn sie Handlungen vollbringen, die auch zivile Helden auszeichnen: »Wenn es aber darum geht, Menschenleben zu schützen unter selbstlosem Einsatz seiner selbst, spricht man von einem Held.« Der Schutz von Leben ist somit das konstitutive Element der Heldendefinition von »antontirol1«. »onur90« verbindet, verantwortungsethisch argumentierend, die moralische Beurteilung des Tötens als eigentlich verwerflicher Handlung mit deren situativer Positivierung: »sie morden schlechte Leute und werden damit Helden«. »Entdeckung« schließlich formuliert: »Soldaten sind Menschen ... und alle Menschen haben die Fähigkeit Gutes aber auch Schlechtes zu tun.« Die meisten ThreadAntworten plädieren in ähnlicher Weise für eine differenzierte Sichtweise. Auch von den Medien wird der Terminus »Held« in Verbindung mit Bundeswehrsoldaten in unterschiedlicher Art und Weise interpretiert. Im Deutschlandfunk-Feature »Der Oberst betet. Die neuen Helden der Bundeswehr« wird der Held_innenbegriff eindeutig in Frage gestellt: Inkompetenz und Fehlentscheidungen innerhalb der Afghanistan-Mission werden thematisiert. Die in Teilen der Bundeswehr stattfindende Heroisierung von Oberst Klein, der 2009 in der Nähe von Kunduz Tanklaster bombardieren ließ und eine hohe Anzahl ziviler Opfer in Kauf nahm, wird scharf kritisiert.27 Im Artikel »Helden ohne Status« 25 SchutzUndHeimat: Helden der Bundeswehr – Ehrenkreuz der Bundeswehr für Tapferkeit, https://www.youtube.com/watch?v=RyMpEr-xbXE vom 17.07.2013. 26 Gutefrage.net: Sind Soldaten Mörder oder Helden?, http://www.gutefrage.net/frag e/sind-soldaten-moerder-oder-helden#answers von 2015, vom 12.03.2018. 27 Thörner, Marc: Der Oberst betet. Die neuen Helden der Bundeswehr, in: Deutschlandfunk vom 18.10.2011, http://www.deutschlandfunk.de/die-neuen-helden-der-bundesw ehr-pdf-dokument.media.24e8f695169980d2d50485be950be2ab.pdf vom 04.10.2017.

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der Thüringer Allgemeinen wird der Heldenbegriff in Bezug auf Soldaten in einer halbironischen Art und Weise gebraucht.28 Lediglich der Gastbeitrag der Schriftstellerin Thea Dorn aus der ZEIT »Nennen wir sie Helden« benutzt den Terminus affirmativ: »Der Beruf des Soldaten ist todernst. Wer in der Bundeswehr dient, entscheidet sich bewusst dafür, unsere Werte notfalls mit dem Leben zu verteidigen. Nur unsere Politiker erkennen das nicht an.«29 Es zeigt sich also in der bundesdeutschen Gesellschaft eine durchaus differenzierte Diskursivierung des Konnexes zwischen »Soldaten« und »Helden«. Wie stellt sich die Verhandlung des Heldenbegriffs binnenmilitärisch dar?

D IE V ERWENDUNG DES T ERMINUS »H ELD « UND SEINE R EFLEXION DURCH B UNDESWEHRSOLDATINNEN UND - SOLDATEN Ähnlich wie in der Zivilgesellschaft wird der Heldenbegriff von Soldaten unter anderem ironisch beziehungsweise spöttisch-abwertend verwendet für Menschen, die sich gerade nicht heldenhaft verhalten haben, so »Norman94«30 auf Bundeswehrforum.de: »Der Held ist in der OPZ [Operationszentrale] zusammengeklappt«.31 Teilweise klingt in der Ironisierung eine Reifizierung des Heldenkonzeptes an, beispielsweise, wenn Oberstleutnant Andreas TimmermannLevanas in seinen Einsatzmemoiren über einen jungen Offizier schreibt, der angibt, er habe acht Anschläge erlebt – allerdings hatte er sie nur von der Operationszentrale aus beobachtet: »Wow, was für ein Held«.32 Über den negativen Gebrauch wird das Wort »Held« jedoch gleichzeitig in den Diskursraum eingebracht und könnte indirekt denjenigen Soldat_innen zugesprochen werden, welche die Anschläge unmittelbar miterlebt haben.

28 C. Fröhlich: Helden ohne Status. 29 Dorn, Thea: »Nennen wir sie Helden«, in: Die ZEIT vom 20.11.2014, http://www.zei t.de/2014/46/beruf-soldat-bundeswehr vom 04.10.2017. 30 Dass es sich bei »Norman94« um einen Soldaten handelt, ergibt sich aus einigen seiner anderen Äußerungen auf dem Forum. So verhält es sich auch bei den anderen zitierten Usern des Forums. 31 www.bundeswehrforum.de, Thread: »HAMMELBURG – 1./oder 2./OABtl« Antwort #104 am: 26. März 2013, 17:39:15. 32 Timmermann-Levanas, Andreas/Richter, Andrea: Die reden – wir sterben: wie unsere Soldaten zu Opfern der deutschen Politik werden, Frankfurt am Main u.a.: CampusVerlag 2010, hier S. 38.

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Manche Soldaten lehnen die Heroisierung ihres Berufsstandes explizit ab. So äußert sich Hauptfeldwebel Daniel Seibert, dem für Tapferkeit in einem Gefecht das Ehrenkreuz der Bundeswehr verliehen wurde, positiv dazu, dass es keine Heldenkultur in der Bundeswehr gebe. Die wahren Helden seien die Familienangehörigen. Heldentum besteht für Seibert also im Ertragen widriger Umstände und nicht in militärischen Taten. Auch Oberst Jared Sembritzki, ebenfalls Träger des Ehrenkreuzes, äußert: »Der Begriff Held ist überhöht. Ich benutze dieses Wort nicht«.33 Offizier Ralf Wenger hält die Verwendung des Begriffes aufgrund des Sprachgebrauchs für obsolet: das Wort »Held« klinge in der deutschen Sprache lächerlich. Wenger bedauert dies jedoch in einer Anspielung auf die Diskursivierung der deutschen Historie: »für meine Generation sind sämtliche Begriffe wie ›Held‹ oder ›Ehre‹ miesgemacht worden«. In seiner Äußerung klingt eine Affirmation des Heldenbegriffs an. Von einigen Soldaten wird der Terminus »Held« auf Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten angewandt. Oberst Uwe Hartmann vertritt die Auffassung, »dass durch die Beteiligung der Bundeswehr an Krieg und Einsätzen der Soldat als Held unausweichlich als Phänomen auftaucht. Ohne Zweifel haben Soldaten heldenhaft in den Auslandseinsätzen gehandelt«.34 Der General Walter Gotthelf sieht konkrete Beispiele für heldenhaftes Handeln von Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten »im Kampfeinsatz in Afghanistan […]. Auch GenLt [Generalleutnant] Kneipp, der verwundet wird und sein Kommando nicht verlässt, ist so ein Beispiel. Aber auch die frühen Spezialkräfte in Bosnien im Rahmen der Festnahme eines Kriegsverbrechers, der dabei eine Handgranate zündete, auf die sich [ein] BW-Soldat als Schutz wirft. Vielleicht auch diejenigen, die durch Selbstmordattentäter den Tod erleiden mussten oder schwer verwundet heimkamen.« Pflichterfüllung trotz eigener physischer Beeinträchtigung, das Ertragen von Schmerz und das Selbstopfer sind damit Bestandteil von Gotthelfs Definition heldenhaften Handelns. Der Stabsoffizier Joachim Herzog nennt als Beispiele vor allem die Bereitschaft, anderen unter Inkaufnahme eigener Gefährdung zu helfen, so die Rettung von Kameraden und Zivilisten aus Lebensgefahr im Rahmen humanitärer Hilfe oder vor Aggressor_innen, die Menschenrechte verletzen oder andere unterdrücken. Diese Aussagen schreiben Bundeswehrsoldat_innen Eigenschaften zu, die klassischen Heldendefinitionen entsprechen. So nennt Philip Zimbardo als Kriterien für Heldinnen und Helden das Handeln »angesichts 33 Von Alten, Saara: Held nein, Vorbild ja?«, in: Zur Sache Bw. Sonderheft: Helden. Brauchen wir nicht mehr. Oder?, 29/1 (2016), S. 14-15, hier S. 15. 34 Hartmann, Uwe: »In Uniform als »Anti-Held«?« Über die hohen Anforderungen an Soldaten und die Rückkehr des Helden«, in: Zur Sache Bw. Sonderheft: Helden. Brauchen wir nicht mehr. Oder?, 29/1 (2016), S. 16-20, hier S. 20.

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einer Gefahr oder eines potenziellen Opfers« und zum Wohl eines oder mehrerer Menschen oder der Gesellschaft.35 Der Heldenbegriff wird von Soldaten aber auch im Hinblick auf seine potentiellen Auswirkungen diskutiert. Bundeswehrarzt Andreas Lison führt aus eigener Erfahrung aus, als Held gefeiert zu werden, könne kontraproduktiv sein und Soldaten an der Reintegration ins zivile Alltagsleben hindern: »Für uns hatte sich alles verändert, die Distanz zum Leben hier in Deutschland war riesig. Wenn man dann noch einem Heldenepos unterliegt, wird das regelrecht fixiert.«36 Aber auch unter pädagogischen Gesichtspunkten wird die bundeswehrinterne Verwendung des Terminus »Held« beziehungsweise »Heldin« kritisch reflektiert, etwa durch Stabsoffizier Maximilian Schwirig: »Dem Leser fällt beim genauen Studium auf, dass fast alle Helden auch charakterlich fragwürdige Wesen sind. […] Also verwehrt auch der Rückgriff auf die Geschichte Held_innen zu finden, die man als charakterlich integre Vorbilder ins Feld führen könnte.« Schwirig plädiert im Hinblick auf mögliche, aus dem Heldenbegriff resultierende problematische Verhaltensanreize dafür, dass in der Bundeswehr mit diesem Terminus »sehr vorsichtig und zurückhaltend« umgegangen werden sollte, denn: »Ausgeprägt gelebtes und memoriertes Heldentum erzeugt das Verlangen, auch heldenhaft zu handeln. Im Regelfall resultiert dies in einer größeren Anzahl von Gefallenen oder getöteten Zivilisten, weil man im Kampf heroisch sein möchte und damit mehr Gefahren auf sich nimmt als notwendig.« Das Heldenideal im Sinne des Sich-Beweisens im Kampf erscheint in Schwirigs Aussage als kontraproduktiv für die Auftragserfüllung und die Minimierung von Verlusten und damit professionellem soldatischen Handeln abträglich. Zudem halten einige Soldaten den Heldenbegriff für problematisch im Hinblick auf die Außenwirkung der Bundeswehr. General Gotthelf beklagt: »Die Nazis haben diesen Begriff missbraucht.« Daraus »ergibt sich, dass diese Begrifflichkeit auf die Soldaten_innen der BW eher zu vermeiden wäre. Besser ist, über ehrenhaftes, tapferes, aufopferungsvolles soldatisches Handeln zu sprechen«. Auch Stabsoffizierin Melanie Fiedes erklärt den Umgang der Organisation mit dem Begriff mit der Rücksichtnahme auf bundesdeutsche Vergangenheitsbewältigungsdiskurse: »Die Bundeswehr vermeidet den Heldenbegriff. Es erinnert zu stark an vergangenen Diktaturen, wie die DDR oder das Dritte Reich.« Ähnlich äußert Stabsoffizier Joachim Herzog die Befürchtung, die Ver35 Zimbardo, Philip: Der Luzifer-Effekt. Die Macht der Umstände und die Psychologie des Bösen, Heidelberg: Spektrum Akademie Verlag 2008, S. 428. 36 Würich, Sabine/Scheffer, Ulrike: Operation Heimkehr: Bundeswehrsoldaten über ihr Leben nach dem Auslandseinsatz, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2014, hier S. 82f.

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wendung des Terminus »Held« würde zu Assoziationen von Nationalismus und Rechtsradikalismus durch Außenstehende führen: »Ich halte es im derzeitigen politischen Klima in unserer Republik, wie auch global für unangemessen, den ›Helden‹ auszugraben und ihm neuen Glanz zu verleihen. Es wäre eine Initiative, die man typischerweise bei AfD oder CSU verorten würde. Konservative lieferten damit eine offene Flanke für Nazivergleiche durch die Linken und die ›AntiFa‹. Für die Bundeswehr gewonnen wäre gar nichts.« Daher bleibt die öffentliche Würdigung von Bundeswehrsoldaten als Helden aus, so Oberst Uwe Hartmann: »[D]ie Anerkennung soldatischen, insbesondere heldenhaften Handelns im Einsatz [wäre] nicht mit dem Selbstverständnis einer Zivilgesellschaft vereinbar«. Aufgrund der Beteiligung der Wehrmacht an Kriegsverbrechen habe bei der Konzeption der Inneren Führung, der Organisationsphilosophie der Bundeswehr, gegenüber dem Heldenkonzept eine tiefe Skepsis geherrscht. Die Armee sollte nicht zu einem Staat im Staate werden. 37 Damit bezieht sich Hartmann auf das Bemühen der Bundeswehr, Phänomene wie im militarisierten Kaiserreich und der Weimarer Zeit zu vermeiden, wo das Militär eine Sonderrolle als mächtige gesellschaftliche Kraft einnahm, und gleichzeitig den Missbrauch der Streitkräfte durch die Politik zu verhindern, wie er im Nationalsozialismus auftrat. In der Zentralen Dienstvorschrift A-2600/1 »Innere Führung, Selbstverständnis und Führungskultur« der Bundeswehr wird aus diesen historischen Erfahrungen ein notwendiger »Neuanfang in den Streitkräften« abgeleitet.38 Dass die Gefahr eines elitären Bewusstseins im Kontext der Identifikation mit »heldischen« Tugenden durchaus gegeben ist, werde ich noch darstellen. In Bezug auf die heutige Situation plädiert Hartmann allerdings für eine Debatte, »inwieweit ›Helden in Uniform‹ besondere Formen der Anerkennung erfordern«.39 Wie geht die Bundeswehr als Institution nun mit dem Heldenkonzept um?

37 U. Hartmann: In Uniform als »Anti-Held«?, S. 17, S. 18f. 38 Bundesministerium der Verteidigung (Hg.): A-2600/1 Zentrale Dienstvorschrift Innere Führung, Selbstverständnis und Führungskultur, Bonn: Bundesministerium der Verteidigung 2008, hier Abschnitt 2/203. 39 U. Hartmann: In Uniform als »Anti-Held«?, S. 20.

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D IE ZWIESPÄLTIGE B EZIEHUNG DER B UNDESWEHR ZU »H ELDEN « Die Bundeswehr oszilliert zwischen Abwehr und Reifizierung des Heldenbegriffs. Auf der einen Seite versucht die Institution, das mit dem militärischen Heldentum verbundene Bild des Kriegers, dem die Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Elite zugeschrieben wird und für den eigene Werte und Normen gelten, zu konterkarieren. In der Zentralen Dienstvorschrift A-2600/1 »Innere Führung« wird betont, die Soldatinnen und Soldaten sollten sich als »Staatsbürger in Uniform« verstehen.40 Für Nachwuchs im Sanitätsbereich wird mit dem Slogan geworben »Wir suchen keine Götter in weiß. Wir suchen Helden in grün«. Gemeint sind Ärzte und Pflegepersonal.41 Die heldische Tat wird hier auf das Retten von Leben bezogen, eine gewollt unproblematische, »zivile« Verwendung des Begriffs. Andererseits werden soldatische Leistungen ausgezeichnet, die der klassischen Definition des militärischen Helden entsprechen. Das 2008 durch den damaligen Verteidigungsminister Franz Josef Jung eingeführte Ehrenkreuz für Tapferkeit hebt besonders tapferes Verhalten einzelner Soldatinnen und Soldaten hervor. In der offiziellen Beschreibung des Ehrenkreuzes auf der BundeswehrHomepage heißt es: »In den komplexen Gefechten wurde ihnen ein Maß an Tapferkeit abverlangt, das über das ›herkömmliche‹ hinausgeht, das jeder Soldat gelobt oder schwört. Diese herausragenden Leistungen galt und gilt es zu würdigen.«42 Zu Kameraden, die sich heldenhaft verhalten, wird laut Offizier Klaus Behrend durchaus aufgeschaut. Auch berühmte »Kriegshelden« der Vergangenheit wie der Kampfflieger Manfred von Richthofen werden heutzutage noch in der Luftwaffe verehrt, wie Stabsoffizier Schwirig berichtet. Auf Ansätze von Heldenverehrung innerhalb der Truppe verweisen auch die sich momentan ausdifferenzierenden Binnendistinktionen, die einsatzerfahrenen Soldatinnen und Soldaten einen höheren Status als einsatzunerfahrenen zuschreiben. Einsätze sind in

40 Bundesministerium der Verteidigung: A-2600/1, Abschnitt 1/105. 41 Presseportal (2016): Bundeswehr sucht statt Göttern in Weiß Helden in Grün: 300 Ärztinnen und Ärzte und 460 Pflegekräfte werden eingestellt, http://www.presseporta l.de/pm/116137/3444210 vom 30.09.2016. 42 Müller, Andreas: »Würdigung außergewöhnlicher Taten: Das Ehrenkreuz für Tapferkeit«, in: Bundeswehr.Wir.Dienen.Deutschland [offizielle Homepage der Bundeswehr] vom 21.04.2015, www.bundeswehr.de/portal/a/bwde/start/multimedia/bilderga lerien/auszeichnungen vom 04.10.2017.

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den letzten Jahren zunehmend zu einem Übergangsritus geworden.43 Der Offizier Hendrik Müller führt aus, dass die »Wahrnehmung von Vorgesetzten, gerade eines Offiziers durch seine Untergebenen, [...] maßgeblich davon beeinflusst [wird], ob man bereits im Auslandseinsatz gewesen ist, und noch viel wichtiger, sich dort unter den täglich vorherrschenden Bedingungen bewährt hat.« 44 Unterschieden wird intern zwischen denjenigen, die nur im Feldlager eingesetzt waren (»Drinnies«), denjenigen, die sich auch außerhalb der Lager bewegt haben (»Draußies«), und gefechtserfahrenen Soldatinnen und Soldaten (»Combat Veterans«) als den inoffiziell statushöchsten Einsatzrückkehrerinnen und -rückkehrern.45 Oberst Jared Sembritzki äußert: »Es fällt schon auf, dass man von anderen Soldaten anders wahrgenommen wird, nachdem man an einem Kampfeinsatz beteiligt war«.46 Die Tabuisierung von Themen wie Gefahr, Angst und Töten zwischen Einsatzunerfahrenen und Einsatzveteranen 47 könnte so zu einer Mystifizierung und letztlich Heroisierung beitragen. Die Suche nach Helden und deren Verehrung innerhalb der Bundeswehr ist zudem, so mein Interviewpartner Klaus Behrend, mit der momentanen Identitätskrise der Bundeswehr verbunden, die im Zuge der medialen und politischen Aufarbeitung problematischer Traditionsbezüge zur Wehrmacht, rechtsextremen Tendenzen und sexistischen Ritualen48 eine interne Wertediskussion angestoßen 43 Tomforde, Maren: »Neue Militärkultur(en). Wie verändert sich die Bundeswehr durch die Auslandseinsätze«, in: Apelt, Maja (Hg.): Forschungsthema: Militär. Militärische Organisationen im Spannungsfeld von Krieg, Gesellschaft und soldatischen Subjekten, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010, S. 193-220. 44 Müller, Hendrik: »Der erste Einsatz oder ›Was lange währt…‹«, in: Marcel Bohnert/Lukas J. Reitstetter (Hg.): Armee im Aufbruch. Zur Gedankenwelt junger Offiziere in den Kampftruppen der Bundeswehr, Berlin: Miles-Verlag, S. 21-27, hier S. 24. 45 Informelle Gespräche mit Soldat_innen 2009, 2016; vgl. auch Seiffert, Anja: »›Generation Einsatz‹ – Einsatzrealitäten, Selbstverständnis und Organisation«, in: Anja Seiffert/Phil C. Langer/Carsten Pietsch (Hg.): Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Sozial- und politikwissenschaftliche Perspektiven, Wiesbaden: Springer VS 2011, S. 79-100, hier S. 85; Seiffert, Anja: »Generation Einsatz«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 44 (2013), S. 11-16, hier S. 14. 46 S. von Alten: Held nein, Vorbild Ja, S. 15. 47 Informelle Gespräche mit Soldat_innen, 2016; vgl. auch A. Seiffert: Generation Einsatz, S. 95. 48 Siehe zum Beispiel den ZEIT-Artikel »Hitlergruß und fliegende Schweineköpfe« vom 17.08.2017, http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-08/ksk-eliteeinheit-b undeswehr-hitlergruss-rechtsrock-ermittlungen vom 04.10.2017.

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hat. Die als »Säuberungsaktion« empfundenen Maßnahmen von Verteidigungsministerin von der Leyen, alle Symbole mit Wehrmachtsbezügen aus der Truppe zu entfernen, haben eine interne Distanzierung vieler Soldatinnen und Soldaten von der Führung bewirkt.49 In diesem Zusammenhang würden auch jene Soldaten verehrt, die sich gegen die Führung positionieren, wie beispielsweise der pensionierte General Trull, dessen Abschiedsrede, wie Behrend erzählt, von Soldatinnen und Soldaten momentan vielfach auf Facebook geteilt wird 50 und der ihnen als Verfechter soldatischer Werte gilt. Dieses Beispiel entspricht einer Definition heldenhaften Handelns, derzufolge sich Heldinnen und Helden unter anderem auch »durch Nonkonformismus, passive oder aktive Resistenz« auszeichnen.51 Auch Verwundete werden von anderen Soldaten als Helden gesehen. Entgegen der Auffassung Jan-Philipp Reemtsmas, »Held wird man – kulturübergreifend – nur durch eine Tat, nicht durch ein Erleiden«52 führt Dietmar Voss aus, dass gerade in der Figur des »defekten Helden« Spannungen zwischen »Heldensehnsucht, Heldenenttäuschung und Heldenverdammnis« verhandelt würden,53 die nach von den Hoff et al. dann auftreten, »wenn traditionelle Heldenentwürfe brüchig werden«54. Dies trifft für die geschilderten Ambivalenzen des bundesdeutschen »Heldendiskurses« zu. Soldat »Dani90« kommentiert auf bundeswehrforum.de die Meldung, dass ein schwer verwundeter Soldat einen Preis erhält: »Der Kamerad ist für mich ein Held und ein absolutes Vorbild! So kraftvoll, so mutig und so optimistisch mit dem Erlebten und dem Erlittenen umzugehen... Dafür habe ich allerhöchsten Respekt!«.55 Das Heldentum des Verwundeten besteht in den Augen von »Dani90« nicht in einer militärischen Leistung,

49 Informelle Gespräche mit Fallschirmjägern in Stadtallendorf, 06.07.2017. 50 Verherrlicht wird diese Rede beispielsweise im Youtube-Video »German Military – Kriegerethos – General Trull« von »German Military Power« vom 05.05.2016, http s://www.youtube.com/watch?v=-T6E_1JCX5A vom 04.10.2017. 51 R. von den Hoff et al.: Das Heroische. 52 Reemtsma, Jan Philipp: »Der Held, das Ich und das Wir«, in: Eurozine, http://www.eu rozine.com/articles/2009-09-08-reemtsma-de.html vom 08.09.2009. 53 Voss, Dietmar: »Heldenkonstruktionen. Zur modernen Entwicklungstypologie des Heroischen«, in: KulturPoetik/Journal for Cultural Poetics 11 (2011), S. 181-202, hier S. 181., zitiert nach R. von den Hoff et al: Das Heroische. 54 R. von den Hoff et al: Das Heroische. 55 www.bundeswehrforum.de, Thread: »BAMBI Verleihung 2011: Schwer verwundeter Kamerad erhält BAMBI Sonderpreis«, Antwort #11 am: 15. November 2011, 00:42:45.

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sondern in einer Tapferkeit, die sich im Umgang mit der eigenen Verletzung zeigt. Unter anderem die nachgezeichneten Diskurse tragen dazu bei, dass sich die Intstitution Bundeswehr kritischer als zuvor mit der Gefährdung der Soldatinnen und Soldaten in Einsätzen auseinandersetzt. Dem Soziologen Ulrich Bröckling zufolge ist dieses Bestreben mit der »Abkehr vom Ideal militärischen Heldentum« verbunden.56 Dies wird von den von mir befragten Soldatinnen und Soldaten bestätigt und im Hinblick auf die Auftragserfüllung kritisch bewertet. So äußert Joachim Herzog: »Moderne Einsatzszenarien verlangen von ihren Kommandeuren vorrangig, dass keine eigenen Kräfte zu Schaden kommen. Eigenschutz hat Vorrang, sogar vor der Erfüllung des Auftrags beziehungsweise eines Mandates. Soldaten verwandeln sich zunehmend zu Verteidigungsbeamten mit einer sicheren Lebensplanung und Gleitzeit. […] Das lässt wenig Platz für Helden.« Ähnlich führt Maximilian Schwirig aus: »Im normalen Alltag der Bundeswehr, auch in den Einsätzen, verhindern die umfassenden Sicherheitsbestimmungen heldenhaftes Handeln […]. Allerhöchstens im Gefecht bzw. Kampf könnte sich Heldenhaftes zeigen.«

D IE V ERPFLICHTUNG ZUM H ELDENTUM : MILITÄRISCHE T UGENDEN ALS V ERHALTENSERWARTUNG In einem diskursiven Gegensatz zur dieser Fixierung auf die Sicherheit der Soldatinnen und Soldaten im Einsatz in Form von Maßnahmen und Bestimmungen, die geeignet sind, »heldenhaftes« Verhalten zu erschweren, steht die Tatsache, dass zentralen Dokumenten der Bundeswehr geradezu eine Verpflichtung zum militärischen Heldentum eingeschrieben zu sein scheint. Im Soldatengesetz ist in Paragraf Sieben die »Pflicht« verankert, »der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen.«57 Diese Verpflichtung ist Teil des feierlichen Eides, den jede Soldatin

56 Bröckling, Ulrich: »Maschinen handeln nicht im Heldenmodus«, in: Zur Sache Bw. Sonderheft: Helden. Brauchen wir nicht mehr. Oder?, 29/1 (2016), S. 21-25, hier S. 25. 57 Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (Hg.): Soldatengesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 30. Mai 2005 (BGBl. I S. 1482), das durch Artikel 8 des Gesetzes vom 5. Januar 2017 (BGBl. I S. 17) geändert worden ist, http://www.g esetze-im-internet.de/sg/ vom 04.10.2017.

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und jeder Soldat ablegen muss.58 Treue und Tapferkeit zählen zu den zentralen Verhaltensnormen für beziehungsweise von Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten. In Paragraf 12 des Soldatengesetzes heißt es, die Kameradschaft »verpflichtet alle Soldaten […] [Kameraden beziehungsweise Kameradinnen] in Not und Gefahr beizustehen.«59 Auch in der ZDv A-2600/1 wird Bezug genommen auf »heldische« Tugenden: Abschnitt 1/106 legt fest, dass Soldatinnen und Soldaten »für Menschenwürde, Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit, Gleichheit, Solidarität und Demokratie als den leitenden Werten unseres Staates aktiv eintreten« sollen. In 1/105 wird der Kern des Berufes von Soldatinnen und Soldaten beschrieben: »Ihr militärischer Dienst schließt den Einsatz der eigenen Gesundheit und des eigenen Lebens mit ein und verlangt in letzter Konsequenz, im Kampf auch zu töten.«60 Die aufgeführten Tugenden sowie die Bereitschaft, das eigene Leben im Kampf für abstrakte Werte zu opfern, sind wesentlicher Bestandteil klassischer Heldendefinitionen. Nach Jan Philipp Reemtsma repräsentieren Helden »Tugenden, die Allgemeingültigkeit beanspruchen«.61 Philip Zimbardo führt, wie bereits zitiert, als Kriterium für eine Heldentat deren Ausführung »angesichts einer Gefahr oder eines potenziellen Opfers« zum Wohl eines oder mehrerer Menschen oder der Gesellschaft an.62 In der Anlage zur Zentralen Dienstvorschrift A-2600/1 »Richtlinien zum Traditionsverständnis und zur Traditionspflege in der Bundeswehr« werden als »Einstellungen und Verhaltensweisen« auf die »besonderer Wert gelegt werden« solle, auch die »Orientierung nicht allein am Erfolg […], sondern auch am Leiden der Verfolgten und Gedemütigten« aufgeführt.63 Der Einsatz für die Schwachen unter Zuhilfenahme von Gewalt ist ein klassischer Topos von Erzählungen um Heldinnen und Helden von Jeanne d’Arc und Robin Hood bis hin zu den »glorreichen Sieben«, Batman und Xena, der Kriegerprinzessin. Auch die von Soldatinnen und Soldaten verlangten Verhaltensweisen und Persönlichkeitseigenschaften können mit Heldentum in Verbindung gebracht werden: In Abschnitt 5/506 der Zentralen Dienstvorschrift A-2600/1 ist die Rede 58 Siehe beispielsweise das Video der Vereidigung der Fallschirmjäger-Rekruten am 22.02.2017 in Zweibrücken, https://www.youtube.com/watch?v=TSwrmTHbQ04, Minute 20:00-20:40. 59 Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (Hg.): Soldatengesetz. 60 Bundesministerium der Verteidigung: A-2600/1, Abschnitt 1/105-1/106. 61 J.P. Reemtsma: Der Held. 62 P. Zimbardo: Der Luzifer-Effekt, S. 428. 63 Bundesministerium der Verteidigung: A-2600/1, »Richtlinien zum Traditionsverständnis und zur Traditionspflege in der Bundeswehr«, Abschnitt II: Zielsetzungen.

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von »ehrenhaftem Verhalten«. In 5/507 ist ein »soldatischer Wertekanon« aufgeführt, der von den Soldatinnen und Soldaten unter anderem verlangt, »tapfer, treu und gewissenhaft, kameradschaftlich und fürsorglich […], wahrhaftig« und »gerecht« zu sein.64 Oberst Uwe Hartmann zieht eine direkte Verbindung von Tapferkeit und Zivilcourage als Bestandteile des soldatischen Leitbildes zum Heldischen: »Die Innere Führung ist keine Führungsphilosophie zur Erziehung von Anti-Helden. Ihr Aushängeschild ist das Leitbild eines Soldaten, der Kampf und heldenhaftes Handeln […] als Teil seiner umfassenden Verantwortung versteht.«65 Die Norm »heldischen« Handelns wird zudem durch das binnenkulturell wirksame Dispositiv der Stärke unterstützt.66 Dieses tritt in der Steigerung der Körperkraft als Ausbildungsziel zutage, in den gebrüllten Kommandos, dem Marschieren im Gleichklang und der Ausübung militärischer Gewalt. Der semantische Kernbereich des Soldatischen, der »Kämpfer«, ist untrennbar mit der Idee der physischen wie psychischen Stärke verbunden67, eines weiteren Definitionsmerkmals fiktionaler wie nonfiktionaler kriegerischer Helden, aber auch Heldinnen. Die organisationskulturellen Normierungen wirken sich, dem Soziologen Ulrich vom Hagen zufolge, auch auf das Verhalten der Soldat_innen aus.68 Die semantische Verbindung der in zentrale Vorschriften der Bundeswehr eingeschriebenen Tugenden zum Held_innenkonzept erweist sich anhand der Aussagen der befragten Soldatinnen und Soldaten. Melanie Fiedes ist der Überzeugung, Soldatinnen und Soldaten seien immer Helden, denn: »Soldaten und Soldatinnen sind dazu bereit, Ihr Leben für andere zu geben […]. Soldatinnen und Soldaten sind Helden, weil sie sich für den Frieden einsetzen und dabei Ihre Familie zurücklassen, selbst wenn sie bei einem Einsatz getötet werden könnten.« Ralf Wenger, Stabs64 Bundesministerium der Verteidigung: A-2600/1, Abschnitt 5/506-5/507. 65 U. Hartmann: In Uniform als »Anti-Held«?, S. 20. 66 Als Dispositiv bezeichnet Michel Foucault »ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architektonische Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfasst.« (Michel Foucault: Ein Spiel um die Psychoanalyse, in: Ders.: Dispositive der Macht, Berlin: Merve 1978, S. 118-175, hier S. 119f.). 67 Vgl. Näser-Lather, Marion: Bundeswehrfamilien. Die Perzeption von Elternschaft und die Vereinbarkeit von Familie und Soldatenberuf, Baden Baden: Nomos 2011, hier S. 114. 68 vom Hagen, Ulrich: »Homo militaris – Gestalt institutionalisierter Gewalt«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 44 (2013), S. 42-47, hier S. 45f.

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offizier Ernst Fröhlich und General Walter Gotthilf nennen als Merkmal von Helden das Einstehen für andere, ohne Rücksicht auf Gefahr für das eigene Leben. Joachim Herzog definiert Held als »eine Person, die höhere Werte, wie das Gemeinwohl, den Schutz der Schwachen, die treue Pflichterfüllung, Gerechtigkeit, das Göttliche höherstellt als persönliche Belange und sich für deren Umsetzung im wirklichen Leben bis zum äußersten einsetzt. Persönliche Schwächen, wie zum Beispiel Angst überwindet der Held dabei und lässt sich durch sie nicht aufhalten.« Nico Rassmann nennt als notwendige Eigenschaften von Heldinnen und Helden: »Mut, Ideale, Opferbereitschaft und Integrität«.

S ELBSTZUSCHREIBUNGEN : E LITE VERSUS G LEICHHEIT ALS M OMENTE DES »H ELDISCHEN « Die von den Soldatinnen und Soldaten verlangten Tugenden werden in der Zentralen Dienstvorschrift A-2600/1 gleichzeitig als Eigenschaften geschildert, die Soldatinnen und Soldaten aus der Masse herausheben – in Übereinstimmung mit Definitionen des Helden, die das Außeralltägliche seiner Persönlichkeitseigenschaften und Taten betonen.69 In Abschnitt 1/105 der Zentralen Dienstvorschrift A-2600/1 heißt es: »Der Dienst in der Bundeswehr stellt deshalb hohe Anforderungen an die Persönlichkeit«.70 Oberst Uwe Hartmann spricht im Zusammenhang mit der soldatischen Pflicht zur Tapferkeit von Ansprüchen, »die weit über die Erwartungen an Staatsbürger ohne Uniform hinausgingen.«71 Die Übernahme der organisationskulturellen Verhaltenserwartungen, die gleichzeitig als Eigenschaften von Helden gelten können, geht daher bei einigen Soldaten mit einem elitären Bewusstsein einher. So sieht der Offizier Florian Otter die soldatischen Tugenden – Wahrhaftigkeit, Treue, Mut, Pflichtbewusstsein, Bescheidenheit und Leiden, ohne zu klagen – in Opposition zum zivilen gesellschaftlichen Umfeld, das durch Egoismus, Konsumlust und Pazifismus geprägt sei. Otter betrachtet Soldaten zudem als »Hüter der Souveränität des Volkes«,72 schreibt ihnen also eine herausgeho-

69 Giesen, Bernhard: Zwischenlagen. Das Außerordentliche als Grund der sozialen Wirklichkeit, Weilerswist: Velbrück 2010, hier S. 67ff. Zitiert nach R. von den Hoff et al.: Das Heroische; J. P. Reemtsma: Der Held. 70 Bundesministerium der Verteidigung: A-2600/1, Abschnitt 1/105. 71 U. Hartmann: In Uniform als »Anti-Held«?, S. 18. 72 Florian Otter: Wie dienen? Preußische Tugenden im 21. Jahrhundert, in: Marcel Bohnert/Lukas J. Reitstetter (Hg.): Armee im Aufbruch. Zur Gedankenwelt junger Offi-

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bene gesellschaftliche Rolle zu. Ähnlich spricht Offizier Jan-Philipp Birkhoff von der Bundeswehr als »einer parallelen Gesellschaft mit ihren eigenen Werten und Normen«,73 die er ebenso wie Otter der Zivilgesellschaft als positives Vorbild gegenüberstellt: »Zur postheroischen Gesellschaft gehören Defätisten, radikale Hedonisten und arrogante Selbstdarsteller«.74 Einer Fremd- wie Selbstzuschreibung von Heldentum aufgrund der Übereinstimmung organisationsinterner Normen mit Heldendefinitionen steht entgegen, dass die betreffenden Verhaltensweisen eine Dienstpflicht aller Soldatinnen und Soldaten darstellen, dass sich also diejenigen, die sie erfüllen, theoretisch nicht vor ihren Kameradinnen und Kameraden auszeichnen – obgleich dies faktisch der Fall ist. Nach Philip Zimbardos Definition muss Heldentum »freiwillig ausgeübt werden«75 und nicht aus Pflichterfüllung. Doch bei manchen Soldatinnen und Soldaten ist auch die Einstellung auszumachen, dass die Erfüllung soldatischer Pflichten und Tugenden kein individuelles Alleinstellungsmerkmal ist, das Auszeichnung verdient. Sie lässt sich als ein Diskursstrang deuten, der einem elitären Bewusstsein soldatischer Pflichterfüllung entgegen steht. Die Bundeswehr beinhaltet neben dem Dispositiv der Stärke das Dispositiv des Gleichheitsgrundsatzes. Dieses impliziert, dass alle Soldat_innen sich uniform kleiden müssen, die gleiche Ausrüstung besitzen, die gleichen Rechte und gleichen Pflichten haben und das Gleiche erdulden müssen.76 Dieser Gleichheitsgrundsatz scheint auf, wenn Ernst Fröhlich beklagt, dass als Heldinnen und Helden innerhalb der Bundeswehr nur diejenigen angesehen ziere in den Kampftruppen der Bundeswehr, Berlin: Miles-Verlag, S 53-62, hier S. 57f., S. 62. 73 Birkhoff, Jan-Philipp: Führen trotz Auftrag. Zur Rolle des militärischen Führers in der postheroischen Gesellschaft, in: M.Bohnert/L.J. Reitstetter (Hg.): Armee im Aufbruch, S. 105-128, hier S. 109. 74 Ebd., S. 119. 75 P. Zimbardo: Der Luzifer-Effekt, S. 428. 76 In meiner Dissertation zu Soldatenfamilien in der Bundeswehr habe ich drei Dispositive – Stärke, Pflicht und Gleichheitsgrundsatz – hergeleitet, die Teil der Organisationskultur der Bundeswehr sind: sie stellen jeweils Ensembles aus Diskursen, verkörperlichten Normen und Materialitäten dar und erzeugen Verhalten. Zudem reagieren sie auf Bedürfnisse der Organisation. Dispositive verstehe ich somit in diesem Kontext als Assemblagen von materiellen wie nichtmateriellen, diskursiven wie nichtdiskursiven Elementen, die aus den Erfordernissen des übergeordneten Dispositivs »soldatischen Handelns« emergieren, von menschlichen wie nichtmenschlichen Aktanten innerhalb der Bundeswehr mitgetragen werden und Einstellungen sowie Handlungen hervorbringen. Vgl. u.a. M. Näser-Lather: Bundeswehrfamilien, S. 131f.

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würden, die im Einsatz im Gefecht waren oder verwundet wurden; sie würden als »besser« und »wichtiger« als die anderen Soldatinnen und Soldaten gesehen und intern »herausgestellt«. Das findet er falsch: »alle Menschen sind gleich«. Auch Offizier Klaus Behrend äußert in Übereinstimmung mit dem Gleichheitsgrundsatz, sich selbst als Held zu bezeichnen, würde wegen der organisationskulturellen Vorgaben, sich selbst nicht in den Vordergrund zu stellen, niemandem einfallen. Die Bereitschaft, sich selbst als herausgehoben wahrzunehmen, ist bei den Soldatinnen und Soldaten sehr unterschiedlich ausgeprägt. Einige schildern ihr Handeln als kontingentes Ereignis oder als Teamleistung. In der Beschreibung einer erlebten Gefechtssituation durch Hauptfeldwebel Daniel Seibert klingt der Gleichheitsgrundsatz an: »Jeder der Soldaten hat in diesem Gefecht Außerordentliches geleistet und es mindestens genauso verdient, diesen Orden zu bekommen.«77 Auch Hauptfeldwebel Oliver Pordzik, dem aufgrund tapferen Verhaltens im so bezeichneten »Karfreitagsgefecht« (2010, Kunduz) das Ehrenkreuz verliehen wurde, sieht sich nicht als Helden: »Wir hatten Glück«, sagt er78. Ähnlich berichtet Oberstleutnant Andreas Timmermann-Levanas über eine Gefechtssituation, dass das Überleben dem Glück und der Leistung seines Teams geschuldet sei, »weil alle da draußen richtig reagiert haben«.79 Andere jedoch inszenieren sich selbst als Helden. Der AfghanistanEinsatzbericht des Stabsunteroffiziers Achim Wohlgethan präsentiert sich als klassische Heldenerzählung. Wohlgethan betont in zahlreichen Passagen die eigene »Selbstwirksamkeit«80 und Kompetenz. Beispielsweise verhinderte er, dass Bewaffnete ein Hotel betreten, bis Verstärkung kam. In der Zwischenzeit wurde er von ihnen verprügelt. Um die Situation zu deeskalieren, schenkte er den Angreifern Zigaretten und unterdrückte seine Rachegefühle. Auch den Topos des unverstandenen Helden bedient Wohlgethan, indem er wiederholt schildert, dass Vorgesetzte, die er als unfähig und weltfremd darstellt, ihn wegen seiner beherzten und gleichzeitig besonnenen Aktionen tadelten, was er stoisch ertrug. 81

77 S. von Alten: Held nein, Vorbild ja?, S. 14. 78 M. Kormbaki: Die Ehre des Soldaten Pordzik. 79 A. Timmermann-Levanas/A. Richter: Die reden – wir sterben, S. 36. 80 Angelehnt an die kognitionspsychologische Theorie von Albert Bandura verstehe ich unter Selbstwirksamkeit die Überzeugung einer Person, auch schwierige Situationen und Herausforderungen aus eigener Kraft erfolgreich bewältigen zu können (vgl. Bandura, Albert: Self-efficacy: Toward a unifying theory of behavioral change, in: Psychological Review 84 (2012), S. 191-215). 81 Ebd., S. 106f.

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Viele Einsatzheimkehrer_innen wollen indes keine Heldenverehrung, sondern vor allem Anerkennung82 »für die Tätigkeit jedes einzelnen Soldaten, die schließlich auch ihr Leben riskieren«83, wie es Hauptfeldwebel Daniel Seibert formuliert. Ähnlich fordert Bundeswehrarzt Andreas Lison, die Arbeit der Soldaten sollte von der Gesellschaft gewürdigt werden: »Da geht es nicht um Heldentum, sondern um Anteilnahme«84. Zahlreiche Soldatinnen und Soldaten bedauern, dass die Gesellschaft diese Anerkennung nicht im hinreichenden Ausmaße gewähre. So beklagt mein Interviewpartner General Gotthelf: »Die deutsche Spaßgesellschaft nimmt derartiges Handeln nur wenig zur Kenntnis«. Einige Soldatinnen und Soldaten bedauern auch explizit die fehlende Würdigung als Helden. Oberstabsfeldwebel Roland Schröder äußert: »Das muss man akzeptierten. Hier sind wir keine Helden«.85 Soldat marxxx6 bemerkt auf bundeswehrforum.de: »Und wenn sie unbedingt als Held gefeiert werden wollen, versuchen sie lieber, den HSV vor dem nächsten Abstieg zu retten, als Soldat zu werden.«86 Auch Stabsoffizierin Melanie Fiedes 87 fordert Anerkennung von Soldatinnen und Soldaten als Helden: »Helden sollten sichtbar sein dürfen. Helden sollten Anerkennung bekommen, zum Beispiel Vergünstigungen während der Pension, in der Bahn etc. Man sollte Helden zum Vorbild nehmen dürfen und es sollte publik werden, wenn jemand heldenhaft war. […] Indem Erinnerungskultur gelebt werden darf ... nicht nur hinter vorgehaltener Hand. Indem sich die politische Führung für die Hinterbliebenen einsetzt und den Toten gedenkt.« Ein anderer Interviewpartner, Joachim Herzog, plädiert für eine Wahrnehmung sowohl ziviler als auch militärischer Heldinnen und Helden: »Alle Menschen, die etwas Heldenhaftes getan haben, sollten in einer angemessenen Form dafür öffentlich anerkannt werden. Das gilt auch für Soldaten.«

82 A. Wagner/H. Biehl: Bundeswehr und Gesellschaft, S. 27; S. Würich/U. Scheffer: Operation Heimkehr, S. 7. 83 S. von Alten: Held nein, Vorbild ja?, S. 14f. 84 S. Würich/U. Scheffer: Operation Heimkehr, S. 83. 85 Ebd., S. 70. 86 www.bundeswehrforum.de, Thread »Ansehen der Bundeswehr in Deutschland«, Antwort #37 am: 02. Juni 2015, 15:36:06. 87 Melanie Fiedes war meine einzige Interviewpartnerin. In der Bundeswehr gibt es momentan lediglich ca. sieben Prozent Frauen, die als Soldatinnen Dienst tun.

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V ERHINDERTE H ELD _ INNEN : D ISKURSIVE W IDERSPRÜCHE UND IHRE I MPLIKATIONEN Obgleich es in der Zivilgesellschaft eine große Bandbreite an Aussagen zum Zusammenhang zwischen den Konzepten »Soldat« und »Held« gibt und rechtskonservativ motivierte Heroisierungen von Bundeswehrsoldaten existieren, dominiert in der gesellschaftlichen Wahrnehmung der Diskursstrang der kritischdistanzierten Sicht auf den Soldatenberuf und insbesondere auf den Einsatz deutscher Soldaten im Ausland. Die Diskursivierung innerhalb der Bundeswehr ist dagegen von Widersprüchen und Ambivalenzen gekennzeichnet: auf der einen Seite soll, insbesondere seitens des Verteidigungsministeriums, der Eindruck vermieden werden, bei der Bundeswehr gäbe es Helden, auf der einen Seite werden Soldatinnen und Soldaten, die sich durch als heldenhaft wahrgenommenes Handeln hervorgetan haben, ausgezeichnet und faktisch in der Truppe verehrt. Das diskursive Umfeld, das die Selbstwahrnehmung der Soldatinnen und Soldaten und den Umgang der Organisation Bundeswehr mit dem Heldenbegriff konturiert, und das historisch bedingte Normalisierungsbestreben der Inneren Führung lassen diesen als problematisch erscheinen und führen zu einer großen Vorsicht der Bundeswehr, Vorstöße in Richtung gesellschaftlicher Akzeptanz und Anerkennung »heldenhaften Verhaltens« von Soldatinnen und Soldaten zu unternehmen. Abwehrhaltungen sind aber nicht nur dieser Tatsache geschuldet, sondern auch dem von mir beschriebenen bundeswehrinternen Dispositiv des Gleichheitsgrundsatzes. Dem Verhaltenskodex der Soldatinnen und Soldaten sind jedoch heroische Tugenden eingeschrieben, und einige Soldatinnen und Soldaten sind durchaus der Auffassung, heldenhaftes Verhalten existiere innerhalb der Bundeswehr. Selbstzuschreibungen als elitäre »Heldinnen« beziehungsweise »Helden« erwachsen bei ihnen aus den dargestellten Verhaltenserwartungen und dem Dispositiv der militärischen Stärke ebenso wie aus den Erfahrungen der Auslandseinsätze und deren Framing – im Gegensatz zu Aggression und Kriegsverbrechen in den beiden Weltkriegen, die durch heutige Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten ebenso verurteilt werden wie durch die Zivilgesellschaft, kann militärische Gewalt in den Einsätzen der Bundeswehr durch die Soldatinnen und Soldaten positiv als Kampf gegen Unterdrückung und Terror gedeutet werden. Vor dem Hintergrund der gewonnenen Erkenntnisse hinsichtlich entsprechender Definitionen und Selbstzuschreibungen kann Herfried Münklers These von der Obsoletheit des heroischen Opfers widerlegt werden. Münkler hatte postuliert, spätestens mit dem Nuklearzeitalter sei die für Imaginationen des Heroischen unverzichtbare Vorstellung unplausibel geworden, »durch das eigene Op-

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fer andere zu retten, sie aus einer großen Gefahr zu befreien oder ihnen die Möglichkeit zu verschaffen, sich in Sicherheit zu bringen«.88 Ebenso erweist sich Alexa Gattingers Vorstellung eines modernen, entindividualisierten und technologischen (Welt-)Krieges, der im Gegensatz zu Heldenerzählungen stünde,89 als unzureichende Beschreibung der Wahrnehmung der Einsatzwirklichkeit durch Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten. Das aus organisationsinternen Verhaltensnormen resultierende Elitegefühl und die aus dem Gleichheitsgrundsatz folgende Bescheidenheit stellen allerdings konfligierende feeling rules90 dar, die ein ambivalentes Verhältnis zu heroisierenden Selbst- und Fremdzuschreibungen bewirken. Diese schon immer in der Bundeswehr parallel existierenden, einander widersprechenden Haltungen erlangen durch die Auslandseinsätze und die mit ihnen aufkommende Frage nach der Existenz heroischen Handelns und seiner Diskursivierung neue Bedeutsamkeit. Der Entwicklung einer bundeswehrinternen Parallelgesellschaft, die unter anderem aus Marginalisierungserfahrungen von Soldatinnen und Soldaten in Verbindung mit der Überzeugung der eigenen Herausgehobenheit aus der Zivilgesellschaft resultiert, muss durch die gesamtgesellschaftliche Thematisierung von Einsatzerfahrungen entgegengewirkt werden.

88 Münkler, Herfried: Der Wandel des Krieges. Von der Symmetrie zur Asymmetrie, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2010, hier S. 313. 89 Gattinger, Alexa: »›England expects every man to do his duty‹ – Loyalitätskonzepte und Heldenkult im England des Ersten Weltkriegs«, in: Nikolaus Buschmann/Karl Borromäus Murr (Hg.), Treue. Politische Loyalität und militärische Gefolgschaft in der Moderne, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008, S. 421-452. 90 Feeling rules sind nach Arlie Hochschild Normierungen sozial angemessener Emotionen. Arlie Russell Hochschild: »Emotion Work, Feeling Rules, and Social Structure«, in: American Journal of Sociology 85/3 (1979), S. 551-575.

Remember Vukovar Emplacing war-time memories, constructing a hero city in present-day Croatia S ANJA P OTKONJAK AND N EVENA Š KRBIĆ A LEMPIJEVIĆ 1

Conversation held during a car ride in Zagreb, on Vukovar Memorial Day, November 18, 2016, with a ten-year old boy, a third grade elementary school student, about how he spent his day in school and the meaning of Vukovar: S: V:

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What did you do in school today? We were building a water tower out of modelling clay. Our teacher told us that we have to make it out of clay… He told us yesterday… That was November 17, 2016. We were making a water tower out of modelling clay, at the fourth hour of the fine-arts class. What did the teacher tell you? We could be two students to a bench, to make one water tower. Tell me, how did you know what the water tower looks like? Well, the student I was paired with... at first it ended somehow too big, so we turned it upside down and it ended like a water tower. What is a water tower, how did you know what you were supposed to do? Well, we had some photos and we had a model tower which was already made, and we copied it somewhat too. And what did other students do?

The contribution by Nevena Škrbić Alempijević was a part of the Croatian Science Foundation project No. 2350 City-making: Space, Culture and Identity, led by Jasna Čapo Žmegač.

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The one by me and the other boy who was working with me was the best, and one of two girls was the best... Do you know why you were making the water tower? Well, in memory of Vukovar and all heroes who died for us. And... How do you know it was Vukovar? We talked about everything... When there was a war, what happened in it and so... And what happened in Vukovar? There was an attack from the Serbian border, they attacked Vukovar. Vukovar couldn’t, because it was the most... most… I mean... couldn’t be defended... Three thousand people were killed..., two to three thousand people... And these defenders? Well, some were coming from all over Croatia... And then, today, on which day...? Today, on November 18, 2016, is the remembrance of Vukovar. Do you see how many candles there are? (I asked while driving along the »Street of the City of Vukovar« in Zagreb, where numerous candles were lit.) I saw them already!... And the towers you made, will you exhibit them somewhere? No, we won’t, they will stay in the classroom. Would I be able to take photos of them, if I asked the teacher? I believe we can bring my tower home! But I’d like to see other towers too. How many water towers did you make? Around twenty-two, I think, or fewer... a lot fewer, around twelve... But why is a water tower important? It’s important because Vukovar was the weakest..., it was the weakest... and couldn’t defend itself. The water tower is unique... it’s a symbol of Vukovar... And why did it become the symbol of Vukovar? Because... symbol of Vukovar..., because on it the whole war was shown and that... How is it shown? Well, everything destroyed and army and all killed... What was the water tower used for before the war? I think it was used to keep water...

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And did you ever go to Vukovar? (I asked because I knew that he had visited Vukovar several times with his family for the rowing regattas.) I did… And did you go to the water tower? No, we didn’t... And where have you been in Vukovar? Somewhere at the Danube... What else did you get to see? We visited some regattas, we visited rowing, and we were at the Danube. We were catching frogs and all kinds of things... So, you haven’t visited the symbol of Vukovar? We haven’t. Do you know when school children go to Vukovar2? Around the eighth grade. My sister was there now... Then you know what they do while in Vukovar? Yes. They have a guide and a program. What do they visit? Museum, Ovčara… I think that’s what they visited. Ovčara is also important, I think, because they took all the wounded from the hospital and killed them there. Another important symbol of Vukovar is the dove from Vukovar.

The official pages of the Memorial Centre state that »The Public Institution ›Memorial Centre of Homeland War Vukovar‹ conducts an educational project ›Eighth Graders Visit Vukovar‹. During the project, pupils from all around the country visit the memorial places in Vukovar and surrounding area. The project is a two-day visit to Vukovar where students learn about the values of the Homeland War and the Battle of Vukovar. The visit includes lectures about the Homeland War and visiting the memorial locations. The goal of this project is to educate about coexistence, understanding and tolerance. The transport, accommodation and meals for all eighth-graders is funded by the Ministry of Veterans. The pupils will also visit the Vukovar City Museum and the Vučedol Archaeological Museum. In the school year 2014/2015, approximately 7,000 eighth-grade students participated in project. In 2015/2016, about 40,000 eighth-graders are expected to visit the Public Institution, which speaks in favour of the whole project. Moreover, the project positively affects the process of communication and interaction because it gives the opportunity to learn about customs, habits and culture of the homeland in general. Also, the project could positively affect teachers’ creativity in terms of correlation and integration while teaching.« http://www.mcdrv u.hr/en/school-program/eighth-graders-visit-vukovar; accessed Aug. 7, 2017.

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And what’s that?3 It’s some bird... Do you know how it looks? As an ordinary pigeon. It’s white though, I think! And why do you think it became a symbol? I think, because the white doves are like... the signs of peace... Super… And where is that dove now, in Vukovar? Where is she? It surely died... But they made... In fact they didn’t make it at all... They found it during the war, buried. First it was made out of ceramics... Have you seen it? I saw it in many photographs and we drew it, I believe, in second grade... But you didn’t make it? We did, we drew it, but didn’t build it out of modelling clay. In fact, I don’t know any more...

I NTRODUCTION This paper deals with the construction of memory of the fall of Vukovar, the city at the easternmost edge of Croatia which was, at the beginning of the Homeland War on November 18, 1991, captured by the troops of the Yugoslav National Army and Serbian military and paramilitary units. The focus of our analysis is on the process of heroization of the Battle of Vukovar, the city and its Croatian defenders, the victims of the 87-day siege of Vukovar. We discuss the ways in which Vukovar became one of the central symbols of Croatian statehood, the symbol of the country that separated from Yugoslavia in the war that raged through it in the first half of the 1990s. We follow in this paper the construction of memory of Vukovar as an example of the contemporary creation of a heroic narrative by which national symbolism, cohesion of the community and collec-

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I [S.P.?] asked the question, knowing from my elementary archeological education, that it is the Bronze Age clay figurine of a partridge, related to the cult of fire and blacksmiths, found already long ago, in 1938, in Vučedol, a locality near Vukovar, at one of the most significant archeological sites in the territory of Croatia; it was already well known before the war and the disintegration of Yugoslavia. The Vučedol Dove has also become a symbol of Vukovar. That is why in the popular and media discourse ›The Vučedol Dove‹ is more and more frequently referred to as ›The Vukovar Dove‹.

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tive memory are being shaped. In other words, we are interested in the mechanisms by which the hero city is created and evoked. As the child’s thinking (in the dialogue above) illustrates, the spatial dimension is essential for the understanding of the procedures by which the heroic narrative on Vukovar is materialized and turned into a part of people’s everyday lives. Vukovar, coded on the map as a heroic city, contains a few indispensable spots. Those are the water tower which remained upright despite being hit by several hundred projectiles, and therefore became the symbol of the resistance of the city and the state; and Ovčara, the prison camp, execution ground and mass burial site near the city, which, in public discourse, is treated as a spatial marker of Vukovar martyrdom. The city is at present permanently re-created through tours and evocations of these two places and similar locations of memory in Vukovar, and also by simply being in the town or moving through it with the intent of recollecting the events, people and ways of living during the Homeland War. The heroization of the city is not exhausted in evoking war-time memories exclusively in situ. Memories of the Homeland War, materialized and expressed with Vukovar topos, are effectively transferred to other locations where the communities that want to remember exist. In this essay we observe the construction of the memory of Vukovar outside Vukovar. We are interested in how other Croatian cities and towns, particularly the capital of the Republic of Croatia – Zagreb, which remained outside constant and imminent war danger, with the exception of two air raids, take part in the construction of the symbolic meaning of Vukovar and its victims. The analysis of a hero city-making outside Vukovar itself is based on qualitative research of a commemoration organized in the city of Zagreb for the twenty fifth anniversary of the fall of Vukovar. We approach Vukovar as a hero city and Vukovar victims as heroes and as a part of a unified standpoint, where the idea of »the nation born in war and through war« is consolidated, marked by the destruction of the city, Vukovar, and the suffering of numerous military and civilian victims. This idea is strengthened nowadays precisely in solidary commemorative practices of memory. The fall of Vukovar is a close experience for some people, but a distant or unknown event for others. We will try to display here how the narrative about Vukovar is being placed and written into collective memory, as well as into the space of the city of Zagreb, where it shapes a transient scene for the strengthening of the politics of memory. We deal in this paper with narrative and visual practices which display Vukovar as a hero city and Vukovar victims as heroes in the commemorative ceremony during the Vukovar Remembrance Day held in Zagreb. We focus also on the practical and performative dimensions of the commemorations, with which the heroism of Vukovar and, indirectly, the whole

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state, is cyclically actualized and affirmed, as a fundamental national identification strategy. These practices are instigated by various actors, initiated by associations of war veterans, and supported institutionally through the schooling system. They are the actions of the political governing bodies, of the military and police, they are public, institutional and planned, while the commemoration itself is marked in the national calendar of holidays. Namely, the House of Representatives of the Croatian State Parliament adopted in 1999 the Decision on the Proclamation of the Remembrance Day of Sacrifice of Vukovar in 1991, on which day the whole nation would express »a dignified and appropriate honor to all participants of the defense of Vukovar, the city-symbol of Croatian freedom.«4 However, the commemorative practices do not remain only in the sphere of political initiatives. They permeate everyday life on every November 18, and are marked with participating commemorative acts in almost all Croatian cities. Altogether, they make an arena of memories intertwining with the construction of new national symbols that work on the transgenerational transfer of memories and the construction of a solidary community of remembrances. We are interested in the meanings and practices of heroization of the city, i.e., of the victims. How are these two processes related? How are they related with the construction of the national idea and what is the role of the construction of the collective memory of the fall of Vukovar? How and through which means is the event heroized when its recollection is »displaced,« happens in »other« places and is not any more only local but elevated to the »national« level, and when it has the generational and intergenerational goal of maintaining the politics of memory? The process we witness in such a case can be defined as the creation of a heroic geography. It consists of the writing of the imageries and narratives about heroism (of the city) into real space – of the city in which the heroic deeds happened, and all the other places in which people choose to remember its heroism. From the whole materiality of the hero city, people of Vukovar picked those topoi that embody the most directly the remembrance of the fall of Vukovar, of human loss and of resistance to the occupying forces (such as Ovčara and water tower). With such selection of the heroic tradition5, 4

Zastupnički dom Hrvatskoga državnog sabora: »Odluka o proglašavanju Dana sjećanja na žrtvu Vukovara 1991.« [The House of Representatives of the Croatian State Parliament: The Decision on the Proclamation of the Remembrance Day of Sacrifice of Vukovar in 1991.], in: Narodne novine, 116 (1999), from 5.11.1999., https://nar odne-novine.nn.hr/clanci/sluzbeni/1999_11_116_1857.html, accessed Sept 20, 2017.

5

Williams, Raymond: »The Analysis of Culture«, in: The Long Revolution, London: Chatto & Windus, pp. 57-70, here pp. 68-69.

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certain spatial spots cease to be exclusively parts of everyday life in Vukovar. They are reevaluated into universal national symbols which have the function of a reminder (Remember Vukovar), and a potential to translocate a heroic geography to any location with a community that shares the same corpus of memory. They offer the possibility to make the hero city palpable and real in the streets of other Croatian cities.

H ERO CITY AND THE HEROIC SACRIFICE We ask: »What kinds of communities, then, have heroes?,«6 »What makes the nation a ›community‹?«7, and how are heroes and heroism shaped in areas such as »Middle and Eastern Europe which gained independence recently«8. This space with its »troubled realities« is, as Nancy Wood writes, an interesting example of contemporary practices of the forming of nation states and memory of the nation. In our cases we do not look at the specific heroic figures, actual individuals, but at the event whose heroization is inscribed into the foundations of the project of reshaping and strengthening the Croatian nation, state and the feeling of homeland communality. Inevitably linked to it are the ideas of heroization of the city of Vukovar and civilian and military victims (defenders of Vukovar) who suffered during the occupation of the city of Vukovar. Heroism which we address here is not related to any charismatic, unique, irreplaceable and unforgettable person who became exceptional through his or her deeds, and which, »[b]oth in life and as the sacred, charismatic dead« serves »as a kind of cultural glue that helps hold together many kinds of communities—tribal, local, regional, national, international, religious, and ethnic.«9 However, the function of the heroization of the city of Vukovar is the same. The city of Vukovar and Vukovar victims, as well as the Battle of Vukovar, i.e., the fall of Vukovar, gained their

6

Brunk, Samuel/Fallaw, Ben: »Introduction: Heroes and Their Cults in Modern Latin America«, in: Ben Fallaw/Samuel Brunk (eds.), Heroes & Hero Cults in Latin America, Austin: University of Texas Press 2006, pp. 1-20, here p. 3.

7

Balibar, Étienne: »From the Nation Form: History and Ideology«, in: Michael Rossington/Anne Whitehead (eds.), Theories of Memory. A Reader. Baltimore: Johns Hopkins University Press 2007, p. 253-261, here p. 253.

8

Wood, Nancy: Vectors of Memory. Legacies of Trauma in Postwar Europe, Oxford-

9

B. Fallaw/S. Brunk: Introduction, p. 3.

New York: Berg 1999, p.21.

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status during the war, while during the post-war period this heroic trinity »played prominent roles in […] nation-building processes.«10 Heroization is observed here through the relationship hero-sacrifice, where being sacrificed is an act of heroism, which is conceptually determined by resistance, long-term suffering and martyrdom, both of people and of cityscape which, like people, became the skeleton of the pre-war city. The heroism of victims corresponded with the »resistance« towards the »enemy,« and it was not formed through »victory,« but just the opposite, through defeat which was understood and interpreted as victory in a moral sense. The heroization of the victim appropriated the »memory of injustice«11 with which the heroes/the sacrificed were »immortalized,« whether they were killed or survived, and are, with their act of heroism-sacrifice, »the ideological role models.«12 Victimhoodheroization, i.e., victims-heroes are based on the fact of sacrifice which somebody or something underwent for the »wellbeing« of others. This sacrifice has an active role in the processes of the heroization of Vukovar and the people of Vukovar who died or survived, of Vukovar defenders and their national memorializing. Twenty five years after the Battle of Vukovar, the heroization of Vukovar can be observed as a part of historicizing of the event which would have lost, with the passage of time, the »spontaneity of experience.« This experience has to be transmitted and relived again to upkeep the foundational idea of the nationborn-out-of-war. Heroization as such is a part of the mechanism to manifest the historical memory and a way for the »memory (to) declare its presence through external signs.«13 It is a constant reminder of the cornerstone of the nation/state and an appeal/request to upkeep the solidary community of remembrance. This idea was institutionalized through the schooling of memory, just as shown in the talk quoted in the box. In this conversation with the anthropologist, the child brought to light the syntagmatic constructions about Vukovar, the water tower, the execution ground at Ovčara and the neolithic Vučedol Dove as symbols, and the reasons for having the Vukovar Remembrance Day. The child mediated all these without questioning, clearly and distinctly, when he said that the model of the Vukovar water tower was being made »in memory of Vukovar and all heroes who died for us.« The connection between Vukovar, heroes and »us« is some10 Ibid. p. 3. 11 N. Wood: Vectors of Memory, p. 61. 12 Lambert, Peter/Robert Mallett: »Introduction: The Heroisation-Demonisation Phenomenon in Mass Dictatorship«, in: Totalitarian Movements and Political Religions 8/34 (2007), pp. 453-463, here p. 460. 13 N. Wood: Vectors of Memory, pp. 18-19.

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thing that is not questioned. It is constitutive of the community and the collective feeling of duty is to remember. It is a connection between the history or the historical and our time and a guarantee for the future of the community if it remains faithful to the foundational figures/images of the Nation. This idea is institutionalized through the state organized commemoration. It is visible through the political staging of commemorative events, the mixture of organized ritual in which take part state representatives, military, police, veterans’ associations, representatives of school children and all citizens, to whom all are appealed to express memorial solidarity. Participation in the ritual is normalized as a memorial obligation of civic and patriotic solidarity and human understanding of suffering and tribulation. The displacement of the commemoration from Vukovar to the capital of Croatia, hundreds of kilometers away, is interesting. This commemoration appears indispensable as a »glue« for the post-war Nation. »A social formation only reproduces itself as a nation to the extent that, through a network of apparatuses and daily practices, the individual is institutionalized as homo nationalis from the cradle to the grave.«14 Particularly through the narrations about the victim(s) of Vukovar in the school system and commemorations like the one for Vukovar, which can be seen in almost every major Croatian city, »individuals are nationalized, in other words socialized in the dominant form of national belonging.«15 Commemorating Vukovar and maintaining the heroizing narrative on Vukovar »is the moment when the nation becomes conscious of itself as a ›Nation‹.«16 Heroizing discourse on Vukovar is a part of the public media narrative. Weeks and days before the anniversary of the fall of Vukovar almost all daily and weekly newspapers and other media, local and national, are flooded with »memory making«17 news about the approaching yearly commemoration. Comments, testimonies, memories, festivities, processions, celebratory masses and information about the organization of events, occupy prime time of electronic media and newspaper headlines. The titles of this news alone convey the key determinants of the commemoration and position it has as one of the central national commemorations. In the role of the national center, the capital of Croatia appears in parallel with the city of Vukovar. The main commemorative act hap-

14 E. Balibar: From the Nation Formation, p. 253. 15 Ibid. p. 254. 16 N. Wood: Vectors of Memory, p. 22. 17 Cf. Richardson, Jon: »Making memory makers: Interpellation, norm circles and Holocaust Memorial Day Trust workshops«, in: Memory Studies 00/0 (2017), pp. 1-18.

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pens in Zagreb a day ahead, so that state, religious, military and city officials can attend the anniversary of the fall of Vukovar in the main ceremony in Vukovar. However, despite this »second« position of the city of Zagreb in commemorations, its presence in media during the days of commemoration matches the need to achieve consensual solidarity at the national level. Or, as Pierre Nora would state, while pointing to the importance of institutional mediation in the creation of national memory, the role of »institutions,« i.e., their most prominent people, is »[…] to enroll local memories in the common fund of a national culture.«18 This is why the cover pages of Zagreb newspapers, which ensure, with their national coverage, the dissemination of the foundational values of the community, assume such an important role during the commemoration, by mediating »common funds of national culture.« »The Remembrance Day was celebrated in memory of the sacrifice of Vukovar, in the street that carries the name of the hero city […] Thousands of candles were lit in the Street of the City of Vukovar under the slogan: ›And I will tell you yet one more thing REMEMBER VUKOVAR‹.« (emphasis original)19. For the twenty-fifth anniversary the headline »FOREVER LIVES WHO DIES RIGHTEOUSLY The Zagreb Philharmonic Orchestra Devotes the Concert to Vukovar for the 25th Anniversary of the Croatian Hero City«20 (emphasis original) announced the celebratory event in the Croatian National Theatre in Zagreb. The wording of the headline evokes the historic pride and inseparably connect the historic sacrifice of the Croatian gentry centuries earlier with the persecution of Vukovar heroes. The sentence by the Croatian prince Fran Krsto Frankopan, who was executed in Wiener Neustadt in 1671 for organizing the coup of the Croatian nobility against Habsburg rule, was inscribed on his tombstone in Zagreb Cathedral. The sentence is invoked as memory making in 2016, to immortalize the sacrifice of Vukovar, with a strong historic link to the period of injustice and persecution of the Croatian people. The link is emblema18 Ibid. p. 22. 19 M.F.: »Zagreb za Vukovar: tisuće svijeća svijetlilo za grad heroja« [Zagreb for Vukovar: thousands of lights shone for the city of heroes], in: Index.hr from November 18, 2015, http://www.index.hr/black/clanak/zagreb-za-vukovar-tisuce-svijeca-svijetlil o-za-grad-heroja/856663.aspx/18.11.2015, accessed Oct 2, 2017. 20 Navik on živi ki zgine pošteno. Zagrebačka filharmonija na 25. obljetnicu hrvatskog grada heroja posvećuje koncert Vukovaru [Forever He Lives Who Dies Righteously. The Zagreb Philharmonic Orchestra Devotes the Concert to Vukovar for the 25th Anniversary of the Croatian Hero City], in: Jutarnji list from November 16, 2016, http://www.jutarnji.hr/kultura/glazba/navik-on-zivi-ki-zgine-posteno-zagrebackafilharmonija-na-25.-obljetnicu-hrvatskog-grada-heroja-posvecuje-koncertvukovaru/5270175/, accessed Oct 2, 2017.

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tic, not only because it shows that heroization is firmly linked to feelings of sacrifice, pride and overcoming of injustice, but also with the invocation of national feeling and collectivism in an emphatic outpour of historic sentimentality. Andrej Plenković, then the newly elected Croatian prime minister, sent the following message from the resettled session of the government held in Vukovar on November 17, 2016: »Vukovar, the symbol of Croatian freedom,« and »emphasized that Vukovar, because of its sacrifice and being a symbol of resistance and struggle for independence deserves a special place and care of everybody in the state to help its development, maintenance of peace, tolerance and coexistence.«21 (Emphasis added.) Similar to his statements are the statements of the Croatian president Kolinda Grabar Kitarović, who announced at the anniversary: »Vukovar is a symbol of the Croatian community, solidarity. Although the town fell in 1991, it was still a huge turning point in the war because it showed that Croatia is unyielding in its intention for independence. We remember all Vukovar victims also today, and [will remember them] in the future. Because of this youth you see here, everything they left as their heritage, of which we have to look after in the first place. Look after the town, look after our youth and the future of Croatia.«22

The mayor of Zagreb, Milan Bandić, joined the public dignitaries who participated in the creation of the national feeling when he opened the exhibition »Vukovar and Škabrnja 25 Years Later,« at the assembly hall of city hall, when he stated: »Let it never happen again and let it never be forgotten.«23 As exam21 HINA: simbol borbe za neovisnost. vlada za Vukovar i Vukovarsko-srijemsku županiju odvojila 60 milijuna kuna. ›Vukovar, simbol hrvatske slobode, uvijek će nam biti prioritet‹, [The Symbol of the struggle for Independece. The Government allocated 60 million kunas for Vukovar and Vukovar-Srijem County. ›Vukovar, the symbol of Croatian liberty, will always be a priority to us‹], in: Jutarnji list from November 17, 2016, https://www.jutarnji.hr/vijesti/hrvatska/vlada-za-vukovar-i-vukovarsko-srijemsk u-zupaniju-odvojila-60-milijuna-kuna-vukovar-simbol-hrvatske-slobode-uvijek-cenam-biti-prioritet/5276283/, accessed Oct 2, 2017. 22 HINA: »›I reći ću vam samo još jednu stvar, zapamtite Vukovar‹ – U Zagrebu svijeće za žrtvu Vukovara « [And I Will Tell You one more thing, Remember Vukovar – Candles in Zagreb for the victimhood of Vukovar], in: nacional.hr from November 18, 2015, http://www.nacional.hr/foto-i-reci-cu-vam-samo-jos-jednu-stvar-zapamtite-vuk ovar-u-zagrebu-svijece-za-zrtvu-vukovara/, accessed Oct 2, 2017. 23 Buljan, Leo: »OTVORENA IZLOŽBA: I reći ću vam samo još jednu stvar – zapamtite Vukovar« [An Exhibition Opened: And I Will Tell You one more thing – Remember Vukovar], in Zagrebački list from June 17, 2016, https://www.zagrebacki.hr/2017/06/

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ples of the dominant discourse, all excerpts above are part of the active politics of memory. Heroizing discourse is a part of a public consensus about national unity in the memorializing process. There are a few people who disagree and think that it is problematic to build the nation upon the heroizing of Vukovar, by turning it into a museum and petrifying it as a place of sacrifice. Boris Dežulović, an independent Croatian journalist, might be one of them. He expressed a unique example of a dissent in his text »Is there Vukovar?« for the 22nd annual commemoration of the Battle of Vukovar, when Vukovar was once again installed as an untouchable national symbol. He criticizes the idea of turning Vukovar into a victim city, by which its right to live is taken away. As he writes: »[…], the professional wailers above the dead body of a killed Vukovar shared a curiously popular thought to salvage its ruins for future generations, as a museum city or memorial park. In short, to arrange Vukovar as its own monument. [...] Patriotic builders have been diligently working on the project for years, and two decades later, Vukovar is finally preserved as it was in the warring 1990s, as its own monument. Emptied of any urban, social and human sense, it is now nothing but a monument to itself, a monument to the dead city in natural scale.«24

Despite the differences between the media discourses that mark memories of the Fall of Vukovar, both discourses, the first, that dominates the public media platform and the national statehood platform, and the almost singular second, that moves humbly through the thicket of media voices of public and national memorializing of Vukovar, show that the process of heroization of Vukovar is institutionalized and adopted by the state. It is a public phenomenon and as such a part of the authoritative patriotic socialization into national memory, emplaced and incarnated in collective rituals yearly.

16/otvorena-izlozba-reci-cu-vam-jos-jednu-stvar-zapamtite-vukovar/, acessed October 2, 2017. 24 Dežulović, Boris: »Ima li Vukovara?« [Is there Vukovar?], in: Peščanik from November 22, 2013, http://pescanik.net/ima-li-vukovara/, acessed Oct 2, 2017.

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E MPLACING MEMORY Karen Till argues that: »[…] the city – and place more generally – is treated as a stage upon which the drama of history unfolds […]. But places are never merely backdrops for action, nor are they texts from which the past can be easily read. Always in the process of becoming, places are fluid mosaics and moments of memory and metaphor, scene and experience, dream and matter that create and mediate social spaces and temporalities. Through place-making, people mark social spaces as haunted—thresholds through which they can return to a past, make contact with loss and desire, contain unwanted presences, even confront lingering injustices.«25

There are two main locations for presenting Vukovar heroism in the city of Zagreb – one in almost the strict city center and the other in the city periphery. They are related with the emplaced memory of Vukovar. In the city center, the commemoration is held on one of the main city streets, which is visually interesting and an address of a number of state and city institutions on it. It is named the Avenue of the City of Vukovar [Ulica grada Vukovara]. The second, more peripheral, location is in the city’s quarter Donja Dubrava, near the eastern entrance to Zagreb, in a settlement of suburban family houses, where a small and non-pretentious »neighborhood« road named Vukovarska Street [Vukovarska ulica] is placed. These temporary stagings though spatially limited, are in spots where we are permanently »reminded« of Vukovar. By naming two streets after the city of Vukovar already in 1991, the city of Zagreb marked the symbolic value of the Vukovar sacrifice at the national level. This gesture should be viewed through work on national memory and through the politics of creating new semiotic »places«, which is initiated and shaped by the creators of national politics. The process of renaming streets after the democratic changes of 1990s and the Homeland War involves in itself the »shaping of new references«26. In doing so, the national past is reset so that the inherited socialist and lived landscape of the city is refreshed with »old« historic, pre-socialist and national references, i.e., marked with contemporary references of the nation that sprouted out of the

25 Till, Karen E.: »Emplacing memory through the city: the New Berlin. Lecture delivered at the ›Spatial Turn in History‹ Symposium February 19, 2004«, in: German Historical Institute Bulletin 35 (Fall 2004), pp. 73-83, here p.75. 26 Stanić, Jelena/Laura Šakaja/Lana Slavuj: »Preimenovanja zagrebačkih ulica i trgova«, in: Migracijske i etničke teme 25/1-2 (2009), pp. 89-124, here p. 89.

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war. Most of the changes in Zagreb toponymy occurred between 1991 and 1996, and peaked noticeably in 199327. Although it could have been expected that the renaming, mimicking previous periods, particularly the socialist years, would have emphasized the significance of the Homeland War, the category of street names that refers to the new »ideological-political« symbols is relatively narrow compared to the »historic«, i.e., pre-socialist symbols. Within the category of the »creation of the Republic of Croatia,« many of the Zagreb streets took the names related to some »terms, events, military units, Croatness,«28 among which those referring to the city of Vukovar definitely had an important role. By naming one of the main Zagreb streets after Vukovar, and by the fact that it is an architectonically outstanding street with many government institutions of the city, the effect of the symbolic marking of place is maximized. This renaming belongs to the process of rebuilding the nation and homeland, at the same time re-historizing the nation as it was before socialism, and also the nation born again and as it emerged from the war and with the scars of war.

R EMEMBER V UKOVAR In a refrain »And I will tell you yet one more thing, remember Vukovar« in the highly popular patriotic song by Vladimir Kočiš Zec, recorded and broadcast in 1991 during the fiercest attacks on Vukovar, the Croatian songwriter addressed the aggressor in his song »Mr. General.« He told him that everything is going to return to normal after war, because of the »heartbeats of brave people.« The lyrics set the stage for the obligation of continual memory of the resistance of defenders and the commemoration of the sacrifice of the city after the war, when »all meadows will be green again.« This part of the chapter stems from the fieldwork conducted in the city of Zagreb on the Vukovar Remembrance Day in 2016. The methods include participant observation of public events held on the December 17 and 18, observations of emerging memory places in the week prior to the main ceremony, as well as during and after the Commemoration Day. The interviews presented here were conducted alongside the participatory and observational research with high ranking members of a veteran association in charge of the protocol of Zagreb-placed commemoration.

27 Ibid. p. 105. 28 Ibid. p. 107.

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O N MEMORY MAKERS The members of the Club of Veterans of the 148th Brigade of the Croatian Army of Zagreb – Trnje precisely emphasize the imperatives of perpetuating the memory of the Homeland War as a nation-building act and of honoring the »hero city.«29 They are the organizers of the events of the Remembrance Day of the Sacrifice of Vukovar, which have been held in the Croatian capital since 2000. They chose the refrain of the above song as the slogan under which various activities are united within the Zagreb commemoration: exhibitions, public discussions, presentations of publications, holy masses, remembrance walks, lighting of candles, laying of laurels to places of remembrance and the central commemorative event. The main space of re-creation of memories to the fall of Vukovar is the Street of the City of Vukovar, a major Zagreb street which stretches five kilometers to the East from the center of Zagreb, in the direction of Vukovar. Because of its name and standing as a place of remembrances during the commemorative events, this street reveals with its visual identity its specific place in the city imagery: unlike the spaces nearby, the whole street is at both sides decorated with rows of Croatian flags throughout the whole year. Marking the sacrifice of Vukovar along the whole street is one of the determinants of the event. Collective participation and the support of the capital of the hero city is its essential message. The inclusion of different parts of the city and participation of large numbers of citizens are expected, and the success of the event is contingent on it. On the eve before Remembrance Day people arrive with candles, mostly in the tricolor Croatian flag, and place them along the edge of the roadway, framing the street with candlelight. Some participants come in organized groups, as is mostly the case with schools, and similarly, the members of various organizations, particularly those who stem from the Homeland War, members of dioceses, students who live in student housing and employees of various institutes and companies. Some of them arrange their arrival to the Street of the City of Vukovar as a kind of remembrance convoy: They gather in front of their schools, firms or institutions, and from there, in a procession, with lit candles, in a dignified manner and in silence, walk to the place where they decided to set down the candles. »We try to come to these parts of the street a little farther away from the central celebration, so that this part is nicely filled with candles; in this way it can be seen that people remember Vukovar here too. It is also closest to our school,« told us a guide of one group of the high school students. Others arrive with friends and

29 From the ethnographic interview with a member of the Club of the Veterans, carried out by the authors in December 2016.

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family, but sometimes alone. Some participants, especially those from the more remote parts of the city, drive their cars, but most of them head to the place of remembrance on foot. Upon their arrival they light candles and place them on the curb of the street, mindful of the alignment of other candles, realigning them sometimes to make them equally distant one from the other or to maintain a straight line. At some places, on grassy surfaces next to the roadway, they draw the contours of a heart, the Croatian flag or the Croatian coat of arms. Some participants cross themselves and pray, other whisper with their entourage a few words about the look of the street and about the commemoration or remember the war events of the 1990s. »It was a huge sacrifice«, told us an older lady with a sigh, next to whom we stood while her son was taking tall white candles marked with a cross from the trunk of his car, one for every member of their family. After several minutes the participants leave, either to the place of the central commemoration or to their homes. The car traffic on one of the busiest streets of Zagreb moves that evening at a slower pace: Drivers are careful not to get too close to the curb and not to disturb the commemorative practices, moving less loudly, not blowing horns or showing nervousness. In marking Remembrance Day in the Street of the City of Vukovar all generations are included, and especially noticeable is the tendency for a larger number of children to participate in the commemoration – those whose memory of the war past should be maintained in the future. In addition to the participative and inclusive characteristics of the event, one characteristic that gives it authenticity and anchors it in heroic geography is the transfer between Vukovar and Zagreb before and after the ceremony. The presence at the Zagreb event is for some participants the beginning of wider commemorations of Remembrance Day and their journey to Vukovar. Such is the case for several hundred bikers who, after riding in a convoy along the Street of the City of Vukovar, head towards the hero city. Further on, as Milan Zanoški, the president of the Club of Veterans of the 148th Brigade of the Croatian Army of Zagreb–Trnje, emphasizes, a vital part of the Zagreb event happens outside Zagreb, a few days before the event itself, when the organizers and other interested people go to Vukovar, to visit the places of remembrance tied to the Homeland War. From the Vukovar Church of Saints Philip and James, they bring then to Zagreb the »Vukovar Light of Peace,« a flame with which one of the commanders of the defense of Vukovar, the veteran of the 148th Brigade, lights the large candle placed next to the central stage and in this way marks the beginning of the Zagreb commemoration.

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O N MAKING PLACES OF MEMORY The central event of this commemoration occurs in the evening hours of November 17, at the intersection of the Street of the City of Vukovar [Ulica grada Vukovara] and the Street of the Croatian Fraternal Union [Ulica Hrvatske bratske zajednice], on the large plateau which is in our contemporary time the place of numerous architectural interventions and rewritings of meanings. Here was erected, at the occasion of the 900th anniversary of the Archdiocese of Zagreb, the monument in the shape of an obelisk, whereas on the lawn in the back were installed, at the initiative of the Mayor of Zagreb, Milan Bandić, numerous water fountains. The location was considered as the place of creation of national memory. In 2017 the decision was made to place there the monument to the first president of the independent Republic of Croatia, Franjo Tuđman. The topos of Vukovar is anchored in this place permanently, not only during the commemoration, in the first place because of the photograph of the water tower with people with raised fists underneath, accompanied by the text: »From blood and pain flowers are going to sprout.« Under this depiction of the symbol of the Vukovar resistance the concentration of lampions is the highest during the commemoration. Despite the chilly late autumn evening, the air is hot here, due to hundreds of lit and thickly arranged candles. Lots of lit candles, with the name of Vukovar and the emblem of the crucifix made on the ground, burn in front of the raised stage and uniformed members of different military and police units. The representatives of all high state departments and organizations, public institutions, city’s municipality, military, veteran associations, students of Zagreb schools, veterans of the Homeland War and their children – all participate in lighting candles, according to the protocol. During the official program, the hero city is written into the Zagreb space with its outstanding symbols, with light effects, above the fountains, the pictures of the Vučedol Dove, water tower and the slogan of the commemoration: «And I will tell you yet one more thing, remember Vukovar.« In the context of commemoration the hero city is also evoked with a narrative defining what Vukovar means for Croatia nowadays and how Croatian citizens should remember its sacrifice: from the addresses of the officials, memories and testimonies of the defenders and sufferers to recitals and concerts. In these performances of memories it is also concretized who or what is the hero city and what makes it a hero. This is the case especially with one constant element of the commemorative program, the reading of an excerpt from the essay »A Story about a City« by Siniša Glavašević, a writer and war reporter killed at Ovčara after the capture of Vukovar:

188 | S ANJA POTKONJAK AND N EVENA Š KRBIĆ ALEMPIJEVIĆ »Who will take care of my city, my friends, who will lead Vukovar out of the darkness? No back is sturdier than mine and yours, and so, if it is not too much of a burden, if you still have some youthful murmur left in you, join us. Someone has been touching my parks, the benches on which your names are still carved, the shady places where you gave and received your first kisses — somebody has simply stolen it all away, as how else does one explain that not even a Shadow remains? No shop windows where you marvelled at your own happiness, no more cinema where you watched the saddest of films, your past has simply been destroyed and now you have nothing left. You have to build anew. First, your past, by seeking out your roots, then your present, and then, if you have the strength left, invest it into your future. And do not be alone in the future. And you need not worry about the city, the city was always within you. Only hidden. So that the executioner cannot find it. The City — you are the City.«30

The hero city is not presented to the audience with the resounding names of meritorious individuals or even those persecuted in the defeat. The hero city are the people, it is a collective of all, people who are built into its materiality, who reconstruct its past and cultivate the vision of its future. One of the members of the Club of the Veterans of the 148th Brigade of the Croatian Army similarly clarified the purpose of the event and the strategy by which the memories of Vukovar in war should be recreated in the present: »To build monuments for heroes? For Pero, Štef, Jura? Wrong! Because that small child of 5-6 years in the basement is, for me, a hero. Even those Serbs who didn’t leave the city, who later pointed with their fingers, even they were heroes those three months. Try to close yourself into a luxurious apartment for three days. Three months in a basement, without proper food, without proper water? Horrifying. For me, they are all heroes. All.«31

R ECREATING THE HERO - CITY The main subject we addressed in this text is how a hero city is shaped in the present. The case of the city of Vukovar was suitable for this research. The questions that stem from the documented practice, which is manifested primarily in

30 Glavašević, Siniša: »Stories from Vukovar«, Zagreb, Croatian Writers’ Association 2011, https://charterforcompassion.org/sinise-glavasevic-stories-of-vukovar/a-story-ab out-a-city, accessed Sept 21, 2017. 31 From the ethnographic interview with a member of the Club of the Veterans, carried out by the authors in December 2016.

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commemorative activities and discursive heroizing, and which we attempted to answer in the text were: What does it mean to recreate and perpetuate the imagery of the hero city? What does it mean for the status of a »live« city? What does it mean »To kill the city?« We equally questioned how this process is similar or dissimilar from the one in which heroic people are created. How was ruining the city anthropomorphized, how was it given human qualities, so much that equivalence was given to the heroic human sacrifice and the destruction of the city? In the end, we dealt with making the connections between Vukovar and Zagreb through motifs which temporarily transpose Vukovar, advancing it into a translocal and multilocal place of memory which unites the nation and the state. When it is so precisely spatialized once a year, it attains different dimensions, spiritual, metaphysic and out of body. »The City — you are the City.« These are the last words of the legendary reporter from Vukovar, Siniša Glavašević, through which the possibility was announced that it could be spoken of Vukovar as of a human being, a hero who entered with his »life,« i.e., »heroic death« into a collective heroic imagery. With this sentence, which defines Vukovar organically, as a being, body, consciousness and conscientiousness of all, Glavašević identifies the city with the human collectivity. Heroism is with this appeal endowed to everyone who lived in the City, died through and in the City, who was creating it. The City, as perceived by Glavašević, did not have only a physical dimension, it was above physical and tangible, above the destruction and material ruination. Vukovar, as a heromartyr-sacrificed one, attained non-material, mental and spiritual qualities. It abided in humans, regardless of whether named or unnamed. Their individual characteristics are irrelevant. Today, we can say, that with this sentence alone the foundation was laid, not only for heroizing the city, but also as a foundation for a transgenerational appeal for the continuation of the life of the city through national memory and almost spiritual evocation in the framework of physical commemorations. The hero city therefore does not die, as long as its memory does not die. The same as a human hero, it lives and returns to its heroic life through those »who create memory« and »consume memory«.

Figuren des politischen Widerstands im 20. Jahrhundert

The making of national heroes in contemporary Croatia Remembering Franjo Tuđman K RISTINA V UGDELIJA

I NTRODUCTION The paper deals with the memory of Franjo Tuđman, the first president of Croatia, as an integral part of the making of national heroes in contemporary Croatian society. That is to say, Tuđman is analyzed as a national hero, a symbol that represents »historical events that are accepted as being critical to the creation of a nation«1 and is embedded in national remembering, but into which different meanings are inscribed, reflecting different, sometimes opposed, understandings of the past and the present of the national community. The analysis focuses on this multifacetedness of the hero, its multiple manifestations and various modes of actualization in society, thus approaching hero-making as a process of social construction which includes different actors, and in which the meanings and understandings of heroism are continuously negotiated and reinterpreted.2 The paper explores hero-making in contemporary cultures of memory, i.e. within diverse imaginings, narratives and practices related to the past that are shaped on the intersection of politics of memory, individual memories, and diffe1

Brunk, Samuel/Fallaw, Ben: »Introduction: Heroes and Their Cults in Modern Latin America«, in: Samuel Brunk/Ben Fallaw (ed.), Heroes and Hero Cults in Latin America, Austin: University of Texas Press 2006, pp. 1-21, here p. 3.

2

Scheipers, Sybille: »Introduction: Toward Post-Heroic Warfare?«, in: Sybille Scheipers (ed.), Heroism & Changing Character of War. Toward Post-Heroic Warfare? London: Palgrave Macmillan 2014, pp. 1-21, here p. 15.

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rent social discourses.3 It focuses on competing and contested memories of Croatian recent past – the breakup of Yugoslavia, Croatian war of independence (1991-1995) and formation of the state – in which he played significant role and was therefore attributed status of heroic leader, the »Father of the Nation«. Hero-making is analyzed on the example of Tuđman monuments as a practice of localization and materialization of memory of a national hero in public space. On the one hand, it is approached as a practice of inscribing official history in public space which legitimizes the established social order 4 and producing official heroic narrative, providing insight into the conceptions of hero that are to be permanently remembered: which heroic features, what events from his life, what aspects of his work, and what are they supposed to symbolize. On the other hand, these »spatialized actualizations«5 of memory of the hero are approached as »arenas for contemporary usages and alterations of his figure« and »attribution of multiple meanings«6, providing insights into diverse meanings and interpretations, usages and remakings of the hero, and their various relations to the official narrative, such as contestations, oppositions, or subversions. By grasping hero-making on different levels, the aim of the paper is to show how various mechanisms of hero-making are manifested, as well as the interrelatedness of different social actors engaged in that process, pointing to the multifacetedness and processuality of the hero phenomenon. In the first part of the paper I discuss the concept of hero as a figure of memory and contextualize the figure of Franjo Tuđman as a national hero within contemporary contestations of memory on Croatia’s recent past, especially the war of independence – The Homeland War (1991-1995). The central part of the paper deals with Tuđman’s monuments, which are approached from two perspectives. One is through media discourse analysis of the public debate on the monuments, focusing on attribution of multiple meanings to the hero and diverse effects and reactions that evocations of the hero provoke, resulting in contestation of different notions of his work, legacy and place in Croatian history. The other one is the analysis of hero-making in situ, in the 3

Brkljačić, Maja/Prlenda, Sandra: »Zašto pamćenje i sjećanje?«, in: Maja Brkljačić/Sandra Prlenda (ed.), Kultura pamćenja i historija. Zagreb: Golden marketing – Tehnička Knjiga 2006, pp. 7-19, here p. 16-17.

4

Rihtman Auguštin, Dunja: Ulice moga grada. Antropologija domaćeg terena, Belgrade: Biblioteka XX vek 2000, here pp. 35-60.

5

Škrbić Alempijević, Nevena/Belaj, Marijana: »Remembering ›The Father of the Contemporary State of Croatia‹. The Celebration of Tuđman’s Birthday in His Birthplace«, in: Traditiones 43/1 (2014), pp. 79-109, here p. 80.

6

Ibid.

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context of a public event that commemorates an episode from national history closely tied to the hero in question. It focuses on the appropriation of the hero from diverse individual perspectives, i.e. various adaptions, reinterpretations and usages in accordance with the needs, understandings, and experiences of individuals that participate in the event. It is based on a field research of one specific monument, the one in Knin, a small town in Dalmatian hinterland, during the celebration of Victory Day – a national holiday that commemorates the military operation Oluja (Storm) through which the Croatian Army liberated the largest part of the occupied territory and ended the war in 1995, and which is thus interpreted as the greatest war victory in the official narrative.

N ATIONAL HERO AS A FIGURE OF MEMORY Although there is no unanimous definition of a hero, in most hero studies a hero is defined as a prominent individual, a person of exceptional status based on outstanding personal traits or deeds who is therefore respected and admired. As a phenomenon present in almost every society, heroes and heroism have been subject of research within various disciplines, such as comparative mythology, history, literary studies, psychology, sociology, ethnology and cultural anthropology, with two dominant approaches. One is focused on the universality of the hero phenomenon, such as mythology and narratology studies that explore common structural elements of hero narratives, or sociological and psychological studies that attempt to define types of heroes, deduce common heroic traits and their effects on individuals’ thinking and behavior. On the other hand, recent historical, ethnological and cultural anthropological studies focus on the particular hero manifestations, emphasizing that a hero can be understood only within a specific historical, political, social and cultural context. A hero is perceived as being made by the members of his community, therefore, heroes should be approached by exploring specific circumstances within which they emerge, heroic traits that are attributed to them within community’s heroic imagery, as well as the practices by means of which the respect for the hero is manifested. According to Istvan Povedak, a hero emerges as a »result of socio-cultural needs and desires«7, under the circumstances in which community values are at stake and pushed to the foreground. Most commonly heroes appear in contexts

7

Povedak, Istvan: »From Heroes to Celebrities. Problems and potential solutions«, in: Istvan Povedak (ed.), Heroes and Celebrities in Central and Eastern Europe. Szeged: Department of Ethnology and Cultural Anthropology 2014, pp. 7-17, here p. 13.

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such as rapid social changes, crises, and instability, and their basic trait is that they »engage in their individual deeds in the interests of the community and the people.«8 Therefore, they are conceived of as representatives of the community, i.e. symbols that embody community’s values, ideals and conceptions of identity. Based on similar departing points, Jurij Fikfak defines heroes as »ideals and motivators that the majority of people look up to and can model themselves after« or points of orientation that »can give sense to life and the individual.«9 In defining hero as a sign »that every recipient and sender understands«, he emphasizes the multiplicity of their possible meanings, as every individual »assigns meaning to (it), and forms (it) in various ways, and each time from a different perspective«, as result of which a hero can at the same time »signify the good or bad, honesty or crime, and can be a stumbling block or a solution.«10 Besides the multifacetedness of a hero as its basic characteristic, another departing point in defining a hero are people’s practices. As Povedak argues, the basic criterion of recognizing a hero is that the respect for the hero is expressed and can be captured in people’s deeds and actions, which he names the hero cult. These practices are structured around identity and provide answers to some of the basic questions related to community self-perception and are primarily tied to remembrance.11 According to Jan Assmann, remembrance has a tendency towards concretization. In order to be settled in the memory of a group, an idea has to take on an imaginable and concrete form, such as an event, a personality, or a locality.12 When analyzed in the context of social memory as the construction of the past in present13, heroes can be interpreted as figures of memory, as defined by Assmann: ideas concretized in easily memorable images. They are temporally and spatially concrete, and always actualized in a specific time and place. They are also related to a concrete group and its identity conceptions, functioning within that group as models and examples. They are expressions of the group’s characteristics, standpoints, and values, but also its weaknesses and contestations. They also have a capacity for reconstruction in accordance with social, cultural and political context. That is, in order to fulfil their functions in mediating and preserving memory, they are continuously subject to reinterpretation 8

Ibid.

9

Fikfak, Jurij: »Leaders and Heroes of the Nation«, in: Traditiones, 43/1 (2014), pp. 7-11, here p. 7.

10 Ibid., p. 8. 11 I. Povedak: From Heroes to Celebrities, p. 9. 12 Assmann, Jan. Cultural Memory and Early Civilization. Writing, Remembrance, and Political Imagination, Cambridge: Cambridge University Press 2011, p. 23. 13 Connerton, Paul: How Societies Remember, Cambridge University Press 1989, p. 4.

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and reorganization in accordance with changing circumstances of the group’s life.14 According to historians Simon Brunk and Ben Fallaw, hero figures have often been an integral part of nation-building, embedded in national myths and having the status of national symbols. As symbols, they represent »historical events that are accepted as being critical to the creation of a nation«15 and are integrated in national remembrance. They also embody characteristics and values perceived as the essence of the national identity, and simplify the conceptions of the nation. As such they are intended to serve as a means to identify with the nation, and to unify a large number of people. However, they point out, their understanding is never unanimous. For heroes to be heroes, people have to accept them as such. They do so by attaching different meanings to them, remodel them and use them according to their own needs or needs of the smaller communities they live in, which do not have to be in accord with the official interpretations and narratives, participating in that way in the construction and negotiation of conceptions both of heroes and nations.16 As John Hutchinson argues, when nations come to being through warfare, the war becomes the foundation of the national-myth that »throws up [...] heroes who for later generations define the peculiar qualities of the nation and who are invoked as models that inspire and organize communities in their responses to subsequent crises as well as informing the conduct of everyday life.«17 In the case of nation-states that achieve their independence through victorious wars, »victory tended to vindicate the political leaders, often securing in power for generations a particular cohort of leaders and their particular vision of the nation« and »the leader often becomes the charismatic father of his country.«18 That was the case with Croatia and Tuđman as well. At the end of the 1980s, Yugoslavia faced a serious crisis due to which the legitimacy of the Communist Party started fading and »Yugoslav ideological consensus began to disintegrate.«19 Ideological and political pluralism was intro14 J. Assmann: Cultural Memory, pp. 23-25. 15 S. Brunk/B. Fallaw: Heroes and Their Cults, p. 3. 16 Ibid., p 3-5. 17 Hutchinson, John R.: »Warfare and the Sacralisation of Nations: The Meanings, Rituals and Politics of National Remembrance«, in: Millennium: Journal of International Studies. Vol. 38/2 (2009), pp. 401-417, here p. 402. 18 Ibid., p. 407. 19 Pauković, Davor: »Predizborna kampanja u Hrvatskoj 1990. u svjetlu hrvatskog i srpskog novinstva«, in: Časopis za suvremenu povijest 40/1 (2008), pp. 13-32, here p. 14.

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duced, and multiparty system legalized. Political parties that represented different ideological options appeared, mostly based on nationalistic conceptions. 20 One of them was Franjo Tuđman’s HDZ (Croatian Democratic Union), that he founded in 1989 and presided for life. In 1990, the first multiparty elections were held, with the most important issues in the campaign being »the national position of Croats, the position of Croatia in Yugoslavia, and relations between nations.«21 HDZ won the elections by emphasizing Croatian national question and Croatian sovereignty. HDZ turned into a political movement, and remained such and after the elections. Since its founding, it has mainly been perceived as a »right-wing nationalist party and often as radical and extreme.«22 Based on the election results, Tuđman was elected president of the Presidency of Socialist Republic of Croatia. After Croatia declared its independence, based on the new Constitution of Republic of Croatia, Tuđman was elected president for two more terms, in 1992 and 1997. He remained president until his death in 1999. During that time HDZ also won all the parliamentary elections, and was the ruling party for almost a decade. During Tuđman’s presidency, Croatia fought in the war of independence (1991-1995). He was the chief military commander, under whose command Croatian Army conducted military operations liberating occupied territories, most important of them being the operation Oluja (Storm), by which in 1995 the army succeeded to liberate the most part of the territory and ended the war. The rest of the territory was reintegrated in 1998 by international negotiation, also led by Tuđman. Therefore, »he was credited with establishing Croatia within its internationally recognized borders and ending the war.«23 However, that was not all there was. With the political changes in the 1990s, new politics of memory was employed as a means to legitimize newly established political and social order, based on reinterpreting national history – »deconstructing the old and constructing new narratives of the past«24. This »new historical truth« served as the basis for the construction of national identity. In this narrative, the independent Croatian state was interpreted as the utmost ideal and the main historical and political goal. The narrative was built around the idea of continuity of Croatian statehood and sovereignty since the Middle Ages, the 20 Ravlić, Slaven: »Eponimizacija ideološke promjene u Hrvatskoj 1989-2005«, in: Anali hrvatskog politološkog društva: časopis za politologiju Vol 2/1 (2005), pp. 105-117, here p. 111. 21 D. Pauković: Predizborna kampanja u Hrvatskoj 1990, p. 16. 22 Ibid., pp. 15-16. 23 N. Škrbić Alempijević/M. Belaj: Remembering ›The Father‹, p. 82. 24 T. Banjeglav: Conflicting Memories, p. 10.

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times of medieval Croatian Kingdom in 10th and 11th century, and the achievement of an independent state in the 1990s as fulfillment of the »thousand-yearold dream«. The other underlying idea was the perception of Croats as victims of injustice in the communities with other nations within different political structures throughout history, especially the Serbs in socialist Yugoslavia. 25 The war of independence (The Homeland War) was given central position in that narrative, as one of the constitutional fundaments of modern statehood. Described in the Constitution as an »expression of decisiveness and readiness of Croatian people for establishing and preserving Republic of Croatia as an independent, sovereign and democratic state«26, the war itself was given meaning of a collective heroic endeavor of Croatian people, with two dominant underlying heroic conceptions, that of heroic victim and that of victorious hero: »The narrative created around this war was centered on the idea that Croatia was attacked by rebel Serbs and the Yugoslav People’s Army (JNA), and that it defended its sovereignty and achieved independence by winning the war. [...] Thus, in this narrative, the Croatian state is simultaneously an innocent victim of Serbian aggression as well as a victorious hero which managed to liberate its territory and restore peace and security.«27 Based on this narrative, Tuđman was seen as »the one who made a thousandyear-old-dream come true«28, the victorious hero, creator of contemporary state, »the Father of the Nation«. In his lifetime, he became a very potent symbol. His name and figure came to stand not only for the presidential function he performed, but also for »all Croatian successes, the one and the most important Croatian dream [...], and, in the end, Croatia itself.«29 But that was not all that his name came to stand for. It also came to signify »essential features of political and social processes that shaped Croatian politics and history.«30 In the end of 1990s in political discourse the term »tuđmanism« appeared, denoting a model of organization of the state and society during 25 Koren, Snježana: »›Heroji‹ i ›antiheroji‹ u udžbenicima: slike nacionalne povijesti u udžbenicima uoči i nakon 1990. godine«, in: Pamćenje i historija u jugoistočnoj Europi, Unpublished Anthology, Zagreb 2006, pp. 107-119, here pp. 111-114. 26 Ustav Republike Hrvatske (pročišćeni tekst) [Constitution of the Republic of Croatia (consolidated text)], in: Narodne Novine, http://narodne-novine.nn.hr/clanci/sluzbeni/ 2001_05_41_705.html, accessed September 29, 2017. 27 T. Banjeglav: Conflicting Memories, p. 10. 28 Senjković, Reana: Lica društva, likovi države, Zagreb: Biblioteka Nova etnografija 2002, here p. 123 29 Ibid. 30 S. Ravlić: Eponimizacija ideološke promjene, p. 105.

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Tuđman’s and HDZ rule: »the system of clientelism and corruption that pervaded all the pores of society, [...], the absence of a democratic control over the state-party apparatus, [...] establishing authoritarian rule, restraint of ideological pluralism, and an endeavor to establish ideological hegemony of the dominant party.«31 Furthermore, in the beginning of the 2000s, after his death and HDZ’s loss of the parliamentary elections, the term »detuđmanization« started to be used in political discourse. It denoted »the demand for liberating the political life of legacy of authoritarianism and nationalism, which marked the rule of president Tuđman«, based on processes of »spreading ideological pluralism, deideologization of the state, and ideological modernization of the main parties« in which »nationalism ceased to be the ideological backbone of state politics and major parties’ programs.«32 It also came to denote the politics of the leftist government led by the SDP (Social Democratic Party) that was elected in 2000, and that in its politics towards the war turned from its celebration to its revision. The government started the cooperation with the International Criminal Tribunal for Former Yugoslavia (ICTY) to investigate war crimes against Serb civilians committed during and in the aftermath of Operation Oluja for which some of the Croatian Army generals were suspected. From the perspective of Tuđman supporters, right-wing politicians and a part of Croatian society, ideas and politics of detuđmanization were understood as a revision of history of the 1990s based on the rejection of the legacy of Homeland War and the struggle for independent Croatia, criminalization of the war, and even as a project of deetatization of Croatia.33 This polarization in attitudes and opinions on Tuđman, his politics, and his role in Croatian history and politics remains such until today, when he as a historical figure and his legacy are evaluated from a contemporary context. Amongst his supporters he is still seen as »the greatest statesman in the history of our people« and »military commander under whose leadership Homeland was defended and liberated«. »Homeland war and Tuđman’s doctrine« are seen as fundaments of contemporary state and »free and independent state of Croatia as his life work – and his permanent monument.«34 On the other hand, there are still 31 Ibid., pp. 111-114 32 Ibid., pp. 113-114. 33 Ibid. 34 »Veliko Trgovišće: Obilježena 94. obljetnica godišnjica rođenja dr. Franje Tuđmana« [Veliko Trgovišće: The 94th anniversary of dr. Franjo Tuđman’s birth commemorated], in: HDZ from May 14, 2016, http://www.hdz.hr/vijest/nacionalne/velikotrgovisce-obiljezena-94-godisnjica-rodenja-dr-franje-tudmana, accessed September 10, 2017.

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repetitive demands for acknowledging and debating other sides of his rule, such as »authoritarian regime that restrained democratic processes, freedom of media, and critical civil engagement; corruptive model of privatization; installment of corruption on the highest political levels; war crimes and human rights violations, especially towards ethnic minorities; criminal nature of Croatia’s involvement in the war in Bosnia and Herzegovina.«35 Contemporary evocations and actualizations of Tuđman as a figure of memory thus reveal him as » [...] a prism within which many different ways of interpreting the national past not only intersect, but also meet the heterogeneous and sometimes ideologically opposite interpretations of the Croatian present as well as various visions for its future.«36 The controversy surrounding Tuđman manifests itself even more around the initiatives for remembering Tuđman by inscribing memory of him into public spaces.

»I N MARBLE OR BRONZE , PLASTER OR POLYESTER , T UĐMAN LEAVES NO ONE INDIFFERENT « 37 Tuđman’s monuments in media discourse As Jurij Fikfak argues, »it is especially through the ritual practices used, and by including their names in the public repertoire of names and monuments, or by commemorating their lives and work, that former leaders have become a subject of controversy.«38 The process of inscribing Tuđman’s name and figure in public spaces by the changes in urban toponymy and by erecting monuments and memorials in his memory started as soon as he died.39 This transposition of Tuđman

35 Alternativni natječaj za umjetničko rješenje spomenika Franji Tuđmanu [Alternative tender for the artistic solution of the monument to Franjo Tuđman], in: YIHR, http://yihr.hr/hr/alternativni-natjecaj-za-umjetnicko-rjesenje-spomenika-franjitudmanu/, accessed September 29, 2017. 36 N. Škrbić Alempijević/M. Belaj: Remembering ›The Father‹, p. 81. 37 Klepac, Alenka: »Tuđmanovi spomenici niču kao gljive poslije kiše!« [Tuđman’s monuments sprout like mushrooms after the rain!], in: Express from August 19, 2015, https://www.express.hr/top-news/tudmanovi-spomenici-nicu-kao-gljive-poslije-kise2042, accessed August 27, 2017. 38 J. Fikfak: Leaders and Heroes, p. 9. 39 According to Croatian Wikipedia’s (incomplete) list of places named after Tuđman, the first one was naming a street in Vukovar after him on the very day of his death,

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as a historical figure into public space provoked strong public responses and generated contestations around questions such as what the right spaces for Tuđman are, if they are prominent enough, if they are related in any way to his life and work, if they are someone else’s symbolical spaces, what they should look like and how they should be used. They revealed different understandings of this hero figure, opposing notions of his role in Croatia’s history and his place in national memory, sometimes resulting in challenging, confronting or subverting official discourse.40 Until this day, according to some media, there are around 300 inscriptions of Tuđman in public space throughout Croatia, and it seems to be an ongoing process.41 Amongst those more recent, the one that gained the most media attention and provoked the widest public debate was the erection of the monument in the City of Knin in 2015 during the celebration of Victory Day. Victory Day42 is a national holiday established in 1996 as a commemoration of the military operation Oluja (Storm) by which the Croatian Army in August 1995 liberated and brought under Croatian legal order the largest part of the occupied territory including Knin, which was until then, during wartime, the capital of the selfproclaimed Republic of Serbian Krajina. In official discourse, Oluja is the keystone of the heroic narrative of the war, the »decisive, glorious, victorious battle of the Homeland war«, as stated in the parliamentary Declaration on Oluja.43 It is also one of the greatest Tuđman’s credits, who »as the president of the Republic and chief commander of the armed forces had a key role in preparing, commanding and supervising military operations« and for which he is owed

December 10, 1999. https://hr.wikipedia.org/wiki/Dodatak:Popis_mjesta_imenovani h_po_Franji_Tu%C4%91manu, accessed August 27, 2017. 40 N. Škrbić Alempijević/M. Belaj: Remembering ›The Father‹, pp. 86-89. 41 The most recent one was the monument erected in May 2017, in Zaprešić, a small town near Croatia’s capital Zagreb. Zagreb is still waiting for its own Tuđman. According to the announcement of Zagreb mayor Milan Bandić, it is supposed to happen sometime in 2018. 42 The official name of the holiday is »Victory and Homeland Thanksgiving Day and the Day of Croatian Defenders«, but in public discourse it is most commonly referred to just as Victory day or The Day of Oluja. 43 Deklaracija o Oluji [Declaration on Oluja], in: Narodne novine from July 10, 2006, http://narodne-novine.nn.hr/clanci/sluzbeni/2006_07_76_1787.html, accessed September 17, 2017.

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»special thankfulness and respect.«44 Victory Day celebration is held every year in Knin on August 5th, the date when Croatian Army entered Knin in 1995.45 Two events from those days became symbols of Croatian victory: one was the arrival of Croatian Army to Knin, whereupon a group of soldiers climbed on the Knin fortress, took down the Serbian flag and raised the Croatian one. The other one was the arrival of president Franjo Tuđman the next day when, on the fortress, he kissed the Croatian flag and raised his arms with his fists closed as a sign of victory. The ceremonial raising of the flag on the fortress is an integral part of the political ritual performed in Knin every year, while Tuđman’s victorious appearance was yet to be inscribed into the space of Knin. In February 2015, the City of Knin and the Croatian Artists’ Association announced a public tender for the design of the monument to Franjo Tuđman which was to be erected in Knin that year. The Knin government had a very specific demand regarding the heroic image that the monument should represent, »considering the importance of Franjo Tuđman for the City of Knin and Oluja.«46 As the text of the tender specified, the statue was expected to be »recog44 Ibid. 45 This »heroic victory«, however, is not perceived unanimously as such within Croatian society. Controversies surrounding the memory of Oluja and the celebration of Victory Day have been present from the very beginning of commemoration. There are several contested narratives evolving around the memory of Oluja. One of the main points of contestation is concerning Serbian civilian victims killed during and in the aftermath of Oluja by Croatian soldiers, as well as the eviction of a large number of Serbian citizens from that area, which are not recognized in the official narrative. There were different initiatives throughout the years by various activist groups appealing to the governments to offer a public and official apology to the Serbian civilians and their families, even protest actions and counter-commemorations. On the other hand, after war crime indictments in 2001 and governments’ decision on cooperation with the ICTY, the commemoration was contested and boycotted from the far-right, who saw their politics as criminalizing the war. Until 2015 there were two parallel celebrations, the official one held in Knin, and the unofficial one in a small village Čavoglave, near Knin, organized by the popular, but highly controversial musician and rightist icon Marko Perković Thompson. For more detailed account of the contestations surrounding the operation Oluja see T. Banjeglav: Conflicting Memories. For the analysis of Thompson controversy see Pletenac, Tomislav: »Accidental Celebrity? Constructing Fame in Postwar Croatia«, in: Traditiones 45/1 (2016), pp. 31-46. 46 Lendvaj, Ana: »Odluka žirija: Niste ›pogodili‹ Tuđmana, Kipari: Tražimo pošteno suđenje« [Jury’s decision: You didn’t ›get‹ Tuđman right, Sculptors: we demand a fair judgement], in: Večernji list from April 16, 2015, https://www.vecernji.hr/kultura/

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nizable in historical and symbolical context of the City of Knin, for example kissing the flag, raised arms and alike.«47 By reproducing Tuđman’s victorious gestures, it was supposed to establish continuity with the official heroic narrative of Knin and its victorious imagery. The monument was at first to be placed in a park in the city center, in front of the building of City Administration. Two months later the tender was cancelled. Jury claimed that they were unable to choose amongst proposed artistic solutions because they didn’t meet the criteria defined in the tender: »none of the authors managed to feel and in their work embody the strength of Dr Franjo Tuđman we wanted to show.«48 Also, it was stated, they didn’t manage to achieve »recognizability of the physiognomy and movement« or »anatomical correctness.«49 So the tender was repeated and artists who participated in the first one were forbidden to apply again. With the second tender, the planned location for the monument was changed. It was decided that it will be situated on the Knin fortress, explaining the choice of the location by inscribing into it a notion of »authenticity«. As one member of the jury stated, the fortress was a »unique pedestal for Tuđman statue« and therefore it would »probably be a stimulus for greater inspiration and artistic solutions of better quality.«50 Amongst proposals submitted to the second tender, jury chose the work of academy-trained sculptor Miro Vuco: a bronze 2.3-meter-high statue of Tuđman in contrapposto, arms crossed on the chest with his right hand raised to his face, as if he was gesticulating. The monument was unveiled on Victory Day by the country’s president Kolinda Grabar Kitarović and Tuđman’s son Miroslav during the ceremony of flag-raising on the fortress. All eyes that day were pointed to Tuđman. With regards to the symbolism of Knin and related imagery, the most important question that evolved around it was what it will look like. Opinions on the monument were, of course, divided. Most of the critiques of the monument were focused on its »inauthenticity«. There were a lot of expressions of dissatisfaction and disappointment with the fact that Tuđman wasn’t odluka-zirija-niste-pogodili-tudmana-kipari-trazimo-posteno-sudenje-1000638, accessed August 30, 2017. 47 Ibid. 48 Ibid. 49 Ibid. 50 Polšak Palatinuš, Vlatka: »Žiri odbio 18 kipara, predložene fizionomije Tuđmana ne valjaju« [The Jury rejected 18 sculptors, suggested Tuđman’s physiognomies are no good], in: Tportal from March 25, 2015, https://www.tportal.hr/vijesti/clanak/ziriodbio-18-kipara-predlozene-fizionomije-tudmana-ne-valjaju-20150325, accessed August 30, 2017.

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portrayed in a proper manner – in his »victorious pose«, with raised hands and closed fists. For example, Vesna Škare Ožbolt, former HDZ member and Tuđman’s associate, stated that the monument would probably be fine in some other location, but that here it was inappropriate because »Tuđman’s monument on the Knin fortress makes sense only in the pose we all remember, the victorious one.«51 The statue wasn’t seen just as a memory of Tuđman, but also as a memory of a certain episode from national history. For this reason, some people saw this monument even as falsifying the truth about what happened in that place on that day. The author of the monument responded to the criticism by stating that it is already well known how it looked when Tuđman arrived to Knin for the first time, and this statue should be seen as »his second coming to the fortress, his second time amongst the people of Knin«, which is why he wanted to portray him as a man of great communication skills, who »comes to bring peace to Knin, but peace dictated by the winner.«52 Tuđman’s son Miroslav pointed to the symbolical importance of the monument in that place, explaining it as a necessity that »the historical moment of the first president’s arrival to Knin [...] that meant the end of war« was symbolically represented, and for him it was good that the monument showed »spiritual, strategic and conceptual dimension, not the pathetic victorious one.«53 Other critiques weren’t focused so much on the materialized gesture of Knin’s Tuđman, as they were on the characteristics they saw embodied in it. To one of the art critics Tuđman looked like a shy poet »who defends himself from the world with his arms crossed.«54 He saw the monument as »interesting 51 Srzić, Ante: »Tuđman u Kninu: Njegovu sinu se sviđa, a drugi bi borbeniju pozu« [Tuđman in Knin: His son likes it, but others would like a more militant pose], in: Tportal from August 5, 2015, https://www.tportal.hr/vijesti/clanak/tudman-u-kninunjegovu-sinu-se-svida-a-drugi-bi-borbeniju-pozu-20150820, accessed August 27, 2017. 52 Peritz, Romina: »Autor kninskog Tuđmana. Samo Jutarnjem umjetnik je pokazao spomenik o kojem svi govore« [The author of Knin’s Tuđman. Only to Jutarnji the artist showed the monument everyone is talking about], in: Jutarnji list from July 3, 2015, http://www.jutarnji.hr/kultura/art/autor-kninskog-tudmana-samo-jutarnjem-umj etnik-je-pokazao-spomenik-o-kojem-svi-govore/277705/, accessed August 27, 2017. 53 Ibid. 54 Čadež, Tomislav: »Spomenik mladom stidljivom pjesniku nezdravih živaca« [A monument to a young shy poet with unhealthy nerves], in: Globus from August 24, 2015, http://www.jutarnji.hr/globus/spomenik-mladom-stidljivom-pjesniku-nezdravihzivaca/295720, accessed August 27, 2017.

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perhaps as a political provocation«, claiming that anything could be said about the man the statue portrays, »except that he represents some aggressive guy, some combative military leader« and that hardly anyone from the outside would »believe us that we created a state with the help of lyricism, depression, or contemplation.«55 Another one saw it as extremely offensive, describing it as an opposition to »gravity, common sense, taste, patriotism, but most of all [...] [to] the figure and significance of the first Croatian president«, claiming that »Tuđman never, physically or politically, was imbalanced and shaky, or prone to collapsing. His mimics and gesticulation spoke of victory, decisiveness and strength, not uncertainty, doubt, or looseness, as Vuco sees him.«56 These unmet expectations that were the main point of the contestation over the Knin monument provide insight into people’s imaginings and conceptions of Tuđman as a hero. On the one hand, as a materialized memory of Tuđman, the monument was expected to be »recognizable«, not only by capturing his distinguishing physical features, but even more by embodying certain heroic characteristics – strength, firmness, decisiveness, combativeness – attributed to him based on people’s perception of him as a heroic leader. On the other hand, based on the meanings inscribed into the place where it was located, the monument was expected to materialize the appropriate image of the hero, the victorious one, and in that way to accord with the symbolism and memories inscribed into the location and the heroic narrative that evolved around it. However, debates on the monuments from another angle revealed some other understandings of the hero. Inspired by the contestations over the Knin monument, many Croatian media engaged in the debates on Tuđman’s monuments, but broadening the horizon by including in their commentaries the overview of all the monuments that were erected recently (in the last couple of years) throughout the country, naming the phenomenon »the flood of Tuđmans«. In commentaries titled with phrases like »More funny statues of the first president«, »Tuđman makes people laugh« or »Who chooses these horrid monuments of the first president?«, they emphasized their low aesthetic quality and little to no resemblance to the man they were supposed to portray, and questioned their adequacy concerning the significance of the historical figure they were supposed to represent. They also invited experts, artists and art historians, to bring their opinion on the matter, from whose point of view this phenomenon was seen as 55 Ibid. 56 Runtić, Ingrid: »Tko je autor potpuno promašenog spomenika Tuđmanu u Kninu?« [Who is the author of the completely failed monument to Tuđman in Knin?], in: HOP nezavisni news portal on August 8, 2015, https://www.hop.com.hr/2015/08/08/tko-jeautor-potpuno-promasenog-spomenika-tudmana-u-kninu, accessed August 27, 2017.

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»dilettantism and complete irresponsibility towards public space«57 or even »monumental ridiculization of Croatia [...] that should immediately be stopped.«58 By pointing out that these monuments »provoke laughter instead of awe«59 and »serve for purposes of laughter and fun, exactly what monuments like that shouldn’t stand for«60, these commentaries raised two important questions: how does Croatia remember Tuđman and what does it reveal about contemporary Croatian society? This provoked a strong public response with a wide range of different reactions, engaging a lot of online commentators on news portals and social media who brought to the debate their different visions on both monuments and Tuđman. For some, these material variations of memory of Tuđman were a trigger for comic and parodic remakings of the hero figure by means of which the official hero narrative was subverted. Approaching the matter humorously, they made jokes about both Tuđman and monuments based on comparisons and associations, inventing funny nicknames for different Tuđmans depending on whom or what the statues reminded them of, and usually ironically stating that artists ingeniously succeeded in revealing yet unknown sides of the president. One of the most popular was »The-Tuđman-in-skirt«, a 2.5-tonne statue carved in white marble, that captures Tuđman’s »victorious gesture«, but has a bell-like shaped lower body with no clearly defined legs and a coat of arms carved on it. It is supposed to be representing Tuđman wrapped in a flag, but it really resembles a skirt, which inspired a lot of parodic interpretations.61 One of them, for example, was that it really represents »Francesca Tuđman, who was unfortunately never

57 »Tuđman nasmijava narod« [Tuđman makes people laugh], in: pogledaj.to from August 17, 2015, http://pogledaj.to/art/tudman-nasmijava-narod/, accessed June 12, 2017 58 Arhiva: »Doktor za spomenike: Kako se to poštuje Tuđmana tim diletantskim kipovima?« [A doctor for monuments: How is Tuđman respected with these dilettante statues?], in: Jutarnji list from April 25, 2015, http://www.jutarnji.hr/kultura/art/doktorza-spomenike-kako-se-to-postuje-tudmana-tim-diletantskim-kipovima/381646/, accessed June 11, 2017. 59 »Tuđman nasmijava narod« [Tuđman makes people laugh], in: pogledaj.to from August 17, 2015, http://pogledaj.to/art/tudman-nasmijava-narod/, accessed June 12, 2017. 60 Ibid. 61 It was also nicknamed »Lego-Tuđman«, for some saw it as resembling a Lego robot figurine.

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destined to be Croatia’s first female president«62 or that it was an artistic vision of past and the future merged in one statue – Franjo Tuđman from the waist up, and current president Kolinda Grabar Kitarović from the waist down: »Wouldn’t it be easier than making a new statue, just remove the head and the tie, and we have Kolinda!«63 For others, they were no laughing matter. Some saw them as an offensive act of disrespect, which provoked a lot of expressions of anger and resentment towards the authors. Some claimed that the authors should be happy they weren’t sued by the Tuđman family for such mockery, and that they should be banned from further work. For others, it was a point of critique of both local and state governments, especially regarding financial politics and current economic situation of the state. They raised concerns about the source of funding for the monuments, stating that they were a »waste of tax payers’ money« that could be better spent in myriad other ways, especially in a country that struggles with huge unemployment rates and increasing poverty of its citizens. A lot of comments, of course, were directed at Tuđman himself. In some opinions, these monuments are a reflection of his both external and internal ugliness, »an artistic interpretation just like was his character, a horror«64 or »disgusting, just as Tuđman was disgusting«65, seeing them as the exact memory he deserved: »Like president, like monument. He didn’t deserve any better.«66 Amongst those who stood in Tuđman’s defense, some dismissed the relevancy of the monuments for preserving the memory of him, claiming that »not even the clumsiest sculptor can diminish the work of dr. Franjo Tuđman«67 or that he doesn’t even need monuments for »he lives forever in the hearts of Croats.«68 The main argument of the defense, however, was his role of the creator of the state and bringer of freedom and democracy: 62 Merdanović, Hajrudin: »Franjo u suknji: Tuđman dobio spomenik kojemu se svi čude« [Franjo in a skirt: Tuđman got a monument that everyone is surprised with], in: 24sata from July 28, 2015, https://www.24sata.hr/news/franjo-u-suknji-tuman-je-dob io-kip-kojem-se-svi-cude-430097/, accessed September 13, 2017. 63 Ibid. 64 Arhiva: »Doktor za spomenike« [A doctor for monuments], http://www.jutarnji.hr/k ultura/art/doktor-za-spomenike-kako-se-to-postuje-tudmana-tim-diletantskimkipovima/381646/, accessed June 11, 2017. 65 Ibid. 66 Ibid. 67 H. Merdanović: Franjo u suknji [Franjo in a skirt], https://www.24sata.hr/news/franjou-suknji-tuman-je-dobio-kip-kojem-se-svi-cude-430097/, accessed Sep. 13, 2017. 68 Ibid.

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»It’s sad to read comments of people who openly brag about not liking dr. Franjo Tuđman. That man made this country and gave us all freedom and democracy! He dedicated his whole life to creating this state and liberating Croats from the claws of dark Yugoslavia. […] Aren’t you ashamed of yourselves spitting like that on all that’s Croatian and on the man who loved this country more than he loved himself?!!! «69

Some opposed these notions of his legacy by focusing on what they saw as the actual results of his rule and his politics: »It’s a crime to erect a monument to a criminal who should in reality be forgotten as soon as possible. Hunger, poverty, robbery, privatization, and crime, those are his monuments.«70 Finally, the critique was pointed towards the Croatian people themselves and what was perceived as their wrong political choices and decisions: »They should be covered with tarpaulin, this way they are an everyday reminder of our stupidity.«71 By opening a space for articulation of different voices, this media debate opened an arena for negotiating notions of a hero by diverse interpretations and remakings, some in accordance with understandings established in official discourse, some contesting it by pointing to the opposed notions, and some undermining and subverting it by its comic alterations. But even more, it showed how by negotiating notions of a hero different interpretations of the Croatian present are articulated, on matters like current economic and political situation, thus revealing both the importance of the hero figure in contemporary society and embeddedness of hero-making in wider contemporary social processes.

»W E HAVE GREATER HEROES , YOU KNOW « HERO - MAKING IN SITU In order to explore how this multivocality on the hero question and multifacetedness of the hero is manifested in a concrete place and in people’s concrete practices, I decided to choose a place where I expected to be most likely to find them. Therefore, I conducted field research in Knin on August 5th, 2016, during the celebration of Victory Day. My field research was based on participant observation of various activities during the entire day of the celebration. I also conducted open interviews with participants, sometimes longer, sometimes shorter, depending on the circum-

69 Ibid. 70 Ibid. 71 Ibid.

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stances of the situation we were in. I was interested in ways in which the hero figure was evoked in the context of the celebration, ways it was used, remade and embedded in people’s practices, as well as in ways it was (re)interpreted in individual narrations. My central interest, however, were the narrations and practices related to the Tuđman’s monument on the fortress, both from the perspective of local citizens of Knin and of visitors who were there only for the celebration. My other concern were people’s perceptions and conceptions of heroes and heroism. Questions I asked regarding Tuđman and the monument were quite open. I usually asked what they thought of the monument, what they thought of Tuđman, and if they considered him a hero. Upon my arrival to Knin on the evening before the celebration, I went out to the city center to familiarize myself a bit with the main points of tomorrow’s events. There I met two young men from Knin in their early twenties. One of them was working at the small coffee place I was at, while the other just went out for a drink there. They readily engaged in the conversation with me, expressing their opinions very openly and bluntly. The main emotional reaction that the questions concerning the celebration of Victory Day provoked in them was anger. It was a trigger for sharp criticism of the city’s and state’s government and politics. For them the celebration was a perfect example of »everything that’s wrong with this state [...] it is because of events like this one that our budget, and state in general is in ruins.«72 As they pointed out, living in the hero-city was harsh. People were unemployed and unable to find a job in the city or somewhere near, a lot of them lived on welfare, there was no perspective for young people, and people were increasingly moving out, while the city and the state government invested huge amounts in things such as war monuments, a war museum, and a new church. In their opinion, these were all useless investments that served for embellishing the face of Knin for one day of the year, while for the rest of the year it was empty. While all attention was directed towards Knin on »that one day«, this everyday reality remained unrecognized: »I think it’s disgusting, this whole celebration, like, everyone remembers Knin only for the August 5th, the rest of the year it’s not even on the map, just like Vukovar before November 18th, nobody even has a clue that it exists, it’s the same shit here. [...] In general, everybody loves Knin only on August 5th, rest of the year fuck it. And that’s the point of view of most of the people in Knin.«73

72 Interview, August 4, 2016 73 Ibid.

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Tuđman’s monument was thus just a small part of that broader issue. However, they had quite clear opinions on both him and the monument. For one of them Tuđman was anything but a hero, more of a villain, in fact: »Tuđman is a usurper, a jerk, he just took advantage of his position to dismember the state, so he can privatize the companies and divide them amongst his family members, and that’s what he did, you have it on paper. And besides that, you see who Tuđman is family with, where did he get a company all at once in [19]95? Complete jerk!«74

Based on this interpretation, to him Tuđman was not a figure that should be remembered. That’s why he saw the monument on the fortress as »complete shit« that should be destroyed: »I hope that some guy will get pissed and put three kilos of dynamite underneath it and blow it up to hell!«75 To the other one, though, who had a more playful and humorous approach to it, it was »Hilarious! Artistically bad, I mean, he looks like a rap singer captured in ice for the last three and a half thousands years.«76 As such, it served as an inspiration for potential comic alteration of the figure: »I already had an idea, you see, he stands like this (stands up and takes up a pose of the Tuđman statue, KV), looks like a rapper, and I have an old microphone, I would put a microphone in his hand and tie a headwrap like rappers wear around his head.«77

However, this undermining of seriousness of the authoritative Tuđman figure by transforming it into a comic figure of »Tuđman the rapper« wasn’t seen as worth the money that should be invested in it: »I already wanted to do it, but the biggest problem is that I tried to find a headwrap for the occasion, and every time I find something, it’s like 20, 30 or 50 kunas. Fuck it, I’m not paying for that just for a prank.«78

In further discussion, another one point of dispute arose, that of the monument’s location. The fortress is the best known symbol of Knin, presented as a symbol of its »glorious history« and its status of a »royal city«. According to the Knin Touristic booklet, it is the largest historical fortification in Croatia, and the se74 Ibid. 75 Ibid. 76 Ibid. 77 Ibid. 78 Ibid.

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cond largest military fortification in Europe. It was the seat of Croatian rulers during the medieval times, the most important of them being king Zvonimir who permanently resided there during his 14-year rule (1075-1089).79 Therefore Knin is often referred to as Zvonimir’s city. There is also a monument to Zvonimir in Knin, a statue located in the park next to the roundabout at the entrance to the city center. In the spring and summertime, it is a bit obscured by the surrounding treetops, so not very visible: »What’s most fascinating to me is that king Zvonimir is on the roundabout, and Tuđman is up there [...] I mean, whose else’s greatest king is on the fucking roundabout? What does it say about Knin? Shouldn’t he be on the fortress, like on his throne? Let Tuđman be on the roundabout. To me, that’s completely fucked up.«80

The dispute of the location for Tuđman was based on confronting Tuđman and Zvonimir, their symbolic significance, and the prominence of the locations that are made into their realms of memory within the space of Knin. In that confrontation, where Tuđman took over the symbolic space of »the greatest king« and overthrew him from his throne, another contestation is manifested: that between local and national symbols.81 The fortress, which is for the locals of Knin primarily the symbolic space of local history and local identity, by inscribing Tuđman in it, becomes a symbol of national memory, and the national symbolism in that relation is seen as upstaging the local and pushing it to the background. Tuđman on the fortress, outside and above the city, wasn’t a part of everyday routes and practices of the local citizens. When, the next day, I was trying to find my way up to the fortress, I stopped a man from Knin to ask him for directions, 79 »Što posjetiti u Kninu i okolici?« [What to visit in Knin and its surroundings?], in: Grad Knin – Službena mrežna stranica, http://www.knin.hr/sto-posjetiti/, accessed on September 12, 2017. 80 Interview, August 4, 2016 81 This relation between Tuđman and Zvonimir could be seen from yet another perspective. King Zvonimir is also an important figure in the newly formed narrative of Croatian history. Besides being one of the glorious kings of Croatian medieval kingdom, there is also a wide spread popular legend concerning his death. According to that legend, Zvonimir’s death was an act of betrayal of his soldiers who killed him because they didn’t want to fight with him for the Pope in the Crusades. In the moment of his death, he cursed the Croatian people so that they would never again have a ruler »of their own blood«, but always be ruled by foreigners. Based on that legend, in some interpretations, besides being »the one who made the-thousand-year-old-dream come true«, Tuđman is also seen as »the one who broke the curse«.

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and asked how to get to Tuđman’s monument. For a moment, he expressed uncertainty about the exact location of the monument, mistaking it the for Zvonimir’s one: »Tuđman’s monument? That’s this one down here? […] No, no, Tuđman’s monument is up there, this is Zvonimir.«82 But his central concern when it came to the question of the heroes that should be commemorated in the space of Knin weren’t either Tuđman or Zvonimir or the fortress. When I asked about his opinion on the monument, he pointed out that he respected Tuđman as the first president, but there were other heroes that should be commemorated in the city space, »little people«, especially locals: »What I would like to see is a memorial to fallen defenders. [...] I don’t underestimate Tuđman, but a monument should be made to the little people, it should be at least written somewhere in every town. A lot of people died, and it’s impossible to account for all of them, but at least if they are from this area.«83 However, for people who came from other parts of the country, only for the celebration of the national holiday, the fortress was a stop that they wouldn’t miss during their stay in Knin. As two visitors told me, »we think that it would be a sin to come to Knin and not go to the fortress. I mean, why are we here in Knin if we don’t go to the fortress.«84 For some it was interesting as a historical site, some were impressed by its size, and some admired the view from the fortress heights, but, what I was interested in were the ways people actualized it as a space of national memory on that day. I went to the fortress to observe people’s actions and practices, with special focus on the monument. I was interested in how people use the space, what they do with and around the monument, how they approach it, that is, how they inscribe life in Tuđman’s statue, and vice versa, how they inscribe Tuđman in their own lives. When I arrived to the fortress, sometime in the later afternoon, there weren’t a lot of people there. Tuđman was placed at the highest point of the fortress, in the middle of the plateau on the fortress top, a few meters from the other symbol of Knin victory, the flag, which was ceremonially raised earlier that day. At the pedestal of the monument, next to the statue’s feet, there was one candle lit. The people who were there, weren’t gathered around the statue, they approached it to pose for a photo, take a photo, and then moved away and either walked around the plateau or went for the walls to sit and enjoy the view. After some time, more people started coming and it was soon becoming crowded. They came in small groups, mostly friends or family. As more people wanted to take a photo with

82 Interview, August 5, 2016 83 Ibid. 84 Ibid.

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Tuđman, activity around the monument increased. People surrounded the monument, chattering and laughing while waiting for their turn to take a picture. Their approaches to the monument varied a lot. Some of them would stand in front of the monument or on the side, taking what could be perceived as a respectful distance to Tuđman, standing still and posing seriously for the photo. Some would climb the pedestal (which isn’t very high, so the monument is rather accessible), and touch Tuđman, placing their hands on his shoulder or their arms across his back, as if they were embracing a friend. Some chose a humorous approach, as one younger man who came with a bottle of beer in his hand, climbed the pedestal, raised the bottle in a »cheers« gesture towards Tuđman and then took a sip. At some point, a couple of men appeared who decided to »decorate« him: one put a flagpole in his hand, while another one took another flag, covered his shoulders and tied it around the neck, as if it were a cape – making Tuđman for a brief moment Croatia’s Superman. Others greeted their gestures with laughter and approval, and some of them then decided to take pictures with that »decorated« Tuđman. But, that only lasted for a short period of time. Soon after, they parted from the statue. They didn’t stay at the fortress for a long time, either. After taking a picture with the monument, they would walk around the plateau, some of them taking some more photos, underneath the flag or with the panorama in their background, and left the fortress, went back to the city center for the evening events of the celebration. However, by these actualizations, no matter how brief, the hero gained a new life. With their practices people invested it with various meanings, emotions, and memories. On the other hand, by taking photographs of that moment and thus enabling its lasting presence in their lives, people inscribed a hero into their own their personal memories and their everyday lives. But the conversations with the visitors from the fortress revealed that understandings of Tuđman’s heroism weren’t unambiguous. The interpretation of Tuđman as a hero in their narrations showed that, as a hero figure, Tuđman was also actualized as a point of negotiating meanings of heroism. I approached a group of three younger men who were taking photographs of themselves with the monument with a kind of proud smile on their faces. They told me that it was their first visit to Knin. They had wanted to come for the celebration for years, but circumstances wouldn’t allow them, so they were very happy to be there. They all agreed that the fortress was a »must see«, but one of them pointed out that he likes the statue of Tuđman more. He pointed out that it didn’t really look like him, but that was the matter of artistic license. One of them saw the monument as a means of celebrating the hero, stating that for his

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merits in creation of the state Tuđman deserved it, especially in the place that was the symbol of the state: »Franjo is a historical figure who deserved to be celebrated, so to say. He deserved it. This day. Since Knin is a symbol of liberation and of Croatian state in general. [... He] was the first person, prominent so to say, from the very beginning. And he deserves his place in history, he is responsible for the state we have today, and that we respect, celebrate and commemorate.«85

Figure 1: The Tuđman monument.

Photo: K. Vugdelija, August 5th, 2016.

But when I asked him if he would consider Tuđman a hero, he answered by contrasting the notion of Tuđman as a hero with another hero figure, who also deserved to be acknowledged heroism: »We can say about him that he is a hero. Because without him, without his leadership at that time, there wouldn’t be a state today. [...] But look, every man who sacrificed himself

85 Interview, August 5, 2016

216 | K RISTINA VUGDELIJA during the war, on the battlefield, dying so to say, so that we could be here today, I think they deserved to be called heroes, too. [...] The one who died in war is no less of a hero.«86

Another two visitors from the fortress expressed similar understandings of who the heroes are. However, their notion of Tuđman as hero was somewhat different. When I asked on their opinion of the monument, one of them laughingly responded that »it’s not really a masterpiece. It could have been prettier. It could have been better.«87 To him the problem was that the statue didn’t accord with the idea of a heroic leader. Tuđman as represented in the Knin monument seemed »a bit too hesitant. Perhaps he was like that in some situations, but there should have been more decisiveness built into that monument.«88 He understood Tuđman as what he named »an official hero«, a symbol which was primarily to be shown to the outside of the national community, to the »others«, and in which the internal contestations were not supposed to be seen: »He is officially a hero because every state, especially an independent one, has to have its own hero. It has to have its trademark. But when we talk about it amongst ourselves, we Croats, what we do not present publicly, then of course you could find a lot of mistakes. There are a lot of things that weren’t done right.«89

The other one joined the discussion by stating that in reality there were heroes greater than Tuđman, but their heroism remained anonymous and unacknowledged: »We have greater heroes, you know. Little people. [...] There are a lot of people like that, who gave a lot for the homeland, and who aren’t ordained, and no one knows about them. And they are self-effacing and they don’t talk around and brag with their ordains and medals, nor with their successes or merits. Because they didn’t fight for that. They went to fight for our better tomorrow, for us to have a free country.«90

In these narrations, when addressed explicitly as a hero, Tuđman becomes a point of confronting different conceptions and understandings of heroism. Although they all agreed that Tuđman should be commemorated as the heroic leader, »the official hero«, they also articulated other understandings of heroism, 86 Ibid. 87 Ibid. 88 Ibid. 89 Ibid. 90 Ibid.

T HE

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compared to which notions of heroic leadership and victorious hero become somewhat of a heroism of lesser range. Moreover, by emphasizing that in reality this »greater heroism« of ordinary, »little«, people should be commemorated, the official heroic discourse and politics of memory is contested. By attributing the »real« or »greater« heroism to other heroic figures, whose heroism is based on conceptions such as bravery, selflessness, and mostly the heroic sacrifice, the official notions of heroism are negotiated.

C ONCLUSION By analyzing Franjo Tuđman as a hero, a symbol to which, from different perspectives, different meanings are attributed, the aim of this paper was to show its multiple manifestations and various modes of its actualization in society, that is, to show various mechanisms of hero-making as a social process in which different actors continuously negotiate, contest and reinterpret meanings and understandings of heroism. By focusing on Tuđman as a figure of memory that embodies ideas, values and identity conceptions of the national community, but also reveals its contestations, I attempted to show how the dominant hero narrative is produced in the context of politics of memory of the war, how official heroic narratives and images are challenged in media discourse, and how are they reinterpreted and remade by means of diverse individual narrations and practices. In that way, I grasped hero-making on different levels and showed how the hero is constructed in the interrelatedness of social actors that are engaged in the process. The example of Tuđman monuments proved to be a good standing point from which all of those aspects could be revealed. On the one hand, when analyzed from the aspect of politics of memory, as a practice of inscribing the official history in public space, it shows how the hero is actualized as a means of reaffirming the official victorious heroic narrative of the war and embedding it permanently in national remembering. On the other hand, media contestations of this practice, and of the appropriate heroic image represented in these materializations of memory, show that a hero is also actualized as a point from which various interpretations of the Croatian present were articulated, which reveals his importance for the contemporary society, as well as the embeddedness of heromaking in wider contemporary social processes. Similar tendencies are present when it comes to hero actualizations in individual narrations and practices. Based on diverse interpretations and remakings of the hero, understandings established in official discourse are sometimes confirmed, sometimes subverted by

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parodic interpretations, or directly opposed by emphasizing notions of hero contrary to the official narrative. But other than just revealing contestations of various understandings of the hero’s meanings and place in national memory, individual actualizations also showed that a hero figure becomes a stimulus for articulation of other heroic conceptions that are not included in the official narrative and thus a point of negotiating broader notions of heroism. All of these various actualizations of the hero figure point to multifacetedness and processuality of the hero and heroism as a social phenomenon. However, there is also another function that a hero as a figure of national memory performs, revealed when approached with focus on the monument as a practice of localization of national memory: that of transforming the place where it is located. As it can be seen on the example of Knin, by localizing the national in a concrete place, in form of a hero monument, the local becomes »nationalized«, transformed into the realm of national memory. The heroic narrative, in this case the narrative of the war victory, becomes the narrative of the place itself, and the materialization of memory concretizes and reaffirms the official narrative and related imagery. At the same time, this transformation of meanings of place opens an arena for attributing different meanings and for various actualizations of space. Visitors who come for the celebration of the national holiday, actualize both the hero and the space of Knin in their narrations and practices within the context of memory and the heroic narrative. But from the perspective of locals those notions are a point of contestation. On the one hand, what is contested is the national hero and symbolical place that he is given within the space of Knin, based on the understanding of that place as primarily a symbol of local history and local memory. On the other hand, it is a part of the broader issue of contesting the meaning of Knin itself as the symbol of national memory, which is seen as the dominant perception of the place. Based on experiences of spaces of Knin as spaces of their everyday life and everyday practices, this notion is opposed by pointing out that this is the meaning activated only on the one day, while this everyday reality is emphasized as the real identity of the place, which in the official narrative remains hidden.

Helden, Widerstand und Alltag Die französische Résistance im Zweiten Weltkrieg J OHANNA R OLSHOVEN UND J USTIN W INKLER

Die Zeichen trügen wohl nicht, dass das Heldische Konjunktur hat, wenn die bürgerliche französische Tageszeitung Le Monde im Sommer 2017 einen Schuber mit »Abenteuern von Götter und Heroen« mit dem Bild von Herakles beim Erwürgen des Nemeischen Löwen bewirbt. Weniger in die Antike als in die Gegenwart verweist der im gleichen Sommer erschienene Roman von Fabrice Humbert »Wie kann man als Held leben?«.1 Das Thema der Helden ist im Frankreich der neugewählten Regierung unter Präsident Macron präsent, der sich gerne mit Boxhandschuhen zeigt, wie der Protagonist des genannten Romans, Tristan Rivière. Dieser versagt als Held gemäß dem väterlichen Vorbild der Résistance, indem er, beide Male in der Untergrundbahn, davonläuft anstatt seinen Boxlehrer zu verteidigen, als dieser angegriffen wird, oder, zehn Jahre später, die Sekunden abzählt, anstatt der Bande entgegenzutreten, die eine junge Frau tätlich belästigt. Das außerordentliche Heldentum der Väter gerät für ihn außer Reichweite (und erweist sich als das, was es ist: konstruiert), im alltäglichen Heldentum versagt er; gleichzeitig ist er als Geschichtslehrer damit konfrontiert, die Geschichte der Nation anhand ihrer ›Helden‹ zu vermitteln. Die beiden aus dem öffentlichen Diskurs und der aktuellen Literatur stammenden Beispiele zeigen bereits die Spanne vom Heldentum der einzigartigen Tat zur Heldenhaftigkeit des Alltags auf. Der nächste Schritt ist der vom individuellen Helden zum Heldentum von Gruppierungen, von sinnlosem Todesmut zu verantwortlicher Zivilcourage. Hier merken wir, dass das Bild des Helden sich ebenso leicht überspitzen wie verwässern lässt. 1

Siehe www.CollectionMythologieLeMonde.fr sowie Humbert, Fabrice: Comment vivre en héros? Paris: Gallimard 2017.

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Weil Heldenbilder zentrales Agens der Konfigurierung von Kultur sind, werfen wir zunächst einen Blick auf einen ihrer Ursprungsmythen (den antiken Helden), um dann das Feld zu betreten, auf dem Alltag und Ausnahmesituation verknüpft werden (Helden aus dem und für den Alltag; Retter als Helden), und schließlich die Frage nach den politischen Dimensionen menschlichen Handelns am Beispiel der Heldenhaftigkeit von Widerstand zu stellen.

D ER ANTIKE H ELD Herakles ist das antike Modell des Helden, der als ἥρως das Wort wie den Begriff des über den Menschen stehenden Halbgottes begründet. Seine Geschichte hat mehrere Fäden und lässt sich kurz umreißen. Von Zeus gezeugt, aber als Zwilling mit seinem von Amphitryon gezeugten Bruder Iphikles geboren, beginnt sein Leben mit einer Prüfung: Er wird von seiner Mutter Alkmene ausgesetzt, damit ihn die mit gutem Grund eifersüchtige Hera, Gattin seines Erzeugers, nicht findet. Diese legt dem Halbgott von Beginn an alle denkbaren Hindernisse in den Weg. Herakles ist jähzornig, er erschlägt in einem von Hera angestifteten Anfall Frau und Kinder und wird zu den Rinderhirten geschickt, bei denen er aufwächst. Die größte Gefahr für das um den Kithairon weidende Vieh, den unverletzlichen Nemeischen Löwen, besiegt er, indem er ihn erdrosselt. Das Fell, das sich nur mit den Krallen des erlegten Monsters selbst abhäuten lässt, ist von da an sein Kleid und Markenzeichen, die Erlegung des Löwen die erste der zwölf ›Arbeiten‹, die er zur Sühnung des Totschlags von Frau und Kindern ausführt. Diese Arbeiten sind Schwerstarbeit, erfordern aber auch listiges und intelligentes Vorgehen und bringen ihn mehrmals in Todesgefahr. Durch die List eines Kentauren kommt er schließlich selbst ums Leben beziehungsweise auf den Olymp. Der berühmte, im Louvre ausgestellte Lekythos des 5. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung2, der das Eigeninserat von Le Monde illustriert, zeigt Herakles beim Ringen mit dem Löwen. Das Heldenhafte, möchte man in diese Darstellung hineinlegen, liegt in der Tatsache seiner völligen Nacktheit: Umhang, Schwert und Gürtel hängen im Baum, das Erwürgen erfolgt mit reiner, übermenschlicher Kraft. Die übermenschlichen Taten und die halbgöttliche Existenz sind gemäß der ostmediterran-griechischen Herakles-Überlieferung die Attribute des Heroen. Das antike Heldenvorbild agiert demnach nicht in einem Krieg zwi-

2

Musée du Louvre, L 31 MN B909.

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schen Menschen, sondern in einem Kampf des Elementaren und Numinosen – fast möchte man sagen: ›in eigener Sache‹.

D ER H ELD AUS DEM UND FÜR DEN ALLTAG Ein Wort wie ›Alltagsheld‹ würde die Richtungen der kulturellen und gesellschaftlichen Wirkungen des Heldenbildes verwischen und wäre darum zu schwach. (Dennoch wird es als Titel für den sechsten Teil dieser Publikation verwendet.) Es gibt Helden, die aus dem Alltag entstehen und solche, die in den Alltag wirken. Diese Richtungen hin zum und aus dem Alltag heraus werden zudem, wie am Ende dieses Beitrags erläutert, von männlichen und weiblichen Akteuren gegensätzlich gestaltet. Sie bieten sich – nehmen wir Antonio Gramscis Hegemonieverständnis in der Ausdeutung von Ove Sutter zu Rate – auch als kommerzielle Derivate an, die Träger hegemonialer Interesse und Werte sind.3 Der Philosoph Alain Finkielkraut4 hat in einem Gespräch zum Zeitpunkt des Begräbnisses des 2017 verstorbenen, aus Belgien stammenden französischen Rockstars Johnny Hallyday die Frage des Heroischen gestreift. Für Nichtfranzosen war die Breite, mit der die französischen Medien über die Trauerfeier mit Zügen eines Staatsaktes, ohne dass diese ein solcher war, berichteten, nicht verständlich. Finkielkraut nahm genau diese Distanz der Betrachtung von außen ein, als er sagte: »Was mich stört, ist nicht die Emotion der Fans, auch wenn ich keiner bin, sondern, dass ich den Präsidenten der Republik sagen höre, dass Johnny Hallyday ein Held Frankreichs sei und er als solcher gefeiert werden soll, weil unser Land Helden braucht.«5

3

Vgl. Sutter, Ove: Alltagsverstand. Zu einem hegemonietheoretischen Verständnis alltäglicher Sichtweisen und Deutungen, in: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 1-2 (2016), S. 42-70, hier S. 51f.

4

Alain Finkielkraut im Gespräch mit Elisabeth Lévy für das Radio de la communauté juive, am 10. Dezember 2017. https://www.youtube.com/watch?v=hYcdqK5NBzk, L’hommage de Finkielkraut à Johnny Hallyday, published on 10 Dec 2017, vom 11.12.2017.

5

Transkript und Übersetzung: J.W.

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Und etwas später im Gespräch präzisierte er: »Es ist Bescheidenheit geboten. Denn es ist schon fast eine Lästerung, wenn man einen Mann, der nicht einmal einen steuerlichen Patriotismus pflegte, in einem Zug mit Pierre Brossolette und Jean Moulin nennt.«

Das heißt, ›in einem Zug‹ mit den eigentlichen Helden der Nation. Hallyday ist der Held für den Alltag, er war kommerziell als solcher aufgebaut und er wird nach seinem Tod als solcher weiterwirken, emotional-biografische Marke einer Generation oder eines Teils einer solchen. Mit den Namen Brossolette und Moulin will Finkielkraut auf ›echte‹, unbestrittene nationale Helden hinweisen. Sie wiederum sind aus dem Alltag heraus zu Helden geworden: Pierre Brossolette (1903-1943) hat seine Buchhandlung in Paris zu einem Zentrum des Informationsaustauschs einer von Pariser Ethnologen formierten Widerstandsgruppe gegen die deutschen Besatzer gemacht. Im März 1944, als er von der Gestapo gefoltert wurde, beging er Selbstmord, um niemanden verraten zu müssen. Er ist im Pariser Pantheon, dem nationalen Heldenmahnmal bestattet. Jean Moulin (1899-1943) war Chef der vereinigten Résistanceverbände, als er im Juni 1943 von den Deutschen verhaftet wurde. Er starb vermutlich an den Folgen der Folter im Juli 1943, sein Leichnam wurde nie eindeutig identifiziert, so dass er im Pantheon ein leeres Ehrengrabmal erhielt. Wir möchten daran weiter unten wieder anknüpfen, weil ein Ort wie das Pantheon – wohin in jüngster Zeit erstmals Frauen: Germaine Tillion, Geneviève de Gaulle-Anthonioz und Simone Veil, überführt wurden – der nationale Erinnerungsort für die Deklaration von Helden und neu auch Heldinnen ist. Der Frankreich-Spezialist und Zeithistoriker Robert Gildea6 hat den Prozess des Aufbaus von Widerstand in seinem jüngsten Buch personennah beschrieben: Wie ein auf einen spezifischen Alltag hin bezogenes Heldentum aus diesem heraus entsteht, muss ebenso aus diesem heraus und nicht von nationaler Blickhöhe herab beschrieben und erklärt werden.

6

Gildea, Robert: Fighters in the shadows. A new history of the French resistance. London: Faber & Faber 2015; frz. Ausgabe: Comment sont-ils devenus résistants ? Une nouvelle histoire de la résistance: 1940-1945, traduit par Marie-Anne de Béru. Paris: Les Arènes 2017.

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F RANZÖSISCHER W IDERSTAND GEGEN DIE DEUTSCHE B ESATZUNG 1940-1944 : H ELDEN DER R ESISTANCE Gegenwart und Ereignis, an denen hier angesetzt wird, sind Impulse der Auseinandersetzung mit Historischem. Exemplarität und Vorbildcharakter menschlichen Agierens sind zentrale Momente gesellschaftlichen Geschehens und individuellen Handelns, welche die Repräsentationen des Exemplarischen in der Gegenwart bestimmen. Worauf eine zeit-räumlich bestimmbare Gegenwart in der Vergangenheit rekurriert, ist eher den politisch-ideologischen Anliegen dieser Gegenwart als den historischen Tatsächlichkeiten, den Ausgangsorten des biografischen Erinnerns, geschuldet. Im Folgenden geht es um einen spezifischen national-heroisch codierten Handlungszusammenhang, der aus einer akteurszentrierten Perspektive der Politischen Anthropologie in den Blick genommen wird: um Genese und Funktion des Widerstands im von Deutschland besetzten Frankreich des Zweiten Weltkrieges. Dass dieser Kontext auch in der oben zitierten Argumentation des Philosophen Alain Finkielkraut zentrale Referenz ist, kommt nicht von Ungefähr. Die Art und Weise der in Frankreich – wie auch in anderen europäischen Ländern, etwa Ex-Jugoslawien – seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges unablässig gepflegten Rede vom Widerstand erhielt in jeder Dekade je eigene Färbungen, Auslassungen und Hervorhebungen. Die Gegenwartsfarbe ist Ausgangspunkt unserer Überlegungen zu Widerstand. Wir beobachten, dass sich in den letzten Jahren Diskurse und Repräsentationen um die französische Résistance verändert haben. Das mag unter anderem der Situation geschuldet sein, dass von der letzten Generation ihrer Akteure und Akteurinnen nur noch wenige Menschen leben, dass die Sperrfrist einiger Archive aufgehoben wurde und nicht erinnerte Wissenselemente zugänglich werden; dass die Generation der Enkel und Enkelinnen sich in einer Weise den politischen Biografien der Großeltern zuwendet, wie es ihre Eltern aufgrund der zeitlichen Nähe zu den traumatischen vergangenen Geschehnissen nicht vermochte; und dass einige weitere gesellschaftliche Momente im Spiel sind, die allgemein Erinnern und Vergessen in der Kultur bestimmen und die Aleida Assmann jüngst und konzis, u.a. mit Fokus auf die dunklen Jahre des Zweiten Weltkrieges umrissen hat.7 Dabei fragen wir vor allem, welcher Geist der Gegenwart diese neuerliche Erinnerung und auch das wissenschaftliche Interesse an ihr beflügelt, ja sogar – im Sinne einer Re-Perspektivierung von Geschichte – nach ihr verlangt. Betrachten wir zunächst die aus dem Alltag heraus entstehenden Handlungen des Au-

7

Assmann, Aleida: Formen des Vergessens. Göttingen 2017, S. 174-196.

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ßeralltäglichen, die jedem Widerstand eigen sind und denen im Nachhinein der Gestus des Heroischen zu- oder abgesprochen wird.

AUS DEM ALLTAG HERAUSTRETEN Die Gruppe der Widerstandskämpfer und -kämpferinnen der 1940er Jahre in Frankreich war sehr heterogen. Sie setzte sich aus Frauen und Männern unterschiedlicher Schichten und Altersgruppen, unterschiedlicher politischer Lager, Religionszugehörigkeiten, Berufsgruppen und Nationalitäten zusammen. Der Begriff der »Résistance« selbst bot und bietet diesem uneinheitlichen, ja paradoxen Gebilde ein einigendes Moment: Rechte Royalisten und Militärs wie Charles de Gaulle kämpften – mit Feuerwaffen und mit Worten – unter Umständen Seite an Seite mit verfolgten Kommunistinnen wie Ange Alvarez 8, Annette Beaumanoir9 oder Yvonne Abbas. Herausragende Adelige wie Honoré d’Estienne d’Orves10 und Emmanuel d’Astier de la Viguerie kämpften neben unbekannten Arbeiter_innen wie Albert Cordola11 oder Bauern wie Maurice Conil und Politikern wie Jean Zay. Schriftsteller_innen wie Marguerite Duras, Robert Antelme oder René Char bildeten oder unterstützten Widerstandsgruppen, ebenso wie ›Kriminelle‹, so der Marseiller Mafiaboss »Mémé« Guérini, wie Philosoph_innen, etwa Georges Canguilhem oder Simone Weil, Ethnolog_innen wie Louise Alcan12, Agnès Humbert, Boris Vildé, Anatole Lewitsky oder Germaine

8

Bökel, Gerhard: Ange Alvarez, une vie en Résistance. Ein Leben im Widerstand.

9

Beaumanoir, Annette: Le feu de la mémoire, La Résistance, le communisme et

Wetzlar 2015. l’Algérie. Paris: Bouchène 2009. 10 Honoré d’Estienne d’Orves (1901-1943) war ein früh gefasster und hingerichteter französischer Marineoffizier im Widerstand. Die Ethnologin Agnès Humbert saß in demselben Gefängnis wie er und schildert seine eindrücklichen Aktionen und kreativen Initiativen während der Haft, darunter die Gründung eines (mündlichen) Gefängnisradios, »Radio Cherche-Midi«. Vgl. Humbert, Agnès: Notre guerre. Journal de Résistance 1940-1945. Paris 2010: Points, hier S. 93-96, S. 98-99, S. 105-109. 11 Cordola, Albert: Quelques passages de ma simple vie. Témoignage 1941-1945. Avignon: ADIREP 2001. 12 Alcan, Louise: Le temps écartelé. Paris: J. London 1982.

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Tillion13, Ärztinnen und Ärzte wie Rose Egoroff in Sédéron, Marcel Recordier in Marseille oder Jacques Gouttieres als mobiler Einsatzarzt 14. In der Résistance fanden sich einfache Hausfrauen und Mütter, politisch und sozial engagierte Feministinnen wie Berty Albrecht15, Prostituierte, die Verfolgte in SS-Bordellen versteckten16, Rechtsanwälte wie Léon-Maurice Nordmann, Soldaten wie Henry Frenay, Hoteliers, die Meldezettel falsch ausfüllten, Lehrerinnen wie Dina Dreyfus und Marie Reynoard oder Mechaniker wie Marcel Brossier, Ingenieure17 und Gleisarbeiter18, Bäcker und Chocolatiers wie die Boyers in Sault. Kinder und Erwachsene bewegten sich mit kleinen und größeren Diensten in zivilgesellschaftlichen Widerstandsgruppen, sie beteiligten sich mit ihren Fertigkeiten und Kenntnissen an den Aktivitäten oder unterstützten sie aus ihren sozialen Positionen und weltanschaulichen Haltungen heraus. René Char beschreibt die Zusammensetzung der Résistance in ihren Anfängen an seinem Wirkungsort in der Haute Provence noch mit enthusiastischem Unterton: »Bis 1942 versuchte nur eine Handvoll Menschen, den Kampf aufzunehmen. Das wunderbare an dieser losen Schar war, dass sie sich aus verwöhnten und verweichlichten Kindern zusammensetzte, aus allen möglichen Individualisten, Arbeitern, die traditionell aufständisch waren, frei gesinnten Gläubigen, Jugendlichen, denen die Schrecken der Vertreibung von der Heimaterde drohten, Bauern mit einer zweifelhaften Liebe zum Vaterland, unbeständigen Phantasten, frühreifen Abenteurern an der Seite von alten Schlachtrossen aus der Fremdenlegion und enttäuschten Rückkehrern aus dem Spanischen Bürgerkrieg.«19

13 Rolshoven, Johanna: Französische Ethnologinnen im Widerstand. Kulturanalytische Zugänge zu einer europäischen Fachgeschichte. Ms. 2018, erscheint im Herbst 2018 in Münster bei Waxmann, hg. Katharina Eisch-Angus et al. 14 Gouttieres, Jacques: Le chemin du maquis (Villeneuve-sur-Lot, Ain, Jura). Journal de marche d’un médecin. Paris 1972: Librairie Raynaud. 15 Albrecht, Mireille: Vivre au lieu d’exister. La vie exceptionnelle de Berty Albrecht, Compagnon de la Libération. Paris: Éditions du Rocher 2001.

16 Vgl. Garcin, Jean: Nous étions des terroristes. Avignon: Éditions E. Barthélémy 1996, S. 57. 17 1942 gründete sich im Süden Frankreichs ein Verband der »Ingenieure in der Résistance«, vgl. ebd., S. 150. 18 Emprin, Gil: La Résistance en Rhône-Alpes. Une région-mémoire. Veurey: Éditions Le Dauphiné libéré 2011, S. 24f. 19 Zitiert nach und übersetzt von Bauschulte, Manfred: René Char. Poet und Partisan. Eine Biographie. Wien: Klever 2017, S. 79.

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Bei nicht wenigen unter ihnen veränderten sich die politischen Zuordnungen während dieser dramatischen Jahre bis hin zu einer völligen Umkehr – ein prominentes Beispiel ist François Mitterrand, der von rechts außen nach links zum Sozialismus rückte20. Die ›Normalität‹ des Richtungswechsels unter dem Druck der Alltagserfahrung erscheint als wichtiges Detail in der Betrachtung dieser gesellschaftlichen Gemengelage während eines historischen Ausnahmezustands, in dem der Nächste nicht mehr in Begriffen der gesellschaftlichen Vorkriegsordnung zu fassen war. Rollen und Zuordnungen fanden sich auf den Kopf gestellt oder wurden es gewaltsam, etwa wenn große Bevölkerungsteile ihrer Bürgerrechte beraubt wurden. Alle diese Menschen, die die Gesellschaft in ihrer Breite und Vielschichtigkeit repräsentierten, agierten in diesen verdrehten Zeiten mutig und aufopferungsvoll, während die furchtbaren Helden dieser Jahre der Schreckensherrschaft – hoch dekoriert und belohnt – nicht sie selbst waren, sondern ihre Feinde: Wehrmachtssoldaten, Gestapo und SS als Agenten des Polizeistaates sowie die Anfang 1943 von Vichy eingesetzte paramilitärische Miliz, die sich mit großen materiellen und symbolischen Anreizen aus der kollaborierenden Bevölkerung formierte, mit dem Ziel, die Gestapo in der Bekämpfung der Résistance und der Auslieferung der jüdischen und anderer verfolgter Menschen zu unterstützen. 21 Wenn wir im Folgenden einige unter ihnen vorstellen, interessiert vor allem das Erwachen ihres Engagements im Alltag und aus dem Alltag heraus – ein Engagement, das von außerordentlichen, sichtbaren, spektakulären Aktionen bis zu unspektakulärem, banalem, wenig sichtbarem Agieren reichen konnte. Unsere Quellen sind prominente wissenschaftliche Publikationen, seltene biografische Zeugnisse, graue, in Selbstverlagen erschienene Literatur, Zeitungsberichte, Berichte auf Internetseiten, Dokumente aus regionalen Museen und mündliche Berichte aus den Ortschaften im Einzugsbereich der Widerstandsgruppen des

20 Der ehemalige sozialistische Staatspräsident Mitterrand (1981-1995) war ein führendes Résistancemitglied. Sein politisches Jugendbekenntnis zur extremen Rechten und seine ambivalente Freundschaft mit Pétain wurden Anfang der 1990er Jahre in Frankreich ›enthüllt‹ und kritisch diskutiert. Vgl. Wieviorka, Olivier: La mémoire désunie. Le souvenir politique des années sombres, de la Libération à nos jours. Paris: Éditions du Seuil 2010, S. 210-218. 21 Vgl. Cointet, Michèle: La Milice Française. Paris: Fayard 2013; s.a. eine ARTEDokumentation in deutscher Sprache: Mit der SS Hand in Hand. Die französische Miliz. https://www.youtube.com/watch?v=LUqLBEU0N7A (Zugriff am 2.1.2018); Isaac Levendel/Bernard Weisz: Haunting down the Jews. Vichy, the Nazis, and Mafia Collaborators in Provence 1942-1944. New York: Enigma 2012.

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»Maquis du Ventoux« in den hochprovenzalischen Berggebieten22, die wir in den vergangenen 20 Jahren ›eingefangen‹ haben. Diese ethnologisch empirischkulturwissenschaftliche Rekonstruktion des Widerstands aus lebensweltlicher Perspektive erschließt wichtige Momente der Genese und Funktion des Heroischen; sie leistet, – hier freilich nur im Ansatz – eine historisch grundierte, handlungsorientierte Repräsentationsanalyse. Zunächst ein erster Blick auf den Begriff des Widerstandes selbst.

R ÉSISTANCE C ’ EST RÉSISTER : Z WISCHEN S EMIOLOGIE UND I DEOLOGIE Widerstand ist per se ein existenzielles und existenzialistisches Motiv. 23 Für den hier betrachteten Zeit-Raum interessieren besonders die Anfänge seiner Verwendung unmittelbar nach der deutschen Invasion in Frankreich. Das französische Wort »Résistance«, das im Deutschen »Widerstand« bedeutet, hat durch die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges und die politische Entwicklung in den Nachkriegsjahrzehnten eine besondere nationalhistorische Bedeutung erhalten, die über die deutsche Wortbedeutung weit hinausgeht. Lucie Samuel, die unter ihrem Decknamen »Lucie Aubrac« bekannte Widerstandskämpferin, definiert Résistance in ihrem Büchlein »Die Résistance, meinen Enkeln erklärt« als »Ergebnis eines verlorenen Krieges, der Besetzung meines Landes durch eine fremde Armee, der Unterwerfung der französischen Regierung unter die Besatzer, ihre Befehle und ihre Politik«.24 Der Ethnologe Jean-Yves Boursier definiert Résistance als einen »komplexen, geteilten und versprengten politischen Prozess«, dessen »Verstaatlichung«, das heißt die Politik seiner Konstruktion zum »Kulturerbe«, zu einer Marginalisierung, bisweilen sogar zu einer »Erdrückung« seiner Akteure geführt habe.25 Auf welche historischen Vorbilder berief sich dieser Widerstand, welches sind die ersten Verwendungskontexte des Wortes, die der Begriffsaura nach dem Sieg, der ›Befreiung‹ (La Libération) zugrunde gelegt werden müssen?

22 Vgl. Arnoux, Claude: Maquis Ventoux. Avignon: Aubanel 1994. 23 Vgl. Camus, Albert: L’Homme révolté. Paris: Gallimard 1951. 24 Aubrac, Lucie: La Résistance, expliquée à mes petits-enfants. Paris: Seuil 2000, S. 9, (Übersetzung Johanna Rolshoven). 25 Boursier, Jean-Yves (éd.): Résistants et Résistance. Paris: L’Harmattan 1997, S. 1140, hier S. 14.

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Am 18. Juni 1940 spricht, über Radio BBC, General Charles de Gaulle, der vom Londoner Exil aus den französischen Widerstand organisieren will, zu seinen Landsleuten: »Quoiqu’il arrive, la flamme de la Résistance française ne doit pas s’éteindre et ne s’éteindra pas.« [»Was immer geschehen mag, die Flamme des französischen Widerstandes darf nicht verglühen und wird nicht verglühen.«] Das Pathos dieser Widerstandsformel ist kraft der Position seines Sprechers ein militärisches.26 Es wird sich als folgenreich und paradigmatisch erweisen, ist in dieser Überhöhung vorher jedoch schon, mit Kriegsbeginn, terminus technicus der Kriegsberichterstattung.27 Etwa zeitgleich zu diesem Aufruf hat der Widerstandsbegriff der intellektuellen, anti-gaullistischen Gruppe um den Schriftsteller Jean Cassou und die Ethnologin, Museologin und Kunsthistorikerin Agnès Humbert ein ethisch-moralisches Grundverständnis. Die Gruppe war zwischen dem 15. Dezember 1940 und dem 21. März 1941 Herausgeberin von vier Ausgaben der Zeitschrift »Résistance«, bevor ihre Mitglieder verhaftet, ermordet oder deportiert wurden. Die letzte Ausgabe gab der eingangs erwähnte Politiker und Journalist Pierre Brossolette (1903-1943) heraus.28 Die Bibliothekarin des Pariser Ethnologiemuseums, Yvonne Oddon, hatte diesen Zeitschriftennamen in Anlehnung an den protestantischen Widerstand in der Zeit der Hugenottenverfolgungen im 17. Jahrhundert vorgeschlagen.29 Die ›aufrechte‹ Widerstandshaltung der Protestantin Marie Durand (1711-1776)30, die sich ungeachtet der Massaker an ihren Glaubensleuten nicht bekehren ließ, wird (bis heute) symbolisiert durch den Schriftzug »RÉCISTER«31, den sie selbst, so geht die Erzählung, in die Wand ihres Kerkers im Gefängnisturm im südfranzösischen Aigues-Mortes eingeritzt hatte. Auf dieses historische Ethos beriefen 26 Semelin, Jacques: Qu’est-ce que «résister»?, in: Esprit 1 (1994), S. 50-63, hier S. 53. 27 So titelt etwa (neben vielen anderen Tageszeitungen) Le Petit Provençal am 11. Juni 1940: »NOS HEROIQUES SOLDATS RESISTENT FAROUCHEMENT A LA RUEE ALLEMANDE«.

28 Folgender Link des Musée Boris Vildé in Yastrebino (Russland) führt zu einer Abbildung und Beschreibung der Zeitschrift: http://museeborisvilde.com/pages-f/resiaccueil.php, vom 12.1.2018. 29 Vgl. Pavillard, Anne-Marie: A propos des archives des femmes dans la Résistance, in: Matériaux pour l’histoire de notre temps, n°69, (2003): Regard sur les associations, pp. 61-65, p. 64. 30 Vgl. Krumenacker, Yves: Marie Durand, une heroïne protestante?, in: clio 30 (2009), S. 79-98. 31 Folgender Link führt zu einer Abbildung des in Stein geritzten »REĆISTER«: https://oratoiredulouvre.fr/actualites/20100904-assemblee-du-desert/register.jpg, vom 12.12.2017.

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sich im Übrigen auch die protestantischen Nachfahren der Kamisarden, die in ihren Häusern, Wäldern und Bergen im okzitanischen Süden Frankreichs den jüdischen Maquis unterstützt haben.32 Andere Gruppen beriefen sich auf die Freischärler der Pariser Commune (1871) als Vorläufer des Résistance-Gedankens.33 Im Zentrum der republikanischen Freiheitsreferenz jedoch stand und steht bis heute die Französische Revolution, in deren Folge das Recht auf Widerstand des Volkes gegen die Unterdrückung durch seine Regierung in der Verfassung als ›heiligstes Recht‹ verankert worden war.34 Dieses Recht und der hieran geknüpfte Freiheitskampf wird bis heute in hohem Maße durch die französische Nationalhymne symbolisiert, die Marseillaise. Sie wurde im Kontext der Résistance-Ereignisse des Zweiten Weltkriegs häufig intoniert: zum Tode Verurteilte auf dem Weg zum Hinrichtungsplatz sangen sie, isolierte Gefängnisinsass_innen, um Gemeinschaft herzustellen und zu spüren, ebenso wie die Maquisards, die Bergpartisanen Südfrankreichs, bei ihren Zusammenkünften, um sich ihrer gemeinsamen republikanischen Ziele zu vergewissern. Seit Beginn der deutschen Besatzung verbreiteten sich Begriff und Idee einer Résistance mündlich und über Druckerzeugnisse so schnell, dass die Bevölkerung nicht umhinkam, sich zustimmend oder ablehnend zu ihm verhalten, dies in vielfältiger Weise. Boursier schreibt, dass »dieser Name, für den die einen gestorben sind, anderen nutzte, um Profit aus ihm zu schlagen.«35 Seine Ambivalenz, die Uneindeutigkeit und subjektive Qualität einer individuellen Zuordnung zu ihm begründeten nach dem Krieg einen Passe-Partout-Charakter. Nach der Befreiung Frankreichs und der deutschen Kapitulation setzte mit der Übergangsregierung unter de Gaulle (1944-46) der langjährige Prozess der Homologierung, der Anerkennung von Résistance-Mitgliedern und ihrer Verbände ein. Er ist noch heute nicht wirklich abgeschlossen. Viele aus der Deportation zurückgekehrte Résistants und viele Angehörige ermorderter Widerstandskämpfer erleb32 Vgl. hierzu den 2015 erschienenen Film von Nathan, Ariel: Le maquis des juifs: http://www.fondationshoah.org/memoire/le-maquis-des-juifs-dariel-nathan, vom 12.1. 2018. 33 J.-Y. Boursier (éd.): Résistants et Résistance, S. 16; vgl. auch Dalotel, Alain: Die Pariser Commune 1871, in: Kurswechsel 1 (2005), S. 15-20. 34 Art. 2 der Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789 räumt »le droit de résistance à l’oppression« ein, während Art. 35 der französischen Verfassung von 1793 formuliert: »Quand le Gouvernement viole les droits du peuple, l’insurrection est pour le peuple et pour chaque portion du peuple, le plus sacré des droits et le plus indispensable des devoirs.« Vgl. J. Semelin: Qu’est-ce que »résister« ? , S. 51. 35 J.-Y. Boursier(éd.): Résistants et Résistance, S. 17.

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ten dabei, dass Verräter oder für die Morde verantwortliche Milizangehörige in den Wirren des politischen Umbruchs selbst zu offiziell anerkannten Résistants mutiert waren und unbehelligt in die neue Republik marschierten. 36 Das Phänomen des sogenannten »Vichy-Syndrom«37, dem zufolge jeder Franzose in der Résistance gewesen sein will, und das die politische Schmiede der Vierten und Fünften Republik stützte, wurde damit zu einem zentralen Stoff des französischrepublikanischen »Identitätsmanagements«38 und als solches früh kritisiert, von André Malraux etwa, der in seinen »Antimemoiren« schrieb, dass Frankreich in der Résistance das sah, was es gerne gewesen wäre, aber nie wirklich war39.

H ALTUNG UND H ANDLUNG : B EISPIELE HEROISCHER F IGUREN In Anbetracht des hegemonial-ideologischen Charakters der historisch-politischen Rezeptionsgeschichte der französischen Résistance, lädt die inzwischen weit gediehene Aufarbeitung40 dazu ein, individuelle Handlungszusammenhänge auszuloten. Widerstand bedeutete hier zunächst, dass Menschen aus der Perspektive ihres individuellen Erlebens die politische Situation, so wie sie sich darstellte, nicht akzeptierten. Die Invasion durch den deutschen ›Erzfeind‹ war für die meisten Franzosen und Französinnen, die den Ersten Weltkrieg miterlebt hatten, eine erneute Demütigung. Hinzu kamen die im Alltag unmittelbar spürbaren Repressionen, die über Bekanntmachungen auf Anschlägen, in Radio und Zeitung oder bei öffentlichen Auftritten verbreitet wurden: Verbote und Drohungen, wie

36 Z.B. A. Cordola: Quelques passages de ma simple vie, S. 82. 37 Vgl. Roussou, Henry: Le syndrome de Vichy (1944-1987). Paris: Le Seuil 1987. 38 Vgl. Greverus, Ina-Maria: Ethnizität und Identitätsmanagement, in: Schweizerische Zeitschrift für Soziologie 7,2 (1981), S. 223-232, sowie grundsätzlich Giordano, Christian: Gérer l’exemplarité en (re)mettant l’histoire à jour: les saints, les héros et les victimes, in: Recherches et travaux de l’Institut d’Ethnologie (Neuchâtel) 15 (2001), S. 121-132. 39 Malraux, André: Antimémoires. Paris: Gallimard, S. 140, zit. n. J.-Y. Boursier: Résistants et Résistance, S. 12. 40 An dieser Stelle seien als Referenz aus der Fülle an kritischer Literatur exemplarisch drei neuere geschichtswissenschaftliche Publikationen genannt: O. Wieviorka: La mémoire désunie; R. Gildea: Comment sont-ils devenus résistants ?; Douzou, Laurent: La Résistance française. Une histoire périlleuse. Paris: Le Seuil 2005, sowie aus ethnologischer Perspektive J.-Y. Boursier (éd.): Résistants et Résistance.

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zum Beispiel das Verkünden der Todessstrafe für das Abhören ausländischer Sender, die Auflistung erschossener ›Geiseln‹ oder das Verbot für »Juden, Neger und Hunde«, die besetzte Zone zu betreten41. Das breite Spektrum der Repressionen reichte von Versorgungsknappheiten über Entlassungen bis hin zu willkürlichen Verhaftungen und Erschießungen. Diese Situation fand sich in gleicher Weise in den von den Deutschen besetzten französischen Kolonialgebieten des Maghreb wieder. Dort riefen die arabischen Kräfte dazu auf – und dies ist interessant in Bezug auf die Genese des Jihad der Gegenwart –, sich »unter dem Banner des Islam« gegen die Versklavung von Deutschen zusammen zu schließen.42 Aus dieser Beobachtung und Erfahrung erwuchsen Reaktionen und Haltungen, die ihren Niederschlag sowohl in militärischen und politischen als auch in Alltagshandlungen fanden. Kommunikation und Austausch wurden zu ihren Grundlagen. Erst nach und nach, unter dem Druck sich verschärfender Ereignisse, begannen die Gruppen – Familien, Freundeskreise, Berufsgruppen, Arbeitskolleg_innen, Interessengruppen und Vereine –, sich im illegalen Bereich systematisch zu organisieren. Die im Folgenden angeführten Beispiele veranschaulichen eine Bandbreite an Motivationen, Konstellationen und Situationen. Der erste Widerstand formierte sich in der seit dem 22. Juni 1940 besetzten Zone, die etwa die Hälfte des französischen Territoriums ausmachte. Die Demarkationslinie durchschnitt Frankreichs Mitte in West-Ost-Richtung oberhalb von Vichy und Lyon und reichte entlang der gesamten Atlantikküste nebst Hinterland bis zur spanischen Grenze. Das früh funktionierende Netzwerk HauetTillion ging von Paris aus. Es wurde von den Veteranen des Ersten Weltkriegs Paul Hauet und Charles Dutheil de la Rochère sowie der Ethnologin Germaine Tillion43 gegründet und bestand zunächst aus einer spontanen Gruppe zur karita-

41 Vgl. L. Alcan: Le temps écartelé, S. 8. 42 Vgl. Wood, Nancy: Germaine Tillion, une femme mémoire. D’une Algérie à l’autre. Paris: Autrement 2003, S. 64. – Die Ethnologie thematisiert und belegt seit vielen Jahrzehnten die Verbreitung des Islam in Afrika als »nativistische Ideologie und antikoloniale Verheißung«, die ihr Aufkommen als Gegenbewegung zur Kolonisierung durch die europäischen Nationalstaaten verdankt. Vgl. Gellner, Ernest: Muslim Society. Cambridge 1981; Streck, Bernhard: Fröhliche Wissenschaft Ethnologie. Eine Führung. Wuppertal 1997, S. 110. 43 Zu deutschsprachigen Informationen über Tillion vgl. J. Rolshoven: Ethnologinnen im Widerstand; Tillion, Germaine: Die gestohlene Unschuld. Ein Leben zwischen Résistance und Ethnologie. Hg. und übers. von Mechthild Gilzmer. Berlin: AVIVA 2015; Jacobeit, Wolfgang: Germaine Tillion. Eine französische Ethnologin im Frauen-

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tiven Betreuung von afrikanisch-französischen Kriegsgefangenen in der besetzten Zone. Nach und nach vernetzte sich die Gruppe mit anderen gleichzeitig entstandenen Verbänden, wie dem prominenten Netzwerk der ersten Stunde am Pariser Ethnologiemuseum, dem »Réseau du Musée de L’Homme«: Es gilt als eines der ersten Widerstandsgruppen überhaupt. Bis zu ihrer Enttarnung im August 1942 organisierte Tillion mit ihren Freundinnen, darunter der Metzer Ordensschwester Hélène Studer44, Essenspakete, Zigaretten und medizinische Versorgung, etwa durch Einschleusen solidarischer Ärzte und Krankenschwestern. Die Gruppe etablierte ein Netz von sogenannten Patenschaften für diese Lager, mit Menschen, die zum Beispiel einen Briefwechsel mit den Gefangenen führten. Unter ihnen war Tillions Freundin Marcelle Monmarché (1903-1997). Als Patin von 90 bis 100 Kriegsgefangenen schrieb sie allein etwa 2000 Briefe zur moralischen Unterstützung der Gefangenen. Nach und nach wurden die Beteiligten zu Fluchthelfer_innen und die Briefe zu Instrumenten, um über Befreiungspläne zu informieren.45 Die ersten öffentlichen Exekutionen und die manifeste Zunahme rassistischer Diskriminierungen ihrer jüdischen Freundinnen und Freunde führten rasch zu einer Verschärfung der Aktivitäten des Netzes. Tillion befreite ihre Freundin Juliette Ténine aus der Krankenhaushaft. Diese hatte sich Mitte der 1930er Jahre bereits den Internationalen Brigaden angeschlossen und war nun in der Résistance aktiv. Tillion versorgte sie mit falschen Papieren und brachte sie und ihre Eltern über die Grenze in die unbesetzte Zone in ein Ferienhaus, das ihre Kollegin, die Pariser Ethnologin Jeanne Cuisinier, zur Verfügung gestellt hatte.46 Solche scheinbar sekundären Hilfestellungen für lebensbedrohlich Verfolgte waren von außerordentlicher Bedeutung. So konnte das »Netzwerk des Ethnologiemuseums« auf die Unterstützung von Tillions Mutter und Großmutter zählen oder auf die Hilfe beispielsweise von Yvette Leleu, die eine Autowerkstatt im Pas-de-Calais besaß und Transporte über die Demarkationslinie durchführte; oder von Elisabeth de la Panouse, die ihr Schloss in der unbesetzten Zone als Versteck zur Verfügung stellte und auch in ihrer Wohnung in Touraine jüdische Kinder versteckte. Ihr Lebensgefährte, der Arzt Robert Debré, richtete in seiner

KZ Ravensbrück, in: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 55/103 (2000), S. 325-332. 44 Boris Holban widmete ihr ein Buch: Hélène Studer, la passeuse de la liberté. Paris: Éditions Gérard Klopp 1999. 45 N. Wood: Germaine Tillion, S. 66-70. 46 Ebd., S. 89f.

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Klinik eine Werkstatt für falsche Papiere ein. 47 Alice Simmonets Professor an der Sorbonne – auch sie Mitarbeiterin am Musée de l’Homme –, der Historiker Robert Fawtier, stellte Boris Vildé, dem charismatischen Kopf der Widerstandsgruppe des Musée de l’Homme und Arbeitskollege von Agnès Humbert, die Hälfte seines Gehaltes zur Organisation des Widerstandes zur Verfügung. 48 Beide waren im Oktober 1940 von ihren Stellen am Pariser Ethnologiemuseum dispensiert worden. Im Abgleich heute zur Verfügung stehender Quellen ergibt sich das Bild eines dichten und effizienten Kooperations- und Handlungsnetzwerks. Der Widerstand in der unbesetzten Zone hatte eine längere ›Inkubationszeit‹49 als in der besetzten Zone. Vor seiner militärischen Vereinnahmung im November 1942 waren Freiwillige hier schwieriger zu rekrutieren, da der Alltag – trotz Versorgungsknappheit und Militärpräsenz –, noch nicht terrorisiert war. Kurze biografische Skizzen, vermitteln im Folgenden eine Vorstellung von den lebensweltlichen Handlungszusammenhängen exemplarischer Akteurinnen und Akteure und deuten die Breite des Profils von ›Résistant‹ an. Henry Frenay (1905-1988), nach dem Krieg prominenter sozialistischer und Europapolitiker, der seine Erinnerungen an die Résistance verschriftlicht hat50, steht beispielhaft für den Widerstand eines rechts-republikanisch gesinnten französisch-nationalen Militär, der zunächst die Vichy-Regierung unterstützt, jedoch im Zuge der Ereignisse zu ihrem erbitterten Gegner wird und nach dem Krieg als Held gefeiert wird. Er gilt als einer der ersten, die in der unbesetzten Zone früh und sehr aktiv Widerstand organisiert haben. Als Berufsoffizier sind ihm, wie er schreibt, »Gehorsam, Ehre, militärische Pflicht« in Karriere und Ethos eingeschrieben.51 Als die Deutschen einmarschieren, ist er mit seiner Kompagnie in den Vogesen. Er spricht fließend Deutsch und hat Hitlers »Mein Kampf« gelesen. Er gerät in Gefangenschaft, entkommt 47 Vgl. Humbert, Agnès: Resistance: Memoirs of occupied France (annotierte engl. Ausgabe), Anm. zu S. 67. Vgl. Les Francais libres, http://www.francaislibres.net/liste/fich e.php?index=110986, vom 1.1.2018. 48 A. Humbert: Resistance, Anm. zu S. 94. 49 Vgl. Wodianka, Stephanie: Connecting Origin and Innocence. Myths of Resistance in European Memory Cultures after 1945, in: Butler, Martin et al. (Hg.): Resistance. Subjects, Representations, Contexts. Bielefeld: transcript 2017, S. 153-172, S. 147. 50 J. Garcin: Nous étions des terroristes; Henri Frenay: La nuit finira. Mémoires de Résistance 1940-1945. Paris: Robert Laffont 1973; ders.: Premiers contacts, premiers compagnons…, in: Colonel Rémy (éd.), La Résistance en Provence. Genf: Éditions Famot 1974, S. 11-56, hier S. 16. 51 H. Frenay: Premiers contacts, S. 12.

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zusammen mit einem Gefährten und begibt sich zu Fuß in die freie Zone. Er schildert die großen Anstrengungen dieser Flucht und betont die Solidarität der Bauern, die ihm unterwegs Unterschlupf gewähren, ihn mit Kleidung und Essen versorgen und den Weg weisen. Einmal, so erzählt er, steht ein zehnjähriger Junge Schmiere, während er auf einem Bauernhof seine nasse Kleidung trocknet. In Lyon nimmt er den Zug zu seiner Mutter an einen Küstenort; wie sie ist er Anhänger von Pétain. Dann erzählt man ihm in einem Café von de Gaulles Radioansprache und seiner Aufforderung, Widerstand zu leisten. Er kennt de Gaulle persönlich, sie haben in demselben Regiment gedient. Ausführlich beschreibt er seinen Reflexionsprozess, die Empfindung einer Handlungsverantwortung und wie er schließlich ein Manifest verfasst. In Marseille sucht er seine Militäreinheit auf: Was er dort sieht, bestärkt seinen Entschluss. Er sucht einen Freund der Familie auf, den Arzt Marcel Redortier, dessen Wohnung künftig zu einem geheimen Treffpunkt des Widerstands wird und in der auch seine erste Begegnung mit Jean Moulin stattfinden wird. Sein Manifest dient als Diskussionsgrundlage bei diesen und weiteren Begegnungen, um ausführlich die politische Situation zu diskutieren. Er kommt zu dem Schluss, dass gerade die ›national-pflichtbewussten‹ demobilisierten Militärs gegen die Deutschen agieren müssen, da Pétain aufgrund des Waffenstillstandsabkommens »die Hände gebunden« sind. Aus dieser Überlegung heraus akzeptiert er den Untergrund und begibt sich in die Illegalität. Er wird zu einem der aktivsten Rekrutierer und Mobilisierer und stellt recht schnell eine erste Organisation auf die Beine, die sich später »Combat« [Kampf] nennen wird, und die entsprechend seiner berufsmilitärischen Erfahrung als paramilitärische Einheit organisiert ist. Hochinteressant an Frenays Bericht sind die scheinbar unwesentlichen Alltagsdetails, die den Beginn seiner Widerstandstätigkeit, sein Agieren, seine Empfindungen schildern und begründen. Dabei ist es ihm in jedem Moment wichtig, seine Urheberschaft und Initiative zu betonen und vor allem seine Impulse zu den späterhin »historischen« Entscheidungen, die Frankreichs »Befreiung« und politische Entwicklung entscheidend markieren; zum Beispiel, wenn er darstellt: »und da habe ich de Gaulle vorgeschlagen, dass Jean Moulin der richtige Mann ist, um Frankreichs Widerstand zu einigen und anzuführen«, um als nationale Erhebung wirksam sein zu können.52 Recht spät lässt er von seinem Glauben an Pétain und an die von diesem proklamierte »nationale Revolution« ab, erkennt den Kern der Vichy-Regierung als kollaborierenden Polizeistaat und wendet sich dem Sozialismus zu. In seiner Entwicklung zu einem der prominentesten und anerkanntesten Widerstandsakteure steht er zusehends – so berichten erst in jüngster Zeit die Biografen der 52 Ebd., S. 54.

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Résistance – unter dem Einfluss seiner Gefährtin Berty Albrecht (1893-1943), die bis zu ihrem gewaltsamen Tod im Pariser Gefängnis Fresnes eine führende Figur des südfranzösischen Widerstandes war und von der wir heute nur noch wenig wissen.53 Germaine Tillion sollte später, auf die Frage der Historikerin Marie-France Brive hin, ob nicht hinter jedem Résistancekämpfer eine Résistanckämpferin stand, sagen: »Warum dahinter? Davor! Und mehr als eine!«54 Jean Garcin (1917-2006) steht beispielhaft für die Maquis-Partisanen in den südostfranzösischen Alpen. Sein Handeln ist in ein sozialistisch gesinntes familiales und regionalpolitisches Milieu eingebettet; für ihn ist der Eintritt in die Résistance die logische Konsequenz seiner Gesinnung und die Fortschreibung seiner Familiengeschichte. Garcin beschreibt seinen Werdegang im Alter, nachdem ihm alle offiziellen staatlichen Ehren und Orden als Held der Résistance zuteil worden waren. Selbstbewusst schildert er, wie aus dem jungen, gerade durch die Deutschen demobilisierten Soldaten der gesuchte ›Terrorist‹ Bayard wurde.55 Seine Entscheidung, Widerstand zu leisten, war kein ›einsamer Entschluss‹; er vollzieht sich vor dem Hintergrund eines politisierten Umfelds und situiert sich in der Lineage einer Familie, die ursprünglich, wie er betont, »aus den Bergen« komme und der ein entsprechender Freiheitsgeist innewohne. Diese Repräsentation ist als Handlungsmodell und als Erzählung innerhalb der Résistance vor allem in der Gruppe der Maquisarden wirksam, die ihren Stellungskrieg in den für Fremde unwegsamen provenzalischen Voralpen führen.56 Großvater und Vater waren beide sozialistische Bürgermeister. Der Vater stand der Volksfront nahe, die Mutter war Antimilitaristin und eine der ersten Frauenrechtlerinnen. Nach der Niederlage und Demobilisierung der französischen Armee stand Garcin als junger Soldat vor der Alternative, in Kriegsgefan53 Vgl. Albrecht, Mireille: Berty. Paris: R. Laffont 1986, sowie dies.: Vivre au lieu d’exister. Paris: Éditions du Rocher 2002. 54 Vgl. Demélas, Marie-Danielle (éd.) : Militantisme et histoire. Toulouse: Presses Universitaires du Mirail 2000, S. 20. 55 H. Frenay: Premiers contacts, S. 16. 56 Nataša Mišković schildert, dass sich jugoslawische Partisanen (Četnici) im Zweiten Weltkrieg in Pose, Habitus und Verhalten auf die Männerkultur der Hajduken im 17./18. Jh. als historische Vorbilder berufen, die sich der türkischen Herrschaft entziehen und von Dorf und Familie weggehen, sich in Gruppen zusammenschließen, von Wildern und Räuberei leben. Vgl. dies.: Held und Patriarch. Visuelle Konstruktionen von Männlichkeit im Westlichen Balkan am Beispiel des Fotoarchivs von Josip Broz Tito, in: L’Homme. Z. F. G., 26,2 (2015), S. 13-32, hier S. 18f.

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genschaft zu geraten oder in den Untergrund zu gehen. Seine Entscheidung traf er, wie er schreibt, nach der berühmten Rundfunkansprache von General Pétain, dem Präsidenten der Vichy-Regierung und Helden des Ersten Weltkriegs, am 30. Oktober 1940, als dieser sich mit dem folgenreichen Satz an die französische Bevölkerung richtete: »J’entre aujourd’hui dans la voie de collaboration.« [»Ab heute beschreite ich den Weg der Kollaboration« mit der deutschen Besatzung.] Dieses Momentum wird in vielen Berichten über diese Zeit als Auslöser des Entschlusses genannt, in den Untergrund zu gehen. Garcins Entschluss, wie bei vielen anderen in der unbesetzten Zone, reift nur langsam: ein Gespräch in der Familie, mit einem Freund, eine erste heimliche Versammlung (in einer Werkstatt in Orange), ein (schriftlicher) Pakt, ein Deckname. Man agiert in kleinen Gruppen, um im Falle der Verhaftung unter der vorhersehbaren Folter nicht die Kamerad _innen verraten zu müssen. Garcins Bezugsgruppe besteht aus einem Pharmaziegehilfen, einem Mechaniker, einem Schmied, einem Landwirt und einem vor den Faschisten geflohenen Italiener. 57 Sie verfertigen Graffitis und verteilen Flugblätter mit Gegenpropaganda, wie zum Beispiel: »Verweigere den Arbeitsdienst in Deutschland! Versteck Dich! Mach bei der Résistance mit! Nieder mit der Vichy-Regierung! Es lebe Frankreich! Mütter, lasst Eure Söhne und Männer nicht gehen, bildet Widerstandsgruppen, geht in die Berge!«58 Der Familienbetrieb Garcin, eine kleine Papierfabrik, versorgt die Gruppen mit Material. Innerhalb weniger Wochen taucht Garcin ganz in den Untergrund ab: Er verändert sein Äußeres, bricht jeden zivilen Kontakt ab, trägt ständig eine geladene Pistole bei sich, hält sich fit, einsatzbereit und mobil und achtet darauf, keine Gewohnheiten entstehen zu lassen: keine fixen Aufenthaltsorte, wechselnde Unterkünfte, Cafés und Restaurants.59 Jean Garcin wird zu dem Résistant »Bayard« und als solcher bald regionaler Chef des südfranzösischen Untergrunds; seine falsche Identität ist die eines Lyoner Polizeibeamten »Jean Rigaud«. Sabotageaktionen werden durchgeführt, die er (als ehemaliger Sprengmeister beim Militär) plant und organisiert: Beschaffung von Waffen und Sprengstoff, von falschen Papieren, von Lebensmittelmarken, medizinischer Hilfe, aber auch sogenannter ›direkter Aktionen‹ wie Sabotage der Telefonnetze, der Bahngleise, in Industriebetrieben, die Befreiung Gefangener, die Verhinderung von Deportationen, Straßenkampf, Guerillaaktionen, gezielte Exekutionen u.a..60 In den 1990er Jahren schreibt er rückblickend: Wir sind zu dem geworden, als was sie uns be57 J. Garcin: Nous étions des terroristes, S. 46. 58 Ebd., S. 64. 59 Ebd., S. 45. 60 Ebd., S. 51-60, S. 70:

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zeichnet haben: »Terroristen!« – so die Bezeichnung der SS für Résistancekämpfer_innen – »Simple politische Störenfriede 1940 und 1941, entschlossene und aktive Gegner 1942, und im Frühling 1943 wurden wir zu Terroristen.«61 Jean Garcin folgt nach dem Krieg seinem in Buchenwald ermordeten Vater, Robert Garcin, in das Bürgermeisteramt von L’Isle-sur-Sorgue und macht in der Region Vaucluse politische Karriere. Als führendes Résistancemitglied wird er hoch dekoriert und geehrt, er empfängt hohe Politiker, darunter Winston Churchill. Bis heute haftet ihm die Fama des regionalen Helden, einer beeindruckenden Persönlichkeit an. In seinem Heimatort wurde vor einigen Jahren ein Résistancemuseum eingerichtet und nach ihm benannt. Seine einstige Vorgesetzte dagegen, Yvonne de Komornicka (1898-1994) ist heute kein Begriff mehr. Unter dem Decknamen »Kléber« (und mit Hilfe ihrer Töchter) stand sie dem von Henry Frenay initiierten Résistanceverband »Combat« vor und hatte eine der höchsten Funktionen in der Résistance inne, da sie das Projekt des 1943 gefassten Widerstandsführers Jean Moulin, der die Befehle de Gaulles ausführte, zum Teil vollendete: den Widerstand der gesamten Region in der Organisation MUR (Mouvements Unies de la Résistance) zusammen zu führen. Sie wurde 1943 verhaftet, nach Ravensbrück deportiert, und wollte, nach Überleben und Rückkehr, wie viele der aktiven Résistancekämpferinnen, nach dem Krieg ein unauffälliges ziviles Leben führen und sich nicht mehr über diese Zeit äußern.62 Ange Alvarez (*1926) ist Beispiel zugleich für die politische Verfolgung als Auslöser, in den Untergrund zu gehen, als auch für die Figur des bereits kampferprobten spanischen Proletariers, der die französischen Résistants aus der eigenen Bürgerkriegs- und Guerillaerfahrung in Kampfgeist, Waffengebrauch und Sabotage initiiert. Etwa 21’000 Spanier wie er waren in der französischen Résistance aktiv.63 Das Verbot der Kommunistischen Partei 1939, der Freimaurerlogen und verschiedenster Jugendorganisationen führt dazu, dass sich diese Gruppierungen in den Untergrund begeben. Ange Alvarez wirkt bereits mit 14 Jahren im bewaffneten Widerstand mit. »Spanier, Bergmann, Kommunist, Widerstandskämpfer, Anti-Faschist, Revolutionär, Franzose, Sozialdemokrat«, wie sein Biograf Gerhard Bökel, ehemaliger hessischer Innenminister und Mitglied des Bundesra61 Ebd., S. 73. 62 Interview von Marie Granet mit Yvonne de Kormonicka am 12. November 1955, in: Archives du Comité d’Histoire de la Deuxième Guerre Mondiale. Résistance intérieure: mouvements, réseaux, partis politiques et syndicats. No 72AJ/35-72AJ/89. Ed. Patricia Gillet. Pierrefitte-sur-Seine: Archives Nationales 2015, S. 185. 63 Vgl. Pasero, Pierre: »La Sorbière«. Réfugiés piémontais et espagnols en Haute Provence. Les Alpes de Lumière no 151, Mane 2005, S. 56.

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tes, ihn charakterisiert64, kommt als Sohn einer armen, siebenköpfigen Bergarbeiterfamilie aus Asturien 1928 nach Frankreich in der Hoffnung auf Arbeit und Auskommen. Unterstützt durch die sozialen und politischen Strukturen der Kommunistischen Partei, gelingt es der Familie Fuß zu fassen. Der Vater kehrt 1936 nach Spanien zurück, um im Bürgerkrieg zu kämpfen und kommt dort um. Das Elternhaus in Frankreich, wo die Mutter, Nativité Alvarez, mit inzwischen sechs Kindern lebt, wird zu Zentrum und Zwischenstation von Internationalen Brigadist_innen auf dem Weg nach Spanien. Nach der deutschen Besetzung und dem Verbot der kommunistischen Partei gründet die Familie Alvarez in ihrem Haus eine kommunistische Untergrundorganisation, die den bewaffneten Kampf aufnimmt. »Wir traten in die Résistance ein wie in eine Religion«, schildert Ange Alvarez im Rückblick die Ereignisse. 65 Sein älterer Bruder bringt ihm das Schießen bei, er wird in Sabotageakte in den Bergwerken eingeführt, die, ebenso wie weitere von Industrieanlagen, die militärische und Wirtschaftskraft der Deutschen schwächen soll. Auch Mutter, Schwestern und Brüder sind aktiv; sie alle werden im Laufe des Krieges verhaftet, in Lager deportiert, gefoltert, sie entkommen zum Teil oder werden freigelassen und schließen sich erneut Gruppierungen an: den FFI (Forces françaises de l’intérieur) oder den FTPF (Franc Tireurs et Partisans Français).66 Wie durch ein Wunder überleben sie alle Konzentrationslager (Dachau und Ravensbrück), Gefängnisse und Folter und finden nach dem Krieg wieder zusammen. Mit 17 kämpft Ange Alvarez in der Résistance in Montpellier, beteiligt sich am Überfall auf Banken und Postämter zur Finanzierung der Widerstandsaktivitäten, und an Angriffen auf Soldaten, Polizisten und Miliz. Im Interview mit Bökel erzählt er: »Unsere Mission war, die Deutschen zu verunsichern. Die Erde sollte unter den Füßen der Nazis brennen. […] Wir hatten den Auftrag, die Verräter und Kollaborateure zu eliminieren. Jedes Mitglied der ›équipe spéciale‹ führte seine Aktionen allein durch. Ich war dazu bestimmt, an verschiedenen Orten in Frankreich Kollaborateure auszuschalten.«67 Ange Alvarez dramatische Geschichte ist mit der Befreiung 1944 nicht zu Ende. Sein Kampf um Legalisierung als Spanier und Kommunist dauert weiter durch die Zeiten des Kalten Krieges bis in die 1970er Jahre an: Erst dreißig Jahre nach dem Krieg erhält er die französische Staatsbürgerschaft. Sein politischer Kampf gegen Faschismus, für Gerechtigkeit und Gleichstellung prägt bis heute

64 G. Bökel: Ange Alvarez, S. 7. 65 Ebd., S. 13. 66 Ebd., S. 15-16. 67 Ebd., S. 19.

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sein Leben und hat ihm in späten Jahren Anerkennung in seiner Region und Aufstieg in politische Ämter gebracht.68 Boris Vildé (1908-1942) zählt wie Alvarez zu den Vorerfahrenen. Agnès Humbert zitiert zu seiner Charakterisierung Paul Rivet 1940, den damaligen Direktor des Pariser Ethnologiemuseums: »Vildé ist ein Sohn der Revolution. Er trägt sie in sich, er kennt die Technik der Revolte.«69 Er ist revolutionserfahren und auf der Suche nach Herausforderungen. Neben der politischen Überzeugung und einem tiefen Unrechtsempfinden wird ihm ein Funke Abenteuerlust nachgesagt, der seine intellektuelle Ausnahmebiografie prägt. 1908 in St. Petersburg geboren, flieht er 1919 mit Mutter und Geschwistern nach Tartu, wo er zur Schule geht und studiert. Hier schließt er sich dem livländischen Freiheitskampf an, wird verhaftet und von der Universität Tartu ausgeschlossen. Er flieht 1930 bis 1932 zunächst nach Lettland, dann nach Deutschland. Für kurze Zeit arbeitet er als Lektor an der Universität Jena, engagiert sich gegen den aufkommenden Faschismus und gerät auch hier kurz in Haft. In Berlin begegnet er 1932 André Gide, der ihm rät, Deutschland zu verlassen und nach Paris zu gehen, wo er ihn mit Paul Rivet, dem Direktor des Musée de l’Homme bekannt macht.70 In Paris arbeitet und studiert Vildé und erhält 1939 als Ethnologe, Linguist und Spezialist für sibirische Völker eine leitende Stelle am Ethnologiemuseum. Im gleichen Jahr 1939 wird er eingezogen, gerät in Gefangenschaft, entkommt und geht in den Untergrund. Recht schnell wird er zur führenden und charismatischen Persönlichkeit des über dreihundert Personen zählenden Résistancenetzwerkes »Musée de L’Homme«, dessen Kern bereits 1941 enttarnt wird. Die Gruppe wird zum Tode verurteilt, die Männer hingerichtet, die Frauen deportiert. Vildés 2012 in deutscher Übersetzung erschienenes Gefängnistagebuch zählt neben dem 2011 edierten Briefwechsel zwischen James und Freya von Moltke zu den herausragenden Zeugnissen der Auseinandersetzung mit der Condition Humaine im 20. Jahrhundert.71 Viele weitere Protagonist_innen und ihre ethischen, politischen und praktischen Handlungshintergründe ließen sich an dieser Stelle noch anführen, vieles ist noch nicht erschöpfend aufgearbeitet. Ihr Heldentum ist fragil, nicht unbe68 Ebd., S. 43-47. 69 A. Humbert: Notre guerre, S. 49. 70 Vgl. http://www.museedelhomme.fr/fr/musee/histoire-musee-homme/reseau-resistanc e-musee-homme-1941/boris-vilde-1908-1942 vom 12.2.2018. 71 Vildé, Boris: Trost der Philosophie. Tagebuch und Briefe aus der Haft 1941/1942. Hg. Philipp Ingold. Berlin: Matthes & Seitz 2012; Helmuth James von Moltke, Freya von Moltke: Abschiedsbriefe Gefängnis Tegel: September 1944 bis Januar 1945. Hg. Helmuth Caspar und Ulrike von Moltke. München: C.H. Beck 2011.

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stritten; ob und wann und wer in den Augen wessen heroisiert wird hängt von Zeit- und Gruppeninteressen und einer weiteren Vielzahl an ineinander wirkenden komplexen Faktoren ab.

D IFFERENZIERUNGEN UND M ERKMALE VON »W IDERSTAND « ALS W ÄHRUNG DES H EROISCHEN Kehren wir nach diesen Porträts zum Widerstandsbegriff zurück. Seine Konnotationen bewegen sich zwischen den Polen des äußerst Negativen, des Kriminellen schlechthin, das auch der ungesetzlichen Handlung selbst in einem Unrechtsregime anhaftet, bis hin zum äußerst Positiven der heroischen Handlung, des Kampfes für eine Sache, für Andere, für Gerechtigkeit und Freiheit. Die Unvereinbarkeit dieser beiden Enden äußert sich in einer Paradoxie des Heroischen. In den demokratischen Gesellschaften nach 1945 hatten, zum Teil bis heute, sowohl gesellschaftliche Bewertung wie auch Rechtsprechung jene unter dem Faschismus als ungesetzlich geltenden (Widerstands-)Handlungen nachhaltig nachteilige Folgen für die Betroffenen, die dauerhaft kriminalisiert blieben, auch wenn sie menschlich gehandelt haben: Zum Beispiel wurden Diplomaten, Soldaten, Grenzbeamte und Angestellte, die, um Verfolgte, damals vor allem europäische Jüdinnen und Juden, zu retten, der »Kompetenzüberschreitung« bezichtigt, bestraft, institutionell stigmatisiert und gesellschaftlich geächtet.72 Jacques Semelin, der große französische Historiker des Zweiten Weltkrieges, unterscheidet grundsätzlich zwischen ›Verteidigung‹ und ›Widerstand‹ – in diesem Fall gegen den Machtmissbrauch einer Regierung wider die eigene Bevölkerung.73 Er kategorisiert Widerstand selbst strukturell in zivil, militärisch und paramilitärisch und differenziert ihn begrifflich in drei Dimensionen, die mit Etappen einer individuellen Haltung korrespondieren können: Dissidenz, Ungehorsam und Widerstand.74 Als diskursiv hegemonial im historischen Gedächtnis erweisen sich vor allem die offiziell dokumentierten Kampfhandlungen und Aktionen, die Etappe drei zufallen: Sabotageakte, bewaffnete Anschläge auf Einhei-

72 Vgl. z.B. Winkler, Justin. SS Drottningholm, Istanbul-Lisboa. Photo documentary, Mobile Culture Studies. The Journal 1 (2015), S. 54-55: http://unipub.uni-graz.at/m csj/periodical/titleinfo/792136; Bickenbach, Wulff: Gerechtigkeit für Paul Grüninger. Verurteilung und Rehabilitierung eines Schweizer Fluchthelfers (1938-1998). Köln: Böhlau 2009. 73 Vgl. J. Semelin: Qu’est-ce «résister» ?, S. 51f., S. 55. 74 Ebd., S. 51f., S. 55.

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ten des Gegners sowie die politische Zusammenarbeit mit dem britischen und amerikanischen Geheimdienst und den politischen Kräften Frankreichs im Exil, die die historische Fama herstellen – eine heroische Aura durchaus im Benjamin’schen Sinne. Sie ermöglichen die heroisch konnotierten Aufladungen ebenso wie ihre politische Indienstnahme oder Vereinnahmung, die am Anfang einer Geschichts- und Erinnerungsklitterung ebenso wie mannigfacher Identitätskonstruktionen stehen. In diesem Heroischen überwiegen, durch fast alle dokumentierten Résistance-Biografien hindurch, patriotische, republikanisch-nationale Färbungen, obgleich im Fall der französischen Résistance de facto der Anteil der Internationalen, der Kommunist_innen, der verfolgten Juden und Jüdinnen, an den Mitgliedern des Widerstands hoch war und diese sich in ihrem politischen Selbstverständnis meist eher als international solidarische Antifaschistinnen denn als französische Patriot_innen verstanden haben. Und es überwiegt bei weitem die männliche Erzählung. Wenn Frauenhandeln im Widerstand Erwähnung findet, dann scheint in dieser Welt auf dem Kopf ein »Lob der Frauen« auf, ihre wichtige Arbeit »im Hintergrund«, als »Verbindungselement«, ihre »Hingabe«, die erbrachten »Opfer«, ihr »Martyrium«, das sie aufgenommen haben – ein Lob bisweilen in der Art einer Galanterie, um ihnen dann wie selbstverständlich wieder den herkömmlichen, untergeordneten Vorkriegsplatz in der Geschichte zuzuweisen.75 Die seit Ende der 1990er Jahre intensive internationale wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der zentralen Rolle von Frauen im Widerstand steht seltsam unverbunden zur Résistance-Geschichtsschreibung76 und wirkt fast wie eine fremde Sprache. Die spektakulären Taten und ihr Erzählen oder Berichten überdecken in ihrer unmittelbaren Sichtbarkeit nicht weniger wichtige Haltungen wie »innere Dissidenz«, Schweigen77, alltägliche banale Gesten des Ungehorsam, die im toten Winkel der Historiographie stehen.78 BBC hören, verbotene

75 Vgl. Blanc, Julien: Introduction, in: Humbert, Agnès: Notre guerre. Souvenirs de Résistance. Paris 1940-41 – Le bagne – Occupation en Allemagne. Paris: Tallandier 2004, S. 9-84, hier S. 51 oder J. Garcin: Nous étions des térroristes, S. 52 76 Vgl. etwa Collins Weitz, Margaret: Frauen in der Résistance. Münster: Unrast 2002. 77 Schweigen als entschiedene Widerstandshaltung wird eindrücklich veranschaulicht in dem berühmten von Jean-Pierre Melville 1947 verfilmten und 1942 erschienenen Buch von Vercors (Pseudonym von Jean Marcel Bruller): »Le Silence de la Mer«; bereits 1945 erschien die deutsche Ausgabe »Das Schweigen«. 78 Vgl. J. Blanc: Introduction, S. 19.

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Presse oder bestimmte Bücher79 lesen, bestimmte Symbole verwenden oder nicht verwenden, sich in einer Art kleiden, die den dominierenden Vorgaben widerspricht oder sie karikiert80, in den Betrieben und Büros langsamer arbeiten… Widerstand im Alltag reichte von unmerklichem Oppositionsverhalten bis hin zu manifesten Widerstandsformen, wie etwa der Vorbereitung oder Teilnahme an Streiks oder dem Verstecken von Verfolgten. Er reichte von kleinen Verweigerungen, etwa wenn beispielsweise Annette Beaumanoir als Schülerin in einem Formular die Religionszugehörigkeit der Eltern nicht angibt 81 oder Nathan Ariel den Judenstern nicht trägt82, bis zu größeren Gesten, wie im Fall von Pedro Rodriguez, der den Arbeitsdienst verweigert83, und viele weitere, die Verfolgte warnen und mit kleinen und großen Unterstützungen vielerlei Art den manifesten Widerstand anderer ermöglichen.84 Für den zivilgesellschaftlichen Widerstand, so Semelin, gibt es keine objektivierbaren Kriterien, vielmehr handelt es sich um eine schwer bestimmbare Grauzone individuellen Agierens. Darum spricht er, in Anlehnung an Charles d’Aragon, von einer »résistance sans héroïsme«85: von Alltagspraktiken, denen jegliche heroische Dimension abgesprochen werde86 und die das Feld des unhinterfragten weiblichen Handelns betreffen. Doch genau sie ist es, jene zivilgesellschaftliche Unterstützung, die das Heroische von sich weist, welche jene »Beteiligungsstruktur« schafft, die nach Butler, Mecheril und Breningmeyer Voraus-

79 René Char etwa liest während seiner Résistance-Zeit Werke von Saint-Just, de Sade und Lautréament, die sich mit der menschlichen Revolte auseinandersetzen. Vgl. M. Bauschulte: René Char, S. 171. 80 Vgl. J. Semelin: »Récister«, S. 58. – Das »Musée d’Histoire Jean Garcin: 1939-1945« in L’Isle-sur-Sorgue zeigt in seiner Dauerausstellung, wie die Kleidung unter der Besatzung von einem Ethos besetzt war, das zum einen durch das herrschende Knappheitsregime und zum anderen von einem ideologischen Frauenbild mit einer bestimmten Rollen- und Verhaltenszuweisung geprägt war. Dieses Ethos spiegelte sich in Form, Farbe, Materialien und Trag-Haltungen von Kleidung, die die Marke ihrer eingeschränkten Produktion sowie des eingeschränkten Zugangs zu Rohstoffen trug. 81 Vgl. Annette Beaumanoir in dem Filmporträt von Luca Lennartz © 2011: Annette Beaumanoir. Militante de base. Les années 1940-65. http://atelier-luca.com/fc/viewt opic.php?t=1028, vom 20.2.2018. 82 Vgl. N. Ariel: Le Maquis juif. 83 Vgl. P. Paséro: »La Sorbière«, S. 56. 84 Vgl. J. Semelin: »Récister«, S. 57. 85 Vgl. d’Aragon, Charles: La Résistance sans héroïsme. Paris: Seuil 1977. 86 Vgl. J. Semelin: »Récister«, S. 59.

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setzung jeglichen Widerstandes ist.87 In Laurent Douzous Quellenanalyse zu den Motivationen, die den individuellen Widerstand tragen, scheint diese Ermöglichungsstruktur als ein Dispositiv auf, das die normative Grundstruktur des heroischen Charakters männlichen Handelns zugleich bedingt wie offenbart. Die Analyse von überlieferten Episteln und Textfragmenten von Résistants führt ihn zu dem Schluss, dass ihre Autoren »niemals, auch nicht in der Hölle der Lager, daran zu denken aufhörten, was man später über ihre Taten sagen und wie man die Toten ehren würde«.88 Alle hätten sie sich der Résistance angeschlossen in dem Bewusstsein, »einen epischen Kampf« zu führen.89 Soweit die elaborierten Überlieferungen, derer Douzot sich angenommen hat.

AUS DEM ALLTAG , IN DEN ALLTAG Wenn wir Ove Sutters luzider Auseinandersetzung mit dem kulturwissenschaftlichen Alltagsbegriff entlang Gramscis Verständnis von common sense folgen, dann scheint der Alltag als eine politische Kategorie auf. 90 Die Geschichte der Résistance zeigt, dass es vor allem Frauen sind, die diese Kategorie handlungstheoretisch greifbar machen, denn der Alltag ist der Ort der Performanz ihrer Geschlechtsrollenidentität. Bei näherem Hinsehen erlaubt diese Perspektive die De-Mythifizierung des Heroischen und eröffnet zugleich den Ausblick auf die Re-Politisierung und damit Aufwertung des Alltagshandelns.91 Es geschieht aus dem Alltag heraus, dass die Résistant_es eine Haltung entwickeln, die befähigt und befugt, Unmenschlichkeit und Verbrechen zu erkennen, und die antreibt, selbst zu widerstehen oder sogar Widerstand zu leisten. In Selbstzeugnissen von Frauen, die wir studiert haben92, fließen die Anfänge einer illegalisierten Widerstandstätigkeit in den schriftlich fixierten Narrativen

87 Vgl. Butler, Martin et al. (Hg.): Resistance, S. 153. 88 L. Douzou: La Résistance française, S. 45. 89 Ebd., S. 47. 90 Vgl. O. Sutter: Alltagsverstand. 91 Vgl. Rolshoven, Johanna: Dimensionen des Politischen. Eine Rückholaktion, in: Dies.; Ingo Schneider (Hg.), Dimensionen des Politischen. Berlin: neofelis 2018, S. 14-34. 92 Es sind dies die autobiographischen Zeugnisse aus Widerstand, Haft, Zwangsarbeit und KZ der Ethnologinnen und Schülerinnen von Marcel Mauss Louise Alcan, Agnès Humbert, Germaine Tillion, der Soziologin Marie-José Chambert de Lauwe, sowie der am Résistancenetz der Ethnologie beteiligten Simone Martin-Chauffier, darüber

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gleichsam unmerklich, oftmals wie selbstverständlich aus dem Alltag heraus und in diesen, ihn nach und nach gänzlich bestimmend, wieder hinein. Dies aus einer Haltung heraus und zu einer Haltung werdend, die in Bezug auf die Ethnologinnen Alcan, Humbert und Tillion als »ethnographischer Humanismus«93 bezeichnet werden kann: ein zutiefst humanitär durchzogenes, stets deutendes, reflexives Alltagshandeln. Bei den männlichen Selbstzeugnissen, auch den poetisierten, dagegen schwingt von Beginn an das Heroische als außerordentliches, den Alltag Überhöhendes mit, als ein hegemoniales Moment. Sprechend wird diese empirische Feststellung da, wo es zum Konflikt der Narrative kommt. Ein Beispiel bietet die Rezeption der Résistancegeschichte der bewaffneten Widerstandskämpferin Madeleine Baudoin (1921-2005), die als »Marianne Bardini« eine führende Rolle in den südfranzösischen Widerstandsverbänden spielte. Ihre 1962 erschienene Geschichte des Widerstands beschreibt den Alltag der Résistancekämpfer sowohl in den heroischen Taten und großen Aktionen als auch en détail in seinen Unzulänglichkeiten und menschlichen Fehlbarkeiten. Baudoin eckt damit deutlich an, da sie die Konstruktion des Heros verletzt, indem sie sein Mittelmaß evoziert.94 Auch hier erweist sich, dass das Heldische nur Repräsentation sein kann, da es zuallererst ein Sprechen ist. Die angenommene Mehrheit der französischen Bevölkerung, die sich in den Jahren der Okkupation nicht mit einer Widerstandshaltung identifiziert hat, ob aus »Gedankenlosigkeit« – wie Hannah Arendt, vehemente Reaktionen provozierend, über Eichmann formuliert hatte95 – oder aus bewusstem Einvernehmen mit dem ›Naziregime‹, sei dahingestellt, handelte ebenfalls aus dem Alltag herhinaus die alltagsphilosophischen und politikphilosophischen Schriften aus dem Widerstand von Simone Weil, die Auseinandersetzung über filmische und schriftliche Internetdokumente mit Annette Beaumanoir und Marguerite Soubeyron, für deren Hinweis wir dem Kollegen Bernd-Jürgen Warneken herzlich danken. Bezüglich der breit dokumentierten Schriften männlicher Widerstandskämpfer – in diesem Kontext nur auf Frankreich bezogen – beziehen wir uns auf die in diesem Band genannten Schriften sowie in besonderer Weise auf unsere Auseinandersetzung mit dem Ethnologen Boris Vildé und dem Dichter René Char. 93 Vgl. N. Wood: Germaine Tillion, S. 55; L. Alcan: Le temps écartelé, S. 91. 94 Vgl. Baudoin, Madeleine: Histoire des Groupes Francs (M.U.R.) des Bouches-duRhône de septembre 1943 à la Libération. Paris: PUF 1962, sowie die Rezension ihres Buchs durch Henri Michel, in: Annales. Économies, Sociétés, Civilisations 2 (1965), pp. 404-405. 95 Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen [1963]; Arendt, Hannah/Fest, Joachim: »Eichmann war von empörender Dummheit. Gespräche und Briefe.« München, Zürich: Piper Verlag 2011.

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aus. Auch ihre Haltung war, wie sie es heute ist, an den Alltag gekoppelt: an Ängste, Abhängigkeitsverhältnisse und Lebensnotwendigkeiten. Auf diesen Parametern beruht die ideologische Verführbarkeit des Alltagsmenschen, deren letztlich ökonomische Bedingtheit vor dem Hintergrund der historischen Erkenntnisse über die Kultur96 nicht bezweifelt werden kann – eine Verführbarkeit als Stoff, auf der jegliche Ökonomie beruht. Mitlaufen, wegsehen, kollaborieren, zu Tätern und Täterinnen werden: Die Aufarbeitung der Geschichte des Faschismus und Totalitarismus im 20. Jahrhundert hat diese Mechanismen – auch sie Mechanismen des Alltags – minutiös aufgearbeitet. Es ist in jeder Gegenwart wichtig, diese ›falsche‹ Seite des Alltags auf ihre von ihr hervorgebrachten Helden, die sie hervorbringt, hin zu befragen. Auch wenn demokratische Rechtsordnungen ihre Verehrung untersagen, sind sie in den rechtsnationalen, fremdenfeindlichen Kreisen hochpräsent beziehungsweise ist eine neuerliche öffentlich geduldete oder gehuldigte Performanz Indikator einer riskanten politischsystemischen Neuordnung. Diese Beunruhigung in der Gegenwart mag ein Impuls der hier skizzierten kulturanthropologischen Auseinandersetzung mit einer heroischen Seite des »Menschengeschlechtes«97 in der Vergangenheit der französischen Résistance sein – und sie begründet auch die Färbung der vorliegenden Darstellung.

96 Vgl. u.a. Medick, Hans/Sabean, David (Hg.): Emotionen und materielle Interessen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1984. 97 Ich danke meinem Kollegen Karl Braun für den Hinweis auf das wichtige, von Robert Anthelme nach seiner Rückkehr aus Buchenwald verfasste Buch: Das Menschengeschlecht. Frankfurt am Main 2001 [Paris 1957]; als parallele Lektüre höchst aufschlussreich dazu das Buch seiner Frau Marguerite Duras: Der Schmerz. München, Wien: Hanser 1986 [Paris 1985].

Von Dissidenten und Deserteuren an der ethnischen Front Norbert Conrad Kaser und Alexander Langer als zeitgemäße Helden? I NGO S CHNEIDER

H ELDEN GESTERN UND HEUTE – M ERKMALE , F UNKTIONEN , I NSTRUMENTALISIERUNGEN Was macht einen Helden früher wie heute aus? Ein Blick auf die reichhaltige Literatur, die sich immer wieder an Versuchen der Typisierung abarbeitete 1, vermittelt ein ambivalentes Bild, das dennoch übergeordnete Gemeinsamkeiten erkennen lässt. Der klassische Held war der Kriegsheld. Sein Schicksal war es, im Kampf zu fallen. Darauf gründet sein Ruhm. Allgemein gilt aber auch: Die Hel-

1

Siehe z.B. Horn, Katalin: Held, Heldin, in: Enzyklopädie des Märchens. Hg. von R. W. Brednich u.a., Bd. 6, Berlin, N. Y.: de Gruyter 1990, Sp. 721-745. Die umfangreiche, für diesen Artikel verarbeitete Literatur geht weit über den Bereich der Erzählforschung hinaus. – Peter Burke: Helden, Schurken und Narren. Europäische Volkskultur in der frühen Neuzeit. Stuttgart: Klett-Cotta 1981, S. 162-191. Peter Burke unterscheidet für die frühe europäische Neuzeit die vier Heldentypen Herrscher, Krieger, Heiliger und Gesetzloser und versucht, deren sozial-psychologische Funktionen und somit die Grundlagen der damit verbundenen populären Identifikationsmodelle freizulegen.

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din/der Held ragt aus der Menge heraus, indem sie/er etwas Großes vollbringt, in den Worten von Franz Schuh: »Der Held kann etwas besser als die anderen«.2 Im Grimm’schen Wörterbuch lesen wir eine knappe Definition des Helden, die zumindest einen Teil der oben genannten Bedingungen in einer langen historischen Perspektive zu treffen scheint: »der durch tapferkeit und kampfgewandtheit hervorragende krieger«3. Das Wesen der Figur des Helden ist damit freilich nur sehr vordergründig charakterisiert, denn seine identitätsstiftenden Funktionen werden nicht angesprochen. Dabei ist schon ein erster Blick darauf vielversprechend. Der Held – als Krieger war er lange ausschließlich männlich gedacht4 – hat zumeist sedierende, ruhigstellende Funktion; er bestärkt und bestätigt das herrschende System. In dieser gesellschaftlichen Position erscheint er seit der klassischen Antike. Der Held wird, das lässt sich wohl allgemein sagen, immer instrumentalisiert. Daran hat sich, wenn man auf heutige Kriegsmächte wie die USA blickt, nichts geändert. Heldenverehrung ist Mythisierung und sie stiftet einen rechten Mythos im Sinne von Roland Barthes5. Sie dient der Legitimation von Herrschaft. Diese Einschätzung teilt auch Elisabeth Katschnig-Fasch, wenn sie am Beispiel der jüngeren Geschichte der Balkanregion zeigt, wie das staatliche Herrschaftssystem den Mythos des Helden an die Stelle der in den Staaten des realen Sozialismus unterdrückten religiösen Mythen setzte und wie die politischen Machtapparate sich bemühten, diesen Heldenmythos für sich zu nutzen. Er unterstützt die Selbstverständlichkeit der Macht. Staatsmacht und Held verschmelzen. Auf diese Weise bleibt das herrschende System unangetastet und die

2

Schuh, Franz: Über Helden, in: Wolfgang Müller-Funk/Georg Kugler (Hg.): »Zeitreise Heldenberg«. Lauter Helden. Niederösterreichische Landesausstellung 2005. Wien, Horn: Berger 2005, S. 23-25, hier S. 24.

3

Deutsches Wörterbuch. München: dtv 1984, Bd. 10, Sp. 931, s.v. Held.

4

Dass es in der europäischen Volksüberlieferung dennoch auch weibliche Heldengestalten gab, belegt die Dissertation von Sabine Wienker-Piepho eindrucksvoll. Vgl. dies.: Frauen als Volkshelden. Geschichtlichkeit. Legendenbildung und Typologie, Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang 1988.

5

Für Roland Barthes ist der eigentliche Ort des Mythos rechts, da er die essentialisierende Tendenz hat, dem Gegenstand seine Geschichte zu entziehen, die Welt als unveränderlich, und die bestehende Ordnung als gleichsam natürlich darzustellen. Deshalb bezeichnet Barthes den Mythos als eine entpolitisierte Rede, weil er das Reale in etwas Natürliches verwandelt. – Roland Barthes: Mythen des Alltags. Vollständige Ausgabe, aus dem Französischen von Horst Brühmann, Berlin: suhrkamp 2010, S. 294-299 und S. 303-312.

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Geschichte im Sinne der Herrschaft gleichsam eingefroren. 6 In den Worten Mario Erdheims übernehmen solche Mythen die Funktion von »Kühlsystemen«.7 In letzter Konsequenz wird der Führer, der Herrscher selbst zum Held. War dies im Fall Exjugoslawiens Tito, übernahmen diese Rolle im Zuge der Kriege am Balkan politische Führer wie Milosevic, Karadzic oder Tuđman. »Der personifizierte Held verspricht, aus der persönlichen Ohnmacht zu helfen. Das wird ersehnt. Und diese Sehnsucht verspricht immer Erfüllung. Die Sicht auf die reale Funktion des Helden in der Verkörperung der gesellschaftlichen Macht und Gewalt ist verstellt. […] Man identifiziert sich, wird selbst Teil des Helden, Teil des herrschenden Systems.«8

Die enge Bindung des Helden an Kampf und Krieg und seine Mythisierung im Dienste der Bestätigung und Stabilisierung herrschender, vor allem totalitärer Systeme wirken also (zumindest teilweise) bis heute fort. Durchaus ins Bild – wenn auch nicht unmittelbar im Kontext von Krieg und Gewalt – passen da Auszeichnungen wie »Held der sozialistischen Arbeit« in der ehemaligen Sowjetunion, die es in ähnlicher Form auch in anderen Staaten des ehemaligen Ostblocks gab. Dass Vladimir Putin die nach dem Ende des realen Sozialismus abgeschaffte Auszeichnung 2013 wiedereinführte, kann wohl nicht anders denn als Ausdruck ideologischer Kontinuität verstanden werden. Selbst wenn die sedierende, ›kühlende‹, Funktion noch immer die dominierende sein mag, ist sie nicht die einzig vorstellbare und wirksame. Gerade heute muss man sich zunehmend fragen, welche Funktionen dem Topos des Helden darüber hinaus zugedacht werden, beziehungsweise ob Menschen des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts mit dem Topos des Helden überhaupt noch etwas anzufangen wissen. Was können – ganz allgemein gesprochen – aufgeklärte Menschen abseits des Topos des Kriegshelden als heldenhaft anerkennen, können und sollen wir überhaupt etwas als heldenhaft akzeptieren?

6

Katschnig-Fasch, Elisabeth: Zur Genese der Gewalt des Helden. Gedanken zur Wirksamkeit der symbolischen Geschlechterkonstruktion, in: Rolf. W. Brednich/Walter Hartinger (Hg.): Gewalt in der Kultur. Vorträge des 29. Deutschen Volkskundekongresses, Passau: Lehrstuhl für Volkskunde der Universität Passau 1993, Teilband 1, S. 97-117, hier S. 106

7

Erdheim, Mario: Psychoanalyse und die Unbewußtheit in der Kultur. Frankfurt am Main: suhrkamp 1988, S. 332. Den Hinweis verdanke ich Elisabeth Katschnig-Fasch.

8

E. Katschnig-Fasch, Zur Genese der Gewalt des Helden, S. 106.

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»Not und Held gehören zusammen wie Krankheit und Fieber«, erkannte bereits Robert Musil.9 Helden und heldenhafte Taten, soviel ist klar, haben immer in Krisenzeiten Konjunktur und tauchen dementsprechend häufig in den Medien auf. In den vergangenen Jahren waren Krisen in überproportionalem Maße Terroranschläge, wie etwa die Attentate auf das World Trade Center oder die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo. Im Falle von 9/11 wurde der Topos des Helden inflationär auf eine große Zahl von Feuerwehrleuten und Freiwilligen angewendet10, die häufig bei ihren Rettungseinsätzen ihr Leben ließen. Ohne die Leistungen dieser Menschen schmälern zu wollen, muss man auch der Instrumentalisierung ihrer Handlungen sedierende Wirkung unterstellen. War dies bei den Anschlägen in Paris von 2015 anders? Da wurde etwa mit Lassana Bathily ein junger, aus Mali stammender Mann zum Helden erkoren, der in der Nachfolge der Anschläge auf die Redaktion des Satiremagazins bei einem Anschlag auf ein jüdisches Lebensmittelgeschäft mehreren Menschen das Leben gerettet hatte, indem er sie durch eine Falltür in einem Kühlraum in Sicherheit gebracht hatte. Zum Dank dafür wurde Bathily im Beisein des zuständigen Ministers die französische Staatsbürgerschaft verliehen, in einer medialen Inszenierung, die freilich auch nicht frei von sedierenden Zügen war. Wann würden wir heute einem Menschen heldenhaftes Verhalten zugestehen? Ganz allgemein dann, wenn ein Mensch in einer Ausnahmesituation mutig und entschlossen handelt, sich ohne Rücksicht auf sich selbst einer Übermacht in den Weg stellt beziehungsweise sich Gefahren aussetzt und eventuell Menschenleben rettet. Eine solche Konzeption heldenhaften Tuns reicht jedoch nicht aus. Was alles kann als Ausnahmesituation empfunden werden? Wir müssen hier ein Kontinuum zwischen zwei Polen sehen: ein plötzlich auftretendes unerwartetes Ereignis auf der einen Seite, aber auch eine dauerhaft, als belastend und/oder ungerecht empfundene Situation, etwa in einem repressiven politischen System auf der anderen Seite. Mit einer so allgemeinen Beschreibung von Heldenhaftigkeit rückt das Konzept des »Vorbildes« in den Blick. Freilich ist nicht jeder Held ein Vorbild und nicht jedes Vorbild ein Held. Gleichwohl halte ich fest, dass die Vorbildfunktion einer Heldin/eines Helden eine mögliche Antwort auf die Frage, was wir heute mit Helden anfangen könnten, sein kann. Wer oder was könnte uns heute ein Vorbild sein? Die Antwort fällt abermals nicht leicht. 11 9

Musil, Robert: Politik in Österreich, in: Gesammelte Werke, Bd. 8 (Essays und Reden), Reinbek: Rowohlt 1981.

10 Siehe z.B. Heroes of 9/11 (September 11 History/Documenary), https://www.youtub e.com/watch?v=HG4AOe1gtts vom 10.01.2018. 11 Dies führt beispielsweise ein zwar häufig kritisierter, aber dennoch lesenswerter Roman von Siegfried Lenz vor Augen, in dem drei Experten für Schullesebücher an der

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Kann, frage ich weiter, heldenhaftes Verhalten im Gegensatz zum klassischen Topos des systembestätigenden Kriegshelden früher wie heute nicht gerade in der Auflehnung gegenüber dem herrschenden System liegen? Können wir nicht gerade solche Menschen als Helden auffassen, deren vorbildhafte oder heldenhafte Seite darin besteht, gegen den Strom zu schwimmen, die herrschenden Verhältnisse zu unterlaufen und in Frage zu stellen? Während der klassische Held sedierende Wirkung erzielt, indem er herrschende Verhältnisse stützt, hätte der Typus des alternativen Helden subversive, ja revolutionäre Funktion. Ich möchte im Folgenden diesen Gedanken am Beispiel der jüngeren Geschichte Südtirols nachgehen, dabei aber zunächst ein Stück weit in die Vergangenheit blicken.

›H ELDENLANDSCHAFT ‹ S ÜDTIROL Südtirol respektive das ehemalige Kronland Tirol hat einige und sehr unterschiedliche Heldengestalten zu bieten. Da wäre der aus Sterzing stammende visionäre, widerständige Bauernführer Michael Gaismair (1490-1532). 1525 zum Anführer der aufständischen Tiroler Bauern gewählt, forderte er bei einer von ihm erzwungenen Einberufung des Landtags in Innsbruck vom Tiroler Regenten Ferdinand I. eine Reihe demokratischer Reformen wie den Privilegienabbau der Adeligen, die Abschaffung der weltlichen Macht der Kirche oder die Gleichstellung aller Bürger vor dem Gesetz und die Erstellung eines Gesetzbuches. Nachdem der Landtag mit einem Kompromiss geendet hatte, ließ der Landesfürst Gaismair festnehmen und machte bereits gemachte Zusagen rückgängig. Gaismair gelang die Flucht in die Schweiz, wo er 1526 den Entwurf zu einer egalitären, christlich-demokratischen Landesordnung verfasste. Ständig auf der Flucht, versuchte er mehrfach, nun von Salzburg aus, Aufstände anzuzetteln und zu unterstützen, beteiligte sich an Kämpfen in Oberitalien und zog sich schließlich auf ein Landgut in Padua zurück, wo er 1532 ermordet wurde. Nicht zufällig wurde der Reformer, Rebell und Revolutionär, der sich gegen die herrschende weltliche und geistliche Ordnung auflehnte, von der offiziellen Geschichtsschreibung bis in die 1950er Jahre12 weitgehend ignoriert, obwohl oder vielleicht gerade weil

Aufgabe, einen Text über ein Vorbild für ein Schullesebuch auszuwählen, scheitern. – Siegfried Lenz: Das Vorbild, München: dtv 11. Aufl. 2000. 12 Die erste und ausführlichste Darstellung des Wirkens Gaismairs leistete der tschechische Historiker Josef Macek. – Ders.: Tyrolská selská válka a Michal Gaismair, Praha: Nakl. Československé akademie věd 1960. Dt. Ausgabe: Der Tiroler Bauernkrieg und

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ihn Friedrich Engels als frühen Sozialisten gewürdigt hat.13 Die allmählich einsetzende späte öffentliche Wertschätzung fand ihren Ausdruck unter anderem in einer Gedenkstätte, der Benennung von Straßen und Schulen oder in Theaterstücken. Nach beinahe 500 Jahren ist aus dem ungeliebten Aufwiegler und Sozialrebellen ein Held geworden! Ganz anders die Karriere des Tiroler Nationalhelden par excellence Andreas Hofer, Anführer des Tiroler Widerstands gegen die französische respektive bayerische Zwangsherrschaft im Jahre 1809. Die Mythisierung seiner Person verlief vielleicht gerade deshalb so erfolgreich, weil Hofer letztlich der tragische Held eines martyriologischen Mythos ist. Hofers Einsatz hatte ja nicht nur dem Land Tirol, sondern dem Kaiserreich und dem Kaiser von Österreich Franz I. gegolten. Letzterer hatte die Tiroler bekanntlich im Stich gelassen. So endete ihr Aufstand nach mehreren erfolgreich geschlagenen Schlachten im November 1809 am Berg Isel südlich von Innsbruck mit einer Niederlage. Andreas Hofer, für zwei Monate vom Kaiser eingesetzter Regent in Innsbruck, musste flüchten, wurde durch Verrat seines Verstecks gefangen genommen und nach Mantua gebracht, wo er zum Tode verurteilt und am 20. November 1810 exekutiert und begraben wurde. Nach dieser Biografie schien der Weg der Mythisierung zum Nationalhelden klassischen Typs vorgezeichnet. 1823 wurden mit der heimlichen Übertragung der Gebeine Hofers nach Innsbruck, wo sie in der Hofkirche bis heute verwahrt werden, die Voraussetzungen für seine Mythisierung geschaffen.14 Nach zögerlichen Anfängen in nationalromantischen Kreisen in Deutschland setzte die Stilisierung Hofers zum Tiroler Nationalhelden erst im beginnenden 20. Jahrhundert in Form von Denkmälern, der Benennung von Straßen und Plätzen u. ä. ein und erlebte einen ersten Höhepunkt im ersten, aufwendig inszenierten Gedenkjahr 100 Jahre nach den Freiheitskämpfen 1809.15 Noch heute erinnert die offizielle Landeshymne Tirols an Hofer und seinen heldenhaften Tod: Michael Gaismair, Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften 1965. Eine spätere, gekürzte Neuauflage führt das Heldenhafte seiner Person in Untertitel: Josef Macek: Michael Gaismair. Vergessener Held des Tiroler Bauernkrieges, Wien: Österreichischer Bundesverlag 1988. 13 Engels, Friedrich: Der deutsche Bauernkrieg, Berlin: Dietz 8. Aufl. 1965. 14 Erhard, Benedikt: Der lange Weg zum Helden. Zur Rezeptionsgeschichte von 1809, in: Erziehung heute (1984), Heft 1-2 unpaginiert. 15 Siehe dazu Schneider, Ingo: Verordnete Gedächtniskultur. Das Tiroler Gedenkjahr 1984 zwischen Anspruch und Wirklichkeit, in: Brigitte Böhnisch-Brednich u.a. (Hg.): Erinnern und Vergessen. Vorträge des 27. Deutschen Volkskundekongresses Göttingen 1989 (Beiträge zur Volkskunde Niedersachsens, 5), Göttingen: Verlag Schmerse 1991, S. 405-414.

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»Zu Mantua in Banden | Der treue Hofer war, | In Mantua zum Tode | Führt ihn der Feinde Schar«. Das vorläufig letzte Kapitel der Mythisierung des Tiroler Freiheitskampfes und damit der Heldenverehrung Hofers stellt die Übertragung eines 1896 entstandenen Rundgemäldes mit Szenen der Kämpfe der dritten Berg-Isel-Schlacht vom 13. August 1809 in ein 2010 neu eröffnetes Museum am Schauplatz der Schlacht, dem Berg Isel dar, der schon zuvor der HoferGedenkort schlechthin war. Im lange dauernden Prozess der Mythisierung Hofers wurden seine Person, aber auch die Ereignisse von 1809 von Widersprüchen, Ungereimtheiten und dunklen Stellen bereinigt. Seit über 100 Jahren repräsentiert er den klassischen Typus des Helden, nationalistisch vereinnahmt und systemstabilisierend. Durch die Teilung Tirols und die Angliederung des südlichen Landesteils an Italien gewann die politische Vereinnahmung dies- und jenseits des Brenners eine bis heute andauernde, zusätzliche Dimension 16. Nicht zuletzt bei den alle 25 Jahre stattfindenden Tiroler Gedenkjahren wurde der (Opfer-)Mythos als Symbol der Einheit des zwischen Italien und Österreich geteilten Landes und als Herzstück Tirolischer Identität beschworen. Es ist nicht verwunderlich, dass die Angliederung des heutigen Trentino und Südtirol an Italien mit zahlreichen Krisen einherging und ebenso wenig verwundert es, dass für die im Umfeld eines solchen Nationalitätenkonflikts handelnde Akteure die Voraussetzung zur Mythisierung und in solchen Fällen immer auch politischen Instrumentalisierung ›günstig‹ waren. Freilich zeigt sich in solchen Situationen mit besonderer Deutlichkeit, dass die Helden der einen Seite immer die Verräter der anderen sind. Dies gilt etwa für den Geografen und politischen Aktivisten Cesare Battisti. Im damals noch zur Monarchie gehörenden Trient geboren, wurde Battisti 1911 sozialistischer Abgeordneter des österreichischen Reichsrats und des Tiroler Landtags. Battisti war aber auch Irredentist.17 Als solcher meldete er sich zu Beginn des Ersten Weltkriegs freiwillig zum Italienischen Heer und wurde mehrfach ausgezeichnet. Am 10. Juli 1916 geriet Battisti in Gefangenschaft. Ungeachtet seiner Immunität als Abgeordneter des österreichischen Reichstags wurde er vor ein Kriegsgericht gestellt und hingerichtet. Seine Hinrichtung erregte aufgrund besonderer Vorfälle großes Aufsehen im Inund Ausland. Ihm wurde unter anderem, nachdem er aufgrund eines technischen Defekts die erste Exekution überlebt hatte, die in solchen Fällen übliche Begnadigung nicht gewährt und Battisti wurde in einer zweiten Vollstreckung durch 16 Andreas Hofer Bund als eine Facette: http://www.ahb-tyrol.at/ vom 10.01.2018. 17 Die Bewegung des Irredentismus, von »terre irredenta« (das [noch] unbefreite Land, verlorene Land), verfolgte das Ziel, die nach der Einigung Italiens noch zur Österreichisch-Ungarischen Monarchie gehörenden italienischen Gebiete um Triest und Trient der jungen Nation einzuverleiben.

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den Strang hingerichtet. Im Anschluss daran posierten der Henker und zahlreiche grinsende Schaulustige für ein Foto, das als Postkarte weite Verbreitung fand. Bereits kurz nach der Hinrichtung kommentierte der österreichische Schriftsteller Karl Kraus den Fall mit folgenden Worten: »Es war vielleicht seit Erschaffung der Welt zum erstenmal der Fall, daß der Teufel Pfui Teufel! rief.«18 Für Österreich galt Cesare Battisti zweifellos als Inbegriff des Hochverräters, während er für Italien ebenso eindeutig ein Held war. Trotz seiner sozialistischen Einstellung wurde er zeitweise auch von den Faschisten vereinnahmt. Das unter Mussolini errichtete Siegesdenkmal in Bozen sollte ursprünglich seinen Namen tragen, was jedoch am Widerstand der Witwe Battistis scheiterte. Das Monument ist dennoch mit einer übergroßen Büste von Battisti geschmückt, Büsten und Gedenktafeln, auch in Rom oder Verona, erinnern noch heute an ihn. 19 Die im Faschismus einsetzende gezielte Italianisierungspolitik schuf in Südtirol und im Trentino viele Probleme für die Menschen deutscher wie italienischer Sprache. Eine besonders heikle Phase waren die durch zahlreiche Bombenattentate gezeichneten 1960er Jahre. Hinter diesen stand die wachsende Unzufriedenheit deutschsprachiger Südtiroler_innen gegenüber dem italienischen Staat, der die nach dem Zweiten Weltkrieg im sogenannten Ersten Autonomiestatut zugestandenen Maßnahmen nicht oder nur sehr schleppend umsetzte. Die Mitglieder des in den 1960er Jahren gegründeten sogenannten Befreiungsausschusses für Südtirol (BAS) führten in Südtirol zahlreiche Sprengstoffanschläge auf öffentliche Einrichtungen als Repräsentationen des verhassten italienischen Staates aus. In einer zweiten Phase kamen gezielt Menschen zu Tode, meist Mitglieder der Polizei, der Carabinieri oder der Guardia di Finanza. Die führenden Köpfe des BAS wurden gefasst. Einige von ihnen starben in Gefängnissen an den Folgen von Folter, andere wurden zu jahrzehntelangen Haftstrafen verurteilt. Man kann sich unschwer vorstellen, dass diese für eine fanatisierte Bevölkerung zu Helden des Widerstands gegen den ungeliebten italienischen Staat werden mussten. Bereits die Begräbnisse der meist unter ungeklärten Umständen verstorbenen Aktivisten wurden zu machtvollen Demonstrationen des 18 Kraus, Karl: Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog, in: Die Fackel. Wien 1918 und 1919. 19 Eine erste kritische Aufarbeitung des Wirkens Cesare Battistis legte 1997 der aus Südtirol stammende Historiker und Journalist Claus Gatterer vor. Claus Gatterer: Unter seinem Galgen stand Österreich. Cesare Battisti – Porträt eines »Hochverräters«. [Erweiterte Neuauflage], Wien-Bozen: Folio-Verlag 1997. – An Gatterer knüpfte in den 1970er- und 80er-Jahren eine kritische Trentiner und Tiroler Regionalgeschichtsschreibung an. Siehe dazu zuletzt: http://www.sueddeutsche.de/politik/ein-bild-undseine-geschichte-cesare-battisti-held-und-hochverraeter-1.3585598 am 15.1.2018.

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Widerstands. Das offizielle Italien sah in den Anführern des BAS auf der anderen Seite zu Recht Terroristen. Diese diametralen Sichtweisen von Held vs. Terrorist wirkten bis in die höchsten Positionen der Politik hinein.

H ELDEN DER G EGENWART – Z WEI V ORSCHLÄGE Für eine Mehrheit der deutschsprachigen Südtiroler_innen mussten die führenden Köpfe des BAS zu Helden im Kampf gegen den verhassten italienischen Staat werden. Sie verkörpern den klassischen Typus des kämpfenden, systemstabilisierenden Helden. Dementsprechend nützte ihre Mythisierung der offiziellen Landespolitik, die insbesondere durch das Inkrafttreten des Zweiten Autonomiestatuts 1971/72 immer mehr in die Lage versetzt wurde, eine Politik der Trennung zwischen den Sprachgruppen im Lande umzusetzen. Vor allem in der jüngeren Generation der deutschsprachigen Südtiroler_innen waren jedoch nicht alle mit der Politik der strengen Trennung der Sprachgruppen einverstanden. Eine, wenn auch kleine Minderheit sah in den Italiener_innen keine zu bekämpfenden Feinde, sondern schätzte vielmehr die italienische Lebensweise und Kultur und begann in der politisch aufgeheizten Situation der damaligen Zeit, sich gegen den Willen der Mehrheit im Lande und auch der offiziellen Politik für ein friedvolles Zusammenleben einzusetzen. Gerade unter diesen Menschen, das ist meine These, finden sich Figuren, die das Zeug zum zeitgemäßen Helden haben. Worin deren Heldenhaftigkeit bestehen könnte? Gegen den Strom zu schwimmen, die herrschenden Verhältnisse in Frage zu stellen und zu unterlaufen, konstituiert einen anderen Typus von Held, der nicht sedierende, sondern aufwühlende Wirkung entfaltet. Aber unterliegt nicht auch das Leben solcher Figuren einem Prozess der Mythisierung? Die vorweggenommene Antwort lautet: Ja, das tut sie, und die Wissenschaft hat ihren Anteil daran. Solche Menschen fanden sich im Wesentlichen in zwei Milieus, zwischen denen es zahlreiche Verbindungen gab: im Umfeld einer neu entstehenden Südtiroler Literatur- beziehungsweise Kunstszene zum einen, und eines linksliberalen, studentischen, intellektuellen und politisch aktiven Milieus zum anderen. Ich denke hier an zwei Persönlichkeiten, die ich in der Folge vorstellen möchte.

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» ICH BIN TIROLER DISSIDENT GEWORDEN « N ORBERT C. K ASER Der Satz entstammt einem Brief Norbert C. Kasers an Rosmarie Judisch – eine Bekannte, die er während eines Kuraufenthalts in der ehemaligen DDR kennengelernt hatte. In wenigen Zeilen beschreibt der Dichter darin seine Lebenslage. »ich bin tiroler dissident geworden & bleibe mit mut und zorn & ekel meinem tal treu. wir sind überhaupt eine recht eingeklemmte generation. Rueckwaerts geht es nimmer & vor dem vorwaerts graut uns.« 20

Der Dichter Norbert C. Kaser war eine Kristallisationsfigur des wachsenden Unmuts gegenüber der von der offiziellen Südtiroler Politik und den Medien getragenen, hegemonialen (Kultur)politik, die der Annäherung der Sprachgruppen im Lande im Wege stand. Unter dieser Situation litten nicht wenige junge, aufgeschlossene Südtiroler_innen. Kaser fand dafür die treffenden Worte: »Eingeklemmt waren sie, eingeklemmt zwischen den Kulturen, […]«21. Gleich in mehrfacher Weise eingeklemmt fühlte er sich wohl auch zeitlebens selbst. 1947 in Brixen als uneheliches Kind geboren wuchs Kaser in Bruneck auf. Bereits früh wandte er sich dem Schreiben zu. Er schrieb in seinem kurzen Leben viel, publizierte aber wenig, und das nur in Zeitschriften und Anthologien. Der Großteil seines umfangreichen Werkes, neben Gedichten auch kurze Prosastücke und Briefe, wurde posthum veröffentlicht. Kaser besuchte in Bruneck das humanistische Gymnasium und war ein guter, sorgfältiger und fleißiger Schüler. Die Matura bestand er – wohl wegen seiner Aufmüpfigkeit – erst im dritten Anlauf 1969. Zwischendurch hatte er als Hilfslehrer gearbeitet und ein halbes Jahr als Novize im Brunecker Kapuzinerkloster verbracht. 1967 veröffentlichte er erste Gedichte in der linken, zweisprachigen Südtiroler Zeitschrift »die brücke«, die unter anderem von Alexander Langer22 herausgegeben wurde.

20 So Kaser in einem Brief an Rosmarie Judisch am 28. Juni 1978. 21 Zit. n. Schröder, Nina: Kultur als Zerreißprobe. Zwischen offizieller Landeskultur und alternativer Subkultur, in: Gottfried Solderer (Hg.): Das 20. Jahrhundert in Südtirol, Bozen: Raetia 2002, S. 174-205, hier S. 175. 22 Alexander Langer war damals Vorsitzender der Südtiroler Hochschülerschaft.

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Einer breiteren Südtiroler Öffentlichkeit bekannt wurde Kaser im August 1969 mit einer polemischen Rede über die Situation der Südtiroler Literatur auf der 13. Studientagung der Südtiroler Hochschülerschaft in Brixen. Die Bedeutung dieser Rede ergibt sich aus der Brisanz der 1960er und 1970er Jahre in Südtirol: Auf der einen Seite gab es die erwähnten Anschläge des BAS; in der Folge kam das Zweite Autonomiestatut, das der deutschsprachigen Mehrheit im Lande lange vorenthaltene Rechte brachte, zugleich aber die italienischen Bewohner_innen Südtirols an den gesellschaftlichen Rand drängte. Die Mehrheitspartei der deutschsprachigen Südtiroler_innen verfolgte eine Politik der strengen Trennung der beiden großen Sprachgruppen, die auch von den offiziellen Medien im Lande mitgetragen wurde23 und sich auf das kulturelle Leben im Lande vielfältig auswirkte. Zur gleichen Zeit machte sich eine junge, aufgeschlossene Generation von Student_innen und Künstler_innen mit unterschiedlichen Aktivitäten wie der Gründung von (zweisprachigen) Zeitschriften (die brücke, skolast, arunda) bemerkbar. Unter dem Einfluss der internationalen Studentenbewegung wuchs der Widerstand gegen die offizielle konservative (Kultur)politik, die den jungen Südtiroler_innen eine eigene Universität verwehrte, alternative Kulturinitiativen ausbremste und stattdessen konservative Veranstaltungen wie die Meraner Hochschulwochen und alles Bodenständige und Volkstümliche großzügig förderte. In diesem Kontext fanden die Tagungen der Südtiroler Hochschülerschaft statt. Unter dem Generalthema »Kunst und Kultur« wollte die 13. dieser Tagungen die von vielen jungen Menschen als unbefriedigend und restriktiv empfundene kulturelle Situation, somit aber auch die offizielle Politik im Lande kritisieren. Der Hauptredner Josef Ties trat für einen vom Kindergarten an wahlweise zweisprachigen Unterricht in Südtirol ein. Den Höhepunkt der Veranstaltung bildete aber die Rede Norbert C. Kasers über »Südtirols Literatur der Zukunft und der letzten zwanzig Jahre«24, in der er nicht nur mit der heimattümelnden Literatur seiner Region, sondern auch und vor allem mit den konservativen Kulturinstanzen im Lande schonungslos abrechnete. Vor den zahlreich erschienenen Studenten, aber auch in Anwesenheit des Bischofs und des mächtigen Landesra23 Siehe dazu ausführlich Schneider, Ingo: Kultur als Argument und Mythos. Über die Verantwortung von Wissenschaft und Politik für die Erfindung ›ethnischer Differenz‹ in der Region Trentino – Südtirol, in: Johanna Rolshoven/Ingo Schneider (Hg.): Dimensionen des Politischen. Ansprüche und Herausforderungen der empirischen Kulturwissenschaft, Berlin: Neofelis 2018, S. 247-260. 24 Kaser, Norbert C.: Südtirols Literatur der Zukunft und der letzten zwanzig Jahre, in: Kunst und Kultur XIII. Studientagung der Südtiroler Hochschülerschaft. Bozen 1970 (Sondernummer des »Fahrenden Skolasten«), S. 16-20. Online unter www.antonadler .files.wordpress.com/2009/12/n-c-kaser-brixener-rede2.pdf vom 11.02.2018.

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tes für Deutsche Schule und Kultur begann der damals 21-Jährige seinen Vortrag mit dem später häufig zitierten Satz: »99 Prozent unserer Südtiroler Literaten wären am besten nie geboren, meinetwegen können sie noch heute ins heimatliche Gras beißen, um nicht weiteres Unheil anzurichten.«25 Zwei Aspekte der Südtiroler (teilweise aber auch Nordtiroler) Literatur seiner Zeit stießen bei Kaser auf Ablehnung: die starke Präsenz einer naiven, in der Nachfolge der Romantik stehenden Naturlyrik zum einen und die Verherrlichung der Freiheitskämpfe von 1809 einschließlich des Versuchs ihrer Aktualisierung zum anderen: »Es ist ein typisches Faktum in der Südtiroler Literatur – und das macht sie unlesbar und unmöglich –, daß immer wieder mit der nun genügend glorifizierten Andreas Hofer-Zeit die heutige Lage kaschiert wird.«26 An die Abrechnung mit der traditionellen Literaturszene schloss sich eine nicht weniger sarkastische, scharfe Kritik des damaligen Südtiroler Literatur- und Kulturpapstes Eugen Turnher.27 Man muss wissen, dass Turnher zu jenen in Innsbruck tätigen Wissenschaftler_innen zählte, die in ihren Schriften den Nachweis dafür erbringen wollten, dass Südtirol schon immer ein rein deutsches Land gewesen sei. Der gerade einmal 21-jährige Kaser kritisierte nicht nur auf bemerkenswerte Weise diesen damals im offiziellen Süd- und im Nordtirol anerkannten, aus heutiger Sicht aber unhaltbaren wissenschaftlichen Ansatz Turnhers fundamental. Er parierte auch dessen Unterstellung, die Italiener hätten in Südtirol keine Literatur hervorgebracht.28 Scharf kritisierte Kaser zudem die größten Informationsträger des Landes und deren Literaturverständnis: den Verlag Athesia, die von ihm verlegte größte Tageszeitung Dolomiten und den Sender RAI Bozen. Die größte Irritation verursachte aber das fulminante Ende von Kasers Rede, in dem er von der Pflicht der Literaten spricht, Vorurteile einzureißen und die vielen heiligen Kühe im Lande zu schlachten, also die zahlreichen Tabus anzusprechen und abzubauen. Dann fielen einige kurze, prägnante Sätze, die in der Folge immer wieder zitiert wurden:

25 Ebd. 26 Ebd. 27 Der gebürtige Vorarlberger und langjährige Professor für neuere deutsche Literatur an der Universität Innsbruck hatte sich über die deutschsprachige Literatur Südtirols habilitiert und fühlte sich seitdem in besonderem Maße Südtirol verbunden. Unter anderem war er lange Jahre wissenschaftlicher Leiter der Meraner Hochschulwochen. 28 So wies er auf einen damals gerade erst erschienenen Roman eines italienischsprachigen Südtirolers hin. Gianni Bianco: Una casa sull’argine, Rovereto: Longo 1965.

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»Das Schlachtfest wird grandios werden… Und unter den Schlächtern sind sicher zwei, drei Leute, die beim Beruf bleiben, denen es gefällt, den Tiroler Adler wie einen Gigger zu rupfen und ihn langsam über dem Feuer zu drehen, […] «29

Man kann sich unschwer vorstellen, welche Wirkung die polemische Rede Kasers im damaligen Südtirol hatte. Sie beherrschte den politischen Diskurs in den Wochen darauf, aber auch die Medienlandschaft. Nahezu einhellig schlug Kaser scharfe Ablehnung entgegen, wobei sich die Kritik in erster Linie an seiner blutrünstigen Sprache entzündete und wenig bis gar nicht auf die Inhalte seiner Rede einging. Die Schlagzeilen in den Zeitungen wiederholten immer wieder Schlüsselformulierungen seiner Rede wie »Grandioses Schlachtfest« oder »Tiroler Adler wie Gigger rupfen«. Die Medienhetze gegen Kaser ging so weit, dass er Drohbriefe erhielt. Kaser schien von dem ganzen Rummel ziemlich beeindruckt und fürchtete sich einige Zeit sogar, abends in Bruneck allein heimzugehen. Er war sich dessen bewusst, dass er sich mit der Rede selbst einen Stempel aufgedrückt hatte, den er nicht mehr loswerden sollte. Seine Meinung hat er später aber kaum geändert.30 In seinem dichterischen Werk hinterließen jene turbulenten Wochen interessanterweise kaum Spuren. Im Herbst des Jahres 1969 ging Kaser nach Wien, um Kunstgeschichte zu studieren. Nach zwei Jahren brach er das Studium ab und kehrte nach Bruneck zurück. Die folgenden Jahre verbrachte Kaser in einem Wechsel von befristeten Arbeitsverhältnissen – meist als Lehrer – und in ständiger Geldnot. Nach einem Nervenzusammenbruch begab sich er sich im Juni 1975 völlig abgemagert in das Krankenhaus Bozen. Dort wurden eine schwere Schädigung der Leber, eine Folge seiner Alkoholsucht, sowie eine Angstneurose festgestellt. In den folgenden Jahren verbrachte Kaser viel Zeit in Krankenhäusern, Entziehungskliniken, einmal auch in einer Leberheilanstalt in der ehemaligen DDR. 1976 trat der ehemalige Klosternovize mit den Worten »da ich ein religioeser mensch bin, trete ich aus der kirche aus« aus der katholischen Kirche aus und zugleich in die kommunistische Partei Italiens ein. In den folgenden Jahren engagierte er sich im Rahmen der Partei für soziale Projekte. Am 21. August verstarb Norbert C. Kaser 31-jährig an den Folgen der Leberzirrhose. Auch wenn das makaber klingen mag, erscheint sein früher Tod als logische Konsequenz eines schwierigen, in vieler Hinsicht gescheiterten Lebens. Und es mag Spekulation sein, dass der begabte Poet und engagierte Aktivist nicht nur an sich selbst, sondern auch an den Verhältnissen seiner Zeit im Südtirol gescheitert ist, in denen er sich wie andere 29 N. C. Kaser: Südtirols Literatur der Zukunft. 30 Siehe Sauer, Benedikt: norbert c. kaser. Eine Biografie, Innsbruck: Haymon 1997, S. 97.

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auch »eingeklemmt zwischen den kulturen« wahrgenommen hatte. Der in einer fast ausschließlich deutschsprachigen Umgebung Aufgewachsene hatte sich früh für die nahe italienische Sprache und Kultur zu interessieren begonnen, hatte immer wieder die italienische Sprache für Gedichte verwendet, aber auch Gedichte italienischer Autoren übersetzt und im letzten Lebensjahr eine regelmäßige Kolumne im deutschsprachigen Teil der italienischen Tageszeitung Alto Adige geschrieben. Immer wieder reiste er nach Mittel- und Süditalien, nach Venedig, Triest und Apulien. Zu Kasers Begräbnis, einer Totenfeier ohne katholischen Ritus, kam, wie es Alexander Langer zwei Jahre danach in einem Zeitungsartikel ausdrückte, vielerlei Volk: neben einfachen Frauen vom Lande, Kapuzinerpatres und Priestern, auch »molti un po’ strambi ed alcuni malvisti dalla gerarchia« (viele etwas Verschrobene und einige vom Establishment nicht gern Gesehene), dazu »un buon parte del ›dissenso sudtirolese‹« (»eine guter Teil des ›Südtiroler Dissenses‹«), Künstler, Gewerkschafter, Parteigenossen und andere Linke31. Für Langer wurde das Begräbnis Kasers zu einem Schlüsselerlebnis, das den damals in Rom Lebenden zur Rückkehr nach Südtirol bewegen sollte. Während das literarische Werk Kasers in den 1980er und 1990er Jahren durch Veröffentlichungen in österreichischen (wohlgemerkt nicht in Südtiroler) Verlagen Anerkennung im gesamten deutschsprachigen Raum erfuhr32, ließ die Wertschätzung seines Lebens und Wirkens in Südtirol auf sich warten. Einen 31 Langer, Alexander: Funerale Laico con Te Deum, in: Lotta Continua, Agosto 1980. Zitiert nach: Alexander Langer. Aufsätze zu Südtirol 1978-1995, Scritti sul Sudtirolo. Hg. von/a cura di Siegfried Baur/Riccardo Dello Sbarba, Meran: ALPHA&BETA 1996, S. 33-34. 32 Bereits auf der Fahrt zu Kasers Begräbnis fassten der Südtiroler Zeichner Paul Flora und der Journalist und Autor Hans Haider, beide enge Freunde des Verstorbenen, den Entschluss, seinen Nachlass zu veröffentlichen. Der erste Band erschien unter dem für Norbert C. Kaser zweifellos als Lebensmotto passenden Titel »Eingeklemmt« bereits ein Jahr nach seinem Ableben im Herbst 1979. Norbert C. Kaser 1947-1978. Eingeklemmt. Gedichte – Geschichten und Berichte – Stadtstiche. Poetische Protokolle – Kritik – Polemik – Agitation, hg. von Hans Haider, Innsbruck: Edition Galerie Bloch 1979. In der Wochenzeitschrift DIE ZEIT war dazu am 04.01.1980 zu lesen: »Norbert C. Kaser hat noch postum die poetische Kraft, zu einem Stern erster Ordnung zu werden.« Ein zweiter Band mit Briefen folgte 1981: Norbert C. Kaser: Kalt in mir. Ein Lebensroman in Briefen, hg. von Hans Haider, Wien: Hannibal Verlag 1981. – Eine umfangreiche Aufstellung der Schriften von Kaser und der Sekundärliteratur über ihn findet sich auf der vom Forschungsinstitut Brenner-Archivs betreuten Webseite: http://literaturtirol.at/lexikon/326 vom 11.01.2018.

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ersten, zunächst wenig beachteten Schritt dazu stellte ein 1984 fertiggestellter Dokumentarfilm über sein Schicksal dar. Er wurde von einem Jugendfreund, dem ebenfalls in Bruneck aufgewachsenen italienischen Filmemacher Ivo Barnabò Micheli realisiert. Abermals taucht das Lebensmotto Kasers im Titel auf: »Eingeklemmt. Notizen für einen Film über Norbert C. Kaser.« In seiner Heimatstadt Bruneck beginnt die Rehabilitierung des zeitlebens ausgegrenzten Bürgers im Jahr 1997 mit dem Beschluss des Gemeinderats, an der Außenseite des Gebäudes unterhalb der Beschriftung »Stadtbibliothek – Biblioteca civica« die Aufschrift »Norbert C. Kaser« anzubringen. 2004 werden auf dem Rathausplatz 27 Stelen mit Kaser-Texten errichtet. 2006 kauft die Stiftung Südtiroler Sparkasse den im Brennerarchiv in Innsbruck verwahrten Teilnachlass N.C. Kasers und stellt ihn der Stadtgemeinde Bruneck als Dauerleihgabe zur Verfügung. Weitere Nachlassteile folgen. 2009 wird die Oper »Circulus Vitiosus« des bayrischen Komponisten Anton Prestele nach Texten von Norbert C. Kaser in Bruneck uraufgeführt. 2013 zieht die Stadtbibliothek Bruneck in das Gebäude der LibriKa um – ein Akronym, in dem sich der Name des Autors verbirgt. Kaser-Texte schmücken dort die Türen der Büros und des Veranstaltungsraumes. 2017 wird auf dem Rathausplatz die Skulptur »Kaser« von Josef Rainer enthüllt. Im selben Jahr ehrt die Stadt Bruneck auf Initiative des Stadttheaters ihren nunmehr geschätzten Bürger anlässlich seines 70. Geburtstags mit einem Lyrikfestival, das vom Frühjahr bis zum Herbst dauert.33 Auf der Webseite der Stadtgemeinde Bruneck erscheint Kaser heute mit dem Beisatz auf »Schriftsteller und Begründer der neuen Südtiroler Literatur der Nachkriegszeit«.34

D ESERTEUR AN DER ETHNISCHEN F RONT : ALEXANDER L ANGER »Personalmente per me era un evento importantissimo« (Für mich persönlich war es ein überaus wichtiges Ereignis), schrieb Alexander Langer in dem oben zitierten Artikel in der von ihm mitherausgegebenen Zeitschrift der außerparlamentarischen Bewegung Italiens Lotta continua über das Begräbnis Kasers. Er

33 Siehe dazu: https://www.kultur.bz.it/index.php?mode=event&evtID=70830; aber auch Hanni, Martin: »brunecker mafia«: Im April vor 70 Jahren wurde der Poet Norbert Conrad Kaser geboren. In seiner Heimatstadt ehrt man ihn nun mit einem Lyrikfestival, in: https://www.salto.bz/de/article/22032017/brunecker-mafia vom 11.1.2018. 34 Vgl. http://www.bibliotecacivica-brunico.it/de-de/kulturbegegnung/nckaser.aspx vom 11.1.2018.

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beschloss seinen Text mit dem Satz »Fu al funerale di Norbert che decisi di tornare nel Sudtirolo, che non ci volevano altri morti così, che bisognava fare qualcosa (Es war beim Begräbnis von Norbert, als ich mich entschloss, nach Südtirol zurückzukehren. Wenn wir nicht weitere solche Toten wollten, mussten wir etwas tun«).35 In der zweisprachigen linksalternativen Südtiroler Volkszeitung lacierte Langer wenige Wochen später, unter Berufung auf den Tod N.C. Kasers, den Aufruf zur Gründung einer überparteilichen Oppositionsliste. Diese zog bereits im November 1978 unter der Bezeichnung Neue Linke/Nuova Sinistra in den Südtiroler Landtag ein. In diesem Aufruf forderte er »gewisse Grundvoraussetzungen« wie »prinzipiell gemeinsames Handeln von Deutschen und Italienern; Eintreten für Autonomie, aber gegen die konkrete ›Paket‹-Wirtschaft36, volle Wahrung der Volksgruppenrechte; Kampf gegen die ›Großkopfeten‹ aller Art und gegen Ausnützung, Unterdrückung, soziale Ungerechtigkeit usw.«37 Diesen Grundvoraussetzungen fühlte sich Langer zeitlebens verpflichtet. Sie bilden die Basis seines ›heldenhaften‹ Handelns. Was Langer mit Kaser verband, waren die Ablehnung der von der konservativen Südtiroler Volkspartei dem Lande aufgezwungenen Politik der Unversöhnlichkeit der Volksgruppen sowie Offenheit und Aufgeschlossenheit gegenüber der italienischen Bevölkerung Südtirols und deren Kultur und das Eintreten für ein friedvolles Zusammenleben. Geboren wurde Alexander Langer am 22. Feber 1946 in Sterzing als Sohn eines jüdischen Wiener Arztes und der Sterzinger Apothekerin Elisabeth Kofler. Bereits als Schüler begann er, sich für eine Aussöhnung der Sprachgruppen in Südtirol zu engagieren. Er war Mitbegründer und -herausgeber der zweisprachigen Monatszeitschrift die brücke. Südtiroler Zeitschrift für Gesellschaft und Kultur. Nach der Matura, die er als einer der besten Schüler seines Jahrgangs in Italien abschloss, studierte Langer Jus (1964-69), nicht wie die meisten deutschsprachigen Südtiroler_innen an der ›Landesuniversität‹ in Innsbruck, sondern in Florenz. Dort schloss er sich der aufkommenden außerparlamentarischen Linken Italiens an und wurde Chefredakteur ihrer Zeitschrift Lotta Continua und einer der führenden Köpfe dieser Bewegung. An der Universität Trient, einem der Zentren der außerparlamentarischen Bewegung, schloss er 1972 ein Zusatzstudi35 A. Langer: Funerale Laico con Te Deum, S. 34. 36 1969 kam es zur Unterzeichnung des so genannten Südtirol-Pakets, das 1972 in Kraft trat und Italien verpflichtete, die gesetzlichen Voraussetzungen für die Autonomie Südtirols zu schaffen. 37 Langer, Alexander: Mit einer Schleuder gegen Goliath antreten?, in: Südtiroler Volkszeitung, 8. September 1978. Zit. nach Alexander Langer: Aufsätze zu Südtirol 19781995. Scritti sul Sudtirolo. Hrsg. von/a cura di Siegfried Baur und Riccardo Dello Sbarba. Meran: ALPHA&BETA 1996, S. 35-37.

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um in Soziologie ab. Die folgenden Jahre unterrichtete Langer an verschiedenen Oberschulen in Bozen und Meran, begeisterte seine Schüler _innen, fiel aber wegen seiner Ansichten unangenehm auf. 1975 kehrte er Südtirol den Rücken und unterrichtete an einem Lyceum in Rom. Der tragische Tod Norbert C. Kasers im August 1978, für den Langer auch die politischen Verhältnisse im Lande verantwortlich machte, bewog den jungen Lehrer – wie gesagt – zur Rückkehr nach Südtirol. Um an den Verhältnissen im Lande etwas zu ändern, widmete sich Langer fortan der Politik. Nach dem Einzug der neu gegründeten Liste Neue Linke/Nuova Sinsitra in den Südtiroler Landtag gab er sein Mandat zur Halbzeit der Legislaturperiode an den Listenzweiten ab und wurde 1983 mit der neu gegründeten Alternativen Liste für das Andere Südtirol (ALFAS) zusammen mit der Bozner Anwältin und Frauenrechtlerin Andreina Adrizzone Emeri ein weiteres Mal in den Landtag gewählt. In den folgenden Jahren trug Langer wesentlich zur Gründung der grünen Partei Italiens bei. 1989 und 1994 wurde er für die italienischen Grünen in das Europaparlament gewählt, wo er sich vor allem den Konflikten und Kriegen am Balkan beziehungsweise deren Befriedung widmete. In Südtirol blieben Alexander Langers zentrale Anliegen zeitlebens die Fragen des Zusammenlebens von italienisch- und deutschsprachigen Südtiroler_innen. Darum hat er sich in seiner politischen Tätigkeit und mit zahllosen Texten in beiden Sprachen bemüht. Die Lektüre dieser Texte ist äußerst lohnenswert, will man das Denken Langers verstehen. Sie zeugen von Klugheit und Menschlichkeit, vom tief empfundenen Bedürfnis, gegen das eindimensionale provinzielle Denken und Handeln der Mehrheit der deutschsprachigen Südtiroler_innen an- und für ein, wie er es nannte, ›plurikulturelles Zusammenleben‹ einzutreten. 1980 verfasste er, um lediglich ein Beispiel anzuführen, für die Zeitschrift Skolast einen Text mit dem Titel »Warum ich die Italiener in Südtirol nicht mehr missen möchte«.38 Darin schreibt er: »Niemand soll mir das Recht nehmen dürfen, gegen die Einzäunung der Volksgruppen anzukämpfen und die Italiener heute in Südtirol nicht mehr missen zu wollen.«39 Dann spricht er vom »›Geschenk‹ der italienischen (Mit-)-Präsenz in Südtirol« und der Bereitschaft, für das Heimatrecht seiner italienischen Landsleute einzutreten. Er führt verschiedene Vorteile seiner mehrsprachigen Umgebung auf: etwa die größere Beweglichkeit des Denkens und Empfindens in mehr als einer Sprache, die Möglichkeit, Vergleiche anstellen zu können und die eigene Eigenart nicht absolut zu setzen, oder die Aufgeschlossenheit für demokratische, soziale und politische 38 Langer, Alexander: Warum ich die Italiener in Südtirol nicht mehr missen möchte?, in: Skolast, Dezember 1980. 39 Ebd., zit. nach Alexander Langer: Aufsätze zu Südtirol 1978-1995 Scritti sul Sudtirolo, S. 62.

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Anliegen, für kritische und alternative Tendenzen, die häufig der (Mit-)präsenz der Italiener_innen in Südtirol zu verdanken seien. Langer schätzt an den Italiener_innen deren »Beitrag zu unmittelbarer und zwangloserer Menschlichkeit«40. Bedenkt man die angespannte Situation zwischen den Sprachgruppen in Südtirol um 1980, kann man den Weitblick und den Mut, mit dem diese Sätze ausgesprochen wurden, nicht hoch genug schätzen. Gleichsam als Summe seiner alltagsweltlichen und politischen Erfahrungen entwarf Langer 15 Jahre später in beiden Sprachen den programmatischen Text »Tentavivo di decalogo per la convivenza interetnica/Zehn Punkte für ein Zusammenleben zwischen Volksgruppen, Konfessionen, Ethnien«.41 Der Text ist nicht ausschließlich für Südtirol gedacht, speist sich aber entscheidend aus Langers Erfahrungen mit seiner Heimat. Darin spricht er sich unter anderem gegen eine »Politik des zwangsweisen Einschlusses […] oder des zwangsweisen Ausschlusses« aus und für gegenseitiges Kennenlernen, Dialog, Information, Interaktion. An die Stelle der von der offiziellen Landespolitik ausgegebenen Parole »Je besser wir trennen, desto besser verstehen wir uns« setzt er den Satz: »je mehr wir miteinander zu tun haben, desto besser verstehen wir uns«.42 An anderer Stelle spricht er von der Wichtigkeit von »Verrätern der ethnischen Geschlossenheit«, die freilich keine »ethnischen Überläufer« werden dürfen, um ethnischen Konflikten, aber auch den Viren von Nationalismus, Chauvinismus, Rassismus oder religiösem Fanatismus entgegenzutreten – Worte und Sätze von enormer Sprengkraft. Ein zentrales Anliegen Langers und der von ihm begründeten politischen Bewegungen war die entschiedene Ablehnung des sogenannten ›ethnischen Proporzes‹, nach dem seit dem zweiten Autonomiestatut von 1972 43 in Südtirol öf-

40 Ebd. 41 In: Kommune, Nr. 8, 1995, zit. nach Langer, Alexander: Aufsätze zu Südtirol 19781995 Scritti sul Sudtirolo, S. 234-243. 42 Ebd., S. 236. 43 Nachdem im Grunde bereits nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs im GruberDegasperi-Abkommen (Erstes Autonomie-Staut 1948), dessen Umsetzung aber von den italienischen Behörden konsequent verschleppt worden war, den Südtiroler _innen alle Rechte einer Minderheit zugesichert worden waren, wurde nach einer Intervention Österreichs vor der UNO und langen Verhandlungen 1971/72 das Zweite Autonomiestatut beschlossen. In diesem wurden nun die Minderheitenrechte der deutsch- und ladinischsprachigen Südtiroler_innen genau geregelt. Vor allem die unter der Bezeichnung ›ethnischer Proporz‹ versammelten Bestimmungen führten in den Folgejahren allerdings dazu, dass die im Lande lebenden Italiener _innen zusehends benachteiligt

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fentliche Stellen, Sozialleistungen, Fördermittel und politische Positionen vergeben werden.44 Voraussetzung dafür bildet bis heute die im Zuge der alle 10 Jahre durchgeführten Volkszählungen gesetzlich vorgesehene Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung. Als Spitzenexponent der Neuen Linken/Nuova Sinistra warnte Alexander Langer vor einer Zunahme sozialer Spannungen zwischen den Sprachgruppen, die durch den ›ethnischen Proporz‹ beziehungsweise dessen ökonomische Auswirkungen ausgelöst würden und die den in Südtirol starken italienischen Neofaschisten (Movimento Sociale Italiano) in die Hände spielen würden. Er rief regelmäßig zur Verweigerung der Zugehörigkeitserklärung auf und weigerte sich bei der ersten Volkszählung 1981 konsequent, sich einer der drei Sprachgruppen zugehörig zu erklären. Bei der Zählung 1991 erklärte er sich aus Protest der ladinischen Sprachgruppe zugehörig. Für die Verweigerer war ihre Haltung jeweils mit erheblichen Nachteilen verbunden. So scheiterte 1995 auch Langers aussichtsreiche Kandidatur für das Amt des Bozner Bürgermeisters an der fehlenden Zugehörigkeitserklärung. Am 3. Juli 1995 nahm sich Alexander Langer unerwartet in einem Garten in der Nähe von Florenz das Leben. Das Ende seines dichten und anstrengenden, wohl auch erfüllten Lebens kommentierte Langer auf einem Zettel mit den Worten »ich derpacks nimmer, macht weiter, was gut war«. Zeitlebens hatte sich der später so bezeichnete »Grenzgänger zwischen Sprachgruppen und Kulturen […] um Austausch von persönlichen und geschichtlichen Erfahrungen, von Wissen und Dingen, die man liebt, von alltäglicher Praxis im Zusammenleben, um den Aufbau eines miteinander geteilten Territoriums, sowohl im privaten und halböffentlichem Bereich des Alltages, wie auch im öffentlichen Bereich«45 bemüht. Nun war er offensichtlich erschöpft. Veranlassung zum Suizid könnte für den überzeugten Pazifisten die im Rahmen seiner Tätigkeit im EU-Parlament und seines Engagements für eine friedliche Lösung der Konflikte am Balkan gewonnene bittere Einsicht gewesen sein, dass diese nicht friedlich gelöst werden konnten.

wurden. Siehe dazu: http://www.provinz.bz.it/kunst-kultur/landesarchiv/downloads/a utonomiestatut_dt.pdf vom 2.02.2018. 44 Mit zunehmender Umsetzung des ethnischen Proporzes kam auch Kritik auf. Unter anderem wurde die Gefahr zur negativen Auslese von öffentlichem Personal kritisiert. Immer wieder konnten Stellen etwa im Gesundheitsbereich trotz qualifizierter Bewerber_innen nicht besetzt werden. Diese Erfahrungen führten allmählich zu einer partiellen Aufweichung des ethnischen Proporzes in ausgewählten Berufssparten. 45 So zu lesen im Klappentext der Aufsatzsammlung: Alexander Langer: Aufsätze zu Südtirol 1978-1995 Scritti sul Sudtirolo.

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Anders als Kaser hatte Langer schon zu Lebzeiten eine gewisse Anerkennung erfahren, wenn auch nicht vom offiziellen Südtirol; ähnlich wie bei Kaser setzte bald nach seinem Tod eine Welle von Aktivitäten zu seiner Wertschätzung ein. Es erschien eine ganze Reihe von Büchern mit Texten von ihm und über ihn.46 Er wurde zur Opernfigur (»Alex Brücke Langer«), und er wurde vom Liedermacher Massimo Priviero in »Splenda il Sole« besungen. Seit 1997 wird ein mittlerweile sehr anerkannter Alexander-Langer-Preis für besonderen Einsatz um Frieden und Gerechtigkeit in der Welt verliehen, der seit 1999 von einer eigenen Alexander-Langer-Stiftung vergeben wird. Es gibt eine mehrsprachige Webseite über ihn.47 So sehr der »Deserteur an der ethnischen Front«, wie er sich selbst einmal bezeichnete, all diese Formen der Wertschätzung verdienen mag, stellt sich – wie bei Kaser – die Frage, ob diese Aktivitäten nicht auch einen Beitrag zur Mythisierung seiner Person und seines Wirkens geleistet haben oder noch immer leisten.

R ESÜMEE Ich habe eingangs versucht, die wesentlichen Merkmale des klassischen Helden zu bestimmen: Er vollbringt etwas Großes, meist im Dienste des herrschenden Systems. Seine ureigenste Bestimmung ist der Kampf. Sein heldenhafter Tod hat sedierende, systemerhaltende Funktion. Somit verkörpert er einen rechten Mythos. Davon ausgehend habe ich gefragt, unter welchen Bedingungen wir einem Menschen heute jenseits dieses klassischen Typus heldenhaftes Verhalten zugestehen könnten. Mit Blick auf die Region Trentino/Südtirol, die auf eine lange Liste respektabler klassischer Helden zurückblicken kann, habe ich die Figuren des Dichters Norbert C. Kaser und des Politikers Alexander Langers vorgeschlagen. Die erste These dieses Textes ist, dass die Basis ihres heldenhaften Tuns im

46 Siehe Kronbichler, Florian: Was gut war. Ein Alexander-Langer-ABC. Bozen: Raetia 2005. Und zuletzt: Fare Ancora. Ripensando a/Weitermachen. Nachdenken über Alexander Langer. A cura di/hg. von Gaia Carroli/Davide Dellai, Merano: alphabeta 2011. – Jenseits von Kain und Abel. Zehn Punkte fürs Zusammenleben – neu gelesen und kommentiert, in Memoriam Alexander Langer 1995-2015. Hg. von Massimiliano Boschi/Adel Jabbar/Hans Karl Peterlini, Meran, Klagenfurt alphabeta, Drava 2015. – Zugleich erschien auch eine italienische Ausgabe: Oltre Caino e Abele. Il Decalogo per la convivenza riletto e commentato in memoria di Alexander Langer, a cura di Massimiliano Boschi/Adel Jabbar/Hans Karl Peterlini, Merano: alphabeta 2015. 47 Z.B. http://www.alexanderlanger.org vom 12.01.2018.

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Gegensatz zum klassischen Topos des systembestätigenden Kriegshelden in ihrem Rebellentum besteht, darin, sich gegen das herrschende System aufzulehnen, dieses zu unterlaufen und sich einer Übermacht in den Weg zu stellen. Auch Kaser und Langer waren so gesehen Kämpfer. Ihre Waffe war das Wort, und ihre Taten waren Reden, Schreiben, aber auch überzeugtes Handeln ohne Rücksicht auf die eigene Person. Dies alles erfordert zweifellos außerordentlichen Mut. Beide gingen ihren Weg konsequent bis zum bitteren Ende. Ich meine, dass solche subversiven Helden Vorbildcharakter haben und wir sie heute wie eh und je, vielleicht sogar mehr denn je gebrauchen können. Auch dieser Typ des Helden – das ist meine zweite These – kommt nicht ohne Mythisierung aus. Die Prozesse, an deren Ende ein, diesmal allerdings linker Mythos48 steht, habe ich für Kaser und Langer in Umrissen skizziert. Ein erstes Element ist fraglos der tragische Tod der beiden als Ausdruck des Scheiterns an der Alltagsrealität aber auch der Verzweiflung. Ihm folgen unterschiedliche Aktivitäten posthumer Wertschätzung, wie die Benennung von Örtlichkeiten oder Plätzen, die Errichtung von Denkmälern, die Gründung von Stiftungen, die Stiftung von Preisen, die Würdigung der Personen in wissenschaftlichen Publikationen, aber auch musikalischen Werken und ähnliches mehr. Dass die zu Lebzeiten Ausgegrenzten und vom Establishment Gehassten posthum Anerkennung seitens des von ihnen bekämpften Systems erfahren, zählt zu den Perversitäten solcher Prozesse der Mythisierung. Aber auch der wissenschaftliche Diskurs bildet einen nicht unwesentlichen Teil der Mythisierung. Dazu kann man, mehr noch: muss man/frau stehen.

48 Auch wenn Barthes betont, dass der eigentliche Ort des Mythos rechts ist, konzediert er grundsätzlich die Existenz von linken Mythen. Im Gegensatz zu den strahlenden, mitteilsamen, ja geschwätzigen rechten Mythen, seien linke Mythen jedoch arm und unwesentlich. Freilich durchlaufen auch sie einen Prozess der Entpolitisierung. Bezogen auf Kaser und Langer heißt das: Während ihr Leben äußerst politisch verlief, habe die Mythisierung sie des auf das reale Leben bezogenen Politischen entkleidet. Am Ende des Mythsisierungsprozesses erscheinen beide als über der politischen Realität schwebende Helden.– Siehe R. Barthes, Mythen des Alltags, S. 299-303.

Dietrich Bonhoeffer (1906-1945) Widerstandskämpfer, Märtyrer, Vorbild, Held? C HRISTIN U. S CHMITZ

»Helden gibt es überall: im Alltag und in Katastrophensituationen, bei der Arbeit und beim Spiel, in der Jugend und im Alter«, so die Archäolog_innen Marion Meyer und Ralf von den Hoff.1 Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler spricht sogar von einem »gesellschaftliche[n] Faszinosum«, das die Figuren des Helden und der Heldin umgebe. Es würde von der Ilias als früheste große Darstellung heroischer Lebensformen und Werte bis hin zu Filmheld_innen in den Hollywoodproduktionen der Gegenwart reichen.2 Die Protagonist_innen moderner Romane und antiker Sagen, die Athlet_innen im modernen Leistungssport und im antiken Olympia, die Feuerwehrleute am 11. September 2001 oder das »Bollwerk« gegen die Angreifer bei Marathon vor 2500 Jahren – sie alle werden als Held_innen rezipiert und verehrt. Sowohl in der Umgangssprache der Gegenwart als auch in Sprachen vergangener Zeiten fand und findet der Begriff des/der Held_in Anklang.3 Dass niemand aus sich heraus ein/eine Held_in ist, sondern dass es sich vielmehr um ein Konstrukt handelt, zeigte der Kulturwissenschaftler Christian Schneider auf. Er argumentiert, dass das »soziale Koordinatensystem« einer 1

Meyer, Marion/Hoff, Ralf von den: Helden wie sie – Helden wie wer? Zur Einführung, in: dies. (Hg.), Helden wie sie. Übermensch – Vorbild – Kultfigur in der griechischen Antike. Beiträge zu einem altertumswissenschaftlichen Kolloquium in Wien, 2.4. Februar 2007 (=Rombach Wissenschaften. Reihe Paradeigmata, Band 13), Freiburg im Breisgau/Berlin/Wien: Rombach Verlag 2010, S. 9-18, hier S. 9.

2

Vgl. Münkler, Herfried: Heroische und postheroische Gesellschaften, in: Merkur,

3

Vgl. M. Meyer/R. von den Hoff: Helden wie sie – Helden wie wer?, S. 9.

Jahrgang 61, (2007: 8/9), Heft 700, S. 742-752, hier S. 742.

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Epoche festlegt, ob eine Tat als heroisch bewertet wird und auf diese Weise »Heldentum« definiert wird.4 In der Zeit des Nationalsozialismus, die Hintergrund der folgenden Ausarbeitung ist, proklamierte daher auch das NS-Regime einen eigenen »Helden-Begriff«: Hier gab es sogenannte »Parteihelden«, den »Führerheld« sowie zahlreiche »Kriegs- bzw. Opferhelden«, die ihr Leben lassen mussten und auf deren Namen oder Gedenken man hin und wieder auch heute noch im öffentlichen Raum stößt.5 Während der Herrschaft der Nationalsozialisten gelangte das »Heldenideal« als zentraler Bestandteil der nationalsozialistischen Ideologie zu einem Höhepunkt der Popularität in der deutschen Geschichte der Neuzeit – »der Heldenbegriff« wurde politisch instrumentalisiert und für ideologische und propagandistische Zwecke missbraucht. 6 Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, wenn K. R., Berliner Theologin und BonhoefferKennerin, in unserem Interview im September 2016 sagte: »Der Heldenbegriff ist für mich [...] so ein bisschen verbraucht, weil er auch oft in Kontexten benutzt wurde, wo wir heute sagen würden, dass das keine Helden waren.«7 Schaut man sich gegenwärtig in der Literatur um oder geht man mit offenen Augen umher, fällt auf, dass sich die Zuschreibung im Kontext »Held_in« und »Nationalsozialismus« gewandelt hat. Ist aus heutiger Sicht das Held_innen-Bild der NS-Zeit weit überholt und nicht nachvollziehbar, so nehmen nun vermehrt solche Menschen aus der Zeit zwischen 1933 und 1945 die Held_innenrolle ein, die gegen das NS-Regime Widerstand geleistet haben.8 Im Folgenden geht es in diesem Kontext um eine Auseinandersetzung mit Dietrich Bonhoeffer – Theologe und Widerstandskämpfer im Zweiten Weltkrieg. Es wird gefragt, wie Bonhoeffer als »Held« funktioniert und wie er repräsentiert sowie rezipiert wird: Was macht ihn aus und was lässt sich über seine Aktualität sagen? Um sich diesen Fragen zumindest annähern zu können, wurde im Vorfeld neben einer Literaturrecherche auch eine Feldforschung in Berlin und in Friedrichsbrunn im Harz durchgeführt – Orte, an denen Bonhoeffer gelebt, bezie4

Vgl. Schneider, Christian: Wozu Helden?, in: Mittelweg 36, Jahrgang 18, (2009), Heft 1, S. 91-102, hier S. 92.

5

Vgl. Konzept zur LWL-Helden-Werkstatt: Kriegshelden – Widerstandshelden. Zur Konstruktion von Heldentypen am Beispiel des Nationalsozialismus, S. 4, https://ww w.lwl.org/wim-download/PDF/Geschichte.pdf vom 18.03.2017.

6

Vgl. Behrenbeck, Sabine: Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole 1923 bis 1945 (=Kölner Beiträge zur Nationsforschung, 2), Vierow bei Greifswald: SH-Verlag 1996, S. 18.

7

Interview mit K. R. am 01.09.2016 in Berlin.

8

Vgl. LWL-Helden-Werkstatt: Kriegshelden, S. 4.

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hungsweise die Ferien verbracht hat und die ihn mitgeprägt haben. Die in diesem Zusammenhang stattgefundenen ethnographischen Interviews wurden zum einen mit vier Expert_innen geführt, die alle aus dem Fachbereich der Theologie kommen und in unterschiedlichster Weise mit der historischen Figur Dietrich Bonhoeffer verbunden sind; zum anderen kam es aber auch zu Gesprächen mit solchen Personen, die an verschiedenen Orten, die an Bonhoeffer erinnern, anzutreffen waren. Weiter soll angemerkt werden, dass es zu Beginn dieses Essays unerlässlich erscheint, Dietrich Bonhoeffer kurz vorzustellen, um im Anschluss daran die Forschungsfragen zu verfolgen.

D ER B LICK HINTER EINEN N AMEN Dietrich Bonhoeffer wurde in Breslau als sechstes von acht Kindern des Professors für Psychiatrie und Neurologie Karl Bonhoeffer und seiner Ehefrau Paula im Jahr 1906 geboren. Nachdem sein Vater im Jahr 1912 einem Ruf an die Berliner Charité gefolgt war, wuchs Dietrich zusammen mit seinen vier Schwestern und drei älteren Brüdern9 in Berlin-Grunewald auf. Der Theologe Ferdinand Schlingensiepen schreibt diesbezüglich, dass Dietrich so aufgewachsen sei, wie die wenigsten Menschen es sich heute noch vorstellen können: Mehrere Hausangestellte, ein Chauffeur, sowie eine Erzieherin prägten den großbürgerlichen Haushalt mit. Hatten Dietrichs Vorfahren als Ratsherren, hochrangige Soldaten und Universitätsprofessoren einflussreiche Positionen inne, sollte auch er – so wie sein Vater und seine Brüder – diesem Weg folgen.10 Dass ein junger Abiturient »aus einer akademisch geprägten großbürgerlichen Familie, in der man ›christlich, aber nicht mehr kirchlich‹ war«, Theologie studieren wollte, erstaunte nicht nur seinen Vater, sondern auch seine Brüder. 11 Auf ihren Einwand hin, dass die Kirche doch nur ein »kleinbürgerliches [...] Gebilde« sei und Dietrich

9

Es muss angemerkt werden, dass das zweitälteste Kind der Familie – der Sohn Walter – im Ersten Weltkrieg schwer verwundet wurde und schließlich seinen Verletzungen erlag, vgl. Schlingensiepen, Ferdinand: Dietrich Bonhoeffer 1906-1945. Eine Biographie, München: Verlag C.H. Beck 2005, S. 22f., S. 30.

10 Vgl. ebd., S. 17, S. 18, S. 20, S. 22, S. 25, sowie vgl. Tietz, Christiane: Dietrich Bonhoeffer. Theologe im Widerstand (=Beck’sche Reihe Wissen, 2775), München: Verlag C.H. Beck 2013, S. 9, S. 11, S. 135. 11 F. Schlingensiepen: Dietrich Bonhoeffer, S. 33. Der älteste Sohn der Familie war Professor für Physikalische Chemie, der dritte Sohn in der Geschwisterfolge wurde Jurist, vgl. ebd., S. 22.

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mit seinem Berufswunsch vermeintlich »den Weg des geringsten Widerstandes« einschlagen würde, entgegnete er selbstbewusst: »Dann werde ich eben diese Kirche reformieren!«12 Wie strebsam Bonhoeffer war, lässt sich nicht zuletzt daran erkennen, dass er nach seinem Theologiestudium in Tübingen und Berlin bereits im Alter von 21 Jahren promovierte und dass er seine Habilitationsschrift, mit der er sich für die Bewerbung auf eine Professur qualifizieren wollte, bereits im Alter von 24 Jahren abschloss.13 Orientierung und Kraft zog er hierfür vor allem von seinen »Vorbildern«, unter anderem den Theologen Adolf von Harnack, Max Diestel und Karl Barth, die früher oder später auch zu seinen Förderern wurden. 14 Im Jahr 1931 wurde er – nach Erreichung des Mindestalters von 25 Jahren und mehreren Auslandsaufenthalten15 – ordiniert, außerdem arbeitete er als Studentenpfarrer und Privatdozent.16 Die Zeit des Lernens und Orientierens war nun vorbei und es wurde zu seinem vorrangigen Ziel, dem sich gerade in der Jugend und unter vielen Studierenden erschreckend rasch ausbreitenden Nationalsozialismus entgegenzutreten.17 Nicht nur Dietrich, sondern die gesamte Familie Bonhoeffer erkannte, welche Gefahren von den neuen politischen Entwicklungen ausgingen, waren sie über Familienmitglieder sowie Freund_innen von Maßnahmen wie beispielsweise dem »Arierparagraphen« auch selbst betroffen.18 Zusammen mit dem Theolo12 Bethge, Eberhard: Dietrich Bonhoeffer: Theologe – Christ – Zeitgenosse. Eine Biographie, 7. Auflage, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2001, S. 61. 13 Vgl. C. Tietz: Theologe im Widerstand, S. 15, S. 17, S. 18, S. 27. 14 Vgl. ebd., S. 35f., sowie vgl. F. Schlingensiepen: Dietrich Bonhoeffer, S. 43ff., S. 47, S. 52f. 15 Bonhoeffer verbrachte beruflich längere Auslandsaufenthalte in unter anderem Barcelona und New York. Italien, Afrika, Kuba und Mexiko stellen weitere Destinationen dar, die er bereits mit 24 Jahren besucht hatte, vgl. z.B. ebd., S. 38ff., S. 57ff., S. 80ff., S. 89ff. 16 Vgl. E. Bethge: Dietrich Bonhoeffer, S. 268, sowie vgl. z.B. C. Tietz: Theologe im Widerstand, S. 39, S. 40. 17 Vgl. Strohm, Christoph: Deutsches Reich: Dietrich Bonhoeffer, in: Harald Schultze/Andreas Kurschat (Hg.), »Ihr Ende schaut an...«. Evangelische Märtyrer des 20. Jahrhunderts, Leipzig: Evangelische Verlagsgesellschaft 2006, S. 234-235, hier S. 234. 18 Vgl. C. Tietz: Theologe im Widerstand, S. 46, S. 48. Zur Erklärung: Dietrichs Schwager, Gerhard Leibholz, Ehemann seiner Zwillingsschwester Sabine, stammte aus einer jüdischen Familie, weswegen sie 1938 zunächst in die Schweiz, dann nach Großbritannien emigrieren mussten, vgl. ebd., S. 86.

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gen Martin Niemöller und anderen gründete Dietrich Bonhoeffer den »Pfarrernotbund«, aus dem wenige Monate später die Bekennende Kirche hervorging.19 Außerdem arbeitete Bonhoeffer unter anderem am Betheler Bekenntnis mit, verteilte warnende Flugblätter, verfasste Aufsätze sowie Schriften und Protestschreiben gegen das Aufkommen und die Ansichten der Nationalsozialisten. 20 Eine mahnende Rundfunkrede, Kanzelabkündigungen sowie weitere Vorträge, die unter anderem auf ökumenischen Konferenzen gehalten wurden, zeichneten seine Widerstandstätigkeit schon in den frühen 1930er Jahren aus. 21 Einen zweijährigen Auslandsaufenthalt als Gemeindepfarrer in London nutzte Bonhoeffer dafür, seine Kolleg_innen und die deutschen Gemeinden in England so intensiv wie möglich über die politischen Veränderungen in Deutschland in Kenntnis zu setzen und zum Handeln zu animieren.22 1935 – zurück in Deutschland – wurde Bonhoeffer Leiter eines Predigerseminars, das von der Bekennenden Kirche neu eingerichtet worden war. Nach Erteilung eines Arbeitsverbotes konnte er diese Aufgabe allerdings nur noch in eingeschränkter Weise ausüben.23 Außerdem wurde ihm die Lehrbefugnis an der Berliner Universität entzogen sowie später ein »Reichsredeverbot wegen ›volkszersetzender Tätigkeit‹« und eine Meldepflicht erteilt.24 Durch seinen ehemaligen Schulkollegen, Schwager und Freund Hans von Dohnanyi, der als Jurist im Amt Ausland/Abwehr arbeitete, wusste er von den Umsturzvorbereitungen des »militärischen Geheimdienstes«. Ab Mitte 1940 begann auch Bonhoeffer, an den Umsturzplänen unter Generalmajor Hans Oster mitzuwirken. War es offiziell Bonhoeffers Aufgabe, durch seine ökumenischen Kontakte dem militärischen Geheimdienst zur Beschaffung von Informationen über das Ausland zu helfen, traf er in Wirklichkeit seine ausländischen Freunde aus der ökumenischen Arbeit, um ihnen von den Umsturzplänen zu berichten, denn »[d]as Wissen darum, dass es in Deutschland einen ernstzunehmenden Widerstand gab, mit angemessenen Vorstellungen über eine deutsche Nachkriegsordnung, sollte das Aus19 Vgl. ebd., S. 51. 20 Vgl. z.B. F. Schlingensiepen: Dietrich Bonhoeffer, S. 153, S. 155, S. 156, S. 159, S. 170f., S. 207f., sowie vgl. E. Bethge: Dietrich Bonhoeffer, S. 357ff. 21 Vgl. z.B. Landgrebe, Wilhelm: Dietrich Bonhoeffer. Wagnis der Nachfolge, 9. Auflage (=ABC-Team, 3129: Berichte, Erzählungen, Lebensbilder), Gießen/Basel: Brunnen Verlag 1995, S. 14, sowie vgl. F. Schlingensiepen: Dietrich Bonhoeffer, S. 185ff. 22 Vgl. ebd., S. 170. 23 Vgl. C. Strohm: Deutsches Reich, S. 234. 24 Vgl. E. Bethge: Dietrich Bonhoeffer, S. 584ff., S. 784.

274 | CHRISTIN U. SCHMITZ land dazu bewegen, Deutschland im Falle einer erfolgreichen Beseitigung Hitlers nicht dem Erdboden gleichzumachen.«25

Um die Gestapo nicht auf Bonhoeffer, der bereits auf deren schwarzer Liste stand, aufmerksam zu machen, teilte man ihn sicherheitshalber nicht der Berliner, sondern der Münchener Stelle der Abwehr zu.26 Des Weiteren sammelte Bonhoeffer Fakten über die Judendeportation, um sie oppositionellen Militärs vorzulegen und beteiligte sich unter anderem am »Unternehmen Sieben«, einer Rettungsaktion von 14 Menschen jüdischen Glaubens, welche vom Amt Ausland/Abwehr durchgeführt wurde.27 Außerdem gab Bonhoeffer den Anstoß zur Erarbeitung der »Freiburger Denkschrift« durch den »Freiburger Kreis«, der ebenfalls Vorschläge zu einer Neuordnung Deutschlands nach dem Krieg formulierte.28 Noch vor der Verwirklichung der Umsturzpläne wurde Bonhoeffer im April 1943 zusammen mit seiner Schwester Christine und seinem Schwager Hans von Dohnanyi verhaftet. Wenige Tage vor dem Einmarsch der Amerikaner, am 9. April 1945, wurde er auf Befehl »höchster Stellen« im KZ Flossenbürg hingerichtet.29

B ONHOEFFER ALS W IDERSTANDSKÄMPFER Der deutsche Widerstand hatte zunächst einmal nur wenig Abenteuerliches, nur wenig »Heroisches« an sich, wie es Freya von Moltke – Ehefrau des Widerstandskämpfers Helmuth James von Moltke – einmal zum Ausdruck gebracht hat.30 Allein die Bedingungen und Umstände, weshalb man überhaupt dem Widerstand beitreten musste, begründet wohl am besten ihre Aussage. Dennoch lassen sich bei der Figur des/der Widerstandskämpfer_in – als die auch Bonhoeffer rezipiert wird – durchaus Parallelen zu dem finden, was wir heute mit »Heldentum« in Verbindung bringen und was gleichzeitig die heutige Rezeption der

25 C. Tietz: Theologe im Widerstand, S. 90. 26 Vgl. F. Schlingensiepen: Dietrich Bonhoeffer, S. 260. 27 Vgl. E. Bethge: Dietrich Bonhoeffer, S. 836ff., sowie vgl. C. Tietz: Theologe im Widerstand, S. 91f., sowie vgl. F. Schlingensiepen: Dietrich Bonhoeffer, S. 284ff. 28 Vgl. C. Tietz: Theologe im Widerstand, S. 92. 29 Vgl. C. Strohm: Deutsches Reich, S. 235. 30 Vgl. Meding, Dorothee von: Mit dem Mut des Herzens: die Frauen des 20. Juli, 3. Auflage, Berlin: Wolf Jobst Siedler Verlag 1992, S. 10f., S. 121.

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Widerstandskämpfer_innen als Held_innen begründet. So funktioniert das »Held_innen«-Konstrukt nämlich nicht vollkommen willkürlich, sondern immer auch über solche Universalien, die die Vorstellung und somit auch die Zuschreibung von dem, was man als »Held_innen«-Attribut definiert, bestimmen.31 Im Brockhaus-Lexikon heißt es zum Beispiel, dass Held_innen unerschrocken sind und sich mutig Aufgaben stellen.32 Martin Dubberke, Geschäftsführer der Erinnerungs- und Begegnungsstätte Bonhoeffer-Haus in Berlin, definiert »Held« ganz allgemein als jemanden, »der das Risiko einschätzen kann und [...] mutig die Sache angeht und versucht zu einem Ende zu führen«.33 Der Philosoph und Journalist Philipp Tingler ergänzt, dass zum/zur Held_in das aufkommende Hindernis genauso gehört wie der Widerstand sowie die Stärke von Geist und Willen, dieses trotz einer großen Gefahr zu überwinden.34 Lässt man die zuvor dargestellte Vita Bonhoeffers Revue passieren, können Eigenschaften und Beschreibungen wie Unerschrockenheit und Mut in seiner Bereitschaft, gegen das nationalsozialistische Regime zu agieren und sich schließlich bewusst dem Widerstand anzuschließen, zweifelsfrei wiedergefunden werden. Wohl wissend, dass sein Bestreben tödlich enden könnte, hielt Bonhoeffer bis zuletzt an seinen Ansichten, seinem Vorhaben und als Theologe an seinem Glauben fest und bewies somit trotz physischer und psychischer Qualen bis in die letzten Stunden seines kurzen Lebens »Stärke von Geist und Willen«.35 Möchte man sich der Forschungsfrage, wie Bonhoeffer als »Held« funktioniert, nähern, stehen jedoch noch andere Attribute und Merkmale aus, die eventuell erst auf den zweiten Blick sichtbar werden, aber dennoch in diesem Kontext unbedingt zu nennen sind. Das Wort als »Waffe« In vielen Vorstellungen von dem, was einen/eine Held_in ausmacht, wird dieser zumeist als männlich, stark und kämpferisch konnotiert, was sich ebenso in der Literatur widerspiegelt. So wird etwa in dem Nachschlagewerk »Meyers großes 31 Vgl. C. Schneider: Wozu Helden?, S. 92. 32 Vgl. z.B. o.A.: Brockhaus. Die Enzyklopädie in 24 Bänden. Studienausgabe, 9. Band: GOTL-HERP, 20. Auflage, Leipzig/Mannheim: F.A. Brockhaus 2001, S. 664 [s.v. Held]. 33 Interview mit Martin Dubberke am 03.09.2016 in Berlin. 34 Vgl. Tingler, Philipp: Gibt es keine Helden mehr?, in: Tagesanzeiger Online vom 22.08.2014, MAG-Blog, http://blog.tagesanzeiger.ch/blogmag/index.php/36261/gibtes-keine-helden-mehr/ vom 15.03.2017. 35 Vgl. ebd., sowie vgl. F. Schlingensiepen: Dietrich Bonhoeffer, S. 337f., S. 370.

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Taschenlexikon« der explizit männlich rezipierte Held als tapferer, kampfbereiter Mann und Krieger beschrieben, der noch dazu von »edler Abkunft« ist.36 Des Weiteren trägt der Held nicht selten eine Waffe bei sich, die wie ein Erkennungsmerkmal für seine Figur und Funktion als Kämpfer und Beschützer zu werten ist. Blickt man mit diesem Hintergrundwissen nun auf Bonhoeffer, fällt sogleich auf, dass er weder Soldat war37, noch die für einen Helden typische Waffe besaß, sondern vielmehr das gesprochene und geschriebene Wort als seine Waffe zu bezeichnen ist. Anders als die im Nationalsozialismus stilisierten und gefeierten Kriegshelden, die sich zumeist durch physische Gewalt definierten, setzte Bonhoeffer die Macht des Wortes in Form seiner Stimme und seiner Schriften dafür ein, seiner Meinung, aber auch seinen Gedanken und Gefühlen Ausdruck zu verleihen und verkörperte auf diese Art und Weise eine Seite des »Helden«, die auch heute noch in Kontrast zu der Vorstellung einer gewalttätigen und physisch kämpfenden Heldenfigur steht. Auch in der Repräsentation Bonhoeffers spielt »das Wort« eine grundsätzliche Rolle. So sind neben beispielsweise dem Radiobeitrag, den Flugblättern sowie verschiedenen Einspruchsklagen38 ein Großteil seiner Handschriften aufbewahrt, von seinem besten Freund Eberhard Bethge ausgewählt und in einem sechzehnbändigen wissenschaftlichen Gesamtwerk veröffentlicht worden. Außerdem stellte Bethge eine tausendseitige Biographie über Bonhoeffers Leben zusammen.39 Die Notizen, Schriften und Briefe aus der Zeit des Widerstands, aber auch aus der Haft wurden beispielsweise in »Fragmente aus Tegel« 40, in

36 Vgl. Zwahr, Annette: Meyers großes Taschenlexikon in 25 Bänden, 9. Band GrevHim, 8. Auflage, Mannheim u.a.: B.I.-Taschenbuchverlag 2001, S. 259 [s.v. Held]. 37 Vgl. C. Tietz: Theologe im Widerstand, z.B. S. 90, sowie vgl. F. Schlingensiepen: Dietrich Bonhoeffer, S. 225f. 38 Vgl. Bethge, Renate/Gremmels, Christian: Dietrich Bonhoeffer. Bilder eines Lebens, 3. Auflage, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2005, z.B. S. 60, S. 69, S. 121. 39 Vgl. Bethge, Eberhard/Bethge, Renate: »Bonhoeffer muss sich nicht rechtfertigen«, in: Uwe Schulz (Hg.), Was wären wir ohne Dietrich Bonhoeffer? Bonhoeffer 2.0: Was er uns heute zu sagen hat (Interviews und Gespräche), Basel/Gießen: Brunnen Verlag 2013, S. 21-54, hier S. 23, S. 25, S. 26, sowie vgl. Weber, Jutta: »Das erlebe ich mit keinem anderen Nachlass«, in: U. Schulz: Was wären wir ohne Dietrich Bonhoeffer?, S. 65-78, hier S. 66. 40 Vgl. Bonhoeffer, Dietrich: Fragmente aus Tegel (=Dietrich Bonhoeffer Werke, Band 7), Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1994.

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»Widerstand und Ergebung«41 und in der »Ethik«42 von Bethge veröffentlicht und dienen heute – genauso wie die Bethge-Biographie43 – als Grundlage tausender weiterführender Werke über Bonhoeffer, so beispielsweise auch für die hier zitierten Biographien von Wilhelm Landgrebe, Ferdinand Schlingensiepen und Christiane Tietz.44 Orientiert man sich an der triadischen Konstellation, die unter anderem der bereits zitierte Kulturwissenschaftler Schneider und in ähnlicher Weise auch der Soziologe Christian Fleck formulierten – nämlich, dass man für die »Geburt des Helden« die Person an sich, den/die erzählende Zeug_in und das Publikum benötige – wäre Bethge vermutlich der erzählende Zeuge, der Bonhoeffers geschriebene Worte, aber auch die Figur »Bonhoeffer« zuerst und nachhaltig einem Publikum (re)-präsentiert.45 Die Übersetzung der einzelnen Werke in zum Teil mehr als dreißig Sprachen sowie die hohen Auflagezahlen sorgen dafür, dass Bonhoeffer auch international bekannt wurde und heute noch einer sehr breiten Leser_innenschaft zugänglich ist.46 Es erstaunt vor diesem Hintergrund auch nicht, dass die Texanerin Patricia47, die ich während der wöchentlich stattfindenden englischen Führung durch das Bonhoeffer-Museum in Berlin kennenlernen durfte, angibt, dass sie in ihrer kleinen Gemeinde in den Vereinigten Staaten von Bonhoeffers »Briefen aus der Haft« so ergriffen war, dass sie sich auf seine Spurensuche nach Berlin begab.48 Waren tausende Menschen im Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime tätig, so hebt sich Bonhoeffer doch zumindest aufgrund der »Macht seiner Worte«, die durch seinen Freund 41 Vgl. Bonhoeffer, Dietrich: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft (=Dietrich Bonhoeffer Werke, Band 8), Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2011. 42 Vgl. Bonhoeffer, Dietrich: Ethik (=Dietrich Bonhoeffer Werke, Band 6), München: Chr. Kaiser Verlag 1992. 43 Vgl. E. Bethge: Dietrich Bonhoeffer. 44 Vgl. in der Reihenfolge W. Landgrebe: Wagnis der Nachfolge, sowie F. Schlingensiepen: Dietrich Bonhoeffer, sowie C. Tietz: Theologe im Widerstand. 45 Vgl. C. Schneider: Wozu Helden?, S. 101, sowie vgl. in abgewandelter Form auch den Vortrag von Christian Fleck: »Partisanen, die (angeblich) in der Ostmark für Österreichs Freiheit kämpften und warum sie nie zu Helden wurden«, mündlich am 16.03.2016 am Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der KarlFranzens-Universität Graz. 46 Vgl. Schulz, Uwe: »Dietrich Bonhoeffer bewegt Menschen zutiefst«, in: ders.: Was wären wir ohne Dietrich Bonhoeffer?, S. 11-19, hier S. 13. 47 Name anonymisiert. 48 Gespräch mit Patricia (Name anonymisiert) im Bonhoeffer-Museum in Berlin am 03.09.2016.

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Bethge bewahrt, repräsentiert und somit zugänglich sind, von den vielen oftmals zum stillen Widerstand Verurteilten ab, die daher heute keinen Namen mehr haben und somit auch nicht mehr im kollektiven Gedächtnis präsent sind.49 Zwischen Netzwerk und heroischem Einzelkämpfer Bei der Betrachtung der subversiven Figur »Bonhoeffer« fällt schnell auf, dass er über weitere »Waffen« – will man es denn so nennen – verfügte, die der Interviewpartner Bernhard Körner, katholischer Theologe an der Universität Graz, als das »Fundament«50 seiner Widerstandstätigkeit bezeichnete. So hat Bonhoeffer aufgrund seines privilegierten Elternhauses schon früh gelernt, eine eigenverantwortliche Rolle in der Gesellschaft einzunehmen. Der angesehene Vater, sowie ebenfalls beruflich erfolgreiche, ältere Brüder setzten hohe Erwartungen in den jüngsten Sohn und Bruder Dietrich. Hierzu zählte auch seine Erziehung, in der ihm solche »Werte und Prinzipien«51 vermittelt wurden, die ihm später überhaupt erst die für den Widerstand nötige »Stärke von Geist und Willen« gab. Finanzielle Unterstützung von Seiten seiner Familie, sein Zugang zu Bildung und vor allem Netzwerke, in die er bereits hineingeboren wurde und die er nicht zuletzt aufgrund seiner wohnbiographischen Verortung in Berlin-Grunewald teilweise selbst, zum anderen über die Beziehungen seiner sieben Geschwister und seiner enormen Mobilität weiter ausbauen und pflegen konnte, ermöglichten ihm seine Widerstandstätigkeit bis zuletzt. Mit den Worten der Kulturanthropologin Johanna Rolshoven und anlehnend an den Volkskundler und Soziologen Rolf Lindner könnte man vielleicht sagen, dass er »biographisch und sozial in einem gesellschaftlichen Handlungszusammenhang«52 aus Familie, Freund_innen, Weggefährt_innen und institutionellen Komponenten festzumachen ist, die eben 49 Vgl. Steinbach, Peter: Widerstand gegen den Nationalsozialismus, in: ders./Johannes Tuchel (Hg.), Widerstand gegen den Nationalsozialismus (=Schriftenreihe, Band 323), Berlin: Akademie Verlag 1994, S. 15-26, hier S. 21, sowie vgl. Weisenborn, Günther: Der lautlose Aufstand. Bericht über die Widerstandsbewegung des deutschen Volkes 1933-1945 (=Rororo, 507/508), Hamburg: Rowohlt Verlag 1962, S. 15f. 50 Vgl. Interview mit Bernhard Körner am 05.07.2016 in Graz. 51 Vgl. ebd. 52 Rolshoven, Johanna: Kultur, ein Theater der Komplikationen. Unfertige Gedanken zum Selbstmordattentat. Schriftliche Fassung des Festvortrages zum 80. Geburtstag von Martin Scharfe. Philipps-Universität Marburg/L. 22.04.2016, in: Online-Schriften aus der Marburger Kulturwissenschaftlichen Forschung und Europäischen Ethnologie, Band 7/16, S. 11, http://archiv.ub.uni-marburg.de/es/2016/0009 vom 22.09.2017.

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jenes »Fundament« zu seinem widerständigen Handeln in dieser Form und Intensität überhaupt erst begründete. Dass es sich bei den Widerständigen also lediglich um »einsame Zeuge[n]«53 handelte – um sogenannte »Einzelkämpfer«, wie es in heroischen Kontexten oft betont wird – trifft auf Bonhoeffer kaum zu. Auch wenn viele Personen im Widerstand für sich alleine handeln mussten, um die Gefahr des Auffliegens im Schutz der Singularität zu minimieren 54, so war Bonhoeffer doch in einer »Tradition der Verantwortung [auch für andere] und des Netzwerkens« verhaftet, wie es der Geschäftsführer der Erinnerungs- und Begegnungsstätte Bonhoeffer-Haus in Berlin, Martin Dubberke, ausdrückte. 55 Dubberke fasst diesen Handlungshintergrund wie folgt zusammen: »Bonhoeffer war kein Einzelkämpfer. [...] Diese ganze Familie war eine Familie, die seit Jahrhunderten Verantwortung in der deutschen Gesellschaft wahrgenommen hat. [...] Wenn Sie sehen, alle untereinander verwandt. Zum Teil in die gleiche Schule gegangen. Das ging nicht alleine. [...] Sie können auch nicht alleine gegen so ein Regime arbeiten, [...], sondern sie brauchen ein Netzwerk, das durch viele Ebenen durchgeht.«56

B ONHOEFFER ALS M ÄRTYRER Christian Schneider schreibt: »Wer Held sagt, sagt automatisch Tod« 57 und weiter heißt es bei Herfried Münkler: »Zum Helden kann nur werden, wer bereit ist, Opfer zu bringen, eingeschlossen das größte, das des Lebens.« 58 Ergibt sich in Münklers Ausführung die Verbindung des/der Held_in zur Gesellschaft über die Idee des rettenden und bewahrenden Opfers, das sein/ihr Leben gegen den Schutz der Gemeinschaft eintauscht, kann der/die Held_in auch auf der anderen Seite stehen. So spricht Schneider von der »archaischste[n] Schicht des Helden«, die er darin sieht, dass der/die Held_in »die grundlegende Zivilisationsbedingung, das Tötungsverbot, außer Kraft setzt.« 59 Auf welche Art und Weise er/sie dies tut, umgeben von welchen Motiven und gestützt auf welche begleitenden

53 Vgl. D. v. Meding: Mit dem Mut des Herzens: die Frauen des 20. Juli, S. 7. 54 Vgl. Interview mit Bernhard Körner am 22.06.2016 in Graz. 55 Vgl. Interview mit Martin Dubberke am 03.09.2016 in Berlin. 56 Ebd. 57 C. Schneider: Wozu Helden?, S. 93. 58 H. Münkler: Heroische und postheroische Gesellschaften, S. 742. 59 C. Schneider: Wozu Helden?, S. 93.

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sekundären Normen, entscheidet über die weitere Bewertung. 60 Folgt man den nur exemplarisch angeführten Definitionen, fällt relativ schnell auf, dass Tod, Töten, aber auch das Getötet-werden immer wieder als Teil des/der Held_in gedacht werden. Betrachtet man die Figur Dietrich Bonhoeffer genauer, lässt sich erkennen, dass es auch bei ihm mehrere Verbindungspunkte zum Thema »Tod« gibt. Über den Tyrannenmord Als von Dohnanyi seinen Schwager und Kollegen Bonhoeffer fragte, ob Christen sich an der Ermordung des Tyrannen beteiligen dürften, antwortete dieser ihm, dass ein Mord immer ein Mord bleibe – auch dann, wenn er wie im vorliegenden Fall ethisch begründet werden könne. Man müsse aber bereit sein, die Schuld dafür auf sich zu nehmen und Bonhoeffer würde – wenn er die Möglichkeit dazu hätte – auch selbst »die Bombe werfen«, lauteten seine damaligen Ausführungen weiter.61 Erklärt Bonhoeffer hier seine Bereitschaft zum Tyrannenmord, muss man sich – möchte man so etwas wie eine Einschätzung treffen können – über die damalige politische Situation im Klaren sein: Durch das nationalsozialistische Regime wurden unschuldige Menschen verfolgt und systematisch vernichtet. Gleichzeitig waren andere Widerstandsakte sowie Tötungsversuche bis dato nicht geglückt. Hinsichtlich dieser Ausnahmesituation legitimierte Bonhoeffer, aus der Verantwortung des freien Menschen – für sich und seine Mitstreiter_innen – das ethisch gültige Tötungsverbot durch einen bewusst vollzogenen Mord zu überschreiten. Er tat dies nicht, um somit grundlegende gesellschaftliche Normen außer Kraft zu setzen, sondern um vielmehr nicht mehr bestehende gesellschaftliche Regeln wiederherzustellen. Sich durch die Tat wie eine »Siegfriedgestalt« bewusst von der Masse abzuheben, war hierbei ebenso wenig Bonhoeffers Intention, wie sich eigene Macht und Position zu sichern. Sein Ziel war es stattdessen, als Teil einer Gemeinschaft zu handeln, die sich gegen die (vor)herrschende nationalsozialistische Ideologie gewandt hatte und mit den ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten den Weg der Befreiung und der Wiederherstellung des Rechtes einzuschlagen. Auch wenn die geplante Tat auf den ersten Blick vollkommen gegen seine moralischen und ethischen Werte sowie gegen das für ihn als Theologen bedeutende Fünfte Gebot verstieß, kam er dennoch aufgrund der politischen Gegebenheiten und der ethischen Reflexion zu dem Entschluss, dass der Mord »unbedingt notwendig« sei.62 Der Tyrannenmord – im 60 Vgl. ebd. 61 Vgl. F. Schlingensiepen: Dietrich Bonhoeffer, S. 288. 62 Vgl. ebd.

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Zweifelsfall auch durch Bonhoeffer selbst ausgeführt – war somit für ihn nicht nur ein beliebiges Mittel zum Zweck, sondern – ultima ratio – letzte Möglichkeit, die nationalsozialistische Diktatur zu überwinden. Es ist die Ausnahmesowie Notsituation, die in Bonhoeffers ethischer Reflexion dieses Vorhaben für ihn rechtfertigt, sofern die Geltung eines »Du sollst nicht töten« nicht generell außer Kraft gesetzt wird, sondern durch die Tat wiederhergestellt wird.63 Hinsichtlich seiner heutigen Repräsentation lässt sich sagen, dass es das Zusammenspiel der damaligen politischen Hintergründe, Bonhoeffers selbstloser Motivation, aber eventuell auch des Nichtverwirklichens seiner Pläne war, das rückblickend die Legitimation seiner Bereitschaft bewirkte und auch gegenwärtig noch erhält. Vielleicht hätte eine Realisierung des Tyrannenmords – ausgeführt durch ihn, oder durch einen/eine seiner Weggefährt_innen – Bonhoeffers Rezeption heute ganz anders aussehen lassen. Erst dann hätte sich gezeigt, inwieweit auch Bonhoeffer von dem »Tötungsverbot« befreit gewesen wäre, was Christian Schneider einleitend ganz grundsätzlich für einen/eine Held_in proklamierte.64 Bonhoeffer funktioniert also nicht in vollendeter Form über die »archaischste Schicht des Helden«, die darin besteht, dass der/die Held_in »die grundlegende Zivilisationsbedingung, das Tötungsverbot, außer Kraft setzt« 65, sondern vielmehr darüber, dass er in freier und eigener Verantwortung bis in die letzte Konsequenz für etwas eingestanden ist und ethisch reflektiert und legitimiert hat – nämlich für die Überwindung der nationalsozialistischen Diktatur. Das Martyrium Neben der Rezeption Bonhoeffers als Widerstandskämpfer begegnet einem bei der Beschäftigung mit Werken über sein Leben und (Nach)-Wirken immer wieder die Kategorie des Martyriums. So verwendet Bonhoeffer den Begriff »Märtyrer« oder »Martyrium« einerseits in seinen Schriften selbst – in Bezug auf sein widerständiges Handeln und während seiner Haftzeit in theologischer Reflexion66, andererseits kommen beide Begriffe an mehreren Stellen seiner Biographie vor, sowie in zahlreichen weiteren Beiträgen über ihn.67 Auch auf Gedenktafeln, 63 Vgl. D. Bonhoeffer: Ethik, S. 273. 64 Vgl. C. Schneider: Wozu Helden?, S. 93. 65 Ebd. 66 Vgl. z.B. D. Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung, S. 236, S. 356. 67 Vgl. z.B. E. Bethge: Dietrich Bonhoeffer, S. 284, S. 608, S. 682, S. 744, S. 894, S. 938, S. 1041f., sowie vgl. z.B. Oehme, Werner: Märtyrer der evangelischen Christenheit 1933-1945. Neunundzwanzig Lebensbilder, 2. Auflage, Berlin: Evangelische Verlagsanstalt 1980, S. 197ff.

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die an Bonhoeffer erinnern sollen, wird er immer wieder als Märtyrer bezeichnet – beispielsweise auf jener in der Staatsbibliothek zu Berlin seit 2002, wo seit mehr als zwanzig Jahren Bonhoeffers Nachlass verwaltet wird.68 Des Weiteren wird Bonhoeffer auch international als Märtyrer rezipiert: In England stellt ihn eine der zehn in Stein gemeißelten »Märtyrer-Statuen« dar, welche seit 1998 an prominenter Stelle – über dem Westportal der Westminster Abbey – zu finden sind.69 Der/Die Märtyrer_in ist eine soziale Figur70, die man schon Jahrtausende zurückverfolgen kann71, die aber gegenwärtig (erneut) höchst aktuell und zugleich auf den ersten Blick widersprüchlich erscheint. Vor allem aufgrund der Inanspruchnahme durch dschihadistische Selbstmordattentäter ist der Begriff nicht nur medial stark präsent, sondern beschäftigt auch (zunehmend) Wissenschaftler_innen verschiedenster Disziplinen. Die beiden Theologen Józef Niewiadomski und Roman A. Siebenrock haben davon gesprochen, dass das Martyrium »ein Begriff wie eine Trompete, ein scharfes Schwert und heute ein treffsicheres Medienprojektil« sei.72 Gleichzeitig scheint es aufgrund der heutigen »Vielfalt an Märtyrer_innen« aber auch nicht immer ganz klar bestimmbar, wer oder was ein/eine Märtyrer_in ist.73 Als evangelischer Theologe wird Dietrich Bonhoeffer heute vornehmlich74 als christlicher Märtyrer rezipiert75, wobei das griechische 68 Vgl. J. Weber: »Das erlebe ich mit keinem anderen Nachlass«, S. 66. 69 Vgl. F. Schlingensiepen: Dietrich Bonhoeffer, S. 391. 70 Vgl. z.B. Ege, Moritz: »Ein Proll mit Klasse«. Mode, Popkultur und soziale Ungleichheiten unter jungen Männern in Berlin, Frankfurt am Main/New York: Campus Verlag 2013, sowie vgl. Binder, Beate: Figuren der Urbanisierung aus geschlechtertheoretischer Perspektive, in: Martin Baumeister u.a. (Hg.), Informationen zur modernen Stadtgeschichte. Themenschwerpunkt: Urbanisierung im 20. Jahrhundert, 2. Halbjahresband, Berlin: Deutsches Institut für Urbanistik 2012, S. 92-100, hier S. 92ff. 71 Vgl. z.B. Hauschild, Wolf-Dieter: Märtyrer und Märtyrerinnen nach evangelischem Verständnis, in: H. Schultze/A. Kurschat: »Ihr Ende schaut an...«, S. 49-69, hier S. 49. Jesus wird hier als »der authentische Ur-Märtyrer« des Christentums genannt. 72 Niewiadomski, Józef/Siebenrock, Roman A.: Einleitung, in: dies. (Hg.), Opfer – Helden – Märtyrer. Das Martyrium als religionspolitologische Herausforderung, 2. Auflage (=Innsbrucker theologische Studien, Band 83), Innsbruck/Wien: Tyrolia-Verlag 2011, S. 9-13, hier S. 9. 73 Vgl. Maier, Hans: Politische Martyrer? Erweiterungen des Martyrerbegriffs in der Gegenwart, in: J. Niewiadomski/R. Siebenrock: Opfer – Helden – Märtyrer, S. 15-31, hier S. 15. 74 Der Vollständigkeit halber ist anzumerken, dass es unter anderem auch bei Bonhoeffer die Diskussion gab, ob er als »christlicher Märtyrer«, oder als »politischer Märty-

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Wort »martyrion« so viel wie »Zeugnis vor Gericht« bedeutet und derjenige/diejenige, der/die es ablegt, der »martys«, also der/die Zeug_in ist.76 Im christlichen Verständnis ist der/die Märtyrer_in »ein Zeuge, der bereit ist, mit seinem Zeugnis bis zum Äußersten, bis zum Opfer seines Lebens zu gehen – ohne dass er dieses Opfer leichtfertig riskiert oder gar sehnsüchtig danach strebt. Er wird zum Opfer, weil er eine Wahrheit bezeugt. [...].«77

Hierbei muss die Verfolgungssituation von außen gesetzt, nicht selbst geschaffen oder gar eigenhändig provoziert sein. Außerdem ist die Verbindung des/der Märtyrer_in mit Glauben und Kirche entscheidend78 – alles Merkmale, die auf den Theologen Bonhoeffer zutreffen und teilweise durchaus Schnittstellen aufweisen zu dem, was zuvor nach beispielsweise Herfried Münkler als Universalien eines/einer Held_in definiert wurde. So gab Bonhoeffer selbst an, dass bald Zeiten kommen würden, in denen auch »Märtyrerblut« gefordert sein werde79, und die Interviewperson K. R. reflektiert diesbezüglich: »Er ist natürlich freiwillig diesen Weg gegangen. Er hat im vollen Bewusstsein, dass das tödlich enden kann, diesen Weg des Widerstands eingeschlagen.«80 Dennoch riskierte er seinen Tod nicht leichtfertig und hat sich auch nicht nach ihm gesehnt. Vielmehr agierte Bonhoeffer bis zum Schluss stets besonnen, immer darauf bedacht, dass seine Widerstandstätigkeit, aber auch die seiner Weggefährt_innen nicht auffliegt und er so lange wie möglich, mutig gegen das Regime vorgehen kann. Nur wenige Tage vor Kriegsende – im Morgengrauen des 9. April 1945 – wurde er, vor einem Standgericht verurteilt, entblößt an einem Galgen hingerich-

rer« zu verstehen ist. So wurde von einer Minderheit abgewogen, ob die christlichreligiöse Motivation seines Handelns größer war, als seine politische und welche Bezeichnung daher treffender ist, vgl. z.B. Ringshausen, Gerhard: Auf dem Weg zu einem evangelischen Martyrologium?, in: Kirchliche Zeitgeschichte. Internationale Halbjahresschrift für Theologie und Geschichtswissenschaft, 17. Jahrgang, (2004), Heft 1, S. 254-264, hier S. 256ff. 75 Vgl. Interview mit Günter Ebbrecht am 30.08.2016 in Einbeck/Harz. 76 Vgl. H. Maier: Politische Martyrer?, S. 16. 77 Ebd. 78 Vgl. ebd. 79 Vgl. F. Schlingensiepen: Dietrich Bonhoeffer, S. 130. 80 Interview mit K. R. am 01.09.2016 in Berlin.

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tet.81 Allein die Tatsache der Ermordung an sich, aber auch der Zeitpunkt – kurz vor Einmarsch der Amerikaner82 – sowie die Art und Weise der Tötung – die Erhängung nach vorheriger Entblößung – kann als Akt der Repräsentation von Machtverhältnissen gewertet werden.83 So spricht die Altphilologin Barbara Feichtinger-Zimmermann davon, dass »die legitimierte Tötung eines Menschen als [...] Zeichen der Zelebration und Affirmation bestehender Herrschaftsverhältnisse« zu deuten sei und oftmals zwischen den jeweiligen Machthaber_innen und der Masse als Abschreckung von Auflehnung, Revolte und Normbruch kommuniziert werde.84 Mit dem Zeitpunkt der Rezeption Bonhoeffers als Märtyrer wird jedoch mit einem Mal die Konnotation eines Entwerteten und Beherrschten abgefangen und umgedeutet. Ist der Märtyrer-Begriff doch nach dem Theologen Harald Schultze als ein »Ehrentitel«85 zu bezeichnen, wird die Figur Bonhoeffer in jemanden umgewandelt, der aus Überzeugung und Glauben an seine Werte und Prinzipien seinen »edelsten Tod« 86 gestorben ist. Die Hinrichtung, die ursprünglich als Festigung von Machtverhältnissen gedacht war, liefert hierzu sogleich die Grundlage zur Transformation, ja sogar Heroisierung eines gewaltsam Hingerichteten in einen zeitlos gültigen Märtyrer. Im selben Moment vervollständigt es das Bild einer glaubwürdigen Figur, die seine Widerstandstätigkeit bis in die letzte Konsequenz – den eigenen Tod – vertritt.87 Wurde bereits mehrmals auf den Zeitpunkt der Rezeption Bonhoeffers als Märtyrer verwiesen, ist nicht uninteressant zu erwähnen, dass es zuerst ein Engländer – genauer gesagt der englische Bischof von Chichester George Bell – war, 81 Vgl. E. Bethge: Dietrich Bonhoeffer, S. 1038, sowie vgl. C. Tietz: Theologe im Widerstand, S. 121. 82 Vgl. C. Strohm: Deutsches Reich, S. 235. 83 Vgl. Feichtinger-Zimmermann, Barbara: Hinrichtung und Martyrium. Zur Umdeutung symbolischer Handlungen, in: Rudolf Schlögl/Bernhard Giesen/Jürgen Osterhammel (Hg.), Die Wirklichkeit der Symbole. Grundlagen der Kommunikation in historischen und gegenwärtigen Gesellschaften (=Historische Kulturwissenschaft, Band I), Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2004, S. 281-302, hier S. 281. 84 Vgl. ebd., S. 285. 85 Vgl. Schultze, Harald: Das Projekt »Evangelische Märtyrer des 20. Jahrhunderts« im ökumenischen Kontext, in: ders./A. Kurschat: »Ihr Ende schaut an...«, S. 19-32, hier S. 22. 86 Vgl. Freudenberg, Dirk: Theorie des Irregulären: Partisanen, Guerillas und Terroristen im modernen Kleinkrieg, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2008, S. 221, zit. nach J. Rolshoven: Kultur, ein Theater der Komplikationen, S. 14. 87 Vgl. Zimmerling, Peter: »Bei Bonhoeffer ist auch in Zukunft noch viel zu holen«, in: U. Schulz: Was wären wir ohne Dietrich Bonhoeffer?, S. 115-132, hier S. 118.

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der Bonhoeffer erstmals als Märtyrer bezeichnete, als er in der Holy Trinity Church in London nach Kriegsende einen öffentlichen, von der BBC live übertragenen Gedenkgottesdienst für Dietrich Bonhoeffer hielt.88 Im noch nationalsozialistisch geprägten Deutschland waren die Kirchen noch nicht so weit. Um der Anerkennung Bonhoeffers als Märtyrer aus dem Weg gehen zu können, wurde sogar argumentiert, dass Bonhoeffer »nicht wegen seines Glaubens an Jesus gestorben sei, sondern wegen politischen Hoch- und Landesverrats«, wie sich seine Schwägerin, die Ehefrau seines Bruders Klaus, erinnerte. 89 Erst in den 1960er Jahren wurde schließlich auch in Deutschland vermehrt damit begonnen, Christen, die »aus dem Glauben heraus politischen Widerstand leisteten« und dadurch den Tod erlitten, in den Kreis der Märtyrer_innen aufzunehmen und als solche zu rezipieren.90

B ONHOEFFER ALS V ORBILD Während der Feldforschung fiel des Weiteren auf, dass Bonhoeffer heute häufig eine Vorbildfunktion zugeschrieben wird – ein Attribut, das nicht selten auch im Kontext des »Held_innen«-Konstrukts Erwähnung findet. So beschreibt Christian Schneider Held_innen immer auch als »Identifizierungsgestalten«, als »Orientierungs- und Projektionspunkt«91, und Günter Ebbrecht, evangelischer Theologe und Mitglied der Internationalen Bonhoeffer-Gesellschaft, formuliert in Bezug auf Bonhoeffer: »Aber das ist natürlich die Frage, wie definiert man ›Held‹. [...] Der Held ist für mich ein Mensch, der in vorbildlicher Weise die Geschicke seines Lebens meistert. [...] Nach dieser Definition wäre Bonhoeffer auch ein Held. [...]. Helden oder Vorbilder [...] das sind so Brenngläser, in denen irgendwas sichtbar wird. [...] Ich glaube, Menschen brauchen so Gestalten, in denen sich für sie etwas kristallisiert, repräsentiert, zusammenfasst in glaubwürdiger Form [...] mit denen man sich heute identifizieren kann. [...] Das ist ein Vorbild und das ist auch bei Bonhoeffer gegeben.«92

88 Vgl. F. Schlingensiepen: Dietrich Bonhoeffer, S. 391f. 89 Vgl. Grabner, Sigrid/Röder, Hendrik: Emmi Bonhoeffer. Bewegende Zeugnisse eines mutigen Lebens, 2. Auflage (=Rororo Sachbuch, 62164), Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2007, S. 102. 90 Vgl. G. Ringshausen: Auf dem Weg zu einem evangelischen Martyrologium?, S. 259. 91 Vgl. C. Schneider: Wozu Helden?, S. 96, S. 102. 92 Interview mit Günter Ebbrecht am 30.08.2016 in Einbeck/Harz.

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Lässt man das Zitat von Günter Ebbrecht wirken und schaut sich den Begriff des »Vor-Bildes« noch einmal genauer an, fällt sogleich das temporäre Moment auf, das den Begriff umgibt. Vor dem Hintergrund, dass die Widerstandstätigkeit von Bonhoeffer mehr als siebzig Jahre zurückliegt, ist diese Rezeption auf den ersten Blick höchst interessant und bemerkenswert, verleiht sie doch der historischen Figur eine große Bedeutung für Gegenwart und auch Zukunft. 1906 geboren, 1945 gestorben – spiegelt Bonhoeffers Biographie ein Stück weit die erste Hälfte des vergangenen Jahrhunderts wider und gewinnt hierdurch an Glaubwürdigkeit und Authentizität. Als »guter Zeitbeobachter und Zeitanalytiker« sowie als »großer Anreger«, der sowohl für die Theologie als auch für die Geschichte im letzten Jahrhundert sehr impulsgebend gewesen ist, verkörpert(e) Bonhoeffer die Fähigkeit, sensibel, einfühlsam und empathisch zu reagieren, um seine Widerstandstätigkeit überhaupt entwickeln, ausführen und eine bestimmte Zeit auch durchhalten zu können.93 Die Figur Bonhoeffer zeigt, dass Menschen die Kraft haben und in der Lage sein können, bestimmte Entwicklungen zu beobachten, zu bewerten und eben auch zu widerstehen. Es ließe sich also sagen, dass Bonhoeffer auch heute noch Vorbild darin ist, mit Krisen umzugehen, und dass sein Beispiel dazu animiert, aktiv eigene Bewältigungsstrategien zu entwickeln.94 Darum formulierte K. R.: »Ich glaube, dass seine Stimme [gemeint ist die von Bonhoeffer] immer dann besonders wichtig wird, in Zeiten, die bedrohlich sind«95, und weiter konkretisiert sie ihre Aussagen in Bezug auf Bonhoeffers Schriften96: »Also, manche Texte entfalten quasi erst eine Wirkung in bestimmten zeitgeschichtlichen Horizonten. Und das ist natürlich ein Zeichen für Aktualität, dass Texte sich nicht verleben. Dass Aussagen noch verstanden und gehört werden und ohne große Kommentare noch verbreitet werden.«97 Neben der inhaltlichen Aktualität, die seine Funktion als Vorbild begründet, spielen noch weitere Aspekte mit hinein, die eine Identifikation mit ihm ermöglichen. Wurde bereits auf seine Glaubwürdigkeit und Authentizität aufmerksam gemacht, darf Bonhoeffer des Weiteren nicht einfach als »unangefochtene Lichtgestalt« gewertet werden, die hoch oben auf einem Podest positioniert ist, sondern vielmehr als Figur, die eigene Schattenseiten und Katastrophen erleben musste, von eigenen Ängsten und Schmerzen gekennzeichnet war und zu diesen 93 Vgl. ebd. 94 Vgl. ebd. 95 Interview mit K. R. am 01.09.2016 in Berlin. 96 Konkret bezog sie das Gesagte auf den Essay »Nach zehn Jahren«, den Bonhoeffer zum Jahreswechsel von 1942 auf 1943 formulierte, vgl. D. Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung, S. 19ff. 97 Interview mit K. R. am 01.09.2016 in Berlin.

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auch stand.98 Denkt man an das Kapitel »[d]as Wort als ›Waffe‹« zurück, sind es nicht zuletzt seine emotionalen Tagebucheinträge, Gedichte und (Liebes)-Briefe, die zeigen, dass er gefühlvoll und auch fehlbar war. So berichtet Bonhoeffer zu Beginn seiner Inhaftierung beispielsweise von seinem Haftschock, von Depressionen und von Selbstmordgedanken.99 Auch, dass er vom äußeren Erscheinungsbild – über zahlreiche Medien wie beispielsweise die bereits erwähnten Biographien100, Bildbände101, aber auch (museale) Ausstellungen kommuniziert – gelegentlich der gemütliche »Bonvivant« war, der noch dazu dem Laster des Rauchens frönte102, und eben nicht der muskelbepackte »Heros«, macht ihn menschlich. So beschrieb sogar seine Verlobte Maria von Wedemeyer seine äußere Erscheinung mit den deutlichen Worten: »Er verlor zusehends sein Haar und wurde dick, keine Person, mit der man prahlen konnte und sagen: ›Das ist mein Mann‹.«103 Außerdem bleibt er durch den fragmentarischen Charakter seines Lebens und dadurch auch seiner Schriften104 deutungsoffen und gewährt einen großen Interpretationsspielraum – Aspekte, die Bonhoeffer zusätzlich für ein großes und breites Publikum nahbar und somit leichter zur Identifikationsfigur und/oder zum Vorbild werden lässt.

V ON DER V ERGANGENHEIT IN DIE G EGENWART In den 1950er Jahren kam es zu ersten Anzeichen einer Art »Popularisierung« Bonhoeffers, die über die Jahrzehnte anstieg und bis heute anhält. Einher ging diese vor allem mit der Veröffentlichung von »Widerstand und Ergebung« sowie Ende der 1960er Jahre mit dem Erscheinen von Bethges monumentaler Bonhoef-

98

Vgl. ebd., sowie vgl. Interview mit Günter Ebbrecht am 30.08.2016 in Ein-

99

Vgl. F. Schlingensiepen: Dietrich Bonhoeffer, S. 338.

beck/Harz. 100 Vgl. z.B. E. Bethge: Dietrich Bonhoeffer, S. 20f. 101 Vgl. z.B. R. Bethge/C. Gremmels: Dietrich Bonhoeffer. 102 Vgl. E. Bethge: Dietrich Bonhoeffer, S. 20. 103 Harrison, Wilfred: Der Mensch Dietrich Bonhoeffer, in: Rainer Mayer/Peter Zimmerling (Hg.), Dietrich Bonhoeffer. Mensch hinter Mauern. Theologie und Spiritualität in den Gefängnisjahren (=ABC-Team, 1021), Gießen/Basel: Brunnen Verlag 1993, S. 12-34, hier S. 27. 104 Vgl. Dramm, Sabine: Dietrich Bonhoeffer. Eine Einführung in sein Denken, Gütersloh: Chr. Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 2001, S. 24.

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fer-Biographie.105 Aufgrund der bereits erwähnten Übersetzung in verschiedenste Sprachen106, erlangte Bonhoeffer internationale Bekanntheit, die sich heute vornehmlich in den protestantisch geprägten Ländern fortsetzt. Auch wenn sich hier teilweise eine Einschränkung der Reichweite über Glaubensgrenzen hinweg erkennen lässt, erreicht Bonhoeffer aufgrund der inhaltlich nicht nur theologischen Fokussierung seiner Schriften, sondern auch aufgrund der für jeden/jede äußerst bedeutenden »Zeitzeugenberichte« aus dem Zweiten Weltkrieg noch heute ein disziplinübergreifendes und internationales Publikum. Der Leiter der Erinnerungs- und Begegnungsstätte Bonhoeffer-Haus in Berlin sagt dazu: »Die Besucher kommen aus der ganzen Welt. Deutsche und Amerikaner [...], zahlreiche Briten. Australier, Chinesen, Norweger, Schweden, Finnen, Niederländer, Schweizer, Neuseeländer. Grundsätzlich kann man sagen, dass die Besucher vor allem aus Ländern mit einer protestantischen Prägung kommen. So sind Franzosen und Italiener in der Regel [...] eine Ausnahme.«107

Außerdem wird die Präsenz Bonhoeffers neben zahlreichen Vereinen108 seit Anfang der 1970er Jahre auch von einer internationalen Bonhoeffer-Gesellschaft gepflegt, die es sich als »science-community« zur Aufgabe gemacht hat, sich auf wissenschaftlicher Basis mit der Figur Dietrich Bonhoeffer auseinanderzusetzen und an die dahinterstehenden Taten zu erinnern. Alle vier Jahre findet aus diesem Grund auch immer an wechselnden Orten der »Internationale BonhoefferKongress« statt, auf dem Bonhoeffer-Kenner_innen und Bonhoeffer-Interessierte aus aller Welt zusammenkommen.109 Ob man bezüglich Bonhoeffer von einer »Vermarktung« sprechen kann, muss mit Vorsicht analysiert werden. So ist jedenfalls zu sagen, dass viele seiner Texte auf unter anderem Postkarten, Kalendern, Tassen sowie Kerzen zu finden sind. Des Weiteren ist Bonhoeffer mittlerweile auch über Theaterstücke, Comics, Spielfilme und Dokumentationen präsent. Da es sich allerdings um eine noch überschaubare Inanspruchnahme der Figur handelt und an dieser Stelle vornehmlich auch seine Schriften im Vordergrund stehen, fällt es schwer, dies 105 Vgl. C. Tietz: Theologe im Widerstand, S. 124f., sowie vgl. Interview mit Günter Ebbrecht am 30.08.2016 in Einbeck/Harz. 106 Vgl. z.B. U. Schulz: »Dietrich Bonhoeffer bewegt Menschen zutiefst«, S. 13. 107 Email von Martin Dubberke am 11.12.2016. 108 Zu nennen wäre an dieser Stelle beispielsweise der Dietrich-Bonhoeffer-Verein in Deutschland, der in den 1980er Jahren gegründet wurde. 109 Vgl. E. Bethge/R. Bethge: »Bonhoeffer muss sich nicht rechtfertigen«, S. 29, sowie vgl. Interview mit Günter Ebbrecht am 30.08.2016 in Einbeck/Harz.

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lediglich als ein inhaltloses Vermarktungsphänomen abzutun. Vielmehr steht das Erinnern und Vermitteln im Vordergrund – ebenfalls eine Form, Bonhoeffers gegenwärtige Präsenz zu fördern und ein Zeichen gegen das Vergessen solcher mutigen Figuren, aber auch des Leids, das sich hinter ihnen verbirgt und welches der Nationalsozialismus mit sich brachte, zu setzen. Vor allem während der Feldforschung in Berlin und im Harz, aber auch dann, wenn man sich als Forscherin mit offenen Augen durch verschiedenste Städte in Deutschland bewegt, fallen zahlreiche Straßen, Plätze, Wege sowie öffentliche Gebäude auf, die nach Bonhoeffer benannt sind. Außerdem wurden ihm Denkmäler in unterschiedlichster Ausführung – unter anderem Skulpturen, Statuen, Gedenktafeln und Erinnerungssteine – gewidmet. Zum einen wird an solchen Orten an Bonhoeffer erinnert, an denen er selbst gelebt und gewirkt hat, zum anderen aber auch an solchen, wo keine direkte Verbindung der »lieux de mémoire« 110 zu Bonhoeffer besteht. Letztere bringen das Bestreben zum Ausdruck, sich mit den mit Bonhoeffer assoziierten Werten und Taten zu identifizieren und für die eigene Sache zu instrumentalisieren. Der Schritt, an Bonhoeffer, aber auch an Widerstandskämpfer_innen im Allgemeinen zu erinnern und ihnen einen Platz in unserem kollektiven Gedächtnis zu geben – sei es als Märtyrer_in, Vorbild, oder »Held_in« – muss sogleich als eine Mahnung gewertet werden, dass schreckliche Geschehnisse, die im Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg passiert sind, nicht wiederkehren dürfen. So formulierte der Kulturwissenschaftler Jan Assmann: »Die einen erinnern sich an die Vergangenheit aus Angst, von ihrem Vorbild abzuweichen, die anderen aus Angst, sie wiederholen zu müssen.«111 Der Zeitpunkt, zu dem damit begonnen wurde, an Bonhoeffer zu erinnern, fällt – wie bereits erwähnt – in etwa mit dem Zeitpunkt zusammen, als Bonhoeffer erstmals auch in Deutschland als Märtyrer rezipiert wurde 112, was in den darauffolgenden Jahrzehnten immer weiter zunahm. Auch gegenwärtig werden noch immer neue Gedenktafeln errichtet, wie beispielsweise erst 2015 in der Oderberger Straße 61 in Berlin-Prenzlauer Berg, wo Bonhoeffer 1932 für kurze 110 Vgl. Nora, Pierre: Zwischen Geschichte und Gedächtnis (=Kleine Kulturwissenschaftliche Bibliothek, Band 16), Berlin: Verlag Klaus Wagenbach 1990, S. 11. 111 Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: ders./Tonio Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis (=Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 724), Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1988, S. 9-19, hier S. 16. 112 Vgl. G. Ringshausen: Auf dem Weg zu einem evangelischen Martyrologium?, S. 259, sowie vgl. Erb, Jörg: Blutzeugen des Kirchenkampfes (=Dinglinger Taschenbücher Nr. 759), Lahr-Dinglingen: Verlag der St.-Johannis-Druckerei C. Schweickhardt 1967, S. 90ff.

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Zeit gewohnt hat.113 Dieses Phänomen beschreibt K. R. mit den Worten: »Die Bereitschaft der eigenen Geschichte ins Auge zu sehen, das braucht einfach ein bisschen. Das braucht auch die nächste Generation. Denn die Generation, die damit verhaftet ist, ist auch blind auf diesem Auge.« 114 Heute steht Bonhoeffer gut sichtbar in der ersten Reihe der Erinnerung und man kann die Beobachtung Robert Musils, dass es nichts auf der Welt geben würde, »was so unsichtbar wäre wie Denkmäler«115, zumindest in Bezug auf Bonhoeffer als nicht zutreffend abtun.

F AZIT Abschließend bleibt zu sagen, dass es ganz besonders wichtig ist deutlich zu machen, was man unter »Held_in« in bestimmten Situationen und konkreten Kontexten versteht. So ist Bonhoeffer durchaus als der mutige Widerstandskämpfer, der sich unerschrocken gegen den Nationalsozialismus stellte und seine konsequente Haltung schlussendlich mit seinem Leben bezahlte und später als Märtyrer bezeichnet wurde, zu definieren, wobei die Rezeption Bonhoeffers als solche ganz deutlich mit Raum und Zeit verflochten ist. Außerdem zeichnet sich Bonhoeffer vor allem durch seine Vorbildfunktion – ebenfalls wesentliches Merkmal eines/einer Held_in – mit Krisen jeglicher Art umzugehen, aus, worin sich auch sogleich seine Aktualität zeigt. So muss der/die Held_in kein/keine Überflieger_in sein, sondern kann auch der/die Widerständige, der/die Märtyrer_in, beziehungsweise das Vorbild sein, in dem man auch gegenwärtig Orientierung und Halt findet. Es gilt also, mit den Worten von Christiane Tietz, »nicht bei der Historisierung stehenzubleiben«116, sondern auch auf Bonhoeffers Bedeutung für die Gegenwart und seine Aktualität zu schauen. Heißt es im vielzitierten Spruch von Bertolt Brecht: »Unglücklich das Land, das keine Helden hat! […] Nein. Unglücklich das Land, das Helden nötig

113 Vgl. Keller, Claudia: Vom Verräter zum Helden, in: Der Tagesspiegel vom 11.04. 2015, http://www.tagesspiegel.de/kultur/gedenken-an-dietrich-bonhoeffer-vom-verr aeter-zum-helden/11620356.html vom 12.05.2017. 114 Interview mit K. R. am 01.09.2016 in Berlin. 115 Musil, Robert: Nachlass zu Lebzeiten (=Rororo, 500), Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1970, S. 59. 116 C. Tietz: Theologe im Widerstand, S. 131.

D IETRICH B ONHOEFFER (1906–1945)

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hat«117, so muss vor dem oben beschriebenen Hintergrund sowie Begriffsverständnis doch auch gesagt werden, dass »Helden« wie Bonhoeffer durchaus (noch immer) von großer gesellschaftlicher Bedeutung und Wichtigkeit sind. So könnte abschließend und anlehnend an Brecht doch formuliert werden: »Glücklich das Land, das solche Held_innen hat«, die sich wie Bonhoeffer gegen den Nationalsozialismus gestellt haben.

117 Brecht, Bertolt: Leben des Galilei (=Edition Suhrkamp 1), Berlin: Suhrkamp Verlag 1963, 13. Szene, S. 139f.

Historische Figuren: Die Geschichte der Gegenwart

Tells Sprung Zur ironischen Demontage alpinen Heldentums M ARTIN S CHARFE

D IE L ÄCHERLICHKEIT DES P ATHETISCHEN (Worum es geht) Vor mehr als einem halben Jahrhundert schon ist Hermann Bausingers Buch »Volkskultur in der technischen Welt« erschienen: ein Klassiker der neueren Volkskunde – und wie es den Klassikern wohl meist geht: mehr zitiert als gelesen. Doch wer darin liest, wird belohnt – vor allem mit Zweifeln, die der Autor streut (dem die belehrende Attitüde so fremd ist). Wenn ich also das Kapitel IV. 3. aufschlage, von dem ich mir Erhellung zum Ironie-Problem erhoffe – also zu Rolle und Bedeutung der Ironie in der Kultur –, dann sehe ich keine Überschrift mit fröhlichen, vielleicht gar nassforschen Behauptungen; ich stoße vielmehr auf intellektuelles Stirnrunzeln, auf Ausrufezeichen der Warnung vor allzuviel wissenschaftlichem Klartext, wenn ich lese: »Ansätze zur Ironisierung des Sentimentalen«!1 Da begegnet uns also eine Vorsicht und Zögerlichkeit, die zunächst befremdet – die aber angesichts der Komplexität des Themas vielleicht doch angebracht war und ist. Bausingers auffälliges Zaudern war möglicherweise durch die Wahl seines Stoffes verstärkt worden; denn er war von Erscheinungen der »Volkskultur« ausgegangen – etwa vom alltäglichen Sprachgebrauch oder von Liedparodien. Hier glaubte er, »ironische Bereitschaft gegen das Sentimentale« beobachten zu können, ja gar ›ironischen Widerstand‹ gegen die »Sentimentalisierung des

1

Die Hervorhebung im Zitat stammt von mir, MSch.

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Volksguts«.2 Diese Sentimentalisierung sah er als historischen Prozess vor allem des 19. Jahrhunderts – als eine Entwicklung, die begreiflich schien, weil er die »Volkskultur als ›Imitationssystem‹« zu beschreiben versuchte.3 Wenn ich mich plumperer Worte bedienen darf, als sie Bausinger seinerzeit zur Verfügung standen, sage ich: Jene Sentimentalisierung hat die Volkskultur infiltriert – jedoch nicht ungebremst; hier und da und zuweilen haben die Mitglieder der Volkskultur den erwähnten ironischen Widerstand zu leisten versucht. Zwar spricht Bausinger zurückhaltend von »kleinen Vorgängen«.4 Aber »so belanglos der einzelne Fall scheinen mag«, fügt er an, »so wichtig ist doch insgesamt die Ironisierung in der Volkskultur«.5 Das ist ein Fingerzeig, für den man dankbar sein darf – und dem man mit besonderem Gewinn folgt, wenn man die seitherige Entwicklung der Volkskunde (als einer Volkskultur-Wissenschaft) hin zu einer allgemeineren Kulturwissenschaft bedenkt, das heißt: zu einer Kulturwissenschaft mit jenem besonderen Gespür, das sie ihrer Forschungstradition verdankt. Auch wer diese Entwicklung skeptisch sieht, profitiert von ihr. Denn er muss sich nicht mehr mit jenem gesenkten Blick auf die ›Niederungen‹ der Volkskultur begnügen. Er darf die allgemeinere Geschichte, die prinzipielleren Prozesse der Kultur in seine Betrachtungen einbeziehen – Beispiele der Literatur, des Theaters, der Oper, der Bildenden Kunst etwa – und entdeckt dann Ironie und Ironisierung als ein generelleres kulturelles Prinzip, das sich der entmündigenden Herrschaft (vielleicht nicht des Pathos, aber doch) des Pathetischen entgegenwirft. Das Pathetische wird dann als ein Lächerliches entlarvt und abgetan. Ich will Prinzip und Problem der Ironie aufzeigen vor allem am Beispiel des alpinen oder alpinistischen Helden – und am Beispiel seines komischen Scheiterns.

D ER H ELD ZU F ALL GEBRACHT (Erste Fälle: Schillers Tell, Vischers A. E., Byrons Manfred) Ich beginne mit dem ersten ›Fall‹: mit Wilhelm Tell, dem alpinen Volkshelden, dem nationalen säkularen Heiligen der Schweizergeschichte. Friedrich Schiller

2

Bausinger, Hermann: Volkskultur in der technischen Welt, Stuttgart: Kohlhammer

3

Ebd. S. 144 (Kapitel IV. 2.).

1961, S. 160. 4

Ebd. S. 161.

5

Ebd. S. 162.

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– nicht nur er, aber er besonders wirksam!6 – hat ihn verhimmelt in seinem Schauspiel aus dem Jahre 1804; die so herausragenden wie einprägsamen Szenen und Ereignisse stehen vor unser aller Augen: der Befehl des tyrannischen Landvogts, seinen Hut, der auf eine Stange gesteckt ist, zu verehren; jener andere Befehl an Tell, einen Apfel vom Kopf seines Sohnes zu schießen; der Rütlischwur; der Tyrannenmord in der hohlen Gasse bei Küssnacht; und dann nicht zuletzt jene Szene, die mir den Titel dieses Aufsatzes geliefert hat: Tells Sprung aus dem Schiff heraus auf die Felsplatte am Urner See und die folgende Flucht – die Voraussetzung für den Todesschuss auf den bösen Landvogt Gessler. Ich darf kurz in Erinnerung rufen, dass der Landvogt den gefangenen und gefesselten Tell mit dem Schiff auf seine Zwingburg bringen will. Ein furchtbares Unwetter bricht los, das Schiff gerät in Not – der einzige, der die Lage beherrschen und Rettung bringen könnte, ist Tell; er muss also losgebunden werden. Er nutzt die Notlage, steuert das Schiff an jenen Uferfelsen, der nun Tells Platte heißt, springt mitsamt seiner Armbrust ans feste Land und stößt dabei das Schiff zurück in die tobenden Wellen. Mit den Worten, die Schiller dem Tell gibt: »Da sprach der Vogt zu mir: ›Tell wenn du dir’s Getrautest, uns zu helfen aus dem Sturm, So möchte ich dich der Bande wohl entled’gen.‹ Ich aber sprach: ›Ja, Herr. Mit Gottes Hülfe Getrau’ ich mir’s und helf’ uns wohl hiedannen.‹ So ward ich meiner Bande los und stand Am Steuerruder und fuhr redlich hin. Doch schielt’ ich seitwärts, wo mein Schießzeug lag, Und an dem Ufer merkt’ ich scharf umher, Wo sich ein Vorteil auftät’ zum Entspringen. Und wie ich eines Felsenriffs gewahre, Das abgeplattet vorsprang in den See – […] Schrie ich den Knechten, handlich zuzugehn, Bis daß wir vor die Felsenplatte kämen;

6

Nach wie vor höchst aufschlussreich die feinsinnige Interpretation der unterschiedlichen Nuancierungen des Tell-Stoffes durch Goethe und durch Schiller bei Weiss, Richard: Das Alpenerlebnis in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts, HorgenZürich/Leipzig: Verlag der Münster-Presse 1933, S. 121-138, bes. S. 137.

298 | M ARTIN SCHARFE Dort, rief ich, sei das Ärgste überstanden. Und als wir sie frisch rudernd bald erreicht, Fleh’ ich die Gnade Gottes an und drücke, Mit allen Leibeskräften angestemmt, Den hintern Gransen an die Felswand hin. Jetzt schnell mein Schießzeug fassend, schwing’ ich selbst Hochspringend auf die Platte mich hinauf, Und mit gewalt’gem Fußstoß hinter mich Schleudr’ ich das Schifflein in den Schlund der Wasser – Dort mag’s, wie Gott will, auf den Wellen treiben! So bin ich hier, gerettet aus des Sturms Gewalt und aus der schlimmeren der Menschen.«7

Soviel zur Sprung-Szene und zur Gestalt Tells, wie sie Friedrich Schiller im Drama gezeichnet hat. Andere Künstler haben die Gestalt, sagenhaften Vorlagen folgend, noch erhöht, indem sie aus ihr am Ende einen Märtyrer gemacht haben (der greise Tell rettet einen Knaben, der in einen tosenden Wildbach gefallen ist, und findet dabei selber den Tod8) – und eine mächtige Heldengestalt ohnehin, wie die Schlusszeilen aus Ludwig Uhlands Gedicht »Tells Platte« zeigen: »Und je wilder der Sturm, je höher brauset die Brandung, Um so mächtiger nur hebt sich die Heldengestalt.«9 7

Schiller, Friedrich: Wilhelm Tell, Tübingen: Cotta 1904, Kapitel 13, Verse 2242-2253

8

Uhland, Ludwig: Tells Tod, in: L. Uhland, Gedichte. Hg. von Hans-Rüdiger Schwab,

und 2257-2270. Frankfurt am Main: Insel-Verlag 1987, S. 290-293. Das Gedicht ist 1829 entstanden. – Eine weitere poetische Fassung der Sage »Tells Tod« stammt von Adrian von Arx und ist in Martin Distelis Schweizerischem Bilderkalender für das Jahr 1840 erschienen. Die vorletzte Strophe lautet: »Wohl faßt er schon den Knaben, doch wie er ringt und schafft,/Er fühlt, es ist gebrochen des Armes letzte Kraft./Noch einen Blick voll Lächeln auf seinen Heimathort,/Dann wälzten still die Wasser des Tellen Leiche fort.« Disteli, Martin: Schweizerischer Bilderkalender 1839-1845. Hg. von Hans Derendinger und Peter Killer. Olten: Oltner Tagblatt o. J. (1994), 2. Jg., S. 41. – Eine späte Bildfassung (1905) der Sage, gemalt von Hans Bachmann, findet sich in der Tellskapelle der Küssnachter Hohlen Gasse. 9

L. Uhland: Gedichte (wie Anm. 8), S. 108: Tells Platte. Das Gedicht aus dem Jahr 1810 lautet in voller Länge: »Hier ist das Felsenriff, drauf Tell aus der Barke gesprungen;/Sieh! Ein ewiges Mal hebet dem Kühnen sich hier./Nicht die Kapelle dort, wo sie jährliche Messen ihm singen!/Nein! des Mannes Gestalt, siehst du, wie herrlich sie

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Mehr muss nicht gesagt werden zur Heroisierung, ja Pathetisierung des Wildschützen und Tyrannnenfeinds aus dem Gebirge, der seine bildlich eindrücklichste, anschaulichste, jedenfalls aber massenwirksamste Darstellung im Gemäldezyklus Ernst Stückelbergs in der Tellskapelle am Urner See gefunden hat.10 Als diese Bilder entstanden – in den Jahren 1880 bis 1882 –, war gerade der Roman »Auch Einer« erschienen (1878) mit dem Untertitel: »Eine Reisebekanntschaft.« Verfasser war der württembergische Ästhetikprofessor Friedrich Theodor Vischer11, der einst sofort nach seiner Tübinger so modernen wie respektlosen Antrittsvorlesung als Privatdozent Berufsverbot (wie wir heute sagen würden) erhalten hatte und später dann ins schweizerische Ausland gegangen war. Der Autor trifft nun, so lesen wir im Roman, gleich auf der Dampfschiffreise über den Vierwaldstädter See auf einen eigenartigen Mann voll skurriler Gedanken und Gewohnheiten – eben auf jenen ›Auch Einen‹, vielleicht ein erdichtetes Alter Ego, oder (wie sich später ergibt) Albert Einhart, kurz: A. E. In A. E. breitet sich vor unserem Autor ein ganz ungewohnter Erfahrungs- und Gedankenkosmos aus. Denn er stellt die bürgerliche Weltsicht auf den Kopf: er meint nämlich, das ›Höhere‹ verstehe sich ›von selbst‹, also, möchten wir sagen: Kultur, Moral, sittliche Grundsätze. Wichtiger sei doch der ›Unterbau‹, die ›Basis‹; diese müsse funktionieren. Aber gerade da fehle es – den nobelsten Absichten komme das Bagatell in die Quere, der Zufall, das störrische, das tückische Objekt: ein abreißender Knopf, eine nicht mehr auffindbare Brille, ein unüberwindbarer Husten- und Niesreiz. Insbesondere die Rolle des Katarrhs in Philosophie und Weltpolitik und Geschichte hat es A. E. angetan, die weltumfassende Bedeutung von Schnupfen oder, wie der Autor, schweizerdeutsch versiert, sagt: Pfnüssel. Aus solcher Weltsicht ergibt sich nicht nur eine höchst amüsante Kulturgeschichte der Vorzeit (denn für die Menschen, die auf Pfahlbauten in Seen leben mussten, war natürlich die Erfahrung des Katarrhs die Grunderfahrung ihres Lebens und damit auch die Basis ihrer Welttheorie und ihrer Religion!), sondern auch: eine neue Sicht auf den Helden Tell – eine alternative Sicht, oder, wie A. E. behauptet: die Wahrheit. Da fragt der Autor Vischer dann: »Aber ich steht?/Schon mit dem einen Fuße betrat er die heilige Erde,/Stößt mit dem andern hinaus weit das verzweifelnde Schiff./Nicht aus Stein ist das Bild, noch von Erz, nicht Arbeit der Hände,/Nur dem geistigen Blick Freier erscheinet es klar;/ Und je wilder der Sturm, je höher brauset die Brandung,/Um so mächtiger nur hebt sich die Heldengestalt.« 10 Mit den Szenen des Apfelschusses, des Rütlischwurs, des Sprungs aus dem Schiff und des Gesslertodes. Die Lebensdaten Stückelbergs: 1831-1903. 11 Seine Lebensdaten: 1807-1887.

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bitte, was wäre denn hier die Wahrheit?« Und A. E. präsentiert seine subversive Version der Tell-Sage: »Nun, das sollte doch klar sein! Was anders, als daß, wenn man mit der Sage annimmt, Wilhelm Tell sei aus dem Schiff auf die Platte gesprungen, man notwendig auch annehmen muß, daß er ausrutschte und ins Wasser plumpte. Und nachher vollends mit einem Fußtritt das Schiff vom Ufer zurückstoßen? Im Sturm? Ich bitte! Das ist keine Kunst, sogenannte Tragödien, Dramen des hohen Stils zu dichten, wenn man den Zuschauern Sand in die Augen streut! Das ist leichter Idealismus, so hoch daherfahren. […] Also: Tell springt, gleitet aus, fällt ins Wasser. Wird herausgefischt, trotz allem Sträuben in den Kahn gezogen. Geßler ruft mit teuflischem Tone: ›So, jetzt verklabastert ihm den Sitzteil recht tüchtig!‹ Es geschieht, und zwar um so wirksamer, da Tells Hosen bereits durch die Nässe gespannt sind. […] Nun aber macht die Exekution den armen Heros so wütend, daß er mit der Kraft der Verzweiflung sich losreißt und trotz dem Sturm ins Wasser springt. In höchster Spannung erwartet der Zuschauer, ob es ihm gelingen wird, sich zu retten. Der Dichter darf es annehmen; Tell kann gut schwimmen und eine flache Uferstelle erreichen.«

Er flieht und rüstet sich, den verhassten Landvogt zu erschießen. Doch das misslingt. Denn in Albert Einharts Theaterversion »hört man nur eine Bogensehne schwirren, gleichzeitig ein ungemein starkes Niesen in einem Busch und die Worte: ›Verfluchter Zufall, List und Trug der Hölle!‹ Dies kann nicht mißverstanden werden. Tell hat sich ja natürlich verkältet und verniest seinen Schuß; Geßler ruft: ›Das ist das Niesen Tells, verfolget ihn.‹ Allein Tell hat noch Zeit, sich aus dem Staube zu machen.«

Und dann endet Einharts Tell-Geschichte, ganz passend wohl, höchst trivial; denn der Schweizer Älpler emigriert nach Wien, in die Großstadt , »erinnert sich an seine Geschicklichkeit in Holzarbeiten, wird Schreiner, zieht seine Familie nach« und lebt fortan in biederer Behaglichkeit. »Die Schlußszene« des imaginierten Theaterstücks, fügt Albert Einhart noch an, »gäbe ein herrliches, herzlich rührendes Tableau: der gerettete, wehmütig zufriedene Tell mit Weib und Kind in seiner Werkstätte.«12 Soweit also die ironische Demontage des Helden Tell, die Entmythisierung und satirische Enttarnung des Vaterlandsretters. Freilich lag mir nicht an Bei12 Ich zitiere nach der Ausgabe Vischer, Friedrich Theodor: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft. Mit einem Nachwort von Otto Borst, Frankfurt am Main: Insel-Verlag 1987, S. 40-42.

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spielen einer generellen Desavouierung des Helden – in diesem Fall: der Figur des Helden Tell –, sonst hätte ich etwa die Verwandlung Tells in einen aus dem Hinterhalt anrückenden armbrustbewehrten Frosch erwähnen müssen, den Martin Disteli wohl im Jahr 1837 in seine großartige Federlithografie des FroschMäuse-Krieges hineingezeichnet hat.13 Mir stand (und steht) vielmehr im Vordergrund das szenische Handeln – also die misslingende oder sonstwie unter unseren Blicken wegrutschende, jedenfalls entmythisierende Szene, also etwa Tells Fehlsprung mit seinen unerwarteten Folgen, wie ihn A. E. so luftig vor sich und uns hinfantasiert. Vischers Roman liefert, freilich getarnt und versteckt, noch eine weitere Geschichte vom tragisch-komischen Scheitern eines gutmeinenden Retters – einen zweiten Fall im Doppelsinne, eine weitere »seltsame Verknüpfung des Furchtbaren mit dem Komischen«.14 Die beiden Reisenden haben sich auf dem Weg zum Gotthardpass für kurze Zeit verloren, doch in der Schöllenen, der wilden Reußschlucht, treffen sie erneut aufeinander – aber in welch eigenartiger Konstellation! »Und jetzt, – halt, was sehe ich? Täuscht es mir der Schwindel vor? Auf dem Vorsprung eines der granitenen Felsungeheuer eine Gestalt – ist es möglich? Kann ein Mensch dort hinaufgelangen? – und die Gestalt: ich erkenne sie – A. E.! Den Rücken an die Felswand gestemmt, einen Fuß vorgestellt, die Faust himmelwärts geballt – der Sturm wühlt in seinen Locken – den leichten Mantel, den er auf der Wanderung gerollt über die Schulter getragen, hat er umgenommen, er flattert in den Stößen und Wirbeln der Windsbraut, und sie zaust und zaust, bis er ihm vom Leibe gezerrt ist, dort fliegt er, bleibt an einem Dornbusch hoch an der Felswand wie eine gespießte Fledermaus hängen – aber A. E. selbst – man sieht: er spricht laut – man kann nicht hören – «

13 Vgl. Wälchli, Gottfried: Martin Disteli 1802-1844. Romantische Tierbilder, Zürich/Leipzig: Amstutz 1940, S. 25, Abb. S. 85. – Zur Deutung des Bildes im Kontext von Distelis gesellschaftlich-politischer Position vgl. Wiebel, Bernhard: Erstechen – erschlagen – erschießen. Randzeichnungen von Martin Disteli (1802-1844) zu Wilhelm Tell’s »zweitem Pfeil«, in: Librarium. Zeitschrift der Schweizerischen Bibliophilen-Gesellschaft 2016, Nr. 2, S. 115-126; hier: bes. S. 126. – Bernhard Wiebel, Zürich, danke ich für zahlreiche Anregungen! 14 F. Th. Vischer: Auch Einer (wie Anm. 12), S. 56 (Vischers Wendung bezieht sich an dieser Stelle auf den eigentümlichen Kontrast, den ihm ein kümmerliches Kartoffeläckerchen auf einem mächtigen Felsblock über der wild schäumenden Reuß bildet).

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Die Wortfetzen, die an das Ohr dringen, die wilden Gebärden der Einhart-Gestalt auf dem Felsen erinnern den Autor an den wirren Dichter Hölderlin, Angst ergreift ihn. Denn: »Er tat auf der Spanne Raums über dem Abgrund einen Schritt – eine kupferrot glühende Wolke war über der Schlucht aufgezogen, auf deren Grunde sich dunkel die wilde Gestalt abhob, über ihm flatterte, gegen die Sturmwirbel mit rudernden Schwingen anstrebend und zappelnd, ein Rabe – tödliche Angst um den Unglücklichen malte mir im Nu das Bild vor, wie er zerschellt in der Tiefe liege, ein Schmaus den Vögeln des Himmels, ich mußte ihn retten, suchte weiter aufzuklettern, gelangte mit äußerster Not langsam um ein paar Schritte vorwärts, aber jetzt wackelte unter meiner Fußspitze das schmale, kaum zollbreit ausgeladene Felsstückchen und unter der greifenden Hand der kleine Zacken – ein Angstschrei – ich fiel, ich verlor das Bewußtsein.«15

Es stürzt also nicht, wie man befürchten musste, der scheinbar verrückte Einhart, sondern der Retter selbst (dem freilich nichts Schlimmes passiert): eine groteske Verkehrung unserer Erwartungen – und zugleich eine schelmische Persiflage auf eine der dramatischsten Szenen in Byrons ›dramatischem Gedicht‹ Manfred aus dem Jahre 1817. Denn da will sich der »Selbstzerstörer«16, wie er sich nennt, Manfred, ein Faust-Typ, von der Spitze des Jungfrauhorns in die Tiefe stürzen (»Nimm Erde du/Nun die Atome!«17), wird aber von einem Gemsenjäger am Fallen gehindert.18 Auch hier ist es wieder so, dass sich die Szene mehr durch eine Bildschöpfung als durch das Theater in der Erinnerung festgebissen hat: Johann Peter Krafft (dessen einsam auf dem Felsen stehenden Erzherzog Johann wir vor Augen haben19) hat sie zwischen 1821 und 1825 gleich mehrfach gemalt – vor allem aber ist das Motiv im Stahlstich massenhaft verbreitet worden.20

15 Ebd. S. 57, S. 60. 16 [Byron, George Noel Gordon Lord]: Byron’s sämmtliche Werke. [Hg.] von Adolf Böttger. 6. rev. und verb. Aufl., Leipzig: Wigand 1864. Band 5, S. 1-49; hier: S. 48. 17 Ebd. S. 14. – Hervorhebung in der Böttgerschen Ausgabe. 18 Ebd. 1. Aufzug, 2. Szene (S. 11-15). 19 Vgl. Scharfe, Martin: Bilder aus den Alpen. Eine andere Geschichte des Bergsteigens, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2013, S. 118 (Abb.) -120. 20 Vgl. ebd. S. 152 (Abb.) -154.

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D IE HEILIGSTEN D INGE VERSPOTTET (Die ›klassische‹ Ironie-Debatte: Moritz, Schlegel, Kierkegaard) In allen diesen Fällen und Stürzen ging es unverkennbar stets auch um die allegorische Fallhöhe – also um den Kontrast zwischen dem Heilig-Hohen und dem Nieder-Komischen; oder vielmehr: Das Niedrig-Komische erwies sich als Resultat des zu Fall gebrachten Heilig-Hohen. Das ist nun wahrhaftig keine neue Erkenntnis; doch gerade deshalb ist es vielleicht nützlich, einen kurzen Blick auf die Geschichte der Diskussion über die Ironie – über ihre (der Ironie) Art, über ihre Leistung – zu werfen. »Warum«, fragt Karl Philipp Moritz im Jahr 1790, warum »sind die Anekdotenbücher so voll von komischen Predigergeschichten? Warum hat man nichts lieber als Erzählungen von Unschicklichkeiten und Lächerlichkeiten des Pfarrers auf der Kanzel? Kömmt es nicht daher, weil man einen gewissen angenommenen feierlichen Ernst schon voraussetzt, mit dem das geringste Komische weit mehr, als im gemeinen Leben absticht?«21 Erst die ›angenommene Feierlichkeit‹22 – also: die aufgesetzte, die gespielte Feierlichkeit – sei es, die eine »komische Larve« erzeuge.23 Und Moritz stülpt in seinem Roman »Andreas Hartknopfs Predigerjahre« nicht wenige solcher ›komischen Larven‹ über feierlich veranstaltete Szenen: Wir sehen den hochgewachsenen Pfarrer Hartknopf, der im Enthusiasmus seiner Antrittspredigt zum Schrecken und Gaudium seiner Gemeinde die hölzerne Heilig-Geist-Taube, die unterm Kanzelbaldachin hängt, herabstößt; wir sehen die große Engelsfigur auf der Empore, die umstürzt, weil der Kantor den Takt für Chor und Orchester zu heftig mit dem Fuß tritt; wir hören am Ende das große Einsatzdurcheinander, welches aus dem vorgesehenen feierlichen Halleluja ein grotesk-komisches Ha-ha-ha macht.24 Ohnehin kratzt der Prediger Hartknopf auf eigenwillig-skurrile Weise – doch durchaus mit theologischen Privatgründen – an den heiligen Dogmen: zum Abendmahl isst er einen Rettich, den Segen spendet er statt mit dem Kreuzzeichen mit dem mathematischen Gleichheitszeichen, und aus der Dreieinigkeit macht er eine Viereinigkeit. 25 Die Ketzerei ist komisch,

21 Moritz, Karl Philipp: Andreas Hartknopfs Predigerjahre (1790), in: K.Ph. Moritz, Andreas Hartknopf. Eine Allegorie. Andreas Hartknopfs Predigerjahre, hg. von Martina Wagner-Egelhaaf, Stuttgart: Reclam 2001, S. 105-193; hier: S. 164. 22 Vgl. ebd. S. 165. 23 Ebd. S. 164. 24 Vgl. ebd. S. 160f. 25 Vgl. ebd. S. 109, S. 126, S. 112.

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das Komische ist hier identisch mit dem Gotteslästerlichen. Nur wenige Jahre später, 1798, hat Friedrich Schlegel, der wohl mit Recht als Gedanken- und Wortführer der frühen Ironiedebatte gilt, ihre Grundidee mit dem Satz zu umreißen versucht: »Wir müssen uns über unsre eigne Liebe erheben, und was wir anbeten, in Gedanken vernichten können«.26 Zwei Betonungsmöglichkeiten dürfen freilich nicht übersehen werden: Wir sollen das als unumstößlich Geltende vernichten; aber (und das ist der Beitrag der abendländischen Aufklärung): eben nur in Gedanken. Denn Kultur ist: was den Widerspruch zulässt – etwa den Widerspruch der Ironie. Allerdings ist zu bedenken, dass Ironie dann nicht nur das bedeutet, was unser Alltagsgebrauch des Wortes meint – nämlich: schelmisch-spaßhaft und mit der Maske der Naivität das Gegenteil dessen meinen, was man sagt (also etwa: mit gespieltem Ernst tadeln, um ein Lob auszudrücken). Es war vor allem Sören Kierkegaard, der nach umfassender Sichtung der Quellen – nicht zuletzt auch der sokratischen Philosophie – die Grundlage für ein modernes Ironieverständnis geschaffen hat, und das heißt zugleich: ein für kulturwissenschaftliche Tätigkeit brauchbares Ironieverständnis. »Ebenso wie die Philosophie mit dem Zweifel« – so lautet die 15. und letzte der Thesen seiner Dissertation –, »ebenso beginnt ein Leben, das menschenwürdig genannt werden kann, mit der Ironie.«27 Denn Ironie sei »der sichere Blick für das Schiefe, das Verkehrte, das Eitle am Dasein«28 – also eine grundsätzliche Haltung, eine Attitüde, die Distanz schafft: »Die Ironie ist ein Organ, ein Sinn für das Negative.«29 Und dieser ›Sinn‹, dieses ›Organ‹ verhilft dem Subjekt zu einem »dauernden Rückzuge«, der ihm erlaubt, »sich selber zu retten«.30 Mit den neueren Worten Peter Szondis heißt das: Ironie ist der Versuch des Menschen, »seine kritische Lage durch Abstandnahme und Umwertung auszuhalten«.31

26 Schlegel, Friedrich: Über Goethes Meister [1798], in F. Schlegel, »Athenäums«Fragmente und andere Schriften. Hg. von Andreas Huyssen, Stuttgart: Reclam 2005, S. 143-164; hier: S. 148. 27 Kierkegaard, Sören: Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates [1841], in: S. Kierkegaard, Gesammelte Werke. Hg. von Emanuel Hirsch und Hayo Gerdes. 31. Abt. – 4. Aufl., Gütersloh: Mohn 1998, S. 4. 28 Ebd. S. 261. 29 Ebd. S. 315 (über die Ironie-Theorie Karl Wilhelm Ferdinand Solgers). 30 Ebd. S. 262. 31 Szondi, Peter: »Friedrich Schlegel und die romantische Ironie. Mit einer Beilage über Tiecks Komödien«, in: ders., Satz und Gegensatz. Sechs Essays, Frankfurt am Main: Insel-Verlag 1964, S. 5-24; hier: S. 17.

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D IE KULTURELLE AMPLITUDE DER HÖHEREN N ARRHEIT (Hölderlins Empedokles und Raspes Münchhausen) Kritische Distanz kann sich indessen auf unterschiedliche Weise realisieren: etwa als moralischer Protest oder als politische Handlung, vielleicht auch als Karikatur. Die ironische Demontage, um die es mir geht, hat mit alledem nichts zu tun. Das versteht sich von selbst im Fall des moralischen oder politischen Protests. Aber auch der Protest der Karikatur oder Satire bleibt noch nah am Gegenstand der Kritik – klebt also an der Gestalt selbst: Tell etwa bei seinem Sprung müsste in der Karikatur als (ganz sicher: verfremdeter) Kraftprotz erscheinen. Doch der ironische Einwand Albert Einharts behandelt den vorgeblich heldischen Sprung auf eine – im Wortsinne! – ver-rückte Weise: er lässt ihn – in einer ›missglückenden‹ Szene! – lächerlich scheitern. Kierkegaard hat ein solches Vorgehen »den Versuch der Ironie« genannt, »die auseinandergetretenen Momente zu vermitteln, nicht in höherer Einheit, sondern in höherer Narrheit«.32 Dieses Scheitern des Versuchs der Vermittlung in einer Szene höherer Narrheit ist möglicherweise ein entscheidender Punkt aller ironischen Demontageversuche – ich darf ein weiteres Beispiel anfügen, eine weitere Sturzgeschichte, eine weitere Sturz-Szene mit ironischer Doppelung. Im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts befasste sich Friedrich Hölderlin intensiv mit dem Empedokles-Mythos, wie ihn Diogenes Laërtius überliefert hat33; 1799 war eine erste Fassung fertiggestellt. Empedokles, dem griechischen Arzt und Naturforscher auf Sizilien (dort gestorben im Jahr 424 vor Christi Geburt), gelingt es, die Gesetze der Natur völlig zu durchschauen – er wird dadurch selbst zum Gott: »Ich kannt es ja, ich hatt es ausgelernt, Das Leben der Natur, wie sollt es mir Noch heilig sein, wie einst! Die Götter waren Mir dienstbar nun geworden, ich allein War Gott, und sprachs im frechen Stolz heraus

32 S. Kierkegaard: Über den Begriff der Ironie (wie Anm. 27), S. 261. – Wenn ich den typographischen Übungen der Herausgeber trauen darf (die Stelle ist nicht gesperrt gedruckt), hat Kierkegaard an dieser Stelle darauf verzichtet, die Originalität des Gedankens zu markieren; es wäre ihm dann die Auseinandersetzung mit (und Absetzung von) Hegel wichtiger gewesen. 33 Vgl. Diogenes Laërtius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen, Hamburg: Meiner 1998, S. 143f.

306 | M ARTIN SCHARFE O glaub es mir, ich wäre lieber nicht Geboren!«34

Empedokles muss also sterben: »Und heute noch begegn’ ich ihm, denn heute Bereitet er, der Herr der Zeit, zur Feier, Zum Zeichen ein Gewitter mir und sich. […] Und itzt der Herrscher kömmt in seinem Strahl, Dann folgen wir, zum Zeichen, daß wir ihm Verwandte sind, hinab in heilge Flammen.«35

Empedokles, der gottgleich Gewordene, der auf den Ätna gestiegen ist, springt also im Gewitter in den glühenden Krater des Vulkans hinunter (Abb. 1). Abbildung 1: Empedokles stürzt sich in den Krater des Ätna. Federskizze von Salvator Rosa, um 1670.

Quelle: Faksimile in Privatsammlung. 34 Ich zitiere nach Hölderlin, Friedrich: Der Tod des Empedokles. Trauerspiel. Erste Fassung, in: Fr. Hölderlin, Hyperion. Empedokles. Hg. von Klaus Pezold, Leipzig: Reclam 1970, S. 159-219; hier: S. 172f. 35 Ebd. Dritte Fassung, S. 245-260; hier: S. 258f.

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Die Kontergeschichte, die ich angekündigt habe, ist natürlich die bekannte Münchhausen-Episode, die wir alle in der Fassung Gottfried August Bürgers kennen. Geschrieben und im Jahre 1785 publiziert hat sie der als Historiker, vor allem aber als herausragender Naturforscher (und da vor allem als Vulkanologe) tätige Rudolf Erich Raspe (1736-1794), der von seinem Hauptwirkungsort Kassel nach England hatte fliehen müssen – von dort aus verbreitete sie sich dann auch im deutschen Sprachkreis.36 Auch Münchhausen also springt in den feurigen Krater des Ätna, aber mit gänzlich anderer Absicht als Empedokles – vor allem jedoch mit anderem Schicksal. Zunächst erhält er vom Unterweltgott Vulkan ironische Aufklärung über das Funktionieren des glühenden Erdinneren. Doch da Münchhausen ein Auge auf Vulkans schöne Gemahlin Venus wirft, wird dieser eifersüchtig, packt Münchhausen am Kragen und hält ihn über eine Brunnenöffnung (Abb.2). »›Undankbarer Sterblicher‹, sagte er«, erzählt der Lügenbaron, »›kehre zurück zu der Welt, von der du kamst!‹ Mit diesen Worten ließ er mich, ohne mir einen Augenblick Zeit zur Verteidigung zu geben, mitten in den Abgrund fallen Ich fiel und fiel mit immer zunehmender Geschwindigkeit, bis die Angst meiner Seele mir endlich alle Besinnung nahm. Plötzlich aber wurde ich aus meiner Ohnmacht aufgeweckt, indem ich auf einmal in eine ungeheuere See von Wasser kam, die durch die Strahlen der Sonne erleuchtet wurde.«37

Man kennt die Pointe: Münchhausen ist durch den Mittelpunkt der Erde gefallen und in der Südsee wieder aufgetaucht. Der kleine Scherz des Barons, dieser Weg sei jedenfalls kürzer als derjenige um die halbe Welt, lässt uns nochmals Kierkegaards Aperçu von der höheren Narrheit in den Sinn kommen, dazu aber doch gleich auch die Frage, ob wir die ironischen, also die verballhornten Doppelungen einer Idee stets als Antwort verstehen müssen – und zwar als Antwort auf 36 Vgl. Linnebach, Andrea (Hg.): Der Münchhausen-Autor Rudolf Erich Raspe. Wissenschaft – Kunst – Abenteuer, Kassel: Euregio-Verlag 2005. – Auch meine Einblicke in die Münchhausen-Problematik verdanke ich Bernhard Wiebel in Zürich. 37 Ich zitiere nach der Insel-Ausgabe des schönen Bürgerschen Textes. Bürger, Gottfried August: Wunderbare Reisen zu Wasser und zu Lande, Feldzüge und lustige Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen, wie er dieselben bei der Flasche im Zirkel seiner Freunde selbst zu erzählen pflegte, Frankfurt am Main/Leipzig: Insel-Verlag 1997, S. 103f. – Seit kurzem liegt eine von Stefan Howald besorgte Neuübersetzung des englischen Urtextes von Raspe vor: Raspe, Rudolf Erich: Münchhausens Abenteuer. Die fantastischen Erzählungen vollständig aus dem Englischen übersetzt, hg. von Stefan Howald und Bernhard Wiebel, Frankfurt am Main: Stroemfeld 2015; die einschlägige Stelle hier auf S. 87.

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der Zeitenachse, wonach die ironische Formulierung, als kulturelle Reaktion, stets der pathetischen Formulierung zu folgen hätte. Es dürfte sinnvoller sein, von kulturellen Ambivalenzen (von kulturellen Mehrdeutigkeiten) einer Epoche zu reden oder von einer kulturellen Amplitude: so wie die mathematischphysikalische Amplitude die weitesten Ausschwingungen eines Pendels meint, so würde die kulturelle Amplitude die weitesten Ausschwünge konträrer und kontroverser Tendenzen eines Zeitalters markieren; und beide Tendenzen gehörten dicht zueinander: sowohl die Behauptung des Pathetischen als auch der Versuch ihrer ironischen »Annihilation«.38 In jedem Falle aber wäre der aufregende Gedanke Kierkegaards zu prüfen: dass nämlich »jede Entwicklung« »erst mit ihrer Parodie fertig« sei.39 Abbildung 2: Unterweltgott Vulkan wirft Münchhausen in den Ätna-Schlot. Holzstich nach einer Zeichnung von Gustave Doré, 1862.

Quelle: Abenteuer und Reisen des Freiherrn von Münchhausen. Neu bearbeitet. Illustriert von Gustave Doré. Augsburg 1997, S. 145.

38 In der neueren Debatte über die Ironie ist auf »das in der wahren Ironie liegende Annihilationsmoment« hingewiesen worden. Strohschneider-Kohrs, Ingrid: Die romantische Ironie in Theorie und Gestaltung, 2. erw. Aufl., Tübingen: Niemeyer 1977, S. 199. 39 Kierkegaard, Sören: Die Tagebücher 1834-1855, 4. Aufl., München: Kösel 1953, S. 64 (20. Nov. 1836).

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B ITTERKEIT DES L ACHENS (Whymper und Daudets Tartarin samt Bompard, oder: Die Persiflage der reizenden Verruchtheit) Ironische Verneinung (und zwar auf mehrfache Weise!) – diese Formel taugt auch für mein letztes Beispiel, das ich unter die Überschrift »Bitterkeit des Lachens« setze.40 Ich ziehe das Exempel aus einem Roman von Alphonse Daudet, der im Jahr 1885 in Paris und im folgenden Jahr auch schon in deutscher Übersetzung erschienen ist – also kurz nach Vischers Roman »Auch Einer«: »Tartarin in den Alpen«; schon der Untertitel deutet die närrische Tendenz an: »Neue Ruhmesthaten des Helden von Tarascon.«41 Denn Tartarin, der ›Held‹, ist selbst ganz Pathos – ein provençalisches Original, dem man nicht böse sein kann, ein liebenswertes Großmaul. Er ist Präsident des Alpenklubs im Städtchen Tarascon an der unteren Rhone, eines Vereins, dessen größte alpinistische Leistung bislang die Aufpflanzung des Klubbanners auf einem Felsen der kahlen, nur mit Stachelgewächs überzogenen Alpillen gewesen war – eines ein paar Kilometer weiter östlich gelegenen Höhenzugs, der nicht einmal die Vierhundertmetermarke erreicht. Da nun Vereinspräsidentschaftswahlen anstehen und die Kandidatur eines Nebenbuhlers droht, möchte sich Tartarin mit einer alpinistischen Großtat empfehlen: mit nichts Geringerem als der Aufpflanzung der Klubfahne auf dem schweizerischen Jungfrauhorn. Vischer hätte seinen A. E. zu solcher Tat sagen lassen: nichts als ironische »Abschnappungen einer poetischen Anschauung«!42 – Tartarin übt also Alpinismus, rüstet sich aus und reist in die Schweiz. Ich kann den Verästelungen der reizvollen Geschichte – mit Morddrohungen und Machenschaften von Agenten des russischen Geheimdienstes und artigen Liebeleien! – nicht folgen, muss aber erwähnen, dass Tartarin im Rigi-Hotel einen gewaltigen Schrecken bekommt, als er dort Gustave Dorés Lithografie der Matterhorn-Katastrophe sieht: der Gipfel des Matterhorns war erstmals erreicht

40 Von der »Bitterkeit« als einer der möglichen Quellen der »Fertigkeit«, alles »von der komischen Seite zu nehmen«, spricht Carl Julius Weber im 28. Kapitel des 1. Bandes seines »Demokritos« (1832). Vgl. Scharfe, Martin: »Bitterkeit des Lachens? Carl Julius Weber und die Ironie«, in: Martin Blümcke/Friedemann Schmoll (Hg.), Karl Julius Weber. Verneigung vor einem aufgeklärten Kopf. Leben, Wirken, Wirksamkeit, Tübingen: Klöpfer & Meyer 2017, S. 66-88; hier S. 75. 41 Ich benütze die Ausgabe: Daudet, Alphonse: Tartarin in den Alpen. Neue Ruhmesthaten des Helden von Tarascon. Autorisirte Uebersetzung von Stephan Born, Leipzig: Le Soudier 1886. 42 F. Th. Vischer: Auch Einer (wie Anm. 12), S. 82.

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worden, aber gleich zu Beginn des Abstiegs glitt einer der Bergsteiger aus und riss die anderen, die alle zusammen angeseilt waren, mit – nur weil das Seil selbst riss, konnten sich die letzten drei Männer retten, die vier anderen stürzten in den Tod. Ich muss selbst jene Romanszene, die in der Tellskapelle am See spielt, übergehen, wo Tartarin den Maler belehrt, wie die Armhaltung des Armbrustschützen in der Apfelschussszene zu gestalten sei43, erwähne nur kurz die gelungene Ersteigung der Jungfrau und den Plan des übermütig gewordenen Tartarin, am Ende sogar den Gipfel des Montblanc zu betreten. Doch auf der Montblanc-Tour kommt’s zum Fiasko: beim Abstieg nämlich verirrt sich Tartarin mit seinem tarasconesischen Kumpanen Bompard, auf den er auf der Reise gestoßen war, und mit dem er sich zusammengetan hatte; sie kommen am Dôme du Goûter in eine brenzlige Situation. Bompard hängt schon jenseits der Schneide eines Firngrats am Seil, Tartarin diesseits – da werden beide, die sich doch Treue und gegenseitige Hilfe bis in den Tod geschworen hatten, von der Angst übermannt und versuchen ihr Leben zu retten: »mit derselben instinktiven Geste zerschnitten sie das Seil«, lesen wir, »Bompard mit seinem Messer, Tartarin mit einem Hieb seiner Eishacke. Entsetzt über ihre grause That, der Eine gleich dem Andern fest überzeugt, dass er seinen Freund geopfert, flohen sie Beide in entgegengesetzter Richtung.«44

43 Im Unterschied zu Daudet wissen wir modernen Medienprofiteure, dass die genannte Szene Stückelbergs eben gerade nicht den Schuss zeigt! 44 A. Daudet: Tartarin in den Alpen (wie Anm. 41), S. 308.

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Abbildung 3: Der fatale Selbstrettungsversuch auf der Firnschneide – vorn Tartarin, hinten Bompard. Chromolithografie nach einem Aquarell von Felician Myrbach von Rheinfeld, 1885.

Quelle: Alphonse Daudet: Tartarin in den Alpen. Neue Ruhmesthaten des Helden von Tarascon. Leipzig 1886, S. 281.

Wir Leser wissen natürlich, dass die Geschichte gut ausgeht, aber unsere Helden nicht; sie leiden unter heftigen Gewissensqualen – Tartarin, der sich nach Tarascon hineinschleicht, hält das Geläute, das zu seiner eigenen Trauerfeier anhebt, für das Trauergeläute zu Ehren Bompards, undsoweiter. Die eigentliche Pointe der Seilschnittszene ist freilich ihr Charakter als Persiflage des Matterhorn-Sturzes im Jahr 1865, dessen Bild Tartarin so beeindruckt hatte. Denn gleich nach diesem Unglück war das Gerücht aufgekommen, der Initiator der Tour, der Engländer Edward Whymper, habe das Seil durchgeschnitten, um sich selber zu retten. Whymper selbst versuchte zu beweisen, dass das

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Seil gerissen sei45, aber die Diskussion ist bis heute nicht verstummt46 – und ein kleines tragikomisches Echo ist auch die Tartarin-Episode. Abbildung 4 (links): Das gerissene Matterhorn-Seil. Holzstich von Edward Whymper, 1871. Abbildung 5 (rechts): Das doppelt gekappte Seilstück der Tarasconesen. Buchillustration, 1886.

Quelle Abbildung 4: Edward Whymper: Berg- und Gletscherfahrten in den Alpen in den Jahren 1860 bis 1869. Braunschweig 1872, S. 493. Quelle Abbildung 5: Alphonse Daudet: Tartarin sur les Alpes. Paris 1886, S. 348.

Dass Tartarin freilich überhaupt der Mut zu seinen alpinistischen Taten gewachsen war – nach dem Schrecken, den ihm das Matterhornbild eingejagt hatte –, lag an der Fabulierlust und -kunst Bompards. Denn der hatte ihm versichert, die ganze touristische Schweiz sei eine Inszenierung, betrieben von einer ungeheuer vermögenden Kapital-Compagnie mit Sitz in Genf und London: »Wasserfälle a

45 Vgl. dazu z.B. die Abbildungen in Whymper, Edward: Berg- und Gletscherfahrten in den Alpen in den Jahren 1860 bis 1869. Autorisirte deutsche Bearbeitung von Dr. Friedrich Steger, Braunschweig: Westermann 1872, S. 487, S. 493 und S. 494. 46 Luis Trenker gar lässt in seinen beiden Matterhornfilmen »Der Kampf ums Matterhorn«, 1928, und »Der Berg ruft«, 1937, den italienischen Konkurrenten Whympers, Anton Carrel, das zerfetzte Seilstück finden.

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giorno beleuchtet, Drehkreuze am Eingang zu den Gletschern«47, predigende Geistliche auf grünen Alpmatten, Sennen und Frauen in Landestracht in malerischen Grüppchen aufgestellt zwischen Kühen mit schweren Glocken: alles teure Einrichtungen der Compagnie – so eindrucksvolle wie aufwendige Inszenierungen zur Ankurbelung des Tourismus.48 Die größten Kosten indessen bereite der Unterhalt der Gletscherspalten: »›Sie fallen auf den Schnee, Herr Tartarin, und Sie thun sich nicht sehr wehe. Unten, in der Tiefe, steht immer ein Portier, ein Jäger, irgend Jemand da, der Sie aufhebt, Sie abbürstet, schüttelt und höflichst sich erkundigt: ›Haben der Herr auch Gepäck?…‹«49 Also: »›Gleiten Sie zu… Es geht wie auf der Bühne… Es ist alles darauf eingerichtet… Man riskirt nichts...‹.«50

Wenn wir also – und damit bin ich am Ende meiner Beispielsreihe angelangt – Ironie begreifen wollen als eine kulturelle Methode zur Hinterfragung und Entlarvung des Scheines, dann ist sie im fantastischen Lügengespinst Bompards von jener höheren Narrheit, von der Kierkegaard gesprochen hatte; denn Bompard hatte ja nicht den Schein mit der Wirklichkeit verglichen und damit denunziert; sondern er hatte – umgekehrt fast – die Wirklichkeit zum puren Schein erklärt. Es ist also an der Zeit, nochmals kurz innezuhalten und endlich zu fragen, was denn der Gewinn unserer Beispielsbetrachtungen sei. Ich versuche ein vorläufiges Fazit in sieben Punkten:

47 A. Daudet: Tartarin in den Alpen (wie Anm. 41), S. 104. 48 Vgl. ebd. S. 108. 49 Ebd. S. 104. 50 Ebd. S. 107. – Es verdient angemerkt zu werden, dass der Tübinger Medizinprofessor Ploucquet exakt ein Jahrhundert früher schon den Verdacht geäußert hatte, die damals neue Theorie vom Fließen der Gletscher sei eine Erfindung der Schweizer, mit der sie ihr Land den Reisenden interessant machen wollten. Vgl. Ploucquet, D. [=Ploucquet, Wilhelm Gottfried]: Vertrauliche Erzählung einer Schweizerreise im Jahr 1786 in Briefen, Tübingen: Heerbrandt 1787, S. 87f.

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D AS ›M ASSAKER DER I LLUSIONEN ‹ ALS KULTURELLE P RODUKTIVKRAFT (Versuch eines Fazits) 1. Der Schein versteht sich von selbst. Einer der wiederkehrenden Merksätze des Antihelden A.E., der Tell ganz unheroisch hatte ins kalte Wasser plumpsen lassen, lautete: »Das Moralische versteht sich immer von selbst.«51 Und die Nutzanwendung dieser Einsicht lautete dann: »Das Höhere versteht sich ja immer von selbst! Für die Basis, die Vorbedingung, muß gesorgt werden.«52 Das sollte aber doch wohl heißen: Die Emphase, der höhere Schein, die Illusion ist das Übliche, das als wirklich und selbstverständlich Geltende, dessen Demaskierung in gleichsam materialistischer, jedenfalls entmythisierender Geste vom wachen Bewusstsein zu betreiben sei; und die treibende Kraft dieser kritischen Gebärde sei die Ironie. 2. Entmythisierung. Ironie ist eine kulturelle Methode oder Strategie zur Hinterfragung des ideologischen Scheins – in unserem Falle: zur Hinterfragung und Enttarnung des HeldenScheins.53 Ironie betreibt also das Geschäft der Entmythisierung; am Ende will sie ein »Massaker der Illusionen« bewirken.54 3. Ohne Eifer, und souverän. Freilich reißt Ironie den Helden-Schein nicht in jener panischen Reaktion herunter, die etwa dem religiösen Eiferer eigen ist. Sie leistet die Entmythisierung vielmehr mit souveräner Gebärde.

51 F. Th. Vischer: Auch Einer (wie Anm. 12), z.B. S. 25, S. 291. 52 Ebd. S. 343. 53 Man spricht vom Heiligenschein. Warum sollte man also nicht von einem Heldenschein reden, den es herunterzureißen gelte? 54 Ich entlehne den Ausdruck dem deutschen Titel einer Auswahl von Reflexionen Giacomo Leopardis (1798-1837), die zumeist aus seinem Zibaldone stammen (entstanden zwischen 1817 und 1832). Der Titel der italienischen Vorlage lautet: La strage [eigentlich: das Blutbad, MSch.] delle illusioni. – Leopardi, Giacomo: Das Massaker der Illusionen. Ausgewählt und kommentiert von Mario Andrea Rigoni. Aus dem Italienischen von Sigrid Vogt, Frankfurt am Main: Eichborn 2002.

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4. Entblößung in Heiterkeit. Entmythisierung darf durchaus mit ›heiligem Ernst‹ geschehen, man denke etwa an David Friedrich Straussens »Leben Jesu« von 1835/3655 – sie kennt und erlaubt aber auch eine heitere Variante, wie sie aus Karl Philipp Moritzens »Andreas Hartknopf« herausblitzt oder, ein rundes Jahrhundert später, etwa aus Wilhelm Buschs »Frommer Helene« oder aus seinem »Heiligen Antonius«. A.E.s oder vielmehr Vischers ironischer Demaskierung des Tellschen Heldenscheins war ja schon in den fünfziger Jahren des 18. Jahrhunderts ein bitterernster Anlauf vorausgegangen: jener quellenkritische Versuch Uriel Freudenbergers und Gottlob Emanuel von Hallers, die Tellengeschichte als »Dänisches Mährgen« zu entlarven.56 5. Vernichtung nur in Gedanken. Es ist eine der großen Stärken der ironischen Entmythisierung des Heldenscheins, dass sie zwar vernichtet – aber eben nur virtuell. Nicht Leib und Leben werden bedroht, sondern angemaßter Schein: »was wir anbeten, in Gedanken vernichten können«, hatten wir bei Friedrich Schlegel gelesen!57 Die Beschränkung auf die rein gedankliche Vernichtung aber nimmt dem Helden und dem Märtyrer die Möglichkeit, sich im wirklichen Untergang zu genießen.58 6. Selbstbezogenheit. Ohnehin zielt das Vorhaben der ironischen Entmythisierung angemaßten oder zugeschriebenen Heldentums nicht auf Vernichtung des ›Helden‹ ab. Es ist nicht aggressiv. Es ist vielmehr insofern selbst-süchtig, als es dazu dienen soll, einen

55 Strauss, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. 2 Bände, Tübingen: Osiander 1835/1836. – Vgl. dazu auch die großartige, kongeniale Studie von Schweitzer, Albert: Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, 9. Aufl., Tübingen: Mohr 1984 (1. Aufl. mit anderem Titel 1906). 56 Vgl. dazu Hentschel, Uwe: Faszination Schweiz. Zum deutschen literarischen Philhelvetismus des 18. Jahrhunderts, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 96/2000, S. 29-53; hier S. 41. 57 Wie Anm. 26. – Hervorhebung von mir, MSch. 58 Den »reichlichen, überreichlichen Genuss auch am eignen Leiden, am eignen Sichleiden-machen« beobachtet und entdeckt zu haben gehört ja zu den großen Verdiensten Nietzsches. Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft (1886), in: Fr. Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, 2. Aufl., München usw.: DTV 1988, Band 5, S. 8-243; hier S. 166 (in § 229).

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festen eigenen Standpunkt zu finden. Deshalb konnte – ich habe es schon erwähnt – Kierkegaard ja sagen, Ironie sei ein »Organ«, ein »Sinn für das Negative«, der seinen Sitz im Subjekt habe (und also dem Subjekt diene). 59 Es gelte folglich, so hatte Friedrich Schlegel eine seiner Figuren argumentieren lassen, »diesen Sinn für das Groteske in uns zu bilden, und uns in dieser Stimmung zu erhalten«: »Laputa ist nirgends und überall, liebe Freundin; es kommt nur auf einen Akt unsrer Willkür und unsrer Fantasie an, so sind wir mitten darin«.60 Ironie als subjektiver Willkürakt – das bedeutet aber allemal: Selbsttätigkeit. 7. Nachhaltigkeit. Die ironische Version der Entmythisierung ist beileibe nicht nur unterhaltsam. Sie ist aber auch keineswegs in besonderer Weise hinterhältig. Eine ihrer bemerkenswertesten Stärken ist ihre vorhaltende Wirkung – das heißt: ihre Nachhaltigkeit. So ergäbe sich denn am Ende als Fazit meines theoretischen Tellensprungs ins kalte Wasser der Kultur der Satz: Die Ironie sei eine bislang zu wenig beachtete kulturelle Produktivkraft höchsten Ranges und höchster Potenz.

59 Wie Anm. 29. 60 Schlegel, Friedrich: Gespräch über die Poesie (1800), in: Fr. Schlegel, »Athenäums«Fragmente (wie Anm. 26), S. 164-224; hier: S. 205.

Stefan Fadinger Repräsentationen zwischen Historie und Fiktion L ISA E RLENBUSCH

Stefan Fadinger, Anführer im oberösterreichischen Bauernkrieg 1626, wird gemeinhin als Held tituliert. Wer ein Held oder eine Heldin ist und was diese ausmacht, scheint an besondere Eigenschaften und Bedingungen gebunden zu sein. Der Freiburger Sonderforschungsbereich ›Helden – Heroisierungen – Heroismen‹ bietet etwa folgende Definition: »Als heroische Figur verstehen wir deshalb zunächst eine reale oder fiktive, lebende oder tote menschliche Person, die als Held, hero, héros usw. benannt und/oder präsentiert wird und der heroische Eigenschaften zugeschrieben werden, und zwar insbesondere agonale, außeralltägliche, oftmals transgressive eigene Leistungen.«1

Weiters versprechen Held_innen »aus der persönlichen Ohnmacht zu helfen. Das wird ersehnt. Und diese Sehnsucht verspricht immer Erfüllung.«2 Nicht zuletzt ist Heldentum stark mit Tod und Töten verknüpft: 1

von den Hoff, Ralf et al.: »Helden – Heroisierungen – Heroismen. Transformationen und Konjunkturen von der Antike bis zur Moderne. Konzeptionelle Ausgangspunkte des Sonderforschungsbereichs 948*«, in: helden. heroes. héros. E-Journal zu Kulturen des Heroischen 1.1 (2013), S. 7-14, hier S. 8. URL: https://www.sfb948.uni-freiburg.d e/e-journal/ausgaben/012013/helden.heroes.heros.2013-01 vom 25.01.2017.

2

Katschnig-Fasch, Elisabeth: »Zur Genese der Gewalt der Helden. Gedanken zur Wirksamkeit der symbolischen Geschlechterkonstruktion«, in: Rolf Brednich/Walter Hartinger (Hg.): Gewalt in der Kultur. Vorträge des 29. Deutschen Volkskundekongresses. Passau 1993. Bd. 1. Passau: Lehrstuhl für Volkskunde d. Univ. 1994. (=Passauer Studien zur Volkskultur. 8), S. 97-117, hier S. 106.

318 | L ISA E RLENBUSCH »Wer Held sagt, sagt automatisch Tod, genauer: Mord. Wichtig dabei ist aber: Der klassische Heros handelt nicht egoistisch, er handelt immer für die Gemeinschaft. Er setzt das Tötungsverbot außer Kraft, um die Gemeinschaft zu erhalten, um sie und ihre Werte nach außen zu verteidigen.«3

In all diesen definitorischen Annäherungen klingt die ›Gemachtheit‹ des Heldenhaften an, eine rezeptive Komponente als genuine Voraussetzung. Denn Held_innen werden nicht als solche geboren, wie der Soziologe Christian Schneider betont: »Zur Geburt des Helden gehören immer wenigstens drei Dinge: der Handelnde und seine – außerordentliche – Tat, ein Zeuge, der darüber berichtet, und ein Publikum, das dem Bericht, das der Erzählung lauscht.«4 Dieser einfache Dreischritt scheint auf alle Heroen zuzutreffen, so auch auf Stefan Fadinger: Ein einfacher Bauer wird zum Hauptmann im Bauernkrieg und fügt dem Aggressor empfindliche Verluste zu. Diese außerordentliche Tat wird zuerst mündlich, bald schriftlich tradiert und stößt seit fast 400 Jahren auf ein aufmerksames Publikum. Die Rezeptionsphänomene rund um Stefan Fadinger lassen sich grob in drei Kategorien teilen: Es gibt den historischen Kontext, in dem die reale Person Fadinger im Bauernkrieg agiert hat, die Erinnerungskultur, die in den Nachwehen seines Ablebens bis heute sein Andenken bewahren will und die Ökonomisierung des Helden, in der seine Person und seine Taten vom politischen Kontext gelöst und auf eine ökonomische Basis gestellt werden. Wie diese Sachverhalte funktionieren, wird im Rahmen dieses Beitrags erarbeitet. Über die historische Person Stefan Fadinger ist nur sehr wenig bekannt, die Differenzierung zwischen Fakten und Fiktion ist schwierig. Vorab gilt es zu bemerken, dass die gebräuchliche Schreibweise ›Fadinger‹ nicht derjenigen der Urbarien des 16. Jahrhunderts und der Protokolle des 17. Jahrhunderts entspricht, in denen ausnahmslos die Schreibung ›Fätting‹ oder ›Fättinger‹ gebraucht wird.5 Dies ist darauf zurückzuführen, dass das helle [a] – im Unterschied zum abgedumpften bairisch-österreichischen [å] – mit ›ä‹ wiedergegeben wurde. Fadinger war ein Bauer aus Fatting am Walde, das heute zum Gemeindegebiet von St. Agatha gehört. Es wird angenommen, dass er zum Zeitpunkt der Bauernkriege zirka vierzig Jahre alt war und erwachsene Kinder hatte. Sein öf-

3

Christian Schneider im Interview mit Oliver Link: Heldenland ist abgebrannt, in: brand eins 08 (2011), S. 36-42, hier S. 38.

4

Schneider, Christian: »Wozu Helden?«, in: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger

5

Vgl. Fattinger, Hans: »Stefan Fadinger und Christoph Zeller. Ihre Familien und ihre

Instituts für Sozialforschung 18 (2009) H. 1, S. 91-102, hier S. 92. Heimat«, in: Oberösterreichische Heimatblätter 19 (1965) H. 3/4, S. 49-60, hier S. 49.

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fentliches Wirken dauerte lediglich sieben Wochen.6 Sein Nachfahre Hans Fattinger wies durch archivalische Forschung nach, dass Stefan Fadinger 1616/17 als jüngstes von vier Kindern das väterliche Gut Fatting am Walde übernommen hat.7 Nachlassinventare belegen, dass Fadinger selbst zwei Kinder hatte.8 In den archivalischen Quellen werden Fadinger und sein Schwager und Mitstreiter Christoph Zeller als erste Urheber des Bauernaufstandes bezeichnet. 9 Die Forschung ist sich weitgehend darüber einig, dass Fadinger über keine militärischen Erfahrungen oder taktische sowie strategische Kompetenzen verfügte. 10 Am 27. oder 28. Juni 1626 ritt Fadinger den Linzer Stadtgraben entlang, um die schwächste Stelle für einen Angriff zu erkunden.11 Dort wurde er von Schüssen verletzt, sein Bein zerschmettert, worauf er ins Hauptquartier der Bauern in Ebelsberg gebracht12 und nach seinem Tod am 5. Juli 1626 am Friedhof in Eferding begraben wurde. Am 5. Mai 1627 wurden sein und Zellers Leichnam auf Dekret des Statthalters Adam Graf von Herberstorff exhumiert und im Seebacher Moos verscharrt.13 Der Hof Fadingers wurde bis auf die Grundfesten niedergebrannt, der Grund und Boden für verfallen erklärt und seine Frau und Kinder wurden des Landes verwiesen.14 Anhand Fadingers Biografie wird, wie Herfried Münkler es formuliert, offenkundig, dass, »wenn das Verhalten einer Person als heroisch gekennzeichnet wird, der Gedanke des Opfers zentral [ist]: Zum Helden kann nur werden, wer bereit ist, Opfer zu bringen, eingeschlossen das größte: das des eigenen Lebens. Die mit dem Leben bezahlte Rettung anderer, der eigenen Kameraden, vor allem aber der wehrlosen Gemeinschaft, macht den Helden zum Helden. Für diese Bereitschaft zum Opfer werden dem Helden Anerkennung, Eh6

Vgl. Lehr, Rudolf: LandesChronik Oberösterreich. 3000 Jahre in Daten, Dokumenten und Bildern, Wien: Christian Brandstätter 2004, S. 126.

7

Vgl. H. Fattinger, Stefan Fadinger und Christoph Zeller, S. 50f.

8

Vgl. ebd., S. 50.

9

Vgl. ebd., Familie, S. 53.

10 Vgl. R. Lehr, LandesChronik Oberösterreich, S. 126 sowie Litschel, Rudolf Walter: »Die kriegerischen Auseinandersetzungen in Oberösterreich von 1595 bis 1636«, in: Karl Eichmeyer/Helmuth Feigl/ders.: Weilß gilt die Seel und auch das Guet. Oberösterreichische Bauernaufstände und Bauernkriege im 16. und 17. Jahrhundert, Linz: OÖ Landesverlag 1976, S. 101-176, hier S. 121. 11 Lehr spricht vom 27., Litschel vom 28. Juni. 12 Vgl. R. Lehr, LandesChronik Oberösterreich, S. 126. 13 Vgl. H. Fattinger, Stefan Fadinger und Christoph Zeller, S. 53. 14 Vgl. ebd.

320 | L ISA E RLENBUSCH re und Ruhm zuteil. Die durch das Opfer des Helden vor Unheil oder Niederlagen bewahrte Gemeinschaft dankt ihm dies mit Prestige zu Lebzeiten und ehrenhaftem Andenken nach seinem Tode. So sind Held und Gesellschaft durch die Vorstellung der rettenden Tat und des schützenden Opfers miteinander verbunden.«15

Auffällig ist auch die unterschiedliche Wertung, die Fadinger von verschiedenen Autor_innen erfährt. Rudolf Walter Litschel beispielsweise konstatiert: »Stefan Fadinger mit Andreas Hofer oder anderen Volksheroen zu vergleichen, ist daher gleichermaßen falsch wie die Meinung, daß die ganze Last des Bauernkriegs auf den Schultern Fadingers lag.«16 Im Gegensatz dazu ist er für Rudolf Lehr »so etwas wie ein oberösterreichischer Andreas Hofer« und »Symbolfigur […] für den Widerstand gegen Ungerechtigkeiten.«17 Die unterschiedlichen Bezüge auf Fadinger werden in weiterer Folge eruiert. Die Quellen zu Fadinger offenbaren, dass sich seine Rezeptionsgeschichte zwar auf einen Zeitraum von zirka 400 Jahren erstreckt, diese jedoch nur bruchstückhaft verfügbar und erschließbar ist. Ein großer Teil der Auseinandersetzung mit dem Bauernkriegshelden ist somit unbekannt, sodass sämtliche argumentativen Schlüsse und Interpretationen nur aus heutiger Perspektive möglich sind und sein werden.

D IE WIRTSCHAFTLICHE UND SOZIALE L AGE DER B AUERN IM 16. UND 17. J AHRHUNDERT Obwohl es nie eine einheitliche agrarische Verfassung gab, dominierte in allen Ländern des Habsburgerreichs bis ins 19. Jahrhundert das Untertänigkeitsverhältnis der Bauern unter die Grund- und Gutsherrschaft,18 das durch einseitige Ausbeutung gekennzeichnet war.19 Ursprünglich war die Grundherrschaft des

15 Münkler, Herfried: Kriegssplitter: die Evolution der Gewalt im 20. und 21. Jahrhundert, Berlin: Rowohlt 2015, S. 169. 16 R. W. Litschel, Die kriegerischen Auseinandersetzungen in Oberösterreich von 1595 bis 1636, S. 122. 17 Beide R. Lehr, LandesChronik, S. 126. 18 Vgl. Krammer, Josef/Rohrmoser, Franz: Im Kampf um ihre Rechte. Geschichte der Bauern und Bäuerinnen in Österreich, Wien: Promedia 2012, S. 31. 19 Vgl. Dopsch, Heinz: »Hörige Bauern, Knechte und Mägde – Das Leben im Verband der Grundherrschaft«, in: ders. und Elisabeth Dopsch (Hg.): 1300 Jahre Seekirchen. Geschichte und Kultur einer Salzburger Marktgemeinde. Seekirchen am Wallersee: o. V. 1996, S. 160-182, hier S. 165.

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Adels ein Vertrag, nach dem beide Parteien gewisse Rechte und Pflichten hatten: Geistliche oder weltliche Adelige stellten Bauern Grund und Boden zur Verfügung, den diese bewirtschafteten; dafür hatten sie Abgaben in Form landwirtschaftlicher Produkte zu leisten.20 Durch die Ausweitung der landwirtschaftlichen Bodennutzung und die Einführung der Dreifelderwirtschaft steigerte sich die Produktion, was den Austausch der nun entstandenen Überproduktion gegen gewerbliche Erzeugnisse ermöglichte.21 Dadurch entwickelten sich Handel und Gewerbe weiter, die Städte wuchsen und die Naturalwirtschaft wurde zusehends verdrängt. Die bäuerlichen Abgaben in Form von Naturalien wurden bis zum 16. Jahrhundert fast vollständig zu Geldabgaben. Die Geldwirtschaft führte dazu, dass das Geldbedürfnis bei den Bauern stieg, sie benötigten »Geld nicht mehr, um nur Entbehrliches, sondern auch, um Notwendiges zu kaufen.«22 Zur selben Zeit hatten auch die Fürsten und Feudalherren einen höheren Geldbedarf, was zur Folge hatte, dass sie die Bauern mehr und mehr ausbeuteten, wodurch die Abhängigkeit der Bauern vom Markt stieg und sie zunehmend zu Warenproduzenten wurden. Die zunehmende Verbreitung der Markt- und Geldwirtschaft resultierte auch in einer neuen Herrschaftsform, nämlich der Gutsherrschaft. Die Waren- und Geldwirtschaft, die Städte und der Handel profitierten maßgeblich vom Anstieg der Produktivität: Grundherren erhöhten ihre Bodenrente, indem sie die Eigenwirtschaft erstmalig einführten oder ausdehnten und die Marktbelieferung monopolisierten. Zu Lasten der Bauern vollzog sich die Einziehung des Gemeindelandes, Fronarbeit wurde eingeführt oder ausgeweitet. Die Bauern wurden gezwungen, alle für den Markt erzeugten Produkte zuerst dem Grundherrn zum Kauf anzubieten (Anfailzwang). Dadurch konnte der Grundherr gegenüber den Bauern den Preis diktieren und das Mehrprodukt der Arbeit der Bauern abschöpfen. Wie schon erwähnt hatten die Bauern mit großen finanziellen Belastungen zu kämpfen, die die Grundherren auf sie abwälzten. Diese Vorbedingungen waren nicht zuletzt mit ausschlaggebend für die Bauernerhebungen, die 1458 im Erzbistum Salzburg ihren Ausgang nahmen. Es folgten zahlreiche Bauernaufstände, bei denen zwischen zwei Tendenzen differenziert werden kann: einerseits die Wiederherstellung ursprünglicher Zustände (vergangenheitsorientiert) und andererseits die (zukunftsorientierte) Infragestellung der kirchlich-feudalen Herrschaft, die mit Vorstellungen von einem demokratischen, sozialen Bauernstaat verbunden und deren Vertreter zumeist protestantische Bauern waren. 20 Vgl. ebd. 21 Vgl. J. Krammer, Im Kampf um ihre Rechte, S. 21. Hier und in den folgenden Passagen wird auf die Seiten 20-26 dieses Buches Bezug genommen. 22 Ebd., S. 22.

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»Alle Bauernaufstände wurden mit äußerster Brutalität mit Hilfe des kaiserlichen Militärs niedergeschlagen, 1626 beendete die Soldateska den letzten größeren Bauernaufstand in Österreich gewaltsam, womit die Geschichte der beispiellosen Knechtung des Bauernstandes beginnen konnte.«23

Das Unterliegen der Bauern kann als entscheidender Faktor für den Niedergang der Wirtschaft des 16. Jahrhunderts genannt werden. Die Niederlagen der Bauern in den Bauerkriegen führten zu ihrem sozialen wie auch wirtschaftlichen Abstieg, der bis ins 19. Jahrhundert andauern sollte. Im 16. und 17. Jahrhundert vollzog sich als Reaktion auf die Bauernrevolten ein rechtlicher Anpassungsprozess, in dem die Landesfürsten bestrebt waren, Konflikte möglichst rasch zu erkennen und durch die Entsendung von Schiedsund Untersuchungskommissionen zu klären. Erst wenn dieser Prozess erfolglos sein sollte, wurde gegen die Bauern gewaltsam vorgegangen. 24 Es wurden Bauernprokuratoren, Winkelschreiber und Schriftensteller eingesetzt, die Beschwerden verschriftlichten, die Bauern bei ihrem Vorgehen gegen die Grundherrschaft berieten und das gerichtliche Verfahren einleiteten.25 Allerdings waren die Behörden bestrebt, »durch gerichtliche Verfolgung, Versammlungsverbote, Strafen, bürokratische Hemmnisse und andere Maßnahmen den Winkelschreibern und Bauernprokuratoren den Boden zu entziehen.«26 Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts verbesserte sich die Vertretung der Bauern vor Gericht.27

D ER O BERÖSTERREICHISCHE B AUERNKRIEG Im heutigen Oberösterreich sind vor allem die Bauernaufstände von 1525 und 1594 als Vorboten des großen Bauernkriegs von 1626 zu betrachten. Der Aufstand von 1525 ist im Zusammenhang mit dem großen deutschen Bauernkrieg zu

23 Ebd. 24 Vgl. Valentinitsch, Helfried: »Advokaten, Winkelschreiber und Bauernprokuratoren in Innerösterreich in der frühen Neuzeit«, in: Winfried Schulze (Hg.): Aufstände, Revolten, Prozesse. Beiträge zu bäuerlichen Widerstandsbewegungen im frühneuzeitlichen Europa, Stuttgart: Klett Cotta 1983. (=Geschichte und Gesellschaft, Bochumer Historische Studien. 27), S. 188-201, hier S. 188. 25 Vgl. ebd., S. 197. 26 Ebd., S. 198. 27 Vgl. ebd., S. 199.

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sehen.28 Im Land ob der Enns kam es allerdings zu keinen kämpferischen Auseinandersetzungen, denn die Bauern unterwarfen sich und wandten sich dafür in den darauffolgenden Jahrzehnten verstärkt dem lutherischen Glauben zu. 29 Ein Kirchensturm im Mühlviertel am 10. Mai 1594 gilt als Beginn des zweiten Bauernaufstandes.30 Die Lage der Bauern war nach wie vor prekär, Abgaben wurden erhöht, Robotleistungen erweitert und die sogenannte Türkensteuer auferlegt; die Bauern erwirkten jedoch die Reduzierung des Robots auf 14 Tage pro Jahr sowie eine Verminderung des Freigeldes.31 In diesem zweiten Bauernaufstand im Land ob der Enns spielte der Glaube eine wichtige Rolle: Die Bauern akzeptierten keine katholischen Geistlichen mehr und vertrieben diese aus den Pfarren und Stiften. Keines der habsburgischen Länder hat sich »so geschlossen zum lutherischen Glauben bekannt wie Oberösterreich. Während in anderen Ländern schon die Gegenreformation einsetzte, konnte sich hier evangelisches Leben noch ungestört entfalten.«32 Erst eine kaiserliche Resolution vom 6. Oktober 1597 sollte die alleinige und unumstößliche Geltung der katholischen Religion in allen Städten, Märkten und Pfandschaften besiegeln.33 1620 verpfändete Kaiser Ferdinand II. (1619-1637) Oberösterreich an die Bayern: einerseits, weil er dringend Geld benötigte, und andererseits, weil der bayerische Kurfürst Maximilian I. ihm dafür Soldaten versprach. 34 Im Februar 1624 erfolgte die Einsetzung einer Reformationskommission, die die Rekatholisierung von Oberösterreich beschleunigen sollte.35 Das Reformationspatent von 1625 sah die Beschlagnahme aller evangelischen Bücher vor, was auf den heftigen Widerstand der Bevölkerung stieß.36 Vorzeichen für den großen oberösterreichischen Bauernkrieg gab es bereits im Jänner 1625, als sich Bauern zusammentaten, um die Einsetzung eines katholischen Geistlichen in Natternbach zu verhindern. Als es am 11. Mai 1625 in Frankenburg erneut einen derartigen Zwi28 Vgl. R. W. Litschel, Die kriegerischen Auseinandersetzungen in Oberösterreich von 1595 bis 1636, S. 101 29 Vgl. ebd., S. 36f. 30 Vgl. ebd., S. 42. 31 Vgl. ebd., S. 43. 32 Ebd., S. 22. 33 Vgl. ebd., S. 44. 34 Vgl. R. Lehr, LandesChronik Oberösterreich, S. 124. 35 Vgl. Eichmeyer, Karl: »Reformation und Bauernkriege in Oberösterreich«, in: Ders./Helmuth Feigl/Rudolf Walter Litschel: Weilß gilt die Seel und auch das Guet. Oberösterreichische Bauernaufstände und Bauernkriege im 16. und 17. Jahrhundert. Linz: OÖ Landesverlag 1976, S. 7-68, hier S. 56. 36 Vgl. ebd., S. 21.

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schenfall gab, nutzte der bayerische Statthalter Adam Graf von Herberstorff diese Gelegenheit, um ein Exempel zu statuieren: »Er forderte […] sämtliche Männer Frankenburgs und der umliegenden Gemeinden auf, am 15. Mai um drei Uhr nachmittags auf dem Haushamer Feld nächst Vöcklamarkt unbewaffnet zu erscheinen: Wer dem Aufruf Folge leiste, solle Gnade erhalten, wer nicht komme, dessen Leben sei praktisch verwirkt.«37

Zirka 6000 Bauern und Bürger erschienen, von denen 17 um ihr Leben würfeln mussten – die Verlierer wurden sofort erhängt. Die Bauern hatten schon länger einen Aufstand geplant; eine Rauferei zwischen bayerischen Soldaten und Bauern am 17. Mai 1626 löste letztlich den bewaffneten Aufstand aus. Die Bewaffnung der Bauern war uneinheitlich, es dominierten Hieb- und Stichwaffen, die massenhaft zur Verfügung standen. Feuerwaffen waren nicht üblich, den Aufständischen fehlte es an Pulver und der nötigen Ausbildung zu deren Bedienung. Burgen, Schlösser und Märkte im gesamten Mühl- und Hausruckviertel wurden besetzt, Rüstkammern geplündert und Proviant erbeutet. Wichtig war die Schlacht in Peuerbach, bei der Herberstorff eine empfindliche Niederlage erlitt. Nach diesem Erfolg wurden Stefan Fadinger und sein Schwager Christoph Zeller zu Oberhauptleuten erklärt; Fadinger unterstand das Hausruck- und Traunviertel und Zeller das Mühlviertel. Fadingers Truppen eroberten Wels, Lambach, Kremsmünster und Steyr, Zeller nahm Freistadt ein. Dann sollte Linz erobert werden, doch hatte Herberstorff nach der Niederlage in Peuerbach genug Zeit, um die Stadt zu befestigen. Nach Fadingers Tod, Wochen vergeblicher Belagerung und zahlreichen ergebnislosen Verhandlungen setzten die bayerischen Truppen unter Gottfried Heinrich von Pappenheim die Bauern zusehends unter Druck, bis diese in Freistadt ihre Waffen niederlegten und auf weiteren Widerstand verzichteten.38 Im November kam es in der Nähe von Eferding zu einer blutigen Auseinandersetzung, bei der nach Pappenheims Angaben 3000 Bauern getötet wurden, wenig später starben bei Pinsdorf 2000 Bauern. Die letzte Schlacht im Bauernkrieg fand am 19. November 1626 statt, bei der Wolfsegg besetzt, geplündert und die Bewohner_innen, die noch nicht geflohenen waren, schwer misshandelt wurden.39 Am 26. März 1627 wurden jene Hauptleute der Bauern, die nach Haft und Folter noch nicht gestor-

37 Ebd., S. 120. Die folgenden Passagen beziehen sich auf die Seiten 120-128. 38 Vgl. R. Lehr, LandesChronik Oberösterreich, S. 124. 39 Vgl. ebd.

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ben waren, am Linzer Hauptplatz hingerichtet und ihre Leichname geschändet.40 Zahlreiche weitere Hinrichtungen folgten bis zur Mitte des Jahres 1628.41

H ELDENTUM UND G ESCHLECHT Für das Held-Sein selbst spielt das Geschlecht eine zentrale Rolle, denn es »muss in einem größeren Gesamtkonzept gesehen werden, aus sich selbst ist es nicht erklärbar. Das Gesamtkonzept heißt Patriarchalität.«42 Sowohl Elisabeth Katschnig-Fasch als auch Bob Connell sehen eine Verbindung von Männlichkeit mit Gewalt und Krieg. Connell konstatiert, dass ein Zusammenhang zwischen dem Mann-Sein und Gewalttätig-Sein besteht, der durch die menschliche Gesellschaft über historische Prozesse produziert werde.43 »Broadly, gender is seen as a structure of social practice, related in complex ways to biological sex but with a powerful historical dynamic of its own.«44 Katschnig-Fasch zufolge lässt die Selbstverständlichkeit der Annahme, dass Krieg Männersache sei, das Denken an Frauen in diesem Kontext nicht zu.45 Analog dazu sieht Connell den blutrünstigen Helden als eines der zentralen Bilder von Männlichkeit in der kulturellen Tradition des Westens, ganz gleich, ob es sich um sagenhafte historische Helden wie Achilles oder Siegfried oder um fiktive Helden wie Conan oder James Bond handle.46 Die Bewunderung solcher Männlichkeit sowie die gewaltsame Antwort auf Drohung ergeben gemeinsam eine Ressource, die Regierungen für die Rekrutierung von Soldaten nutzen47: »Heroismus, Militarisierung, Männlichkeitskult – das alles gehört zusammen«48. Connell unterscheidet die hegemoniale, hetero-

40 Vgl. ebd., S. 124f. 41 Vgl. ebd., S. 125. 42 Kaser, Karl: »Hirten, Helden und Haiduken. Zum Männlichkeitskult im jugoslawischen Krieg«, in: L’Homme. Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft. 3 (1992) H. 1, S. 155-165, hier S. 156. 43 Vgl. Connell, Bob: »Masculinity, Violence, and War.«, in: Michael S. Kimmel/ Michael A. Messner (Hg.): Men’s Lives. 3. Aufl. Boston et al: Allyn and Bacon, S. 125-130, hier S. 125f. 44 Ebd., S. 126. 45 Vgl. E. Katschnig-Fasch, Zur Genese der Gewalt der Helden, S. 97. 46 Vgl. B. Connell, Masculinity, Violence, and War, S. 126. 47 Vgl. ebd., S. 127. 48 K. Kaser, Hirten, Helden und Haiduken, S. 156.

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sexuell definierte Männlichkeit von der marginalisierten oder untergeordneten.49 In der westlichen Gesellschaft ist die hegemoniale Männlichkeit stark mit Aggressivität und der Fähigkeit zur Gewalt verbunden.50 Gewalt ist darüber hinaus nicht isoliert und individuell, sondern auch institutionell – der Staat fungiert als Instrument des Zwangs.51 Die Basis der militärischen Organisation ist einerseits die Beziehung zwischen Formen von Männlichkeit, die zwar physisch gewalttätig, aber befehlshörig sind, und andererseits die dominierende und organisationstechnisch kompetente Form von Männlichkeit.52 Zärtlichkeit, emotionale Komplexität oder ästhetische Empfindungen werden von Männern sozusagen abgespalten und Frauen zugeschrieben.53 Auffällig ist, dass es kaum Darstellungen von Frauen in kriegerischen oder gewalttätigen Auseinandersetzungen gibt. Es werden die (mehr oder weniger) glorreichen Taten der Männer geschildert und Frauen wird bestenfalls die Rolle als Krankenschwester oder sexuelle Gespielin beigemessen. Diese diskursive Leerstelle füllt Marion Kobelt-Groch mit einer ausführlichen Schilderung der Geschichte der Frauen während des Deutschen Bauernkrieges, der ab 1524 weite Teile des deutschsprachigen Raumes erfasst hatte. Ihr zufolge sei »nicht anzunehmen, daß das vorhandene Frauenpotential in keiner Weise das Geschehen aktiv oder passiv mitbestimmte und – das ist der entscheidende Punkt – auch prägte.«54 Es werde oft vernachlässigt, dass auch Frauen sich eine persönliche Meinung über sozialpolitische Vorgänge bildeten, Erwartungen hatten oder zumindest von zeitgenössischen Entwicklungen betroffen waren. So mag der Bauernkrieg von außen und oberflächlich betrachtet zwar eine ›Männerangelegenheit‹ gewesen sein, doch die Frauen haben diesen maßgeblich mitgetragen. Dies nimmt Kobelt-Groch anhand folgender Überlegungen an: Erstens war der bäuerliche Haushalt weniger strikt patriarchalisch geordnet, sodass Frauen zu einem gewissen Grad Handlungsspielräume offen standen und die Ehepartner ein ›kameradschaftliche‹ Verhältnis verband; zweitens sind es oftmals Frauen, die das sich ändernde Klima in Umbruchsituationen wahrnehmen 49 Vgl. B. Connell, Masculinity, Violence, and War, S. 127. 50 Vgl. ebd. 51 Vgl. ebd., S. 128 52 Vgl. ebd., S. 129. 53 Vgl. ebd., S. 127. 54 Kobelt-Groch, Marion: »Von ›armen frowen‹ und ›bösen wibern‹ – Frauen im Bauernkrieg zwischen Anpassung und Auflehnung«, in: Internationale Zeitschrift zur Erforschung der Reformation und ihrer Weltwirkungen 79 (1988), S. 103-137, hier S. 105. Für den Rest dieses Abschnitts wird ebenfalls auf diesen Beitrag Bezug genommen.

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und sich so als Avantgardistinnen des Neuen präsentieren, und drittens waren es sowohl die Hoffnung als auch die Not, die Frauen – zumeist aufgrund männlicher Schwäche oder Abwesenheit – vor Aufgaben und Tätigkeitsbereiche stellten, die ihnen ansonsten nicht oblagen. Nach Kobelt-Groch lassen sich aus Chroniken, Briefen, Berichten, Artikeln, Protokollen, Volksliedern und Aufzeichnungen über Verhöre viele Verweise auf Frauen finden, aber meist in der Kombination von ›Weib/Frau und Kind‹, die will, dass ihr Mann bleibt oder rasch heimkehrt; jedoch handelt es sich dabei überwiegend um Quellen aus Männerhand. Es wurde von Frauen erwartet, dass sie sich in der Abwesenheit des Mannes um die häuslichen Angelegenheiten kümmerten; sie mussten die Existenz der Familie absichern, Hab und Gut schützen, wodurch sie in weiterer Folge den Männern erst ermöglichten, ihre häuslichen Pflichten abzulegen und fortzugehen. Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, dass Frauen in dieser Situation oft missbraucht, getötet oder sonstigen Qualen ausgesetzt waren: viele mussten der Hinrichtung ihrer Männer beiwohnen oder sie wurden misshandelt. Aber Frauen waren nicht nur passive Hüterinnen des Heims, sie waren durchaus aktiv tätig, was Kobelt-Groch vor allem anhand von zwei Faktoren aufzeigt: Erstens wurden Frauen grundsätzlich in das sich allgemein verbreitende Bewusstsein der Veränderbarkeit, das vor allem durch die Reformation augenfällig wurde, miteinbezogen, und zweitens waren es persönliche, situationsabhängige Motive, die im Bauernkrieg hinzukamen und maßgeblich als Handlungsimpulse wirkten. Dies markiert die gleichsam verschwommene Grenze zwischen Bauernkrieg und Reformation; es wuchsen Zweifel an der traditionellen kirchlichen Sichtweise, dass Frauen sich dem Manne unterzuordnen hätten. Gerade in den Bewegungen gegen die katholische Kirche vermochten Frauen eine breite Basis zu bilden und traten selbstbewusst als Verbündete in einer gemeinsamen Sache auf – entweder in Form eher emotionaler Solidaritätsbekundungen oder in Form des offenen Protests. Das Streuen reformatorischen Gedankenguts steht in enger Verbindung zu den Frauen im Bauernkrieg, die diesen durchaus aktiv mitverfolgt, beurteilt sowie gestaltet haben: So wirkten Frauen zum Beispiel als Informationsträgerinnen und Kommunikationspartnerinnen, die »Auskünfte […] gegeben, Gerüchte in die Welt gesetzt, Warnungen ausgesprochen und Ratschläge erteilt«55 haben. Von den Frauen gingen durchaus unmittelbare Handlungsanstöße und Entscheidungen aus. Die Obrigkeit stand Frauen skeptisch gegenüber, aber prinzipiell ließ das bloße Wissen um bestimmte Sachverhalte Frauen zwar verdächtig, aber nur bedingt gefährlich erscheinen. Die Dinge verhielten sich anders, wenn Frauen aktiv an Aufständen teilnahmen, was die zweite Ebene der weiblichen Teilhabe am Bauernkrieg eröffnet: Frauen »störten Predigten, be55 Ebd., S. 123.

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schimpften und bedrohten Geistliche, demolierten Kirchen und Klöster und waren aktiv an Plünderungen beteiligt.«56 Nach Kobelt-Groch ist definitiv davon auszugehen, dass Frauen an Gewaltakten wesentlich öfter teilnahmen, als es historische Quellen direkt überliefern. Dies liegt darin begründet, dass offiziell Männer die Verantwortung trugen. Des Weiteren werden Frauen oft unter Sammelbegriffen wie ›Volk‹ versteckt. Das Interesse der Obrigkeit aber galt zumeist den Rädelsführern und es wurde nicht davon ausgegangen, dass es sich dabei um Frauen handeln konnte. Frauen »packen mit an, leben sich aus, zerstören und raffen zusammen; sie kümmern sich um die Beute, ihren Transport oder nehmen einfach nur Dinge in Verwahrung. Aber immer sind es Aktionen größeren Stils, bei denen Frauen anzutreffen sind.«57 Frauen agierten im Bürgerkrieg sowohl als Hilfskräfte, die nur kurz die Häuslichkeit verließen, als auch als Partner der Männer.

R EPRÄSENTATIONEN Stefan Fadinger ist vor allem an den Originalschauplätzen des Bauernkriegs gegenwärtig. Er bleibt durch Aufführungen, eine Oper, Museen, verschiedene Gedenkmedaillen, einen Wanderweg, einen Hof für Veranstaltungen und Hochzeiten, eine Vielzahl an Denkmälern, ein Kuchenrezept, populärwissenschaftliche Bücher wie auch Romane, Straßennamen, Vereine und Lieder präsent. Fadinger wird dabei immer als ein Mann, Bauer, Kämpfer, Widerständiger, Gerechter, der Bart und Hut trägt, dargestellt. Um den Phänomenen auf die Spur zu kommen und deren Bedeutung zu entschlüsseln, bedarf es der Erkenntnis, dass es sich dabei um Repräsentationen des Bauernkriegsanführers handelt. Nach Stuart Hall verbinden Repräsentationen Bedeutung und Sprache mit Kultur.58 Sprache konstruiert und übermittelt Bedeutung, sie ist in einem weiten Sinne aufzufassen und meint nicht nur die Sprache an sich, sondern auch Zeichen, Objekte, Bilder usw., die für etwas stehen oder Dinge repräsentieren. 59 Repräsentationen sind essentielle Bestandteile von Prozessen, bei denen Bedeutung

56 Ebd., S. 125. 57 Ebd. 58 Vgl. Hall, Stuart: »The Work of Representation«, in: Ders./Jessica Evans/Sean Nixon: Representation, 2. Aufl. London, Thousand Oaks, Neu-Delhi, Singapur: SAGE 2013, S. 1-47, hier S. 1. 59 Vgl. ebd.

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konstruiert und zwischen Mitgliedern einer Kultur ausgetauscht wird. 60 Bedeutung wird stets an verschiedenen Orten produziert und zirkuliert durch unterschiedliche Prozesse oder Praktiken. Kultur dient dazu, Menschen mit einer Identität zu versehen und diese aufrechtzuerhalten,61 wobei Hall betont: »representation is neither as simple nor transparent a practice as it first appears«.62 Es bedarf also bestimmter Theorien und Methoden, um ihrer habhaft zu werden. »Representation is the production of the meaning of the concepts in our minds through language.«63 Hall unterscheidet zwischen zwei Systemen der Repräsentation: Das erste stellt das System dar, in dem alle Objekte, Menschen und Ereignisse konzeptuell als mentale Repräsentationen in den Köpfen der Menschen bestehen; Sprache ist das zweite System, da sie in den Prozess der Bedeutungsherstellung involviert ist.64 Als Zeichen benennt Hall alle Wörter, Geräusche, Bilder oder Dinge, die Bedeutung tragen können, sie repräsentieren Konzepte und die Beziehungen zwischen ihnen, die die Menschen in ihren Köpfen tragen – zusammen ergeben sie die Bedeutungssysteme der Kultur. 65 Somit ist »[a]ny sound, word, image or object which functions as a sign, and is organized with other signs into a system which is capable of carrying and expressing meaning«66, Teil der Sprache. Menschen, die derselben Kultur angehören, haben im Allgemeinen dieselbe Art und Weise, die Zeichen einer Sprache zu interpretieren, so können Bedeutungen effektiv ausgetauscht werden.67 Visuelle Zeichen oder Bilder bleiben, auch wenn sie mit dem tatsächlichen Gegenstand große Ähnlichkeit aufweisen, dennoch Zeichen, die eine Bedeutung tragen und interpretiert werden müssen.68 Im Falle von Stefan Fadinger ist dies besonders interessant. Es gibt acht verschiedene Bildnisse von ihm, mit denen sich die Historikerin Elisabeth Gruber auseinandergesetzt hat. Sie sind weder signiert noch datiert und weisen teilweise eine so frappierende Ähnlichkeit auf, dass ältere Portraits wohl als Vorlage für

60 Vgl. ebd. 61 Vgl. Hall, Stuart: »Introduction«, in: Ders./Jessica Evans/Sean Nixon: Representation, 2. Aufl. London, Thousand Oaks, Neu-Delhi, Singapur: SAGE 2013, S. xiv. 62 Ebd., S. xxiii. 63 S. Hall, The Work of Representation, S. 3. 64 Vgl. ebd., S. 3f. 65 Vgl. ebd., S. 4. 66 Ebd., S. 5. 67 Vgl. ebd. 68 Vgl. ebd.

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jüngere gedient haben.69 Auf den meisten der Bilder nimmt Fadinger eine überaus heroische Pose ein: Er steht breitbeinig da, ist bewaffnet, stützt eine Hand in seine Hüfte, während die andere eine mit dem Schaft am Boden stehende Muskete am vorderen Teil des Laufes hält. Obwohl das tatsächliche Aussehen Stefan Fadingers nicht überliefert ist, scheint es einen gewissen Konsens darüber zu geben, wie er ausgesehen haben muss: klein, kräftig gebaut, bärtig, kurzes Haar, strenger Blick. Dies geht so weit, dass diejenigen, die sich mit ihm beschäftigen, ihn ›kennen‹, seine Repräsentationen auch als Fadinger erkennen. Die Menschen können diese Zeichen also aufgrund ihres vermeintlichen Wissens um sein Aussehen als Fadinger interpretieren. Hall konstatiert, dass die Bedeutung nicht im Objekt oder im Wort selbst liege, sondern lediglich so fixiert wurde, dass man sich dessen nicht mehr bewusst sei: Die Bedeutung ist konstruiert durch das System der Repräsentation, durch den Kode, der die Korrelation zwischen dem menschlichen konzeptionellen System und dem Sprachsystem festlegt und somit die Beziehung zwischen Konzept und Zeichen fixiert.70 Es ist ungeschriebene Übereinkunft und Resultat sozialer Konventionen, dass bestimmte Zeichen für bestimmte Konzepte stehen. Dennoch ist die Bedeutung niemals endgültig festgelegt, sie unterliegt einem Wandel, denn Konventionen und Konnotationen können sich über die Zeit verändern.71 Demnach bedeuten Dinge nicht aus sich heraus etwas, sondern ihre Bedeutung wird unter Verwendung von Zeichen und Konzepten konstruiert. Repräsentation ist also eine Art ›Arbeit‹, die materielle Objekte und Effekte verwendet, wobei die Bedeutung nicht von der materiellen Qualität des Zeichens abhängt, sondern von dessen symbolischer Funktion.72 Die Zeichen ›Bild‹ oder ›Denkmal‹ von Stefan Fadinger werden aufgrund der Konvention und Überlieferung mit den Konzepten ›Held‹, ›Kampf gegen Ungerechtigkeit‹ und ›sich wehren‹ in Verbindung gesetzt. Dadurch wird der Oberhauptmann zum Symbol für den Widerstand gegen Unrecht, was in weiterer Folge auch mündlich transportiert wird.

69 Vgl. Gruber, Elisabeth: »Die Aneignung aufrührerischer Elemente als Erinnerungsgeschichte. Das Beispiel Stefan Fadinger«, in: Peter Rauscher/Martin Scheutz (Hg.): Die Stimme der ewigen Verlierer? Aufstände, Revolten und Revolutionen in den österreichischen Ländern (ca. 1450-1815), Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2013. (=Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung. 61), S. 415-430, hier S. 423-427. 70 Vgl. Hall, Representation, S. 7. 71 Vgl. ebd., S. 7f. 72 Vgl. ebd., S. 11.

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Das führt zu einem abschließenden Punkt: Dem konstruktivistischen Ansatz zufolge sind alle Zeichen arbiträr, es besteht also keine natürliche Verbindung zwischen dem Zeichen und seiner Bedeutung beziehungsweise seinem Konzept. 73 Somit könnte prinzipiell für die Bedeutung ›Widerstand gegen Unrecht‹ Christoph Zeller, bei dem diese Tendenz bereits in nuce zu erkennen ist, oder ein anderer beliebiger Bauer stehen. In diesem Sinne kann festgestellt werden, dass die mannigfaltigen Repräsentationen von Fadinger gleichzeitig eine Wirklichkeit konstruieren, die mit scheinbaren Fakten über sein Aussehen und Leben angereichert wird.

G EDÄCHTNIS UND E RINNERUNG Angesichts der Vielzahl an Denkmälern, Straßennamen, Gedenkmünzen, Briefmarken und literarischen Verarbeitungen des Bauernkrieges und insbesondere von Stefan Fadingers Leben, die die Ereignisse von 1626 lebendig erhalten, ist eine Beschäftigung mit der Erinnerungskultur unabdingbar. Fadinger ist in das kulturelle Gedächtnis eingegangen, das »als Sammelbegriff für alles Wissen, das im spezifischen Interaktionsrahmen einer Gesellschaft Handeln und Erleben steuert und von Generation zu Generation zur wiederholten Einübung und Einweisung ansteht«74, dient. Das kulturelle Gedächtnis muss, Aleida und Jan Assmann zufolge, klar vom kommunikativen Gedächtnis unterschieden werden, das für eine Alltagskommunikation steht, die auf Austausch basiert, in die jede und jeder eingespannt ist und die weder geformt noch beliebig ist. Üblicherweise reicht das kommunikative Gedächtnis nicht weiter als achtzig bis hundert Jahre beziehungsweise drei bis vier Generationen zurück, wobei der Gegenwartspunkt stets mitschreitet.75 Im Gegensatz dazu wird das kulturelle Gedächtnis gerade durch seine Alltagsferne sowie den Zeithorizont mit Fixpunkten, also ohne Bezug zu einem fortschreitenden Gegenwartspunkt, gekennzeichnet.76 Diese Fixpunkte oder Erinnerungsfiguren sind »schicksalhafte Ereignisse der Vergangenheit, deren Erinnerung durch kulturelle Formung (Texte, Riten, Denkmäler) und

73 Vgl. ebd., S. 13. 74 Assmann, Jan: »Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität«, in: Ders./Tonio Hölscher: Kultur und Gedächtnis. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 9-19, hier S. 9. 75 Vgl. ebd., S. 11. 76 Vgl. ebd., S. 12.

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institutionalisierte Kommunikation (Rezitation, Begehung, Betrachtung) wachgehalten wird.«77 Die Historikerinnen Martina Fuchs und Elisabeth Gruber haben in ihren Studien verschiedene Aspekte der Erinnerungskultur in Bezug auf Stefan Fadinger behandelt. So untersucht Gruber Gedenkfeiern, widmet sich Erinnerungsorten – sie nennt 31 an der Zahl – und arbeitet die tiefe Verankerung des Bauernkrieges sowie der Gestalt Fadingers im oberösterreichischen (!) kollektiven Gedächtnis auf.78 In Straßenbezeichnungen, die »eine Art Denkmalcharakter«79 haben, sieht sie Symbole nicht nur der aktuellen Erinnerungskultur, sondern auch der religiösen, kulturellen und politischen Verhältnisse der Entstehungszeit. In weiterer Folge zeigt Gruber »am Beispiel dieser Symbolfigur mögliche Verläufe von Aneignung und Instrumentalisierung historischer Ereignisse«80 auf und fragt nach den sich erinnernden Gruppen und deren Formen der Erinnerung. Neben den bereits erwähnten Bildanalysen skizziert sie, wie sowohl deutschnationale als auch sozialdemokratische Bewegungen das kollektive Gedächtnis zu ihren Gunsten nutzten: Die deutschnationale und nationalsozialistische Bewegung engagierte sich nicht zuletzt für eine topographische Verankerung des Helden, wie noch heute an den Fadingerplätzen in Linz-Ebelsberg und in Wien-Favoriten zu sehen ist.81 Die katholisch-politische Obrigkeit betreffend, kann Gruber gerade in der zeitgenössischen Beschäftigung mit der Figur Fadingers eine Tilgung der Erinnerung, eine damnatio memoriae feststellen.82 Sie führt aus: »Weder die Gedenkfeiern des Jahres 1926, die Benennung von Straßennamen noch die eingehende Beschäftigung mit diesem Thema im Rahmen der Landesausstellung 1976 in Scharnstein und Linz [oder, L.E.] die Gedenkfeiern 2001 können ihre politischen Aspekte verleugnen. […] Stefan Fadinger wurde in gleicher Weise zur Symbolfigur für die Politik des Bauernaufstandes, der Arbeiterpartei und der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiter-Partei.«83

Die politische Dimension des Themas wird durch Grubers Forschungsarbeit offenkundig: Stefan Fadingers Kampf für seinen Glauben scheint spätestens seit 77 Ebd. 78 Vgl. E. Gruber, Die Aneignung aufrührerischer Elemente als Erinnerungsgeschichte, S. 416. 79 Ebd., S. 417. 80 Ebd., S. 421. 81 Vgl. ebd., S. 429. 82 Vgl. ebd. 83 Ebd., S. 430.

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dem Josephinischen Toleranzpatent 1781, das freie Religionsausübung ermöglichte, an Relevanz zu verlieren, mehr noch – Fadingers Konfession scheint nahezu in Vergessenheit geraten zu sein. Dafür rücken die sozialen und politischen Aspekte des Bauernkriegs in den Fokus: das Aufbegehren gegen die Armut, Ausbeutung und ungerechte, willkürliche Herrschaft. Martina Fuchs hat sich mit Werken der historischen Belletristik beschäftigt, die Stefan Fadinger zum Thema haben.84 Sie stellt fest, dass der Bauernführer oftmals gar nicht als Protagonist in Erscheinung tritt. Der Inhalt der belletristischen Arbeiten ist (teilweise) fiktional und die Autoren kopierten einander.85 Diese Untersuchung ist insofern aufschlussreich, als historische Belletristik das Geschichtsbild wesentlich (mit)prägt. Gerade in Hinblick auf Fadingers kurze Wirkungsdauer erstaunt es deshalb nicht, dass sich so manche Autoren ihrer Phantasie bedienten. Letztlich kann »[d]er Mensch Fadinger […] daher auch keine Individualität gewinnen. Einerseits ist er Anführer im nationalen Sinn, zu dem man bewundernd aufblickt, den man aber nicht näher charakterisiert, andererseits fungiert er als Aufwiegler gegen die von Gott eingesetzte Obrigkeit«86.

Fuchs erklärt Fadingers geringe regionale Reichweite damit, dass gerade die überwiegend katholischen, oberösterreichischen Autoren mit der Schwierigkeit kämpften, dass sie den protestantischen Rebellen nicht heroisieren, aber auch nicht verurteilen wollten – andere österreichische Kämpfer wie Andreas Hofer hätten durch ihren ›Heiligenstatus‹ vermehrt zu literarischen Arbeiten angeregt, während Fadinger fast nur im Lokalgedächtnis Oberösterreichs verankert sei. 87 Die geringere Bekanntheit des Bauernanführers ist sicher ebenso auf die kurze Dauer und die regionale Einbettung seines Wirkens zurückzuführen wie auf das Scheitern seines Vorhabens. Diese Rezeptionsgeschichte fügt sich in den Duktus der Entwicklung der westlichen Gesellschaft, in der der christliche Glaube durch Säkularisierung und Laizismus mehr und mehr eine untergeordnete Rolle spielte und im Alltag weni84 Fuchs, Martina: »Der unscheinbare Rebell. Stefan Fadinger in historischer Belletristik«, in: Peter Rauscher/Martin Scheutz (Hg.): Die Stimme der ewigen Verlierer? Aufstände, Revolten und Revolutionen in den österreichischen Ländern (ca. 1450-1815), Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2013. (=Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung. 61), S. 431-454, hier S. 431. 85 Vgl. ebd., S. 432f. 86 Ebd., S. 453f. 87 Vgl. ebd., S. 454.

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ger wahrnehmbar wurde. So ist es nicht verwunderlich, dass auch bei Stefan Fadinger der Aspekt der Religiosität ins Hintertreffen geraten ist.

M ECHANISMEN DER V EREINNAHMUNG Die Ökonomisierung historischer und/oder politischer Gegebenheiten oder Personen ist weit verbreitet und nimmt vielfach bizarre Formen an, wenn man etwa an Actionfiguren von Napoleon oder Wladimir Putin denkt.88 Damit die Ökonomisierung einsetzen kann, muss eine Depolitisierung geschehen, die sich wiederum des Mittels der Mystifizierung bedient. Die Literaturwissenschaftlerin Ruth Neubauer-Petzoldt bezieht sich auf Jan Assmann, wenn sie erklärt, dass eine verklärende Betrachtung der Vergangenheit oftmals aus einer Mangelerfahrung in der Gegenwart entstünde.89 Utz Jeggle schildert ein zweigeteiltes Geschichtsverständnis: ein offizielles, anerkanntes, schulisch vermitteltes Geschichtsverständnis und ein privates, in dem es um Held_innen, Hoffnungen, Trauer und Enttäuschung geht und das auf das Leben vorbereitet, in dem nicht nur biografische Spannungen und Brüche präsent sind, sondern auch Lösungen angeboten werden, wie man sich zu verhalten habe.90 »Daraus folgt, dass in der historischen Kontur des Helden seine funktionale Bedeutung fassbar wird. Als dominante Orientierungsgröße trägt er zur Identitätsbildung einer Gemeinschaft bei und verkörpert ihr prägendes Werteverständnis.«91 Auch Fadinger ist so ein Held, der die Höhen und Tiefen des Lebens samt seiner Tragik verkörpert und er ist damit wegweisend für die Menschen, die sich mit ihm identifizieren. Die Historie ist

88 Siehe das Verkaufsportal actionfigurenshop: http://www.actionfiguren-shop.com/Fig uren/Historisch/VIP/Wladimir-Putin.html; und http://www.actionfiguren-shop.com/Fi guren/Historisch/Napoleonisch/Napoleon.html vom 24.2.2017. 89 Vgl. Neubauer-Petzoldt, Ruth: »Die Präsenz des Mythos zwischen rekonstruiertem Denkmal und ästhetischem Erleben«, in: Harm-Peer Zimmermann (Hg.): Lust am Mythos. Kulturwissenschaftliche Neuzugänge zu einem populären Phänomen, Marburg: Jonas 2015. (=Zürcher Schriften zur Erzählforschung und Narratologie ZSEN. 1), S. 35-43, hier S. 39. 90 Vgl. Jeggle, Utz: »Geschichtsbilder. Eigentümlichkeiten unseres historischen Gedächtnisses«, in: Johanna Rolshoven/Martin Scharfe (Hg.): Geschichtsbilder. Ortsjubiläen in Hessen, Marburg: Jonas 1994, S. 9-26, hier S. 10f. 91 Immer, Nikolas/van Marwyck, Mareen: »Helden gestalten: Zur Präsenz und Performanz des Heroischen«, in: Dies. (Hg.): Ästhetischer Heroismus: Konzeptionelle und figurative Paradigmen des Helden, Bielefeld: transcript 2013, S. 11-28, hier S. 22.

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dabei nie in der Lage, die Dinge so darzustellen, wie sie tatsächlich waren, auch Sprache vermag es nicht, diese Arbeit zu leisten. Somit ist das geschichtliche Material, mit dem wir arbeiten, immer von der Gegenwart aus konstruiert, aus dem Stoff der jeweiligen Zeit.92 Die Geschichte »ist eine Betrachtungsperspektive, die aber immer, ihrer Totalität eingedenk, sich mit Ausschnitten zu bescheiden hat.«93 Da St. Agatha, eine Gemeinde im oberösterreichischen Hausruckviertel, nicht maßgeblich vom Tourismus der Donauregion profitiert, wird einerseits versucht, eine Wertsteigerung der Region durch den Bezug auf Fadinger zu generieren, andererseits dient das Thema der Stärkung der Heimatverbundenheit. Durch die Rückbesinnung auf den ›alten Helden‹ an den Originalschauplätzen sowie durch das Engagement der Einwohner_innen sind Vereine, öffentliche Schauspiele, ein Museum sowie ein Wanderweg in der Region entstanden. Dies ist nicht nur als Reaktivierung des Fadinger-Mythos zu betrachten, sondern auch als dessen stetige Anreicherung mit neuem Material. Nach Claude Lévi-Strauss definiert sich der Mythos wie folgt: »Ein Mythos bezieht sich immer auf vergangene Ereignisse: Vor der Erschaffung der Welt oder in ganz frühen Zeiten oder jedenfalls vor langer Zeit. Aber der dem Mythos beigelegte innere Wert stammt daher, daß diese Ereignisse, die sich ja zu einem bestimmten Zeitpunkt abgespielt haben, gleichzeitig eine Dauerstruktur bilden. Diese bezieht sich gleichzeitig auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.«94

So verhält es sich auch bei Stefan Fadinger, dessen Wirken mittlerweile 390 Jahre zurückliegt. Die Dauerstruktur und der Wert des Mythos ergeben sich aus dem Aufstand gegen die Obrigkeit. Im Sinne von Neubauer-Petzoldt ist dieser Mythos mehrdeutig, eine Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart als Erinnerung für die Zukunft.95 Das historische Ereignis des Bauernkriegs wurde mythifiziert und ist heute in zahlreichen Repräsentationen gegenwärtig. So organisiert man in Oberösterreich zum Beispiel bereits das 400-Jahr-Jubiläum 2026. Der Mythos erfährt in der Gegenwart sowie im Hinblick auf die Zukunft eine Aktualisierung und fungiert als Erinnerungs- und Imaginationsraum, der Orientierungs- und Identifikationsangebote bereitstellt.96

92 Vgl. U. Jeggle, Geschichtsbilder, S. 13. 93 Ebd., S. 15. 94 Claude Lévi-Strauss, zitiert nach Neubauer-Petzoldt, Präsenz, S. 35f. 95 Vgl. ebd., S. 36. 96 Vgl. ebd., S. 38.

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Nach Roland Barthes ist der Mythos eine Form der Kommunikation. Er kann alles sein, was in den Diskurs eingeht. Barthes argumentiert semiologisch, wenn er von einem dreitermigen Aufbau der Sprache ausgeht: Die assoziative Gesamtheit der Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat stellt das Zeichen und somit den dritten Term dar. Der Mythos, der sich aus der Sprache konstituiert, ist ebenfalls in drei Terme gegliedert. Hier bildet der dritte Term der Sprachebene, das Zeichen, den ersten Term auf der Ebene des Mythos. Somit ist das Zeichen im System der Sprache der Sinn und im System des Mythos die Form:97

Nach Roland Barthes: Mythos als semiologisches System.98

Die Form des Mythos beseitigt den Sinn nicht, aber sie lässt ihn verarmen, der Sinn verliert an Wert. Im System des Mythos entspricht das Zeichen der Bedeutung.99 Die besondere Charakteristik des Mythos ist einerseits die Verwandlung eines Sinns in Form, indem er den Sinn deformiert und verbiegt, und andererseits der Verlust der Historizität. Durch den Mythos wird die Geschichte in Natur verwandelt und als ›Faktensystem‹ gelesen. Wie von Zauberhand wird das Reale der Geschichte entleert und mit »Natur aufgefüllt«, der Mythos leert das Reale und ist nicht zuletzt dadurch eine entpolitisierte Rede.100 Die Naturalisierung eines Ereignisses bedingt also eine historische Entleerung, mit der wiederum eine Entkontextualisierung und Entpolitisierung einhergeht. Stefan Fadingers Aufstand gegen die Obrigkeit, der aufgrund der sozialen und wirtschaftlichen Lage der Bauern einerseits und der Verwehrung der Religionsfreiheit andererseits ausbrach, wird in der Gegenwart zum Mythos des Aufbegehrens gegen Ungerechtigkeit. Die Heroisierung Fadingers bedeutet, dass die

97

Vgl. Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Übersetzt von Horst Brühmann. Voll-

98

Vgl. ebd., S. 259.

99

Vgl. ebd., S. 262f.

ständige Ausgabe. 3. Aufl., Berlin: Suhrkamp 2015, S. 251, S. 256, S. 258.

100 Vgl. ebd., S. 280-295.

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historischen ›Tatsachen‹, also die Erzählung seines Werdegangs im Bauernkrieg, mit Sinn gefüllt sind. Die Form allerdings ist leer, er ist also lediglich ein aufständischer Bauer. Der Mythos deformiert nun den Sinn (den Signifikanten), und beraubt Stefan Fadinger seiner Geschichte, er wird in eine Geste verwandelt. Der Kampf gegen Ungerechtigkeit macht Fadinger zu einem instrumentellen Signifikat und zeitlosen Motiv, das das Aufbegehren gegen Unrecht begründet. Er steht für die Präsenz des Aufbegehrens gegen Ungerechtigkeit. Die entleerte Geschichte ist natürlich geworden und freigegeben, sodass der Fadinger-Mythos unbewusst fortlaufend mit neuem Material ausgeschmückt und dienstbar gemacht wird, wodurch er wiederum zu einer unbewussten kollektiven Bedeutsamkeit gelangt:

Eigene Darstellung in Anlehnung an Barthes.

Stefan Fadinger wird auf ein Podest gestellt und als ›Regionalheiliger‹ verehrt. Er dient als Vermittler zwischen Tradition und modernen Lebensansprüchen sowie als Integrationsfigur, die Identität stiftet. Das zugrundeliegende Konzept stützt sich auf historische Gegebenheiten, die mündlich wie schriftlich tradiert wurden. Später kamen bildende Kunst, literarische Werke, Straßennamen, Gedenkstätten usw. hinzu und es fand eine Verknüpfung und Einbettung dieser Phänomene mit den wenigen bekannten biografischen Daten Fadingers statt. Aus einer realen Person wurde sukzessive eine Art Sagengestalt, die wirtschaftlich effizient arbeitet und durch die ein Raum geschaffen werden sollte, den die gemeinsame Erinnerung im Inneren zusammenhält.101 Die politische Figur Stefan

101 Vgl. dazu: Hose, Susanne: »Krabat – Zauberlehrling, Hoffnungsträger, Markenname. Die multimedialen Verwandlungskünste einer sorbischen Sagengestalt«, in: Christoph Schmitt (Hg.): Erzählkultur im Medienwandel. Münster, New York,

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Fadinger wird dadurch entschärft, ihre Geschichte entindividualisiert und teils neu konstruiert. Nur so werden auch Instrumentalisierungen durch sowohl ideologisch links als auch rechts einzuordnende Interessensvertretungen erklärbar. Der enthistorisierte Mythos ist sehr willfährig und somit politischen wie ökonomischen Interessen dienlich: »Das Verhältnis der Menschen zum Mythos ist keines der Wahrheit, sondern eines der Benutzung: Sie entpolitisieren je nach ihren Bedürfnissen.«102

E NDSTATION M YTHOS Vom Bairischen Joch und Tyrannei Und seiner großen Schinderei Mach uns, o lieber Herr Gott, frei. Weil es dann gilt die Seel und Gut, So gelts auch unser Leib und Blut, Gott geb uns einen Heldenmut. Es muß seyn.103

Es musste sein, dass Stefan Fadinger zum Helden wird. Alle Vorbedingungen waren gegeben und wurden erfüllt: Er kämpfte für eine breite Bevölkerungsschicht, die geknechteten Bauern des Landes ob der Enns, denen die freie Religionsausübung untersagt worden war. Seine Ziele waren edel, der Einsatz groß. Fadinger starb nach nur zwei Monaten im Krieg, zu einem Zeitpunkt, als die Aufständischen nach einer Serie von Erfolgen zum entscheidenden Schlag gegen die bayerischen Truppen ausholen wollten. Sein Tod signalisierte den Umschwung. Zusätzliche Tragik gewinnt die Geschichte, wenn man bedenkt, dass nach der endgültigen Niederlage sein Hof niedergebrannt, die Familie des Landes verwiesen, seine Leiche exhumiert, geschändet und verscharrt wurde. Seine kurze öffentliche Präsenz, das Scheitern des Aufruhrs, aber auch sein evangeliMünchen, Berlin: Waxmann 2008. (=Rostocker Beiträge zur Volkskunde und Kulturgeschichte. 3), S. 305-324. 102 R. Barthes, Mythen des Alltags, S. 297. 103 Einer der Verse auf den Fahnen von Fadingers »christlich-evangelischer Armee« im Bauernkrieg 1626, angeblich handschriftlich überliefert, in: Hartmann, August: Historische Volkslieder und Zeitgedichte vom sechzehnten bis neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1. Bis zum Ende des dreißigjährigen Krieges, München: C. H. Beck 1907, S. 193.

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scher Glaube haben sicherlich dazu beigetragen, dass es sich bei Fadinger um einen stark regionalisierten Helden handelt, der kaum über die Grenzen Oberösterreichs hinaus Bekanntheit erlangt hat. Der Beitrag hat gezeigt, wie Fadinger durch die Mythifizierung seiner Person in der Erinnerungskultur der Gegenwart, die sich um ihn herausgebildet hat, zum Helden (gemacht) wurde. Die tatsächliche historische Persönlichkeit wird durch die Reduktion ihrer individuellen Geschichte und das Beimengen neuen Materials sowie – vermeintlicher – ›Informationen‹ zu einem zeitlosen Motiv und Symbol, das beliebig verwendet werden kann. So sind auch die scheinbar sich widersprechenden Vereinnahmungen sowohl durch die Sozialdemokraten als auch durch die Nationalsozialisten erklär- und nachvollziehbar. Der Raum zur Ideologisierung ist geöffnet und kann von jedem und jeder Einzelnen benutzt werden. Dies verdeutlicht nicht zuletzt die unbedingte Notwendigkeit einer kritischen Auseinandersetzung mit den verschiedensten Formen der Repräsentation, die uns tagtäglich begegnen. Nur durch einen prüfenden und differenzierenden Blick ist es möglich, das gesamte Spektrum von Fakt, Fiktion, Mythos, Inbesitznahme und Heroisierung zu erfassen und zu verstehen.

»So wahr i dá Huatárá z’Ágáthá bin« Die Figur Fadingers in Der oberösterreichische Bauernkriag von Norbert Hanrieder C HRISTIAN N EUHUBER

Lisa Erlenbuschs Beitrag in diesem Band 1 diskutiert am Beispiel des oberösterreichischen Bauernkriegsführers Stefan Fadinger Roland Barthes Diktum, das Verhältnis der Menschen zum Mythos sei »keines der Wahrheit, sondern eines der Benutzung: Sie entpolitisieren je nach ihren Bedürfnissen.«2 Die Heroisierung des Oberhauptmanns aus St. Agatha – so die Conclusio – deute das geschichtliche Ereignis zu einer zeitlosen Geste des Aufbegehrens gegen Unrecht um, die für unterschiedliche, ja divergente Zwecke sinnstiftend genutzt werden kann. Im Folgenden soll die Funktionalisierung der historischen Persönlichkeit in der bis dahin wohl bedeutendsten und eigenwilligsten literarischen Bearbeitung des Bauernaufstands von 1626, Norbert Hanrieders Dialektepos Der oberösterreichische Bauernkriag (gedruckt 1907), nachgezeichnet werden. Es zeigt die Traditionslinien auf, in denen das Werk zu verorten ist, aber auch die Widersprüche, die eine identitäre Vereinnahmung des protestantischen Rebellen in der katholischen Heimatkunstbewegung der Jahrhundertwende mit sich bringen musste.

1

Vgl. Erlenbusch, Lisa: Stefan Fadinger. Repräsentationen zwischen Historie und Fiktion, in: Johanna Rolshoven/Toni Janosch/Justin Winkler Krause (Hg.): Heroes. Repräsentationen des Heroischen in Geschichte, Literatur und Alltag. Bielefeld: transcript 2018, S. 317-339.

2

Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Übersetzt von Horst Brühmann. Vollständige Ausgabe. 3. Aufl. Berlin 2015, S. 297.

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F ADINGER IN DER ÄLTEREN (D IALEKT -)L ITERATUR Dialekt als ästhetisches Mittel bei der Literarisierung eines Bauernkriegs einzusetzen, scheint auf den ersten Blick naheliegend. Denn seit den Anfängen einer bairisch-österreichischen Dialektliteratur im 17. Jahrhundert3 galten verschriftlichte regiolektale Sprachformen vor allem als Signum bäuerlich-ruraler Kommunikation, selbst wenn – wie im Land ob der Enns – in ausnahmslos allen gesellschaftlichen Schichten Mundart gesprochen wurde.4 Tatsächlich finden sich schon in den zeitgenössischen Flugblattliedern an neuralgischen Stellen dezidiert dialektale Ausdrücke, die die Authentizität und Unmittelbarkeit des Berichteten suggerieren sollen. Sie zählen zu den frühesten Belegen für bewusst literarisierte bairisch-österreichische Mundart. Unmissverständlich dialektal markiert sind etwa in Bauernkriegsliedern wie DRäff/ dräff/ ihr Nachbauren all zu muth/5 oder HAscha ihr Nachbawrn vnd Bawren6 die Kampf- und Zurufe zu Beginn der weitgehend standardsprachlich verschriftlichten Lieder, deren mündliche Umset-

3

Vgl. Neuhuber, Christian: Die vergessene Kunst. Prolegomena zu einer Ästhetik der österreichischen Dialektliteratur vor 1800, in: Franz M. Eybl (Hg.): Nebenschauplätze. Ränder und Übergänge in Geschichte und Kultur des Aufklärungsjahrhunderts. Bochum 2014. (=Das achtzehnte Jahrhundert und Österreich 28), S. 53-85. – Christian Neuhuber: y glab es trambt mie. Dialektale Rede in Wiener Stücken des Wander-, Ordens- und Hoftheaters 1665/66, in: ders./Elisabeth Zehetner (Hg.): Bairischösterreichischer Dialekt in Literatur und Musik 1650-1900. Tagungsband. Graz 2015, S. 61-116. – Christian Neuhuber, Stefanie Edler und Elisabeth Zehetner: Bairischösterreichische Dialektliteratur vor 1800. Wien, Köln, Weimar 2018. [im Druck]

4

Vgl. unter anderem Wiesinger, Peter: Das Verhältnis von Dialekt und Schriftsprache in Österreich und die literarische Verwendung von Dialekt vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, in: Neuhuber/Zehetner, Bairisch-österreichischer Dialekt in Literatur und Musik, S. 9-39.

5

Drey schön newe Weltliche Lieder. Das 1. Weiß mir ein prafen Rittersman/der sich vor seim Feind wehren kan/etc. Das 2. Dräff/ dräff/ ihr Nachbauren all zu muth/ unser Sach die wird noch werden gut/ etc. Von den Ländischen Bauren. Das 3. Ihr lieben Herrn vernemmet wie/ ein seltzame History hie/ etc. Wie ein Baur seinen Soldaten Wiegen muß. Im Thon: Wie man das Schlauraffenland singt. Gedruckt in disem Jahr, f. 2v.

6

Ein schön lustig vnnd kurtzweiliges Bawren Lied/ Von dem gantzen Verlauff/ desß Bawrn Kriegs Steffel Fättinger damalen Uhrhebers. Hascha ihr Nachbawrn vnnd Bawren/ seydt lustig/ etc. Im Thon: Hascha mein Grädl wilst lauffen/ etc.

»S O WAHR I



HUATÁRÁ Z ’Á GÁTHÁ BIN «

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zung allerdings wesentlich mehr an den regionalen Sprechgewohnheiten orientiert war, als die gedruckte Form vermuten lässt.7 Besonders der zweitgenannte Text, seit der Erstedition 1854 in der Forschung als ›Fadinger-Lied‹ bekannt8, war – wie man nicht zuletzt den abschließenden Versen seines Epos entnehmen kann – eine der Schreibmotivationen für Hanrieder; Anregungen holte er sich zur Genüge daraus. Kennengelernt hat er den Text wohl aus dem Geschichtswerk Bilder aus der Zeit der Bauernunruhen in Oberösterreich (1876) des St. Florianer Chorherrn Albin Czerny, der aufgrund der erstaunlichen Detailkenntnisse des Liedverfassers vermutet, dieser habe »mitten unter den Ereignissen gelebt«9. Vielleicht aber besitzt das mit 55 Strophen auffällig lange Lied als ›work in progress‹, das zunächst vielleicht in einer kürzeren Fassung mündlich tradiert wurde und erst nach Kriegsende in den Druck gelangte, mehr als einen Autor. Denn der erste Teil ist noch deutlich von einem aggressiv-selbstbewussten bäuerlichen Ich (das in einzelnen Strophen in die Rolle Fadingers schlüpft) getragen. Dann aber ändert sich der Ton mit den möglichen diachronen Erweiterungen hin zu einer kritischeren Analyse des Kriegsverlaufs mit Durchhalteparolen, um in den letzten Strophen mit einer weinerlichen Selbstanklage, Fadinger-Verfluchung und absurden Eloge an die adeligen Gegenspieler Herberstorff und Pappenheim auszuklingen. Auch Hanrieder konstatiert am Ende seines Epos, dass im »Fádingá-Liad [...] nu was zuwigflickt«10 ist. Als Verfasser des Lieds aber bringt er den ehemaligen Schlägler Novizen Franz und späteren Gmundner Kapuziner P. Johannes ins Spiel, einen seiner (fiktiven) Protagonisten, der im Epos wesentliche Handlungsmomente 7

Vgl. unter anderem Hartmanns bis heute maßgebliche Kommentierung von HAscha ihr Nachbawrn vnd Bawren mit zahlreichen Hinweisen auf dialektale Lexik und (rekonstruierbare) Aussprache: August Hartmann (Hg.): Historische Volkslieder und Zeitgedichte vom sechzehnten bis neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum Ende des dreißigjährigen Kriegs. München 1907, S. 225-254, Nr. 53. Allerdings eliminiert der verdienstvolle Herausgeber in dieser bis heute zumeist herangezogenen Edition irritierenderweise die 50., »sehr derbe« (S. 253) Strophe, in der Vergewaltigungen der Bauersfrauen durch die Soldateska angesprochen werden.

8

[Joseph Edmund Jörg]: Das Fadinger-Lied, in: Historisch-politische Blätter für das ka-

9

Czerny, Albin: Bilder aus der Zeit der Bauernunruhen in Oberösterreich. 1626. 1632.

tholische Deutschland 33 (1854), S. 945-970. 1648. Linz 1876, S. VI. 10 Hanrieder, Norbert: Der oberösterreichische Bauernkriag. Volksmundartliches Epos. 2. Aufl. des Bandes XV. Hg. vom Stelzhamer-Bund. Linz 1923. (=Aus dá Hoamát XXI), S. 225. Auch im Folgenden wird aus dieser von Druckfehlern bereinigten Neuauflage der Erstausgabe von 1907 zitiert.

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übertragen bekommt und gleichsam als Identifikationsangebot des Dichters den Zwiespalt zwischen Heimatliebe, sozialem Engagement und Glaubenskampf während der Wirren des Aufstands durchlebt. Einen Mönch als Urheber eines mundartnahen Texts zu fingieren, ist keineswegs abwegig, im Gegenteil: Ein Gutteil der bairisch-österreichischen Dialektkunst vor der Aufklärung stammt aus dem Umfeld der Ordenskultur. 11 So ist das älteste bislang dokumentierte Beispiel der differenzierten Literarisierung einer regiolektalen Varietät in unserem Sprachraum, das 1618 in Regensburg inszenierte Fastnachtspiel Von dem Hänsl Frischen knecht, wohl für das Wiener Jesuitentheater entstanden. Häufiger noch als Jesuiten waren es in den folgenden Jahrzehnten Orden benediktinischer Prägung, die Dialekt ästhetisch verwerteten, forderte doch deren Konzept der stabilitas loci eine engere Beziehung zur regionalen Sprache. Durch die seelsorgliche Betreuung der inkorporierten Pfarreien und wirtschaftliche Nutzung ihrer grundherrschaftlichen Ländereien hatten sich die Konventualen mit den verschiedenen Sprachnuancen zwischen Basisdialekt und Verkehrssprache auseinanderzusetzen und deren kommunikative Vorzüge auszuloten. Zudem verfügten die oft selbst der ruralen Welt entstammenden Pfarrherren über ungleich mehr Erfahrung mit dem ›gemeinen‹ Alltag der Bauern, Handwerker und Kleinhändler als Autoren aus dem urbanen Raum. Nicht zufällig erinnert deshalb im Benediktinerstift Kremsmünster ein zeitnahes votivbildartiges Gemälde mit leicht dialektalen Erläuterungen (»Ich Stephl Fättinger, bin oben angsessen, / Hab mit Drey Baurn gar stättlich gfressen [...]«)12 an die Einnahme des Klosters am 28. Mai 1626. In provokanter Umkehrung der ständischen Verhältnisse sieht man den charismatischen Anführer als hofierten Ehrengast eines Festmahls, bei dem er sich der Legende nach mit den ihm unbekannten Artischocken den Mund zerstochen haben soll. Ansonsten aber hat der ›Stöffl‹-Stoff in der klösterlichen Dialektkunst nur wenig Nachhall gefunden, zu prekär waren wohl auch in den monastischen Wissenszentren und Wirtschaftsbetrieben die Themen ›soziale Unterdrückung‹, ›Re11 Vgl. dazu die zahlreichen Beispiele in der (an der Universität Graz beheimateten) Datenbank Dialect Cultures, http://gams.uni-graz.at/context:dic. 12 Stift Kremsmünster, Rüstkammer. Vgl. die Bildbeschreibung im Ausstellungskatalog zur Landesausstellung: Der oberösterreichische Bauernkrieg 1626. Linz 1976, Kat.Nr. 203, I/62-63 sowie Gruber, Elisabeth: Die Aneignung aufrührerischer Elemente als Erinnerungsgeschichte. Das Beispiel Stefan Fadinger, in: Peter Rauscher/Martin Scheutz (Hg.): Die Stimme der ewigen Verlierer? Aufstände, Revolten und Revolutionen in den österreichischen Ländern (ca. 1450-1815). Wien, Köln, Weimar 2013. (=Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 61), S. 415-430, hier S. 423.

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bellion‹ und ›Glaubensfreiheit‹. Wenn, dann konnte man Fadinger nur in grotesker Verballhornung auf die Bühne zerren, wie in einem Heiligenkreuzer Prämienstück eines unbekannten Zisterziensers von 1734. Der »große BauernGeneralissimus«13 agiert darin als ambitiöser Vater des Hanswurst, den er auf eine kostspielige Bildungsreise geschickt hat, die – wie er entsetzt erkennen muss – einen großtuerischen, lateinisch, italienisch, französisch und spanisch parlierenden Pseudo-Kosmopoliten aus ihm gemacht hat. Die Muttersprache, geschweige denn seine Mundart zu sprechen, ist der blasierte Filius kaum noch imstande beziehungsweise gewillt. In der im Stil der Kärntnertortheater-Burlesken dieser Zeit gehaltenen Szenenfolge spricht der konsternierte Vater nicht oberösterreichisch, sondern den lokalen ui-Dialekt: »FADINGER. Bist ä Narr Buj? HANSWURST. Sennor Padre! un hombre que ha passado tantas provincias, y ha emparado muchas artes, come puede ser loco? FADINGER. Herstäs Crito? da Buj iß dä ä Naderlingä Narr. Ha Canaly! han i di mit zwe hunät guldnä destwögn ind’ Landä gschückht, däst solst ä Narr wän? HANSWURST. Bin I dem Narr nickt. FADINGER. No so rödt, rödt ä Mahl, so rödt. HANSWURST. Io non so parlare altra lingua che italiano, francese, espagnuola. FADINGER. Kast teusch ä! HANSWURST. Un pochissimo poco, glein Pfenig, pischl.«14 Buj] Bub, Junge Sennor ... loco] (span.) Herr Vater! Ein Mann, der so viele Länder durchreist und viele Künste erlernt hat, wie könnte der ein Narr sein? Herstäs] Hörst du es ä Naderlingä] ein adeliger Canaly] Kanaille han i di] hab ich dich Io ... espagnuola] (ital.) Ich kann keine andere Sprache als Italienisch, Französisch, Spanisch sprechen

Kast teusch ä] Kannst du Deutsch auch?

Un

pochissimo poco] (ital.) ein ganz klein wenig glein Pfenig, pischl] klein wenig, bisschen

Von der historischen Persönlichkeit ist auch sonst nur mehr wenig übrig geblieben. Erst gegen Ende des Stücks wird auf der Suche nach einem fähigen Feldherrn der »alte lang im Kriegswesen berümbte Stefan Fadinger« wieder ins Spiel gebracht, um ihn aber umgehend als »nicht capax«15 zu desavouieren. Der eins-

13 Actus scenicus. In quo Hanswurstius Tabellarius, Stefani Fadingeri filius, de electione melioris status anxius est et inde terminationis incapax. Zitiert nach: Eugène Obermayr: Zwei österreichische Schul-Comödien, in: Österreichisches Jahrbuch des Volksschriften-Vereines 7 (1883), S. 293-303, hier S. 298. 14 Ebd., S. 299. 15 Ebd., S. 302.

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tige Schrecken der katholischen Herren ist auf der Ordensbühne zum Popanz verkommen. Ob ein weiteres »Stöffelfädingä«-Stück, das Mitte des 18. Jahrhunderts offenbar zum Standardrepertoire von Laientruppen der Gegend gehörte, dialektal angelegt war, lässt sich mangels einer Textquelle nicht sagen. Aus dem Singspiel Die Komödieprob (1776) des Lambacher Benediktiners Maurus Lindemayr, Oberösterreichs bedeutendster Dialektdichter vor 1800, wissen wir lediglich, es sei »in Reimän da, / ällain de Fues ist z’vil, und dort geht ainär A«16. Letztendlich entscheidet sich die Dorftheatertruppe in der Spiel-im-SpielHandlung doch für ein ›Hans von der Werth‹-Stück, da man damals den berühmten Reitergeneral des Dreißigjährigen Kriegs, der immer für die katholische Sache gekämpft hatte, fälschlich für einen »Ländl Bue«17, also einen gebürtigen Oberösterreicher hielt.18 Außerhalb der Ordenskultur – bei stadtbürgerlichen oder hofnahen Intellektuellen – wurde der Stoff kaum für Dialektdichtung fruchtbar gemacht. Eine Ausnahme bildet eine Propagandaschrift, mit der während des Spanischen Erbfolgekriegs die bäuerliche Bevölkerung, die aufgrund der unzähligen Steuerlasten, Dienste, Zwänge und Auflagen nicht ohne weiteres gewillt war, für ihre Herrschaft das Leben zu riskieren, gegen die bayerischen Truppen mobilisiert werden sollten. Der anonyme Autor von Ländlä Sittlä (1704) führt seinen Lesern und Leserinnen zunächst die unmittelbare Bedrohung von Leib und Leben vor Augen, um sie anschließend zur Einigkeit im Kampf für Kaiser und Vaterland aufzurufen: »und was wurd der Kayser sagen darzu? gelts er wurd ins bald vorrupffa und straffa/ daß insere Vorfahrer mit dem Stepha Fädinger wieder iem auffgestanden/ und rebellisch gwesen/ der ins do soy lebta dergleiha Marter nit antha hat/ und solten ins iez an seim und insern so hart und groben Feind nit recha/ wär main Ayd ä Schand insern gantzen Nach16 Die Komödieprob auf die allenfällige allerhöchste Ankunft Sr. Maiest. des Kaisers. Ein Lustspiel von dreyen Aufzügen in der gebundenen Oberennserischen bauerischen Mundart. Aufgeführt zu Kloster Lambach An dem Wahltage Sr. Hochwürden und Gnaden des nunmehr durch 30. Jahre seinem Löblichen Stifte höchst rühmlichst vorstehenden Herrn Herrn Abtens Amandi etc. etc. den 25. Weinmonats 1776. Mit Bewilligung der Obern. Steyr, mit Wimmerischen Schriften gedruckt. [1776], S. 9. 17 Ebd., S. 11. 18 Noch Hanrieder wollte aus dem General bäuerlicher Abkunft in seinem Epos »viel machen«, erfuhr aber während der Arbeit von dessen »Abstammung aus der bairischen Pfalz« (Brief an Georg Weitzenböck vom 20. November 1893, zitiert nach Sonnleitner, Alois: Norbert Hanrieder (1842-1913). Innsbruck 1948 [phil. Diss.], S. 132) und baute deshalb dieses Motiv nicht mehr weiter aus.

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kömblä/ drumb bsinds enck nit lang/ dann jez ist die beste Zeit/ daß mir dise Schartn wider außwetzen könna/ und insern alten ehrlinga Nahma erlanga/ wann mir den Bayrischen Baurn Tyran/ das Loch verrenna/ und nit äff Wienn ahi lassen; [...]«19 vorrupffa] etwas vorhalten straffa] strafen soy lebta] sein Lebtag, zeit seines Lebens antha] angetan

main Ayd] Beteuerungsformel

Nachkömblä] Nachkommen

enck] euch

das Loch ver-

renna] den Weg versperren äff Wienn ahi] nach Wien hinab

Ob der Verweis auf die ›Schande‹, im Bauernkrieg gegen den Kaiser ‒ eigentlich aber gegen die tyrannische bayerische Besatzung unter Graf Herberstorff ‒ aufbegehrt zu haben, tatsächlich motivierend war, darf angesichts der Popularität des Bauernführers, der noch immer inakzeptablen Lebensbedingungen für den bäuerlichen Stand und nicht zuletzt aufgrund des damals noch hohen Anteils an Kryptoprotestanten in Oberösterreich durchaus angezweifelt werden. In den folgenden Jahrzehnten verzichteten die literarischen Adaptionen des Fadinger-Stoffs weitgehend auf die dialektale Charakterisierung der Protagonisten; eine authentische Geschichtsdokumentation wurde ohnedies nur selten angestrebt.20 So spiegelt sich im fünfaktigen ›Nationalstück‹ Stephan Fädinger, 19 Ländlä Sittlä. Das ist: Ein guthertzige/ und hertzhaffte Ermahnung eines Ländlerischen Bueben auß der Casperhoffer Pfarr Nahmens Simändel Frieser An seine Land ob der Ennßische Mit=Gespänn/ wider die tyrannische Bayrn zu fechten. Anno 1704, f. 1v. 20 Zu den Literarisierungen des Stoffs vor 1889, auf die hier nur auszugsweise und ergänzend eingegangen werden kann, vgl. Friedrich Holzinger: Der oberösterreichische Bauernkrieg in der Dichtung. Wien 1933 [phil. Diss.] – Adalbert Schmidt: Der Bauernkrieg in literarischer Sicht, in: Oberösterreichische Heimatblätter 29 (1975), S. 133-153. – Johannes Krebs: Die literarische Rezeption des oberösterreichischen Bauernkrieges. Eine Darstellung am Beispiel des Dramas, in: Oberösterreichische Heimatblätter 43 (1989), S. 179-211. – Michaela Schlegl: Der oberösterreichische Bauernkrieg literarisiert. Am Beispiel von Stephan Fädinger, oder Der Bauernkrieg von Paul Weidmann, Der Bauernauffstand ob der Enns von Benedikt Dominik Anton Cremeri und Stephan Fädinger. Eine Geschichte aus den Zeiten Kaiser Ferdinand des Zweyten (anonym). Graz 2002 [Dipl.-Arb.] – Martina Fuchs: Der unscheinbare Rebell. Stefan Fadinger in historischer Belletristik, in: Peter Rauscher/Martin Scheutz (Hg.): Die Stimme der ewigen Verlierer? Aufstände, Revolten und Revolutionen in den österreichischen Ländern (ca. 1450-1815). Wien, Köln, Weimar 2013. (=Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 61), S. 431-454.



Arnold

Klaffenböck:

Oberösterreichischer

http://www.stifter-haus.at/ lib/publication_read.php?articleID=294.

Bauernkrieg,

in:

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oder der Bauernkrieg (1781) des josephinischen Erfolgsdramatikers Paul Weidmann die absurde Stilisierung des Bauernführers zum aufgeklärten Tugendideal auch in dessen elaborierter Sprache. Selbst vor einer Reaktivierung des in barocken Schicksalstragödien beliebten ›Imitatio Christi‹-Motivs schreckt Weidmann nicht zurück, wenn er Fadinger in einer ausgedehnten Sterbeszene (in Gegenwart Pappenheims!) der Rebellion abschwören und nach einem Treueschwur für den Kaiser mit den Worten sterben lässt: »Friede sey mit euch – Vater Martin – Ich empfehle dir meine Liebste – Kalt – Schwach – Lebet wohl – Ach – Gott – Ich sterbe!«21 Konträr dazu zeichnet der Polizeikommissär Franz Proschko in seiner Erzählung Der Meisterschuß (1866) seinen Bauernführer als herrischen, intriganten Gewaltmenschen, der sich zu Unrecht gegen die Obrigkeit und die katholische Kirche auflehnt und letztendlich von seinem eigenen Neffen, dem Meisterschützen, anstelle des bayerischen Statthalters erschossen wird. Nicht viel günstiger und gleichfalls standardsprachlich gestaltete zuvor schon der Znaimer Theodor Scheibe in seinem Geschichtsroman Stefan Fadinger, der Bauernkönig (1865) seinen Titelhelden. Selbst Autoren wie Karl Adam Kaltenbrunner (Stefan Fadinger, Ballade, 1828) oder Franz Keim (Stefan Fadinger, episches Gedicht, 1885), die sich auch als Mundartdichter einen Namen gemacht hatten, lassen die – von ihnen sehr unterschiedlich angelegten – Titelhelden ihrer Dichtungen hochdeutsch sprechen. Die einzige bedeutendere Bearbeitung des Stoffs, die im 19. Jahrhundert zumindest ansatzweise die ästhetischen Möglichkeiten regiound soziolektaler Schattierung für die Figurencharakterisierung nutzt, ist der vierbändige, 1851 erschienene Stephan Fadinger-Roman des aus Wels gebürtigen Arztes und Schriftstellers Friedrich Wilhelm Arming. Sein eloquenter Fadinger allerdings, ein durch und durch bewundernswerter Kämpfer für Glauben und Heimatland, spricht bezeichnenderweise nicht das Oberösterreichische der ›kleinen Leute‹ seines Umfelds.

H ANRIEDERS B AUERNKRIEGSEPOS Es war also durchaus ein innovatives Unternehmen, als der Putzleinsdorfer Pfarrer Norbert Hanrieder22 1887 den Entschluss fasste, ein »volksmundartliches

21 Weidmann, Paul: Stephan Fädinger, oder der Bauernkrieg. [Salzburg 1781], S. 89. 22 Norbert Hanrieder wurde am 2. Juni 1842 als Sohn des Wundarztes Joseph Hanrieder und seiner Frau Franziska (geb. Lechner) in Kollerschlag geboren. Nach seiner Zeit als Sängerknabe im Zisterzienserstift Wilhering besuchte er das Gymnasium in Linz, wo er die Schülerverbindung Germania mitbegründete, und ging nach der Matura

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Epos«23 zu schreiben. Der Anstoß dazu kam vom Juristen, Heimatkundler und Mitbegründer des Stelzhamer-Bundes Hans Zötl, den die Frage beschäftigte, »wie weit man in der Pflege des Dialektes gehen könne und ob namentlich ein größeres Epos – beispielsweise eines, welches den Stephan Fadinger zur Grundlage hätte – mundartlich und wie sonst, wenn nicht rein hochdeutsch, zu behandeln wäre.«24 Hanrieder, der sich, nach ersten hochdeutschen Versuchen, seit den späten 1870ern einen Namen als Dialektdichter gemacht hatte und als legitimer Nachfolger Stelzhamers gehandelt wurde, griff die Anregung begeistert auf und las sich in die verfügbare Fachliteratur ein, »nebst Kurz, Pritz und Stülz besonders die quellenmäßigen Arbeiten Czernys, Strnadts und Prölls«25; dazu kamen noch allgemeinere kulturhistorische Studien wie Otto Henne am Rhyns Kulturgeschichte des deutschen Volks. Felix Stieves maßgebliche Studie Der oberösterreichische Bauernkrieg des Jahres 1626 (1891), die den Grund für den Auf1863 zur theologischen Ausbildung ans Priesterseminar. 1866 zum Priester geweiht, begann er als Kooperator in Losenstein, Peilstein und Sarleinsbach, um 1874 als Pfarrer die Pfarre Putzleinsdorf zu übernehmen, wo er bis zu seinem Tod am 14. Oktober 1913 wirkte. Neben seiner vielfältigen seelsorgerlichen und literarischen Arbeit machte sich Hanrieder auch als Förderer des wirtschaftlichen und kulturellen Lebens im Oberen Mühlviertel verdient. Zur Biographie Hanrieders vgl. unter anderem Sonnleitner, Hanrieder. – Sonnleitner, Alois: Hanrieder, Norbert, in: Neue Deutsche Biographie. Bd. 7. Berlin 1966, S. 623. – Erich H. Fuchs: Norbert Hanrieder. Licht und Schatten. Saldenburg 2015. – Erich H. Fuchs (Hg.): Franziska Hanrieder an ihren Sohn Norbert: Briefe aus Kollerschlag 1863-1874. Saldenburg 2016. 23 N. Hanrieder, Bauernkriag, Titelblatt. 24 Brief Zötls an Hanrieder vom 10. Dezember 1885, zitiert nach A. Sonnleitner, Hanrieder, S. 153. 25 Hanrieder in einem ungedruckten Vorwort zum Bauernkriag, zitiert nach Georg Prader: Norbert Hanrieder in seinen Dichtungen, in: Programm des nö. LandesLehrerseminars St. Pölten 1911/12 [Sonderdruck], S. 165. Die angegebenen Werke stammen beinahe alle von klerikalen Autoren: Franz Kurz: Beiträge zur Geschichte des Landes Oesterreich ob der Enns. Bd. 1: Versuch einer Geschichte des Bauernkrieges in Oberösterreich unter der Anführung des Stephan Fadinger und Achatz Wiellinger. Leipzig 1805. – Franz X. Pritz: Geschichte des Landes ob der Enns. Bd. 2. Linz 1847. – Jodok Stülz: Geschichte des Cistercienser-Klosters Wilhering. Ein Beitrag zur Landes- und Kirchengeschichte Oberösterreichs. Linz 1840. – Czerny, Bilder aus der Zeit der Bauernunruhen. – Julius Strnadt: Der Bauern-Aufruhr im Mühlviertel in den Jahren 1594-1597. Ein Beitrag zur Geschichte dieses Bauernkrieges, in: Bericht über das Museum Francisco-Carolinum 18 (1858), S. 179-220. – Laurenz Pröll: Geschichte des Prämonstratenserstiftes Schlägl im Oberen Mühlviertel. Linz 1877.

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stand vor allem in den konfessionellen Auseinandersetzungen sieht, kam erst nach Vollendung der ersten Fassung in Hanrieders Hände. Von den Bauernkriegsdichtungen seiner Vorgänger scheint er keine als Anregung herangezogen zu haben, auch wenn er das eine oder andere Werk gekannt haben wird. Im Winter 1888/89 begann Hanrieder mit der Niederschrift, anfangs noch im Unklaren darüber, ob der – auch in Stelzhamers Epen bewährte – Hexameter das geeignetere Metrum für die poetische Verdichtung des Dialekts sei oder er sich doch am vierhebigen Versmaß des ›Fadingerlieds‹ orientieren sollte. Letztendlich entschied er sich für einen paargereimten Vierheber; den ›Vorspruh‹, der anstelle des antiken Musenanrufs eine Selbstermunterung bringt und die Beweggründe nennt, in Mundart zu dichten, verfasste er noch in ungereimten daktylischen Sechshebern: »Sötz di nöt lang und probiers, sunst nimmts ja koan Endt nöt dös Schmächeln Vo dö Gstudierten! – Du woaßt schan, was’s sagn: Mit der armsailing Volkssprach Lassát si freili á Gspoaßl schan dichten, dös wá nöt zun Laugná, Awá koan ernstligi Gschicht, da gángát ihr ehntá dá Pfnadn aus! Schau ná dazuá! Mit dá Müah kimmt d’Freud und mit derá dá Sprachschatz. D’Liab zu dá Hoamát, döst hast, wird dá d’Wort schan auf d’Zung lögn und einsagn!«26 Schmächeln] Schmähen

armsailing] armseligen

Gspoaßl] Spaß, etwas Lustiges

wá] wäre

ernstligi Gschicht] ernsthafte Geschichte gángát] ginge ehntá dá Pfnadn] eher der Atem derá] dieser döst] die du

Anders als in den oben genannten Beispielen zielt Hanrieder, wenn er das Mühlviertlerische zur Literatursprache macht, nicht auf die Komisierung der Sprecher ab (die häufigste Verwendungsweise von Dialekt seit dem 17. Jahrhundert), auch nicht auf eine vordergründige Nähe zur bäuerlichen Lebenswelt für populistische Zwecke, ja nicht einmal – oder schon gar nicht – auf ein Identifikationsangebot für das Zielpublikum. Die Vorbehalte der ›Gstudierten‹, die hier anklingen, gehen von der Mangelhaftigkeit des genuin mündlichen Dialekts in ästhetischer Hinsicht aus: Seine diatopisch bedingt eingeschränkte Reichweite führe zu einem Verlust an Verständlichkeit, der dialogische Charakter mindere die Ausdrucksmöglichkeiten und die schichtenspezifische Verwurzelung im bäuerlichkleinbürgerlichen Lebensbereich beziehungsweise die soziale Stigmatisierung als Ausdruck der Ungebildeten ließen ihn ungeeignet erscheinen, komplexere und abstrakte Inhalte zu gestalten.27 Diese gängige Abwertung lokaler Sprachva-

26 N. Hanrieder, Bauernkriag, S. 8. 27 Vgl. C. Neuhuber, Die vergessene Kunst, S. 59f.

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rietäten, die in sprachgeschichtlichen und -regulativen Konzepten seit der Aufklärung eine wesentliche Rolle spielte, ist vor dem Hintergrund der vergleichsweise späten Verankerung einer überregionalen Einheitssprache im zentrumslosen deutschsprachigen Raum zu sehen. Um eine schriftsprachliche Norm durchsetzen zu können, diffamierte man dialektale Formen als rückständige Provinzialismen, die dem klaren Ausdruck und diskursivem Denken im Wege standen. Ein lexikalischer Mehrwert der kritisierten mündlichkeitsbasierten Varietäten gegenüber normierter Schreibsprache – die Fülle an zusätzlichem Sprachmaterial in Form von Heteronymen, Nischenvokabular oder Redewendungen – wurde zwar schon früh in die Diskussion eingebracht, doch von den Sprachpuristen lang und nachhaltig ignoriert.28 Hanrieder sah es dagegen als Herausforderung, das Potential des Dialekts als identitätsstiftendes ästhetisches Mittel auszuloten. Welche Mühe ihm die Aufgabe bereiten würde, ein »Epos für das Volk«29 zu schaffen, wurde ihm erst im Zuge des Schreibprozesses bewusst. In Briefen an seine Freunde beklagte er u.a. die Schwierigkeit, das fehlende mundartliche Imperfekt oder auch das Defizit an abstrakter Begrifflichkeit in der epischen Form zu kompensieren. 30 Er entschied sich, um die Verständlichkeit zu wahren, »für die richtige Mitte zwischen Bauernsprache und städtische[m] Idiom«31, scheute aber nicht vor damals schon archaischem Wortmaterial zurück, um den historischen Ereignissen aus der Zeit des Dreißigjährigen Kriegs lexikalisches Zeitkolorit hinzuzufügen und auf diese Weise ein »Sprachdenkmal zu schaffen«32. Für diese gelungene Literarisierung 28 Bereits ab der Mitte des 17. Jahrhunderts lässt sich dieser Bereicherungsgedanke in den Diskussionen um den Wert regionalsprachlicher Varietäten beobachten. Seinen konstruktivsten Ausdruck findet er schließlich in den verschiedenen Idiotika, in denen Provinzialismen gesammelt und sprachtheoretisch ›ursprüngliche‹ Ausdrücke aufgewertet wurden. Vgl. dazu Walter Haas: ›Die Jagd auf Provinzial-Wörter‹. Die Anfänge der wissenschaftlichen Beschäftigung mit den deutschen Mundarten im 17. und 18. Jahrhundert, in: Klaus Mattheier/Peter Wiesinger (Hg.): Dialektologie des Deutschen. Forschungsstand und Entwicklungstendenzen. Tübingen 1994, S. 329-365. 29 Brief Hanrieders an Hans Schnopfhagen vom 9. Mai 1892, zitiert nach A. Sonnleitner, Hanrieder, S. 151. Aufgrund ihrer diatopischen, diastratischen und diaphasischen Eigenheiten ist die Darstellung des gesellschaftlichen Nahbereichs eine weitere Stärke mundartlicher Formulierungen, nicht nur in Bezug auf Intimität und Privatheit: Sprachinhärente Inklusionseffekte appellieren auch an ein Gemeinschaftsgefühl, das Hanrieder mit seinem Epos bedienen wollte. 30 Vgl. ebd., S. 152. 31 Ebd. 32 Brief Hanrieders an Weitzenböck, zitiert nach Sonnleitner, Hanrieder, S. 150.

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dialektaler Formen, die immer wieder geschickt Metaphorik aus der bäuerlichen Lebenswelt integriert, wurde ihm ungeteiltes Rezensentenlob zuteil; noch heute sichert sie ihm einen Platz unter den bedeutendsten Mundartdichtern Österreichs. Problematischer ist freilich aus mehreren Gründen das poetische Gesamtkonzept der epischen Dichtung, die letztlich aus 14 umfangreichen, recht lose miteinander verknüpften Gesängen bestehen sollte, mit dem ›Vorspruh‹ und einem ›Ausblick‹, der als geschichtliche Einführung dient, vorweg, und einem kurzen Epilog als Abschluss. Hanrieder trat – wie schon der Titel verrät – mit der Absicht an, die gesamte »Gschicht von den schröcklingá Baurnkrag«33 möglichst wahr und den historischen Tatsachen entsprechend ins Bild zu setzen, wobei er den Aufstand vor allem als soziale und politische, weniger als konfessionelle, glaubenskämpferische Auseinandersetzung darstellen wollte. Doch war ihm bewusst, dass die detaillierte Rekonstruktion des Kriegsverlaufs im epischen Gewand nicht zu bewerkstelligen war. Er setzt deshalb auf einige wenige, sehr plastische Szenen, die exemplarisch für das Geschehen stehen und weniger das strategische Kalkül, die politischen Verhältnisse oder die militärischen Aktionen im Detail schildern als vielmehr Emotionen und Grundhaltungen der Protagonisten vermitteln sollten. Dazwischenliegende oder parallel dazu passierende Handlungsmomente werden in starker Raffung durch den Erzähler oder im Figurenbericht vermittelt. Allerdings können nur wenige dieser Übergänge, die das historische Material entfalten, tatsächlich die Einzelszenen handlungsmotivierend verbinden. Im Mittelpunkt dieser isolierten, doch illustrativen, zuweilen auch überzeichneten Bilder stehen einerseits historische Persönlichkeiten wie Fadinger, auf den noch näher einzugehen ist, seine treuen oder wankelmütigen Mitstreiter sowie die Gegenspieler der Bauern, der in dunklen Farben gezeichnete Machtmensch Herberstorff oder der unerbittliche Kriegsheld Pappenheim. Auf der anderen Seite aber erfindet Hanrieder Figuren, die die Auswirkungen der historischen Geschehnisse auf Einzelne illustrieren oder fehlende Handlungsmotive kompensieren sollen. Nur wenige dieser dezidiert fiktiven Figuren sind tatsächlich geglückt: Die tragische Liebe zwischen Fadingers Tochter Hedwig und dem oben erwähnten entlaufenen Novizen Franz gibt der Geschichte zwar einen Rahmen, gewinnt aber durch ihre episodenhafte Anlage weder psychologische Tiefe noch Eigendynamik und gibt zumeist nur sehr kurzschlüssige Begründungen für Handlungselemente (so wird etwa Fadingers Entscheidung für die Führungsrolle mit dem Zorn über Hedwigs Katholizismus motiviert). Auch das Doppelgängermotiv, das sich über die beiden Studienfreunde (und früh getrennten Brüder) Franz und Glazianus entfaltet, trägt kaum etwas zu einer symboli33 N. Hanrieder, Bauernkriag, S. 7 (Vorspruh, V. 7).

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schen Verdichtung oder metaphorischen Ausdeutung des eigentlichen Themas bei. Noch bedenklicher, weil als tendenziöse Zutaten den Objektivitätsanspruch des katholischen Priesters unterminierend, sind die Figuren der Sibylle und des Prädikanten, die als opportunistische Einflüsterer Fadingers und scheinheilige Lust- und Modernisierungsverweigerer ein ausgesprochen negatives Bild der evangelischen Lehre vermitteln: »Sybillá laßt sö si nenná, dös Trum, Und arbát iatzad für’s Luthertum! Da richt má sein Glaubn her, wia má will, Und tipflt’n außár aus dá Postill. Was geltn bán Leutn, das is’s ja gwillt, Drum hat sö si für á Prophetin aufgspielt. Bán Huatárá gehts schan lang ein und aus, Regiert eahm selbár und ’s ganzi Haus; Und is doh sunst nöt so lodá, der Mann, Má mecht schan bal glaubn, ös is eahm tan!«34 sö si] sie sich Trum] Schimpfwort für Frau tipflt’n außár] heraustüfteln, herausklügeln Postill] Postille: Predigtbuch

bán] bei den

schan bal] schon bald

lodá] schwach, beeinflussbar

ös is

eahm tan] er ist verhext

Hanrieder rechtfertigte diese Invektiven damit, er habe damit lediglich den »Fanatismus«, nicht aber die »ehrliche Überzeugung«35 der protestantischen Bauernschaft geißeln wollen. Gelungener sind die kontrastierenden Figuren des Intriganten und Verräters, des mickrigen ›Schuasterl vo Sálásbah‹ (Sarleinsbach), der sich mit Fadinger überwirft, zum Feind überläuft und den tödlichen Schuss abfeuert, und der drei hünenhaften Freunde, des Müllners ›Kaspár vo Bamshoam‹ (Babensham in Bayern), des Schmieds Mártl aus Kollerschlag und des ›Schwörzá vo Julbah‹, die in nibelungischer Konsequenz das Prinzip der Treue verkörpern, das Hanrieder als Grundidee seines Epos verstanden wissen wollte.

34 N. Hanrieder, Bauernkriag, S. 86 (V. Gesang, V. 61-70). 35 Brief Hanrieders an Weitzenböck vom 9. April 1908, zitiert nach Sonnleitner, Hanrieder, S. 127.

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H ANRIEDERS F ADINGER -B ILD Um den Jahreswechsel 1891/92 legt Hanrieder die erste Fassung seines Werks seinen Freunden vor, die sich von der sprachlichen Kunstfertigkeit angetan zeigen, doch in der Gesamtkomposition eine klare Hauptperson vermissen, an deren Entwicklung und Schicksal sich das komplexe Geschehen mitverfolgen und deuten ließe.36 Dass tatsächlich in diesem Arbeitsstadium der Student Glazianus, und mit ihm sein ›alter ego‹ Franz, die Handlung eher bestimmt als Fadinger, wird kein dramaturgisches Versehen gewesen sein. Zum einen war dieser Fokus wohl dem Problem geschuldet, dass mit dem Tod des ›Gottsöbersten‹ der Bauernkrieg erst in seine entscheidende, darstellungsintensive Phase tritt und der vorzeitige Verlust der Zentralfigur eine konsistente Perspektive auf den vielschichtigen Geschehensverlauf erschwert – wie sich letztlich ja am 10. Gesang nachdrücklich zeigt. Zum anderen aber scheint sich Hanrieder über die beiden Studenten selbst in gewisser Weise in den Text eingeschrieben zu haben. Die unterschiedlichen Charaktere der äußerlich zum Verwechseln ähnlichen Brüder, das impulsive, extrovertiert-selbstbewusste Draufgängertum des Glazianus und die warmherzige, schöngeistige Sensibilität, aber auch Unsicherheit des Franz, empfand der Dichter und Priester als zwei Seiten seines eigenen Wesens.37 Dem Rat einiger seiner gutachtenden Freunde, den Studenten noch mehr in den Mittelpunkt zu rücken, greift Hanrieder trotzdem nicht auf, sondern entscheidet sich, Fadinger zur Zentralgestalt zu machen und bis zu deren Tod im neunten Gesang ein möglichst umfassendes Bild der historischen Persönlichkeit zu geben.38 Er lässt den Bauernführer nun bereits im ersten Gesang auftreten ‒ dieser Teil wird später zum ›Ausblick‹ verselbständigt ‒ und achtet darauf, dass er auch in den folgenden Gesängen zumindest in den Erzählungen anderer Figuren präsent ist, um ihn »überall als das treibende Agens und den ordnenden Geist«39 in Szene zu setzen. Mit dem Gesang Fadinger in Steyr widmet er ihm darüber hinaus ein neues eigenes Kapitel, das den ›Gottsöbersten‹ im Zenit seiner Macht zeigt. Zugleich aber wird nach dem klassischen Tragödienschema durch das Moment der Hybris auch der schleichende Zerfallsprozess der Bewegung ins Bild gesetzt: Fadingers Forderung nach unbedingtem Gehorsam bringt ihn in Konflikt mit seinen engsten Mitstreitern:

36 Vgl. A. Sonnleitner, Hanrieder, S. 125. 37 Vgl. dazu die erhellenden Ausführungen von Fuchs, Licht und Schatten. 38 Ebd. 39 Blatt aus dem Nachlass, zitiert nach Sonnleitner, Hanrieder, S. 131.

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»›Nu oans‹, moant dá Fádingá, ›Leuteln, geht a, I steh als dár öbársti Gwalttragá da, Da brauch i án pünktling Ghorsam von eng, Den muaß i nu federn und federn á streng: Án Ghorsam, der gar koan Widerröd leidt, Án bständing für heunt und für alli Zeit. Den schwörts mär iatzt alli, wias da sáds bánand!‹ ›Halt!‹ schreit iatzt dá Zellá, ›den bring i nöt zstand! Soviel als wia du is án anánár áh, I reim dá nix ein und wanns wiadáwöll wá. Glaubst richti, daß du dá Gottsöbersti bist? Lang gnua hast di gspreitzt wia dá Hahn auf’n Mist! Á paar Födern wöggá von Huat kunnt nöt schadn, Mir sán freiö Baurn und koani Krawatn!‹ ›Bráv, Zellá!‹ ›Recht hat á!‹ so surmts duránand,«40 Nu oans] noch eines moant] meint geht a] geht ab, fehlt eng] euch federn] fordern á] auch wias da sáds bánand] wie ihr alle hier seid án anánár áh] ein anderer auch wanns wiadáwöll wá] was auch immer wäre

wöggá] weg

Krawatn] Kroaten (als Soldaten gefürchtet)

surmts

duránand] tönt es durcheinander

Auch hier klingen wohl wieder Hanrieders eigene Ansichten durch, der als entschiedener Demokrat äußert sensibel auf jegliche Vereinnahmung reagierte und es selbst als überzeugter Katholik ablehnte, »dem Episcopate unbedingte Heeresfolge«41 zu leisten. Dem Klerus empfahl er desgleichen eine »democratische Gesinnung, [...] wenn er nicht den letzten Halt[,] den Bauernstand auch verlieren will.«42 Als das offensichtlich misstrauisch gewordene Ordinariat eine offizielle Anfrage nach der Ausrichtung seines Epos stellte, bezeichnet er es konsequenterweise als »demokratisch und katholisch«43. Mit dem hochfahrenden Fadinger, der sich zum ›Bauernkönig‹ aufschwingen will, bringt Hanrieder einen Charakterzug ein, der sich nur bedingt zu anderen, weitaus ›heroischeren‹ fügen will. Zwar betont der Autor in einem Brief an 40 N. Hanrieder, Bauernkriag, S. 126f. (VII. Gesang, V. 363-377). 41 Brief Hanrieders an Heinrich Rechberger vom 2. Jänner 1893, zitiert nach Fuchs, Licht und Schatten, S. 109; dort auch ausführlicher zu Hanrieder als ›demokratischer Katholik‹ (S. 105-114). 42 Brief Hanrieders an Rechberger vom 22. November 1891, zitiert nach Fuchs, Licht und Schatten, S. 110. 43 Zitiert nach A. Sonnleitner, Hanrieder, S. 44.

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seinen Freund Georg Weitzenböck vom 18. August 1901, die »bewußte historische Wahrheit nicht auf den Kopf stellen« zu wollen, »um im Stöffel eine Idealgestalt zu schaffen«. Dass er ihn allerdings vor allem als positive Gestalt sah, stellt er im Weiteren klar: »Wo ich frei gestalten konnte und durfte, habe ich das Meinige getan, und was an Stöffel hervorzuheben ist, seine glühende Begeisterung für Land und Volk, sein eiserner Charakter, seine Sittenstrenge und sein weitblickender Führersinn, wurde gewiß reichlich betont.«44

Neben diesen bewundernswerten Eigenschaften finden sich allerdings zahlreiche weniger einnehmende Aspekte Fadingers, nicht nur der mehrfach anklingende Hochmut, sondern auch Jähzorn, Argwohn, Egoismus, Verführbarkeit oder Unversöhnlichkeit. Alois Sonnleitner schreibt diese teils widersprüchliche Figurenanlage Hanrieders Bestreben zu, »ein möglichst vollständiges Bild zu geben«, das allerdings durch seine »mangelnde Kompositionsgabe«45 nicht recht glücken wolle. Denn die einzelnen Facetten des Charakterbilds sind in den Gesängen zumeist isoliert dargestellt, sodass sich kein konsistentes Profil ergibt; im Gegenteil, die gegenläufigen Züge werden nicht als Aspekte einer komplexen Persönlichkeit oder als Ergebnisse einer psychologischen Entwicklung verstanden, sondern als irritierende Brüche in der Figurencharakterisierung. Derselbe Fadinger, der zu Beginn seine Tochter verstößt, begegnet uns im 5. Gesang als liebender, stolzer Vater, um im folgenden Abschnitt von seiner Tochter als unberechenbarer Despot geschildert zu werden. Gleichzeitig wird das Konfliktpotential, das in der historischen Persönlichkeit angelegt ist, in bestimmten Bereichen mit Absicht nicht ganz ausgeschöpft. Hanrieder hatte aus nachvollziehbaren Gründen wenig Interesse daran, den Bauernkrieg als religiös motivierte Erhebung protestantischer Bauern wider die gegenreformatorischen Repressionen zu schildern. Gerade der evangelische Glaube Fadingers hatte ja lange Zeit verhindert, ihn als allgemeinen Volkshelden wie etwa Andreas Hofer zu legendarisieren. Wollte man ihn im großteils katholischen Oberösterreich zur Identitätsbildung nutzbar machen, so empfahl es sich, den Sozialrevolutionär herauszustellen, der gegen die strukturellen Ungerechtigkeiten zu Feld zog. Eindrucksvoll werden deshalb dem Lesepublikum schon im ersten Gesang Abgabendruck und Ausbeutung vor Augen geführt, denen die Bauern zu dieser Zeit ausgesetzt waren: 44 Brief Hanrieders an Weitzenböck vom 18. August 1901, zitiert nach Sonnleitner, Hanrieder, S. 132f. 45 A. Sonnleitner, Hanrieder, S. 140.

»S O WAHR I



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»Mir habn i den oanzigá Sterbhápt schan gnua, Nehmts ’s Rüstgeld fürn Kaisá und d’Steuern dázua, Für d’Herrschaften d’Robot und d’Gaben fürs Land, Dö Freigeldá, Deanst und Táxen allsand. Wer kanns denn dáschwingá, wer kanns denn dádaurn? Drum wög mit dö Herrnleut, d’Freiheit für d’Baurn!«46 Sterbhápt] Sterbhaupt: Viehabgabe (oder Entgelt) bei Todesfall Rüstgeld] Zwangsabgabe für Ausstattung und Unterhalt des Heeres zumal in Kriegszeiten

Robot] Frondienst: Dienstleistungen, die

der Bauer für die Grundherrschaft zu leisten hatte; dazu zählten Hand- und Spanndienste (etwa die Anbau- und Erntearbeit auf grundherrschaftlichen Feldern), Zugdienste (Transportfahrten mit eigenem Gespann), Jagddienste (als Treiber, Träger, Schneisenbauer etc.), Botendienste oder auch Baudienste; der grundherrschaftliche Missbrauch führte nicht selten zu Unruhen Freigeldá] 10 Prozent von liegender oder fahrender Habe bei Besitzveränderungen Deanst] Dienste Táxen] Gebühren, die von der Herrschaft bei Besitzveränderungen eingehoben wurden, etwa die Gebühr für Amtshandlungen, Protokollierungen, Ausstellung von Urkunden etc. dáschwingá] leisten, bezahlen dádaurn] überdauern, überstehen

Hanrieder scheut dabei auch nicht davor zurück, den Anteil der katholischen Obrigkeiten an dieser Ungerechtigkeit zu benennen. Er hütet sich aber, den Bauernkrieg als anti-habsburgische Bewegung darzustellen, war es doch gerade in Zeiten des erstarkenden Liberalismus für einen Geistlichen nicht opportun, das Kaiserhaus in ein schlechtes Licht zu setzten. Mit einem äußeren Feind, der bayerischen Statthalterschaft unter der verhassten Schreckensfigur Herberstorff, konnte der Stoff zu einem genuin österreichischen, ›nationalen‹ werden, der angesichts der gesellschaftlichen und politischen Ausdifferenzierungsprozesse Ende des 19. Jahrhunderts über die gemeinsame Vergangenheit Einigkeit schaffen sollte. Der verfolgte Protestant Fadinger hingegen tritt zugunsten des unterdrückten Bauern und habsburgischen Patrioten in den Hintergrund. Mehr noch: Eine der dominanten Figurenkonstituenten ist Fadingers Toleranz und ausgesprochener Pragmatismus in Glaubensfragen. Für einen erfolgreichen Feldzug gegen die Fremdherrschaft ist es wichtig, auch die katholischen Bauern im eigenen Lager zu wissen: »Halts zsamm! Für’n Baurn, is á Kátholik, wachst nettá so guat dá herrische Strick, als wiar á für uns Evángölischi gilt, Mir sán jo dös námligi ghötzti Gwildt!«47 46 N. Hanrieder, Bauernkriag, S. 39 (I. Gesang, V. 203-208).

358 | CHRISTIAN N EUHUBER Halts zsamm] haltet zusammen is á] ist er nettá so guat] ebenso gut wiar á] wie er Mir sán jo dös námligi] wir sind ja dasselbe ghötzti Gwildt] gehetzte Wild

Fadinger selbst weist zwar am Sterbelager zurück, zum Katholizismus zurückzukehren, »Weils unsároaná so gnau nöt kennt, / Warum á dös oan odár aner is, / Án iadá betracht sein Glaubn für gwiß«48. Doch gibt er seinen erschütterten Gefolgsleuten die Vision eines einst konfessionell wieder geeinten Landes, das, dadurch gestärkt, eine gerechte Zeit erleben darf: Dá Protestant und dá Katholik Wern oani nu wern und gar nu zlöst Föst zsammhalten, dáß’s koan Drittá nöt prößt49 Wern oani nu wern] werden noch einig werden zlöst] zuletzt dáß’s] dass, damit sie koan Drittá] kein Dritter (Hanrieder bringt hier – als Kind seiner Zeit – Juden und Heiden ins Spiel) nöt prößt] nicht unterdrückt

Mit einer Liebeserklärung an Oberösterreich haucht er sein Leben aus. Richtig überzeugen konnte Hanrieder die Herausgeber des Stelzhamer-Bunds mit dieser Überarbeitung allerdings nicht, denn diese holten – wohl auch unter dem Eindruck von Stieves anderweitiger Sicht der Kriegsursachen – 1894 ein weiteres, externes Gutachten beim aus Linz stammenden Prager Literaturprofessor und Mundartspezialisten Hans Lambel ein, das äußerst kritisch ausfiel. 50 Hanrieder ließ sich nur kurz davon entmutigen und feilte weiter an seinem Text; an der Figur Fadingers änderte er kaum noch etwas. 1898 sieht er sich am Ende seiner Arbeit und übergab Zötl das fertige Manuskript. Es sollte noch neun Jahre dauern, bis das Epos endlich mit Illustrationen versehen im Druck erscheinen konnte. Die Aufnahme bei Kritik und Publikum war mehr als wohlwollend. Doch kränkte es den Dichter, dass es von protestantischer Seite trotz seiner beabsichtigten Überparteilichkeit keinerlei Anerkennung gab. Letztlich wurde sein gutgemeinter Versuch, den religiösen Kontext des Bauernkriegs möglichst zurückzunehmen, um Fadinger als integrative sozialkämpferische Heldenfigur herauszuarbeiten, doch wieder als tendenziös verstanden.

47 Ebd., S. 146 (IX. Gesang, V. 187-190). 48 Ebd., S. 144 (IX. Gesang, V. 104-106). 49 Ebd., S. 149f. (IX. Gesang, V. 320-322). 50 Vgl. A. Sonnleitner, Hanrieder, S. 125f.

Der frühmittelalterliche König – ein Held? Die Konstruktion von Männlichkeit bei Widukind von Corvey K ÄTHE S ONNLEITNER »Lieber wollen wir im Kampfe, wenn unser Ende bevorsteht, ruhmvoll sterben, meine Krieger, als den Feinden untertan in Knechtschaft leben oder gar wie böse Tiere durch den Strick enden. Ich würde mehr sagen, meine Krieger, wenn ich wüßte, daß Worte die Tapferkeit oder Kühnheit in euren Gemütern erhöhen. Jetzt lasst uns lieber mit den Schwertern als mit Worten die Verhandlung beginnen.«1

Diese wörtliche Rede legt der Geschichtsschreiber Widukind, Mönch im Reichskloster Corvey, in seiner 967/68 verfassten Sachsengeschichte2 Otto I. in 1

Widukindi res gestae Saxonicae, bearb. v. Albert Bauer/Reinhold Rau, in: Quellen zur Geschichte der sächsischen Kaiserzeit (=Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters, Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe, Band 8) Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1977, S. 3-184, (abgekürzt Widukind) hier: Widukind III, 46, S. 156-157. »Melius bello, si finis adiacet, milites mei, gloriose moriamur, quam subiecti hostibus vitam serviliter ducamus aut certe more malarum bestiarum strangulo deficiamus. Plura loquerer, milites mei, si nossem verbis virtutem vel audatiam animis vestris augeri. Modo melius gladiis quam linguis colloquium incipiamus.«

2

Zur reichen Literatur über Widukind zusammenfassend: Laudage, Johannes: Widukind von Corvey und die deutsche Geschichtsschreibung, in: Johannes Laudage (Hg.), Von Fakten und Fiktionen. Mittelalterliche Geschichtsdarstellungen und ihre kritische Aufarbeitung (=Europäische Geschichtsdarstellungen Band 1), Köln: Böhlau 2003, S. 1-42.

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den Mund, in einer Situation, die für dessen Herrschaft entscheidend ist. Otto I. hatte gerade mit Mühe den Aufstand seines Sohnes Liudolf besiegt, die heidnischen Ungarn und Slawen waren ins Reich eingefallen und hatten einem seiner Markgrafen eine schimpfliche Niederlage zugefügt. Alle fürchteten, erzählt Widukind, um die Sicherheit des Königs und seines Heeres. Außerdem wurde Sachsen durch bedrohliche Zeichen erschreckt, gewaltige Unwetter zerstörten die Kirchen und Blitze töteten Priester und Nonnen. Widukind baut also eine dramatische Endzeitstimmung auf, um die Standhaftigkeit seines Helden Otto zur Wirkung zu bringen. Dem König gelingt es, die Kampfkraft seines Heeres mit seiner Rede zu erneuern. Die Schlacht am Lechfeld gegen die heidnischen Ungarn endete 955 bekanntlich für Otto I. siegreich. Man kann Ottos Worte durchaus als Feldherrenrede bezeichnen, wie sie schon die antike Geschichtsschreibung kennt. Zur Anfeuerung schlachtenmüder Kämpfer gedacht, fordert sie eine vorbildliche, ideale Männlichkeit. Was aber ist ideale Männlichkeit im 10. Jahrhundert? Ist sie gekennzeichnet durch kriegerische Kühnheit, oder gehören zum Habitus eines Helden noch andere Charakteristika? Man kann sich einer Antwort auf diese Fragen nur annähern, wenn man das ganze historiographische Werk des Widukind daraufhin untersucht, wie er Männlichkeit konstruiert, welche Vorbilder er dafür benutzt und vor allem, welche Tendenz hinter seiner Darstellung steht. Vielleicht werden in seinem Werk ja auch unterschiedliche Vorstellungen von Männlichkeit erkennbar, die durch einen kulturellen Wandel der Gesellschaft bedingt waren. In der oben zitierten Rede tritt uns Otto I. in einer eindeutig kriegerischen Männlichkeit entgegen. Die Formulierung, lieber zu sterben als sich zu ergeben, erinnert an eine Feldherrenrede aus Sallusts De Catilinae coniuratione3. Das Motiv, dass man von den Feinden wie Tiere behandelt würde, findet sich dort, wenn auch etwas anders formuliert. Widukinds Text ist genauso fiktiv wie die Feldherrenreden der Antike4. Er belegt lediglich den Wissensstand des Historiographen, und dass er ähnliche Vorstellungen vom Verhalten von Helden hatte, wie er sie in der antiken Literatur vorfand. Für das 10. Jahrhundert ist die Verwendung antiker Feldherrenreden ungewöhnlich5, dies könnte bedeuten, dass Widukind die3

Knödler, Julia: Rhetorik mit Todesfolge. Diversitätskonstruktion in mittelalterlichen Feldherrenreden am Beispiel der Rede Wilhelms des Eroberers vor der Schlacht bei Hastings, in: Georg Strack/Julia Knödler (Hg.), Rhetorik in Mittelalter und Renaissance. Konzepte – Praxis – Diversität (=Münchner Beiträge zur Geschichtswissenschaft Band 6), München: Utz 2011, S. 167-190, hier S. 173, Anm. 24.

4

Hansen, Mogens Hermann: The battle exhortation in ancient historiography. Fact or

5

J. Knödler: Rhetorik, S. 173.

fiction?, in: Historia 42/1 (1993), S. 161-180.

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ses Vorbild ganz bewusst als Gestaltungsmittel verwendet hat, weil er den Todesmut antiker Kämpfer bewunderte. Für den Todesmut, den Otto I. seinen Männern abverlangt, wurde auch ein anderes Vorbild festgemacht, nämlich die Bücher der Makkabäer des Alten Testaments, wo Juda vom Volk die Bereitschaft verlangt, für das Gesetz, den Glauben und das Vaterland im Kampf zu sterben6. Die Reden dieses Heerführers waren Widukind mit Sicherheit bekannt, obwohl der wörtliche Gleichklang mit der Bibel gering ist7. Umso größer ist dafür das, was durch die Auslegung der Worte an sinnstiftenden Inhalten und Bildern übernommen wird. Widukind hat Otto I. durch die typologische Gleichsetzung mit den biblischen Helden eine religiöse Auszeichnung angedeihen lassen und seinen Kampf gegen die heidnischen Ungarn durch die Gleichsetzung mit den Makkabäern, die im Bunde mit Gott gegen die Feinde Israels kämpften, zu einem heiligen Krieg erhoben. Otto wird dadurch der Verteidiger der Christen im Auftrag Gottes. Dies wird bestätigt, wenn man weitere Sätze aus der Feldherrenrede Ottos I. heranzieht: »An Menge, ich weiß es, übertreffen sie [die Ungarn, Anm. d. A.] uns, aber nicht an Tapferkeit, nicht an Rüstung, denn es ist uns ja wohl bekannt, daß sie zum größten Teil jeglicher Wehr entbehren und, was für uns der größte Trost ist, der Hilfe Gottes. Ihnen dient zum Schirm lediglich ihre Kühnheit, uns die Hoffnung auf göttlichen Schutz.«8

Mit der Anspielung auf den Kampf der Makkabäer macht Otto seinen Mannen Mut, indem er ihnen die Hilfe Gottes verspricht. Wenn Gott den Kampf will,

6

Weinrich, Lorenz: Tradition und Individualität in den Quellen zur Lechfeldschlacht 955, in: Deutsches Archiv zur Erforschung des Mittelalters 27 (1971), S. 291-313, hier S. 303ff. ‒ Die Bibelstellen sind im Folgenden zitiert nach: www.bibel-verse.de; 2Macc 8,21: pro legibus et patria mori parati (am 10. 11. 2017)

7

Keller, Hagen: Machabaeorum pugnae. Zum Stellenwert eines biblischen Vorbilds in Widukinds Deutung der ottonischen Königsherrschaft, in: Hagen Keller/Nikolaus Staubach (Hg.): Iconologia Sacra. Mythos, Bildkunst und Dichtung in der Religionsund Sozialgeschichte Alteuropas, Festschrift Karl Hauck, Berlin/New York: Walter de Gruyter 1994, S. 418-437.

8

Widukind III, 46, S. 156-157: »Superamur, scio, multitudine, sed non virtute, sed non armis. Maxima enim ex parte nudos illos armis omnibus penitus cognovimus et, quod maximi est nobis solatii, auxilio Dei. Illis est sola pro muro audatia, nobis spes et protectio divina.«

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dann werden sie auch einen übermächtigen Feind besiegen 9. Durch die Einbettung der Rede in die Gegenwart Widukinds ist Gott hier nicht nur alttestamentlich zu verstehen, sondern auch christlich. Otto ist ein christlicher Held, dem auch Attribute alttestamentlicher und antiker Helden zugeschrieben werden. In Widukinds Sachsengeschichte lassen sich noch mehr ›Feldherrenreden‹ finden, die möglicherweise helfen, weitere Heldentypen dingfest zu machen. Ich möchte zunächst die Erzählung über die Kämpfe zwischen den Franken, Thüringern und Sachsen in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts anführen. Sie gehört also in eine Zeit, als die Sachsen noch dem Heidentum anhingen. Widukind konnte dafür nur mündliche Überlieferungen benutzen, die sich bis in seine Zeit erhalten hatten. Dazu gehört die Iringsage, die vom Verrat Irings berichtet, der seinen Herrn Irminfried, König der Thüringer, tötet10. Typische Elemente der germanischen Heldensagen sind deutlich erkennbar: Konfliktsituationen zwischen Verrat, Gefolgschaftstreue, Rache, List und Ehre und natürlich der Wille zum Sieg11. Zum Stil der Heldensage gehören auch direkte Reden. Eine solche legt Widukind dem Krieger Hathagat in den Mund, der, selbst schon alt an Jahren, seine kampfmüden Sachsen folgendermaßen aufmuntert: »Bis hierher habe ich unter meinen vortrefflichen Sachsen gelebt, bis hierher, fast zum höchsten Greisenalter, hat mich mein Leben geführt, aber niemals habe ich meine Sachsen fliehen sehen; wie soll ich mich nun zwingen lassen zu tun, was ich nie gelernt? Ich weiß zu kämpfen, aber zu fliehen verstehe ich und vermag ich nicht. Wenn mir das Geschick nicht gestattet, länger zu leben, so sei mir wenigstens vergönnt, was mir am liebsten ist, mit den Freunden zu fallen. Musterbeispiele der Tapferkeit unserer Väter sind mir die rings um uns hingestreckten Leichen unserer Freunde, die lieber sterben, als sich besiegen

9

2 Macc 8, 16-19, vgl. dazu H. Keller: Machabaeorum pugnae, S. 423. Er erkennt auch wörtliche Anklänge an Sallust, De Catilinae Coniuratione LVIII.

10 Weddige, Hilkert: Heldensage und Stammessage. Iring und der Untergang des Thüringerreiches in Historiographie und heroischer Dichtung (=Hermaea. Germanische Forschungen NF 16), Tübingen: Max Niemeyer 1989; Haubrichs, Wolfgang: Helden und Historie. Vom Umgang mit der mündlichen Vorzeitdichtung an der Wende zum 2. Jahrtausend, in: Achim Hubel/Bernd Schneidmüller (Hg.): Aufbruch ins zweite Jahrtausend. Innovation und Kontinuität in der Mitte des Mittelalters (=MittelalterForschungen Band 16), Ostfildern: Thorbecke 2004, S. 205-226, hier S. 223. 11 Sonnleitner, Käthe: Jugendliches Heldentum als Indikator für den Übergang von der mündlichen zur schriftlichen Geschichtstradition im 10. Jahrhundert, in: Anja Thaler u.a. (Hg.), Nulla historia sine fontibus, Festschrift Reinhard Härtel (=Schriftenreihe des Instituts für Geschichte Band 18), Graz: Leykam 2010, S. 449-461.

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lassen wollten, lieber die ungebeugte Seele aushauchen, als vor Feinden vom Platze weichen wollten […].«12

Der Name Hathagat, der als eine Variante des heidnischen Gottesnamens Gaut erkannt wurde13, weist diesen Krieger als besonderen Anführer und Vorfahren aus. Nachdem er die Sachsen zum »herrlichen« Sieg geführt hatte, erwiesen sie ihm in einer dreitägigen Siegesfeier besondere Ehren und meinten, es müsse ihm ein göttlicher Geist und übermenschliche Tapferkeit innewohnen 14. Hathagat war also, ob er nun eine historische Person war oder nicht, mit Sicherheit Mittelpunkt einer Heldensage über die Landnahme der Sachsen. Für Widukind verkörpert er offenbar den idealen männlichen Helden der heidnischen Zeit, ausgestattet mit mehr kriegerischer Potenz als ein Durchschnittsmann. Natürlich hat die Kenntnis der antiken Literatur und die Tatsache, dass Widukind in lateinischer Sprache schrieb, seine Darstellung des Helden beeinflusst. So finden sich in der Beschreibung des Hathagat neben Anklängen an das angelsächsische Heldenlied Beowulf auch solche an die Aeneis von Vergil 15. Im Grunde haben der antike und der germanische/sächsische Held den gleichen Charakter: ein Mann kämpft bis er siegt oder stirbt, aber er unterwirft sich nicht. Ein Held kämpft kompromisslos bis zum Tod, dem er keine Beachtung schenkt 16.

12 Widukind, I, 11, S. 38-39: »Hucusque inter optimos Saxones vixi, et ad hanc fere ultimam senectutem aetas me perduxit, et numquam Saxones meos fugere vidi; et quomodo nunc cogor agere quod numquam didici? Certare scio, fugere ignoro nec valeo. Si fata non sinunt ultra vivere, liceat saltem, quod michi dulcissimum est, cum amicis occumbere. Exempli michi paternae virtutis sunt amicorum corpora circa nos prostrata, qui maluerunt mori quam vinci, inpigras animas amittere quam coram inimicis loco cedere.« 13 Hauck, Karl: Haus- und sippengebundene Literatur mittelalterlicher Adelsgeschlechter, in: Walther Lammers (Hg.), Geschichtsdenken und Geschichtsbild im Mittelalter (=Wege der Forschung Band 21), Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1961, S. 165199, hier S. 179. 14 Widukind, I, 12, S. 40: »divinum ei animum inesse caelestemque virtutem acclamantes… .« 15 Widukind I, 11, S. 38-39 beschreibt Hathagat als »iam senior, sed viridi senectute adhuc vigens«, eine Formulierung, die ihr Vorbild bei Verg. Aen. VI findet, sowie pater patrum, was von waldoran ealdor im Beowulflied beeinflusst sein soll, wie der Herausgeber der Edition anmerkt: Widukind S. 38, Anm. 28 und 29. 16 See, Klaus von: Germanische Heldensage. Stoffe, Probleme, Methoden. Eine Einführung, Frankfurt am Main: Athenäum 1971, S. 11f.

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Für Widukind könnte Hathagat auch ein Prototyp für die Helden seiner Zeit, des 10. Jahrhunderts sein, für die Könige aus sächsischem Geschlecht, Heinrich I. (919-36) und seinen Sohn Otto I. (936-72). Betrachtet man die Feldherrenreden in der Sachsengeschichte als bewusstes Erzählelement, dann hatten diese die Aufgabe, diese drei Personen miteinander zu verbinden, als Helden, die ihr Vaterland vorbildlich verteidigten17. Die bisher noch nicht erwähnte Rede Heinrichs I. ist chronologisch zwischen den Reden von Hathagat und Otto I. einzuordnen.

K ÖNIG H EINRICH I.: M ÄNNLICHKEIT ZWISCHEN ORALER UND SCHRIFTLICHER T RADITION Ich möchte mich im folgenden Heinrich I. zuwenden18, weil er der vielschichtigste Held in Widukinds Erzählwerk zu sein scheint. Möglicherweise entsteht dieser Eindruck deshalb, weil der Autor den ersten König aus dem Geschlecht der Liudolfinger/Ottonen persönlich nicht gekannt hat und daher die Erinnerung anderer brauchte, die er nur mündlich erhalten konnte. Damit steht er sozusagen zwischen oraler und schriftlicher Tradition. Über den Wert der Berichte Widukinds zu Heinrich I. als Quelle ist in der letzten Zeit viel geschrieben worden, ihre Brauchbarkeit für die Faktenrekonstruktion wird teilweise verneint, teilweise bedingt bejaht19. Ich möchte mich an dieser Auseinandersetzung nicht beteiligen, sondern die Frage stellen, wie Wi-

17 Beumann, Helmut: Historiographische Konzeption und politische Ziele Widukinds von Korvey, in: Helmut Beumann (Hg.), Wissenschaft vom Mittelalter, Köln/Wien: Böhlau 1972, S. 71-108, hier S. 80f. ‒ Er meint, dass die auf die Schlachten folgenden Siegesfeiern diese drei Personen verbinden. 18 Als moderne, Quellen und Literatur berücksichtigende Monographie zu Heinrich I. gilt: Giese, Wolfgang: Heinrich I. Begründer der ottonischen Herrschaft, Darmstadt: Primus 2008. 19 Die teilweise heftige Auseinandersetzung soll hier nicht besprochen werden, ich verweise auf die Hauptwerke: Fried, Johannes: Die Königserhebung Heinrichs I. Erinnerung, Mündlichkeit und Traditionsbildung im 10. Jahrhundert, in: Michael Borgolte (Hg.), Mittelalterforschung nach der Wende 1989 (=HZ Bh NF Band 20), München: Oldenbourg 1995, S. 267-318; Althoff, Gerd: Geschichtsschreibung in einer oralen Gesellschaft. Das Beispiel des 10. Jahrhunderts, in: Bernd Schneidmüller/Stefan Weinfurter (Hg.), Ottonische Neuanfänge, Mainz: von Zabern 2001, S. 151-169. Eine zusammenfassende Auseinandersetzung findet sich bei W. Giese: Heinrich I., S. 11-21.

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dukind seinen ›Helden‹ Heinrich beschreibt, stilisiert, konstruiert, welche Vorbilder er verwendet und zusammenfügt, um so vielleicht zu erkennen, was für ihn ›männliches Heldentum‹ bedeutet20. Dass Heinrich und sein Sohn Otto I. seine Helden sind, steht außer Zweifel, ist doch sein Werk zum größten Teil ihnen und ihrem Aufstieg zur Macht gewidmet. Beide sind herausragende, einzigartige und vorbildliche Führungspersönlichkeiten. Damit zurück zur ›Feldherrenrede‹ Heinrichs I., die er an seine Gefolgschaft gerichtet haben soll, um sie davon zu überzeugen, den Tribut an die Ungarn, der um des Friedens willen geleistet wurde, nicht mehr zu zahlen, sondern den Kampf zu wählen. Dieser führte dann 933 zur siegreichen Schlacht bei Riade. Wie die Rede seines Sohnes Otto I. steht also auch diese im Zusammenhang mit der Abwehr der heidnischen Ungarn. »Doch nun seht ihr es [das Reich, Anm. d. A.] durch die Gnade des Höchsten, durch unsere Bemühungen, durch euere Tapferkeit befriedet und geeinigt, die Barbaren besiegt und unterworfen. Was wir jetzt noch tun müssen, ist, uns gegen unsere gemeinsamen Feinde, die Awaren, vereint zu erheben. Bisher habe ich, um ihre Schatzkammer zu füllen, euch, eure Söhne und Töchter ausgeplündert, nunmehr müßte ich die Kirchen und Kirchendiener plündern, da uns kein Geld mehr, nur das nackte Leben geblieben ist. Geht daher mit euch zu Rate und entscheidet euch, was wir in dieser Angelegenheit tun sollen. Soll ich den Schatz, der dem Dienst Gottes geweiht ist, nehmen und als Lösegeld für uns den Feinden Gottes geben? Oder soll ich nicht eher mit dem Gelde die Würde des Gottesdienstes erhöhen, damit uns vielmehr Gott erlöst, der wahrhaft sowohl unser Schöpfer als Erlöser ist?«21 20 Die Erforschung der Männlichkeit im Mittelalter, im Besonderen im Frühmittelalter, steht erst am Beginn: Dinges, Martin: Hegemoniale Männlichkeit – ein Konzept auf dem Prüfstand, in: Martin Dinges (Hg.), Männer – Macht – Körper. Hegemoniale Männlichkeit vom Mittelalter bis heute, (=Geschichte und Geschlechter Band 49), Frankfurt am Main/New York: Campus 2005, S. 7-33; Sonnleitner, Käthe: Geschlechtsidentitäten und Gewalt im Frühmittelalter. Am Beispiel der Geschichtsschreibung Gregors von Tours, in: von Barbara Hey u.a. (Hg.), Krieg: Geschlecht und Gewalt (=Grazer Gender Studies 5), Graz: Leykam 1999, S. 96-119; K. Sonnleitner: Jugendliches Heldentum, S. 449-461. 21 Widukind I, 38, S. 74-75: »At nunc propitia nobis summa divinitate, nostro labore, vestra virtute pacatum collectumque cernitis, barbaros superatos et servituti subiectos. Quod superest, necesse habemus, ut contra communes hostes Avares pariter consurgamus. Vos hucusque, filios filiasque vestras expoliavi et aerarium eorum replevi; nunc templa templorumque ministros ut expoliem cogor, absque nudis corporibus nulla nobis alia remanente pecunia. Consulite igitur vobis ipsis, et quid super hac

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Man gewinnt fast den Eindruck, als spräche aus dem Munde Heinrichs I. ein Geistlicher, der die Erlösung der Seelen durch Christus, die ja keine irdische ist, als Ziel predigt. Entsprechend fromm erhebt »populus« ‒ in diesem Fall als ›adelige Gefolgschaft‹ zu übersetzen ‒ »seine Stimme zum Himmel« und antwortet mit einem Psalm, er wolle durchaus von dem lebendigen und wahren Gott erlöst werden, weil er treu sei und gerecht in allen seinen Wegen und heilig in allen seinen Werken22. Dass die Ereignisse in dieser Weise abliefen, ist wohl nicht anzunehmen, eher schon, dass, wie Widukind weiter berichtet, ein Vertrag geschlossen wurde, den König im Kampf gegen die Ungarn zu unterstützen. Widukind möchte in seiner fingierten Rede berichten, dass Heinrich als christlicher König das Wohl der Kirchen in seinem Reich im Sinn hat und im Vertrauen auf die Hilfe Gottes den Kampf zur Verteidigung der Christen aufnehmen kann. Dieser Eindruck festigt sich durch eine weitere ›Feldherrenrede‹ Heinrichs I., die Widukind allerdings im indirekten Modus überliefert. Er hielt sie im Lager vor Riade, als die Kämpfer von Furcht ergriffen wurden. Der König richtete ihre Hoffnung auf die Gnade Gottes, der ihnen ohne Zweifel beistehen werde. An antike Reden erinnert die Mahnung, auf den Schutz des Vaterlandes und der Vorfahren bedacht zu sein, und mannhaft zu kämpfen. Selbstverständlich erinnert er damit auch an die eigenen, sächsischen Vorfahren. Diese »Worte feuerten die Ritter an und da sie ihren Feldherrn bald unter den Vordersten, bald in der Mitte und bei den Letzten sahen und vor ihnen den Engel – mit dem Namen und dem Bildnis desselben war nämlich das vornehmste Feldzeichen kenntlich gemacht -, überkam sie Zuversicht und große Festigkeit.« So gewannen sie die Schlacht23. Mit diesem Engel könnte Widukind an den Kampf der Makkabäer anspielen, denen Gott einen Engel voranschickte 24. Nach seiner Heimkehr dankte der König Gott für den Sieg und erstatte ihm alle Ehre, auch das verweist auf das Verhalten der Makkabäer25. Den Tribut, den er den Ungarn verweigerte, gab er der Kirche

re nobis sit faciendum, eligite. Thesaurum divinis officiis sanctificatum tollamne et dabo pro nostra redemptione Dei inimicis? An certe addam cultui divino pecunia honorem, ut ab ipso potius redimamur, qui vere noster extat creator pariter et redemptor?« 22 Widukind I; 38, S. 74-75: »Ad haec populus levavit voces in caelum, inquiens se a Deo vivo et vero redimi omnimodis desiderare, quia fidelis et iustus sit in omnibus viis suis et sanctus in omnibus operibis suis.« ‒ Siehe Anm. 101 Ps. 144, 17: »Justus Dominus in omnibus viis suis et sanctus in omibus operibus suis.« 23 Widukind I, 39, S. 76-77. 24 H. Keller: Machabaeorum pugnae, S. 425 verweist auf 2 Macc 15, 34. 25 Ebd., S. 424.

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für den Gottesdienst und für Schenkungen an die Armen. Mit dieser Barmherzigkeit erfüllte er eine der christlichen Kardinaltugenden. Weitere christliche Tugenden schreibt Widukind in seinen »Feldherrenreden« Heinrich I. nicht zu. Dies liegt an der Gattung der Feldherrenrede, die ja zum Kampf auffordert und diesen auch rechtfertigen muss. Das Leben Christi ist dagegen als Vorbild für Friedfertigkeit zu verstehen, ein Mann der ihm nachfolgen wollte, musste kriegerisches Heldentum hinterfragen. Hat dies Widukind getan, hat er seinem königlichen Helden christliche Tugenden verliehen? Wie hat er Heinrich außerhalb der Feldherrenreden beschrieben, den Mann, den er persönlich nicht kannte, sondern nur aus den mündlichen Berichten anderer? Wie sehr hat er, an der Schwelle von der oralen zur schriftlichen Kultur lebend, die Vergangenheit so erzählt, wie sie nach den Bedürfnissen seiner Gegenwart gewesen sein musste?26 Um diese Fragen zu beantworten, sollen alle Berichte und Beschreibungen Heinrichs herangezogen werden. Schon der Bericht über seine Geburt – in dieser Ausführlichkeit ungewöhnlich für diese Zeit – zeigt Überraschendes: »Es wurde ihm [seinem Vater Otto, Anm. d. A.] ein Sohn geboren, wie ihn die ganze Welt brauchte, der größte und beste unter den Königen, Heinrich, welcher als erster unabhängig in Sachsen geherrscht hat.« 27

Widukind könnte durchaus an den alttestamentlichen Propheten Jesaja gedacht haben, der dem Volk Juda die Geburt eines Kindes verheißt, dessen machtvolle Herrschaft Gerechtigkeit und Frieden bringen wird28. Diese Weissagung wurde als Ankündigung des Königreiches David und des Messias/Christus verstan-

26 Zum Geschichtsbewusstsein oraler Kulturen vgl. Vollrath, Hanna: Das Mittelalter in der Typik oraler Gesellschaften in: Historische Zeitschrift 133 (1981) S. 571-594; Jaritz, Gerhard/Richter, Michael: Oral History of the Middle Ages. The Spoken Word in Context, (Medium Aevum Quotidianum Sonderband 12), Krems/Budapest 2001; Richter, Michael: Die »Entdeckung« der Oralität der mittelalterlichen Gesellschaft durch die neuere Mediävistik, in: Hans-Werner Goetz (Hg.), Die Aktualität des Mittelalters, Bochum: Winkler 2000, S. 273-285; J. Fried: Königserhebung, S. 267ff. 27 Widukind I, 17, S. 44-45: »Natus est autem ei filius toto mundo necessarius, regum maximus optimus Heinricus, qui primus libera potesate regnavit in Saxonia.« 28 Jesaja 9,6: »parvulus enim natus nobis filius datus est nobis et factus est principatus super umerum eiius et vocabitur nomen eius Admirabilis consiliarius Deus fortis Pater futuri saeculi Princeps pacis.«

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den29. Widukind könnte daher auch an das Lukasevangelium gedacht haben, an die Erzählung von der Geburt Christi, die der Engel des Herrn den Hirten verkündet: »euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.«30 Von Christus heißt es weiter: »das Kind wuchs und ward stark im Geist voller Weisheit und Gottes Gnade war bei ihm.«31 Den Tempelbesuch, als der Knabe bei den gelehrten Lehrern saß, schließt Lukas mit den Worten: »Und Jesus nahm zu an Weisheit, Alter und Gnade bei Gott und den Menschen.«32 Heinrich hat sich laut Widukind ähnlich entwickelt: »Dieser [Heinrich, Anm. d. A.] war schon in frühem Alter mit jeglicher Tugend begabt und nahm von Tag zu Tag zu an hervorragender Weisheit und an Ruhm aller guten Taten.«33 Auch wenn die wörtliche Übereinstimmung der Texte sich auf das Wort proficere beschränkt, so ist doch in Inhalt und Stilisierung ein deutlicher Anklang zu erkennen. Die Absicht dahinter kann nur gewesen sein, die Auserwählung Heinrichs zum christlichen König deutlich zu machen, und das schon bei seiner Geburt, als Zeitgenossen dies nicht wissen konnten. Der Bericht des in der Rückschau schreibenden Widukind bekommt dadurch den Charakter einer Weissagung, die in Heiligenviten gerne verwendet werden. Die Beschreibung Heinrichs setzt sich fort: »Denn von Jugend auf war sein größter Eifer darauf gerichtet, sein Volk berühmt zu machen und den Frieden zu befestigen mit aller seiner Macht. Als sein Vater aber des Jünglings Weisheit und gewaltige Klugheit sah, überließ er ihm die Führung eines Heeres.«34 Wieder greift Widukind das Vorbild der Makkabäer auf, die ihr Volk Israel berühmt machten 35. Die Weisheit des 29 https://www.bibelwissenschaft.de/bibelkunde/altes-testament/prophetische-buecher/je saja/ vom 12. Juli 2017. 30 Lukas 2, 11: »quia natus est vobis hodie salvator qui est Christus Dominus in Civitate David.« 31 Lukas 2, 40: »puer autem crescebat et confortabatur plenus sapientia et gratia Dei erat in illo.« 32 Lukas 2, 52: »et Iesus proficiebat sapientia aetate et gratia apud Deum et homines.« 33 Widukind I, 17, S. 44-45: »Qui cum primaeva aetate omni genere virtutum vitam suam ornaret, de die in diem proficiebat precellenti prudentia et omnium bonorum actuum gloria.« 34 Widukind I, 17, S. 44-45: »nam maximum ei ab adolescentia studium erat in glorificando gentem suam et pacem confirmando in omni potestate sua. Pater autem videns prudentiam adolescentis et consilii magnitudinem reliquit ei exercitum et militiam […]« 35 1 Macc 14, 35: »et gloria magna glorificaverunt gentem suam«, vgl. H. Keller: Machabaeorum pugnae, S. 427.

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Jünglings lässt nicht nur an die Bedeutung der Weisheit im Alten Testament denken, sondern auch an die antike Kardinaltugend, wie Cicero sie kannte. Widukind beweist mit seiner Beschreibung Heinrichs I., dass dieser Mann von Gott auserwählt wurde, um ein sakraler König zu werden. Das ist nur in der Rückschau möglich in einer Zeit, in der Heinrichs Sohn Otto I. durch seine Nachfolge als König des frühdeutschen Reiches und seinen weiteren Aufstieg zum Kaisertum, bewiesen hat, dass man von einer solchen Auserwählung sprechen kann. Die Auffassung eines sakralen Königtums hat sich, den Quellen zufolge, erst in der Zeit Ottos I. in Sachsen durchgesetzt.36 Widukind projiziert also Bedingungen seiner Zeit in die Vergangenheit zurück. Sein erstes Ziel war nicht die Überlieferung von Fakten. Auch wenn seine Sachsengeschichte manchmal wie eine Erzählung von Ereignissen wirkt, so sind diese doch immer von seiner höheren Absicht geprägt. Eine gesicherte Faktenrekonstruktion zu den geschilderten Ereignissen gibt es nicht37.

D AS V ERHÄLTNIS VON H EINRICH I. ZU SEINEM V ORGÄNGER K ONRAD I. Dies fällt vor allem in der Erzählung auf, die berichten soll, wie Heinrich I. 918 nach dem Tod Konrads I. König wurde. Laut Widukind hat Konrad I. auf seinem Sterbelager seinen Bruder Eberhard beauftragt, die Insignien der Herrschaft Herzog Heinrich zu überbringen, da er das Glück und die Eignung dafür besitze, die ihm selbst und Eberhard fehlen38. Die Rede schließt mit dem Satz: »Er wird in Wahrheit König sein, und Befehlshaber zahlreicher Heeresaufgebote39.« (Herr über viele Völker, Übers. d. Aut.) Für diese so biblisch anmutende Prophezeiung ist ein wörtliches Vorbild in der Bibel nur ansatzweise zu finden. Die Formulierung vere rex lässt an das Neue Testament denken, wo im Johannesevangelium Christus auf die Fragen des Pilatus antwortet, dass er wahrlich ein König sei und in die Welt kam, um die Wahrheit zu bezeugen. Allerdings sei sein Reich kein

36 Erkens, Franz-Reiner: Herrschersakralität im Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Investiturstreit, Stuttgart: Kohlhammer 2006, S. 60-79. 37 Hier ist J. Fried: Königserhebung, S. 281 zuzustimmen, wenn auch nicht in dieser radikalen Ablehnung jeden Faktengewinns. 38 Widukind I, 25, S. 56- 57; die Bedeutung seiner Formulierung fortuna atque mores hat zu vielen Überlegungen in der Literatur geführt, sie soll hier nicht weiter behandelt werden, vgl. Giese, Heinrich I. S. 61-69. 39 Widukind I, 25, S. 56-57: »Ipse enim vere rex erit et imperator multorum populorum.«

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irdisches40. Die Übernahme durch Widukind kann natürlich durch den religiösen Sprachgebrauch begünstigt sein, immerhin war dies eine der entscheidenden Bibelstellen. Wenn Widukind sie allerdings bewusst verwendete, dann hat er Heinrich in die Nachfolge Christi gestellt und ihn zu einem sakralen König gemacht. Dass er Herrscher über viele Völker sein wird, könnte einen Bezug zum Alten Testament haben, allerdings bleibt auch dieser nur Vermutung. Denken könnte man an das Buch Micha, wo es heißt, dass viele Völker zum Herrn auf Zion kommen werden, und dass dieser über »populos multos« richten und die Heiden strafen wird. Weiters wird ein Friedensreich prophezeit und das Kommen des Messias41. Damit hätte Widukind Heinrich mit der Autorität des Alten Testaments den Auftrag zur machtvollen Herrschaft über mehr Völker als die Sachsen und zum Heidenkampf erteilt. Diese prophetischen Worte des sterbenskranken Konrad I. gleichen einer Designation, wie sie Heinrich I. später selbst für seinen Sohn vornehmen sollte und nach ihm alle Könige des Früh- und Hochmittelalters, um ihre Dynastien für die Herrschaft zu legitimieren und das fehlende Erbrecht auszugleichen. Es ist durchaus in Erwägung zu ziehen, dass Widukind eine solche Designation zurückprojizieren wollte, denn sie ermöglichte ihm, den gottgewollten Herrschaftsbeginn Heinrichs friedlich zu gestalten. Offensichtlich wollte er eine Erzählung vermeiden, in der sein am biblischen Vorbild ausgerichteter Held gegen einen König des christlichen, ostfränkisch/deutschen Reiches gekämpft hatte, um an die Herrschaft zu kommen. Heinrich hätte dann den Makabäern, die das Volk Israel gegen Feinde des wahren Glaubens verteidigten, nicht entsprochen. So aber schlossen Eberhard und Heinrich Frieden und Freundschaft42, weil König Konrad I. eingesehen hatte, dass Heinrich der von Gott auserwählte König war und nicht, weil sie zuvor gegeneinander gekämpft hatten. Die Erzählung hat in der Forschung zu unterschiedlichen bis gegensätzlichen Deutungen geführt, von der wörtlichen Übernahme bis zur Meinung, dass Widukinds Werk völlig unbrauchbar sei, weil er in der Art der oralen Überlieferung seine Gegenwart in die Vergangenheit zurückprojizierte und diese so veränderte, dass sie für seine Gegenwart brauchbar wurde43. Widukinds Absicht war aber wohl nicht die exakte Rekonstruktion von Fakten und Ereignissen. Nicht nur er, sondern die Geschichtsschreibung des Mittelalters insgesamt war geprägt 40 Johannes, 18, 36 und 37. 41 Micha, Kap 4, 3: »et iudicabit inter populos multos«; zu Micha 4 vgl. Das Buch Micha, https://www.bibelkommentare.de, vom 11.7.2017. 42 Widukind I, 26, S. 56-57. 43 Ich möchte hier nicht alle Meinungen anführen, sondern verweise auf W. Giese: Heinrich I. S. 11- 15.

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von der Auffassung, dass Geschichte durch das Wirken Gottes geschah und dieses aufgezeigt werden musste44. Sein Anliegen war, das Wirken Gottes im Aufstieg Heinrichs I. zum König aufzuzeigen. Dieses Wirken manifestiert sich in der Einsicht Konrads und der friedlichen Einigung viel eindrucksvoller, als in einem Kampf Heinrichs um die Herrschaft. Dem dient auch die Erzählung, dass Sachsen und Franken schon Heinrichs Vater zum König wählen wollten, dass dieser aber aus Altersgründen abgelehnt habe45. Damit macht er Konrad I. zu einem Übergangskandidaten, was er letztendlich auch werden sollte und vor allem seine Herrschaft von dem Verzicht eines Mannes aus dem Geschlecht der Ottonen abhängig. Deren Auserwählung durch Gott wird damit abermals bekräftigt und zeitlich noch weiter zurückverlegt. Widukind hatte aber nicht nur ein Interesse daran, die göttliche Auserwählung Heinrichs zu zeigen, sondern auch und besonders seine kriegerische Stärke und die der Sachsen. Immer wieder ist, vor allem im Bericht über die Sachsenkriege Karls des Großen in und zwischen den Zeilen zu lesen, dass eigentlich die Sachsen stärker waren als die Franken und dass Karl der Große sie lediglich deshalb besiegen konnte, weil er im Auftrag Gottes den Sachsen das Christentum bringen musste. Auch das Verhältnis zwischen dem Sachsen Heinrich – damals noch Herzog – und dem Franken Konrad I. ist vor dessen Einsicht, dass der Sachse der geeignete König wäre, keineswegs friedlich beschrieben46. Die Erzählung darüber scheint Widukind schwer gefallen zu sein, denn sie ist, vielleicht mit Absicht, verworren und unklar gehalten. Konrad I. soll sich zunächst geweigert haben, Heinrich nach dem Tode seines Vaters Otto dessen ganze Macht zu verleihen, weil er dessen Tapferkeit schon zu oft erlebt hatte und daher fürchtete. Damit zog er sich den Groll des sächsischen Heeres zu und weil »die Blicke der Sachsen gegen ihn ungewöhnlich finster waren« und weil er »erkannte, dass er ihren Herzog nicht in offenem Kriege überwältigen könnte, weil diesem eine Schar tapferer Ritter und ein Heer von zahlloser Menge zu Gebote stand, suchte er ihn auf irgendeine Weise durch List zu töten 47.« Da dies nicht 44 Zum Geschichtsverständnis im Mittelalter vgl. Goetz, Hans-Werner: Geschichtsschreibung und Geschichtsbewusstsein im hohen Mittelalter (=Orbis mediaevalis Band 1), Berlin: Akad.-Verl. 1999, bes. Einleitung: Geschichtsbewusstsein als historische Aufgabe S. 13-39. 45 Widukind I, 15, S. 44- 45. 46 Die Rekonstruktion dieser Kämpfe zwischen den Adelsgeschlechtern der Konradiner und Liudolfinger ist schwierig und nicht vollständig zu leisten, vgl. W. Giese: Heinrich I., S. 52f. 47 Widukind I, 21, S. 48-49: »Rex autem videns vultum Saxonum erga se solito austeriorem, nec posse publico bello eroum ducem conterere, subpeditante illi fortium militum

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gelang, rühmte er ihn heuchlerisch vor dem sächsischen Heere und versprach, ihn besonders zu ehren. Ob diese Erzählung auf Fakten beruht, sei dahingestellt, die erste Absicht Widukinds war wohl, zu zeigen, dass ein hinterlistiger, schwacher Konrad I. keine Eignung zum König hatte und er bestätigt damit die Wertung, die Konrad auf dem Sterbebett über sich selbst getroffen haben soll. Auffallend ist auch, dass Heinrich I. hier nicht selbst aktiv wird, sondern vielmehr das sächsische Heer, dass sich vor ihn stellt. Damit wird er aus dem Streit herausgehalten, er kämpft nicht gegen einen gesalbten christlichen König und macht damit die Erzählung von einer friedlichen Herrschaftsübertragung möglich. Konrad I. dagegen plant eine weitere unwürdige Tat, um Heinrich töten zu lassen. Er wählt für diese Aufgabe Erzbischof Hatto von Mainz – wie erzählt wird, fügt Widukind ein – und weist damit die Verantwortung für die nachfolgende Erzählung, die immerhin den höchsten Geistlichen des Reiches als Verräter und potentiellen Mörder hinstellt, von sich. Zugleich bestätigt er, dass es Erzählungen über die Auseinandersetzungen zwischen Heinrich, Konrad I. und seinem Parteigänger Hatto gab, die von Spielleuten verbreitet wurden. Erzbischof Hatto ist ein negativer, finsterer Held, ein Verräter, durchaus in der Art der germanischen Heldensage. Er spielt schon in der Fehde unter den Vorfahren und Verwandten von Konrad I. und Heinrich eine verhängnisvolle Rolle. Er soll deren Streit schlichten und eine Versöhnung einleiten, stattdessen liefert er einen Verwandten Heinrichs durch List und Verrat den Konradinern aus, der in der Folge hingerichtet wird48. Nun plant er die Ermordung Herzog Heinrichs. Er lädt ihn zu einem Gastmahl, um ihn mit reichen Geschenken, vor allem einer goldenen Kette, zu ehren. Er geht selbst zum Goldschmied, seufzt beim Anblick der Kette und lässt sich vom Goldschmied entlocken, dass diese Kette bald vom Blute eines großen Mannes, nämlich Heinrich, gefärbt sein werde. Die blutige Halskette deutet wohl auf eine geplante Enthauptung hin 49. Der Goldschmied warnt Heinrich, worauf dieser das Gastmahl meidet und die Besit-

manu, exercitus quoque innumera multitudine, egit, ut quoquo modo interficeretur dolo.« 48 Zum historischen Kern der Erzählung vgl. Althoff, Gerd: Verformungen durch mündliche Tradition: Geschichten über Erzbischof Hatto von Mainz, in: Hagen Keller/Nikolaus Staubach (Hg.), Iconologia Sacra. Mythos, Bildkunst und Dichtung in der Religions- Sozialgeschichte Alteuropas, Festschrift Karl Hauck, Berlin: de Gruyter 1994, S. 418-437. 49 Erdmann, Carl: Beiträge zur Geschichte Heinrichs. I., Kap. VI: Die Halskette Hattos von Mainz, in: Sachsen und Anhalt 17 (1941/43) S. 48-61.

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zungen des Erzbischofs in seinem Machtbereich an sich genommen haben soll 50. Einer Heldensage entspricht auch das Ende Hattos. Es gab, laut Widukind, Leute, die erzählten, ein Blitz aus dem Himmel habe in getroffen und gelähmt und; drei Tage später sei er gestorben51. Das Ende der Geschichte kann natürlich auch als Eingreifen Gottes für Widukinds Helden Heinrich gedeutet werden, ansonsten scheint sie mit christlichem Denken nicht viel zu tun zu haben. Bezeichnenderweise hat Widukind sie in einer zweiten Fassung seines Werkes, die er der Äbtissin Mathilde von Quedlinburg widmete, gekürzt und die Beteiligung des Erzbischofs am Komplott verschwiegen, bis auf die Bemerkung, dass er Ränke schmiedete 52. Er lässt Hatto auch nicht eines schaurigen Todes sterben, sondern an Kummer und Krankheit und lobt ihn abschließend als Mann von großer Weisheit (prudentia), der mit Sorge über das Reich der Franken wachte, Streitigkeiten ausglich und den Dom zu Mainz ausbaute53. Der Grund für diesen Gesinnungswandel war sicher die Widmung an die Äbtissin Mathilde, deren Stift ein Zentrum der Idee vom sakralen König- und Kaisertum der ottonischen Familie war54. Eine Herleitung der Herrschaft von Gott bedeutete Zusammenarbeit mit der Kirche, vor allem mit ihren höchsten Institutionen und der Erzbischof von Mainz war immerhin der Primus der geistlichen Fürsten des Reichs. Ihn zu verunglimpfen und einen schweren Konflikt zwischen ihm und Heinrich zu überliefern, war sicher nicht klug und konnte auch dem zur Zeit Widukinds regierenden Erzbischof Wilhelm, der ein unehelicher Sohn Ottos I. war und großen Einfluss besaß, nicht recht sein55. Trotzdem hat Widukind die aufregende Erzählung nicht völlig weggelassen, was nicht bedeuten muss, dass es ihm überaus wichtig war, sie als Faktum festzuschreiben, sondern vielmehr Heinrich als klugen Sieger zu zeigen, der erst gar nicht kämpfen musste. Vielleicht hatte er auch einfach Gefallen an Heldengeschichten. Die Feindseligkeiten Konrads I. gegen den Herzog von Sachsen waren damit noch nicht zu Ende. Er schickte seinen Bruder Eberhard mit einem Heer, um Sachsen zu verwüsten. Aber die Sachsen – und wieder ist ihr Herzog nicht genannt – traten den Franken entgegen und richteten unter ihnen ein solches Blutbad an, »daß man die fahrenden Sänger fragen hörte, wo es wohl eine Hölle ge50 Dazu W. Giese, Heinrich I. S. 54. 51 Widukind I, 22, S. 52- 53. 52 G. Althoff: Verformungen, S. 498. 53 Widukind I, 22, S. 54. 54 Sonnleitner, Käthe: Non cladiis, non armis… Die »weibliche« Herrschaftsauffassung in den ottonischen Damenstiften, in: Medium aevum quottidianum 70 (2015), S. 5-19. 55 Gerlich, Alois: Wilhelm, Erzbischof von Mainz, in: LexMa Band 9, 1998, Sp. 156.

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be, groß genug, um eine solche Menge Gefallener aufzunehmen.«56 Konrad I. ist so beeindruckt von der Stärke der Sachsen, dass er sein Heer nach Hause zurückkehren lässt. Diese Geschichte zeigt nicht nur die Überlegenheit der Sachsen, sondern ist auch ein weiterer Beweis dafür, dass diese in Heldenerzählungen verbreitet wurde. Gewonnene Schlachten wurden verherrlicht, Grausamkeiten gehörten dazu, offenbar auch solche an einem christlichen Feind, wie den Franken. Ein Tadel ist dem Bericht des Mönches Widukind nicht zu entnehmen, nur seinen Helden Heinrich hat aus dem Kampf herausgehalten, ob er tatsächlich wieder nicht teilnahm und seine Sachsen alleine ließ, ist nicht zu entscheiden, aber ziemlich unglaubwürdig. Eines wird deutlich: Das Verhältnis zwischen Konrad I. und Heinrich war keinesfalls friedlich, die Schuld daran schreibt Widukind selbstverständlich Konrad zu, dem damit die fehlende Eignung zum König bewiesen wird. Wenn Konrad I. Heinrich tatsächlich designierte, muss irgendwann ein Wandel in der Beziehung der beiden eingetreten sein, von dem Widukind aber nichts berichtet. Auffallend ist allerdings, dass er Konrad I. nach seinem Tode als tapferen und mächtigen Mann bezeichnet, tüchtig im Kriege wie im Frieden, freigebig und mild und mit aller Tugend Schmuck geziert 57. In der Darstellung Widukinds hat ihn also der Verzicht auf die Weitergabe des Königtums im eigenen Haus dann doch zum ›geeigneten‹ König gemacht. Heinrich bleibt König Konrad I. gegenüber friedlich, dahinter steckt vermutlich eine Absicht. Widukind schuf für die Herrscherfamilie einen ersten König, der friedlich an die Macht kam und sich durch sein Verhalten die göttliche Auserwählung verdiente, die auch seine Nachfahren auszeichnete.

H EINRICH I. IN DEN H ELDENLIEDERN Aber Heinrich I. wird nicht nur friedlich gezeigt, dass er als mächtiger Krieger auch Mittelpunkt von Heldenliedern war, beweisen weitere Textstellen. Nachdem er König geworden war und den Herzog von Schwaben kampflos, jenen von Bayern fast kampflos sich untergeordnet hatte, zog er nach Lothringen, um auch dieses Herzogtum zu gewinnen. Da soll Karl III., der von seinen Feinden

56 Widukind I, 23, S. 54-55: »ut a mimis declamaretur, ubi tantus ille infernus esset, qui tantam multitudinem caesorum capere posset.« 57 Widukind I, 25, S. 56-57.

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abgesetzte König des Westfränkischen Reiches, der Heinrichs Hilfe wünschte58, einen Boten geschickt haben, um ihm mitzuteilen, dass »ihm nichts lieber, nichts angenehmer sei, als über den Ruhm deines herrlichen Aufstiegs etwas zu hören und sich an dem Rufe deiner Heldentaten zu laben.«59 Ob dies tatsächlich geschehen ist, sollte man nicht fragen, sondern daraus die Selbstverständlichkeit erkennen, mit der im Frühmittelalter im Volk, vor allem im kriegerischen, männlichen Adel von außerordentlichen Taten gedichtet, erzählt und gesungen wurde. Welche Unterhaltung hätte es auch sonst bei den geselligen Zusammenkünften gegeben, was hätte sie sonst zu besonderen Leistungen bei der Jagd und im Krieg angespornt?60 Widukind als Abkömmling des Stammeshelden Widukind, der so stark war, dass er nur nach Gottes Ratschlag von Karl dem Großen besiegt werden konnte, kannte diese Gewohnheit und die Lieder und Sagen sind der Fundus der mündlichen Quellen, aus denen er schöpft. Trotzdem ist Heinrich auch in dieser Erzählung nicht nur ein Held im alten Stile. Karl III. schickt Heinrich durch seinen Boten eine wichtige Reliquie, die in Gold und Edelsteine gefasste Hand des Märtyrers Dionysius 61, als Zeichen des Bündnisses und der Freundschaft. Er erinnert ihn auch daran, dass schon zuvor durch die Übergabe einer der wichtigsten Reliquien des Westfränkischen Reiches, der des Heiligen Veit, der Friede zu den Sachsen gekommen sei, zu den vom Heiligen verlassenen Westfranken aber das Verderben62. Damit stellt Widukind den ersten ostfränkisch/deutschen König aus sächsischem Stamme, mit dem die Trennung vom Westfränkischen Reich endgültig geworden war, als ebenbürtig neben die dort noch regierenden Karolinger, ja er wertet seine Macht sogar höher. Die Translation der Reliquien des Heiligen in Widukinds Kloster Corvey versinnbildlicht den Willen Gottes, der die Macht der Sachen wachsen lässt und die der Franken mindert.63 Während Heinrich in den Auseinandersetzungen zwischen Sachsen und Franken seltsam passiv bleibt, geht er in der Abwehr der heidnischen Ungarn als 58 Zu den Auseinandersetzungen um Lothringen und zur Beziehung zwischen Heinrich I. und Karl III. vgl. W. Giese: Heinrich I., S. 84ff. 59 Widukind I, 33, S. 64-65: » […] demandans, quia nichil ei ab inimicis circumvento iocundius, nichil dulcius esse possit quam de tui magnifici profectus gloria aliquid audire, fama virtutum tuarum consolari.« 60 Zur adeligen Lebensweise vgl. Fried, Johannes: Ein Gastmahl Karls des Großen, in: Johannes Fried (Hg.), Zu Gast im Mittelalter, München: Beck 2007, S. 13-44. 61 Patschovsky, Alois: Dionysios, in: LexMA, Bd 9, Sp. 1077f. 62 Widukind I, 33, S. 64-65: Die Reliquien des H. Veit kamen 936 nach Korvey, vgl. Krüger, Karl-Heinrich: Vitus, in: LexMA Bd 8, 1997, Sp. 1781ff. 63 Widukind I, 33, S. 66-67.

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König seinem Heer voran. Dieser Kampf lässt sich als Typus des Heiligen Krieges stilisieren, wie ihn die Makkabäer führten, dies ist in den Feldherrenreden deutlich geworden. Selbst in diesem Krieg setzt Heinrich Handlungen, die nicht einer barmherzigen christlichen Haltung entsprechen. Er lässt nach der Einnahme einer slawischen Burg alle Erwachsenen niedermachen und die Knaben und Mädchen gefangen nehmen64.

D ER T OD H EINRICHS I. Widukinds Charakterisierung seines Helden Heinrich wirkt uneinheitlich, sie schwankt zwischen dem christlichen Friedenskönig und dem mächtigen Krieger. Für den Historiographen war das aber vermutlich kein Gegensatz. Dies wird in der abschließenden Wertung deutlich, die er anlässlich des Todes Heinrichs I. 936 verfasste. Sie lässt erkennen, welche Traditionen der Konstruktion heldenhafter Männlichkeit in seinem Werk zusammenfließen. »Und zu der außerordentlichen Klugheit und Weisheit, durch die er sich auszeichnete, kam noch seine mächtige Körpergestalt, welche der königlichen Würde die rechte Zierde verlieh. Auch bei Kampfspielen besiegte er alle mit solcher Überlegenheit, daß er den übrigen Schrecken einjagte. Auf der Jagd war er so unermüdlich, daß er auf einem Ritt vierzig oder noch mehr Stück Wild erlegte. Und obgleich er bei Gelagen sehr leutselig war, vergab er dennoch der königlichen Würde nichts; denn er flößte zu gleicher Zeit seinen Kriegsleuten ein solches Wohlwollen und ein solche Furcht ein, daß sie, selbst wenn er scherzte, sich nicht getrauten, sich irgendwelche Freiheiten herauszunehmen.« 65

Heinrich I. erscheint hier als ein Held, über dessen sagenhafte Körperkräfte, Kriegs- und Jagderfolge am Lagerfeuer gesungen wurde. Er trägt Züge eines germanischen Helden aus der mündlichen Tradition Sachsens, er ist Anführer, weil er stärker ist als die anderen und ihnen Furcht einjagt. Ebenso schreibt ihm

64 Widukind I, 35, S. 68-69. 65 Widukind I, 39, S. 78-79: »Et cum ingenti polleret prudentia sapientiaque, accessit et moles corporis, regiae dignitati omnem addens decorem. In exercitiis quoque ludi tanta eminentia superabat omnes, ut terrorem caeteris ostentaret. In venatione tam acerrimus erat, ut una vice quadraginta aut eo amplius feras caperet. Et licet in conviviis satis iocundus esset, tamen nichil regalis disciplinae minuebat. Tantum enim favorem pariter et timorem militibus infundebat, ut etiam ludenti non crederent ad aliquam lasciviam se dissolvendum.«

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Widukind Eigenschaften eines machtvollen, antiken Helden zu, die er durch seine Bildung kennt und bewundert. Dies zeigt sich eindrucksvoll darin, dass er nicht nur Otto I., sondern auch Heinrich I. nach dem Sieg über die Ungarn als »pater patriae« und »imperator« ausrufen lässt66. Dieser Held, dessen Ruhm sich über alle Völker verbreitete der »alle Völker im Umkreis bezwungen hatte«67, gefiel Widukind, dem Nachkommen eines sächsischen Helden aus heidnischer Zeit. Er ergötzte sich an diesen Geschichten, weshalb er auch der Äbtissin Mathilde, der Empfängerin seines Werkes, den Rat gab, durch die Lektüre »der Taten ihres großmächtigen Vaters und ruhmreichen Großvaters« nicht nur selbst noch tugendhafter und ruhmreicher zu werden. Sie sollte sich zudem an den Geschichten, die er über den Ursprung und Zustand des Volkes der Sachsen geschrieben hat, in Muße erfreuen und die Sorgen bannen68. Doch Widukind war auch Mönch und als solcher der christlichen Lehre verpflichtet. Er hatte die Aufgabe, Geschichte als Wirken Gottes zu interpretieren, in seinem Fall den unglaublichen Aufstieg der Herrscherfamilie der Ottonen. Deshalb muss er der Würdigung Heinrichs als Kriegsheld die Beschreibung seines guten, christlichen Todes anfügen. Heinrich versammelt seine Gefolgschaft, verteilt seine Schätze und setzt seinen Sohn Otto über seine Brüder und das Reich. Nachdem er so alles geordnet hat, stirbt er, »der großmächtige Herr und größte unter den Königen Europas, an jeglicher Tugend der Seele wie des Körpers keinem nachstehend.«69 Als Vorlage für die Formulierung »nulli secundus« wurde ein Brief des Sulpicius Severus erkannt, in dem eine Totenklage für den Heiligen Martin von Tours enthalten ist70. Widukind überträgt damit quasi das Lob für die außerordentliche Tugendhaftigkeit und Frömmigkeit, das dem Schutzheiligen des Fränkischen Reiches galt71, auf einen weltlichen Herrscher 66 Widukind I, 39, S. 76-77: »Deinde pater patriae, rerum dominus imperatorque ab exercitu appellatus famam potentiae virtutisque cunctis gentibus et regibus longe lateque diffudit.« 67 Widukind I, 40, S. 78-79: »Perdomitis itaque cunctis circumquaque gentibus.« 68 Widukind I, S. 16: Sed et de origine statuque gentis, in qua ipse rerum dominus Heinricus primus regnavit, pauca scribere curavi, ut ea legendo animum oblectes, curas releves, pulchro otio vaces. 69 Widukind I, 41, S. 78-79: »defunctus est ipse rerum dominus et regum maximus Europae, omni virtute animi corporisque nulli secundus.« 70 Beumann, Helmut: Die Historiographie des Mittelalters als Quelle für die Ideengeschichte des Königtums, in: Helmut Beumann (Hg.), Wissenschaft vom Mittelalter, Köln/Wien: Böhlau 1972, S. 201-240, hier S. 214ff. 71 Martin war seit Chlodwig, (5./6. Jh.) Schutzheiliger des Fränkischen Reiches, vgl. Nalmer van der, Dieter: Martin von Tours, in: LexMA Band 6, 1993 Sp. 344f.

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und macht ihn zu einem christlichen. Widukind setzt mit Martin, nach Dionysius und Veit auch, den dritten wichtigen ›Nationalheiligen‹ des Fränkisch/Westfränkischen Reiches in Beziehung zu Heinrich. Zufall war dies sicher nicht, er holte sich damit die Autorität der Heiligen für die Gleichstellung seines Königs mit den westfränkischen Herrschern. Außerdem waren die Reliquien das materielle und sichtbare Zeichen dafür, dass Gott den Übergang der Macht zu den Ottonen wollte. Widukinds Heinrich hat sehr widersprüchlich wirkende Eigenschaften. Doch die hatte auch Widukind, der am Beginn seiner Sachsengeschichte gesteht, dass er zunächst seinem Mönchsgelübde entsprechend Heiligenviten verfasst habe, es nun aber als seine Pflicht sehe: »meine Kräfte der ergebenen Treue gegenüber meinem Haus und meinem Volk, soweit ich vermag zu weihen, um die Taten unserer Großen niederzuschreiben.«72 Widukind unterscheidet also zwischen dem Mönch und dem Geschichtsschreiber, letzterer ist weltlicher gesinnt und möchte die mündliche Überlieferung, obwohl weitgehend aus heidnischer Zeit stammend, nicht verschweigen, da sie sie seiner Meinung nach zum Ruhme des sächsischen Volkes beiträgt. Vor der Äbtissin, Tochter Ottos I., hat er sich quasi dafür entschuldigt, vielleicht aus Sorge, dass sie diese Sagen weniger schätzen würde73. Widukind lebt in einer Welt des Umbruchs und vereinigt in sich daher heidnische und christliche Traditionen. Das prägt seine Vorstellung von Männlichkeit, vor allem der seines Helden Heinrich, die er aus der Erinnerung konstruiert. Dabei berücksichtigt er die orale Überlieferung, die es in der Gefolgschaft Heinrichs mit Sicherheit noch gegeben hat und die von heidnischen Vorstellungen kriegerischer Helden geprägt war. Widukind musste aber als gebildeter Geistlicher selbstverständlich das historische Geschehen als das Wirken Gottes interpretieren74.

72 Widukind I, 1, S. 20-21: »Post operum nostrorum primordia, quibus summi imperatoris militum triumphos declaravi, nemo me miretur principum nostrorum res gestas litteris velle commendare; quia in illo opere professioni meae, ut potui, quod debui exolvi, modo generis gentisque meae devotioni, ut queo, elaborare non effugio.« ‒ Zur umstrittenen Übersetzung von generis gentisque vgl. Widukind, Einleitung, S. 4, Anm. 6. 73 Vgl. dazu auch H. Beumann: Konzeption, S. 81ff. 74 Vgl. H.-W Goetz: Geschichtsschreibung, S. 13-39.

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H EINRICH I. ALS SAKRALER H ERRSCHER Widukind musste in seiner Darstellung Heinrichs I. auch die Vorstellungen von sakraler Herrschaft zu berücksichtigen, der sich die ottonische Herrscherfamilie seit Otto I. verpflichtet fühlte. Sie wurde schon in der Spätantike entwickelt, seit das Christentum Staatsreligion geworden war75. Die Kirche verlangte von den Herrschern, dass sie als Sachwalter Gottes auf Erden handelten, dass sie sich Gott verantwortlich fühlten, durch dessen Gnade sie auserwählt wurden. Sie sollten Kirchen, Geistliche, Gläubige, vor allem wehrlose, schützen, für Frieden und Gerechtigkeit sorgen und allen Christen ermöglichen, sich auf das ewige Leben vorzubereiten. Diese Lehre war letztendlich eine Reaktion darauf, dass sich die friedliche Lebensweise, die Christus verkörpert, der sogar Feindesliebe predigte, mit dem Zwang der politischen Realität eines Herrschers nicht verbinden ließ. Herrschaft ohne Kampf war nicht möglich. Ein Mann, der im Frühmittelalter Christus nachfolgen wollte, musste ins Kloster eintreten. Die Geistlichkeit hat vom weltlichen Mann nicht verlangt, seine Wehrhaftigkeit abzulegen, sie hat vielmehr versucht, diese zu zügeln und der Kirche dienstbar zu machen. Sie hat dazu das Ideal des miles christianus entwickelt, der die Kirche und die ganze Christenheit schützt, gegen Angriffe der Heiden verteidigt und zunehmend auch zur gewaltsamen Bekehrung der Ungläubigen bereit ist. Gewaltanwendung war dann keine Sünde, sondern verdienstvoll. In den sächsischen Geschichtsquellen ist diese Auffassung vom sakralen Königtum erst ab den 60er Jahren des 10. Jahrhunderts erkennbar 76. Die Frage ist daher berechtigt, ob Heinrich I. dieses Herrschaftsverständnis schon verinnerlicht hat. Oder hat Widukind Vorstellungen seiner Zeit von einem idealen König zurückprojiziert, weil die Ottonen einen solchen ersten König brauchten oder die Geistlichkeit zur Zeit Widukinds einen sakralen König forderte? Für das sakrale Königtum waren Salbung und Krönung des Königs wichtig. Durch sie erhielt er priesterähnliche Würde. Sie wurde erstmals 751 dem Karolinger Pippin zuteil, als er die Herrschaft der Merowinger zu beseitigte. Er

75 F.-R Erkens: Herrschersakralität, S. 60-87 und S. 110-132; Suchan, Monika, Der gute Hirte. Religion, Macht und Herrschaft in der Politik der Karolinger- und Ottonenzeit, in: Frühmittelalterliche Studien, 43 (2009) S. 95-112; Keller, Hagen: Das neue Bild des Herrschers. Zum Wandel der »Herrschaftsrepräsentation« im Zeitalter Ottos. I., in: Bernd Schneidmüller/Stefan Weinfurter (Hg.), Ottonische Neuanfänge, Mainz: von Zabern 2001, S. 189-212. 76 F.-R. Erkens: Herrschersakralität, S. 156ff.

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brauchte die kirchliche Unterstützung, um eine neue Dynastie aufzubauen77. Aus demselben Grund hat sich möglicherweise auch Konrad I. salben lassen, auch er begründete im ostfränkischen Reich eine neue Dynastie 78. Die Königswahl, Salbung und Krönung Ottos I. 936 durch den Erzbischof von Mainz berichtet Widukind ausführlich und im Detail. Für Heinrich I. berichtet er hingegen keine Salbung. Heinrich habe, so erzählt er unklar, die ihm angebotene Salbung zwar nicht verschmäht, aber er nahm sie auch nicht an79. Widukind lässt ihn in christlicher Bescheidenheit behaupten, er sei durch Gottes Gnade und die Zustimmung der Großen des Reiches König, aber der Salbung nicht würdig. Es erscheint ziemlich unwahrscheinlich, dass Heinrich, wenn er vom sakralen Königtum überzeugt gewesen wäre, eine Salbung abgelehnt hätte. Auch er begründete ein neues Königsgeschlecht und hätte seine Stellung damit gefestigt, sein fehlendes fränkisches Blut ausgeglichen und vor allem seine Auserwählung durch Gott sichtbar gemacht80. Außerdem hätte er mit seinem Vorgänger, dem Widukind eine Salbung zuschreibt, gleichgezogen81. Im Interesse der ottonischen Familie konnte es nur sein, einen gesalbten König am Anfang ihrer Herrschaft zu haben. Wenn Widukind die Salbung nicht in der Art oraler Geschichtstradition einfach zurückprojizierte82, kann das eigentlich nur bedeuten, dass eine solche Veränderung der Geschichte, die sakrale liturgische Handlungen betraf, nicht möglich war. Da war die Ablehnung der Salbung aus christlicher Bescheidenheit wohl die geeignetste Begründung, die dem Ruhm der Familie nicht abträglich war. Wenn es, was auch schlüssig scheint, 919 noch keine Salbungstradition im Ostfränkischen Reich gab83, dann hat sich diese sehr bald durchgesetzt, denn 30 Jahre später brauchte Widukind einen Bescheidenheitstopos, um Heinrichs I. Ablehnung zu begründen. Möglicherweise war sie ihm also doch nicht angeboten worden, wegen seiner Probleme mit dem Erzbistum Mainz. Oder weist die ver77 Ebd. S. 119f. 78 Ebd., S. 125f.; Erkens bezeichnet eine Salbung Konrads I. als möglich, wenn auch nicht mit Sicherheit nachweisbar. 79 Widukind, I, 26, S. 58-59: »Cumque ei offerretur unctio […] non sprevit, nec tamen suscepit: ›Satis‹, inquiens, »michi est, ut pre maioribus meis rex dicar et designer, divina annuente gratia ac vestra pietate; penes meliores vero nobis unctio et diadema sit: tanto honore nos indignos arbitramur«. Anführungszeichen? 80 Zum viel besprochenen Problem der abgelehnten Salbung vgl. W. Giese: Heinrich I. S. 61-69. 81 Widukind I, 16, S. 44. 82 Zur Beeinflussung Widukinds durch die orale Geschichtsauffassung vgl. J. Fried: Königserhebung, S. 267-318; K. Sonnleitner: Jugendliches Heldentum, S. 459-460. 83 F.-R. Erkens: Herrschersakralität, S. 124ff.

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worrene Geschichte von Verrat, Mordversuchen und Krieg vor dem Tod Konrads I. doch darauf hin, dass der Liudolfinger bewusst um das Königtum gekämpft hatte und darum Rücksicht nehmen musste auf ehemalige Gegner, vor allem Eberhard? Das so wunderbar anmutende Narrativ von der friedlichen Herrschaftsübertragung durch die Einsicht Konrads I. sollte dies verschleiern und tut es zum Teil bis heute84.

S CHLUSS Widukind hat kein objektives Bild Heinrichs überliefert, im Sinne moderner Geschichtsschreibung. Vielmehr verwendet er Ideale von Männlichkeit, die seine Kultur bestimmten und die waren sicher nicht einheitlich. In Sachsen, wo die christliche Mission erst nach 800 begann, zunächst gewaltsam, waren noch viele heidnische Traditionen erhalten, sie prägten auch die Vorstellung von männlichem Heldentum. Diese trafen auf neue Männlichkeitsbilder, die von der christlichen Kirche gefordert wurden und verbanden sich mit diesen. Widukind hatte die Absicht, Heinrich positiv und verehrungswürdig darzustellen, vermutlich nicht nur, um den Wünschen der Herrscherfamilie gerecht zu werden, sondern aus eigener Überzeugung und, um ihn für die Sachsen zu einem männlichen Vorbild zu machen. Er beschrieb ihn als Helden, der die unterschiedlichen Traditionen von Männlichkeit in sich vereinte. Als übermächtigen Krieger sah Widukind ihn in einer Linie mit den Helden der sächsischen Frühzeit, wie Hathagat, der mit den Sachsen die Landnahme erkämpfte und ihren Aufstieg zum Reichsvolk überhaupt erst ermöglichte. Über ihn wurden immer noch Heldenlieder gesungen, obwohl sie aus heidnischer Zeit stammten. Über den Christen Heinrich gab es ähnliche Lieder, wie sehr diese christlich überformt waren, wissen wir nicht. Die klassische Bildung des Mönchs bewirkte Übernahmen antiker Heldenvorstellungen. Als Geistlicher und Bibelkundiger gestaltete Widukind seinen Helden nach dem Vorbild alttestamentlicher Könige, und stellte seine Kampfkraft damit in den Dienst Gottes. Anspielungen an das Neue Testament machen Heinrich zum tugendhaften und weisen christlichen König. Heinrich ist der von Gott auserwählte König, Schützer und Förderer der Kirchen und der Christenheit. Als Schützer braucht ein König des ausgehenden Frühmittelalters kriegerische Qualitäten; Widukind denkt pragmatisch und macht die militärische Stärke zu einer Voraussetzung für das Königtum, die körperliche Kraft zu einer Auszeichnung. Er stellt diese aber auch unter die Gnade Gottes, der sie seinem aus-

84 Vgl. W. Giese: Heinrich I., S. 58ff.

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erwählten König verleiht. So gelingt es ihm, den germanischen Helden mit den neuen Forderungen der christlichen Kirche an die Männlichkeit zu verbinden. Herrschaft ohne Kampf kennt er nicht.

Bohemund von Tarent Konstruktion eines idealen Kreuzzugshelden I NGRID S CHLEGL

Um 1135 vermerkt der normannische Chronist Ordericus Vitalis (1074-ca.1142), Mönch von Saint-Évroult, in seinem großen Geschichtswerk, Historia Ecclesiastica1, der Name Bohemunds von Tarent sei nun in den entlegensten Ecken der Welt berühmt und werde auf allen drei Kontinenten gepriesen. Während seiner Reise durch Frankreich im Jahre 1106 seien daher viele Adelige zu ihm gekommen und hätten ihm ihre Kinder präsentiert, deren Patenschaft er mit Freude übernommen habe. Schließlich habe Bohemund um die Hand von Konstanze, der Tochter des französischen Königs, angehalten. Nach Ostern desselben Jahres seien die Hochzeitsfeierlichkeiten mit großem Prunk und in Anwesenheit aller bedeutenden geistlichen und weltlichen Würdenträger in Chartres begangen worden.2 Der Autor bezeichnet in diesem Zusammenhang Bohemund ausdrücklich als »heros«, wohl um zu betonen, dass Bohemund mehr als würdig sei, eine Verbindung mit einer Tochter aus königlichem Geschlecht einzugehen. Zweifellos war in den Augen des Mönches von Saint Évroult der süditalienische Normanne, dem er in seinem Werk überproportional viel Platz einräumt, der größte Held seiner Zeit. Mehr als 20 Jahre nach dessen Tod feiert er ihn noch als Ritter ohne Furcht und Tadel und idealen Helden, den die Heiden angeblich »kleinen Gott der Christen« nennen, wie er seine Leser an anderer Stelle wissen lässt.3

1

Ordericus Vitalis: Historia Ecclesiastica, ed. Marjorie Chibnall: The Ecclesiastical

2

Ordericus Vitalis, Bd. 6 (1978), lib. XI, S. 70.

3

Ordericus Vitalis, Bd. 5 (1975), lib. X, S. 356.

History of Orderic Vitalis. 6 Bände, Oxford u.a: Clarendon Press 1965-1978.

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In der Literatur wurde mehrfach aufgezeigt, zuletzt von Jean Flori in seiner umfassenden Biografie Bohemunds4, dass dieser selbst zu seiner Stilisierung zum Helden in nicht unerheblichem Ausmaß beigetragen habe. Modern ausgedrückt, müsste man ihn als Meister der Selbstvermarktung bezeichnen, wusste er sich doch der medialen Möglichkeiten seiner Zeit gekonnt zu bedienen, hatte ein untrügliches Gespür dafür, was sowohl bei adeligem als auch geistlichem Publikum Anklang finden würde, und stimmte seine ›Botschaft‹ geschickt auf seinen jeweiligen Adressatenkreis ab. Er kreierte seinen eigenen Mythos, indem er sich der vielfältigen Bausteine, aus denen sich im ausgehenden 11. und beginnenden 12. Jahrhundert die Idealvorstellungen von Männlichkeit speisten, geschickt handhabte und virtuos kombinierte. Im Folgenden sollen einzelne Elemente, die Bohemund nutzte, um sich selbst als Musterbild hegemonialer Männlichkeit5 zu präsentieren, herausgegriffen und einer Analyse unterzogen werden. Um jedoch Ausmaß und Erfolg seiner propagandistischen Bemühungen und Selbststilisierung zum Helden erfassen zu können, ist es erforderlich, einen Blick auf seine Herkunft und wechselhafte Lebensgeschichte zu werfen.

E INE G ESCHICHTE VON AUFSTIEG UND F ALL Bohemund von Tarent stammte aus dem niederadeligen normannischen Valvassorengeschlecht der Hauteville. Sein Großvater Tankred war Herr von Altavilla, dem heutigen Hauteville-la-Guichard im nordfranzösischen Département Manche zwischen Coutance und Saint-Lô. Tankred war zwei Mal verheiratet, hatte insgesamt zwölf Söhne und wohl auch mehrere Töchter, die aber, da sie in den Quellen kaum erwähnt werden, in Vergessenheit geraten sind.6 Obwohl er bescheidenen Wohlstand erworben hatte, stellte eine derart große Zahl an männlichen Nachkommen ein Problem dar, drohte doch die Zersplitterung des Erbes. Ordericus Vitalis berichtet glaubhaft, Tankred habe seinen Söhnen nach alter normannischer Tradition empfohlen, außerhalb der Heimat ihr Glück zu suchen,

4

Flori, Jean: Bohémond d’Antioche. Chevalier d’Aventure, Paris: Payot & Rivages

5

Zum Konzept der hegemonialen Männlichkeit vgl. Connell, Robert W.: Der gemachte

2007. Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2006, S. 98f. 6

Vgl. Bünemann, Richard: Robert Guiskard 1015-1085. Ein Normanne erobert Süditalien, Köln u.a.: Böhlau 1997, S. 6- 8.

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und das, was sie brauchten, mit Kraft und Verstand zu nehmen. 7 Offenbar folgten sie der Empfehlung des Vaters, denn im Verlauf der 1030er Jahre brachen fünf Söhne Tankreds aus erster Ehe nach Süditalien auf, um dort ihr Glück zu suchen. Rund 15 Jahre später folgten auch die Söhne Tankreds aus zweiter Ehe. Unter den Letzteren nimmt Robert Guiskard, der Vater Bohemunds, eine herausragende Stellung ein. Er traf um das Jahr 1048 in Süditalien ein und war zu diesem Zeitpunkt praktisch mittellos. Er stellte sich in die Dienste seines Halbbruders Drogo, verdingte sich im nördlichen Kalabrien als Raubritter und Anführer einer Söldnerbande und lebte vornehmlich von Raub und Erpressung.8 Erst ein Bündnis mit dem erfolgreichen Normannenführer Girard von Buonalbergo brachte die erhoffte Wende. Die Eheschließung mit dessen Tante Alberada, die zwischen 1050 und 1053 stattgefunden haben muss, soll ihm das beachtliche Truppenkontingent von 200 berittenen Kriegern und einen entsprechenden Machtzuwachs eingebracht haben.9 Bohemunds Geburt kann nicht mit Sicherheit datiert werden, muss aber in den Zeitraum zwischen 1052 und 1058 fallen, da sich Robert Guiskard spätestens 1058 von seiner Frau trennte. Scheidungsgrund soll die zu nahe Verwandtschaft der Eheleute gewesen sein, tatsächlich aber bot sich Robert Guiskard die Möglichkeit, eine weitaus lukrativere und prestigereichere Verbindung einzugehen. Spätestes 1059 heiratete er Sichelgaita, die Schwester des angesehenen Lombarden Gisulf von Salerno.10 Bohemund wuchs vermutlich am Hof seines Vaters auf, wo er die sozialen Praktiken der normannischen Führungselite und das Kriegshandwerk erlernte. Ob, wie Ordericus Vitalis erzählt, Sichelgaita tatsächlich versuchte, den ungeliebten Stiefsohn zu vergiften, damit ihr eigener Erstgeborener, Roger Borsa, eines Tages die Nachfolge Robert Guiskards antreten könne, muss bezweifelt werden.11 Viel wahrscheinlicher ist, dass bereits bei der Eheschließung eine Erbfolgeregelung getroffen wurde, die Sichelgaitas Söhne bevorzugte und Bohemund weitgehend ausschloss. Aufgrund der Quellenlage muss jedoch diese Annahme Spekulationen bleiben. Bis auf diese Vergiftungsmär, die vermutlich von Bohemund selbst in die Welt gesetzt wurde, um seinem Anspruch auf das Erbe des Vaters im Nachhinein den Anschein höherer Legitimität zu verleihen, existieren keine weiteren Nachrichten aus der Kindheit und frühen Jugend Bohemunds. 12 7

Ordericus Vitalis, Bd. 2 (1969), lib. III, S. 98 sowie S. 59.

8

Vgl. R. Bünemann: Robert Guiskard, S. 14.

9

Vgl. ebd., S. 16.

10 Vgl. Yewdale, Ralph Bailey: Bohemond I. Prince of Antioche, Princetown: University Press 1924, S. 6. 11 Ordericus Vitalis, Bd. 4 (1973), lib. VII, S. 28-30. 12 Vgl. J. Flori: Bohémond, S. 29.

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Währenddessen schritt Robert Guiskards sozialer Aufstieg unaufhaltsam voran und erreichte 1059 mit seiner Investitur zum Herzog von Apulien und Kalabrien durch Papst Nikolaus II. einen vorläufigen Höhepunkt. Damit war aus dem ehemals mittellosen Raubritter und Bandenführer ein anerkannter und päpstlich legitimierter Fürst geworden.13 Doch die Ambitionen des normannischen Eroberers endeten nicht an dieser Stelle. Gemeinsam mit seinem jüngsten Bruder Roger betrieb er die Eroberung des muslimischen Sizilien und bemächtigte sich des reichen Salerno, der letzten lombardischen Stadt Süditaliens. Trotz aller Erfolge war Robert Guiskard immer wieder mit Aufständen konfrontiert. Vor allem die eigenen Verwandten stellten beständig seine Autorität in Frage. Hier trat Bohemund erstmals militärisch in Erscheinung. Der Vater beauftragte 1078/79 seinen Erstgeborenen aus erster Ehe mit der Unterwerfung der aufständischen Stadt Troia. Bohemund wurde jedoch von seinem Cousin Abälard besiegt und in die Flucht geschlagen.14 Die Begehrlichkeiten des Vaters richteten sich indes auf Byzanz, das er von inneren Krisen und der Niederlage von Mantzikert (1071) gegen die Seldschuken geschwächt wähnte. Robert Guiskard ergriff die vermeintlich günstige Gelegenheit, aber welche Ziele er konkret verfolgte, ist nicht vollständig geklärt. Vielleicht wollte er sich das sprichwörtliche Stück aus dem territorialen Kuchen sichern, denkbar ist auch, dass er seinem Erstgeborenen eine Herrschaft verschaffen wollte, möglicherweise strebte er sogar nach der Kaiserwürde. 15 1080 zog er vor Otranto eine Flotte zusammen, die 1081 über Korfu an die byzantinisch beherrschte albanische Küste übersetzte. Bohemund kommandierte die Vorhut, während in Italien Roger Borsa, Guiskards ältester Sohn aus zweiter Ehe, die Regentschaft als designierter Nachfolger übernahm.16 Das Ergebnis nach einjährigem Feldzug konnte sich sehen lassen. Die Normannen hatten das byzantinische Heer weitgehend aufgerieben und waren weit ins Landesinnere vorgedrungen.17 Die byzantinische Kaiserkrone schien tatsächlich in Griffweite zu sein, doch dann zwang die politische Situation in Italien Robert Guiskard zur Rückkehr. Das Kommando über die normannischen Truppen übertrug er Bohemund. Dieser blieb noch insgesamt 18 Monate auf dem Balkan und kämpfte dort mit wechselndem Erfolg. Schließlich häuften sich die Rückschläge, die Normannen mussten erhebliche Gebietsverluste hinnehmen und bereits eroberte Orte wieder aufgeben. Nachschubschwierigkeiten, ausbleibende Soldzahlungen 13 Vgl. R. Bünemann: Robert Guiskard, S. 34-41. 14 Vgl. J. Flori: Bohémond, S. 34. 15 Vgl. ebd., S. 35ff. 16 Vgl. R. B. Yewdale: Bohemond I, S. 11. 17 Vgl. R. Bünemann: Robert Guiskard, S.

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und mangelnde Aussicht auf Beute veranlassten eine offenbar nicht unerhebliche Anzahl von normannischen Kriegern, zum gegnerischen Lager überzulaufen. Schließlich entschloss sich Bohemund, den Balkan zu verlassen und nach Italien zurückzukehren.18 1084 unternahm Robert Guiskard erneut einen Balkanfeldzug, an dem auch Bohemund wieder teilnahm. Die Expedition endete abrupt im Juli 1085 mit dem Tod des Normannenführers auf Korfu. Damit entbrannte der Kampf um die Nachfolge. Sichelgaita unternahm alles in ihrer Macht Stehende, um ihrem ältesten Sohn, Roger Borsa, die Nachfolge zu sichern. Ihre Bemühungen waren bald von Erfolg gekrönt. Noch im September leisteten ihm die Vasallen den Treueeid, während Bohemund leer ausging und zum Ritter ohne Land degradiert wurde. Wie einst seinem Vater drohte ihm das Schicksal, sein Dasein als Vasall seines Halbbruders fristen zu müssen, und wie einst sein Vater konnte er das nicht akzeptieren und rüstete umgehend zum Kampf. In nur sieben Monaten gelang es ihm, seinem Bruder umfangreiche Gebiete, darunter die Städte Oria, Tarent, Otranto und Gallipoli zu entreißen. Im März 1086 kam es zu einem Friedensschluss, der aber nicht lange hielt. In den folgenden Jahren wechselten Versöhnung, Kooperation und Wiederaufflammen der Kampfhandlungen einander ab. Erst um das Jahr 1093/94 schien sich Bohemund endgültig damit abgefunden zu haben, dass er seinen Bruder, der mittlerweile offiziell vom Papst mit dem Herzogtum investiert worden war, nicht loswerden konnte. Alles deutete darauf hin, dass Bohemunds Karriere damit zu Ende war. Obwohl de facto mächtiger als sein Halbbruder, schien er an die gläserne Decke der hierarchischen Ordnung seiner Zeit zu stoßen, als sich eine gänzlich neue Perspektive eröffnete. Papst Urban II. rief am 27. November 1095 in Clermont zum Ersten Kreuzzug auf, der vor allem beim französischen Adel auf großen Widerhall stieß, obwohl ein derartiges Unternehmen, dessen Ausgang letztlich ungewiss war, mit hohem Aufwand und enormen Kosten verbunden war. 19 Sicherlich mögen für viele Kreuzfahrer religiöse Aspekte im Vordergrund gestanden haben, aber für den Adel stellte eine Teilnahme am Kreuzzug auch eine Investition in die Zukunft dar. Ein Krieg, insbesondere ein heiliger Krieg, bot adeligen Männern die Möglichkeit, honor zu erwerben. Dieser in den lateinischen Quellen übliche Begriff wird regelmäßig mit ›Ehre‹ ins Deutsche übertragen. Es handelt sich dabei um eine äußerst unzulängliche Übersetzung, da der mittelalterliche honor nichts mit dem modernen Ehrbegriff gemein hat. Honor beschreibt keinen inneren Wert, keine moralisch-sittliche Kategorie, vielmehr 18 Vgl. J. Flori: Bohémond, S. 48 19 Vgl. dazu die umfassende Arbeit von Tyerman, Christopher: How to Plan a Crusade. Reason and Religious War in the High Middle Ages, London u.a.: Allen Lane 2015.

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umfasste das Wort im Mittelalter alles, was »die Stellung des Individuums in der Gemeinschaft und gegenüber anderen äußerlich beschrieb.«20 Hans-Henning Kortüm schlägt daher zu Recht vor, den mittelalterlichen honor mit sozialem Status zu umschreiben, um der Vielschichtigkeit des Begriffes besser gerecht zu werden.21 Die Teilnahme an einem Kreuzzug im Sinne einer bewaffneten Pilgerfahrt verschaffte sowohl Männern als auch Frauen vielfältige Möglichkeiten, ihren eigenen sozialen Status und den ihrer Familien zu erhöhen. Bei Männern war es vor allem der Kampf, der zur Vermehrung von Ruhm und Ehre und damit zur Erhöhung des sozialen Kapitals22 führte. Hinzu kommt, dass mit der Sakralisierung des Krieges und der religiösen Legitimierung des Tötens der Kämpfer nunmehr nicht mehr sündhaft handelte, sondern im höchsten Maße gottgefällig. Während noch im Frühmittelalter das Töten im Krieg als Sünde galt, wurde im Heiligen Krieg die Ermordung von Ungläubigen zum frommen Werk und heilbringenden Akt, der Lohn nach dem irdischen Tod verhieß. Kortüm spricht in diesem Zusammenhang von einem »entscheidenden Paradigmenwechsel«, der sich im Laufe des 11. Jahrhunderts vollzogen hatte.23 In der Sicht der Zeit schlossen einander weltlicher und geistlicher Lohn keineswegs aus. Selbst wenn ein Kreuzzug grundsätzlich für Christus und die Kirche zur Rückgewinnung des Heiligen Landes geführt wurde, herrschte in der kriegerischen Elite durchaus die Vorstellung, dass dem einzelnen Kämpfer auch weltlicher Lohn für seine Anstrengungen zustünde.24 Dass sich religiöse Ziele und rein irdisch-materielle Erwartungen durchaus in Einklang bringen ließen, verdeutlicht exemplarisch der Chronist Fulcher von Chartres in seinem Bericht vom Ersten Kreuzzug, an dem er selbst teilgenommen hatte: »Diejenigen, die im Westen arm waren, macht Gott hier reich. Diejenigen, die nur wenig Geld hatten, verfügen nun über viele Goldmünzen, und denjenigen, die nicht einmal ein Dorf besaßen, denen hat Gott hier eine ganze Stadt geschenkt. [...]. Gott will nicht, dass diejenigen Not leiden, die gelobt haben, Ihm mit ihrem Kreuz zu folgen und dann sogar

20 Prietzel, Malte: Kriegführung im Mittelalter. Handlungen, Erinnerungen, Bedeutungen, Paderborn u.a.: Ferdinand Schöningh 2006, S. 30. 21 Vgl. Kortüm, Hans-Henning: Kriege und Krieger. 500-1500, Stuttgart: W. Kohlhammer 2011, S. 93. 22 Zum Begriff des symbolischen Kapitals vgl. Fuchs-Heinritz Werner/König, Alexandra: Pierre Bourdieu. Eine Einführung, Konstanz u.a.: UTB 2011, S. 171-173. 23 Vgl. H. Kortüm: Kriege, S. 110. 24 Vgl. Houben, Hubert: Die Normannen, München: C.H. Beck 2012, S. 82.

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ihr Ziel erreichen. [...]. Gott will, dass wir alle profitieren, damit Er uns als seine teuersten Freunde für sich gewinnen kann.«25

Die Aussicht auf sowohl weltlichen als auch spirituellen Lohn machte für den einzelnen Kämpfer die Teilnahme an einem Kreuzzug trotz hoher Kosten attraktiv. Im Falle Bohemunds von Tarent ist nahezu mit Sicherheit davon auszugehen, dass er hoffte, im Orient einen eigenen, unabhängigen Herrschaftsbereich und die damit verbundene soziale Anerkennung erlangen zu können, die ihm in Italien verwehrt worden war.26 Er schiffte sich vermutlich Ende Oktober 1096 mit einem relativ kleinen Kontingent von Kriegern in Bari ein, setzte nach Avlona (heute Vlora in Südalbanien) über und marschierte mit seinen Männern über die Via Egnatia nach Konstantinopel, wo er mit den Anführern der anderen Kreuzfahrerheere zusammentraf. Das war ein durchaus problematisches Unterfangen. Am byzantinischen Hof war man misstrauisch und argwöhnte, der Normanne beabsichtige, sich des Reiches zu bemächtigen, was er schon zuvor im Auftrag seines Vaters versucht hatte. Diese Befürchtungen waren nicht völlig unbegründet, denn tatsächlich berichtet der Chronist Albert von Aachen, Bohemund habe während seines Zuges nach Konstantinopel mit Gottfried von Boullion, dem Anführer der lothringischen Kreuzfahrer, der sich zur selben Zeit von Norden näherte, Kontakt aufgenommen, um mit ihm einen Angriff auf Konstantinopel zu akkordieren. Gottfried scheint jedoch Bohemunds Ansinnen mit dem Hinweis auf Jerusalem als seinem eigentlichen Ziel abgelehnt zu haben.27 In Konstantinopel trafen Bohemund und die Anführer der anderen Kontingente mit Kaiser Alexios zusammen, der die Kreuzfahrer in langwierigen Verhandlungen dazu brachte, seine Oberhoheit anzuerkennen und alle ehemaligen byzantinischen Gebiete, die in ihre Hände fallen würden, an ihn zurückzugeben. Als Gegenleistung gewährte der Kaiser militärische und logistische Unterstützung, die für die Kreuzfahrer überlebensnotwendig war, um Anatolien durchqueren und bis nach Antiochia vorzustoßen zu können. Doch die schwer befestigte Stadt stellte ein formidables Hindernis dar. Trotz aller Bemühungen zog sich die 25 Fulcheri Carnotensis Historia Hierosolymitana, ed. Heinrich Hagenmeyer. Heidelberg: Carl Winters Universitätsbuchhandlung 1913, III 37, S. 749: »qui enim illic erant inopes. hic facit eos Deus locupletes. qui habuerant nummos paucos, hic possident bisantios innumeros, et qui non habuerat villam, hic Deo dante iam possidet urbem. [...] nec vult eos penuria Deus adfici, qui cum crucibus suis devoverunt eum sequi, immo denique adsequi. [...]. vult ergo nos Deus omnes lucrifacere et ut amicos carissimos ad se attrahere. [...].« 26 Vgl. J. Flori: Bohémond, S. 71. 27 Vgl. ebd., S. 87.

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Belagerung über viele Monate hin. Hunger, Durst, Kälte und feindliche Angriffe machten den Kreuzfahrern so schwer zu schaffen, dass es zu einer ersten großen Desertionswelle kam. Sogar der griechische Heerführer, der die Kreuzfahrer eigentlich unterstützen sollte, verließ das Heerlager und Kaiser Alexios, der sich schon mit einem Heer auf dem Weg nach Antiochia befand, kehrte um, als ihm berichtet wurde, dass sich ein seldschukisches Entsatzheer unter der Führung Kerbogas, des Atabegs von Mosul, der Stadt nähere und die Kreuzfahrer so gut wie verloren seien. Bohemund nützte die verzweifelte Lage der Kreuzfahrer geschickt aus, als er vorschlug, dass demjenigen die Stadt gehören solle, der ihre Eroberung bewerkstellige. Tatsächlich hatte er bereits Verhandlungen mit einem armenischen Kommandanten aufgenommen, der Bohemunds Männern Zugang zur Stadt verschaffte, die dann den anderen Kreuzfahrern die Tore öffneten. Unmittelbar nach der Eroberung der Stadt wurden die ehemaligen Belagerer ihrerseits von Kerboga belagert. Wieder schien die Lage aussichtslos, die Versorgungslage hatte sich kaum gebessert, der Feind war übermächtig und erneut zogen viele Kämpfer die Flucht dem Kampf vor. In dieser Situation unternahmen die Kreuzfahrer einen verzweifelten Ausfall und konnten entgegen ihrer eigenen Erwartungen die Truppen Kerbogas vernichtend schlagen.28 Unmittelbar nach diesem Triumph entbrannte ein Streit um den Besitz der Stadt. Trotz aller Widerstände konnte sich Bohemund durchsetzen und so den Grundstein für eine eigene, unabhängige Herrschaft legen. Während die anderen Kreuzfahrer in Richtung Jerusalem weiterzogen, blieb Bohemund in Antiochia, wo er sich umgehend dem Ausbau seiner Herrschaft und der Erweiterung seines Territoriums, auf Kosten vor allem von Byzanz, widmete. Die Eroberung Jerusalems am 15. Juli 1099 erfolgte somit ohne seine Beteiligung. Da die Nichterfüllung seines Kreuzzugsgelübdes in der adeligen Kriegerelite zu einem unwiederbringlichen Prestigeverlust führen geführt hätte würde29, pilgerte er im Dezember 1099 ostentativ nach Jerusalem und verbrachte den Weihnachtsabend in Bethlehem. Danach ließ er sich von Daimbert von Pisa, dessen Einsetzung zum Patriarchen von Jerusalem er zuvor unterstützt hatte, feierlich mit Antiochia investieren und wurde so förmlich als princeps Antiochiae, Fürst von Antiochia, legitimiert.30 Damit schien es, als hätte Bohemund seine Ziele erreicht. Als Fürst von Antiochia war er nicht länger Vasall seines Halbbruders, er verfügte über einen päpstlich anerkannten Titel und herrschte über ein Territorium, das mit etwas Geschick noch an Größe gewinnen konnte. Doch im Sommer 1100 geriet er bei einer militärischen Unternehmung im östlichen Anatolien in Gefangenschaft 28 Vgl. H. Houben: Normannen, S. 85. 29 Vgl. J. Flori: Bohémond, S. 210. 30 Vgl. ebd., S. 212f.

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des Emirs Danischmend Ghazi, die fast drei Jahre dauerte. In dieser Zeit übte Tankred, ein Cousin Bohemunds, erfolgreich und höchst energisch die Regentschaft aus.31 1103 kehrte Bohemund nach Antiochia zurück und nahm seine alte Politik wieder auf. Diese richtete sich vornehmlich gegen Byzanz und den muslimischen Herrscher von Aleppo. Die Expansionsstrategie nach Osten, die sowohl Bohemund als auch Balduin, der Graf von Edessa, verfolgten, scheiterte jedoch am Widerstand der Seldschuken. In der Schlacht von Harran im Jahre 1104 erlitten Bohemund und Balduin von Edessa eine vernichtende Niederlage mit weitreichenden Folgen. Zahlreiche Kämpfer der Führungselite gerieten in Gefangenschaft, große Gebiete der Grafschaft Edessa gingen verloren und die armenischen Städte in Kilikien fielen von Antiochia ab und schlossen sich wieder Byzanz an.32 Im September 1104 reiste Bohemund nach Europa, um neue Truppen anzuwerben, während er die Regentschaft in Antiochia wiederum seinem Vetter Tankred überließ. In Italien und Frankreich ließ sich Bohemund als Kreuzzugsheld feiern und macht sich seine Popularität zunutze, um einen Feldzug gegen Byzanz zu propagieren, den er als Kreuzzugsvorhaben zur Unterstützung der sich etablierenden Kreuzfahrerherrschaften präsentierte. Zur Rechtfertigung seines Vorhabens bediente er sich der im lateinischen Westen weit verbreiteten antibyzantinischen Ressentiments. In seiner Propaganda warf er Byzanz Verrat und Ketzerei vor und machte den Kaiser für das Scheitern des Kreuzzugs von 1101 verantwortlich.33 Da er auf seiner Reise nach Frankreich von dem päpstlichen Legaten Bruno von Segni begleitet wurde, konnte er signalisieren, dass sein Vorhaben päpstliche Unterstützung genoss. Unklar ist jedoch, ob Papst Paschalis II. über die tatsächlichen Pläne des Normannen informiert war. 34 Sein Aufstieg zum gefeierten Kreuzzugshelden öffnete Bohemund in Europa Türen, die einem Abkömmling eines ehemals mittellosen Raubritters ansonsten verschlossen geblieben wären. Augenfällig wird dies an seiner Eheschließung mit Konstanze, der Tochter des französischen Königs Philipps I. aus dem angesehenen Geschlecht der Kapetinger. Hätte sich Bohemund im Ersten Kreuzzug keinen honor erworben, und hätte er sich stattdessen in Apulien mit seiner Stellung als Vasall seines Halbbruders zufriedengegeben, wäre diese Verbindung mit Sicherheit nicht zustande gekommen. Darüber hinaus gelang es ihm, die Vermählung seines Vetters Tankred mit Konstanzes Schwester Cecilie zu arrangieren. Diese Doppelhochzeit führte zu einer gesellschaftlichen Aufwertung Bo31 Vgl. H. Houben: S. 87. 32 Vgl. ebd., S. 89f. 33 Vgl. ebd., S. 90. 34 Vgl. J. Flori: Bohémond, S. 254f.

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hemunds und seiner Familie. Den Chronisten der Zeit blieb die soziale Asymmetrie keineswegs verborgen, denn sie betonten ausdrücklich, dass Bohemund seine Braut aus königlichem Geschlecht auch voll und ganz verdient hätte. 35 Aber die ehelichen Verbindungen mit den Kreuzzugshelden der Hauteville nützten auch dem französischen Königshaus. Das Ansehen der Kapetinger hatte gelitten, als Philipp I. exkommuniziert wurde, weil er seine erste Ehefrau verstoßen und Bertrada de Montfort, die noch rechtmäßig mit dem Grafen von Anjou verheiratet war, entführt und geheiratet hatte. Der einzige namhafte Teilnehmer am Ersten Kreuzzug aus der Kapetingischen Kernfamilie war Hugo von Vermandois, der Bruder des Königs. Doch Hugo hatte im Kreuzzug ganz und gar nicht heldenhaft agiert und stellte daher für die Kapetinger eher eine Blamage dar, als dass er ihnen zur Ehre gereichte, zumal er seinen Kreuzzugseid nie erfüllt hatte. An der Eroberung Antiochias hatte er noch teilgenommen, dann aber wurde beschlossen, ihn nach Konstantinopel zu schicken, um den Kaiser um Verstärkung zu bitten. Anstatt nach der Ausführung seines Auftrages zu den Kreuzfahrern zurückzukehren, trat er die Heimreise an. Als der Papst denjenigen mit der Exkommunikation drohte, die ihr Kreuzzugsgelübde nicht eingelöst hatten, schloss sich Hugo dem Kreuzzug von 1100/01 an, wurde in Anatolien verwundet und starb in Tarsus. Mit einem angeheiraten Kreuzzugshelden konnten die Kapetinger ihr angeschlagenes Image wieder aufwerten und sogar ihre Beziehungen zum Heiligen Stuhl verbessern.36 Nicht zuletzt aufgrund seiner Selbststilisierung zum Kriegshelden zeigten Bohemunds Rekrutierungsbemühungen für seinen Feldzug gegen Byzanz, den er zum Heiligen Krieg gegen die häretischen Griechen erhob, großen Erfolg. Nach seiner Hochzeit mit Konstanze begab er sich umgehend nach Apulien, um den geplanten Angriff auf Byzanz zu organisieren. Im Oktober 1107 setzte das versammelte Heer von Brindisi nach Albanien über und begann mit der Belagerung von Dyrrhachion (Durrës, Albanien). Doch der Angriff erwies sich als spektakulärer Fehlschlag. Bohemund musste mit dem Kaiser Verhandlungen aufnehmen und im Vertrag von Devol Bedingungen akzeptieren, die seinen sozialen Status empfindlich minderten. Kaiser Alexios beanspruchte die Lehenshoheit über das Fürstentum Antiochia und degradierte Bohemund zum byzantinischen Vasallen. Um die Abhängigkeit Antiochias und Bohemunds von Byzanz für jedermann 35 Vgl. beispielsweise Suger de Saint-Denis: La vie de Louis le Gros, ed. Alphonse Picard. Paris 1887, c. IX, S. 23: »Callebat princeps Antiochenus, et tam donis quam promissis copiosus, dominam illam celeberrime sibi copulari Carnoti, presente rege et domino Ludovico, multis astantibus archiepiscopis, episcopis et regni proceribus, devote promeruit.« 36 Vgl. J. Flori: Bohémond, S. 268.

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sichtbar zu machen, wurde das Fürstentum in ein Dukat umgewandelt, was zur Folge hatte, dass sich Bohemund nicht länger princeps nennen durfte. Zudem wurde ihm Antiochia nur auf Lebenszeit zugesprochen, nach seinem Tod sollte es an Byzanz zurückfallen.37 Eine Erbfolge und die damit verbundene Dynastiebildung wären dadurch ausgeschlossen gewesen. Das war für Bohemund ein herber Rückschlag, hatte er doch gerade dafür mit seiner prestigeträchtigen Heirat Vorsorge getroffen. Bohemund kehrte unter diesen Umständen zeitlebens nicht mehr nach Antiochia zurück. Manche vermuten, die Verbitterung über sein Scheitern habe ihn daran gehindert. Viel wahrscheinlicher ist jedoch, dass er durch seine Abwesenheit seinem Vetter Tankred ermöglichen wollte, die Regentschaft über Antiochia weiterhin auszuüben, um so das Gebiet als unabhängiges Fürstentum für seinen Sohn zu erhalten. Tankred hatte sich nämlich nie dem Kaiser unterworfen und weigerte sich, den Vertrag von Devol anzuerkennen.38 Die List, sofern es eine solche war, glückte, denn Bohemunds Sohn konnte 1126 unangefochten die Herrschaft übernehmen. Bohemund selbst starb wahrscheinlich im Jahre 1111.39 Seine Grablege erfolgte in Canosa di Puglia, wo zu seiner ewigen Memoria an der Außenmauer des rechten Querschiffes der Kathedrale von San Sabino ein Mausoleum im orientalisch-byzantinischen Stil errichtet wurde. Die Epitaphe über den Tympana und an der kunstfertigen Bronzetür preisen Bohemund als »princeps Sirie«, Bezwinger der Heiden und häretischen Griechen und »athleta Christi« für den wahren Glauben.40

D IE K ONSTRUKTION HEROISCHER M ÄNNLICHKEIT Viel riskiert, viel gewonnen, (fast) alles zerronnen – so könnte man Bohemunds Karriere in wenigen Worten zusammenfassen. Trotzdem ging der Normanne in die Geschichte als großer Held ein, ganz so wie es die Epitaphe in seinem Mausoleum intendierten. Seine Misserfolge und Niederlagen gerieten weitgehend in

37 Vgl. ebd., S. 283f. 38 Vgl. ebd., S. 291. 39 Anderer Meinung ist Gadolin, A.R.: Prince Bohemund’s Death and Apotheosis in the Church of San Sabino, Canosa di Puglia, in: Byzantion 52 (1982), S. 125-130. 40 Vgl. J. Flori: Bohémond, S. 293-297; vgl. auch Kirschberger, Timo: Erster Kreuzzug und Ethnogenese. In novam formam commutatus – Ethnogenetische Prozesse im Fürstentum Antiochia und im Königreich Jerusalem, Göttingen: V & R unipress 2015, S. 233-235.

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Vergessenheit. Verantwortlich dafür war vor allem ein historiographisches Werk, die Gesta Francorum, verfasst von einem normannischen Anonymus süditalienischer Provenienz, der im Gefolge Bohemunds den Kreuzzug als Augenzeuge miterlebt hatte.41 Eine Urfassung dieses Werkes brachte Bohemund 1104 nach Europa, wo er es, vermutlich mehrfach, so umarbeiten ließ, dass er damit seine eigenen Pläne propagieren konnte. Die Bearbeitung der Gesta zielte daher darauf ab, antibyzantinische Ressentiments zu verstärken und Bohemunds Anspruch auf Antiochia zu rechtfertigen.42 Vor allem aber ließ er seine eigene Rolle im Kreuzzug glorifizieren, während die seiner Mitstreiter marginalisiert wurde. Wesentliches Element dabei war seine Stilisierung zum Idealbild kriegerischer Männlichkeit, da sich in der adeligen Kriegerelite des 11. und 12. Jahrhunderts Männlichkeit vornehmlich über den Kampf definierte, in dem individueller honor errungen und vermehrt werden konnte. Dieser honor fand seinen unmittelbarsten Ausdruck in den Epitheta ornantia, die mittelalterliche Autoren ihren Protagonisten zuwiesen. Der Autor der Gesta bezeichnet Bohemund regelmäßig als »bellipotens« (mächtig im Krieg), »fortissimus athleta« Christi (tapferster Kämpfer für Christus) und »invictus« (unbesiegbar), um den Rezipienten auf die Kriegstüchtigkeit seines Helden hinzuweisen.43 Als Vorbild für die Beschreibung von Kriegen dienten den mittelalterlichen Geschichtsschreibern unter anderem die großen antiken Epen mit ihrer Hervorhebung einzelner Kämpfer und deren Heldentaten. Diese Erzählungen beeinflussten die mittelalterliche Historiographie wesentlich und trugen zur »epischen Stilisierung«44 des Krieges bei. Im Mittelpunkt mittelalterlicher Kriegsberichte stehen daher häufig autonom agierende Helden, die in Zweikämpfen oder durch andere heroische Waffentaten über das Schlachtengeschick entscheiden. Die Realität des mittelalterlichen Krieges sah jedoch anders aus. Strenge Disziplin und Organisation, militärische Ratio, Akzeptanz von hierarchischen Strukturen und Einhaltung der Formationen waren für Erfolg und Effektivität des Kampfes ausschlaggebend. Für heroische Einzelgänge, um die eigene Tapferkeit unter Beweis zu stellen, blieb wenig Raum.45 Dies führte unweigerlich zur Marginalisie41 Vgl. Skottki, Kristin: Christen, Muslime und der Erste Kreuzzug. Die Macht der Beschreibung in der mittelalterlichen und modernen Historiographie, Münster u.a.: Waxmann 2015, S. 255. 42 Vgl. J. Flori: Bohémond, S. 245f. 43 Zum Gebrauch der Epitheta ornantia in den Gesta Francorum vgl. Oehler, Hans: Studien zu den Gesta Francorum, in: Mittellateinisches Jahrbuch 6 (1970), S. 78. 44 H. Kortüm: Kriege, S. 20. 45 Vgl. Prietzel, Malte: Krieg im Mittelalter, Darmstadt: WBG 2006, S. 51.

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rung des adeligen Kriegers im Kampf und in der Folge zu einer Minderung seines Sozialprestiges. Der strahlende Ritter wurde zum austauschbaren Kämpfer unter vielen. Dem wirkte die mittelalterliche Geschichtsprosa mit der Schilderung von herausragendem Heldentum gezielt entgegen und bediente damit ganz bewusst die Sehnsüchte der adeligen Kriegerelite, die sich mit einer Alltagswirklichkeit konfrontiert sah, die nur schwer mit aristokratischen Idealvorstellungen in Einklang zu bringen war.46 Diese Sehnsüchte spricht auch Bohemund von Tarent gezielt an, indem er sich vom Autor der Gesta zum heroischen Einzelkämpfer stilisieren lässt. Im Kampf gegen die Truppen des Ridwan von Aleppo vor Antiochia tritt er aus dem Kampfgeschehen hervor, als die Schlacht beinahe verloren scheint und das Kreuzfahrerheer zurückzuweichen beginnt: »Bohemund, bewehrt an allen Seiten mit dem Zeichen des Kreuzes, stürzte sich auf die Türken wie ein Löwe, der seit drei oder vier Tagen Hunger gelitten hatte und nun brüllend und dürstend nach dem Blut von Vieh aus seiner Höhle stürmte und unbekümmert die Schafe riss, während sie nach allen Seiten auseinanderstoben. Genauso verhielt sich Bohemund inmitten der Türken. Er bedrängte sie so heftig, dass die Bahnen seines Banners über die Köpfe der Türken hinwegflogen.«47

Der Autor bedient sich an dieser Stelle einer alten Metaphorik mit vielschichtigen Bedeutungsebenen,48 um das Heldentum seines Protagonisten angemessen zu würdigen. Der Löwe als Symbol für Kraft, Überlegenheit, Herrschermacht und individuelles Heldentum findet sich bereits in den altorientalischen Reichen, in den Fabeln und Mythen des antiken Griechenlands und den literarischen Hinterlassenschaften des alten Roms. Auch im Mittelalter erfreute sich die Löwensymbolik höchster Beliebtheit. Dazu trugen die Rezeption der antiken Schriften und vor allem der Gebrauch der Löwenmetaphorik in der Bibel bei. Der Löwe wird im Alten Testament häufiger als andere Tiere mit Gott in Verbindung ge46 Vgl. H. Kortüm: Kriege, S. 20. 47 Gesta Francorum et Aliorum Hierosolimitanorum, ed. Rosalind Hill. London u.a.: Nelson’s Medieval Texts 1962, VI (27), S. 37: »Fuit itaque ille, undique signo crucis munitus, qualiter leo perpessus famem per tres aut quattuor dies, qui exiens a suis cauernis, rugiens ac sitiens sanguinem pecudum sicut improuide ruit inter agmina gregum, dilanians oues fugientes huc et illuc; ita agebat iste inter agmina Turcorum. Tam uehementer instabat illis, ut linguae uexilli uolitarent super Turcorum capita.« 48 Zur Verwendung der Löwenmetaphorik im Mittelalter vgl. Jäckel, Dirk: Der Herrscher als Löwe. Ursprung und Gebrauch eines politischen Symbols im Früh- und Hochmittelalter. Köln u.a.: Böhlau 2006.

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bracht49 und fungiert darüber hinaus als Sinnbild für individuelle körperliche Stärke, Tapferkeit und Heldenmut. So sind Saul und Jonatan schneller als Adler und stärker als Löwen50 und der Kriegsheld Judas Makkabäus gleicht im Kampf einem jungen Löwen, der sich brüllend auf seine Beute stürzt, die Sünder verfolgt und die Frevler vernichtet.51 Von den antiken Epen war vor allem die Aeneis des Vergil im Früh- und Hochmittelalter bekannt und beliebt. Sie enthält insgesamt fünf Vergleiche von Helden mit Löwen, einer davon könnte auch dem Autor der Gesta als Vorbild gedient haben. Es ist die Erzählung vom Trojaner Nisus, einem Gefährten des Aeneas, der bei seinem Angriff auf die Rutuler wie ein hungriger Löwe im Schafspferch wütet und das schwache Vieh reißt.52 Obwohl nicht wörtlich übernommen, lässt sich eine gewisse Ähnlichkeit zwischen der Löwenhaftigkeit des Nisus in der Aeneis und Bohemunds in den Gesta nicht in Abrede stellen. Auch das Mittelalter selbst konnte dem Anonymus der Gesta literarische Vorlagen liefern. Zu erwähnen sind vor allem die seit dem elften, möglicherweise schon seit dem zehnten Jahrhundert mündlich tradierten Chansons de geste. Der Chanson de Roland gilt als das älteste und wohl berühmteste Versepos dieser Gattung und war insbesondere bei den Normannen sehr beliebt. 53 Es thematisiert den Kampf Karls des Großen gegen die spanischen Muslime und erzählt vom christlichen Helden Roland, der im Kampf gegen die Ungläubigen heroisch stirbt. Die Löwenmetaphorik wird hier bereits mit dem Heidenkampf verbunden. In weiterer Folge entwickelte sich der Löwe zum Sinnbild für den gerechten Kampf gegen das Böse. Er stand für den Heidenkämpfer, der mit der Bekämpfung der Ungläubigen die göttliche Ordnung wiederherstellte. 54 Dazu passt, dass auch der normannische Chronist Ordericus Vitalis Bohemund als »zweiten Roland« bezeichnet.55 Welches literarische Vorbild den Autor der Gesta letztlich zu seinem Vergleich inspirierte, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Fest steht jedoch, dass er im zeitgenössischen Rezipienten mit einer einzigen kurzen Passage ein ganzes Bündel an Assoziationen auslösen konnte. Das klerikale Publikum fühlte sich sicherlich durch den Vergleich mit Judas Makkabäus, der gottgefällig die Frevler ver49 Vgl. D. Jäckel: Der Herrscher als Löwe, S. 137. 50 2 Sam. 1, 23; alle Bibelstellen zitiert nach der Biblia Sacra Vulgata. Editio quinta, ed. Robert Weber und Roger Gryson, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 2007. 51 Vgl. 1 Makk. 3, S. 4-8. 52 Vgl. D. Jäckel: Der Herrscher als Löwe, S. 207. 53 Ordericus Vitalis, Bd. 4 (1973), lib. VII, S. 37, Anm. 1. 54 Vgl. D. Jäckel: Der Herrscher als Löwe, S. 206f. 55 Ordericus Vitalis, Bd. 4 (1973), lib. VII, S. 37.

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folgt, angesprochen, während das adelig-weltliche Publikum vermutlich eher den antiken Helden, der sich im Kampf unsterblichen Ruhm erwirbt, vor Augen hatte. Die Metaphorik des löwenhaften Heidenkämpfers, vielleicht in Gestalt eines zweiten Rolands, fand sicherlich bei beiden Gruppen Anklang, vereinigten sich doch in ihr auf ideale Weise die Eigenschaften des antiken Helden mit zeitgenössischen Männlichkeitsvorstellungen zum christlichen Streiter für Gott. Dass der Löwenvergleich in den Gesta kein zufällig gewähltes Stilmittel ist, verdeutlicht der bewusste Gebrauch der Symbolik im Mausoleum Bohemunds. Auf dem linken Flügel des prächtig ausgestalteten Bronzetors ist das Haupt eines Löwen abgebildet, das von einer sonnenartigen Mähne umgeben ist. Die Darstellung wurde direkt in eine Inschrift eingefügt, die Bohemund explizit als treuen Kämpfer für Christus preist und so die Löwensymbolik mit dem Heidenkampf koppelt.56 Der Anonymus der Gesta beschreibt in der Folge auch die Wirkung von Bohemunds löwenhaften Heldenmut in der Schlacht gegen die Muslime. »Als die anderen Einheiten sahen, wie Bohemunds Banner derart ehrenhaft vorangetragen wurde, machten sie auf der Stelle kehrt und griffen vereint die Türken an, die entsetzt die Flucht ergriffen.«57

Die Zurschaustellung exemplarischer Männlichkeit hat Vorbildcharakter und einigende Wirkung. Die Kreuzfahrer, die kurz zuvor noch im Begriff waren, vor dem als übermächtig geschilderten Feind die Flucht zu ergreifen, besinnen sich und stürzen sich einträchtig auf die Gegner. Damit erweist sich Bohemunds heroisches Vorpreschen als entscheidend für den siegreichen Ausgang der Schlacht. In der Konstruktion hegemonialer Männlichkeit spielt der Körper eine zentrale Rolle. In der historiographischen Überlieferung wird entsprechend häufig Bezug auf Bohemunds Körper genommen. Der Chronist Ordericus Vitalis berichtet, dass Bohemunds Taufname eigentlich Markus gewesen sei. Doch sein Vater, Robert Guiskard, habe das Kind Bohemund genannt, nachdem er bei einem

56 Zitiert nach J. Flori: Bohémond, S. 296: »Qui vivens studuit, ut pro Christo moreretur / Promeruit, quod ei morienti vita daretur. / Hoc ergo Christi clementia conferat isti / Militet ut coelis suus hic atheleta fidelis.« 57 Gesta Francorum VI (27), S. 37: »Videntes autem aliae acies quod uexillium Boamundi tam honeste essset ante alios delatum, ilico redierunt retrorsum, nostrique unanimiter inuaserunt Turcos.«

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Bankett die Geschichte vom gleichnamigen Riesen gehört hatte. 58 Der Verdacht besteht, dass diese Anekdote frei erfunden ist. Es kann zwar nicht ausgeschlossen werden, dass die Spielleute der Zeit eine derartige Geschichte im Repertoire hatten, doch konnte bisher nicht der Nachweis ihrer Existenz erbracht werden. Auch der angebliche Taufname Markus, der offenbar weder in der mütterlichen noch in der väterlichen Linie gebräuchlich war, erregt Verdacht. Immerhin wird der gleichnamige Evangelist häufig als oder gemeinsam mit einem meist geflügelten Löwen dargestellt – eine Zuordnung, die auf den Kirchenvater Hieronymus zurückgeht.59 Möglicherweise versuchte Ordericus Vitalis mit dieser Anekdote eine ideelle Verbindung zwischen Bohemund und dem Heiligen herzustellen, der als Löwe Vollkommenheit im Glauben und die Kardinaltugend der Gerechtigkeit, eine wichtige mittelalterliche Herrschertugend, verkörpert. Jedenfalls aber wird mit überdurchschnittlicher Körpergröße auch körperliche Überlegenheit assoziiert, die – will man dem Chronisten Glauben schenken – Bohemund nicht etwa erst erwerben musste, sondern ihm bereits angeboren war. Selbst die byzantinische Geschichtsschreiberin Anna Komnene (1083ca.1148/54), Tochter Kaiser Alexios’ und erbitterte Gegnerin des Normannen, würdigt in ihrem Geschichtswerk den Körper Bohemunds und erhebt ihn zum Idealtypus des Kriegers: »Der Mann war so beschaffen, dass man, um es kurz zu sagen, niemanden seinesgleichen im Reich der Romäer gesehen hat, weder Griechen noch Barbaren. [...]. Er war von so hoher Statur, dass er die größten Männer um fast eine Elle überragte, um den Bauch und die Hüften war er schlank, er hatte breite Schultern und eine mächtige Brust, seine Arme waren stark, und in seiner ganzen Statur war er weder mager noch beleibt, sondern vollendet proportioniert und entsprach sozusagen dem Kanon des Polyklet, er hatte kräftige Hände und stand fest auf seinen Füßen, sein Nacken und seine Rückenpartie waren kraftvoll gebaut. [...].«60

Auch bei dieser Darstellung ist Vorsicht geboten. Möglicherweise kam es 1097 tatsächlich zu einer persönlichen Begegnung zwischen Anna und Bohemund in Konstantinopel, doch kann die Prinzessin zu diesem Zeitpunkt nicht älter als vierzehn gewesen sein. Zu schreiben begann sie aber erst im Alter von 53 Jah58 Ordericus Vitalis, Bd. 6 (1978), lib. XI, S. 70: »Marcus quippe in baptismate nominatus est. sed a patre suo audita in conuiuio iocularli fabula de Buamundo gigante puero iocunde impositum est.« 59 Vgl. D. Jäckel: Der Herrscher als Löwe, S. 148ff. 60 Anna Komnene, Alexias, ed. und übersetzt von Diether Roderich Reinsch. Köln: DuMont 1996, S. 459.

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ren.61 Daher ist nicht auszuschließen, dass sie Bohemund physisch eindrucksvoller in Erinnerung hatte, als er es in Wirklichkeit war. Jedenfalls würde die Darstellung Bohemunds als körperlich formidablen Gegner die Leistungen ihres Vaters im Kampf gegen den Normannen erhöhen. Trotz aller Vorbehalte hinsichtlich der Darstellung von Bohemunds überdurchschnittlicher Körpergröße in der mittelalterlichen Historiographie soll an dieser Stelle nicht der Bericht des französischen Historikers und Archäologen François Lenormant (1837-1883) verschwiegen werden. In seinem großen Geschichtswerk über die Magna Graecia beschreibt er seine Besichtigung von Bohemunds Mausoleum in Canosa. Gegen ein geringes Entgelt habe der Sakristan eine Bodenplatte angehoben, unter der sich ein feuchtes Loch verbarg. Darin habe der Historiker einige Knochen gefunden, darunter ein Paar Schienbeinknochen von gigantischer Größe.62 Zwar unterzog Lenormant die Gebeine keiner genaueren Vermessung, die auf die tatsächliche Größe Bohemunds schließen lassen könnten, will man aber dem geschulten Auge des Archäologen vertrauen, könnte hinter der idealisierten historiographischen Überlieferung doch ein Funke Wahrheit stecken. Überdurchschnittliche Körpergröße trägt zweifellos zur Idealisierung des Kriegers bei. Daher nimmt auch der Verfasser der Gesta Bezug auf Bohemunds physische Überlegenheit, wenn auch auf Umwegen, indem er den muslimischen Heerführer Kerboga die folgenden Fragen an seine mit Prophetie begabte Mutter in den Mund legt: »Sind nicht Bohemund und Tankred Götter der Franken, befreien sie nicht die Ihren von den Feinden? Und essen sie nicht bei einer einzigen Mahlzeit zweitausend Kühe und viertausend Schweine?«63

Die vermeintlichen Essgewohnheiten, die übermenschliche Größe und Stärke suggerieren sollen, werden nicht weiter kommentiert. Kerbogas Befürchtung hingegen, bei Bohemund und Tankred handle es sich um Götter, muss die weise Mutter umgehend entkräften, um klerikal gebildete Rezipienten nicht zu brüskieren. Dennoch ist die Formulierung auffallend, weist doch eine Zeile des Epitaphs am Tor zu Bohemunds Mausoleum, die besagt, dass man Bohemund zwar nicht 61 Vgl. ebd., S. 11. 62 Vgl. Lenormant, François: La Grande-Grèce. Paysage et histoire, Bd. 1, Paris: A. Levy 1881, S. 77f. 63 Gesta Francorum, IX (12), S. 55f.: »Non sunt igitur Boamundus et Tancredus Francorum dii, et non eos liberant de inimicis suis? et quod ipsi manducant in uno quoque prandio duo milia vaccas et quatuor milia porcos?«

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als Gott aber auch nicht als Menschen bezeichnen könne64, auf den Versuch einer quasi-apotheotischen Selbstinszenierung hin, die Jahrzehnte später mit einem dramaturgischen Kunstgriff, der dem in den Gesta ähnelt, Eingang in das Geschichtswerk des Ordericus Vitalis gefunden hat.65 In der Konstruktion von hegemonialer Männlichkeit können überdurchschnittliche Größe und Kraft nur wirksam werden, wenn die Integrität des überlegenen Körpers unter allen Umständen bewahrt wird. Daher meidet der Bearbeiter der Gesta Anspielungen auf Krankheit oder Verwundung. So kann er von seinem Helden jeden Anschein von Schwäche fernhalten und sogar Unverwundbarkeit implizieren, die aus ihm zwar noch keinen Gott macht, ihn aber über das Gros der Männer hebt. Andere Quellen berichten sehr wohl von einer Verletzung, die sich Bohemund im Kampf um die Zitadelle von Antiochia zugezogen haben soll. Laut Robert dem Mönch habe er so stark aus dem Oberschenkel geblutet, dass er das Schlachtfeld hinkend verlassen musste, was angeblich eine verheerende Wirkung auf die anderen Krieger hatte. Als sie nämlich seine Schwäche (infirmitas) sahen, begann ihr Mut zu wanken, sie stellten die Kampfhandlungen ein und zogen sich zurück.66 Ungeachtet des nicht überprüfbaren Wahrheitsgehaltes verdeutlicht dieser Bericht die hohe Bedeutung, die der Unversehrtheit des Körpers zugemessen wurde. In den Gesta wird diese Episode mit keinem Wort erwähnt. Jean Flori vermutet, dass Bohemunds Stilisierung zum unverwundbaren Krieger durch den Redaktor der Gesta auch dazu beitragen sollte, die Rolle Raimunds von Toulouse, des Anführers des provençalischen Kreuzfahrerkontingents und Bohemunds Hauptrivalen um die Herrschaft über Antiochia, zu marginalisieren. 67 Dabei hatte er leichtes Spiel, denn er konnte seinen unverwundbaren Helden mit Raimund einem Krieger gegenüberstellen, der bei der entscheidenden Schlacht gegen Kerboga so krank gewesen sein soll, dass er an ihr nicht persönlich teil-

64 Zitiert nach J. Flori: Bohémund, S. 296: »non hominem possum dicere, nolo deum.« 65 Vgl. oben: Anm. 3 66 Vgl. bspw. Roberti Monachi historia Iherosolimitana, in: RHC Hist.Occ. III, c. V, S. 807: »In quo conflictu Boamundus graviter saggitatus est in femore, nec jam nisi claudicans valebat incedere. Sanguis ubertim de vulnere stillare, et cor nobilissimi principis a virtute pristina coepit deficere. Qui nolens et invitus, in alia turri retrocessit, bellumque dereliquit. In ejus infirmitate aliorum virtus corruit, quoniamm unusquisque miserabilem casum sui ducis admodum indoluit. Pugnam dimittunt. Turcis turrimque relinquunt.« 67 Vgl. J. Flori, Bohémond, S. 154ff.

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nehmen konnte.68 Indem der Autor nun Raimunds Sozialprestige mit allen Mitteln mindert, rechtfertigt er Bohemunds Anspruch auf die Stadt. Hier wird sichtbar, dass Männlichkeit eine relationale Größe ist. Der Autor der Gesta grenzt Bohemunds Männlichkeit von anderen Formen der Männlichkeit ab und versucht sogar innerhalb der unterschiedlich ausgestalteten hegemonialen Männlichkeiten eine Rangordnung herzustellen. In dem Bild, das er von seinem Helden entwirft, unterwerfen sich die anderen, eigentlich gleichrangigen Anführer Bohemunds Urteilsvermögen, als sie vor der bereits oben erwähnten Schlacht gegen Ridwan von Aleppo aufgefordert werden, ihre Kontingente in Position zu bringen. »Du bist weise und umsichtig, bedeutend und herausragend, ein siegreicher Kriegsherr und erfahren in der Schlacht. [...]«69, lässt der Verfasser sie zu Bohemund sagen und untermauert damit die dominante Position seines Helden innerhalb der Führungselite. Die mit der Konstruktion von Männlichkeit verbundene Abgrenzung erfolgt nicht in erster Linie gegenüber Frauen und Weiblichkeit, sondern vor allem gegenüber anderen Formen von Männlichkeit. Das daraus resultierende Verhältnis der verschiedenen Männlichkeiten zueinander bildet ein komplexes System von Hierarchien und Hegemonien.70 Diese Relationalität kommt besonders gut in Bohemunds Umgang mit Kampfverweigerern zum Ausdruck, die der Männlichkeit des Helden antithetisch gegenüberstehen. Die Gesta berichten, dass es während der langwierigen und entbehrungsreichen Belagerung von Antiochia zu zahlreichen Desertionen gekommen sei. Unter den Deserteuren sei unter anderen ein gewisser Wilhelm der Zimmermann gewesen, der versuchte hatte, den unerträglichen Bedingungen im Feldlager vor Antiochia zu entkommen. 71 Die Darstellung dieser Begebenheit in den Gesta illustriert anschaulich, wie verschiedene Typen von Männlichkeiten miteinander interagieren und sich abgrenzen. Wilhelm wird nämlich ergriffen und zu Bohemund gebracht, wo sich der Deserteur einem demütigenden Unterwerfungsritual unterziehen muss, damit die hierarchische Ordnung, die mit der Desertion in Frage gestellt wurde, öffentlichkeitswirksam wiederhergestellt werden kann. Wilhelm verbringt die Nacht in 68 Le »Liber« de Raymond d’Aguilers, ed. John Hugh und Laurita L. Hill, Paris: Libraire Oreintaliste Paul Geuthner 1969, S. 79. 69 Gesta Francorum VI (27), S. 36: »Tu sapiens et prudens, tu magnus et magnificus, tu fortis et uictor, tu bellorum arbiter et certaminum iudex, hoc totum fac; hoc totum super te sit. Omne bonum quod tibi uidetur, nobis et tibi operare et fac.« 70 Kühne, Thomas: Männergeschichte als Geschlechtergeschichte, in: Männergeschichte. Geschlechtergeschichte. Männlichkeit im Wandel der Moderne. Frankfurt am Main u.a.: Campus 1996, S. 19f. 71 Gesta Francorum VI (15), S. 33.

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Bohemunds Zelt, auf dem Boden liegend wie ein Stück Abfall – eine »mala res«. Am nächsten Tag begegnet ihm Bohemund mit inszeniertem Affekt, um seine Abscheu vor der ehrlosen Tat zum Ausdruck zu bringen, sowie der stereotypen Zuweisung von Schande, die typisch ist für die Beschreibung von Deserteuren in den Kreuzzugsnarrativen. Nach normannischer Tradition weist die affektive Ablehnung der bösen Tat Bohemund geradezu als gerechten Richter aus, dessen Strafgewalt je nach Situation von rächendem Zorn bis zu verzeihender Milde reichte.72 Als sich Wilhelm reumütig unterwirft und seine Kameraden für ihn Fürsprache halten, gilt die Autorität des Anführers als wiederhergestellt und Bohemund muss mit Nachsicht und Vergebung reagieren. 73 Damit hat Bohemund, modern ausgedrückt, seine Leadership-Qualitäten für jedermann sichtbar unter Beweis gestellt und seinen dominanten Status erfolgreich von anderen Formen der Männlichkeit abgegrenzt. Durch die Sakralisierung des Krieges ist jedoch die narrative Inszenierung von kriegerischer Männlichkeit und Dominanzverhalten nicht mehr ausreichend, um sich wirksam zum Helden stilisieren zu können. In den Kreuzzugsberichten müssen sich Krieger höheren Werten verpflichten, um den honor zu erwerben, der sie zu wahren Helden macht. Daher beschreiben die Gesta nichts weniger als Bohemunds Wandlung zum idealen Kreuzfahrer. Seine Karriere als strahlender Gotteskrieger beginnt mit einem religiösen Erweckungserlebnis. Als Bohemund bei der Belagerung von Amalfi erfährt, dass ein gewaltiges Heer französischer Kreuzfahrer in das Heilige Land aufgebrochen war, um gegen die Heiden zu kämpfen, sei er vom Heiligen Geist erfasst worden, habe spontan den wertvolls-

72 van Eickels, Klaus: Hingerichtet, geblendet, entmannt: die anglo-normannischen Könige und ihre Gegner, in: Gewalt im Mittelalter. Realitäten – Imaginationen. Hg. von Manuel Braun und Cornelia Herberichs, München: Wilhelm Fink Verlag 2005, S. 85f. 73 Gesta Francorum VI (15), S. 33f: »Tota denique nocte Willelmus uti mala res in tentorio domini Boamundi iacuit. Crastina uero die summo diluculo, ueniens erubescendo ante Boamundi presentiam stetit. Quem alloquens Boamundus dixit: ›O infelx et infamia totius Franciae, dedecus et scelus Galliarum, O nequissime omnium quos terra suffert, cur tam turpiter fugisti? Forsitan ob hoc quod uoluisti tradere hos milites et hostem Christi, sicut tradidisti alios in Hispania.‹ qui omnino tacuit, et nullus sermo ex eius ore processit. Adunauerunt sese omnes fere Francigenae, rogaueruntque humiliter ne deterius ei facere permitteret. Annuit ille sereno uulto, et ait: ›Hoc pro uestri amore libenter consentiam, si mihi toto corde et mente iurauerit quod nunquam recedet ab Hierosolimitano itinere siue bono siue malo; […]‹«

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ten Mantel, den er bei sich hatte, zerschneiden und, als sichtbares Zeichen seiner bevorstehenden Pilgerschaft, daraus Kreuze fertigen lassen.74 In der Folge lässt der Verfasser keine Gelegenheit aus, seinen Helden als vorbildlichen »athleta Christi« zu porträtieren. Es wird kein Zweifel daran gelassen, dass sich Bohemund der Gnade Gottes gewiss sein könne, wenn sogar die himmlischen Legionen, angeführt von den Soldatenheiligen Georg, Mercurius und Demetrius, an seiner Seite kämpfen.75 Zudem sei sein Sieg über die Ungläubigen göttlich vorherbestimmt, belehrt die Mutter des gegnerischen Feldherrn Kerboga ihren Sohn, denn schon in den heiligen Büchern der Muslime und Christen stünde geschrieben, dass es die Bestimmung der Christen sei, die Muslime zu besiegen und über sie zu herrschen. Sogar die Gestirne prophezeiten die Niederlage der Muslime, da der Gott der Christen Bohemund und Tankred so sehr liebe, dass er sie mit größerer Kriegstüchtigkeit ausgestattet habe als all die anderen.76 Die Akkumulierung von religiösem Prestige beschränkte sich jedoch nicht auf die narrative Ebene, sondern nahm auch konkrete, materielle Formen an. Als Bohemund nach Europa zurückkehrte, hatte er begehrte Reliquien aus dem Heiligen Land im Gepäck. Der Kirche von San Sabino in Canosa, wo er seine letzte Ruhestätte finden sollte, schenkt er zwei Dornen aus der Dornenkrone Jesu, an denen noch das Blut des Erlösers gehaftet haben soll.77 Von Papst Paschalis II. ließ er sich als Ausweis der päpstlichen Legitimierung seines geplanten Kreuzzuges das vexillum sancti Petri übertragen. Demonstrativ pilgerte er zu Beginn des Jahres 1106 nach Saint-Léonard-de-Noblat (Haute-Vienne). Dort stiftete er dem Heiligen Leonhard, dem Schutzpatron der Gefangenen, silberne Ketten, und dort erfolgte vermutlich auch, basierend auf Bohemunds eigenen Erzählungen, die Niederschrift des Wunders, das der Heilige Leonhard zur Befreiung des Normannen vollbracht haben soll. Bohemund nutzte den Rahmen dieser Mirakelgeschichte, um sich selbst als unbesiegbaren »miles Christi« zu präsentieren, die häretischen Griechen zu schmähen und einen erneuten Kreuzzug zu propagieren.78 In die gleiche Kerbe schlägt auch das Kreuzzugslied, das Bischof Marbod von Rennes um 1105, vermutlich im Auftrag Bohemunds, verfasste und das 74 Gesta Francorum et aliorum Hierosolimitanorum. Hg. und übersetzt von Rosalind Hill, London, u.a.: Thomas Nelson and Sons Ltd. 1962. I (4), S. 7: »Mox Sancto commotus Spiritu, iussit preciosissimum pallium quod apud se habebat incidi, totumque statim in cruces expendit.« 75 Gesta Francorum IX (29), S. 69. 76 Gesta Francorum IX (22), S. 55f 77 Vgl. J. Flori: Bohémond, S. 253. 78 Vgl. ebd., S. 258-261.

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mit den Worten »In toto mundo non est homo par Boemundo« – auf der ganzen Welt gibt es keinen Mann wie Bohemund – beginnt.79 Das aus dreißig leoninischen Hexametern bestehende Lied 80 glorifiziert die glanzvollen Taten des »aggressus martius heros« gegen die wilden Feinde – die »hostes feros«, verbindet geschickt den Heidenkampf mit dem Kampf gegen Byzanz und wirbt für die Fortsetzung der »iustissima bella«. Darauf folgt eine explizite Exhortatio, die an das christliche Ehrgefühl der Ritter appelliert und diesen geradezu gebietet, gegen die Heiden zu kämpfen.81 Die letzten beiden Verse nehmen das Thema des ersten Verses wieder auf und preisen den Helden, dessen Name aufgrund seiner Taten nun auf der ganzen Welt ertöne.82

F AZIT Die angeführten Beispiele zeigen, wie geschickt sich Bohemund weltlicher und religiöser Wertvorstellungen bediente, um sich selbst zum idealen Helden zu überhöhen. Sein sozialer Aufstieg vom enterbten Ritter ohne Land zum Schwiegersohn des französischen Königs konnte nur durch die geschickte Konstruktion und Propagierung eines Heldentums gelingen, das sowohl bei weltlichen als auch klerikalen Eliten Anklang fand. Die Basis dieses Konstrukts bildete seine kriegerische Männlichkeit und Kampfkraft, die in den Narrativen nach dem Muster der Helden der antiken Epen inszeniert wurde und dadurch gezielt die Sehnsüchte adeliger Männer ansprach. An die Gefühle der klerikalen Rezipienten appellierte er mit bewusster Selbststilisierung zum Kämpfer gegen Heiden und Häretiker, dem die Gnade Gottes gewiss und der Sieg vorherbestimmt sei. Im Idealbild des Gotteskriegers verschmolzen weltliche und religiöse Elemente zu einer Form von Männlichkeit, die sich deutlich von anderen Formen von Männlichkeit abgrenzte und sogar innerhalb der Führungsschicht Dominanz beanspruchte. Damit kreierte Bohemund ein Leitbild männlichen Heldentums, das noch Jahrhunderte nach seinem Tod Wirkung entfalten konnte.

79 Vollständiger Text ediert in MPL (Migne Patrologia Latina) 171, Sp. 1672. 80 Eine detaillierte Analyse bietet Spreckelmeyer, Goswin: Das Kreuzzugslied des lateinischen Mittelalters, München: Wilhelm Fink 1974, S. 192-198. 81 Vgl. ebd., S. 196. 82 MPL 171, Sp. 1672: »Per totum mundum fert fama boans Boemundum, / Et reboet mundus quia tanta facit Boamundus.«

Intersektionale Figurenanalysen in Literatur und Film

Heroik und ihre Subversion Entwicklungslinien des Antiheroischen in der bosnischen, kroatischen, montenegrinischen und serbischen Literatur R ENATE H ANSEN -K OKORUŠ UND D IJANA S IMIĆ

Helden gehören zum Grundbestand jeder Kultur. Die Sehnsucht nach Heldentum, nach dem Außerordentlichen, nach der Überwindung von Gewöhnlichem und Trägheit, ist vermutlich so alt wie die Menschheit. Helden bringen zum Ausdruck, welchen Idealen und Werten wir nacheifern und was wir den nachfolgenden Generationen nahebringen wollen, ohne gleichzeitig diese Werte auch nur annähernd erfüllen zu können. Denn keiner verfügt über übernatürliche Kräfte wie Superman, kaum jemand hat unter Lebensgefahr den Bösen das Handwerk gelegt und die Guten gerettet, Hab und Gut brüderlich mit den Armen geteilt. Helden vereinen positive Werte – manchmal auch nur ganz wenige – einer Kultur in sich: Sie sind stark, mutig, kämpferisch, setzen ihre Fähigkeiten für die Verteidigung des Guten und der Benachteiligten ein. Zumindest tun sie das in diesem Glauben, auch dann, wenn ihre Taten von den Nutznießern ins Gegenteil verkehrt werden – man denke nur zum Beispiel an Prometheus, den mythischen Halbgott, der den Menschen das Feuer schenkt, das Mittel des Fortschritts und zugleich des Krieges.1 So sehr man sich nach Heldentum und einfachen, oft unerklärlichen Lösungen sehnt, so wenig ist dies in unserem Alltag zu finden. Dass aber Helden, das heißt mythologische, fiktive, historische oder reale Vorbilder, ein unverzichtbarer Teil unserer Kultur sind, verdeutlicht Geert Hofstede mit seiner sogenannten »Kulturzwiebel« beziehungsweise dem »Zwiebeldiagramm«, das die »Manifestationen von Kultur auf verschiedenen Tiefenebenen« darstellt:

1

Vgl. dazu weiter unten das Drama »Prometheus« (Prometej) von Marijan Matković.

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Quelle: Nach Hofstede.2

Die Wertvorstellungen einer Kultur sind umso unveränderlicher, je mehr sie im Inneren der Zwiebel angeordnet sind; je weiter außen sie liegen, umso leichter unterliegen sie (historischen) Veränderungen. Kulturelle Symbole (zum Beispiel Flaggen, Hymnen, Gedenktage, Straßen- und Ortsnamen), in der äußersten »Haut« der Zwiebel gelegen, bringen die Wertvorstellungen einer Kultur und häufig eines Staatsgebildes markant und oft sinnlich wahrnehmbar zum Ausdruck, doch sie sind wandelbar, wie das Beispiel der Nachfolgestaaten Jugoslawiens sichtbar vorgeführt hat. Wer als Held und Vorbild gilt – Tito, der legendenhafte Königssohn Marko, die zu jugoslawischen Zeiten populärste Band Bijelo Dugme oder die Jungfrau Maria –, ist bereits mit dem Wertekanon eng verbunden; ein Wandel ist auch hier möglich, wenn auch eine stärkere Festigkeit auffällt, zeigen doch bestimmte Eigenschaften (zum Beispiel Zusammenhalt und Erfolg, Treue zur eigenen Nation/Nationalität, Tapferkeit u.a.) auch beim Austausch der Figuren ein hohes Maß an Kontinuität. So wurde zum Beispiel im sozialistischen Jugoslawien der 1573 in Zagreb hingerichtete Anführer des kroatisch-slowenischen Bauernaufstands Matija Gubec als Kämpfer für die unterdrückten Bauern dargestellt. Tito, der aus der gleichen Gegend stammte, sah sich 400 Jahre später als kommunistischer Revolutionär in dessen Fortsetzung, was Krsto Hegedušić in einem Gemälde kunstgerecht inszenierte. Dem vergleichbar stellte Präsident Tuđman zufolge der heutige kroatische Staat die Nachfolge des mittelalterlichen kroatischen Staats von König Tomislav dar.3 Einen markanten Wandel konnte man unlängst in der

2

Hofstede, Geert: Lokales Denken, globales Handeln: Interkulturelle Zusammenarbeit und globales Management. 4. durchges. Aufl. München: DTV 2009, S. 8.

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Žanić, Ivo: »Nationale Symbole zwischen Mythos und Propaganda«, in: Dunja Melčić, Der Jugoslawien-Krieg. Handbuch zur Vorgeschichte, Verlauf und Konse-

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Bewertung der antifaschistischen Partisanenbewegung des Zweiten Weltkriegs und ihres Anführers Tito erleben. Ein anderes Beispiel aus dem jugoslawischen Raum stellt die Einschätzung der Bewegung »Junges Bosnien« (Mlada Bosna) dar, die 1914 das Attentat von Sarajevo verübte. Von den Österreichern zu Haftstrafen verurteilt, erfuhren die Attentäter nicht nur in Serbien höchste Anerkennung, sondern ihnen war im sozialistischen Jugoslawien am Ort des Attentats auch ein Museum gewidmet, das nach der Gründung des Staates BosnienHerzegowina in den 1990er Jahren zunächst geschlossen wurde; auch die Gedenktafeln wurden entfernt. Heute existiert das Museum in veränderter Form wieder.4 Rituale wie religiöse Feiertage (zum Beispiel Weihnachten, Ramadan, Zuckerfest u.a.) bringen sehr klar die kulturellen Werte zum Ausdruck. Während Gedenktage wie zum Beispiel Nationalfeiertage eng an die jeweiligen Staatsgründungen gekoppelt (und damit veränderlich) sind, zeigen religiöse Rituale eine starke Festigkeit. Davon zeugt auch die Kompensation des Weihnachtsfestes in den sozialistischen Ländern durch Silvester beziehungsweise des Nikolauses durch Väterchen Frost – der Ersatz religiöser durch populäre Rituale, die die Wertigkeit der Feiertage übernommen, sie überlagert und überformt, nicht aber verdrängt haben. Gerade am Beispiel der Rituale wird sehr deutlich, dass alle Wertkategorien durch kulturelle Praktiken am Leben erhalten und weiter ins Bewusstsein gerufen werden. Im Weiteren soll die Ebene der Helden genauer beleuchtet werden. Sie begegnen uns als Figuren des Mythos, ätiologischer Legenden und der einfachen Welterklärung. Ihre Eindimensionalität macht sie ebenso zu Wunschprojektionen wie sie realitätsuntauglich sind; gleichwohl beherrschen sie häufig die Narrative der kollektiven Identität. In der bosnischen, kroatischen, serbischen und montenegrinischen mündlichen literarischen Tradition wird nicht nur ihr Zu-

quenzen, 2. aktualisierte u. erw. Aufl., Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2007, S. 287-299, hier S. 290-292. 4

Die Problematik um die höchst divergierende Bewertung dieses Ereignisses und den Status der beteiligten Personen wurde 2014 beim Jahrestag des Attentats in literarischen, dramatischen und filmischen Werken deutlich, die den Attentäter Gavrilo Princip auf unterschiedlichste Weise interpretieren: vom nationalen Helden über den bemitleidenswerten verirrten jungen Liebhaber (in Milena Marković’ Drama »Die Drachentöter« – Zmajeubice), den fatal verblendeten Mörder, dessen Tat die Schatten künftiger Konflikte vorauswirft (in Biljana Srbljanović’ Drama »Dieses Grab ist mir zu klein« – Mali mi je ovaj grob), bis zum Werkzeug einer innerhabsburgischen Verschwörung (Andreas Prochaskas Film »Das Attentat – Sarajevo 1914«).

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sammenhang mit dem Mythos betont5, sondern auch die übernatürlichen Kräfte der Helden und ihre Unverwundbarkeit, die auf ihre übermenschliche Herkunft zurückgeführt werden. Sie treten in der mündlich tradierten Volksliteratur, die spätestens seit dem frühen 19. Jahrhundert verschriftlicht wurde6, als Projektionen eines kollektiven Bewusstseins auf, das sich in der Romantik beziehungsweise der Zeit der »Nationalen Wiedergeburt« programmatisch konstituierte. Für diesen kollektiven Identitätsentwurf spielt die mythisch gestaltete, heldenhafte Vergangenheit eine entscheidende Rolle. Es ist daher kein Zufall, wenn der bekannte serbische Sprachforscher Vuk Karadžić die Sammlung epischer Volkslieder, die die Zeit vor der Schlacht auf dem Amselfeld und den Kosovo-Mythos besingen, sowohl unter dem Titel »Serbische Heldenlieder« (Srpske junačke pjesme) als auch »Heldenvolkslieder« (Junačke narodne pjesme, 1833) veröffentlichte. Das markanteste Kernstück dieses Mythos behandelt die Schlacht auf dem Amselfeld 1389, die weder entscheidend war für den Untergang der serbischen Herrscherdynastie noch historisch kontinuierlicher Bestandteil der nationalen Gedenktradition, wie sie Slobodan Milošević bei der 600-Jahrfeier 1989 in seiner programmatischen Amselfeld-Rede postulierte, in der er seine politischen Forderungen nach Unterdrückung kosovo-albanischer Unabhängigkeitsbestrebungen einerseits und der Expansion serbischer Herrschaftsansprüche nach Bosnien-Herzegowina und Kroatien andererseits unterstrich.7 Dass das darin entwickelte Heldentum vor allem mit Tapferkeit im Kampf gegen den Verrat aus den eigenen Reihen konnotiert ist, dass lieber der Heldentod in Kauf genommen wird 5

Kulišić, Špiro/Petrović, Petar/Pantelić Nikola: Srpski mitološki rečnik, Beograd: Nolit 1970, hier S. 161.

6

Vgl. die berühmten Sammlungen von Vuk Karadžić, Alberto Fortis, Kosta Hörmann u.a.

7

Aus der sehr umfangreichen Literatur dazu, wie sich der aggressive Nationalismus Ende der 1980er Jahre des Kosovo-Mythos bediente, sei auf eine Auswahl folgender Darstellungen verwiesen: Lauer, Reinhard: Erinnerungskultur in Südosteuropa, Berlin, Boston: de Gruyter 2011; Mančić, Emilija: Umbruch und Identitätszerfall. Narrative Jugoslawiens im europäischen Kontext. Tübingen: Francke 2012; Sabo, Klaudija: »Der Kult um das Vergangene. Zur Re-Konstruktion nationaler Heldenfiguren im serbischen Film ›Die Schlacht auf dem Kosovo‹, 1989«, in: Marion Meyer, Deborah Klimburg-Salte (Hg.), Visualisierung von Kult, Wien, Köln, Weimar: Böhlau-Verlag 2014, 174-190; Alida Bremer: »Literatur und Nationale Ideologien«, in: Dunja Melčić (Hg.), Der Jugoslawien-Krieg, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2007, S. 268-286; Höpken, Wolfgang: »Die schaurige Sage vom Amselfeld. Wie Geschichte der nationalen Erweckung Serbiens dienstbar gemacht wird«, in: Die Zeit 12.03.1998, http://www.zeit.de/1998/12/Die_schaurige_Sage_vom_Amselfeld vom 20.09.2017.

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als die Unterwerfung unter eine fremde Macht, begründet die besondere Verschmelzung von Heroismus und Opfernarrativ in der serbischen Kultur, die wir auch aus anderen südosteuropäischen Kulturen kennen. Bereits ältere volkskundliche Studien verwiesen auf die zentrale Bedeutung der Heldenmythen für die kulturelle Identität des Balkans. So postulierte Gerhard Gesemann8 die heroische Lebensform als Wesensmerkmal der Mentalität auf dem Balkan und im dortigen Identitätsdiskurs; als literarische Belege führte er dazu die Volksepen an. Unter Rückgriff auf Jovan Cvijić, der 1918/1922 mit seiner anthropogeografischen Studie »Die Balkanhalbinsel und die südslawischen Länder« (Balkansko poluostrvo i južnoslovenske zemlje) eine Übersicht und Einteilung der südosteuropäischen Regionen, ihrer Einwohner, Siedlungs- und Kulturformen mit ihren beruflichen, ethischen, psychischen und religiösen Besonderheiten vorlegte9, sieht Gesemann den Montenegriner als Inkorporation des heroischen Menschen und einer »heroischen Patriarchalität«.10 Die Lebensform dieses sozialtypologischen, keinesfalls empirisch zu begreifenden Helden ist unmittelbar mit dem Kampf verbunden: »Die Waffe ist für den Heroiker nicht nur praktische Wehr und als Wehr symbolisch für die unantastbare Ehre ihres Trägers, sie ist nicht nur Ausrüstung […], sondern sie ist ›Tracht‹, Repräsentation eines Lebensstils.«11 Nimmt man die These von der dominanten Heroik in den genannten südslawischen Kulturen zum Ausgangspunkt, so lassen sich viele Phänomene in der Literatur des ausgehenden 19. sowie des 20. und 21. Jahrhunderts als explizite Auseinandersetzung damit und als Infragestellung des damit verbundenen Selbstbilds verstehen. Viele literarische Werke werfen daher nicht nur ein kritisches Licht auf das Kriegsheldentum und hinterfragen die dadurch transportierten Werte, sondern sie stellen auch eine direkte Antwort auf die Kriege des 20. Jahrhunderts dar. Dabei lassen sich unterschiedliche Schwerpunkte ausmachen, die den Zusammenhang zwischen Heldentum und herrschender Ideologie, Heldentum und Nationalismus, Heldentum und Kriegsbegeisterung unterstreichen. Einige dieser Linien12 sollen im Folgenden anhand ausgewählter literarischer Beispiele skizziert werden. 8

Gesemann, Gerhard: Heroische Lebensform. Zur Literatur und Wesenskunde der balkanischen Patriarchalität. Berlin: Wiking Verlag 1943.

9

Cvijić, Jovan: Balkansko poluostrvo i južnoslovenske zemlje. Osnovi antropogeografije. Beograd: Zavod za izdavanje udžbenika Socijalističke Republike Srbije 1966.

10 G. Gesemann: Heroische Lebensform, S. 39. 11 Ebd., S. 34. 12 Ausgeklammert bleiben aufgrund der breiten Thematik z.B. höchst aufschlussreiche geschlechtsspezifische Aspekte wie weibliche Helden, die eine eigene vertiefende

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Ivo Andrić, der spätere Nobelpreisträger, der 1914 als Lyriker in Ljubo Wiesners berühmter Anthologie »Kroatische junge Lyrik« (Hrvatska mlada lirika) debütierte, sympathisierte als junger Student mit der bereits erwähnten Organisation »Junges Bosnien« und war deshalb während des Ersten Weltkriegs inhaftiert. Anfang der 1920er Jahre setzte er sich in zwei Erzählungen mit dem Kriegsheldentum auseinander und unterzog die darin zum Ausdruck kommende Geisteshaltung einer gründlichen Dekonstruktion. Beide kreisen um Kriegshelden, die aus dem Krieg in ihre bosnische Heimat zurückgekehrt sind. Im Mittelpunkt der 1920 erschienenen Erzählung »Der Weg des Alija Djerzelez« (Put Alije Đerzeleza) steht der gleichnamige Held, der auch im Volkslied besungen wird. Anders als im Lied zeigt Andrić den Krieger als jemanden, der zwar das Kriegshandwerk beherrscht, aber beziehungsunfähig ist, und zwar nicht aufgrund seiner psychischen Beschaffenheit, sondern weil er in Liebesdingen gänzlich unerfahren ist und unangemessen handelt. In existentiellen Fragen zeigt dieser Held einen symptomatischen Realitätsverlust, da er den einzigen ihm bekannten Lebensbereich, den Krieg, schematisch auf den der Liebe zu übertragen versucht. Andrić lässt Alija verschiedene Stationen durchlaufen und am Ende einen tiefen Fall erleben, der zugleich »Erdung« und »Vermenschlichung« beinhaltet: von der eleganten Venezianerin zum Besten gehalten, von der Zigeunerin Zemka verhöhnt, von der schönen Tochter des Nuribeg und von Katinka abgewiesen, landet Alija schließlich bei der russischen Prostituierten Jekaterina, der einzigen Frau, die ihn akzeptiert. In Alija wird die soziale und kommunikative Beziehungsunfähigkeit des Kriegshelden als dessen notwendige Schattenseite vorgestellt. Nicht von ungefähr wird die Figur nicht in einem Kriegszusammenhang gezeigt, denn dieser existiert in der Erzählung nur als Fama über den Helden. Schon als er krummbeinig vom Pferd steigt, ersteht vor dem Leser das Bild eines komischen, lebensunpraktischen Helden, der vom Erzähler mitfühlend ironisiert wird.13 Kriegsführung und Liebe, die hier für alltagstaugliches soziales Agieren

Darstellung verdienen, aber auch Zusammenhänge wie Held und Rebell, die satirische Verarbeitung des Heldentums (z.B. Ante Kovaćić’ Travestie auf die Heldenbilder von Ivan Mažuranić, dem Schöpfer des romantischen Heldenepos in der kroatischen Literatur), Opfer und Held sowie viele weitere Aspekte. 13 Ausführlich dazu: Hansen-Kokoruš, Renate: »Identitätskonstrukt und -dekonstruktion am Beispiel von Mustafa Madžar, oder: Die Demontage des Heldentums«, in: Branko Tošović (Hg.), Ivo Andrić. Das Grazer Opus von Ivo Andrić (1923-1924), Graz, Beograd: Karl-Franzens-Universität Graz, Beogradska knjiga 2010, S. 61-76; HansenKokoruš, Renate: »Geschlechterverhältnisse in den frühen Erzählungen von Ivo Andrić«, in: Hg. Branko Tošović (Hg.). Ivo Andrić. Die österreichisch-ungarische Pe-

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steht, sind gegensätzlich und unvereinbar; in ihrer Gegenüberstellung erzeugen sie eine komisch-groteske Wirkung. Anders verhält es sich mit der Titelfigur der drei Jahre später erschienenen Erzählung »Mustafa Madžar«. Auch diesem Kriegshelden eilt bei seiner Rückkehr der Ruf des unbezwingbaren Siegers voraus, aber hier unterstreicht der Autor, anders als in der zuvor genannten Erzählung, vor allem den Widerspruch zwischen Einzelnem und Kollektiv. Mustafa wird bei seiner Rückkehr als Held gefeiert, die Aureole um seinen Kopf verleiht ihm mythische Züge, er verfügt über fast übermenschliche Kräfte, ist listig und kämpft mit größter Unnachgiebigkeit. Anders als beim belächelten Helden Alija ist mit Mustafa aber Angst und Schrecken verbunden; auch zieht das Verlachen des Helden nicht seine »Erdung« nach sich, sondern die brutale Vernichtung des vermeintlichen Kritikers. Wie sein Nachname verrät (»Ungar«, »Magyar«), liegt keine ethnische Identität mit dem slawischen Kollektiv vor; er ist zudem vom pathetischen Empfang angewidert.14 Mustafa ist innerlich zerrissen und hält dieses Gefühl kaum aus. Dieser Kriegsheld ist ein Kriegsverbrecher, der nicht nur Frauen, sondern auch kleine russische Jungen mit seiner Einheit vergewaltigt und unglaubliche Grausamkeiten an der Zivilbevölkerung begangen hat. Er ist sich des Unrechts bewusst, sonst würden ihn keine Alpträume plagen, in denen die Opfer immer wiederkehren. Mit Mustafa Madžar hat Andrić eine zutiefst pervertierte, antihumanistische Figur geschaffen, die die unausweichliche dunkle Seite des Kriegshelden verdeutlicht. Das blutige Handwerk des Kriegers hat demnach tiefgreifende psychische und sexuelle Deformationen zur Folge, was eine positive Bewertung des Heldentums ausschließt. Der Autor zeigt das nicht nur in der Charakterdeformation des Helden, sondern auch in einem sehr eindringlichen, symbolgeladenen Bild: Mustafa erblickt in einem Akt der Selbsterkenntnis sein eigenes Antlitz als Spiegelbild im Wasser, mit einer Sonnenaureole – Symbol der Heiligkeit und Überhöhung –, die aber von einem Fliegenschwarm durchsetzt ist. Die Fliege symbolisiert das Faule und Eklige, das Böse und Dämonische. Beides, das Überhöhte und das Böse, ist hier also untrennbar miteinander verbunden. Dieses Bild bedeutet übersetzt: Ein positives Kriegsheldentum ist unmöglich, vielmehr trägt es notwendig den Keim der Vernichtung und der Selbstvernichtung in sich

riode in Leben und Schaffen von Ivo Andrić (1892-1922), Graz, Beograd: KarlFranzens-Universtität Graz, Beogradska knjiga 2011, S. 165-182. 14 Der Begriff »strahopoštovanje« (dt. Ehrfurcht), den man wörtlich als »AngstRespekt« oder »Respekt aus Angst« wiedergeben könnte, beschreibt exakt die Wirkung dieses Kriegers.

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(Mustafa provoziert seine Ermordung); es führt außerdem zur völligen Vereinsamung des Individuums und seiner Loslösung vom Kollektiv. 15 Der Zweite Weltkrieg führte im sozialistischen Jugoslawien einerseits im Partisanenmythos zu einem wiedererstarkten Heldenbild, andererseits lösten die schrecklichen Erfahrungen des Krieges eine neue Welle antiheroischer Infragestellung aus, die – neben dem gerade für Kriegstexte typischen Fokus auf die unbeschönigte Darstellung konkreter Kriegserfahrungen 16 – die Zeitlosigkeit des Mythos zur Verallgemeinerung nutzte und ihn gleichzeitig demythologisierend entzauberte. Im Drama der 1950er und 1960er Jahre fand diese Tendenz ihren stärksten Ausdruck, was unter anderem durch die begeisterte Rezeption der existentialistischen Dramatik in Jugoslawien zu erklären ist. Der Krležianer und Dramatiker Marijan Matković stellte dieses Anliegen in den Mittelpunkt zahlreicher seiner Dramen. In der Trilogie »Auch die Götter leiden« (I bogovi pate) bricht er mit unterschiedlichen Vorstellungen von Heldentum. Im ersten Drama »Prometheus« (Prometej17) steht der einsame Held im Mittelpunkt, dessen ursprünglich revolutionäre Tat, die ihn den Göttern entfremdet und seine bekannte grausame Bestrafung nach sich zieht, von den Nutznießern, den Menschen, pervertiert wird. Dieser Akt der Auflehnung gegen die Autorität macht ihn zu einem individuellen, antikollektiven Helden mit humanistischen Zielen, die aber in ihr Gegenteil verkehrt werden. So wird Prometheus von keiner Seite anerkannt und zum Symbol sinnlosen Fortschrittsdenkens. Das zweite Drama »Herakles« (Heraklo) zeigt einen Helden, der in Wirklichkeit keiner sein will, auf dem Höhepunkt seiner Popularität. Dieses gelungenste Drama des Zyklus ist bereits deutlich schärfer in seiner antiheroischen Zielsetzung, denn die Heldentaten des angeblichen Halbgottes (im Drama wird das als Lüge entlarvt) werden insgeheim von einem hohen Vertreter seines Hofes vollbracht. Der heldenhafte Sieg ist hier vorab am Hof geplant und in Wirklichkeit mit Blutbädern, Plünderungen und 15 Ausführlicher dazu: R. Hansen-Kokoruš: Identitätskonstrukt, S. 68-70. 16 Die im Kontext des Ersten und Zweiten Weltkriegs – und in Jugoslawien auch im Zuge der Kriege der 1990er Jahre – entstandene Kriegsliteratur widmet sich der Aufarbeitung der Kriegsschrecken auf verschiedenste Weisen und behandelt dabei auch die Frage nach (Kriegs-)Heldentum, z.B. Miloš Crnjanskis expressionistisches Werk »Tagebuch über Čarnojević« (Dnevnik o Čarnojeviću, 1920), das die Sinnlosigkeit des Ersten Weltkriegs aus soldatischer Perspektive durch fragmentarische Szenen aus dem Lazarett schildert; oder Mihailo Lalić’ Roman »Der Berg der Klage« (Lelejska gora, 1957), in dem ein herumstreifender, an Halluzinationen leidender Partisan gezeigt wird, der statt ehrenhaft zu kämpfen zu stehlen beginnt, um zu überleben. 17 »Prometheus« entstand bereits um 1942, wurde aber erst 1962 im Zyklus veröffentlicht.

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Vergewaltigungen verbunden. Der »öffentliche Held« Herakles wird zum Schluss für die Öffentlichkeit als guter, sauberer Held in Szene gesetzt, dessen Taten von den symbolträchtig blinden Sängern am Hof – einer Art moderner PRAbteilung – als »hehr« und übermenschlich überhöht. Herakles ist also ein »manipulierter« Held, denn seine göttliche Abstammung wird ideologisch instrumentalisiert. Er ist zugleich ein Held der späten Selbsterkenntnis, dessen Rebellion gegen diese Instrumentalisierung gnadenlos geahndet wird, denn er wird in eine Zwangsjacke gesteckt. Der einzige Ausweg für Herakles ist die Selbstvernichtung als Person, während der Mythos, von einer ganzen ideologischen Maschinerie betrieben, weiterlebt und von ihm nicht unterlaufen werden kann. Eine ähnliche, sogar radikalere Richtung schlägt Matković in »Achilles’ Erbe« (Ahilova baština) ein, einem Drama ohne Helden. Der Krieg ist hier eine völlig verselbstständigte Größe und Selbstzweck, seine Gründe und Ziele treten ganz in den Hintergrund. Die Rüstung des sterbenden Achilles wird zum (leeren) Symbol einer pervertierten Ideologie, hatte dieser doch ein Friedensgebot verfügt. Die Ideologie überlebt also in diesen beiden Dramen ihre Helden. Ihre Ziele werden von ihnen losgelöst und in der Heldenpropaganda von den Herrschenden instrumentalisiert. Die bisher geschilderten Entwicklungslinien des Antiheroischen finden ihre Fortführung in den ab 1991 veröffentlichten Texten junger Autoren (und nun vermehrt auch Autorinnen), die darin auf die jugoslawischen Kriege der 1990er Jahre reagieren. In kritischer Auseinandersetzung mit den nationalistischen Ideologien ihrer Zeit und unter direktem Eindruck der herrschenden Kriegsgräuel stellen sie erneut die Frage nach dem Wesen und der Möglichkeit von (Kriegs-) Heldentum. Doch anders als die bisher behandelten Beispiele greifen die Texte der postjugoslawischen Kriegsliteratur ab den 1990er Jahren, der Kazaz zufolge aufgrund, der darin zum Ausdruck kommenden Abwehrhaltung gegenüber kriegerischen Handlungen der Terminus Antikriegsliteratur18 eher gerecht werden würde, seltener auf Heldenfiguren aus Mythologie und Folklore zurück. Sie konzentrieren sich vielmehr – so wie viele (Anti-)Kriegstexte über den Ersten und Zweiten Weltkrieg – auf das unmittelbare Kriegserlebnis aus ziviler und militärischer Perspektive, um durch die Darstellung der Realität des brutalen Kriegsall18 Kazaz, Enver: »Prizori uhodanog užasa«, in: Sarajevske sveske 5 (2004), S. 137-166. Siehe auch: Messner, Elena: Postjugoslawische Antikriegsprosa. Eine Einführung, Wien, Berlin: Turia + Kant 2014. Kazaz hält fest, dass sich Kriegsliteratur lediglich mit dem Thema Krieg befasst, während Antikriegsliteratur eine klar ablehnende Haltung gegenüber Kriegen ausdrückt. Trotz zahlreicher Arbeiten zur postjugoslawischen (Anti-)Kriegsliteratur, ist eine präzise Begriffsdefinition und -diskussion noch ausständig. An dieser Stelle kann nur auf ihre Notwendigkeit hingewiesen werden.

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tags jegliche Vorstellung eines überhöhten, feierlichen Kriegsheldentums zu dekonstruieren. Auf diese Weise holen sie ihre »Helden« und mit diesen auch das Lesepublikum auf den Boden der Tatsachen zurück. Ihr kritisch-mimetischer und dokumentarischer Charakter äußert sich in der »Poetik der Zeugenschaft« (poetika svjedočenja). So erscheinen während des Krieges und danach zunächst fiktionalisierte Textzeugnisse, die auf authentischen Erfahrungen von Betroffenen beruhen.19 Neben Texten von zivilen Kriegsbeteiligten scheinen gerade Texte aus soldatischer Perspektive, die von Kriegsereignissen an der Front berichten, im Hinblick auf die Frage nach Heldentum von besonderer Relevanz zu sein, gilt der Krieger doch als Prototyp des Helden. Autor_innen aus Kroatien und Bosnien-Herzegowina können im Hinblick auf die geschilderten literaturgeschichtlichen Zusammenhänge als besonders produktiv angesehen werden, was wohl damit zusammenhängt, dass diese beiden Staaten nach ihren Unabhängigkeitserklärungen 1991 beziehungsweise 1992 die Hauptschauplätze der jugoslawischen Kriege der 1990er Jahre bildeten. 20 In Kroatien meldet sich nach Erscheinen der ersten dokumentarischen Kriegstexte von Autoren wie Ratko Cvetnić um die Jahrtausendwende die sogenannte FAKGeneration21 zu Wort, zu deren bekanntesten Vertreter_innen etwa Ante Tomić und Zoran Ferić zählen. Sie sind der Überzeugung, dass Literatur gesellschaftskritischen Anspruch haben und sich mit ihrer Gegenwart – im gegebenen Fall der Kriegs- und Nachkriegszeit – auseinandersetzen soll. In BosnienHerzegowina sind es zunächst Autor_innen aus dem belagerten Sarajevo, die als kritische Chronist_innen des Bosnien-Krieges gelten können. Zu ihnen gehören

19 Das Dossier »Ratno pismo« der 5. Ausgabe von Sarajevske sveske (2004) umfasst wichtige literaturhistorische Aufsätze von Moranjak-Bamburać, Matanović, Pavičić, Kazaz, Doležal, Tontić und Nikolaidis, die eine präzise zeitliche sowie thematischmotivische Klassifizierung der postjugoslawischen Kriegsliteratur(en) in ihren jeweiligen nationalen Kontexten bieten. 20 Kazaz bezieht sich auf Vladimir Pištalo, dessen Zitat beinahe als geflügeltes Wort gelesen werden kann, um die Dominanz der Kriegsthematik in der neueren bosnischherzegowinischen Prosa zu erklären. Nach Pištalo erachten es nämlich viele Autor_innen als sinnlos, »über Blumen zu schreiben, während draußen Menschen abgeschlachtet werden.« (E. Kazaz: Prizori uhodanog užasa, S. 138) 21 FAK steht für »Festival alternativne kulture« und entstand 2000 in Kroatien als eine Art Wanderfestival für gesellschaftskritische und publikumstaugliche Literatur, dem sich auch Autor_innen aus dem gesamten ex-jugoslawischen Raum anschlossen. Das Belgrader Literaturfestival Krokodil, das von Vladimir Arsenijević organisiert wird, ist gewissermaßen die Fortführung von FAK.

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unter anderem Miljenko Jergović,22 Alma Lazarevska, Nenad Veličković und Dževad Karahasan. Nach dieser ersten Welle von (Anti-)Kriegstexten aus der Perspektive von fiktionalisierten Zivilist_innen dominiert gerade in der bosnischherzegowinischen Literatur seit den späten 1990er und frühen 2000er Jahren das Genre der sogenannten Frontprosa, die aus der Feder ehemaliger Soldaten wie Faruk Šehić und Josip Mlakić stammt und autobiografische Erlebnisse fiktionalisiert. In der neueren kroatischen Literatur gilt der bereits erwähnte Zoran Ferić mit seiner anthologischen Erzählung »Die Insel in der Kupa« (Otok na Kupi) aus der Sammlung »Engel im Abseits« (Anđeo u ofsajdu, 2000) als Vertreter des genannten Genres.23 Darin wird eine Begegnung zwischen kroatischen und serbischen Soldaten gezeigt, die einmal im Kroatienkrieg gemeinsam Fischsuppe essen. Die kroatischen Soldaten verheimlichen ihren serbischen Gegenspielern jedoch, dass sie den Fisch mit Ködern aus dem Leichenfleisch serbischer Soldaten gefangen haben. So zeigt Ferić’ Erzählung nicht nur die Alltagsprobleme von Soldaten an der Front (Hunger, Kälte, Fehlen von festem Schuhwerk, notdürftige Unterkünfte, Umgang mit menschlichen Überresten, etc.), sondern betont durch das Beispiel des kannibalischen Abendmahls den dehumanisierenden Charakter des Krieges. Die Darstellung der Kriegsbeteiligten wird dabei extrem zugespitzt: Die abgestumpften Soldaten können aufgrund ihrer Verrohung nicht als Helden gelten, vielmehr sind sie als kannibalistisch und entmenschlicht dargestellt. So entsteht eine Parallele zwischen den Soldaten und den Leichen, eine Verbindung zwischen der Dehumanisierung der Täter und der Entwürdigung der Opfer, die im Bild des Kannibalismus und des Kanonenfutters (der zerstückelten, als Fischköder dienenden Körper) eindrucksvoll umgesetzt ist. Eine ähnlich einprägsame Szene findet sich auch in Faruk Šehić’ Band »Unter Druck« (Pod pritiskom, 2004), in der Soldaten der regulären Armee BosnienHerzegowinas in einen Schützengraben der sogenannten Autonomen (autonomaši) in Westbosnien einfallen, wo sich diese beiden größtenteils bosniakischen Gruppen bekämpfen. Nachdem die Eindringlinge ihre Gegner getötet haben, machen sie sich über deren Essen her. Sie verzehren deren Proviant ohne Rücksicht 22 Wie viele andere Autor_innen seiner Generation lässt sich Miljenko Jergović nicht nur aufgrund seiner Biographie, sondern auch wegen der vertretenen Antikriegs- und antinationalistischen Haltung sowohl der bosnischen als auch kroatischen Literatur zuordnen. 23 Ausführlicher dazu: Hansen-Kokoruš, Renate: »Kriegsalltag in literarischer Darstellung bei Zoran Ferić und Boris Dežulović«, in: Željko Uvanović (Hg.), Slawischdeutsche Kontakte in der Literatur. Erster Teil. Festschrift für Professor Josip Babić und Professor Vlado Obad. CD. Aachen: Shaker (im Erscheinen).

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auf die noch frischen Blutspuren daran, die lediglich abgewischt werden. Anschließend verwendet einer der Einfallenden ein Foto aus der Geldtasche eines der Ermordeten als Zahnstocher. Die verrohten Soldaten aus Šehić’ Erzählungen, die ihren Ängsten und Traumata durch maßlosen Alkoholkonsum sowie leichtsinnige Wetten und Gewaltausbrüche Luft verschaffen, widersprechen dem heldenhaften Bild des Kriegers. 24 Da sie sich im genannten Beispiel gegen die Angehörigen ihrer eigenen ethnonationalen Gruppe wenden, lassen sie sich zudem im Speziellen nicht in den Heldendiskurs der herrschenden nationalistischen Ideologien einfügen. Zur Darstellung innerer Vorgänge in Šehić’ Erzählungen stellt Kazaz fest, dass darin die Szenen des äußeren Schreckens die Seele der Soldaten abbilden. 25 In besonders ausgeprägter Form findet sich ein derartiger Fokus auf den psychischen Zustand von Kriegsbeteiligten in den Romanen und Erzählungen von Josip Mlakić. Er schildert den Krieg in Bosnien-Herzegowina aus der Perspektive kroatischer Soldaten und kann somit als Verbindungsglied zwischen der bosnisch-herzegowinischen und kroatischen (Anti-)Kriegsliteratur betrachtet werden. Die Handlung seines ersten Romans «Wenn sich die Nebel lichten« (Kad magle stanu, 2000) beginnt in einer neuropsychiatrischen Klinik, in der sich der Protagonist, der ehemalige Soldat Jakov, nach dem Krieg befindet. Um seine traumatischen Erfahrungen therapeutisch zu verarbeiten, führt er ein Notizbuch, in dem er seine Erinnerungen an den Krieg festhält. Seine Aufzeichnungen bilden die eigentliche Handlung des Romans. So schildert Jakov seine Gedanken und Emotionen und arbeitet den schmerzhaften Verlust von Kriegskameraden auf. Aus seinen Notizen geht hervor, dass die Soldaten – von Krieg und Grausamkeit benommen – meinen, nichts mehr verlieren zu können. Wie auch Šehić’ Figuren konsumieren sie Rauschmittel und fordern sich gegenseitig heraus. So macht ein Kamerad den Protagonisten Jakov fälschlicherweise glauben, seine Frau hätte ihn mit seinem (bosniakischen) Kindheitsfreund Mirsad betrogen. Jakov tötet nicht nur den vermeintlichen Nebenbuhler, sondern auch den Kameraden, nachdem er dessen Lüge aufdeckt. Seine Morde fallen nicht in den Rahmen regulärer Kriegshandlungen. Da sie lediglich aus Eifersucht heraus passiert sind, verdeutlichen sie den moralischen Verfall und die überbordende Gewaltbereitschaft, die der Kriegszustand fördert. Die Infragestellung des (Kriegs-)Heldentums erfolgt in den hier präsentierten Texten postjugoslawischer Autoren auf zwei Ebenen: Durch die Fokussierung 24 Kazaz und Messner gehen in ihren hier zitierten Arbeiten genauer auf diese Zusammenhänge ein. Siehe auch: Beganović, Davor: Poetika melankolije, Sarajevo: Rabić 2009. 25 E. Kazaz: Prizori uhodanog užasa, S. 151.

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auf die Figur des Kriegers beziehungsweise Soldaten zeigen sie zum einen äußere Umstände wie den tatsächlichen Alltag an der Kriegsfront, der nur wenige Gemeinsamkeiten mit den bekannten Heldennarrativen von Abenteuern, Sieg und Ruhm aufweist. So wird – typisch für Antikriegstexte im Allgemeinen – die Vorstellung vom glorreichen Heldentum durch die Schilderung der prekären materiellen Aspekte des Kriegsalltags und den Fokus auf die Ebene des Körperlichen, Organischen untergraben (zum Beispiel Nahrungsbeschaffung, Hunger, Verletzungen, Tod). Zum anderen wird die Figur des Kriegers seiner heldenhaften Charakterzüge – wie Stärke, Mut, Überlegenheit, Opferbereitschaft – entledigt, indem seine inneren Dilemmata, Ängste und Zweifel thematisiert werden. Auf diese Weise werden der Krieg und mit ihm auch das (Kriegs-)Heldentum nicht nur durch die Betonung ihrer realen, materiellen Seite entmythologisiert, sondern auch, ähnlich dem Beispiel Mustafa Madžars, durch die Schilderung pathologisch deformierter Kriegshelden. Als Vertreter des Antiheroischen bieten die Protagonisten der vorgestellten Texte aus der neueren bosnischherzegowinischen und kroatischen Literatur kontrastreiche Gegenentwürfe zur anfangs erläuterten These der dominanten Heroik in den südslawischen Kulturen. In der neueren serbischen und montenegrinischen Literatur nimmt der Heldendiskurs eine etwas andere Gestalt an. Autor_innen aus Serbien und Montenegro reagieren in ihren literarischen Werken zwar wie ihre bosnischherzegowinischen und kroatischen Kolleg_innen auf die damalige Gegenwart, widmen sich aber anderen Themen, da auch ihre Erfahrungen andere sind. In den frühen 1990er Jahren bilden Serbien und Montenegro nämlich lediglich das Hinterland der Schauplätze der Jugoslawienkriege. Erst mit dem Kosovo-Krieg und dem völkerrechtlich umstrittenen NATO-Bombardement Serbiens 1999 verlagern sich die Kriegshandlungen in den Osten des ehemals gemeinsamen jugoslawischen Staates. So setzen sich serbische Autor_innen zunächst vor allem mit dem MiloševićRegime und seiner nationalistischen Politik auseinander, während der Krieg – im Sinne von Fronterfahrung und Teilnahme an Kriegshandlungen – den Hintergrund ihrer Werke bildet. Ihre grundsätzliche Antikriegshaltung und die damit verbundene kritische Reflexion von Heldentum zeigt sich anhand zweier Figuren: des Kriegsverweigerers und des Rückkehrers aus dem Krieg, die beispielsweise in Vladimir Arsenijević’ Roman «Cloaca Maxima« (U potpalublju, 1994) dargestellt werden. Dessen Handlung ist im ersten Kriegsjahr 1991 angesiedelt. Es wird aus der Perspektive eines jungen Serben erzählt, der sich weigert, am Krieg in Kroatien teilzunehmen. Er leistet Widerstand gegen das Regime, indem er sich vor der Mobilisierung versteckt. Der Krieg, der räumlich, nicht aber emo-

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tional weit weg ist, dringt auch in die Hauptstadt Belgrad vor; über Medienberichte oder durch den Auftritt von Figuren wie Dejan, die – wie die »Helden« in den bosnischen und kroatischen Beispielen – körperlich und seelisch versehrt von der Kriegsfront zurückkehren. Die Figur des aus dem Krieg zurückgekehrten, gebrochenen Mannes verstärkt durch die Kritik an der Idee von Heldentum die im Roman vertretene Antikriegshaltung. Die Kriegsverweigerung kann im gegebenen Zusammenhang als Verneinung »klassischen« Heldentums verstanden werden. Junge Männer wie Arsenijević’ Erzähler sehen nämlich – von ihrer kriegskritischen Einstellung ausgehend und in Anbetracht der Schattenseiten des Heldendaseins – keinen Sinn darin, (für die nationale Sache) in den Krieg zu ziehen, um womöglich als gefeierte Helden aus diesem zurückzukehren. Da sie sich dem Mainstream entgegensetzen, kann ihre Kriegsverweigerung als Akt der Zivilcourage begriffen werden, der wiederum eine weniger verbreitete Form des Heldentums bildet. Im Übrigen gehört Arsenijević auch zu den Autoren, die in den 1990er Jahren den Kosovo-Mythos als Schablone für ihren Antikriegstext nehmen. So ist die Figur Lazar aus »Cloaca Maxima« als Allusion an den serbischen Helden Fürst Lazar zu verstehen, 26 der sein Heer 1389 in der Schlacht auf dem Amselfeld anführte. Anders als der Märtyrer Lazar ist Arsenijević’ Figur, der naive Bruder der Drogendealer-Freundin des Erzählers, als Parodie seines Namensvetters angelegt, die sich in die antiheroische Lesart des Romans fügt. Nun bleibt die Frage offen, wie die These von der dominanten Heroik auf dem Balkan in der neueren Literatur aus Montenegro bearbeitet wird, was gerade im Hinblick auf Gesemanns bereits angeführtes Postulat vom Montenegriner als Inkorporation des heroischen Menschen und Kriegshelden interessant scheint. Berücksichtigt man Gesemanns Hauptargument, welches das montenegrinischen Nationalepos – das auf der Tradition der Heldenepik beruhende Werk »Der Bergkranz« (Gorski vijenac, 1847) von Petar Petrović Njegoš – ins Zentrum rückt, so überrascht es, dass Heldendarstellungen ebenso wie die Kriegsthematik ab den 1990er Jahren in der montenegrinischen Literatur selten behandelt werden. Der wohl bekannteste Repräsentant der jüngsten Generation montenegrinischer Autor_innen, Andrej Nikolaidis, liefert einen höchst polemischen Erklärungsansatz für das Fehlen montenegrinischer (Anti-)Kriegs- und (Anti-)Helden-

26 Burkhart, Dagmar: »Die Liebe in den Zeiten des Krieges. Vladimir Arsenijevićs ›Seifenoper‹ U potpalublju – Cloaca maxima«, in: Robert Hodel (Hg.), Darstellung der Liebe in bosnischer, kroatischer und serbischer Literatur. Von der Renaissance ins 21. Jahrhundert, Frankfurt am Main: Lang 2007, S. 341-356.

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texte.27 Seiner Meinung nach sind sich die Montenegriner der Unrühmlichkeit ihrer Teilnahme an den Kriegshandlungen in Bosnien-Herzegowina und Kroatien bewusst. So schweigen sie mehrheitlich darüber, statt diese ihrer ausgeprägten (Kriegs-)Heldentradition entsprechend zu besingen.28 Nach dem vereinzelten Erscheinen von (Anti-)Kriegstexten in den 1990er Jahre entstehen erst allmählich weitere Werke, die sich im Zuge der Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen montenegrinischen Gegenwart auch den Kriegen der 1990er Jahre sowie ihren Folgen widmen. Bezeichnenderweise lässt sich bei diesen Texten eine Art Bruch mit der epischen Tradition feststellen, da sie in den Bereich diverser bis dahin in Montenegro unüblicher Literatur-Genres fallen. So besitzt die neueste montenegrinische Literatur mit ihren oft bizarr und grotesk anmutenden Elementen dystopischen Charakter, erinnert an populäre Mafia-Geschichten oder lässt sich dem Horror- beziehungsweise Science-Fiction-Genre zuordnen. Der bereits erwähnte Nikolaidis liefert in seiner Erzählung »Divni i užasni život Miraša Varvarina« (Das herrliche und schreckliche Leben von Miraš dem Barbaren)29 eine Art Gangster-Geschichte (mit Splatter-Elementen wie der überzeichneten Darstellung exzessiver Gewalt), in der er die Figur des barbarischen Rächers Miraš dem sadistischen Kriminellen und neureichen Kriegsprofiteur Zoran Marković gegenüberstellt. Von der regierungsnahen Presse wird Marković als patriotischer Kriegsheld und Wohltäter gefeiert, der die Demokratisierung seines Landes und dessen Integration in die Europäische Union vorantreiben möchte. Tatsächlich ist er aber der brutale Anführer einer kriminellen Bande, die neben zahlreichen anderen Morden auch Miraš’ Eltern auf dem Gewissen hat, was den Grund für die blutige Auseinandersetzung der beiden Männer bildet. Im Gegensatz zum skrupellosen Marković wird der nicht minder gewalttätige Miraš

27 Nikolaidis, Andrej: »Zašto ne postoji crnogorsko ratno pismo«, in: Sarajevske sveske 5 (2004), S. 189-193. 28 Ein ähnlicher Eskapismus lässt sich in der neueren Literatur aus Serbien feststellen, in der die serbische Kriegsbeteiligung erst allmählich kritisch aufgearbeitet wird. Interessant ist hierbei, dass gerade viele ungarische Autoren, die in den Jugoslawienkriegen auf jugoslawischer und somit serbischer Seite gedient haben, sich der genannten Thematik widmen. Sie eröffnen aus der Randposition einer Minderheit heraus eine wichtige Debatte, die im serbischen Mainstream bisher zu kurz gekommen ist. Siehe Petra Bakos’ Artikel »The Phantom of no Borders«, in: Petra Bakos et al. (eds.), Phantom Borders – Real Boundaries? With a foreword by Béatrice von Hirschhausen. Leipzig: Biblion Media 2018 [forthcoming]. 29 Die Erzählung wurde im Band »Kleine Enzyklopädie des Wahnsinns« (Mala enciklopedija ludila, 2006) veröffentlicht.

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als Rächer der Unterdrückten – eine Art Haiduk30 – dargestellt, dessen persönliche Rachemotivation sich schließlich als Kampf gegen ein ganzes System entpuppt, in welches sowohl die politischen Machthaber als auch die Kirche eingebunden sind. Durch die überspitzte Darstellung der montenegrinischen Transitionsgesellschaft und ihrer Hauptakteur_innen demaskiert Nikolaidis die darin zu Macht gekommenen und als nationale Helden gefeierten Leader wie Marković als Verbrecher.31 Diesen stellt er durch den Fokus auf die Lebensgeschichte der Figur Miraš ein alternatives, jedoch ebenso parodisiertes Heldennarrativ entgegen. Im Text wird Miraš der Barbare nämlich als »der letzte montenegrinische Held« bezeichnet, »der seine Stammesehre erfüllt und seine Eltern rächt«. Miraš’ vermeintliches Heldentum wird am Ende der Erzählung ad absurdum geführt: Nachdem er Marković tötet, ist er wie vom Erdboden verschwunden. Nikolaidis’ Text schließt mit der grotesken Idee, Miraš sei den Evolutionsweg zurück und ins Meer gegangen. Auch wenn hier nur ein kleiner Einblick in die Entwicklungslinien und Funktionsweisen des Antiheroischen in der bosnischen, kroatischen, montenegrinischen und serbischen Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts gegeben werden konnte, wird deutlich, dass darin eine besonders intensive und kritische Auseinandersetzung mit dem als »typisch balkanisch« postulierten (Kriegs-) Heldentum erfolgt.32 Einerseits erlaubte der Zugang über den Mythos nicht nur eine Verallgemeinerung der Fragestellung (sowie der Sinnhaftigkeit eines Welt30 Der Haiduk ist eine Art südosteuropäischer Robin Hood, ein Rächer der Armen und Unterdrückten an den Reichen und Mächtigen. Interessant ist hierbei, dass Haiduken eigentlich Wegelagerer waren, die nachträglich zu nationalen und religiösen Freiheitskämpfern gegen das Osmanische Reich hochstilisiert wurden. 31 An einer Stelle wird sogar eine Parallele zwischen Kriegern und Ratten gezogen, wenn von der wundersamen Geschichte eines Rattenangriffs auf das einfallende türkische Heer berichtet wird. Diese Verteidiger Montenegros vor der osmanischen Invasion werden ironisch als »furchtlose pelzige Krieger« bezeichnet. 32 Weitere Autoren sind z.B. nach dem 1. Weltkrieg Miroslav Krleža mit dem Erzählzyklus »Der kroatische Gott Mars« (Hrvatski Bog Mars) und Miloš Crnjanski mit dem Roman »Tagebuch über Čarnojević« (Dnevnik o Carnojeviću), nach dem 2. Weltkrieg Ivan Goran Kovačić mit seinem berühmten Gedicht »Die Grube« (Jama), Skender Kulenović mit dem Poem »Die Nachtigall« (Ševa), Mihailo Lalić mit dem Roman »Der Berg der Klage« (Lelejska gora), Jovan Hristić mit verschiedenen Dramen, Ranko Marinković mit seinem Roman »Der Zyklop« (Kiklop), Dušan Jovanović mit seinem Drama »Die Befreiung von Skoplje« (Osvoboditev Skopja/Oslobođenje Skoplja). Die Liste ließe sich sehr lang fortsetzen.

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zusammenhangs überhaupt) und die Ausklammerung der äußerst sensiblen Frage der Nationalität, sondern schloss auch die Infragestellung des Mythos als stereotypem Denkmuster selbst mit ein. Andererseits zeigte der Fokus auf die Darstellung des Kriegsalltags und seiner psychologischen Folgen, wie die aus dem Kontext der Weltkriege bekannten Strategien von (Anti-)Kriegstexten die überhöhte Vorstellung von Kriegsheldentum demaskieren.

Nikos Kazantzakis und seine Helden B ASILIUS J. G ROEN

Z UR E INFÜHRUNG Das Œuvre des griechischen Schriftstellers Nikos Kazantzakis (1883-1957) ist umfangreich und vielschichtig.1 Er verfasste Lyrik, insbesondere die Odyssee, des Weiteren Bühnenstücke, Reiseberichte und Romane. Unter den letztgenannten ragen Leben und Wandel des Alexis Zorbas (Titel der deutschen Version: Alexis Sorbas), Christus wird wiederum gekreuzigt (deutsch: Griechische Passion), Die letzte Versuchung sowie Kapitän Michalis: Freiheit oder Tod hervor. Mit diesen Romanen begeisterte der Autor weltweit und erfreute sich eines enormen Publikums von Leserinnen und Lesern. Darüber hinaus schrieb er eine geistliche und teils fiktive Autobiografie (Rechenschaft vor El Greco), zahllose Notizen und Briefe, Aufsätze und Studien, Filmdrehbücher, Kinderbücher und literarisch bedeutsame Übersetzungen. Kazantzakis selbst verglich sich mit vielen, die ihm als Geistesverwandte erschienen oder die er als seine Lehrer betrachtete und die dazu beitrugen, ›aufzusteigen‹, ›emporzugehen‹, ›auf der blutigen Linie der Spuren Gottes zu wandeln‹ und so ›Gott zu schaffen‹. Er orientier-

1

Dieser Artikel basiert auf überarbeiteten und neugeordneten Teilen meiner beiden Studien: Groen, Basilius J.: Aufstieg, Kampf und Freiheit. Nikos Kazantzakis, seine Asketik. Die Retter Gottes und die griechisch-orthodoxe spirituelle und liturgische Tradition (=Studies on South East Europe, Bd. 18), Berlin: LIT 2015; ders.: De weg omhoog en de strijd om vrijheid. Nikos Kazantzakis, zijn Ascetica en de orthodoxe traditie, Groningen: Ta Grammata 2017. Die beste Studie über Kazantzakis ist meines Erachtens Bien, Peter: Kazantzakis. Politics of the Spirit, Bd. I-II, Princeton: Princeton University Press 1989-2007. Ich danke Ingrid Hable für die sorgfältige Durchsicht meines Artikels.

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te sich insbesondere an Odysseus, Buddha, Jesus Christus, Franz von Assisi, Lenin und El Greco; auch Zorbas war ihm sehr wichtig. In seinem Werk spielen diese Helden sowie andere männliche Protagonisten eine äußerst bedeutende Rolle. Wir werden uns hier einige charakteristische Beispiele anschauen.

G RIECHISCHE G ESCHICHTE Beginnen wir mit der Kultur und Mythologie des minoischen Kretas (Kazantzakis war Kreter) und des klassischen Griechenlands. Die Gestalten von Theseus und vom Minotaurus, von Odysseus, Herakles, Prometheus und Alexander dem Großen inspirierten ihn zu selbständigen literarischen Erzeugnissen. Insbesondere mit Odysseus befasste er sich immer wieder intensiv. Sein aus 33.333 Versen bestehendes Epos, die Odyssee, besingt die neuen abenteuerlichen Reisen und die spirituelle Suche des Odysseus nach seiner Rückkehr auf Ithaka.2 Die Aufklärung neuer Gebiete, erotische Szenen, entzückende Naturbeschreibungen und grausame Verwüstung sowie Überlegungen über den Sinn des Lebens und den Unsinn des traditionellen Gottesglaubens kommen reichlich vor in dieser monumentalen Dichtung, in der Männer die unangefochtene Hauptrolle spielen. Eine der wenigen Frauengestalten, die der Poet der Odyssee hier ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit rückte, war Helena von Sparta; sie wird jedoch hauptsächlich in ihrer ›verführerischen‹ Schönheit dargestellt. Zudem beschäftigten die olympischen Götter Dionysus und Apollo und ihre jeweiligen ›Charaktere‹ (ungehemmte Vitalität versus reflexiver Ordnungswille) Kazantzakis sein Leben hindurch. Die klassische Philosophie von Heraklit, Platon und anderen, sowie ihr Denken über Gott und die Welt, die Liebe und den Tod waren ihm vertraut. Das gilt auch für die Geschichten über die Argonauten und das Goldene Vlies, den Fährmann für die Verstorbenen Charon, die Strafe, die Sisyphus in der Unterwelt erleiden musste, usw. Kazantzakis liebte die homerischen Epen und war auch gut zu Hause im dichterischen Werk des Pindarus und in den Tragödien des Aischylus, Sophokles und Euripides. Ebenso studierte er das spätere oströmische, byzantinische Zeitalter und den Beginn des modernen griechischen Staates; das führte zu eigenständigen Produktionen über die Kaiser Julian (als der ›Apostat‹ bekannt), Nikephorus Phokas, den letzten Kaiser Konstantinopels Konstantin XI. Palaiologus und den ersten,

2

Vgl. Kazantzakis, Nikos: Ὀδύσσεια, Athen: Ekdoseis Kazantzaki 21957; ders., Odyssee, zweisprachige Ausgabe (griechisch-deutsch), Übers. Gustav A. Conradi, Berlin: Elfenbein 2017.

N IKOS K AZANTZAKIS UND

SEINE

H ELDEN

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1831 ermordeten Verwalter des unabhängigen griechischen Staates Ioannis Kapodistrias. Auch die mythische Gestalt des Digenis Akritas (auch Akritis) faszinierte Kazantzakis immer wieder. Dabei handelt es sich um den Protagonisten des byzantinischen Epos Digenis Akritis, das wahrscheinlich Mitte des zwölften Jahrhunderts entstand und die Abenteuer des Helden an der Grenze zwischen dem Oströmischen Reich und den arabischen Gebieten besingt. Der nun Digenis Akritas genannte Held lebte in zahlreichen Volksliedern weiter und Kazantzakis hat die kretischen Versionen bestimmt gekannt, wie ihm auch die Balladen und Erzählungen über tapfere Burschen und ihre Bravourstücke vertraut waren. Ihm schwebte nach der Vollendung seiner Odyssee lange Zeit das Kreieren eines weiteren langen Epos, Akritas, in dem er die Lebensfreude des Helden skizzieren wollte, sowie das Verfassen eines dritten Teils von Faust, vor; Kazantzakis hatte Goethe’s Faust I ins Griechische übertragen. Zu diesen letzten Produktionen kam er jedoch nicht mehr.

C HRISTENTUM Große Gestalten des Christentums beschäftigten Kazantzakis ebenso. Einerseits lehnte er traditionelle Dogmen und Lehren ab, andererseits setzte er sich sein Leben lang mit der Person Jesu Christi auseinander und war von dessen Wirken tief gerührt und beeindruckt. Das öffentliche Wirken Jesu – insbesondere dessen Bergpredigt (Mt. 5,1-7,29) beziehungsweise Feldrede (Lk. 6,20-49) und die Gleichnisse – sowie seine Passion und Selbsthingabe bis zum Tod waren für Kazantzakis essentielle spirituelle Meilensteine, die ihn sehr inspirierten; in vielen seiner Schriften spielt Jesus eine wichtige oder sogar die Hauptrolle. 3 Trotzdem ist er für ihn weder der eingeborene Sohn Gottes noch die zweite Person der Hl. Dreifaltigkeit, sondern der Held, der den emporgehenden Weg wählte, bis zum Äußersten mit Gott rang und sterben musste, um Gemeinschaft und Solidarität zu stiften. Im Vorwort des Jesusromans Die letzte Versuchung beschreibt unser Autor den Zusammenstoß zwischen Geist und Fleisch, zwischen den beiden entgegengesetzten Strömungen, den dunklen und den hellen Kräften, ihren Kampf

3

Vgl. Bien, Peter: »Kazantzakis’s Long Apprenticeship to Christian Themes«, in: Darren J.N. Middleton/Peter Bien (Hg.), God’s Struggler. Religion in the Writings of Nikos Kazantzakis, Macon, GA: Mercer University Press 1996, S. 113-131.

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in der menschlichen Seele und den Sieg Christi in seinem eigenen Kampf. 4 Laut Kazantzakis ist jedoch jeder Mensch, der sich für die Rettung der eigenen Seele und der Welt, das heißt für die Rettung Gottes einsetzt, ein Menschensohn. Im Roman Christus wird wiederum gekreuzigt sind die Protagonisten der Hirte Manolios und der Priester der Flüchtlinge Fotis diejenigen, die in der Vergeistlichung und Verwandlung der Materie sowie in der Befürwortung von Solidarität und Nächstenliebe vorangehen.5 In seinem Buch Der arme Mann Gottes (deutsch: Mein Franz von Assisi) bläst Kazantzakis ins gleiche Horn. Hier ist der hl. Franziskus von Assisi (1181/82-1226) der Prototyp des kämpfenden Menschen, der die höchste Pflicht hat, die Materie, welche Gott ihm anvertraut hat, in Geist zu verwandeln.6 Kazantzakis bewunderte den hl. Franz sehr und betrachtete sich als dessen Schüler. Unser Schriftsteller besuchte Assisi dreimal: 1924, 1926 und 1952; das erste Mal wohnte er sogar drei Monate dort. Kazantzakis war befreundet mit Albert Schweitzer (1875-1965), der nicht nur Arzt, sondern auch evangelischer Theologe und Kirchenmusiker war. Der Kreter hatte ihm seinen Roman über Franz von Assisi gewidmet, weil er ihn als den ›hl. Franziskus unserer Zeit‹ betrachtete.7 Übrigens kannte Kazantzakis die protestantische Theologie kaum und deswegen war ihm auch eine Lichtgestalt wie der deutsche Theologe Dietrich Bonhoeffer8 wahrscheinlich unbekannt. Allerdings schätzte Kazantzakis im Bereich der katholischen Hagiographie eine weibliche Heilige, Teresa von Avila (1515-1582), hoch und verfasste ein canto und mehrere Seiten seines Spanienreisebuches über sie.9 Er sah in dieser

4

Vgl. Kazantzakis, Nikos: Ὁ τελευταῖος πειρασμός, Athen: Ekdoseis Kazantzaki 2012, S. 9-12. Dieser Text begegnet fast wortgleich im Kapitel ›Wüste – Sinai‹, in: Kazantzakis, Nikos: Ἀναφορά στὸν Γκρέκο, Athen: Ekdoseis Kazantzaki 2009, S. 286-289. Anstatt der Aussage, dass er Christus’ Leben und Passion nie mit so großer Rührung und Liebe verfolgt und erlebt habe wie beim Schreiben von Die Letzte Versuchung, steht hier »wie in meinen Tagen und Nächten in Jerusalem, am Toten Meer und in Galiläa« (S. 287).

5

Vgl. Kazantzakis, Nikos: Ὁ Χριστὸς ξανασταυρώνεται, Athen: Ekdoseis Kazantzaki 101974.

6

Vgl. Kazantzakis, Nikos: Ὁ Φτωχούλης τοῦ Θεοῦ, Athen: Ekdoseis Kazantzaki 1970,

7

Vgl. ebd., S. 7.

8

Vgl. den Beitrag von Christin U. Schmitz in diesem Band: Dietrich Bonhoeffer (1906-

S. 9.

1945): Widerstandskämpfer, Märtyrer, Vorbild, Held?, S. 269-291. 9

Vgl. Kazantzakis, Nikos: Τερτσίνες, Athen: Ekdoseis Kazantzaki 1960, S. 139-145; ders., Ταξιδεύοντας: Ἱσπανία, Athen: Ekdoseis Kazantzaki 1990, S. 49-57. Siehe auch

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vitalen und mutigen Klosterreformerin ein Musterbeispiel der göttlichen Verwandlung der Materie in Geist. Der die Menschen weit übersteigende Geist drückt sich laut Kazantzakis in jedem Zeitalter und jeder Kultur aufs Neue aus und transformiert die Materie immer wieder in Licht. Das geschah seiner Meinung nach auch im Leben der hl. Teresa, in ihrem Kampf, ihrer Ausdauer und ihrem Humor. Unser Schriftsteller ist davon überzeugt, dass so auch der hohe und positive Stellenwert des Glaubens klar wird, auch wenn dieser immer wieder neue Formen annehmen muss, um lebendig und ›glaubhaft‹ zu bleiben. Laut Kazantzakis waren die traditionelle christliche Glaubenslehre und Moral früher einmal wichtig, konnten aber jetzt die Frage nach dem Sinn unseres Daseins nicht mehr auf befriedigende Weise beantworten. Gleichzeitig hielt er den Rationalismus, Materialismus und Neopositivismus, denen er in der westlichen Kultur begegnete, für ungenügend, um die großen Lebensfragen zu beantworten und die menschliche Existenz mit wahrer Bedeutung zu erfüllen. Daher suchte er sein Leben lang eine Ersatztheorie. Kazantzakis war ein leidenschaftlicher ›Jäger‹, der immer auf der Suche nach der absoluten Wahrheit und der endgültigen Erlösung war und sich dabei fast ständig mit der Frage nach der GottMensch-Beziehung beschäftigte. Dafür brauchte er Helden, die in dieser Suche wegweisend waren.

V ERWANDLUNG Es geht Kazantzakis im Grunde um die Verwandlung des gesamten Universums in Geist, die Verklärung des Alls in Licht, ein göttliches Vorgehen, das alles umfasst und dem wir Menschen uns unterwerfen sollen. Der mühevolle Prozess der Transsubstantiation der ganzen Welt verlangt laut dem bewusst nicht-kirchlichen Kazantzakis jedoch denjenigen, die sich auf ihn einlassen, vollen Einsatz ab. Nur so können sie mit Gott vereinigt werden und kann aus Finsternis Licht und aus Chaos Ordnung entstehen. Doch ist dies alles ein risikoreicher Prozess, der ausschließlich mit höchster Verantwortung und Opferbereitschaft und nur vorübergehend gelingen kann. Es kommt darauf an, mit vollem Einsatz die eigenen Lebensstrukturen über dem allgegenwärtigen Abgrund zu errichten. In dem Sinne

Dombrowski, Daniel A.: Kazantzakis and God, Albany, NY: State University of New York Press 1997, S. 55-56.

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könnte man Kazantzakis als einen ›heroischen Desperado‹ (Pavlos Tzermias)10 oder ›heroischen Pessimisten‹ (Pantelis Prevelakis)11 bezeichnen. Bei diesem ›Pessimismus‹ handelt es sich jedoch weder um Passivismus noch um Nihilismus. Kazantzakis ist kein verzweifelter Anarchist. Im Gegenteil, der missionarische Schriftsteller will Ordnung schaffen, singend, sogar ›optimistisch‹12 den Abgrund beschwören, gleichzeitig ›apollinischen‹ und ›dionysischen‹ Lebenssinn vermitteln, bevor der Abgrund sich öffnet und ihn und alle anderen Lebewesen darin verschwinden lässt. Allerdings sollte man ohne Angst und Hoffnung am Rande des Abgrunds stehen und dem Tod unerschrocken ins Auge schauen.

G ENDERFRAGE Der unerschrockene und stetige Aufgang ist laut Kazantzakis Männern vorbehalten – und nur den Tapferen unter ihnen und dann nur in ihren besten Momenten! –, weil unser Literat davon überzeugt war, dass Frauen aufgrund ihrer irdischen und materiellen Ausrichtung zu solcher Freiheit nicht in der Lage seien.13 Die Rolle des männlichen Teils der Menschheit im Transsubstantiationsprozess wird also von Kazantzakis sehr hervorgehoben. Er identifizierte die männliche Dimension mit der emporsteigenden Strömung, mit dem Lebensschwung, und die weibliche mit der absteigenden Strömung, mit der Materie, die dem Prozess der Spiritualisierung im Wege steht. Während der männliche Aspekt für Härte, Strenge und einen starken Willen steht, ist der weibliche Aspekt zart, wollüstig

10 Siehe ausführlich dazu Tzermias, Pavlos: Nikos Kazantzakis’ Odyssee. Unbekannte Aspekte des geistigen Weges eines berühmten Kreters (=Sedones, Bd. 11), Mähringen: Dr. Thomas Balistier 2008. 11 Siehe ausführlich dazu Prevelakis, Pantelis: Ὁ Καζαντζάκης. Σχεδίασμα ἐσωτερικῆς βιογραφίας, in: ders. (Hg.), Τετρακόσια γράμματα τοῦ Καζαντζάκη στὸν Πρεβελάκη, Athen: Ekdoseis Kazantzaki 1984, S. IX-LXXXVI. 12 Kazantzakis selbst betont den positiven Aspekt seiner Lebensphilosophie: »So: tragischer Optimismus, nicht Pessimismus«. Vgl. Bien, Peter (Hg.), The Selected Letters of Nikos Kazantzakis, Princeton: Princeton University Press 2012, S. 652 (Brief an Börje Knös, Oktober 1947). 13 Vgl. Blazoudaki-Stavroulaki, Athina: »La femme dans la vie et l’œuvre de Kazantzaki«, in: Le Regard crétois. Revue de la Société Internationale des Amis de Nikos Kazantzaki, Nr. 7 (Juli 1993), S. 19-35; Ioannidou, Mariëtta: »Nikos Kazantzakis. Verachter of bezinger van de vrouw?«, in: Tetradio. Tijdschrift van het Griekenlandcentrum, Universiteit Gent 16 2007, S. 149-180.

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und verführerisch. Der ideale Mann will trotz aller Versuchung aufsteigen, während die Frau ihn an die Erde binden möchte. Bestenfalls sind Frauen tapfere Gefährtinnen, die mutigen Männern bei deren Aufgang folgen und sie unterstützen. Diese Eigenschaft schätzte Kazantzakis sehr in seiner ›Genossin‹ und zweiten Gattin Eleni.14 Außerdem ist es seiner Ansicht nach sehr verdienstvoll, wenn Frauen Söhne gebären und so weitere mögliche ›Aufsteiger‹ liefern. Obwohl Kazantzakis eine Synthese anstrebt, gibt es ständig Streit und Spannung aufgrund des Dualismus zwischen dem männlichen und dem weiblichen Element, zwischen Aufgang und Niedergang, zwischen Geist und Fleisch beziehungsweise Materie. Einerseits plädiert Kazantzakis wiederholt für die Symbiose von Geist und Fleisch und dafür, dass ›fleischlicher Genuss‹ ins Alltagsleben inkorporiert wird. Andererseits betont er die Aufgabe jedes Menschen, nicht im ›Alltagssumpf‹ stecken zu bleiben, sondern Gottes Ruf zu hören und sich geistig auf den Weg zu machen und emporzugehen. Mit Ausnahme von Melissa sind die Personen, die im Titel der Werke von Kazantzakis vorkommen, Männer (Leben und Wandel des Alexis Zorbas, Kapitän Michalis, Der arme Mann Gottes, Buddha, die Christusromane, das Odysseusepos und so weiter). Frauen spielen immer eine sekundäre Rolle, die jedoch für heroische Männer oft verführerisch sind und daher gefährlich werden, weil sie dadurch in ihrem Aufstieg bedroht werden. Doch lässt sich bei Kazantzakis im Bereich der Genderfrage viel Paradoxales beobachten. Zum einen dienen Frauen in seinen Romanen in der Tat oft dazu, die Sexuallust von Männern zu befriedigen, ohne auf gleicher Ebene mit ihnen Umgang haben zu können. Zum anderen jedoch bewunderte Kazantzakis selbständige Feministinnen und hatte gerne mit ihnen Umgang. Ferner hebt er auf der einen Seite die Aufgabe hervor, Kinder, vor allem Jungen, zu bekommen. Auf der anderen Seite ist er selbst kinderlos geblieben und scheint nicht darunter gelitten zu haben; im Gegenteil, seine Kinderlosigkeit trug zu seiner Freiheit bei, fand er. Und schließlich ist laut seiner wichtigen religiös-philosophischen Schrift Asketik Gott einerseits »Mann und Frau, sterblich und unsterblich, Mist und Geist […] sowohl Liebe als auch Tod«. Andererseits ist in der Asketik klar die Rede von einem »männlichen Gott«.15 Dieser Gott hat viele ›männliche‹ Eigenschaften: mutig und unerschro14 Eleni war selbst eine talentierte Literatin, stellte aber ihre eigene schriftstellerische Tätigkeit meistens zurück, um ihrem Mann als Sekretärin und Typistin seiner Manuskripte zu helfen. Ihre Biographie über ihren Mann ist eine sehr bedeutende Quelle: Kazantzaki, Eleni N.: Νίκος Καζαντζάκης. Ὁ Ἀσυμβίβαστος, Patroklos Stavrou (Hg.), Athen: Ekdoseis Kazantzaki 1975. 15 Vgl. Kazantzakis, Nikos: ’Ασκητική. Salvatores Dei, Athen: Ekdoseis Kazantzaki 2009, S. 68 und 91.

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cken, grausam (wenn es sein muss), immer kämpfend, weder zärtlich, liebenswürdig, noch irdisch. Zudem ringen laut der Asketik in den Eingeweiden zwei Stimmen miteinander: ein Mann und eine Frau. Der emporsteigende Mann will den Tod besiegen, die sitzenbleibende Frau ist in den Gräbern verwurzelt. Interessanterweise fügte unser Autor in der späteren Überarbeitung seiner Schrift hinzu, dass die beiden Stimmen von ihm selbst sind und dass er keine verneint. 16 Ebenfalls erwähnenswert ist, dass er auf seinen Reisen immer eine kleine Marienikone dabei hatte: eine ›ihr Kind festhaltende Gottesmutter‹ (Βρεφοκρατοῦσα), die ihm viel bedeutete. Auf der Rückseite einer Lieblingsikone seiner ersten Frau Galatia hatte er ›Mitreisende‹ (Συνταξιδιώτισσα) geschrieben. Außerdem finden sich in seinem literarischen Werk wunderbare, andachtsvolle und lyrische Gebete zur Gottesmutter Maria, die der Spiritualität und Kreativität von Kazantzakis selbst entsprechen.17

N IETZSCHE Kazantzakis wurde von der Person und dem Werk von Friedrich Nietzsche (1844-1900) sehr angeregt. Unter anderem dessen Auffassungen über die Ethik und Wahrheit – es gibt keine objektive Wahrheit, Vernunft und Moral –, die Verneinung der Existenz eines persönlichen Gottes sowie das ›Umdrehen aller Werte‹ spielen eine prominente Rolle in Kazantzakis’ Werk. Das gilt auch für die poetische Sprache von Nietzsche, im Besonderen in dessen Schrift Also sprach Zarathustra, die Kazantzakis ins Griechische übertrug. Auch übersetzte er Nietzsches Die Geburt der Tragödie, in der der deutsche Philosoph unter anderem zwischen dem dionysischen Rausch und der apollinischen Ordnung unterscheidet und darlegt, dass die Genialität der Tragödie im klassischen Hellas in der gelungenen Kombination dieser beiden Aspekte besteht; diese Unterscheidung kommt auch bei Kazantzakis vor. Der junge Kreter fühlte sich in seiner damaligen Lebensphase mit dessen Persönlichkeit und Gedankenwelt sehr verwandt; in der Schweiz besuchte er 1918 die mit Nietzsche verbundenen Orte und im Juni 1923 dessen frühere Wohnstätte im deutschen Naumburg. Für ihn war Nietzsche der ›Großmärtyrer‹ (ein Ehrentitel der byzantinischen Hagiographie), ein heroischer Lehrer.

16 Vgl. ebd. S. 23-24. 17 Vgl. examplarisch Kazantzakis, Nikos: Συμπόσιο, Athen: Ekdoseis Kazantzaki 1971, S. 61-63; ders.: Ὁ Χριστὸς ξανασταυρώνεται, S. 94.

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Insgesamt ist festzuhalten, dass Nietzsche erheblich dazu beitrug, dass Kazantzakis das intellektuelle und kirchlich-geistliche Establishment seiner Zeit kritisch befragen und dekonstruieren konnte. Dennoch existieren trotz der Tatsache, dass der kretische Autor Nietzsche für seinen großartigen Lehrer hielt, auch bedeutende Unterschiede zwischen beiden Männern. Im Grunde ist Kazantzakis viel konstruktiver und religiöser als Nietzsche. Ersterer wurde in seiner ›Ermordung‹ des traditionellen Gottes zwar vom Letzteren angeregt, aber dieser würde sich in der Theorie der Verwandlung von Materie in Geist und des den Menschen herausfordernden Gottes nicht wiedererkennen.

L ENIN UND G EWALT Der kommunistische Aktivismus, die Oktoberrevolution (1917), die ›Heldenhaftigkeit‹ des russischen Volkes sowie die Persönlichkeit Lenins (1870-1924) beeindruckten Kazantzakis sehr. Er idealisierte Lenin als einen Mann mit großer Tatkraft, einen Helden, der das richtige Denken mit dem Handeln für die gute Sache kombinierte. In seiner Idealisierung von Lenin ging Kazantzakis allerdings so weit, dass er anfänglich die zunehmende Unterdrückung Andersdenkender und die staatliche Anwendung tödlicher Gewalt ihnen gegenüber durch die Sowjetbehörden völlig übersah. Das Ziel – das Zustandebringen einer neuen gerechten Gesellschaft und auf diese Weise die Schaffung und Rettung Gottes – heiligte die Mittel, einschließlich exzessiver Gewaltanwendung. Es fällt auf, wie sehr Kazantzakis in dieser Lebensphase brutalen und grausamen Vorfällen in der Sowjetunion gegenüber gleichgültig und amoralisch bleibt. Später hat er jedoch seine Meinung über die Sowjetunion revidiert. Der spätere Kazantzakis wird an erster Stelle Geistesfreiheit und zwischenmenschliche Solidarität als Voraussetzungen für ein menschenwürdiges Leben hervorheben und unnötiger Gewalt kritisch gegenüberstehen.18

W EITERE G EGENSÄTZE Allerdings gibt es im Gesamtwerk des Kreters einen klaren Gegensatz zwischen einer hohen Ethik und dem Istzustand; zwischen Sollen und Sein; zwischen dem Ideal der Gerechtigkeit und Solidarität und dem ›Naturgesetz‹, dass die Starken

18 Vgl. Lea, James F.: Kazantzakis. The Politics of Salvation, with a Foreword by Helen Kazantzakis, Tuscaloosa, AL: University of Alabama Press 1979, S. 35-60.

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gewinnen und die Schwachen den Kürzeren ziehen und dass dies gut ist; zwischen wahrer Humanität und brutalem Sozialdarwinismus; zwischen warmem Mitleid mit dem konkreten Elend vieler Menschen und kalter Gleichgültigkeit, wenn andere von grausamen Aggressoren überfallen werden.19 Es existieren wilde dionysische Kräfte in den Menschen und das Gute und das Böse koexistieren in ihnen. Deswegen gelangt unser Autor allmählich zu der Überzeugung, dass ein gewisser ›Apollinismus‹ der Vernunft und eine zur Solidarität aufrufende Herzensstimme notwendig sind, um zu einem Gleichgewicht zu kommen. Tatsache ist jedoch, dass Kazantzakis den Kampf – sowohl denjenigen im Inneren des Menschen als auch den in der Außenwelt, einschließlich des Krieges – als notwendig betrachtete, um zur Freiheit zu gelangen, um den Sinn unserer Existenz zu finden und eine neue Welt schaffen zu können. Oder besser gesagt: im Kampf selbst offenbaren sich laut Kazantzakis die Freiheit, der Sinn unseres Daseins und die neue Welt. Obwohl er in vielen seiner Werke Kriege und Vernichtung befürwortete (anscheinend ohne Mitleid zu zeigen), war er selbst paradoxerweise ein friedfertiger und sehr schüchterner Mensch. Der Kampf, über den er fast ständig schrieb, spielte sich vor allem in seinem eigenen Herzen ab. Insbesondere kämpfte er gegen den Tod und die Verwesung und wollte sich nicht vom Hades besiegen lassen. Wie so viele vor ihm strebte auch er Unsterblichkeit und Ewigkeit an. Gleichzeitig war es ihm klar, dass sein und unser aller Lebensboot auf das Sterben hinsteuert. Die beste Lösung schien ihm, wenn der große ›Todfeind‹ sich nicht besiegen ließe, diesem Schicksal unerschrocken, furchtlos in die Augen zu blicken. Fühlte der Kreter sich selbst als ein Übermensch, der alles – im geistlichen, emotionalen und körperlichen Bereich – im Griff hat, auch wenn er behauptet, dass er gar nichts im Griff hat, weil das die Essenz seiner Weltanschauung ist? Schaute er deswegen viele Jahre verachtungsvoll auf angeblich ›unfreie‹ und ›konventionelle‹ Menschen herab? Im Allgemeinen waren sein Orientierungspunkt die Starken, die Aufrechtstehenden, die Gesunden und das ›starke‹ Geschlecht (Männer). Mit der biblischen 19 Warmes Mitleid sieht man bei Kazantzakis beispielsweise, als er während seines Aufenthaltes in Wien und Berlin (1922-1923) das allgegenwärtige soziale Elend wahrnahm, und als Griechenland grausam von den Achsenmächten (Nazideutschland, Italien und Bulgarien) besetzt war (April 1941 bis Oktober 1944) und dann vom Bürgerkrieg zerrissen wurde. Kalt wirkende Indifferenz sieht man bei ihm zum Beispiel in Bezug auf die Gräuel des Regimes in der Sowjetunion der eigenen Bevölkerung gegenüber und als Polen im September 1939 sowohl von der deutschen Wehrmacht als auch von der Roten Armee brutal angegriffen wurde. Er hielt den Aggressionskrieg gegen Polen für ein Märchen, das ihn nicht berührte.

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Mahnung, sich zunächst um ›die Witwen und die Waisen‹, also um die gesellschaftlich Schwachen, zu kümmern, konnte Kazantzakis lange Zeit nichts anfangen.

Z ORBAS Der eher kontemplativ eingestellte Kazantzakis bewunderte Menschen, die vor allem handelten, ohne zuvor viel darüber nachzudenken. Er hatte großen Respekt vor Menschen, wie zum Beispiel vor dem Mazedonier Georgis Zorbas (18671942), die in vollen Zügen, einigermaßen ›verrückt‹ lebten und primär, instinktiv reagierten, ohne sich zunächst zu überlegen, welche Folgen ihr Handeln haben würde; zumindest sah Kazantzakis es so. Er lernte Zorbas Ende 1916 auf Athos kennen, betrieb gemeinsam mit ihm ein Braunkohlebergwerk in der Mani (Südpeloponnes) und nahm ihn auf seine Kaukasusexpedition (1919-1920) mit.20 Zorbas war für ihn ein ›Guru‹ oder ein ›Altvater‹ wie in der orthodoxen monastischen Tradition; für viele traditionell-orthodoxe Zeitgenossen war die Anwendung des kirchlich-spirituellen Titels ›Altvater‹ auf den fröhlichen ›Leichtfuß‹ eine Provokation. Im Roman ist er jedoch nicht nur ein lustiger Typ, sondern hat gewiss auch moralische Standpunkte, die er auf seine eigene Weise in die Praxis umsetzt, ohne viel darüber zu reden, sondern es schlechthin zu tun, wenn nötig unter Gefahr für sein Leben. Tanzend, singend und Santuri spielend am Rande des Abgrunds verkörperte Zorbas für den Autor einen heroischen und fröhlichen Pessimismus. Kazantzakis verewigte ihn in seinem Roman mit dem fast gleichen Namen,21 wobei er selber eher die reflexive, bedachtsame und nach Ordnung und Logik strebende Ich-Person (›den Chef‹) personifizierte. So stellt der Roman eine Dialektik zwischen dem dionysischen Zorbas-Typ und dem apollinischen Chef dar.22 Es ist erwähnenswert, dass Kazantzakis seinen Roman ursprünglich Das Heiligenleben von Zorbas (The Synaxarion of Zorbas) nennen wollte. Das einschlägige griechische Wort Synaxarion bedeutet einerseits eine Sammlung von heroi-

20 Vgl. Stasinakis, Giorgos: Καζαντζάκης – Ζορμπάς: Μια αληθινή φιλία, Athen: Kastaniotis 2017. 21 Vgl. Kazantzakis, Nikos: Βίος καὶ πολιτεία τοῦ Ἀλέξη Ζορμπᾶ, Athen: Ekdoseis Kazantzaki 252010. 22 Vgl. Hokwerda, Hero: »Nawoord van de vertaler«, in: Nikos Kazantzakis, Leven en wandel van Zorbás de Griek, Übers. Hero Hokwerda, Amsterdam: Wereldbibliotheek 2015, S. 351-366.

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schen Heiligenbiografien, wie sie auch der junge Nikos gerne gelesen hatte. Andererseits ist Synaxarion ein liturgisches Buch, in dem die Lebensläufe der im Lauf des Kirchenjahres bedachten Heiligen aufgezeichnet sind, die in Klöstern während des nächtlichen Morgenlobes verlesen werden. Auch der endgültige Titel des Romans zeigt eine gewisse Kontinuität mit der griechisch-orthodoxen Tradition, weil ›Leben und Wandel des/der hl.… ‹ ein üblicher Titel von Heiligenviten ist. Dies zeigt, wie Kazantzakis sich Elemente der kirchlichen Tradition aneignet, ihnen jedoch gleichzeitig eine andere Bedeutung verleiht. Dies ist ein guter Moment, beim monastischen Heldentum zu verweilen.

M ONASTISCHE H ELDEN Kazantzakis kannte die Geschichte der monastischen Spiritualität und der Märtyrerzeit des Frühchristentums gut, sie gab ihm zahlreiche Anregungen. In der alten, sich auf die Wüstenväter beziehenden Literatur, die unser Schriftsteller bereits als Junge verschlungen hatte, spielen Helden, Kampf, martialische Askese, Waffengerassel und Widerstand gegen die bösen Mächte eine primäre Rolle. Beispielsweise das Leben des Antonius, in dem der Autor – Athanasius, Erzbischof von Alexandrien (ca. 295-373) – die auffällige Askese seines Helden, des Mönchsvaters Antonius (ca. 250-356) beschreibt.23 Worum geht es: Letzterer ist ein Musterbeispiel der Askese, des Kampfes gegen das Böse und des kraftvollen Ausharrens. Sehr bildhaft, in kriegsartigen Szenen, wird der Kampf gegen den Antonius belagernden Teufel und seine Gehilfen, die (real existierenden) Dämonen, beschrieben. Die Gnade Gottes verhilft Antonius, der kontinuierlich fastet, inbrünstig betet und andere asketische Übungen verrichtet, zum Sieg. Dazu sind ständige Wachsamkeit und ›Nüchternheit‹ 24 unerlässlich. Allerdings kommt es nicht nur auf solche Heldentaten an, sondern auch ›normale‹ Tugenden, wie

23 Vgl. Athanase d’Alexandrie: Vie d’Antoine, Einf., Übers., krit. Ed. und Komm. Gerhardus J.M. Bartelink (=Sources Chrétiennes, Bd. 400), Paris: Editions du Cerf 1994; Hägg, Tomas: »The Life of St Antony between Biography and Hagiography«, in: Stephanos Efthymiadis (Hg.), The Ashgate Research Companion to Byzantine Hagiography, Bd. I, Periods and Places, Farnham: Ashgate 2011, S. 17-34; Puchiza, Michaela: »Antonius der Einsiedler«, in: Siegmar Döpp/Wilhem Geerlings (Hg.), Lexikon der antiken christlichen Literatur, Freiburg i.B.: Herder 2002, S. 43-44; Heil, Uta: »Athanasius von Alexandrien«, in: Döpp/Geerlings, Lexikon der antiken christlichen Literatur 2002, S. 69-76. 24 Der griechische Begriff νῆψις bedeutet u.a. Mäßigkeit, Wachsamkeit, Konzentration.

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Freundlichkeit, Milde, Frömmigkeit, Freude, innere Ruhe, Demut, das Teilen der Besitztümer mit allen, insbesondere mit den Armen, sowie gewöhnliche Alltagspraktiken, wie ein Kreuzzeichen machen und Psalmenverse sprechen, tragen zum Sieg über den Teufel bei. Laut Athanasius lebt der in der Hl. Schrift und der Askese verwurzelte Antonius das Evangelium und ist daher trotz der Versuchungen und Anfechtungen unantastbar für die bösen Mächte. Aufgrund seines Sieges über den Teufel und die Dämonen war Antonius laut Athanasius in der Lage, andere in ihrem Glauben zu bestärken, Kranke und von Dämonen Besessene zu heilen, Visionen zu haben und in die Zukunft zu sehen. Allerdings ist es nicht nur für Antonius, sondern für jeden asketisch lebenden Menschen, der sein Leben nach der Ordnung Gottes führt und einen tiefen Gottesglauben hat, dank der Gnade Gottes möglich, dass er oder sie die Krone des ewigen Lebens erwirbt und die Dämonen ausschaltet. Im Grunde geht es darum, fromm, enthaltsam und asketisch zu leben und Gott immer und überall dienstbar zu sein. Die Frage, ob die Persönlichkeit von Antonius, wie Athanasius sie schildert, historisch korrekt ist, ist nicht mit Sicherheit zu beantworten, weil es außer dem Buch von Athanasius kaum andere Quellen über Antonius gibt. Natürlich skizziert Athanasius eine Person, die seinen eigenen Wunschvorstellungen entspricht; er beschreibt seinen eigenen Antonius. Das wird besonders klar, wenn Erzbischof Athanasius darlegt, wieviel Respekt der einfache und angeblich ungebildete Mönch Antonius für Bischöfe, Priester und Diakone hegt, wie er sich für die kirchliche Hierarchie erniedrigt, und auch, wenn der Autor wiederholt sagt, wie sehr Antonius die Ketzereien der Arianer und der Meletianer verabscheut – genau jene Ketzereien, mit denen Athanasius sich selbst so schwertat und die er heftig bekämpfte. Das Leben des Antonius, das kurz nach dem Tod des berühmten Einsiedlers verfasst und bald ins Lateinische und in andere Sprachen übertragen wurde, erfreute sich einer großen Popularität und wurde zum Modell für zahlreiche spätere Heiligenbiografien. Es hat die Spiritualität und bildende Kunst sowohl des ostkirchlichen als auch des westkirchlichen Christentums sehr beeinflusst. Kazantzakis hat es sicher gekannt und gelesen; wie ich vermute, hat es ihn tief beeindruckt. Auch wenn er die Begriffe von Askese, Gott und Teufel mit einem anderen Inhalt füllte, ist ihm die Betonung von Kampf, Einsatz, Verfügbarkeit Gott gegenüber und Opferbereitschaft immer geblieben. Wachsamkeit, Selbsterkenntnis, Durchhaltevermögen, Kampf, ›Nüchternheit‹, längeres Schweigen und die Rettung der Seele sind auch für ihn fundamentale Kategorien und dem monastischen Widerstand gegen die ‚›Lustlosigkeit‹ beziehungsweise‚ ›Verzagt-

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heit‹ (ἀκηδία) ist unser Autor, der sein Leben lang gegen Mattigkeit kämpft, sehr zugetan.

K AZANTZAKIS UND ASKESE Zum einen ist Kazantzakis also tief vom monastischen Heldentum beeinflusst, zum anderen füllt er seine Askese und seinen mystischen Marsch mit einem anderen Inhalt. Er fand das traditionelle monastische Leben mit Zölibat und Vermeidung des anderen Geschlechtes, mit Gehorsamsgelübde und Betonung von Gebet, Fasten, Einsamkeit und gelegentlicher Selbstkasteiung versteinert und überholt. Seiner Meinung nach sollte man nicht gegen fleischliche Begierden kämpfen, sondern sie inkorporieren. Der Genuss von Speisen, Tanz und Sex stellten keine Sünden, sondern das Leben selbst dar. Die echten Sünden sind Erschlaffung, Konformismus, Selbstzufriedenheit und Selbstgefälligkeit, und vor allem das Überhören des ›Schreis‹ im Herzen und sein Leben nicht in den Dienst Gottes und der Wandlung der Materie zu stellen. Wahrhafte ›Asketen‹ sind alle, die sich aktiv und furchtlos für die Zukunft der Menschheit einsetzen. Laut Kazantzakis ist das Wesen Gottes Kampf und Freiheit. Unsere Existenz besteht daraus, dass wir ständig Schlachten führen müssen, um frei werden zu können. Religion darf nicht versklaven und die Gläubigen einem ›Herrgott‹ unterwerfen, sondern soll sie freimachen und auf Augenhöhe mit der Gottheit versetzen. Darum ist die kirchliche Hierarchie von Bischöfen und Priestern im Grunde überflüssig. Man braucht sie nicht, um ›Gnade‹ zu vermitteln, weil jeder Mensch, der sich für die Verwandlung der Materie in Geist einsetzt, einen hohepriesterlichen Dienst verrichtet. Im Alltagsleben suchte Kazantzakis wie ein Anachoret oder Einsiedler oft die Einsamkeit und in einigen Lebensphasen lebte und arbeitete er von der Außenwelt völlig zurückgezogen. Im Allgemeinen lebte er – was Ernährung, Zimmertemperatur und Schlafbedürfnis betrifft – äußerst asketisch. Er war ein ›harter Knochen‹ sich selbst gegenüber, verfügte zwar über eine schier grenzenlose Energie, ging aber auch an seine Grenzen und war häufig erschöpft. Auch in dieser Hinsicht ähnelt er den monastischen Altvätern und -müttern in der Wüste, für die kontinuierliches Gebet und Psalmenrezitation sowie lange Vigilien, bis zur Erschöpfung, einen hohen Stellenwert einnahmen. Wie sie kämpfte auch Kazantzakis, auch wenn er sein geistiges Ringen mit einem anderen Inhalt füllte. Auf seine eigene Weise war er also selber eine Art Mönch. Jedenfalls war er ein Einzelgänger und ein Outsider, der trotz seiner gelegentlichen Versuche, an der angeblich ›normalen‹ Welt teilzunehmen, im Grunde außerhalb von ihr

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stand. Wie die christlichen Anachoreten und Anachoretinnen wählte er eine radikale Lebensweise. Er suchte nur das Absolute, sein Hauptinteresse galt der ›echten und reinen Wahrheit‹. Man könnte sagen, dass sein Œuvre sowohl eine asketische als auch eine autobiografische Wahrheitssuche darstellt. Sein Gesamtwerk lässt sich wie ein Reisebericht, eine ›Beichte‹, eine Rechenschaft lesen. Oder noch anders gesagt: als eine Odyssee, ein Nach-Ithaka-unterwegs-Sein – Kazantzakis hatte Konstantinos Kavafis (1863-1933) in Alexandrien kennengelernt und er kannte auch dessen berühmtes Gedicht Ithaka25– und ein Wiedervon-Ithaka-in-blaue-Fernen-Ziehen. Trotz seiner asketischen Orientierung war Kazantzakis jedoch kein Lebensverneiner. Er war ein lebensfroher Asket (keine contradictio in terminis!), der sich selbst nicht nur einem enormen Arbeitspensum unterwarf, sondern auch die Natur und das Leben sehr genoss. Er lachte viel und erzählte gerne Anekdoten und Witze. Auch wenn er nicht viel aß, genoss er Obst und leckere Speisen. Er rauchte in seiner Pfeife gerne Tabak und auch Haschisch war er nicht abgeneigt. Er schwamm sehr gerne im Meer, hatte eine Vorliebe für Museen, Ausstellungen, Konzerte und exotische bildende Kunst und genoss es, hübsche Frauen zu sehen.

E L G RECO Eine Spezialgestalt für unseren Autor, seine ›Richtschnur‹, war sein Mitkreter Dominikos Theotokopoulos (ca. 1541-1614), der international als ›der Grieche‹, El Greco – eine Kontamination des italienischen Il Greco und des spanischen El Griego –, bekannt ist. In seinem ›Landsmann‹ El Greco erkannte er einen kretischen Schicksalsgefährten, der auf seine eigene Weise den emporgehenden Weg gefunden hatte. Seiner Meinung nach war auch El Greco authentisch damit beschäftigt, die Materie in Geist zu verwandeln, Körper zu beseelen und das Unsichtbare sichtbar zu machen. Kazantzakis dachte oft über ihn nach, träumte sogar von ihm.26 Er war davon überzeugt, dass wie er selbst auch El Greco ›arabi-

25 Vgl. Kavafis, Konstantinos P.: Ποιήματα, Athen: Ekdoseis Kanellopoulou 31984, S. 60-61. 26 Siehe z.B. Τετρακόσια γράμματα τοῦ Καζαντζάκη στὸν Πρεβελάκη, Prevelakis (1984), S. 169-171, S. 184, S. 186 (Anm. 7), S. 286, S. 343; The Selected Letters of Nikos Kazantzakis, Bien (2012), S. 365-368, S. 377, S. 414, S. 433. Siehe auch Tzermias, Pavlos: Der Kreter Dominikos Theotokopoulos genannt El Greco. Ein unbekannter Berühmter (=Sedones, Bd. 17), Mähringen: Dr. Thomas Balistier 2012.

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sches Blut‹ in den Venen hatte und daher so gut nach Spanien passte. (Sowohl Kreta als auch Spanien waren eine Zeit lang in Händen arabischer Eroberer.) Er verfasste ein Lexikonlemma über ihn und widmete ihm ein aus Terzinen bestehendes canto.27 Die Begegnung mit den Gemälden seines ›Vorgängers‹ El Greco in Madrid und Toledo bewegte ihn tief.28 In seinem Spanienreisebuch beschreibt er ihn als einen Künstler, der die dunkle Materie in helles Licht verwandelte und sie so erlöste.29 Daher betrachtete er seine geistliche und romantisierte Autobiografie, die er in seinen letzten Lebensjahren verfasste, als eine ›Beichte‹ und Verantwortung vor dem Senior, dem ›Großvater‹ und ›Ahnherrn‹ El Greco, dem er wie ein Soldat dem General gegenüber berichtete, wie er in seinem Leben gekämpft hatte. Im Vorwort sowie im Nachwort der Rechenschaft vor El Greco spricht er den ›Großvater‹ direkt an: Er schildert seinen großen Respekt für dessen Lebensleistung und es gibt einen bildhaften Dialog über den Auftrag des Menschen, die Seele, Licht und Feuer, Gott und Lucifer. 30

Z UM S CHLUSS Einerseits wurde Kazantzakis’ literarisches Werk weltweit von vielen sehr bewundert. Anderseits wurden in Griechenland selbst, obwohl seine Bücher auch dort viel gelesen wurden, seine spirituelle Suche und sein Anliegen, die eigene Seele, den Menschen, die Welt und Gott zu retten, wiederholt kritisiert, und zwar sowohl von ›links‹ als auch von ›rechts‹. Die Verleumdungskampagnen, die in Griechenland namentlich von einigen nationalistischen und rechten sowie von traditionalistischen kirchlichen Kreisen gegen den angeblich ›kommunistischen‹, ›häretischen‹ und ›atheistischen‹ Kazantzakis geführt wurden und die auch in einigen anderen Ländern einen Nährboden fanden, erklären wahrscheinlich die Tatsache, dass der berühmte kretische Schriftsteller nie den Literaturnobelpreis erhielt. Mitte der 1950er Jahre schien er mehrmals der wichtigste Kandidat für den Nobelpreis zu sein. Trotzdem entging ihm diese Auszeichnung knapp. Die

27 Vgl. N. Kazantzakis: Τερτσίνες, S. 123-129. 28 In dieser Hinsicht ähnelt Kazantzakis dem österreichischen Dichter Rainer Maria Rilke (1875-1926), mit dessen Lyrik er vertraut war. Rilke besuchte Ende 1912 Toledo, um El Grecos Werk zu sehen. 29 Vgl. N. Kazantzakis: Ταξιδεύοντας. Ἱσπανία, S. 82-95. Siehe auch S. 155, S. 162-185, S. 202-215 (über Toledo während des Bürgerkrieges, die enormen Zerstörungen und Kazantzakis’ diesbezügliche positive Meinung). 30 Vgl. N. Kazantzakis: Ἀναφορά στὸν Γκρέκο, S. 22-24, S. 488-506.

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Denunzierungen seiner Person und seines Werkes durch griechische Regierungskreise und andere verfehlten damals ihre Wirkung nicht.31 Allerdings wurde er in Hellas auch von ›links‹ an den Pranger gestellt und die griechischen Kommunisten hielten ihn für einen ›abgehobenen Bourgeois‹. Interessant ist das Urteil von Elli Alexiou (1894-1988); sie war die Schwester der ersten Gattin von Nikos, Galatia Kazantzaki (geb. Alexiou, 1881-1962). Ihre Biografie über den ehemaligen Schwager ist sowohl von Bewunderung und Sympathie für ihn als auch von kritischen Beobachtungen über seinen Charakter gekennzeichnet. Unter anderem bemerkt sie, dass er immer der Beste sein und die höchsten Gipfel besteigen wollte. Daher übersah er oft, dass andere Menschen nicht mit seinem Tempo mithalten konnten. Ihrer Meinung nach war er einerseits ein Superindividualist und Egozentriker, andererseits konnte er nur so sein enormes Talent entfalten und es schaffen, in den kleinen Kreis der weltweit wirklich großartigen Literaten aufzusteigen.32 Heuzutage wird Kazantzakis weltweit noch immer viel gelesen und studiert. Die Oper The Greek Passion, die auf dem ›Flüchtingsroman‹ Christus wird wiederum gekreuzigt basiert, wurde 2016 mit großem Erfolg an der Grazer Oper aufgeführt. Der eindrucksvolle literarische Stil und die Gesamtschau unseres Autors könnten heute noch den Lesern und Leserinnen zahlreiche Anregungen bieten, auch wenn man auch manche Einseitigkeiten – unter anderem hinsichtlich der Genderfrage und der Rolle der Gewalt – mit in Kauf nehmen muss. Jedenfalls könnte Kazantzakis’ Œuvre dazu anregen, – wie mancher Protagonist seiner Romane – am Rand des Abgrundes vital und unerschrocken aus voller Brust zu singen, so den Abgrund quasi ›exorzistisch‹ zu beschwören und sich für die jeweilige ›Gralssuche‹ in Bewegung zu setzen.33

31 Vgl. Arkoudeas, Kostas: Το χαμένο Νόμπελ. Μια αληθηνή ιστορία, Athen: Kastaniotis 2015. 32 Vgl. Alexiou, Elli: Γιά νά γίνει μεγάλος. Βιογραφία τοῦ Νίκου Καζαντζάκη, Athen: Kastaniotis 31981. Sehr negativ über ihren ehemaligen Mann ist Kazantzaki, Galatia: Ἄνθρωποι καὶ Ὑπεράνθρωποι. Μυθιστόρημα, Athen: Kastaniotis 2007. 33 Siehe auch Bien, Peter/Fleming, Katherine (Hg.), Why Read Kazantzakis in the Twenty-first Century?, Supplement der Zeitschrift Journal of Modern Greek Studies 28 (2010) 1, S. 1-281.

Heroes Der Westernheld und seine (Re-)Inkarnationen K LAUS R IESER »Wenigen steigt so stark der Andrang des Handelns, daß sie schon anstehn und glühn in der Fülle des Herzens, wenn die Verführung zum Blühn wie gelinderte Nachtluft ihnen die Jugend des Munds, ihnen die Lider berührt: Helden vielleicht und den frühe Hinüberbestimmten, denen der gärtnernde Tod anders die Adern verbiegt. Diese stürzen dahin: dem eigenen Lächeln sind sie voran, wie das Rossegespann in den milden muldigen Bildern von Karnak dem siegenden König. Wunderlich nah ist der Held doch den jugendlich Toten. Dauern ficht ihn nicht an. Sein Aufgang ist Dasein; beständig nimmt er sich fort und tritt ins veränderte Sternbild seiner steten Gefahr.« RAINER MARIA RILKE1

M ÄNNLICHKEITEN UND I DENTITÄTEN Den Helden gibt es nicht, wohl aber einen Heldendiskurs, das heißt eine Verdichtung von Vorstellungen, Ideen, Bildern des Heldischen. Die daraus resultierende Figur ist notwendigerweise vielschichtig und historisch kontingent. Daher

1

Rilke, Rainer Maria: »Elegie VI« Duineser Elegien (1923), Hg. Joseph KiermeierDebre, Orig.-Ausg., Nachdr. München: dtv 1997.

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hat sich auch das Konzept des männlichen Helden2 im Laufe der Zeit verändert: Die Palette an Heldentypen reicht vom tragischen Helden bei Aristoteles – einem herausragenden Menschen, der seine Tragödie jedoch mitverschuldet und dessen Einsicht in sein Tun unser Mitleid erweckt 3 –, über den ausschließlich und unbestechlich auf seine innere Stimme vertrauenden Helden wie bei Ralph Waldo Emerson, bis hin zu anti- und post-Helden. Vielfach wird diese historische Wandlung auch im Sinne einer zunehmenden Variabilität der Heldenfigur interpretiert: Neben den legendären tragischen Figuren tummeln sich outsiders, outlaws, Minderheiten-Ikonen und auch Frauen auf dem Heldenplatz. Es wurde auch argumentiert, dass sich das amerikanische – im Unterschied zum antiken – Heldentum, weg vom aristokratischen hin zu einem demokratischen Modell orientiert hat.4 Der Typus des männlichen Westernhelden, der hier besprochen werden soll, ist also einer von vielen und auch selbst nicht uniform. Historisch betrachtet, erreicht er seinen vorläufigen Zenit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts; seine Wirkung strahlt von den USA weit in den durch sie beeinflussten Kulturkreis. Dieser Heldentypus hat, das ist sein besonderes Merkmal, eine ikonische Formierung erfahren: Die bloße Nennung des Westernhelden evoziert in der Regel Bilder und Figuren, die eine gewisse Kohärenz und insbesonders einen hohen Popularitätswert aufweisen: John Wayne in The Searchers, Gary Cooper in High Noon, Clint Eastwood in der Dollars Trilogy. Dennoch hat die Figur auch Flexibilisierung, sowohl in der Überwindung von Genregrenzen als auch von nationalen Kinematographien, erlebt, besonders hin zu Action- und SciFi-Genres (Terminator, Firefly) aber auch zu Euro-Western (Italowestern) und asiatischen Martial Arts-Filmen (The Killer, Duel to the Death). Auf Basis meiner Analysen zur Männlichkeit und Ikonizität würde ich den massenmedialen Idealtyp des Helden folgendermaßen skizzieren:5 Zentral ist die Markierung des Helden als männlich, vorwiegend durch ikonische Grundannahmen wie eine raumgreifende 2

Im Regelfall wurde historisch, und – leider – bis heute vorwiegend von einem männli-

3

Aristoteles: Poetik, Hg. Manfred Fuhrmann, Stuttgart: Reclam 1994, S. 39.

4

Vgl. Tanrisever, Ahu: Fathers, Warriors, and Vigilantes. Post-Heroism and the US

5

In Anlehnung an das von Kimberlé Crenshaw geprägte Konzept der Intersektionalität

chen Helden ausgegangen.

Cultural Imaginary in the Twenty-First Century, Heidelberg: Winter 2016, S. 8-10. ist der Held durch die Kombination von Geschlecht, nationaler Zugehörigkeit, sozialem Status und Herkunft multipel konstruiert. Crenshaw, Kimberlé: »Demarginalizing the intersection of race and sex: a Black feminist critique of antidiscrimination doctrine, feminist theory and antiracist politics«, in: University of Chicago Legal Forum 1989, S. 139-168.

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Physis und den korrespondierenden Habitus. Der Held ist im Regelfall auch weiß – zwar gibt es eine gewisse Proliferation von andersethnischen Helden, selbst diese werden aber zu einem Heldtypus in Beziehung gesetzt, der Normativität signalisiert. Des weiteren ist dem Kern des Heldenmythos amerikanischer Prägung ein Rassendiskurs aus dem frontier myth6 eingeschrieben. Der Held ist meist besitzlos, gehört dem Subproletariat an oder ist als outlaw gar jenseits der regulären Klassensystematik. Jedenfalls ist er häufig ein einsamer/selbstbestimmter loner,7 der überdies oft von einer traumatischen Vergangenheit gezeichnet ist. Üblicherweise hat er seinen eigenen Moralkodex, der sich vom vorherrschenden Sittenbild abgrenzt. Manchmal ist er auch eine asozialeamoralische Person, die sich – wie Saulus zu Paulus – zum Guten/Gerechten wandelt. Bezüglich anderer Parameter ist der Held wesentlich ambivalenter gestaltet. So ist er zwar generell heterosexuell, aber bindungslos und häufig auch mit homosozialen, wenn nicht homosexuellen Aspekten ausgestattet. Zumeist wird er in Männergemeinschaften verortet oder verfügt über einen männlichen buddy beziehungsweise sidekick. Körperlich ist er meist rigid, muskulös, dominant, »gepanzert«, und versteht sich darauf, sich mit Hilfe von Waffen durchzusetzen. Allerdings ist er typischerweise durch eine Verletzung eingeschränkt, die er schon mitbringt oder sich im Laufe der Narration zuzieht. Ein zentraler Aspekt besteht darin, dass er keine Zugehörigkeit zu stabilen Gemeinschaften aufbaut. Vielmehr ist er räumlich und sozial mobil. Auffallend häufig ist auch die Variante, dass der Held sich zwar schon niedergelassen hat, durch einen Schicksalsschlag oder neue Herausforderungen jedoch wieder in Bewegung gesetzt wird, um seinen rastlosen, quasi-nomadischen Lebensstil wieder aufzunehmen. Die in der Erzählung dargestellte Mobilität wird also explizit in Kontrast zu gesellschaftlicher Stasis gesetzt. Schließlich ist der Held weniger durch Spezifika markiert, vielmehr ist seine jeweilige Ausprägung relational. Denn er wird durch Differenz markiert: Differenz zur Gesellschaft, zum anderen Geschlecht, und be6

Im klassischen frontier myth steht der weiße Mann, der in die Wildnis aufbricht, als Interimsfigur, als Vermittler, abgegrenzt einerseits von der weißen Frau, die für die Zivilisation, andererseits vom Eingeborenen (»Indianer«), der für die Natur steht. Damit wird er Vermittler zwischen Natur und (amerikanischer) Kultur. Dabei impliziert ist ein nationaler Diskurs (u.a. Abgrenzung von Europa), ein Genderdiskurs (Remaskulinisierung der Zivilisation) und ein Rassendiskurs (z.B. Ureinwohner als dem Untergang geweihte Rasse – vanishing race).

7

Vgl. Rieser, Klaus: »Die Einsamkeit des Westernhelden«, in: Elisabeth KatschnigFasch et al. (Hg.), Einsamkeiten. Orte, Verhältnisse, Erfahrungen, Figuren, Wien: Turia & Kant 2001, S. 239-253.

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sonders zu den Antagonisten, die nicht selten Doppelgänger-Funktionen haben und negative Eigenschaften des Helden spiegeln, beziehungsweise eine Projektion derselben darstellen. Diese Aufzählung weithin bekannter Aspekte zeigt auf, dass die Figur zwar klar rezipierbar ist, aber zugleich ambivalent bleibt. Während bestimmte soziale Marker wie Hautfarbe, Klasse und soziales Geschlecht (weiß, sub-/proletarisch, männlich) in der Regel konstant bleiben, ist der Westernheld in anderen Aspekten wie Macht vs. Ohnmacht, Virilität vs. Vulnerabilität, Sozialität vs. Asozialität höchst zwiespältig: Diese Mehrdeutigkeit ist charakteristisch für ikonische Figuren8; ohne sie wäre die Figur narrativ vergleichsweise reizlos und hätte sich kaum über längere Zeiträume und unterschiedliche textuelle und kulturelle Grenzen erhalten können. Dennoch wird diese grundsätzliche Ambivalenz – auch in akademischen Arbeiten – oft übersehen: Es wird dann gerne angenommen, dass die Widersprüchlichkeit erst in jüngster Zeit entstanden sei, während frühere Exemplare homogener (»klassischer«) gewesen seien. So meint etwa Ahu Tanrisever in einem der rezentesten Texte zum US-amerikanischen Heldenmythos, Fathers, Warriors, And Vigilantes, im einundzwanzigsten Jahrhundert eine post-heroische Zeit auszumachen. Tanrisever zufolge habe das post9/11 Zeitalter literarische und filmische Texte hervorgebracht, welche durch ein höheres Maß an Selbstreflexivität und komplexe und kritische Repräsentationen von männlichem Heldentum charakterisiert seien.9 Wesenhaft für die von ihm als »post-heroes« bezeichneten Figuren sei überdies eine ausgeprägte (körperliche) Verletzlichkeit und deren Unfähigkeit, ihre »Mission« vollständig zu erfüllen, sodass ihnen ein happy ending verweigert wird, das angeblich den mainstream der Heldenmission charakterisiert. 10 Tanrisever versucht also, die »post-heroes« von früheren Phänotypen, inklusive den Anti-Helden des späten 20. Jahrhunderts abzugrenzen. Die von ihm angeführten Parameter – Selbstreflexivität, komplexe und kritische Repräsentation von Heldentum, (körperliche) Vulnerabilität des Helden, ambivalentes bis tragisches Finale – sind jedoch meiner Meinung nach charakteristisch, ja nachgerade prägend, auch für frühere Repräsentationen des Heldentums. 8

Vgl. Rieser, Klaus: »Preface: Icons as a Discursive Practice«, in: Walter W. Hölbling

9

A. Tanrisever: Fathers, S. 6.

et al. (Hg.), US Icons and Iconicity, Münster: LIT Verlag 2006, S. 7-16. 10 »Aside from these markedly ambivalent ends of the respective narratives, which diverge from the mainstream heroic quest’s staple happy ending, the notion of failure, that means of not living up to an abstract notion of coherent and omnipotent heroism, also infonns a second level of signification, as post-heroes embody a pronounced notion of (corporeal) vulnerability.« Ebd., S. 12.

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Tatsächlich ist die Figur des Westernhelden und seiner »Nachfolger« (der Held selbst ist ohne Nachkommen!11) per se komplex. Darin entspricht er der Funktionsweise von Hegemonialität, die, wie Gramsci und eine auf seinen Ideen aufbauende Diskursgemeinschaft dargelegt haben, selbst prozedural und vielschichtig ist.12 Diesem Verständnis von Herrschaft zufolge werden die Machtverhältnisse keineswegs nur von einigen wenigen Superprivilegierten, die möglichst alle Machtparameter erfüllen, nämlich männlich, weiß, heterosexuell, gebildet, wohlhabend, im besten Alter, ohne Behinderung, u.a., produziert und erhalten, sondern sie werden »komplizenhaft«13 von durchaus marginalisierten oder unterdrückten Gruppen mitgetragen. Dementsprechend wird dem Publikum von massenmedialen Heldentexten nicht ein strahlender, überlegener Held vorgesetzt, sondern ein gebrochenes Subjekt, ein common man, oder sogar ein underdog. Das hat sowohl textuelle Gründe – ein purer, positiver Held ist eine schlechte Basis für eine Erzählung – als auch spannende ideologische Effekte – common men und underdogs bieten als Helden mehr Identifikationspotential und verschleiern tatsächliche Machtverhältnisse. Die Moral, die Stärke, letztlich die gesamte Identität des Westernhelden ist gleichzeitig nur in der Differenz zu gesellschaftlichen Normen und Gebräuchen verständlich: etwa die Sprachlosigkeit des Helden, sein Wille zur Macht (oder dessen Abwesenheit), die nicht als absoluter Wert, sondern als Gegenentwurf zu lesen sind.14 Der Westernheld verkörpert demnach typischerweise sowohl ein hegemoniales Modell, das sich normativ in punkto Geschlecht, Gender, Nationalität, rassischer Zuordnung darstellt, als auch ein Gegenmodell. Diese Ambiguität erklärt, warum die Figur so unterschiedlich interpretiert und rezipiert wird. Die verschiedenen Zugänge können trotz ihrer Widersprüchlichkeit Gültigkeit haben. So haben die feministische Filmtheorie und die sich darauf beziehende Männlichkeitsforschung, ausgehend von der Macht des filmischen »Apparats« und des 11 Dass der Held selbst keine Nachkommen, sondern nur Nachfolger hat ist mehreren Faktoren geschuldet, beziehungsweise ist für verschiedene Funktionsweisen nützlich: So ist er, wie oben angedeutet, als Interimsfigur nicht in die normalen gesellschaftlichen Prozesse, wie nachgerade die Reproduktion, eingebunden. Damit wahrt er auch Distanz zu den weiblich konnotierten Sphären von Heim, Familie, Elternschaft. Und schließlich streicht dies seine Einzigartigkeit gegenüber »normalen« Gesellschaftsmitgliedern hervor. 12 Zum Hegemoniekonzept vgl. Ernesto Laclau/Chantal Mouffe: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien: Passagen Verlag 2000. 13 Vgl. Connell, R. W.: Masculinities. Berkeley: University of California 1995. 14 Vgl. Rieser, Klaus: Borderlines and Passages. Liminal Masculinities in Film, Essen: Die Blaue Eule 2006.

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herrschenden Genderdiskurses, durchaus überzeugend dargelegt, wie der männliche Westernheld als normatives Modell wirksam werden kann. Lee Mitchell spricht vom Westernhelden als »the unfractured, undistorted, fully coherent male body, which the Western celebrates in the phallic image of a man on horseback, sitting high above the ground, upright and superior, gazing down at a world whose gaze he in turn solicits.«15

Cultural Studies-Forschungen, welche die agency der Rezipient_innen, ausgedrückt unter anderem in deren verschiedenen Lese- und Appropriationsstrategien, in den Vordergrund stellen, betonen hingegen eher die anti-hegemonialen Aspekte der Figur. So schlussfolgert etwa Doug Williams auf Basis seiner Analysen: »The pure type of the Western hero, like Pentheus, is torn, damaged, a castrated hero, denied progeny. He is pathfinder, not patriarch, a sacrifice, like Moses or Jesus, by which the world becomes transformed«16.

Laura Mulvey hat schon in den 1970er Jahren versucht, diese Widersprüchlichkeit einer Synthese zuzuführen: »Here two functions emerge, one celebrating integration into society through marriage, and the other celebrating resistance to social standards and responsibilities, above all those of marriage and the family, the sphere represented by women«.17

Sie liest die A-sozialität und den niedrigen gesellschaftlichen Rang des Westernhelden gleichzeitig als hegemoniales Projekt. Wie die nachfolgenden Jahre an Filmanalyse gezeigt haben, ist damit in den Augen vieler die Widersprüchlichkeit nicht ausreichend erklärt worden. Es stellt sich vielmehr die Frage, ob diese überhaupt befriedigend aufgelöst werden kann. Für das akademische Feld der kulturwissenschaftlichen Textwissenschaft ergibt sich also ein Spannungsfeld 15 Mitchell, Lee Clark: Westerns. Making the Man in Fiction and Film, Chicago: U of Chicago P 1996, S. 167. 16 Williams, Doug: »Pilgrims and the Promised Land. A Genealogy of the Western«, in Jim Kites/Gregg Rickman (hg.), The Western Reader, New York: Limelight Editions 1998, S. 97. 17 Mulvey, Laura: »Afterthoughts on ›Visual Pleasure and Narrative Cinema‹. Inspired by King Vidor’s Duel in the Sun (1946)«, in: Visual and Other Pleasures. Language, Discourse, Society, London: Palgrave Macmillan 1989, S. 73.

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zwischen verschiedenen Zugängen. So rückt die filmwissenschaftliche Apparatustheorie die Macht des Textes und dessen ideologische Funktion in den Vordergrund, Ansätze der Cultural Studies betonen eher die agency der Rezipient_innen wie sie sich in deren Lese- und Aneignungsprozessen ausdrückt, textwissenschafte Zugänge betonen oft die Offenheit und Widersprüchlichkeit des Textes, und amerikanistische Arbeiten fokussieren u.a. auf nationale Mythen und deren Transformationen. Wiewohl die Widersprüche sich nicht leicht im Sinne einer Synthese auflösen lassen, können sie wohl je nach Fragestellung zusammengeführt werden. So werden etwa gerade in der Offenheit und Gebrochenheit der Westerntexte und der Westernhelden deren sozial hegemoniale Wirkweise erfüllt: Diese schaffen jene Brücken, über die das Publikum mit der hegemonialen Konstruktion von Heldenmännlichkeit, Nationalmythos, etc. identifizieren kann. Hierbei dient die Gebrochenheit nicht zuletzt dazu, die hegemonialen Aspekte zu verschleiern, denn der typische Westernheld verfügt eben auch genau über diejenigen Parameter, die ihm am Ende der Geschichte einen Platz in den oberen Rängen der hegemonialen Ordnung ermöglichen. Umgekehrt eröffnet die Gebrochenheit des Helden jedoch auch die Möglichkeit zur Kritik und zur Transformation hegemonialer Aspekte. Diese Widersprüchlichkeit hat sich in jüngerer Zeit unter anderem an weiblichen Action-Charakteren gezeigt. Diese stellen einerseits eine Transformation, andererseits eine Perpetuierung des männlich konnotierten Heldentums dar. Einerseits stellen sie qua ihres Geschlechts die historische Konzeption in Frage, andererseits werden damit Frauen eingeladen sich in gerade diese einzuschreiben, etwa durch Vermeidung des »Häuslichen«.18 Den Paradoxien des Westernhelden können wir uns auch nähern, wenn wir ihn als liminale Figur verstehen. Als solche ist der Held auch in Marginalität und Gebrochenheit noch hegemonial wirksam. In einer erfolgreichen textuellen Ausformung überbrückt die Figur damit ihre inneren Widersprüche ebenso wie jene der gesellschaftlichen Aspekte, welche sie für das Publikum durcharbeitet. Ein neueres Beispiel ist etwa American Sniper (2014) unter der Regie von Westernheld-Großmeister Clint Eastwood. Dieser beim Publikum hocherfolgreiche Film basiert auf der Autobiografie von Chris Kyle, einem Scharfschützen der Navy SEALs, der in seinen Einsätzen im Irak mehr als 160 bestätigte Tötungen erzielte. Nach seiner Karriere wurde er von einem, unter posttraumatischem Syndrom leidenden Veteranen erschossen. In Eastwoods Film wird Chris Kyle als vaterländischer Held gezeichnet, der aber seiner Rolle als Ehemann und Vater auf 18 Vgl. Rieser, Susanne: »Geschlecht als Special Effekt«, in: Johanna Dorer/Brigitte Geiger (Hg.), Feministische Kommunikations- und Medienwissenschaft, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2002, S. 320-334.

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Grund seiner Erfahrungen nicht mehr gerecht werden kann. Dementsprechend sieht ein Teil der Kritik den Film als Anti-Kriegsfilm, in dem ein Held seine Kriegserlebnisse nicht verarbeiten kann und somit scheitert, während andere im Film eine eindeutige Othering-Strategie erkennen: dem amerikanischen Helden stehen eine anonyme ethnische, als »Wilde« titulierte Bevölkerung sowie ein monströser, für den Film frei erfundener Antagonist gegenüber. Der Kreis, in welchem der leidende Held zerbricht und zugleich eine hegemoniale Konstruktion unterstützt, wird hier wieder geschlossen.19

T EXT UND I NKARNATION Noch komplexer wird es, wenn wir uns den Inkarnationen (In-Fleisch-Setzungen) des Heldenmythos, also realen Praktiken von sozialen Akteur _innen die auf den medialen Helden rekurrieren, zuwenden. Die Bild-Texte, die Heldenikonen konstituieren, sind variantenreich und auch in sich ambivalent. Was geschieht jedoch, wenn reale Menschen diese Text-Bilddiskurse nicht nur rezipieren, sondern ausleben möchten? Entsprechend der Habitus-Theorie von Pierre Bourdieu können wir den Körper und dessen Erfahrungen auf Basis von inkorporierten, inkarnierten Schemata verstehen, die naturalisiert, das heißt als »natürlich« erlebt werden und sich in der sozialen Praxis entfalten können. »Der Habitus als strukturierende und strukturierte Struktur aktiviert in den Praktiken und im Denken praktische Schemata, die aus der – über den Sozialisationsprozess ontogenetisch vermittelten – Inkorporierung von sozialen Strukturen hervorgegangen sind, die sich ihrerseits in der historischen Arbeit vieler Generationen […] gebildet haben.«20

Wenn wir nun die oben erwähnte Ambiguität, die für die Repräsentation gilt, auch für das soziale Agieren postulieren, dann rückt in diesem Agieren eine affektive Realität in den Vordergrund. Dies wird etwa in dem autoethnographisch

19 Stellvertretend für positive Rezensionen sei hier genannt: Brody, Richard: »›American Sniper‹ Takes Apart the Myth of the American Warrior«, in: The New Yorker vom 24. Dezember 2014. Für die Vielzahl an kritischen Rezensionen mag stehen: Beauchamp, Zack: »American Sniper is a Dishonest Whitewash of the Iraq War«, in: Vox.com vom 21. Jänner 2015. 20 Bourdieu, Pierre/Wacquant, Loïc J. D.: Reflexive Anthropologie‚ Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S. 173.

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gefärbten Text von Michael Bittner (in diesem Band21) deutlich. Bittner reflektiert darin das Motorradfahren im Kontext der Mythen der Marke Harley Davidson, ihrer Gruppenrituale und dem tatsächlichen Fahrerlebnis. Als Themenschwerpunkt hat er ein Treffen der Harley Fans im österreichischen Faak im Sommer 2016 gewählt. Das von Bittner umrissene Feld erweist sich als empirisches Konglomerat, dessen Einzelaspekte verschiedene kulturwissenschaftliche Paradigmen der jüngeren und älteren Zeit berühren: So haben die Body Studies die Einschreibung von Diskursen in den Körper nachverfolgt, gleichzeitig aber auch betont, dass sich der Körper und seine Affekte letztlich mit textwissenschaftlichen oder anderen Methoden nicht vollständig erfassen lassen.22 Die Branding-Theorie wiederum ergänzt, dass Firmen wie Harley Davidson identitätsstiftende Angebote machen und somit nicht nur Produkte, sondern ein Lebensgefühl vermarkten, im Fall von Harley-Davidson insbesonders durch die Kooperation der Konsument_innen. So zeigen Holt und Cameron in ihrer Analyse auf, dass die Marke Harley in ihrer branding Strategie mit einem »Biker Myth« verbunden ist, ebenso wie Marlboro mit einem »Cowboy Myth« und Jack Daniels und Mountain Dew mit einem »Hillbilly Myth«. Alle drei werden in dieser Analyse als regressive Männlichkeitsphantasien verstanden, die auf eine »Frontier Masculinity« rekurrieren.23 Aus Sicht der Visuellen Kulturwissenschaften (Visual Culture Studies) ist bemerkenswert, wie häufig in den von Bittner beschriebenen Praktiken der sozialen Akteure auf Texte, Bilder und Symbole gerade von Massenmedien, insbesonders Filmen wie Easy Rider, zurückgegriffen wird. Denn ein diffuses Gefühl, eine affektive Grundlage – wie die Freude am Motorradfahren oder das Gefühl der Gemeinschaft mit Fremden – wird umso leichter für andere vermittelbar, als diese in bekannten Texten und Bildern verankert, ikonisiert sind. Ich bin überzeugt, dass auch der umgekehrte Prozess entscheidend ist: Die Ikone des Westernhelden ist nicht nur Ergebnis, sondern auch Ursprung solcher Affektivität und Identität. Im konkreten Fall der Harleyites ist für mich als Amerikanisten interessant, wie sehr das »Harley-Gefühl« mit einem Grundmythos des amerikanischen Westens verknüpft geblieben ist. Mehr noch als in Konzepten wie Freiheit und Individua21 Vgl. Bittner, Michael: »Eine Sehnsucht nach Freiheit« in diesem Band, S. 531-552. 22 Einen guten Überblick über die Body Studies bieten: DeMello, Margo. Body Studies. An Introduction, London: Routledge 2014 sowie Turner, Bryan S. Routledge Handbook of Body Studies. London: Routledge 2017. 23 Vgl. Holt, Douglas/Cameron, Douglas: Cultural Strategy. Using Innovative Ideologies to Build Breakthrough Brands, Oxford: Oxford University Press 2012, S. 189.

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lität wird dies offensichtlich, wenn wir ihre Verbildlichung betrachten. Ein online-Suchklick »Harley Davidson on the road« ergibt folgendes diskursives Feld:24 In erster Linie erscheinen Bilder eines abgestellten Motorrads, vor neutralem oder relativ kargem Hintergrund. Die Bilder von Bikern präsentieren meist schnurgerade oder nur leicht gewundene Straßen ohne weitere Verkehrsteilnehmer_innen, welche durch weite, meist aride Landschaft führen. Dabei werden Untersichtsperspektiven mit offenem, freiem Himmel, blau und leicht bewölkt, oder auch Sonnenuntergänge (seltener -aufgänge) bevorzugt. Die Präferenz für Landschaftsaufnahmen bedingt das weitgehende Fehlen von Urbanismus. Städte scheinen, wenn überhaupt, nur dann auf, wenn auf sie zu, meist aber, wenn von ihnen weggefahren wird. Die Fahrer_innen selbst sind zumeist weitgehend anonymisiert: Wir sehen (spiegel-)behelmte Köpfe; Nahaufnahmen von Fahrern sind äußerst selten.25 Neben den zwei Hauptelementen, dem Motorrad und der entgrenzten, menschenleeren und ariden Landschaft fallen einige US-Symbole auf, darunter die US- oder die Konföderations-Fahne, US-Stadtskylines, die Golden Gate Bridge, Trucks, Route 66 Schilder. Auffallend ist die Abwesenheit anderer Motoristen, Habitate oder Spezien – wir sehen keine Autos, Fussgänger_innen, Tiere, Wohnhäuser, Arbeitsstätten. Bei aller Variabilität ergibt sich hier eine stark umrissene diskursive Formation: Biker-Kommunalität statt Individualität, Ruralität statt Urbanität, Wüstenei statt satter Natur oder Kulturlandschaft – feuchte, üppige und fruchtbare Landschaften fehlen ebenso wie Felder und Wiesen. Diese bildlichen Verortungen wirken mit hinein in die Konstruktion des Riders als Helden.

R AUM UND O RT Ein nicht zu vernachlässigender Aspekt für die Frage der modernen Inkarnation des Westernhelden als Biker ist das Verhältnis desselben zum Raum. Space/Place-Theorien fordern dazu auf, die Selbst-, Gemeinschafts- und Gesellschaftskonzepte nicht nur textuell/diachronisch zu erfassen, sondern in ihren Zusammenhängen mit Raum und Ort(en) zu verstehen. 26 Bikertreffs könnten etwa

24 Z.B. google oder bing Bildersuche. Zugriff am 14.12.2017 25 Spärlich bekleidete Frauen neben der Harley sind ein Sonderfall, wobei die menschliche Figur hier eher Accessoire zum Motorrad ist. 26 Die Theoriebildung zu Space (Raum) und Place (Ort) ist sehr umfangreich und vielschichtig. Vgl. Etwa Hubbard, Phil/Kitchin, Rob/Valentine, Gill (Hg.), Key Thinkers on Space and Place, Los Angeles: Sage 2011. Dieses Buch listet über 60 key thinkers

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als eine Art Foucaultscher Heterotopie verstanden werden, als Orte, an denen von der herrschenden Norm abweichendes Verhalten in ritualisierter Form zutage tritt. Denn Heterotopien sind, Foucault zu Folge »wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.«27

Das Motorradfahren selbst ist allerdings in seiner Mobilität dem Örtlichen entbunden, welches durch Belebtheit, Bewohntheit, Sinnerfüllung und lokale Perspektiven gekennzeichnet ist. Vielmehr korreliert es mit Augé’s Definition des Nicht-Orts: »So wie ein Ort durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet ist, so definiert ein Raum, der keine Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen läßt, einen Nicht-Ort.«28 Dementsprechend findet sich ein hohes Maß an Deckung zwischen den oben genannten Verbildlichungen des Motorradfahrens und Augé’s Analyse des Nicht-Ortes: »Der Raum des Nicht-Ortes schafft keine besondere Identität und keine besondere Relation, sondern Einsamkeit und Ähnlichkeit.«29 Allerdings ist das Motorradfahren nicht nur ein Durchfahren des Raumes, sondern auch ein Erfahren, ein intensiver körperlicher, affektiver, und materieller Akt. Somit handelt es sich beim Motorradfahren um eine (zumindest imaginäre) Entbindung von Raum und Ort, verknüpft mit dem körperlichen Erlebnis von Kinetik, Mobilität sowie einem Gefühl der Ausgesetztheit. Die oben genannten menschenlosen Landschaften und die Ent-Individualisierung der Fahrer_innen erscheinen in dieser Perspektive in einem anderen Licht. Die ariden Landschaften stehen dann nicht mehr zwingend für einen amerikanischen Westen und der Fahrer nicht mehr zwingend für den entsprechenden Helden (dem frontiersman, der sich in lebensfeindlicher Umgebung behauptet), und einem darauf basierenden Konzept einer narzisstisch-gepanzerten Männlichkeit. Die »tote« Landschaft ist vielmehr in ihrer Reduktion bis Negation von sozialen Marauf, von Marc Augé über Michel de Certau, Michel Foucault, Saskia Sassen, Gayatri Chakravorty Spivak, bis zu Iris Marion Young. 27 Foucault, Michel: »Andere Räume«, in: Barck, Karlheinz (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig: Reclam 1993, S. 39 28 Augé, Marc: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt am Main: Fischer 1994, S. 92. 29 Ebd., S 121.

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kern, von Vielfalt und Konkretheit, eine Art »blank space«, der die ebenso »pure« Erfahrung von Kinetik, von Mobilität im Raum noch überhöht. Interessanterweise bildet sich hier ein Paradox, das Bittner wie andere fasziniert: Der Vitalität (oft verstanden als Virilität) des Fahrens, dem Sich-Spüren, Sich-Bewegen, dem Steuern und Lenken durch Gewichtsverlagerung stehen die für die Bikerkultur typischen Todesmetaphern gegenüber: Totenkopf-Symbolik, menschen-, tier-, und pflanzenlose Landschaft, Sprachlosigkeit und Stille, die nur vom Lärm der Motoren zerrissen wird. Dieses Paradoxon hat seinen Ursprung wohl in der liminalen Position des riderhelden.

W IDERSTÄNDIGKEIT , H EGEMONIE UND L IMINALITÄT Rockers und Riders begreifen sich gerne selbst als Gegenmodelle zu normativen Konzepten von Individualität und Gesellschaft – »outlaw« ist eine gerne verwendete Selbstbezeichnung. Für klassische bikers nach Art der Hell’s Angels trifft Hebdige’s Analyse von spektakulären Subkulturen zu: »The communication of a significant difference, […], (and the parallel communication of a group identity), is the ›point‹ behind the style of all spectacular subcultures.«30 Darüber hinaus drücken auch, wie von Bittner eindrucksvoll belegt, Außenseiterpositionen zum outlaw-Image, wie etwa hippie bikers, aber auch aging bikers und DIYnuts – eigenwillige bis widerständige Positionen innerhalb der subkulturellen Matrix aus. So weisen etwa Thompson et al. darauf hin, dass Motorradfahrer_innen generell eine gesellschaftliche Marginalisierung erfahren: »Whatever the[ir] motivation, modern motorcyclists often are labeled as ›deviant‹ by many of their co-workers, friends, and total strangers, and experience some of the same social sanctions as outlaw bikers, including stares, avoidance, gossip, surveillance by law enforcement, as well as harassment, threats, and potential violence from genuine outlaw bikers who see them as ›posers‹, ›wannabes‹, or intruders on their clubs’s turf.«31

Die Selbst- und Fremdstilisierung als Außenseiter ist insofern problematisch, als das damit oft einhergehende Opfernarrativ meist um weiße, traditionelle Männlichkeit herum gebildet wird und damit dieses hegemoniale Konzept gegenüber

30 Hebdige, Dick: Subculture. The Meaning of Style. London: Routledge 2002, S. 118. 31 Thompson, William E/Hickey, Joseph V./Thompson, Mica L., Society in Focus. An Introduction to Sociology, Lanham: Rowman & Littlefield 2016, S. 165.

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anderen Gruppen – besonders Frauen – bestärkt und erhalten wird. Allerdings ist die hegemoniale Macht der biker im Vergleich zu anderen, weniger offensichtlichen Männlichkeits- und Weißheitshegemonien von relativ geringer Wirkmacht. Vielmehr ist die Figur des Harley-Bikers vergleichbar mit der Funktionsweise von sogenannten Gangsta-Rappern: Die Mehrheitsgesellschaft kann hier auf Einzelindividuen beziehungsweise eine Gruppe von marginalisierten Anderen 32 und deren »Macho«-Allüren herabblicken. Die realen strukturellen Ungleichheiten in der Gesellschaft, sei es in Bezug auf Rasse, Klasse, oder Geschlecht werden ausgeblendet, obwohl diese wesentlich effektiver und umfassender sind. Damit werden die realen Profiteure eines hierarchischen Systems, etwa weiße Mittelklassemänner, verschleiert. Abschließend möchte ich noch einmal den Aspekt der Liminalität aufgreifen. Die liminale Situation bezeichnet Van Gennep’s33 und Victor Turner’s34 klassischen Texten zufolge eine labile (und deshalb häufig ritualisierte) Übergangsphase zwischen relativ stabilen Systemen – in der klassischen Ausprägung etwa eine Initiationszeit zwischen Kindheit und Erwachsenenalter. Diese Übergangsphase ist notwendig ambivalent, oft gar durch Paradoxien gekennzeichnet, weil in ihr die gesellschaftlichen Strukturen und Werte tradiert, aber auch in Frage gestellt und verhandelt werden. Laut Victor Turner sind liminale Positionen »necessarily ambiguous«, stehen sie doch außerhalb von »the network of classifications that normally locate states and positions in cultural space. Liminal entities are neither here nor there; they are betwixt and between the positions assigned and arrayed by law, custom, convention, and ceremonial«.35

Das Konzept der Liminalität erlaubt es daher, einige der Fragen und Paradoxa des Biker-Daseins zu erhellen. So liest sich Turner’s Analyse des Initiationsprozesses fast als Beschreibung eines Biker-Treffs: »In so far as a neophyte is structurally ›dead‹, he or she may be treated, for a long or short period, as a corpse is customarily treated in his or her society. … The neophyte may be … forced to live for a while in the company of masked and monstrous mummers represent32 Zu den Begiffen »Other« und »Othering« vgl. Spivak, Gayatri Chakravorty, in: Other Worlds. Essay in Cultural Politics, London: Routledge 2006. 33 van Gennep, Arnold: Übergangsriten (les rites de passage), Frankfurt am Main: Campus, 2005. 34 Turner, Victor: The Ritual Process. Structure and Anti-Structure, New Brunswick: Aldine Transaction, 2009. 35 Ebd., S. 95.

456 | K LAUS RIESER ing, inter alia, the dead, or worse still, the un-dead. The metaphor of dissolution is often applied to neophytes: they are allowed to go filthy and identified with the earth …. Particular form here becomes general matter, often their very names are taken from them and each is called solely by the generic term for ›neophyte‹ or ›initiand‹«.36

Tatsächlich entspricht die Praxis der Bikertreffs weitgehend einer zeitgenössischen Adaption von Initiationsritualen. Während der liminalen Phase entspricht der Biker in erstaunlich vielen Aspekten Turner’s Neophyten: Positionierung außerhalb der sonst geltenden Normen; Intoxikation; Exzess; Assoziation mit Schmutz/Lärm/Gefahr/Tod; Ablegen von Markern von sozialem Status und Position (selbst Namen); Aufnahme und Aufgehen in der egalitären communitas; Stellenwert der Kutte als »heiliges Ding (Sacrum)«. Im Fall der Biker-Treffs ist aber die liminale Erfahrung, samt ihrem kritischen Potential, in eine eigene soziale Welt eingebettet – organisierte und kommerzialisierte Biker-Treffs, BikerDasein als kontrollierte Auszeit vom sonstigen Leben (Stichwort: banker-bikers oder bourgeois bikers) – und mittels Nostalgie ins Konservativ-Konservatorische gekehrt. Das Anhängen an eine Tradition (jene der Marke Harley, der Südstaatenfahnen, den alten Männlichkeitskonzepten) dient hier nicht wie in sozialen rites de passage einer Wiedereingliederung in die größere Gemeinschaft/Gesellschaft, sondern funktioniert weitgehend ideologisch, ist doch die nostalgisch imaginierte Vergangenheit ein Zerrbild. So gesehen sind wohl die interessantesten Phänomene der Bikerkultur nicht in den klassischen Varianten zu finden, sondern an den Rändern dieser Randgruppe, bei den lady bikers, women bikers, butch bikers, bourgeois bikers, oder hippie bikers.

36 Turner, Victor W. The Forest of Symbols. Aspects of Ndembu Ritual, Ithaca, N.Y: Cornell University Press 2002, S. 96.

Open End Vampirinnen als alternative Heldinnen und der Aufbruch tradierter Geschlechterrollen in LET THE RIGHT ONE IN und A GIRL WALKS HOME ALONE AT NIGHT T HERESIA H EIMERL

Vampire verkörpern seit ihrer literarischen Entstehung im 18. Jahrhundert die faszinierende Ambivalenz des Bösen, die heute, gut zwei Jahrhunderte später, längst zur Ambivalenz des Guten geworden ist. Vampire sind dunkle Helden, sie symbolisieren erotische, kulturelle und religiöse Grenzüberschreitungen, die je nach Perspektive Zerstörung von oder Befreiung aus patriarchalen Ordnungen sein können. Diesen ambivalenten Helden sind nicht nur unzählige literarische Werke, Filme und TV-Serien gewidmet, auch die Wissenschaft hat sie längst für sich entdeckt, und sie werden in Ausstellungen und Dokumentationen behandelt. Und Vampirinnen? Ein Blick in die Literaturgeschichte zeigt uns: Es gab sie mindestens so früh wie ihre männlichen Pendants und, anders als diese, sogar in den Klassikern der deutschen Literatur. Eine von ihnen, Carmilla von Sheridan Le Fanu, war Inspiration für »den« Vampir schlechthin, Bram Stokers Dracula. Sie begegnen dem Publikum in einschlägigen Genres in Film und TV. Und dennoch sind es männliche Vampire, an welchen die Wandlung vom Bösewicht zum Helden eindrücklich und an den Kinokassen einträglich verhandelt wird. Die weibliche Hauptrolle ist in diesem Setting, wie schon bei Stoker, einer menschlichen Frau vorbehalten, die Opfer und/oder Angebetete des Vampirs sein darf; Vampirinnen sind lediglich Nebenfiguren, die den Männern als Gehilfinnen und Angstlustobjekte dienen. Eine alternative Charakterentwicklung oder gar die Verwandlung zur Heldin bleibt Frauen auch als Untoten im fiktionalen Mainstream verwehrt.

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Umso mehr lohnt ein Blick über diesen hinaus in zwei Filme der jüngsten Vergangenheit aus zwei sehr unterschiedlichen kulturellen Kontexten, welche der Vampirin die Chance geben, aus dem Schatten ihrer männlichen Artgenossen, aber auch der schablonenhaften Fortschreibungen viktorianischer Männerphantasien, herauszutreten und zu einer Heldin der etwas anderen Art zu werden. Dieser Beitrag widmet sich zum einen dem schwedischen Film LET THE RIGHT ONE IN unter der Regie von Tomas Alfredson aus dem Jahr 2008 und zum anderen A GIRL WALKS HOME ALONE AT NIGHT, entstanden unter der Regie der Exiliranerin Ana Lily Amirpour 2014 in den USA.1 Der Analyse der Vampirin in diesen Filmen vorangestellt ist ein knapper Überblick über die Entwicklung dieser Gestalt seit dem 18. Jahrhundert in Literatur, Film und Fernsehen. Der Fokus der Fragestellung liegt auf den Kontinuitäten und Brüchen in der Darstellung der Vampirin. Darüber hinaus wird die Frage nach einem Nachklang religionsgeschichtlicher Motive in der Gestalt der Vampirin gestellt.

D IE V AMPIRIN : R ELIGIONS -, L ITERATUR UND F ILMGESCHICHTE Ebenso wie der männliche Vampir begegnet uns die Vampirin unter dieser Bezeichnung erst spät, nämlich im frühen 18. Jahrhundert. Für jene Dörfer am Rande der damaligen Habsburgermonarchie, Kisolova und Medvegya, sind nicht nur männliche, sondern auch weibliche Untote überliefert, die ihre Hinterbliebenen heimsuchen. Freilich sind diese Gestalten, egal welchen Geschlechts, weit mehr Zombies als Vampire, wie sie seit dem 19. Jahrhundert die westeuropäische Vorstellungswelt bevölkern: Sprachlose, unbeholfene Wiedergänger bar jeder Erotik.2 Viel näher am romantisch-viktorianischen Bild der Vampirin sind indes weibliche Figuren aus der vorchristlichen Religionsgeschichte, die nicht ohne Berechtigung in der Forschung des Öfteren als mythologische Vorgängerinnen der Vampirin firmieren.3 Diesen Frauen gemein ist das Narrativ der tödlichen Ver-

1

Die Filme werden alle wie folgt zitiert: Titel (Regie: N.N., Land Jahr).

2

Vgl. Kreuter, Mario: Der Vampirglaube in Südosteuropa. Studien zur Genese, Bedeu-

3

Vgl. Heimerl, Theresia: »Dämoninnen und Vampirinnen. Religionsgeschichte und

tung und Funktion. Rumänien und der Balkanraum, Berlin: Weidler 2001, S. 81-96. moderne Transformationen«, in: Anna-Katharina Höpflinger/Anne Jeffers/Daria Pezzoli-Olgiati (Hg.), Handbuch Gender und Religion, Göttingen: Vandenhoeck & Rup-

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führerin, vorzugsweise an Orten abseits der Zivilisation, wo sie Männern beim oder durch den Sexualakt Lebensenergie aussaugen. Doch auch die Bedrohlichkeit solcher Frauen für kleine Kinder und ihre Mütter ist fixer Bestandteil des Narrativs. Dahinter verbirgt sich zweifelsohne eine Warnung vor einer nicht durch patriarchale Strukturen gebändigten Weiblichkeit, die sich ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter konsequent verweigert und folglich nur als amoralische Verführerin und Kindsmörderin imaginiert werden kann. Die bekannteste dieser Gestalten ist Lilith, deren »Geschichte« im babylonischen Talmud zu jener der ersten, ungehorsamen Frau Adams ausgestaltet wird.4 Andere Namen sind Lamastu aus der vorderorientalischen Mythologie und Lamia aus der griechischrömischen Antike.5 Sie alle können unter dem Überbegriff Dämonin zusammengefasst werden und haben, wie auch männlich gedachte Dämonen, eine klar umrissene Funktion im jeweiligen Weltbild, das Krankheiten und Unheil durch das Wirken transzendenter Mächte erklären wollte. Anders als die Dämonen verschwinden jedoch autonome Imaginationen eines weiblichen Bösen mit der Christianisierung, um erst in der Romantik wiederentdeckt zu werden. Freilich: Keine dieser mythologischen Gestalten trinkt Blut aus der Halsschlagader ihrer Opfer. Die genaue Art des Entzugs von Lebensenergie bleibt unklar. Von »Vampirinnen« in der Antike zu sprechen scheint daher nicht angebracht, wohl aber darf man in den Vampirinnen des 19. und 20. Jahrhunderts säkularisierte Reminiszenzen an Dämoninnen der Religionsgeschichte erblicken, zumal sie lange Zeit eine ähnliche Funktion in einem dominierenden patriarchalen Narrativ innehaben. Zum Motiv der Literatur wird die Vampirin zunächst, ohne eben diesen Namen zu tragen: Die Braut von Korinth, eine 1797 von Johann Wolfgang Goethe veröffentlichte Ballade,6 lässt als weibliche Hauptfigur eine junge, wie sich im Laufe der Erzählung herausstellt, bereits tote Frau auftreten, die nun tatsächlich alle Kriterien einer Vampirin erfüllt: Sie ist jung, schön, begegnet ihrem männlichen Opfer nachts, verführt dieses zu erotischen Freuden, im Zuge derer sie sein Blut saugt; sie ist kalt, bleich, verweigert menschliche Nahrung, verfügt ganz offensichtlich über übernatürliche Fähigkeiten – und bringt dem jungen Mann den recht 2008, S. 168-173 sowie Pielow, Dorothee: Lilith und ihre Schwestern. Zur Dämonie des Weiblichen, Düsseldorf: Grupello 2001, S. 105-111. 4

Vgl. Trattner, Kathrin: Liliths Kinder. Adams erste Frau in der Religionsgeschichte und modernen Populärkultur, Graz: Leykam 2016, S. 11-20.

5

Vgl. K. Trattner: Liliths Kinder, S. 18-20.

6

Vgl. Wrann, Alfons: »Historie und Aberglaube – Anspruch und triviale Unterhaltung«, in: Theresia Heimerl/Christian Feichtinger (Hg.): Dunkle Helden. Vampire als Spiegel religiöser Diskurse in Film und TV, Marburg: Schüren 2011, S. 16.

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Tod. Die Ballade wird mitunter auch als Gegenstück zu Gottfried August Bürgers Lenore bezeichnet,7 geht es doch hier wie dort um das letale Nachholen einer nicht vollzogenen Hochzeitsnacht mit der oder dem bereits toten, dennoch aber erotisch attraktiven Verlobten. Anders als den antiken Dämoninnen wird der Vampirin hier aufrechte Emotion für ihr Opfer zugestanden, das sich ihr auch recht freiwillig hingibt, nur die Umwelt der beiden will die mehrfache Ordnungsübertretung, von der Sexualität und dem Leben zum Tod, nicht dulden. Darin ähnelt Goethes anonyme Braut auch der ersten Vampirin als Heldin einer längeren Erzählung: La morte amoureuse von Theophile Gautier aus dem Jahr 1836.8 Hier wird ein junger Priester von einer geheimnisvollen Frau, die er buchstäblich als schöne Tote kennenlernt, zu einem rauschhaften Lasterleben verführt, um den Preis, ihr immer wieder von seinem Blut zu trinken geben zu müssen. Clarimonde, wie die Frau heißt, wird als aufrichtig Liebende gezeichnet, die den jungen Mann keinesfalls töten will; doch dessen älterer Mitbruder vernichtet die Vampirin in fundamentalistisch-religiösem Eifer, steht diese doch für Sexualität und Widernatürlichkeit. Am bekanntesten ist wohl die vom irischen Schriftsteller Sheridan Le Fanu erdachte Vampirin Carmilla, 9 von diesem in seiner Novelle von 1871 in der finsteren Steiermark angesiedelt. Eine schöne, noch sehr junge, mädchenhafte Frau wird von ihrer geheimnisvollen Mutter nach einer Kutschenpanne im Schloss eines pensionierten Offiziers und dessen minderjähriger Tochter zurückgelassen. Carmilla beginnt eine enge, unverkennbar erotisch konnotierte Beziehung mit der jungen Schlossherrin, die daraufhin an den heute weithin bekannten Symptomen der Blässe, Müdigkeit und erotischen Angstträumen zu leiden beginnt, auch meint sie ihre Gefährtin sich in eine große, schattenhafte Katze verwandeln zu sehen. Hinzu kommen geheimnisvolle Todesfälle rund um das Schloss, bis die patriarchale Jagdgesellschaft von Arzt, Priester und Offizier ausrückt, um das Grab der Vampirin zu finden und sie zu vernichten. Bei Le Fanu sind bereits all jene, für das Vampirnarrativ fortan konstitutiven Elemente zu finden, wie wir sie später bei Bram Stoker treffen: Das junge, erotisch gerade erst erwachende Mädchen als »Opfer«; physische Verän7

Vgl. ebd.

8

Vgl. Heimerl, Theresia: «Blut, Sex, (Un-)tot. Vampire als medienwirksame Verkörperung von Spannungsfeldern der Postmoderne«, in: Johanna Rolshoven/Christian Friedl (Hg.): Spannungen. Beiträge von Vortragenden der Montagsakademie 2012/13, Graz: Grazer Universitätsverlag 2013, S. 35-37.

9

Vgl. Weingand, Hans-Peter: »›Den leisen Schritt Carmillas …‹. Wie die Vampire in die Steiermark kamen«, in: Annette Rainer/Christina Töpfer/Martina Zerovnik (Hg.): Carmilla. Der Vampir und wir, Wien: Passagen 2014, S. 28-34, sowie A. Wrann, Historie und Aberglaube, S. 18.

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derungen der jungen Frau; physische und psychische Besonderheiten der Vampirin (Nachtaktivität, Verweigerung der Nahrungsaufnahme, launisches Verhalten); die animalischen Anteile, angedeutet in der Verwandlung in eine Tiergestalt; die besorgte Männerwelt, welche die junge Frau zu schützen versucht, und der unheimliche Ort eines Schlosses am Rande der von England aus gesehen zivilisierten Welt. Freilich gibt es einen entscheidenden Unterschied: Carmilla ist eine Vampirin und ihre Beziehung zum weiblichen Opfer als gleichgeschlechtliches Verhältnis nicht nur unstatthaft, sondern außerhalb des direkt Sagbaren, wiewohl die Andeutungen Le Fanus leicht dechiffrierbar sind. Es mag wohl auch an dieser Konstellation gelegen haben, dass nicht Carmilla, sondern Dracula, der mit den von ihm begehrten Frauen weit weniger zartfühlend umspringt, zur Ikone des Vampirs für fast ein Jahrhundert wurde. Diesen ikonischen Status erlangt der männliche Vampir wesentlich durch den Film, zählt doch eine aus urheberrechtlichen Gründen in Bezug auf Namen und Schauplatz geänderte Verfilmung des Dracula-Romans zu den ersten, bis heute vielzitierten Werken des jungen Genres Film: NOSFERATU von Friedrich Wilhelm Murnau.10 Ihm folgten zwei große Wellen an Dracula-Filmen in den 1930er- und 1960er-Jahren, erstere mit Bela Lugosi, letztere mit Christopher Lee in der Hauptrolle – und Frauen als Opfern wie Vampirinnen in zahlreichen Nebenrollen.11 Während der Vampir bereits Ende der 1970er-Jahre vom amoralischen Bösewicht zum selbstreflexiven Subjekt werden darf, das Frauen nicht nur durch sein elegantes Auftreten, sondern morbiden Existenzialismus in seinen Bann zieht, bleiben Vampirinnen den traditionellen Klischees verhaftet und auf ihr Aussehen und Begehren reduziert, selbst in Arthousefilmen wie THE HUNGER mit Catherine Deneuve, Susan Sarandon und David Bowie,12 wo zwar das Carmilla-Motiv der lesbischen Vampirin wiederbelebt, das heterosexuelle Geschlechter- und Machtgefüge aber nicht grundlegend in Frage gestellt wird. Wenden wir uns schließlich der jüngsten Auferstehung des Vampirs in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts zu, so wird bei näherer Betrachtung des Auslösers, dem Roman Twilight der US-amerikanischen Autorin Stephenie Meyer,13 rasch klar, warum hier kaum eine Neudefinition der Vampirin erwartet werden kann. Twilight, 2005 erschienen und von drei weiteren Romanen sowie ab 2008 10 NOSFERATU. (Regie: Friedrich Wilhelm Murnau, D 1922) 11 Vgl. im Überblick A. Wrann, Historie und Aberglaube, S. 24-28, sowie Feichtinger, Christian: »O Sister, where art thou? Über die Abwesenheit guter wie böser weiblicher Vampire«, in: Dunkle Helden, S. 106-109. 12 The Hunger (Regie: Tony Scott, USA 1983) 13 Stephanie Meyer: Twilight. New York 2005.

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deren Verfilmungen gefolgt, ist eine nicht uninteressante, extrem gesellschaftskonservative Interpretation des Vampirnarrativs. 14 Der Vampir ist hier endgültig vom Bösewicht zum im wahrsten Sinn strahlenden Helden mutiert, meidet er das Tageslicht doch nur, weil seine weiße Haut sonst in der Sonne einer überirdischen Erscheinung gleich glitzern würde. Im Teenagermilieu einer nordwestlichen Kleinstadt der USA angesiedelt, treffen der ewig junge Edward und das gar nicht hässliche, aber tollpatschige Entlein Bella aufeinander, um sich unsterblich zu verlieben. Die sadomasochistisch grundierte Erotik des Vampirs, der sich seinen Weg durch das Schlafzimmerfenster viktorianischer Jungfrauen bahnt, ist hier in ihr Gegenteil verkehrt: Edward steigt zwar auch ungebeten nächtens zum Fenster herein, freilich nur, um seiner Liebsten beim Schlafen zuzusehen – ein erotisches Näherkommen versagt er sich und der dazu durchaus geneigten Bella aber strengstens, um nur ja nicht die Kontrolle über seine Triebe zu verlieren. Die Faszination der Twilight-Saga bestand für ihre jungen weiblichen Fans in eben dieser bewusst konservativen Reinszenierung antiquierter Geschlechterrollen, in welcher der Vampir zum Beschützer der »Damsell in distress« angesichts der Zumutungen und Gefahren der Postmoderne wurde.15 Wie rasch dieses Narrativ eingängig geworden ist, zeigt seine Anwendung in TRUE BLOOD, einer extrem erfolgreichen Vampirserie für Erwachsene des Senders HBO. 16 Auch wenn es hier viel Sex und nackte Haut gibt: Die blonde weibliche Hauptfigur wird permanent von männlichen Vampiren gerettet. Vampirinnen gibt es hier in gar nicht geringer Zahl, doch wird das in der anderen Geschlechterkonstellation tragende Motiv der Rettung hier allenfalls als parodistische Variante durchgespielt. Männer, so die Botschaft der Serie, werden nicht gerettet, sondern sie sind stets die Retter. Die Vampirin, »als Identifikationsfigur dafür, anders zu sein«, so Christian Feichtinger, »darf bis auf weiteres im Sarg ruhen«.17 Wie es scheint, beginnt sie langsam aufzuwachen.

14 Vgl. Heimerl, Theresia: »Der neue Vampir. Dunkler Schutzengel und Demon Lover«, in: Dunkle Helden, S. 76-79; sowie T.Heimerl:, Blut, Sex, (Un-)tot, S. 42-46. 15 Vgl. Heimerl, Theresia: »Was, wenn die Bösen die Guten sind? Der Vampir als Spiegel eines postmodernen Diskurses über ›vormoderne‹ Werte und Normen«, in: Dunkle Helden, S. 43f. 16 TRUE BLOOD. TV-Serie (USA 2008-2014), vgl. http://www.imdb.com/title/tt0844 441/ vom 19.4.2016. 17 C. Feichtinger, O Sister, where art thou?, S. 113.

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H ELDINNEN DER ETWAS ANDEREN ART Vampirinnen in den Filmen LET THE RIGHT ONE IN und A GIRL WALKS HOME ALONE AT NIGHT Gibt es auch andere Vampirnarrative, in denen die traditionellen Geschlechterrollen nicht einfach fortgeschrieben oder parodistisch und temporär verkehrt, sondern nachhaltig aufgebrochen werden? Filme, in denen die Vampirin endlich zum ambivalenten, reflexiven, autonomen Subjekt werden darf, das die Ambiguität der Figur zwischen Gut und Böse glaubhaft verkörpert? Die im Folgenden behandelten Filme sind solche alternativen Vampir- oder besser Vampirinnennarrative, in denen bluttrinkende Frauen zu Heldinnen der etwas anderen Art werden und damit auch die Männer ihre alten Rollen verlassen dürfen. L ET THE RIGHT ONE IN 2008, auf dem Höhepunkt des Vampirbooms rund um TWILIGHT und TRUE BLOOD entstand in Schweden ein Vampirfilm, der das Thema Vampir-MenschBeziehung auf eine sehr eindringliche, eigenwillige Art behandelt. Der Film unter der Regie von Tomas Alfredson basiert auf dem 2004 erschienen gleichnamigen Roman von John Ajvide Lindqvist18 und wurde mehrfach mit internationalen Preisen ausgezeichnet.19 Er erzählt die Geschichte des zwölfjährigen Oscars, der in der ärmlichen Vorstadtsiedlung Blackeberg am Rand von Stockholm in den frühen 1980er-Jahren mit seiner alleinerziehenden Mutter lebt und bereits in den ersten Szenen als Außenseiter porträtiert wird, der sich, von seinen Mitschülern gemobbt, zuhause Gewaltphantasien hingibt. Im Hof lernt er ein gleichaltriges Mädchen kennen, das sich als Eli vorstellt und das offenbar seit Kurzem in der Nachbarwohnung mit einem älteren Mann lebt. Die beiden Außenseiter freunden sich an und Eli erfährt, wie sehr Oscar von seinen Mitschülern physisch und psychisch drangsaliert wird. Parallel dazu erfahren die Zuschauerinnen und Zuschauer sukzessive, dass Eli wohl kein gewöhnliches Mädchen ist, sondern ein vampirisches Wesen, das nur durch menschliches Blut existieren kann, das ihr älterer männlicher Begleiter ihr besorgt. Als dieser bei einem der Versuche, Blut zu beschaffen – was natürlich heißt, einen Menschen zu töten – schwer mit Säu-

18 Ajvide Lindqvist, John: Låt den rätte komma in, Stockholm: Ordfront 2004. Deutsch: So finster die Nacht, [Rheda-Wiedenbrück/Gütersloh]: RM-Buch-und-MedienVertrieb 2008. 19 Vgl. Artikel Let the Right One In (film), https://en.wikipedia.org/wiki/Let_the_R ight_One_In_(film) vom 19.4.2017.

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re verätzt wird und im Krankenhaus stirbt, ist Eli auf sich allein gestellt und überfällt eine Frau, die aber entkommt, im Krankenhaus zur Vampirin mutiert und im Sonnenlicht stirbt. Die Beziehung von Oskar und Eli entwickelt sich parallel zu dieser »Horror-Handlung« zu einer Freundschaft mit zarten erotischen Untertönen und seltsamen Zwischenfällen (Eli kann die Wohnung Oscars nur auf Einladung betreten, ein auch aus anderen Vampirfilmen bekanntes Narrativ), bis Oskar mit seiner neuen Freundin eine Blutsfreundschaft eingehen möchte und sich mit einem Messer in die Handfläche schneidet, um den Pakt zu besiegeln. Eli kann dem Blut kaum widerstehen und flieht. Oscar erkennt hier die wahre Natur seiner Freundin und konfrontiert sie damit, einerseits von ihrem Blutdurst abgestoßen, gleichzeitig aber gerade zu dieser Gewalt und Macht, die ihre außergewöhnliche Existenz ihr verleiht, hingezogen. Er hilft ihr auch, sich vor einem auf den Plan gerufenen Detektiv, der wegen der ungeklärten Morde und Mordversuche ermittelt, zu verbergen. Die Beziehung mit Eli verleiht Oscar zunehmend Selbstsicherheit und er setzt sich endlich gegen seine Peiniger zur Wehr. Den schlimmsten von ihnen namens Conny verletzt er am Ohr, was dessen Bruder wiederum auf Rache sinnen lässt. In einem Hallenbad kommt es zum blutigen Finale: Oscar wird von Connys Bruder unter Wasser gedrückt und mit »Aufschlitzen« bedroht, die anderen Jugendlichen sehen interessiert zu. Plötzlich ist die Hand, die Oscars Kopf unter Wasser drückt, weg, eine abgerissene Hand schwebt im Wasser und als Oscar auftaucht, sieht er die mit Blut bedeckte Schwimmhalle: Eli hat alle Jugendlichen ermordet. In der abschließenden Szene sitzt Oscar in einem Zug mit einem großen Koffer, in dem sich offenbar Eli befindet. Die beiden verständigen sich mit Morselauten, wie zu Beginn ihrer Beziehung zwischen den beiden Wohnungen. Der jugendliche Außenseiter und die kindliche Vampirin fahren in eine offene Zukunft. Oder gar ein Happy-End, wie es der Regisseur sieht?: »For me, the preceding pool scene, is his fantasy. He actually dies here. In reality, he would die. Instead he leaves. I like my ending scene on the train. […] . My ending is very bright and promising.«20

20 Badt, Karin: »Let the Right One In: New Vampire Film with a ›Beat‹«, THE BLOG 01/03/2009 05:12 am ET Updated May 25, 2011, ?Alfredson, Tom? in: The Huffington Post, 1.3.2009 http://www.huffingtonpost.com/karin-badt/emlet-the-right-one-ine m_b_147966.html vom 19.4.2017.

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Jugendliche Devianz und dunkle Romantik LET THE RIGHT ONE IN weicht in mehrfacher Hinsicht vom üblichen Vampirnarrativ – Vampir beginnt Liebesbeziehung mit menschlicher Frau und widersteht dem Drang, sie zu beißen – ab. Am offensichtlichsten ist zunächst die Umkehrung der Geschlechterrollen: Der Vampir ist weiblich, sein »love interest« männlich. Allerdings bietet der Film weit mehr als eine einfache Umkehrung. Die beiden Protagonisten sind in einem Alter, das erst an der Schwelle zur erwachsenen Geschlechtsidentität steht. Ihre Körper sind sichtbar noch wenig entwickelt und in der Selbst- und Fremdwahrnehmung fluide. Das erkennen die Zuschauer_innen bereits in einer der ersten Szenen, als Oscar sein Oberteil ablegt und sein schmaler, blasser Oberkörper, der genauso einem gleichaltrigen Mädchen gehören könnte, zum Vorschein kommt. Die geschlechtliche Uneindeutigkeit geht indes noch einen Schritt weiter: Eli, von Oscar aufgrund ihrer langen, dunklen Haare als Mädchen wahrgenommen, macht ihn wiederholt darauf aufmerksam, dass sie »kein Mädchen« sei.21 Diese Verneinung einer eindeutig weiblichen Geschlechtsidentität, in Kenntnis ihrer vampirischen Existenz einfach als »nicht-menschlich«» lesbar, erfährt ihre Konkretisierung durch eine nonverbale Szene später im Film. Oscar sieht für einen Augenblick Elis Genitalbereich, der durch eine Narbe entstellt ist, die Eli als kastrierten Jungen ausweist. Die Vampirin ist also in mehrfacher Hinsicht geschlechtlich uneindeutig: Als Vampirin stellt sie allein durch ihre Existenz die menschlichen Geschlechterkategorien in Frage, auch wenn Vampire im Film oft unhinterfragt als männlich oder weiblich angenommen werden – die Spezies Vampir ist nicht zwangsläufig in humanoide Kategorien einzuteilen. Eli ist aber selbst unter der Grundannahme, dass Vampire in dieselben Geschlechtskategorien wie Menschen unterteilt werden können, von Anfang an keine eindeutige Frau, ist sie doch ein noch kaum entwickeltes, sehr junges Mädchen. Und schließlich wird selbst diese vorsichtige Zuordnung noch einmal durch die Erkenntnis gebrochen, dass das Mädchen Eli nicht nur ein Vampir ist, sondern einmal ein Junge war. Die Beziehung von Oscar und Eli erhält so eine extreme Offenheit, die die traditionellen Geschlechterrollen mehrfach hinterfragt. Nicht nur ist Eli die Stärkere und Entschlossenere von beiden, die letztlich Oscar beschützt und rettet, die Beziehung der beiden Kinder ist auch von einer erotischen Ambiguität, die unaufgelöst bleibt und das Geschlecht für die gegenseitige Faszination letztlich irrelevant erscheinen lässt. Oscar liebt Eli weiterhin, nachdem er erfahren hat, dass sie Vampir und ein Junge ist, denn er

21 Vgl. Tyree, J.M.: »Warm-Blooded. True Blood and Let the Right One In«, in: Film Quarterly, 63/2 (2009), S. 36.

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liebt sie und nicht ihre Spezieszugehörigkeit oder ihr Geschlecht – eine radikalere Ansage zur Liebe jenseits von Konventionen findet sich selten. LET THE RIGHT ONE IN schafft aber auch in anderer Hinsicht, woran viele Filme und TV-Serien rund um Vampire scheitern: Die vampirische Existenz wird nicht domestiziert, ihre negativen Seiten werden ungeschönt in den wenigen, aber harten blutigen Szenen des Films gezeigt, der Vampir beziehungsweise die Vampirin ist in dem, was sie tut, nicht ästhetisch oder romantisch und dennoch ist sie nicht das Monster eindimensionaler Horrorfilme, sondern eine ambivalente Figur, in der sich der nicht minder ambivalente menschliche Gegenpart spiegeln kann. Oscar, das Mobbing-Opfer, pflegt exzessive Gewaltphantasien, spielt mit seinem Messer in einer seltsamen Mischung aus Aggression und Selbsthass und ist fasziniert von Morden und Kriminalfällen. Eli und Oscar sind, wiewohl optisch ein kindliches Liebespaar, doch näher an Bonnie und Clyde als an Romeo und Julia.22 Der Film LET THE RIGHT ONE IN nimmt viele bekannte Versatzstücke des klassischen Vampirnarrativs auf, vom Blutdurst bis zu bestimmten Beschränkungen durch Sonnenlicht und Türschwellen, um es in eine extrem offene Form zu überführen und gerade durch die Möglichkeiten, die der Vampir als fiktive Spezies bietet, Beziehung alternativ zu buchstabieren. So erdrückend grau und konventionell die Umwelt der Sozialsiedlung auch sein mag, ein Ausbruch aus ihr und dem Schicksal als Opfer, als Junge oder als Mädchen, scheint möglich, auch wenn der Preis dafür der Mut ist, ins Ungewisse zu fahren.

A GIRL WALKS HOME ALONE AT NIGHT Vampire entstammen dem Namen nach dem osteuropäischen Volksglauben, ihre ikonographische und mythologische Ausgestaltung geht wesentlich auf das späte 19. Jahrhundert zurück, kurz, Vampire, wie sie Film und TV heute kennen, sind Kinder der westlichen Moderne. Gleichwohl kann das Vampirnarrativ erfolgreich in einen anderen, außereuropäischen Kontext versetzt werden, ohne an Faszination zu verlieren, wie etwa der 2009 entstandene Film THIRST des koreanischen, mehrfach ausgezeichneten Regisseurs Park Chan-Wook bewiesen hat.23 Ein Transfer in ein streng islamisches hingegen Land mutet seltsam an, seltsamer noch, wenn der Vampir eine junge Vampirin ist. Genau diesen Verfremdungseffekt erreicht der Schwarzweiss-Film A GIRL WALKS HOME ALONE AT NIGHT. Er führt in gewisser Weise an die archaischen, vorderorientalischen Wur22 Vgl. J.M. Tyree, Warm-Blooded, S. 35: »Oskar is panicked, but he doesn’t mind a grateful kiss from her bloody lips as they stand over the murdered corpse.« 23 THIRST. (Regie: Park Chan-Wook, Südkorea 2009)

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zeln der männermordenden Dämonin zurück und legt gerade durch den kulturellen Transfer die patriarchalen Muster des Vampirnarrativs bloß und unterläuft sie zugleich. Entstanden 2014 unter der Regie der jungen Regisseurin und Exiliranerin Ana Lily Amirpour, ist der Film mit persisch-sprachigen Schauspielern und Schauspielerinnen in einem postapokalyptischen Iran (beziehungsweise einem Land, in dem man Persisch/Farsi spricht) angesiedelt. In der Stadt Bad City lebt der junge Arash mit seinem heroinabhängigen Vater Hossein und seinem Kater in prekären Verhältnissen. Seine einzige Freude ist sein Auto, das ihm allerdings rasch von einem Drogendealer abgenommen wird. Die Zuschauer _innen erfahren nichts darüber, wie es dazu gekommen ist, dass sich in einem trockenen Flussbett Leichen stapeln, jede staatliche Ordnung scheint abwesend, die Reichen leben und feiern in ihrem Viertel, während andere wie Arash in verkommenen, öden Resten städtischer Bauten ihr Leben fristen. Der Film setzt mit eben diesen Szenen ein: Arash, der seinen Kater sucht und findet, und mit ihm über eine Brücke mit Blick auf Leichenberge zurückfährt zu seinem Vater. Nachdem ihm der Drogendealer das Auto abgenommen hat, parkt dieser es auf einem verlassenen Parkplatz, um die Prostituierte Atti zu sexuellen Diensten zu zwingen. Er lässt von ihr ab, weil er sich von einer schemenhaften, weiblichen Gestalt in einem schwarzen Tschador beobachtet sieht. Eben diese, wie sich bald herausstellt, junge Frau macht ihn auf der Straße auf sich aufmerksam, und er nimmt sie in eindeutiger Absicht mit in sein Apartment. Dort entwickeln sich die Dinge, nachdem der Dealer eindeutige Gesten seiner männlichen Überlegenheit (laute Musik aus teurer Stereoanlage, Muskelspiel, Drogen) gesetzt hat, indes rasch anders: Die junge Frau, die kein Wort spricht, beißt dem Dealer den Finger ab, den er ihr quasi als Vorspiel in den Mund steckt, und stürzt sich anschließend auf ihn. Als sie das Haus verlässt, begegnet sie erstmals Arash, der zu dem Dealer will, um sein Auto zurückzufordern. Er findet ihn tot vor, nimmt Drogen und Schmuck an sich und natürlich sein Auto. Die wirkliche erste Begegnung zwischen Arash und der geheimnisvollen Frau findet statt, nachdem er die Kostümparty seiner Arbeitgeberin, einer jungen Frau im Reichenviertel, von Ecstasy betäubt, verlassen hat. Er steht verloren und mit schwarzem Umhang bekleidet unter einer Straßenlaterne. Die namenlose Vampirin kommt mit einem Skatebord, das sie zuvor einem kleinen Jungen abgenommen hat, auf ihn zu und er folgt ihr wortlos in ihre Wohnung. Dort kommt es zu einer aus vielen Vampirfilmen bekannten Szene, freilich mit vertauschten Rollen. Arash, noch immer von der Droge und wohl auch romantischen Gefühlen in einer Art Rauschzustand, steht regungs- und wehrlos da, als die Vampirin beim Tanz sich seiner Halsschlagader nähert, – aber sie verschont ihn.

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Es kommt zu einem weiteren Treffen, einem Date am Rande der trostlosen Stadt, bei welchem Arash der jungen Frau einen Brillantohrring schenkt, den er seiner Arbeitgeberin gestohlen hat, und sie auffordert, doch mit ihm eine Beziehung zu beginnen. Die Vampirin, offensichtlich zu Arash hingezogen, weist ihn dennoch zurück mit dem Satz: »You don’t know the things I’ve done.« Arash wirft seinen im kurzfristigen Entzug randalierenden Vater mitsamt dem Kater aus der Wohnung, woraufhin dieser zu der Prostituierten geht, die zuvor bereits von der Vampirin fast überredet worden war, wegzugehen und eine neue Existenz zu beginnen. Hossein fesselt die Prostituierte und zwingt sie, mit ihm Heroin zu konsumieren. Als beide fast ohnmächtig im Bett liegen, kommt die Vampirin durch das Fenster und tötet Hossein. Gemeinsam mit der Prostituierten bringt sie die Leiche nach draußen, wo sie wenig später auch von Arash gefunden wird. Er beschließt, Bad City endgültig zu verlassen und will die Vampirin mitnehmen. Als er in ihre Wohnung kommt und sie ihre Reisetasche zu packen beginnt, sieht er seinen Kater bei ihr: Ihm wird klar, dass sie es war, die seinen Vater getötet hat. Dennoch fahren beide schweigend in der Nacht weg. Außerhalb der Stadt bleiben sie auf einem Parkplatz stehen, Arash steigt aus, geht kurz vom Auto weg, sichtlich mit sich hadernd, die Vampirin wartet ebenso reglos wie der Kater im Auto. Arash kommt zurück und sie fahren gemeinsam hinaus in die dunkle Nacht.

Gewalt gegen das Patriarchat und romantische Zweierbeziehung A GIRL WALKS HOME ALONE AT NIGHT wurde von der Kritik als »Middle Eastern feminist vampire romance«24 bezeichnet. In der Tat treffen sich in diesem Film sehr konkrete und machtvolle Patriarchatskritik, symbolische Kritik an der aktuellen politisch-religiösen Lage im Iran und eine romantische Vampir-MenschLovestory in überraschend stimmiger Weise. Im Folgenden soll insbesondere auf die Transformation traditioneller Elemente des Vampirs auf narrativer und visueller Ebene eingegangen werden, ebenso wird ein Blick auf die Anknüpfungspunkte zur Vampirin als Nachfolgerin altorientalischer Dämoninnen geworfen und schließlich sollen das Thema Geschlechterrollen und der Aufbruch aus patriarchalen Strukturen beleuchtet werden.

24 Lodge, Guy: »Sundance Film Review«, in: Variety, http://variety.com/2014/film/mark ets-festivals/sundance-film-review-a-girl-walks-home-alone-at-night-1201069599/ vom 19.4.2017.

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Die optische Erscheinung der namenlosen jungen Vampirin ist der erste deutliche Hinweis darauf, dass hier mit Tradition auf allen Ebenen gespielt wird, um sie ad absurdum zu führen.25 Wer kennt nicht den schwarzen, langen Umhang als Requisit Graf Draculas in den Filmen der 1930er- bis 1970er-Jahre? Auch die Vampirin bei Amirpour trägt einen langen schwarzen Umhang, der sich beim zweiten Hinsehen als Tschador der rigiden iranischen Kleiderordnung entpuppt. Das simple Kleidungsstück eröffnet eine vielfältige Lesbarkeit: Zuerst Reminiszenz an die männlichen Vampire europäischer Provenienz, wird es für eine junge Frau in einem religiösen Patriarchat zum Symbol der Unterdrückung und Verhüllung ihrer Weiblichkeit, und gerade deshalb als Kleidungsstück einer Vampirin, die Männern den Tod bringt, zum umso mächtigeren Symbol der Überwindung dieser religiös-patriarchalen Ordnung. Ähnliches gilt auch für den Titel des Films: Ein Mädchen, das nachts allein nach Hause geht, muss mit männlicher Gewalt rechnen, so das allzu bekannte patriarchale Narrativ in vielen Gesellschaften. Der Film setzt den Beginn dieses Narrativs jedoch ganz anders fort: Ein Mädchen, das nachts allein nachhause geht, bringt böse Männer um. Unverkennbar ist auch die Anspielung auf die jüngste Vampirsaga, TWILIGHT, wenn in A GIRL WALKS HOME ALONE AT NIGHT Vampir und »love interest« im späten Teenager- beziehungsweise jungen Erwachsenenalter sind, nur Vampirin und junger Mann statt Vampir und junges Mädchen. Der kurze Dialog zwischen Arash und Vampirin beim nächtlichen Rendevouz draußen vor der Stadt ist ein parodistisches Zitat aus Twilight, wo der liebeskranke Vampir Edward um Abstand ringt und die ihm zugetane Bella mit den Worten warnt: »I’ ve killed people before, …«26. Hier spricht die Vampirin ganz ähnliche Worte: »You don’t know the things I’ve done «, die angesichts der gewalttätigen Gesamtsituation und des Wissens, dass auch Arash kein naives Unschuldslamm ist,27 noch einmal mehr die Verschiebung der traditionellen Rollen von Beschützer und schwacher Geliebter, von Vampir und Beinahe-Opfer bedeuten. Dasselbe gilt für die Zurückhaltung in der letzten Minute vor dem Biss: Nicht männliche, sondern weibliche Begierde wird hier freiwillig beherrscht, weil sie tödlich ist. Die namenlose, Farsi sprechende Vampirin aus dem Jahr 2014 ist gleichzeitig auch eine gekonnte Aufnahme des antiken Topos der männermordenden und 25 Zur Ästhetik des Films vgl. auch Bradshaw, Peter: »A Girl Walks Home Alone at Night review – vampire in a veil stalks Iran«, in: The Guardian 21.5.015 https://www.theguardian.com/film/2015/may/21/a-girl-walks-home-alone-at-nightreview vom 19.4.2017. 26 Twilight (Regie: Catherine Hardwicke, USA 2008) 27 Er selbst antwortet darauf nämlich: «And you don’t know the things I’ve done.»

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für Kinder verderblichen Dämonin, welche die Wurzel der Geschlechterungerechtigkeit, die solchen Mythen eingeschrieben ist, bloß legt und überwindet. Bereits das erste Auftreten der Vampirin geschieht in einer Situation, die männliche Macht in ihrer unappetitlichsten, aber sehr realistischen Erscheinungsform zeigt: Der Drogendealer nötigt die Prostituierte Atti nicht bloß zum Oralsex, er gibt ihr auch zu verstehen, dass sie in dieser Welt, gemeint: seiner männlichen Welt, als alternde Frau keine anderen Optionen und daher absolut gefügig zu sein habe. Es ist der Schatten der Vampirin, der ihn dazu bringt, von Atti abzulassen, freilich nur, um seinen ihm selbstverständlich scheinenden Herrschaftsanspruch über jede Frau und ihre Sexualität mit der jungen Vampirin fortsetzen zu wollen. Anders als in den antiken Erzählungen von Lamia und Lilith wird hier der Mann nicht Opfer weiblicher Grenzüberschreitung, sondern vielmehr werden ihm sein Begehren und unreflektierter Herrschaftsanspruch, oder drastischer formuliert, sein selbstherrlicher Machismus zum Verhängnis. Die Vampirin kehrt die Rollen von Opfer und Täter um, sie tut bis zur letzten Konsequenz, was der Dealer zuvor Atti und wohl vielen anderen Frauen angetan hat. Sie bemächtigt sich des anderen Körpers. Anders jedoch als die Vampirinnen in zahlreichen Filmen bis hin zu Francis Ford Coppolas Dracula-Adaption28 sehen die Zuschauer_innen nicht einfach die dämonische »femme fatale«, sondern eine Frau, die einen Mann seiner gerechten Strafe zuführt in einer Welt, die ihn sonst davon kommen lassen würde. Eine Variation dieser Szene findet sich gegen Ende des Films. Hossein, Arashs drogenabhängiger Vater, hat die Prostituierte Atti gegen ihren Willen gefesselt und mit Heroin betäubt, als die Vampirin durch das Fenster hereinkommt und Hossein tötet. Frauen, selbst solche, die in einer patriarchalen Gesellschaft am Rand stehen und vermeintlich Freiwild sind, dürfen nicht mit Gewalt zu etwas gezwungen werden – das ist die deutliche Botschaft, welche die Vampirin hier in Blut geschrieben hinterlässt. Ein weiteres signifikantes Motiv aus der Religionsgeschichte, das in der Darstellung von Vampirinnen heute oft ausgespart wird, begegnet in A GIRL WALKS HOME ALONE AT NIGHT ebenfalls in einer sehr interessanten Variante: Die Bedrohung von Kindern. Religionsgeschichtlich sind Gestalten wie Lilith eindeutig auch als Kindbettdämoninnen, imaginiert, um die hohe Kindersterblichkeit in diesen prämodernen Gesellschaften zu erklären.29 In einer patriarchalen Mythologie wie jener des alten Orients oder der griechisch-römischen Antike ist das ultimative Böse die Verweigerung nicht nur der Unterordnung, sondern auch der Geburt, ja deren Umkehrung in Bedrohung der Nachkommenschaft. In der Lite28 BRAM STOKER’S DRACULA (Regie: Francis Ford Coppola, USA 1992). 29 Vgl. K. Trattner, Liliths Kinder, S. 19f.

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ratur des 19. Jahrhunderts begegnet diese weiblichen dämonischen Gestalten zugeschriebene Eigenschaft nur mehr selten, am deutlichsten vielleicht noch in Bram Stokers Dracula, wo die zur Vampirin gewordene Lucy kleine Kinder raubt und beißt. Die namenlose Vampirin in Bad City lässt diese Eigenschaft ein einziges Mal aufblitzen: Sie nähert sich einem vielleicht zehnjährigen Jungen, verfolgt ihn und fragt ihn, ob er ein guter Junge sei. Als er dies bejaht, fragt sie ihn nochmals, um schließlich mit veränderter, tiefer, bedrohlicher Stimme in sein Ohr zu flüstern: »I can take your eyes out of your skull and give them to dogs to eat. Till the end of your life, I’ll watch you.« Im Gesamtnarrativ des Films wird klar: Ein guter Junge zu bleiben heißt, nicht Teil eines frauenverachtenden Patriarchats zu werden, wie es der Dealer und Hossein repräsentieren, sondern ein Mann zu werden wie Arash, der sich selbst in einer bösen Umwelt bemüht, halbwegs gut zu bleiben. Ein wenig erinnert A GIRL WALKS HOME ALONE AT NIGHT an das Genre der »Rape-Revenge« Filme,30 nur dass hier die Vampirin jene Rache an bösen Männern nimmt, die die Frauen in der dargestellten Gesellschaft nicht nehmen können. Dennoch ist dieser Film keine Fundamentalkritik am männlichen Geschlecht oder gar männerverachtend. Im Gegenteil, mit Arash wird gleich in der ersten Szene ein junger Sympathieträger eingeführt, der sowohl Symbole tradierter Männlichkeit, wie die Begeisterung für sein Auto, als auch Sensibilität und Verantwortung verkörpert, wenn er seinen Kater suchen geht und sich um den undankbaren, drogenabhängigen Vater kümmert. Mit ihm und der Vampirin werden tradierte Geschlechterrollen aufgebrochen und in bewussten Kontrast gestellt zu einer Gesellschaft, die männliche Hegemonie und die gewalttätigen Folgen zum einzigen Ordnungsprinzip in einer ansonsten gesetzlosen Welt erhoben zu haben scheint. Weder Arash noch die Vampirin können diese Welt wirklich verändern, wohl aber sich ihrem Einfluss entziehen und ihr entfliehen – wohin bleibt offen. Selbst unter den widrigen Bedingungen einer Gesellschaft, die Frauen entweder unter den Tschador zwingt oder zu rechtlosen Prostituierten macht, ist ein respektvoller Umgang der Geschlechter miteinander, ja sogar eine Liebesbeziehung möglich, wissend, dass keiner der beiden Partner unschuldig ist und bei beiden die Bereitschaft vorausgesetzt wird, die Strukturen des Bösen zurückzulassen und ins Neue, Ungewisse aufzubrechen.

30 Vgl. Lehman, Peter: »›Don’t blame this on a girl‹. Female Rape-Revenge Films«, in: Steven Cohan/Ina Rae Hark (Hg.): Screening the male. Exploring Masculinities in Hollywood Cinema, London. New York: Routledge 1993, S. 103-117.

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Z USAMMENFASSUNG Frauen, die Männern gefährlich werden können, indem sie zur Überschreitung gesellschaftlicher Grenzen verführen und den Männern so das »Leben« in eben dieser Gesellschaft aussaugen, gehören zum Repertoire der vorchristlichen Religionsgeschichte – als Warnung vor solchen Grenzüberschreitungen an Männer und Frauen gleichermaßen. Weibliche Autonomie wird im buchstäblichen Sinn dämonisiert, die Gestalten, die sie verkörpern, werden zum Objekt männlicher Angstlust und entsprechender Narrative stilisiert. Daran ändert sich auch bei der Wiederentdeckung dieses Narrativs ab der Romantik wenig, immer sind diese Frauen letztlich Projektionsfläche männlicher Begierden und Ängste, sie werden durch Männer unschädlich gemacht, um die patriarchale Ordnung wieder herzustellen. Vampirinnen haben, anders als Vampire, auch im 21. Jahrhundert in den allermeisten Filmen und TV-Serien erstaunlich wenig Entwicklungspotential, die traditionellen Geschlechterrollen werden im Vampirnarrativ neuerdings sogar eher bestätigt denn in Frage gestellt. Dass es auch anders geht, beweisen zwei Filme, in denen eine Vampirin für einen Mann und wohl auch für die Zusehenden zur Heldin wird, ohne einfach das tradierte Heldennarrativ – Held rettet »Damsell in distress« – umzukehren. Vielmehr brechen die Filme LET THE RIGHT ONE IN und A GIRL WALKS HOME ALONE AT NIGHT die festgefahrenen Geschlechterrollen auf, sei es durch das jugendliche Alter der Protagonist_innen, sei es durch bewusste Parodie dieser Rollen und eröffnen die Option auf ein anderes, noch zu findendes Ende. Die Figur der Vampirin steht, dank ihrer Geschichte im kollektiven Bewusstsein seit dem 19. Jahrhundert, wie kaum eine andere für Geschlechterrollenklischees, hinter denen sich Macht- und Hegemoniediskurse verbergen, die über die bloße Zweierbeziehung weit hinausgehen. Umso spannender ist es zu sehen, dass gerade die Vampirin für einen Aufbruch zu einer Neudeutung des Heldennarrativs stehen kann, in dem nicht einfach die Böse zur Guten wird, sondern die Ambivalenz der Postmoderne für beide Geschlechter Gestalt gewinnt und die Zuschauer_innen dazu auffordert, sich von alten Sichtweisen auf Geschlechterrollen und moralische Zuschreibungen zu verabschieden – ohne genau zu wissen, was auf diese folgen wird, und wohl auch, ohne es wissen zu wollen. Es ist kein Zufall, dass beide Filme ein »open end« haben und ihre Protagonist_innen, die Vampirin und ihr männlicher Begleiter, ins Unbekannte fahren.

Graf Dracula – Ein Held? Die Repräsentation des vermeintlich Bösen in John Badhams Dracula1 K ARIN G RAF -B OYKO

Der strahlende Held, in edler Rüstung auf einem Schimmel, mit seiner aus den Fängen des Bösen geretteten Frau, in den Sonnenuntergang reitend… Dies ist ein klassisches Bild des Beginns einer romantischen Beziehung, allerdings meist auch das Ende der Geschichte. Wer in einer Geschichte den »Helden« und wer seinen »Gegenspieler« verkörpert, ist vom Publikum schnell erkannt. Die Zuschauer_innen durchlaufen Prozesse der Identifikation mit den Figuren. Sie rufen Gefühle der Sympathie- und Antipathie hervor, fesseln und ergreifen Besitz von den Vorstellungen der Rezipient_innen. In der Regel ist der Held dafür zuständig, wieder Ordnung in das durch den Bösewicht verursachte Chaos zu bringen. Je nachdem aus welcher Perspektive dieses Chaos, das gestörte System von Ordnung, betrachtet wird, etabliert sich eine Umkehrung der Dichotomie von Gut und Böse. Jeder Mensch hat gute wie auch böse Charaktereigenschaften, dieser Bruch, dieses Gespalten-Sein spiegelt sich in realen wie fiktiven Geschichten wider. Gerade in Literatur und Film wird erkennbar, wie wandelbar die Figur des Helden ist und wie sie an zeitliche sowie gesellschaftliche Situationen adaptiert wird, sodass eine Identifikation, im gegebenen Kontext, jederzeit möglich ist. Hierfür wenden sich Geschichtenschreibende und Filmschöpfende gerne an die Symbolkraft von Mythen, die im kollektiven Gedächtnis tief verankert sind.

1

Ich möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich bei meiner Mentorin Theresia Heimerl bedanken, die mich beim Entstehen dieser Arbeit inspiriert, unterstützt und mit ihrem Einfühlungsvermögen wohlwollend begleitet hat. Vielen Dank!

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Ausgehend von der Frage nach den Dichotomien von Gut und Böse in Narrationen, wird in der vorliegenden Arbeit der Blick auf ein ursprünglich abgrundtief böses, mythisches Halbwesen gerichtet, an dem sich besonders im 21. Jahrhundert eine mediale Tendenz der Heroisierung beobachten lässt. Der Vampir – im Besonderen am Beispiel der Figur des Grafen Dracula festgemacht – zeigt sich als eine Schreckensgestalt mit universellem Bekanntheitsgrad. Tief verwurzelt im kulturellen Gedächtnis und im Aberglauben findet sie bis dato Eingang in Horrorgeschichten. Es zeichnet sich in den medialen Umsetzungen der Gegenwart eine Tendenz ab, diese Gestalt neu zu interpretieren und die Grenzen des Horrorgenres zu verschieben, neu zu positionieren, womöglich aufzulösen. Der Blick auf das vermeintlich Böse hat sich zu wandeln begonnen: Der Vampir wird zu einem Gentleman der alten Schule, mit korrektem Verhalten gegenüber Frauen ‒ der »bessere Mann«. Welcher der Dutzend Dracula-Filme – von Dracula bis Twilight – war der erste, in dem Dracula gute Eigenschaften zugeschrieben werden können? Wo vermischen sich Gut und Böse, sodass keine eindeutige Trennung stattfinden kann? Um diese Fragen wird es im Folgenden gehen. Das erste Kapitel begründet die Ambivalenz der Heldenfigur. Um sich der Thematik ›untoten‹ Lebens anzunähern, schildere ich im zweiten Kapitel, wie es zu dem Glauben an übernatürliche Wesen, wie Vampiren, gekommen ist. Der Aberglauben an Vampire wurde von Literatur wie Film aufgegriffen und vielfältig umgesetzt. Einige dieser Werke stelle ich im dritten Kapitel vor. Besondere Aufmerksamkeit gilt hierbei dem Roman Dracula von Bram Stoker sowie dessen filmischer Umsetzung in Dracula von John Badham. Der gesellschaftlichen Ambivalenz auf der Spur wird im abschließenden Kapitel die perspektivische Wahrnehmung zwischen der Dichotomie von Gut und Böse beleuchtet sowie in der Conclusio die wichtigsten Schlussfolgerungen erläutert.

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D IE AMBIVALENZ DER H ELDENFIGUR ZWISCHEN G UT UND B ÖSE »Daß der Vampir sich über die moralischen Kategorien von Gut und Böse hinwegsetzt, macht ihn so faszinierend! Das Gute ist ohne das Böse nicht denkbar, denn gut und böse definieren sich wechselseitig. Es ist die Bedrohung des Bösen, das die vermeintlich Guten heimsucht.«2

Fiktive und reale Figuren, so Beate Binder, werden durch Zuschreibungen von innen (selbst) und außen (fremd) konstituiert und tragen dadurch zur Herstellung einer Ordnung in sozialen Systemen bei. 3 Syd Field stellt fest: »Eine Figur ist, was sie tut.«4 Stephan Moebius und Markus Schroer definieren Sozialfiguren als »zeitgebundene historische Gestalten, anhand deren (sic!) ein spezifischer Blick auf die Gegenwartsgesellschaft geworfen werden kann.«5 Es handelt sich um Typen beziehungsweise Charaktere, die »Ordnung in die Vielfalt der empirischen Erscheinungen«6 bringen sollen. Heldenfiguren zählen zur Kategorie der Sozialfiguren, in denen sich ideologische Konzeptionen der Gesellschaftsstruktur spiegeln. Sie begegnen uns an vielen Orten: von der Antike bis in die Gegenwart, im Leben, im Sport, in Geschichten, Literatur, Film und Fernsehen, in der Alltagswelt sowie in der Welt der Wunder, Mythen und Illusionen. Bernd Rieken stellt fest, dass sich in den Mythen unterschiedlicher Kulturen und Zeiten bestimmte Themen zwar jeweils anders manifestieren, dass sie aber teilweise einem Grundbestand menschlicher Probleme zuzurechnen seien, nämlich Dichotomien wie »Ordnung und Chaos, Sicherheit und Unsicherheit, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Natur und Kultur, Trieb und Vernunft, Liebe

2

Prüßmann, Karsten: Die Dracula-Filme. Von Friedrich Wilhelm Murnau bis Francis Ford Coppola, München: Heyne 1993, S. 14.

3

Vgl. Binder, Beate: Figuren der Urbanisierung aus geschlechtertheoretischer Perspek-

4

Field, Syd/Mäthesheimer, Peter/Längsfeld, Wolfgang: Drehbuch schreiben für Fern-

tive, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte, 2 (2012), S. 92-100, hier S. 97. sehen und Film. Ein Handbuch für Ausbildung und Praxis, 4. Aufl., Berlin: Ullstein 2006, S. 25. 5

Moebius, Stephan/Schroer, Markus: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Diven, Hacker, Spe-

6

Ebd.

kulanten. Sozialfiguren der Gegenwart, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 7-11, hier S. 8.

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und Hass, Gut und Böse, Gesundheit und Krankheit, […].«7 »[…] wir brauchen die Mythen zur Strukturierung des Lebens.«8 Der Mythos ist wesentlich für menschliche Sinn- und Bedeutungszuschreibungen und spiegelt grundlegende und elementare Fragen des Menschen wider. Die Identifikation mit dem hervorstechenden Volkshelden geschehe durch die Übertragung eigener kindlicher Wünsche und Sehnsüchte.9 Dadurch, dass Helden eine Ambivalenz zwischen Gut und Böse verkörpern, wohne ihnen eine stabilisierende Funktion inne. Darin liege ihre Macht begründet, Gegensätze leichter zu verarbeiten. Heldenfiguren würden gesellschaftspolitische und soziale Funktionen erfüllen und zur psychischen, physischen wie ethischen Orientierung dienen.10 In Erzählungen stellt neben dem Helden der Antagonist (Bösewicht oder Widersacher) des Helden einen wichtigen Charakter dar. Wir haben es also in jeder Geschichte mit den Gegensätzen von Gut und Böse zu tun. Roland Girtler bemerkt dazu, dass der gute Mensch seinen Gegenspieler, den Bösewicht, benötige, um sich selbst als gut und edel begreifen zu können.11 Dies zeigt sich vor allem an den Taten der einzelnen Figuren. Ob es sich um eine gute oder um eine böse Tat handelt, wird gesellschaftlich bewertet. Das heißt, dass Zeugen, ein Publikum, das der Erzählung lauscht, zentral für die Konstituierung des Helden sind.12 Christian Schneider postuliert: »Niemand ist aus sich heraus ein Held.«13 Demzufolge ist die gute Tat, der vermeintlich gute Mord im Auftrag des Guten erst durch das Publikum legitimiert. Während es auf der Seite des Bösen – das Schlechteste, Brutalste, Hässlichste, 7

Rieken, Bernd: Klein und groß. Psychodynamische Aspekte einer Grundform menschlicher Weltdeutung, in: Zimmermann, Harm-Peer (Hg.): Lust am Mythos. Kulturwissenschaftliche Neuzugänge zu einem populären Phänomen, Marburg: Jonas 2015, S. 44-50, hier S. 44.

8

Murdock, Maureen: Der Weg der Heldin. Eine Reise zur inneren Einheit, München:

9

Vgl. Rank, Otto: Der Mythus von der Geburt des Helden. Versuch einer psychologi-

Sphinx 1994, S. 196. schen Mythendeutung (=Schriften zur angewandten Seelenkunde Heft 5), 2. Aufl., Wien: Turia + Kant 2000, S. 155. 10 Vgl. Immer, Nikolas/Marwyck, Mareen van: Helden gestalten. Zur Präsenz und Performanz des Heroischen, in: Dies. (Hg.): Ästhetischer Heroismus. Konzeptionelle und figurative Paradigmen des Helden, Bielefeld: transcript 2013, S. 11-28, hier S. 11. 11 Vgl. Girtler, Roland: Bösewichte. Strategien der Niedertracht, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 1999, S. 9. 12 Vgl. Schneider, Christian: Wozu Helden?, in: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, 18. Jg. (2009), Heft 1, S. 91-102, hier S. 92. 13 Ebd.

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Aufwühlendste, Ungerechteste und Abscheulichste ist, das ein Mensch einem anderen Lebewesen antun kann – durch die Stigmatisierung als solche negativ konnotiert wird. Dabei ist zu bedenken, dass Wertungen nie alleine im Auge des Betrachters liegen, sondern sich entscheidend einer je zeitgenössischen gesellschaftlichen Position dazu verdanken, was als Gut und was als Böse definiert wird. »Von seiner [des Antagonisten, d. Verf.] Warte aus ist der Bösewicht der Held eines eigenen Mythos, in dem der Held des Publikums die Rolle des Bösewichts spielt.«14 Daraus ergibt sich die Frage, wann eine böse Tat durch das Gute, personifiziert durch die Heldenfigur, in einer Geschichte legitimierbar ist. Ist ein Bösewicht so konzipiert, dass er nicht durchgehend böse ist, sondern ihm Güte oder eine bewundernswerte Eigenschaft anhaften15, muss der Held einen für das Publikum vertretbaren Grund haben, um diese Figur umzubringen. 16 Fehlt also die Identifikation mit dem Helden, werden dessen Taten verurteilt und der Protagonist scheitert als Held. Zu berücksichtigen ist, wenn man sich mit dem Typus der Heldenfigur beschäftigt, dass sie »stetiger Veränderung und damit dem historischen Wandel unterliegen«17 und dass es sich um »medial konstruierte Figuren«18 handelt. Dies gilt ebenso für die Antagonisten, die Bösewichte in den Geschichten, welche vermeintlich Böses tun. Christopher Vogler hat in seiner Odyssee des Drehbuchschreibers festgehalten, dass ein Heros dazu bereit sei, eigene Bedürfnisse dem Nutzen der Gemeinschaft zu opfern.19 »Zum Helden kann nur werden, wer bereit ist, Opfer zu bringen, eingeschlossen das größte, das des Lebens.«20 Vogler hat einen Leitfaden für die Reise des Helden entwickelt, der in den meisten Geschichten in Literatur oder Film als grundmotivisch wiedergefunden werden könne. Schematisch stellt diese Reise einen zyklischen Kreis dar, der Ausgangspunkt der Reise des Helden beginnt in seiner gewohnten Alltagswelt, in der er dem Ruf des Abenteuers in eine dem Helden unbekannte Welt folgt. Dort muss er sich unterschiedlichen Prüfungen stellen und trifft dabei auf seine Antagonisten. Am Ende erwartet ihn 14 Vogler, Christopher: Die Odyssee des Drehbuchschreibers. Über die mythologischen Grundmuster des amerikanischen Erfolgskinos, 2. Aufl., Frankfurt am Main: Zweitausendeins 1998, S. 148. 15 Vgl. ebd., S. 147. 16 Vgl. ebd., S. 148. 17 N. Immer/M. van Marwyck: Helden gestalten, S. 21. 18 Ebd., S. 23. 19 C. Vogler: Die Odyssee des Drehbuchschreibers, S. 87. 20 Münkler, Herfried: Heroische und Postheroische Gesellschaften, in: Merkur, 61. Jg. (2007), Heft 8, S. 742-752, hier S. 742f.

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eine Belohnung, mit der er sich auf den Rückweg machen kann. Auf dieser Reise begegnet der Held vielen unterschiedlichen Typen, die dem Helden gut oder auch feindlich gesinnt sein können.21 Wenn man sich eine Figur für eine fiktive Geschichte ausdenkt, ist es wichtig, sie so realistisch, lebensnahe und -wirklich wie möglich zu erschaffen, um ein hohes Spektrum an Identifikationsmöglichkeiten zu gewährleisten. Je mehr Fehler und je verletzlicher die Figur ist, desto menschlicher erscheint sie. Der makellose Held gehört heute der Vergangenheit an. »Alle Charakterzüge entspringen der Biografie; aus der Vergangenheit einer Figur entstehen ihr Standpunkt, ihre Persönlichkeit, ihre Haltung, ihr Verhalten, ihr Bedürfnis und ihr Ziel.«22 Es handelt sich also um eine Person »an deren Schicksal man Anteil nimmt, mit der man sich identifiziert.«23 Der Wiedererkennungseffekt ist essentiell für den Erfolg einer Geschichte. Der Identifikationsspielraum mit heroischen Figuren gründet in der Erfahrung von Erlebtem oder in gemeinsam geteilten körperlichen und emotionalen Eigenschaften. Heroisierungsprozesse »vollziehen und stabilisieren sich […] in sozialen und kommunikativen Prozessen, die medialer Präsentation bedürfen und affektiv wie normativ aufgeladen sind.«24 Diese Identifikation wird gerade an dem Punkt spannend, an dem man sich nicht in der Heldenfigur wiederfindet, sondern in ihrem Gegenspieler, jenem Charakter, der das Böse vertritt und moralisch verwerflich handelt. Vogler fasst die Figur des Bösewichtes, Feindes, Antagonisten unter dem Begriff des Schattens zusammen. »Der Schatten in der Psyche eines Menschen kann von Gefühlen oder Gedanken erfüllt sein, die dieser unterdrückt, ignoriert oder schlicht vergessen hat; damit ist der Schatten sozusagen der letzte Zufluchtsort für die gesunden, natürlichen Gefühle, die wir, wie wir glauben, nicht zeigen dürfen.«25 Oft nimmt in Geschichten der Teufel die Rolle des Bösewichts ein. Sein Aussehen verdankt er unter anderem bildlichen Vorstellungen der Göttern Pan und Hades beziehungsweise Pluto, der mit der Unterwelt und dem Tod, sowie 21 Vgl. C. Vogler: Die Odyssee des Drehbuchschreibers. 22 S. Field/P. Mäthesheimer/W. Längsfeld: Drehbuch schreiben für Fernsehen und Film, S. 31. 23 Ebd., S. 27. 24 Hoff, Ralf von den/Asch, Ronald G./Aurnhammer, Achim u.a.: Helden – Heroisierungen – Heroismen. Transformationen und Konjunkturen von der Antike bis zur Moderne. Konzeptionelle Ausgangspunkte des Sonderforschungsbereichs 948*, in: helden. heroes. héros. E-Journal zu Kulturen des Heroischen, 1.1 (2013), S. 7-14, https://ww w.sfb948.uni-freiburg.de/e-journal/ausgaben/012013/helden.heroes.heros.2013-01 vom 18.01.2017, S. 8. 25 C. Vogler: Die Odyssee des Drehbuchschreibers, S. 149.

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mit Sexualität und Fruchtbarkeit assoziiert wird. So werden auch dem Vampir, als Geschöpf der Hölle, sexuell konnotierte Elemente zugesprochen, wie das unmoralische Begehren verheirateter Frauen. Als Grenzfigur zwischen Held und Antiheld spiegelt er die (un)moralische gesellschaftliche Ambivalenz zwischen Gut und Böse wider. Graf Dracula, um den es hier insbesondere geht, ist ein im Mythos: der Vampir der Vampire – ein Wiedergänger, der von den Toten in die Welt der Lebenden zurückkehrt, eine abscheuliche Bestie, die sich vom Blut der Lebenden nährt. Vor allem im Horrorgenre vertreten, war es nur eine Frage der Zeit, bis hier auch Elemente des Liebesfilms eingegangen sind. Etliche Verfilmungen zeigen Graf Dracula beziehungsweise den Vampir nicht mehr nur als das abgrundtief Bösen, sondern als Wesen mit Gefühlen, verletzlich und durch seine Andersartigkeit von der Gesellschaft ausgeschlossen. Zwischen Tod, Verwesung und Blut kommt es zu Lust, Begehren und sexueller Befriedigung.

D IE HISTORISCHE V AMPIRFIGUR »Beim Vampirismus handelt es sich, allgemein gesehen, um einen Aberglauben, bei dem es um Wesen geht, die Menschen und Tieren das Blut aussaugen und sie auf diese Weise töten.«26

Eine vom Erdgrab »befreite« Leiche; aufgedunsen, dick angeschwollen, vollgesogen mit frischem Blut, das aus dem Mund austritt; junge, frische Haut, längere Haare und Nägel27: Dies waren, folgt man zeitgenössischen Beschreibungen, im 18. Jahrhundert die Anzeichen dafür, dass Vampirjäger das richtige Grab ausgehoben hatten, denn diese Merkmale entlarvten den Verdächtigen/die Verdächtige als Vampir.28 Stieß man nun einen Pflock durch das Herz des Leichnams, vernahm die begutachtende Gesellschaft ein Blubbern beziehungsweise Schmatzen des/der Toten, wodurch die Bestätigung, einen Vampir getötet zu haben, bekräf-

26 Schroeder, Aribert: Vampirismus. Seine Entwicklung vom Thema zum Motiv (=Studienreihe Humanitas, Studien zur Anglistik), Frankfurt am Main: Akademische Verlagsgesellschaft 1973, S. 5. 27 Vgl. Schaub, Hagen: Blutspuren. Die Geschichte der Vampire. Auf den Spuren eines Mythos, Graz: Leykam 2008, S. 72. 28 Hier sei Christian Friedrich Garmann (1640-1708) erwähnt, der bereits 1670 in seinem Werk De Miraculis Mortuorum. Die Wunder [dinge] der Toten unter anderem auch über diese Eigenarten schrieb.

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tigt wurde. Schließlich trat zusätzlich vermeintlich frisches Blut aus dem nur langsam verwesenden Körper.29 Der Mythos des Vampirs zählt zu jenen Phänomenen, welche geschaffen wurden, um Unerklärliches erklärbar zu machen. Dazu zählten vor allem mehrere plötzliche Todesfälle, die in kurzer Zeit stattfanden, was bei Seuchen wie der Pest30 häufig vorkam, aber auch allgemein, in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche. Sündhaftes Verhalten wurde als Auslöser von Unheil angesehen, daher dienten böse Geister als Projektion für die eigene Schlechtigkeit: 31 »Der Vampir ist die gelungenste Projektion unserer Urängste, ein theologisches Wesen mit gewaltigem philosophischem und psychologischem Tiefgang.«32 Die Zeit der Aufklärung war die Blütezeit der sogenannten Wiedergänger, der von den Toten Zurückgekehrten, wobei Wien eine zentrale Rolle spielte,33 auch wenn der Glaube an zurückkehrende Geschöpfe von den Toten kein neuer Aberglaube des 18. Jahrhunderts war. Der Friede von Passarowitz 1718 beendete den dritten Krieg Österreichs mit dem Osmanischen Reich. Durch ihren Sieg konnte die Habsburgermonarchie den größten Teil Serbiens, die Kleine Walachei sowie das Banat einnehmen. Von Wien aus wurde der Aufbau einer neuen Verwaltung begonnen.34 Ab dieser Zeit begann sich die Obrigkeit, immer mehr für die rätselhaften Vampirvorfälle an der Militärgrenze zu interessieren und sie wissenschaftlich zu erörtern.35 Diese Untersuchungen wurden in offiziellen Dokumenten, als Aktenberichte, von Beamten der österreichischen Militärgrenze verfasst. Der Unterschied zu den vorangegangenen Anmerkungen ist, dass sie in Chroniken oder privaten Aufzeichnungen niedergeschrieben oder als Anekdoten Erwähnung fanden.36 29 Vgl. Ruthner, Clemens: Untote Verzahnungen. Prolegomena zu einer Literaturgeschichte des Vampirismus, in: Bertschik, Julia/Tuczay, Christa A. (Hg.): Poetische Wiedergänger. Deutschsprachige Vampirismus-Diskurse vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Tübingen: Francke 2005, S. 11-42, hier S. 18 sowie H. Schaub: Blutspuren, S. 72. 30 Aus der griechischen Volksmythologie galt Nosophoros als der Pestbringer – Nosferatu. Vgl. Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung: Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens. Der Film, Booklet zur DVD, München: Transit Film GmbH 2007, S. 3. 31 Vgl. K. Prüßmann: Die Dracula-Filme, S. 14 und S. 21. 32 Ebd., S. 11f. 33 Vgl. A. Schroeder: Vampirismus, S. 14 und S. 40. 34 Vgl. Berenger, Jean: Die Geschichte des Habsburgerreiches 1273 bis 1918, 2.Aufl., Wien/Köln/Weimar: Böhlau 1996, S. 439. 35 H. Schaub: Blutspuren, S. 86. 36 Vgl. ebd., S. 86.

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Von der Balkanhalbinsel aus, sich über Europa verbreitend, wächst der Bekanntheitsgrad des Vampirs in den Jahren 1725 sowie 1732/33. Ausschlaggebend dafür war der Fall von Peter Plogojewitz in Kisolova (Serbien) 1725 37. »Und am 21. Juli 1725 konnte jedermann in der Donaumonarchie über die blutsaugenden Toten lesen, die sich ›vampyri nennen‹.«38 Dies ist der erste Beleg im deutschsprachigen Raum für die Wortverwendung: Der Apotheker Frombald, der diesen Fall untersuchte, verwendete das Wort Vampir erstmals, wenn auch noch zögerlich.39 Daraus, dass das Wort danach wie selbstverständlich in die Berichte eingeflossen sei, schließt Peter Mario Kreuter, dass die Verwaltung in Serbien häufiger mit dem Vampirglauben in Kontakt gekommen sein müsse. Die Herkunft oder der Ursprung dieses Wortes im Zusammenhang mit solchen Wesen jedoch konnten bis heute nicht geklärt werden.40 Davor waren lebende Leichname u.a. als Wiedergänger, schmatzende Tote, Nachzehrer, Neuntöter, Alp, Revenants oder Ghoul bekannt.41 Der zweite aufsehenerregende Fall ereignete sich 1731/32 in dem Dorf Medvegya an der Morava. 42 Im Zuge einer Seuche verdächtigten die Dorfbewohner_innen kürzlich Verstorbene, für den Tod mehrerer Menschen verantwortlich zu sein. Der Regimentsfeldscher Johann Flückinger wurde mit diesem Fall betraut und überlieferte erstmals eine Fülle von Informationen über den Vampirglauben in seinem Bericht Visum et Repertum, der 1732/33 eine Vampirdebatte unter den Gelehrten und Akademikern der Aufklärung auslöste. »Nachdem Abschriften von Vampirakten aus Kanzleien kaiserlicher Behörden in Wien unter Mitgliedern höfischer und akademischer Kreise verbreitet worden waren, dauerte es nicht lange, bis sie sich auch in den Händen von Zeitschriftenverlegern befanden, die diese Kopien vollständig, auszugsweise oder in Paraphrase, häufig mit Kommentaren versehen, 37 Vgl. Kreuter, Peter Mario: Vom »üblen Geist« zum »Vampier«. Die Darstellungen des Vampirs in den Berichten österreichischer Militärärzte zwischen 1725 und 1756, in: Bertschik, Julia/Tuczay, Christa A. (Hg.): Poetische Wiedergänger. Deutschsprachige Vampirismus-Diskurse vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Tübingen: Francke 2005, S. 113-128, hier S. 114-116 sowie A. Schroeder: Vampirismus, S. 41-45 sowie H. Schaub: Blutspuren, S. 90f. 38 H. Schaub: Blutspuren, S. 91. 39 P. M. Kreuter: Vom »üblen Geist« zum »Vampier«, S. 121 sowie A. Schroeder: Vampirismus, S. 15. 40 A. Schroeder: Vampirismus, S. 15. 41 Vgl. ebd. sowie H. Schaub: Blutspuren, S. 13. 42 Vgl. P. M. Kreuter: Vom »üblen Geist« zum »Vampier«, S. 116-121 sowie ebd., S. 94-96.

482 | K ARIN G RAF -B OYKO in ihren Blättern veröffentlichten. […] Ohne Zweifel kann man es der Wirkung von Zeitschriften zuschreiben, daß der Vampirglaube, von Wien ausgehend, erst in Deutschland, doch bald auch im Ausland allgemein bekannt wurde.«43

Wurde jemand unlängst Verstorbenes verdächtigt, ein Vampir zu sein, lief das Aufdeckungsprozedere immer nach demselben Schema ab: Exhumierung, Begutachtung des vitalen und kaum verwesten Körpers, Durchstoßen des Herzens mit einem Pflock, Enthauptung des Leichnams und/oder Verbrennung. Der Verlauf des Verwesungsprozesses unter der Erde war noch unbekannt und verlief anders als unter freiem Himmel; dadurch wurden irrtümlich übernatürliche Kräfte verantwortlich gemacht.44 Diese übernatürlichen Kräfte lassen sich wissenschaftlich zum Großteil den Fäulnisgasen zuschreiben. Durch ihre Bildung bläht sich der Körper auf, wodurch er dicker erscheint. Bei dem »frischen Blut«, das dem Körper entweicht, handelt es sich um blutfarbene Fäulnisflüssigkeit, dadurch entsteht bei der Pfählung ein »schmatzendes« Geräusch und die Gase pressen Flüssigkeit in die Oberhaut, was dazu führt, dass sich diese ablöst und die Lederhaut als »neue« Haut zum Vorschein kommen kann. Zusätzlich zieht sich die Haut zusammen, was die optische Täuschung evoziert, Haare und Nägel seien gewachsen. Dass der Körper so gut erhalten geblieben ist, liegt daran, dass er, wie bereits erwähnt, unter der Erde und je nach Sauerstoffgehalt langsamer verwest. Doch kannten die Menschen früher lediglich den Verwesungsprozess an der Luft, wodurch das allgemeine Wissen entstand, dass es bei der längeren Dauer der Leichenzersetzung nicht mit rechten Dingen zugehen könne.45 Aufgrund eines Erlasses von Maria Theresia am 1. März 1755 – angeregt durch ihren Leibarzt, Gerard van Swieten, der in den Vampirvorfällen lediglich das Ergebnis einer Infektionskrankheit sah46 – ebbten die Vampirvorfälle schließlich bis 1770 ab. Dieser besagte, dass jede Art von Betrügerei (wie die Bezichtigung eines »Gespenstes, Hexerei, Schatzgräberei, oder eines angeblich vom Teufel Besessenen«) genauestens untersucht werden müsse, um anschließend die Betrüger zu bestrafen, was von Fall zu Fall unterschiedlich zu handhaben sei.47 Zudem verbreitete sich die öffentliche Meinung, dass der Vampirglaube auf die Fehlinterpretation von Krankheitssymptomen, aufgrund einer unge-

43 A. Schroeder: Vampirismus, S. 70. 44 Vgl. C. Ruthner: Untote Verzahnungen, S. 21 sowie H. Schaub: Blutspuren, S. 227. 45 Vgl. H. Schaub: Blutspuren, S. 227f. 46 Vgl. H. Schaub: Blutspuren, S. 147. 47 Vgl.http://equiamicus.blogspot.co.at/2009/11/der-vampirerlass-der-osterreichischen.ht ml vom 08.08.2017.

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sunden Ernährung der Rumänen, zurückzuführen sei.48 Doch auch nach dem Erlass Maria Theresias hörte der Glaube an Übernatürliches nicht gänzlich auf. Schließlich blieb das Interesse der Obrigkeit an der Untersuchung solcher Fälle aus,49 und »bis 1770 verschwanden die Vampirvorfälle zumindest vordergründig aus der Geschichte, um fortan in der Horrorliteratur eine neue Heimstatt zu finden.«50

D IE F IGUR DES V AMPIRS IN L ITERATUR UND F ILM »In der gesamten Literatur des Makabren gibt es keine Gestalt, die so faszinierend und doch so schrecklich und fürchterlich ist wie der Vampir.«51

In den 1850er Jahren, die Zeit der literarischen Anfänge des Vampirmotivs, und in den 1960er Jahren, dem Beginn seiner filmischen Entwicklung, könne, so Theresia Heimerl, festgestellt werden, dass Vampire alles verkörperten, was den moralischen Werten der Gesellschaft zuwider lief: angefangen bei seiner unstillbaren Gier nach Blut, dem Verletzen der Sexualmoral bis hin zu seiner Fähigkeit, sich in negativ konnotierte Tiere zu verwandeln. 52 Vor allem aus letzterem ließe sich die Angst des Menschen vor der bedrohlichen und unberechenbaren Natur ableiten, denn diese spiegele sich wider in vielen Tierattributen wie den Eckzähnen, dem Blutgenuss, den geschärften Sinnen sowie der übermenschlichen Kraft.53

48 Vgl. P. M. Kreuter: Vom »üblen Geist« zum »Vampier«, S. 124. 49 Vgl. ebd., S. 122 sowie H. Schaub: Blutspuren, S. 149. 50 H. Schaub: Blutspuren, S. 147. 51 K. Prüßmann: Die Dracula-Filme, S. 11. 52 Vgl. Heimerl, Theresia: Was, wenn die Bösen die Guten sind? Der Vampir als Spiegel eines postmodernen Diskurses über »vormoderne« Werte und Normen, in: Dies./Feichtinger, Christian (Hg.): Dunkle Helden. Vampire als Spiegel religiöser Diskurse in Film und TV (=Film und Theologie 17), Marburg: Schüren 2011, S. 3144, hier S. 32. 53 Vgl. Thonhauser, Johannes: Zivilisierte Außenseiter. Soziologische Beobachtungen zum Vampirbild in einigen neueren Film- und Fernsehproduktionen, in: T. Heimerl/C. Feichtinger (Hg.): Dunkle Helden, ebd., S. 45-62, hier S. 46.

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Die Eigenschaften eines Vampirs und die Möglichkeiten zu seiner Bekämpfung, wie sie in den literarischen und medialen Motivverarbeitungen der Gegenwart dargestellt werden, entsprechen kaum dem historischen Aberglauben unserer Vorfahren. Die spitzen Zähne, Blut- und Sexorgien, die Meidung des Sonnenlichts, das Fehlen des Spiegelbildes sowie Knoblauch hatten im Volksglauben keine Bedeutung. Gerade die spitzen Eckzähne sind heute eines der markantesten Erkennungsmerkmale eines Vampirs und nach Hagen Schaub »gleichsam ein Zeichen von Vitalität, Wohlstand und sexueller Konnotation.«54 Darüber hinaus symbolisierten, so Schaub, die langen, spitzen Zähne, Ohren und Finger einen erigierten Penis.55 Der Schriftsteller Bram Stoker (1847-1912) war der erste, der das fehlende Spiegelbild des Vampirs beschrieben hatte; sein Vampir jedoch konnte sich noch im Sonnenlicht, wenn auch ohne übernatürliche Kräfte, bewegen. Erst der deutsche Filmregisseur Friedrich Wilhelm Murnau (1888-1931) führte in seinem 1922 gedrehten Nosferatu-Film den Mythos ein, dass Vampire vom Sonnenlicht zerstört werden können.56 Genauso wenig hatten lebende Leichname in den Geschichten etwas mit Erotik zu tun. »Wenn man überhaupt etwas über Sex mit Vampiren erfährt, so ist das eine überaus fade, ja ernüchternde Angelegenheit.«57 In der Literatur sei sie, so Schaub, ein bestimmendes Element »und das nicht zufällig zu einem Zeitpunkt, da de Sade seine Fantasien tödlicher Sexualität publizierte oder Edmund Burke über die Faszination des Schrecklichen philosophierte, die auch eine sexuelle ist.«58 Im Film wird der Biss häufig als erotischer Akt inszeniert, wodurch es möglich wurde, Horror-Liebesfilme zu inszenieren. »Die Beziehung des weiblichen Opfers zum Vampir ist gekennzeichnet durch Angst und gleichzeitige Faszination, die Hingabe zum Biss wird als quasisexueller Akt inszeniert, den das Opfer zwar unfreiwillig, weil durch den Vampir hypnotisiert, und dennoch keineswegs lustlos, aber bewusst passiv über sich ergehen lässt.«59

54 H. Schaub: Blutspuren, S. 12. 55 Seeßlen, Georg/Jung, Fernand: Horror. Geschichte und Mythologie des Horrorfilms, Marburg: Schüren 2006, S. 80. 56 Vgl. H. Schaub: Blutspuren, S. 11f. 57 Ebd., S. 80. 58 H. Schaub: Blutspuren, S. 165. 59 Heimerl, Theresia: Der neue Vampir. Dunkler Schutzengel und Demon Lover, in: Dies./C. Feichtinger (Hg.): Dunkle Helden, S. 63-81, hier S. 70f.

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Der Vampir habe seit seinem ersten Erscheinen im 19. Jahrhundert das Böse und Verbotene in Bezug auf die herrschende Sexualmoral repräsentiert.60 »Sperma galt als eine noch konzentriertere Form der Lebensenergie als das Blut. Die Sexualität, die dem Mann das Sperma raubte, gefährdete somit seine Kraft. Die Frau war eine ›Krankheit zum Tode‹. Tatsächlich wurde der Vampir in Literatur und Malerei gegen Ende des 19. Jahrhunderts meistens weiblich dargestellt.«61

1976 begegnete dem Publikum mit dem (1994 verfilmten) Buch Interview with the Vampire von Anne Rice das erste Mal ein selbstreflexiver Vampir mit Gefühlen, Ängsten, Sehnsüchten und freiwilligem Triebverzicht.62 »Doch mehr noch, der neue Vampir wird nicht einfach vermenschlicht, sondern er wird in Umkehrung seiner alten Funktion nunmehr zur Projektionsfläche von guten, moralischen Verhaltensweisen, ja sogar zum Helden.«63 Bis heute hat sich in der gegenwärtigen Medienlandschaft eine Wandlung des Vampirs zu einem Gentleman vollzogen, einem guten Helden, der unter den Menschen lebt. Vampirfiguren heute, so Johannes Thonhauser, unterscheiden sich von früheren Formen durch ihre moralische Überlegenheit, Tugendhaftigkeit und korrektes Verhalten, vor allem Frauen gegenüber.64 »Die Rolle des Beschützers weiblicher Tugend ist sehr neu und steht im scharfen Kontrast zu seinem traditionellen Auftritt als personifiziertes Böses, als Sohn des Teufels und der Hölle, […].«65 Seine literarische Blüte erlebte das Vampirmotiv in der Zeit der Romantik (ca. 1795-1848).66 Hagen Schaub erkennt an dem Hang zum Thema Blut und Lust einen Zusammenhang mit der Französischen Revolution (1789-1799), welche die alles in Frage stellende Aufklärung in einem Blutbad enden ließ. Man hatte genug vom Rationalen, die Natur rückte wieder in den Vordergrund: 67 »Sie ist nicht planbar, ist wie ein Vulkan, der jederzeit ausbrechen und für größten Schrecken sorgen kann.«68 Diese Angst vor der Natur kann symbolisch für die Ängste vor Vampiren gelten. Auch sei in der Romantik das Motiv der schönen 60 Vgl. T. Heimerl: Was, wenn die Bösen die Guten sind?, S. 31. 61 K. Prüßmann: Die Dracula-Filme, S. 20. 62 Vgl. T. Heimerl: Was, wenn die Bösen die Guten sind?, S. 36. 63 Ebd., S. 40. 64 Vgl. J. Thonhauser: Zivilisierte Außenseiter, S. 48. 65 T. Heimerl: Was, wenn die Bösen die Guten sind?, S. 31. 66 Vgl. H. Schaub: Blutspuren, S. 167. 67 Vgl. ebd., S. 165. 68 Ebd.

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Leiche immer wieder aufgenommen worden.69 Die Vampirin werde »als wollüstig und ausschweifend, unwiderstehlich und herzlos grausam beschrieben,«70 mit vollen roten Lippen, wie auch der männliche Vampir.

V ON O SSENFELDER BIS S TOKER Im Folgenden möchte ich im Wesentlichen die deutschsprachigen Werke sowie wichtige Arbeiten aus Großbritannien zum Thema Untote vorstellen. Zunächst war es Heinrich August Ossenfelder (1725-1801), der in seinem 1748 erschienenen Gedicht Mein liebes Mägdchen glaubet71 das Vampirmotiv umgesetzt hat. Auffallend sind die Passagen rund um den Kuss des Vampirs, in denen er die dem Vampir zugeschriebenen sexuellen Konnotationen anspricht, die später häufig aufgegriffen werden sollten. 1773 war es Gottfried August Bürger (17471794), der in seinem Gedicht Lenore72 einen Soldaten von den Toten wieder auferstehen lässt, um seine geliebte Braut Lenore mit in sein Totenreich zu holen. Stoker diente dieses Gedicht als Inspiration für seinen Roman Dracula73, dessen Schauplatz übrigens ursprünglich die Steiermark sein sollte. 1797 sind es Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) und Novalis (1772-1801), die dieses Motiv aufgreifen. In Goethes Ballade Die Braut von Korinth74 taucht diesmal ein untotes Mädchen auf, das in die Welt der Lebenden zurückkehrt, um ihren Bräutigam des Nachts aufzusuchen. Novalis verfasste in diesem Jahr das in der Vampirliteratur als Klassiker bezeichnete Gedicht Hinüber wall ich75, das vor dem Hintergrund des Todes seiner Verlobten entstanden ist. Der erste deutschsprachige Vampirroman erschien 1801 mit dem Titel Der Vampyr von Ignaz Ferdinand

69 Vgl. H. Schaub: Blutspuren, S. 167. 70 K. Prüßmann: Die Dracula-Filme, S. 17f. 71 Nachzulesen unter http://www.bibliotheque-vampires.de/a-z/voll/meinliebesMaegdch en.htm vom 01.03.2017. 72 Nachzulesen unter http://www.mumag.de/gedichte/bue_ga04.html vom 01.03.2017. 73 »Einer meiner Reisegefährten flüsterte seinem Nachbarn Worte aus Bürgers ›Lenore‹ zu: ›Die Toten reiten schnell!‹« Stoker, Bram: Dracula. Vollständige Ausgabe. Nach einer alten Übersetzung bearbeitet von Martin Engelmann, Berlin: Aufbau 2010, S. 19f. 74 Nachzulesen unter http://www.literaturwelt.com/werke/goethe/brautkorinth.html vom 01.03.2017. 75 Nachzulesen unter http://freiburger-anthologie.ub.uni-freiburg.de/fa/fa.pl?cmd=gedic hte&sub=show&noheader=1&add=&id=503 vom 01.03.2017.

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Arnold (1774-1812), allerdings soll hiervon kein Exemplar mehr existieren. Johann August Apel (1770-1849) befasste sich 1810 mit der Vampirthematik in seiner Erzählung Die Totenbraut, welche er unter dem Pseudonym Friedrich Laun publizierte. Hier stehen Zwillingsschwestern im Mittelpunkt, von denen eine noch lebt, während die andere eine wiederkehrende Tote ist. Ein Mann begegnet der vermeintlich lebenden Schwester und verliebt sich in sie, allerdings muss er feststellen, dass es die Tote ist. Mit dem Gedicht The Giaour. A Fragment of a Turkish Tale76 war es George Gordon Noel Byron (1788-1824), besser bekannt als Lord Byron, welcher 1813 einen »Ungläubigen« als Vampir auferstehen ließ. John Polidori (1795-1821), der englische Arzt und Sekretär Byrons mit italienischen Wurzeln, soll es gewesen sein, der 1819 mit seinem Roman The Vampyre77 den modernen, aristokratischen Vampir erschuf.78 Dabei soll Lord Byrons Vampir als Vorbild gedient haben. »Byron und Polidori schufen den Vampir als neue Figur: Er ist ein degenerierter Adeliger, mit untadeligem Benehmen zwar, aber zynisch, lasterhaft, verdorben – und dabei jedenfalls verführerisch dominant.«79 In seiner Kurzgeschichte geht es um einen adeligen Vampir, der die Schwester eines Freundes verführt. In E.T.A. Hoffmanns (1776-1822) Novellenzyklus Serapionsbrüder80 von 1821 taucht ebenfalls eine nicht betitelte Vampirgeschichte auf. In dieser Geschichte sind zwei Frauen die Vampire und agieren unter dem Deckmantel des Wahnsinns – Mutter und Tochter, beide von einem bleichen Mann verflucht. Die Tochter verliebt sich und beißt ihren Angebeteten, der kurz darauf dem Wahnsinn verfällt. Aus Irland sei der Autor Joseph Sheridan Le Fanu (1814-1873) genannt, welcher 1871 seine Erzählung Carmilla schuf und als direkter Vorläufer von Stokers Dracula gilt. Die Geschichte handelt von zwei jungen Mädchen, Laura und Carmilla, wobei Carmilla die Vampirin ist und Laura heimsucht. Es tauchen zum ersten Mal Praktiken der Vam-

76 Nachzulesen unter https://en.wikisource.org/wiki/The_Giaour vom 01.03.2017. 77 Nachzulesen unter https://archive.org/details/thevampyretale00poliuoft vom 01.03.2017. 78 Der Roman von Polidori entstand als Folge der literarischen Zusammenkunft im Juni 1816 in Lord Byrons Villa Diodati am Genfer See. Dies war der Grund warum man ihn zunächst irrtümlich Lord Byron zuschrieb. Auch Mary Shelleys Frankenstein, or the Modern Prometheus von 1818 hat dort seine Wurzeln. 79 H. Schaub: Blutspuren, S. 172. 80 Die Vampirgeschichte ist nachzulesen unter http://www.bibliotheque-vampires.de/az/voll/serapionsbrueder.htm vom 01.03.2017.

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pirvernichtung auf, die heute noch thematisiert werden, wie das Pfählen, das Abschlagen des Kopfes und die Furcht der Vampire vor christlichen Symbolen. 81

D RACULA VON B RAM S TOKER (1897) Bei Stokers Dracula handelt es sich wohl um die berühmteste Vampirgeschichte, die zahlreiche filmische Adaptionen erfahren hat. Bram Stoker ist es zu verdanken, dass der Mythos des Vampirs der Vampire geschaffen wurde. Verfasst als Tagebuchroman – einer zu dieser Zeit häufig verwendeten literarischen Form – greift Stoker auf das Genre des Schauerromans82 (Gothic Novel) zurück. Gelegentlich finden sich zwischen den Tagebucheinträgen Briefe, Zeitungsmeldungen, Memoranda und Telegramme. »Die Tagebuchaufzeichnungen sind neben ihrem Informationsgehalt [vor allem für die anderen Charaktere der Geschichte, wichtige Informationen über Graf Dracula, d. Verf.] besonders auch durch ihre emotionale Färbung geprägt, so daß der Leser unweigerlich eine sehr große Nähe zu dem jeweils Schreibenden entwickelt.«83

Die bekannte Geschichte sei hier kurz skizziert. Jonathan Harker, ein Londoner Anwalt, weilt auf dem Schloss des Grafen Dracula in Transsilvanien, um ihm ein Anwesen in London zu verkaufen. Eine weitere Protagonistin ist die immer wieder gebissene Lucy Westenra, um deren Leben alle mit Leibeskräften kämpfen. Graf Dracula begibt sich sodann nach London und sucht dort zwei Frauen, Lucy und Mina, sowie eine Gruppe von Männern heim: Jonathan, Arthur, John, Quincey und den später hinzugezogenen van Helsing. Er versetzt sie in Angst und Schrecken. Als Lucy Opfer des blutsaugenden Grafen wird, machen es sich die Männer zur Aufgabe, die Welt vor dieser Bestie zu retten und Graf Dracula zu vernichten. Schließlich beginnt auch Mina dieselben Symptome zu zeigen wie Lucy. Es beginnt eine Verfolgungsjagd bis kurz vor Draculas Heimatschloss, wo schließlich Jonathan und Quincey ihm beinahe gleichzeitig die Kehle aufschlitzen und das Herz durchstoßen, woraufhin der Graf zu Staub zerfällt. Aus den

81 Wrann, Alfons: Historie und Aberglaube – Anspruch und triviale Unterhaltung. Ein Überblick über die Kultur- und Filmgeschichte des Vampirs, in: T. Heimerl/C. Feichtinger (Hg.): Dunkle Helden, S. 11-30, hier S. 18. 82 Düstere Landschaften wie Ruinen, Friedhöfe, alte Schlösser, Burgen und Klöster sowie Gespenster oder Vampire als Markenzeichen einer solchen Geschichte. 83 K. Prüßmann: Die Dracula-Filme, S. 46.

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Reihen der Vampirjäger verletzt sich Quincey bei diesem finalen Kampf so stark, dass auch er stirbt. Ansonsten bleiben alle unversehrt. Die ausführlichste Beschreibung des Grafen erhalten wir von Jonathan Harker, als dieser den Grafen im Schloss kennenlernt. »[…] ein hochgewachsener alter Mann, glatt rasiert, mit einem langen weißen Schnurrbart und vom Kopf bis zu den Füßen schwarz gekleidet – kein heller Fleck war an ihm zu sehen. […]. Seine Hand war so kalt wie Eis, eher wie die eines Toten als eines Lebenden. […] Die Stärke seines Händedruckes erinnerte mich so sehr an den eisernen Griff des Kutschers, dessen Gesicht ich ja nicht gesehen hatte, […]. Er hat eine ausgeprägte Adlernase mit einem schmalen, scharf gebogenen Nasenrücken und auffallend geformten Nüstern. Die Stirn ist hoch und gewölbt, das Haar an den Schläfen dünn, im Übrigen aber voll. Die Augenbrauen sind dicht und wachsen über der Nase zusammen; sie sind sehr buschig und in merkwürdiger Weise gekräuselt. Sein Mund, soweit ich ihn unter dem starken Schnurrbart erkennen konnte, sieht hart und ziemlich grausam aus; die Zähne sind spitz und weiß und ragen über die Lippen hervor, deren auffallende Röte eine erstaunliche Lebenskraft für einen Mann in seinen Jahren bekundet. Die Ohren sind farblos und nach oben hin auffallend spitz, das Kinn breit und kräftig, die Wangen schmal, aber noch straff. Der allgemeine Eindruck ist der einer außerordentlichen Blässe. Im Schein des Kaminfeuers hatte ich mir seine Hände angesehen, […]. Nun, da ich sie aus der Nähe sah, bemerkte ich, dass sie eigentlich sehr grob waren, breit und mit eckigen Fingern. Seltsamerweise wuchsen ihm Haare auf der Handfläche. Die Nägel waren lang und dünn, zu nadelscharfen Spitzen geschnitten.«84

Außerdem erfahren die Lesenden, dass der Mundgeruch des Grafen Übelkeit bei Harker erzeugte.85 Eine erneute Beschreibung des Grafen, nachdem er sich in der Nacht zuvor von Jonathan Harker ›ernährt‹ hatte, zeigt seine Wandlung von einem alten Wesen zu einem jungen Mann: »Da lag der Graf, aber er sah aus, als wäre seine Jugend wieder zurückgekehrt: Haar und Schnurrbart, vordem weiß, waren nun dunkel-eisengrau, die Wangen waren voller, und die weiße Haut schien rosig unterlegt. Der Mund war röter als je, denn auf den Lippen standen Tropfen frischen Blutes, das in den Mundwinkeln zusammenrann und von da über Kinn und Hals hinuntersickerte. Selbst die Augen lagen nicht mehr so tief, denn es schien sich neues Fleisch um sie gebildet zu haben.«86 84 B. Stoker: Dracula, S. 26-30. 85 Ebd., S. 30. 86 Ebd., S. 78.

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Ursprünglich im Horrorgenre beheimatet, hat die Figur des Vampirs und ihre Erscheinung eine Wandlung vollzogen. Im Laufe der Zeit ist Dracula zu einer zentralen Figur der Unterhaltungsbranche geworden. Angefangen beim abgrundtief bösen Wesen, das Unheil in die Welt bringt, hat der Vampir es bis zum Helden geschafft; nach wie vor – wenn auch bei einem etwas anderen Publikum – erfreut er sich in unterschiedlichen Stoffvariationen großer Beliebtheit: so zum Beispiel in den Romanverfilmungen der Twilight-Saga 2008-2012. Die Filmgeschichten über das Dracula-Motiv laufen stets nach einem ähnlichen Schema ab. Um die Wandlung vom Bösen zum Guten zu veranschaulichen, sei der Film Dracula von John Badham vorgestellt, in dem Dracula auch gute Eigenschaften zugeschrieben werden.

D RACULA VON J OHN B ADHAM (1979) Dieser Film zeigt erstmals einen durchaus attraktiven Dracula, einen Grafen, verkörpert von Frank Langella. Mit der Beschreibung in Stokers Dracula von Jonathan Harker hat dieser nichts mehr gemein. Er ist ein junger, attraktiver Gentleman, nobel und elegant gekleidet, mit dunklen weit aufgerissenen, fixierenden Augen, die das Gegenüber zu hypnotisieren drohen ‒ keine Spur von weißen Eckzähnen in dem beinahe ständig zu einem Lächeln geformten Mund. Seine Kleidung ist nicht mehr einfach nur schwarz, sondern er trägt einen Anzug mit weißem Stehkragen und darüber einen schwarzen Umhang. Schwarzes, volles Haar, gepflegte Hände und Fingernägel, ein Gentleman gegenüber Frauen. Ein Mann, der andere Männer gerne provoziert und ihre Frauen erobert. Karsten Prüßmann hebt hervor, dass Dracula hier zum ersten Mal neu interpretiert wurde als einsamer Mann, charmant, sexy und erotisch bei gleichzeitiger Brutalität und Berechenbarkeit.87 »In Frank Langellas Darstellung einer dämonischen Kraft aus der Unterwelt schwingt auch eine verzweifelte, lyrische Romantik mit.«88 Er handle aus Liebe.89 Durch Hypnose gewinnt er die Frauen für sich, aber auch über Verführung, durch Komplimente und Aufmerksamkeit. Sein Erscheinungsbild und seine ehrliche romantische Sehnsucht nach Lucy, die in dieser Verfilmung Jonathan Harkers Verlobte ist, weisen ihn als einen sensiblen Mann mit Gefühlen aus, der nicht nur böse Absichten verfolgt.

87 Vgl. K. Prüßmann: Die Dracula-Filme, S. 123f. 88 Ebd., S. 123, zit. nach Time Magazine, 31.10.1977. 89 Vgl. ebd., S. 124.

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Seeßlen und Jung als Experten des Horrorfilms argumentieren hier, dass dieses Genre stets das »absolut Böse« im Blick habe, allerdings werde häufig die Schuld im Fluch der Verwandlung entdeckt, wodurch immer ein Stück Unschuld beim Antagonisten gefunden würde.90 Bezogen auf die Figur des Vampirs bedeute dies, dass dieses Wesen nichts dafür könne, dass es sein ewiges Leben mit der unstillbaren Gier, sich von Blut ernähren zu müssen, bezahlen müsse.

D IE AMBIVALENZ DER D RACULA -F IGUR »Horror ist die Liebe, die nicht zu sich gekommen ist, die schreckliche Umwege und Maskierungen wählt.«91

Wenn man sich die Frage stellt, ob Graf Dracula beziehungsweise der Vampir ein Held sein kann, muss man sich zunächst fragen, mit wem sich das Publikum identifiziert, mit wem es sympathisiert und mitlebt. Zu welchem Zeitpunkt werden Taten in die Kategorie von jeweils gut oder böse eingeteilt? Bei den Dracula-Geschichten ist augenfällig, dass der Name stets im Titel92 steht. Der Titel einer Erzählung verrät häufig den Namen des Protagonisten. Ist der Protagonist damit automatisch der Held der Geschichte? Da der Feind, der Gegenspieler oder Antagonist, in nahezu jedem Erzählstoff die Opposition zum Helden darstellt, werden dem Protagonisten als Hauptcharakter in der literarischen und filmischen Welt per definitionem Attribute des Helden zugeschrieben. Im Dracula-Stoff dagegen sind diese Rollen vertauscht: Der Bösewicht ist der Held, während seine Gegenspieler den Guten zuzurechnen sind. Wenn man nun Dracula von John Badham näher betrachtet, wird deutlich, dass seine Figur des Grafen definitiv die zentrale Gestalt der Geschichte ist. Prüßmann konstatiert: »Die beiden profilierten Schauspieler […] gestalteten ihre Väterrollen [Lucys Vater und Minas Vater, d. Verf.] sehr zurückhaltend und unheroisch, was die Position der Dracula-Figur natürlich erheblich stärkt.«93 Aus der Perspektive des Grafen betrachtet sind die beiden Männer genauso eine Bedrohung für ihn, wie er es für die Vampirjäger ist. Jonathan Harker, auf der Seite

90 Vgl. G. Seeßlen/F. Jung: Horror, S. 35. 91 G. Seeßlen/F. Jung: Horror, S. 40. 92 Auch wenn man sich die literarischen Interpretationen ansieht, fällt einem auf, dass die Geschichte beinahe immer nach dem Vampir benannt wurde. 93 K. Prüßmann: Die Dracula-Filme, S. 126.

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der Vampirjäger, ist dem Grafen von Anfang an unsympathisch, weil er der Verlobte seiner Angebeteten ist, was er ihn auch provokant spüren lässt. Alle männlichen Figuren dieser Geschichte(n) begehren die beiden Frauen. »Stoker charakterisiert Dracula als einen hässlichen, bösen, modrig stinkenden Alten, dessen geplante Invasion Englands in erster Linie über die Unterwerfung der Frauen führt, deren mangelnder oder schwankender Widerstand gegen Draculas Vereinnahmung nicht aus einer primär erotischen Attraktion heraus resultiert, sondern seiner Macht zu verdanken ist, die er – wie seine Widersacher – auf quasi-erotische Weise ausübt.«94

Was den Roman von Bram Stoker angeht, begegnen uns mehrere, im Grunde zentrale Heldenfiguren: Mina als zentrale weibliche Rolle sowie Jonathan Harker, Dr. Seward und Dr. van Helsing als Vampirjäger, die den Großteil der Geschichte für sich einnehmen. Von Dracula hören wir sehr wenig, abgesehen von den Ereignissen in Transsilvanien. Mit den Tagebucheintragungen von Jonathan Harker beginnt der Roman in dem Moment, als er sich in eine für ihn fremde Welt (Transsilvanien) aufgemacht hat, in welcher der Roman auch endet. Nachdem auch der Graf seine gewohnte Welt (Transsilvanien) verlassen hat, um am Ende des Buches wieder dorthin zu gelangen, stirbt er dort (wie auch Quincey P. Morris). Da nur, wie zu Beginn erläutert, Held werden kann, der bereit ist Opfer zu bringen, auch das des eigenen Lebens, zeigen diese konstruierten Figuren verschiedene mögliche Reisen des Helden. Dracula stirbt nicht freiwillig, im Gegensatz zu allen Vampirjägern, Mina eingeschlossen. Denn sie sind bereit, im Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen Leben und Tod, den vermeintlich teuersten Preis zu bezahlen, nämlich das körperliche Ende, den Tod. So sind auch die letzten Worte Quinceys zu verstehen: »Ich bin überglücklich, zu etwas nützlich gewesen zu sein … oh Gott! […] Lasst uns Gott dafür danken, dass dies nicht alles umsonst gewesen ist. Seht! Der Schnee könnte nicht reiner sein als ihre Stirn, der Fluch ist von ihr gewichen!«95 Die männlichen Figuren der Dracula-Geschichte bieten eine größere Auswahl an Charakteren an als die weiblichen und damit ein breiteres Identifikationsspektrum für die männlichen Zuschauer. Dracula bietet durch seine Schnelligkeit, feinen Sinne, Wandelbarkeit, Unsterblichkeit, übernatürliche Kräfte und vor allem, 94 Meyer, Michael: Die Erotik der Macht und die Macht der Erotik: Bram Stokers und Francis Ford Coppolas Dracula, in: Jahraus, Oliver/Neuhaus, Stephan (Hg.): Der erotische Film. Zur medialen Codierung von Ästhetik, Sexualität und Gewalt, Würzburg: Königshausen und Neumann 2003, S. 131-152, hier S. 131f. 95 B. Stoker: Dracula, S. 548.

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so scheint es jedenfalls, dem Talent, jede Frau bekommen zu können, durchaus attraktive Vorzüge. Daneben stehen die tapferen Vampirjäger, die in Graf Dracula das Böse sehen, das es zu vernichten gilt: Denn es verführt ihre Frauen, macht sie zu seinesgleichen und bedroht dadurch die idyllische Zweisamkeit. Die weibliche Zuschauerin kann sich mit Mina96 – im Film von John Badham Lucy genannt – identifizieren. Sie ist gebildet, frisch verlobt, die Aktivere von beiden, die die erotisch-betörende Aufmerksamkeit des Grafen erfährt. Im Vergleich zu Minas Erfahrungen mit dem Vampir sind Lucys Erfahrungen romantischer Natur. Dracula verhilft Lucy durch den Kuss des Todes zu der Erfüllung ihrer heimlichen Sehnsüchte und sexuellen Befriedigung. Georg Seeßlen und Fernand Jung postulieren, dass in Horrorfilmen der Grausamkeit und Zerstörung immer ein Akt der Zärtlichkeit und Zuneigung gegenüberstehe, so wie der Kuss des Vampirs. 97 Durch die Vereinigung in der Nacht, in der Dracula Lucy gebissen und geliebt hat sowie Lucy das Blut Draculas getrunken hat, fand die seelische Vereinigung Liebender statt, welche durch den Austausch des Blutes die symbolische Bedeutung des wahren Lebens konnotiert. Vor allem für Lucy bedeutet dies das wahre Leben, ein Leben an Graf Draculas Seite, da er ihre heimlichen Sehnsüchte erfüllte. »Der Tag […] gehört uns nicht, die Maske, die wir während der Arbeit aufsetzen, das sind nicht wir, […]. In der Nacht hingegen gibt es den Tanz, die Musik, den Ritus, die Ekstase, die noch den von der Arbeit halbtoten Menschen ergreifen mag […].«98

Dracula in Badhams neuer Interpretation des Grafen ist also auch ein Held in der Welt der Frauen. Er verführt die Frauen als Inventar einer patriarchalen Welt und entführt sie hinaus aus ihrem langweiligen Alltagstrott, hinein in das Abenteuer einer langersehnten Ekstase. Der Vampir ist hier der strahlende Ritter – der Leben schenkende Held – auf einem weißen Ross, der die Frau aus ihrem alltäglichen, durch männliche Herrschaft bestimmtes Gefängnis befreit, nur um ihr, letzten Endes, die Nachtluft zum freien Atmen anbietet. »[…] jedem Stadium der (verbotenen und verborgenen) Lust steht die nicht minder manische Abbildung einer Instanz der Unterdrückung gegenüber, die stets im Wettkampf mit

96 In der literarischen Vorlage sowie in den meisten Draculafilmen hat die weibliche Hauptrolle den Namen Mina. Eine Ausnahme stellt der Film von John Badham dar, hier trägt Minas Charakter den Namen Lucy. 97 G. Seeßlen/F. Jung: Horror, S. 20. 98 Ebd., S. 40.

494 | K ARIN G RAF -B OYKO den Instanzen der sinnlichen Befreiung diese an Gewalt und Perversion zu übertreffen sucht, […].«99

Aus Lucys Perspektive auf Dracula als Helden sind die Vampirjäger die Bösen, da sie ihren geliebten Grafen ermorden. Aus der Perspektive der Vampirjäger hingegen ist Dracula der Böse, da er Mina getötet sowie Lucy geraubt hat und zu seinesgleichen machen will. Der Vampirjäger van Helsing stirbt hier im Auftrag des Guten, weil er, durch den Mord an Graf Dracula, die Welt vor Schlimmerem bewahrt. Und dennoch tritt uns im Film ein Bösewicht mit bewundernswerten Gentleman-Eigenschaften entgegen und verleiht dadurch der bürgerlichen Dichotomie von Gut und Böse ein hohes Maß an Ambivalenz. Letztendlich erzählt »Dracula« die Geschichte eines bereitwilligen, klassischen »Ehebruchs«. Sowohl Frauen als auch Männer geraten in diese Versuchung, und einige überschreiten dabei diese Schwelle des Abenteuers. Diese gesellschaftliche Realität öffnet Identifikationsmöglichkeiten mit der untreuen Frau auf der einen Seite ebenso wie mit dem verführerischen Kavalier auf der anderen Seite. Hauptmotive der filmischen Umsetzungen gesellschaftsrelevanter Themen sind immer Liebe und Konkurrenz und die Zuneigung der Frau(en) für Männer ebenso wie umgekehrt. »Es ist nicht die Tragik und es ist nicht die obszöne Ironie des Monsters, es ist seine vollständige Ambivalenz, wofür wir es lieben.«100

K ONKLUSION Graf Dracula, mit schwarzem Cape, flieht mit der von ihm verführten und eroberten, ehebrüchigen Frau nach Transsilvanien und rettet sie damit aus einer patriarchalen Gesellschaftsordnung. Der Vampir erscheint in dem geschilderten Erzählstoff von John Badham als unschuldiges Opfer seines Schöpfers (des Teufels), als Grenzfigur zwischen Held und Antiheld, der Liebe finden will und sich in eine bereits versprochene beziehungsweise verheiratete Frau verliebt. Die beiden handeln unmoralisch, indem sie den Ehemann der Frau durch ihre beiderseitige Liebe betrügen. Ursprünglich im Genre des Horrorfilms angesiedelt, zeigt John Badhams Dracula eine Liebesgeschichte, in der die beiden Genres der Horror- und der Liebesgeschichte miteinander verknüpft werden, um unmoralischen Trieben und geheimen Sehnsüchten Raum zu geben. Die stärksten Charaktere der Geschichte sind Graf Dracula und Lucy, sie sind die Protagonist _innen, um

99

G. Seeßlen/F. Jung: Horror, S. 38f.

100 Ebd.: Horror, S. 87.

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deren Liebe sich der Film dreht: Graf Dracula und Lucy gegen den Rest der Gesellschaft. Die Charaktere der Frauen werden in der Geschichte einerseits als willensschwach und leicht zu haben gezeigt: dumme, naive Mädchen, die sich verführen lassen. Andererseits schwingt hier auch das alte Motiv der bösen Frau mit. Die lüsterne, erotische Frau muss eingesperrt werden, verborgen vor den Blicken anderer Männer, welche sie verführen und in ihren Bann ziehen kann: die böse Ehefrau, die ihren Mann betrügt und andere Männer zu unmoralischen Handlungen veranlasst. Die Rolle des Mannes wird somit auf beiden Seiten als Beschützer und Retter der Frauen inszeniert, aber auch als Opfer der unstillbaren Gier und Lust einer betrügerischen Frau. Auf beiden Seiten muss jemand sterben, auf beiden Seiten finden sich somit Täter und Opfer. Graf Draculas Motive sind egoistischer Natur, van Helsings Motive dagegen altruistisch: Er befreit die Welt vor größerem Übel, vor wiederkehrenden Toten. Da Gegensätze einander bedingen, ist das Böse unabänderlich als Antipode des Guten in unserer Gesellschaft verankert. Eine Unterscheidung zwischen Gut und Böse ist jedoch objektiv nicht möglich. Es macht den Reiz, die Spannung von Geschichten, Erzählungen, Narrativen und ihre medialen Umsetzungen aus, dass sie mit solchen Dichotomien spielen, wodurch eine jeweilige Identifikation oder Ablehnung durch die Rezipient_innen mit den handelnden Figuren Spielräume erlaubt. Die Figur des Vampirs ist liminal: zwischen Leben und Tod, zwischen Gut und Böse, zwischen zuordnungsbar und nicht zuordnungsbar, zwischen Glückbringer und Todbringer, usw. wodurch die Faszination für dieses böse Schwellenwesen Identifikationsspielräume zulässt. Historisch verdankt die Figur des Vampirs ihre Popularität dem 18. Jahrhundert und seinen gesellschaftlichen Umständen. Zunächst aus der sozialen Unterschicht kommend, ist der Vampir durch Byron und Polidori zum Adel aufgestiegen. Dadurch haftet ihm der Ruf eines Gentlemans alter Schule an. Zugleich wird die Figur als überaltet dargestellt. Das 20. und vor allem das 21. Jahrhundert sind es schließlich, die den Vampir auf der Kinoleinwand zum Helden mit neuen Eigenschaften in einem zeitgemäßen Gewand avancieren lassen. Wenn Sie mich jetzt fragen würden, ob Graf Dracula ein Held ist, würde ich antworten »Das ist die falsche Frage.« Vielmehr sollte man sich selbst fragen, mit wem man sich identifiziert?! Wir identifizieren uns kaum mehr mit einem strahlenden, fehlerlosen Helden; er gehört der Vergangenheit an. Interessanter ist der leichtsinnige Held mit Makel und Marotten, die ihn menschlich machen, der Antiheld.

»So würde ich gerne sein, darf es aber nicht« Repräsentationen von Heldinnen und Helden für Kinder A NNA -K ATHRIN B ARTL

2016 wurde in München im Wohngebiet Perlach eine Mauer gebaut. Mit ihren vier Metern ist sie höher als die Berliner Mauer, deren Fall nun 26 Jahre zurückliegt. Die Münchner Mauer trennt jedoch nicht Ost von West; sie wurde vor einer sich noch im Rohbau befindlichen Unterkunft für geflüchtete Menschen errichtet. Laut offiziellen Verlautbarungen handelt es sich nicht um eine Mauer gegen geflüchtete Menschen, sondern um eine »Lärmschutzmauer«, denn in dieser Unterkunft sollten etwa 160 unbegleitete Kinder und Jugendliche unterkommen.1 Diese Mauer ist umstritten. In Zeiten, in denen man von Flüchtlingskrise spricht, in denen eine Willkommenspolitik in der Kritik steht und in denen Rechtspopulismus und Rechtsextremismus vermehrt Zulauf erleben, ist eine Mauer gegen geflüchtete Menschen ein politisches Statement – selbst wenn offizielle Stimmen angeben, dass besagte Mauer nicht dazu da sei, Menschen mit Fluchthintergrund von Münchens Wohngegend abzuschotten. Auch wenn man dieser Rechtfertigung Glauben schenkt und der Mauererrichtung keine rassistischen Motive unterstellt, bleibt die Mauer ein Politikum: Sie stellt nichts Anderes dar als eine Mauer gegen Kinder und Jugendliche. Europäische Ethnolog_innen widmen sich seit einigen Jahrzehnten vermehrt der Thematik von Kindheit und Jugend als historische und kulturelle Konstruktionen und als biografische Etappen des menschlichen Lebens. Kindheit (und auch Jugend) sind zwar präsente gesellschaftliche Themen, dennoch scheint bisweilen der Umgang mit Kindheit, als würde man von etwas Fremdem sprechen. Eine 1

Vgl. Oberhuber, Nadine: Die Mauer von Perlach. Zeit Online. http://www.zeit.de/gese llschaft/2016-11/fluechtlinge-perlach-mauer-muenchen vom: 29.11.2016.

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Lärmschutzmauer gegen Kinder und Jugendliche, Hotels oder Campingplätze, die damit werben, ein Kinderverbot zu haben, damit Erwachsene ihren Urlaub in Ruhe verbringen können – all das sind Beispiele für die bürgerliche Redensart: »Kinder soll man sehen, aber nicht hören«. Kinder gelten als laut, wild und werden damit von den Erwachsenen zum Anderen gemacht. Die Kulturwissenschaftlerin Dorle Dracklé beschreibt dies anhand des Sprachgebrauchs: Ist ein Kind lebendig und lebhaft, wird es als »Wildfang« bezeichnet, ein Begriff, der Assoziationen mit Natur, fehlender Kultur, Unschuld, Unwissenheit und Gesetzlosigkeit hervorruft. Kinder stellen aus dieser Perspektive das Gegenteil einer gebildeten und geordneten Erwachsenen-Welt dar. Kindheit und Jugend werden auf biologische Prozesse reduziert, was unter anderem an einer Erziehung in Geschlechterrollen sichtbar wird. Kinder und Jugendliche müssen demnach erst in eine Kultur hineinwachsen, sie bekommen eine passive Rolle als Rezipient_innen von Kultur zugeschrieben. Diese Zuschreibungen sind Ausdrucksformen von Macht. Sie sagen nichts anderes, als dass jemand nicht zur Kultur gehört und erst integriert werden muss, um als vollwertiges Mitglied zu gelten; der Diskurs über Kindheit und Jugend weist Ähnlichkeiten mit jenem über Migration auf. Die Integration in Bezug auf Kinder und Jugendliche meint dabei die Sozialisation in die Erwachsenen-Gesellschaft.2 Es wird jedoch vergessen, dass Kindheit Teil einer jeden Lebensgeschichte ist und was manchem fremd erscheint, war einmal etwas Eigenes. Wenn man also von Kindheit redet, spricht man immer auch über Erwachsene, denn alle Erwachsenen waren einst ein Kind.3 Kinder und Jugendliche prägen die Gesellschaft genauso wie die Gesellschaft auf sie einwirkt; ihre Rolle ist somit keinesfalls passiv. In dem folgenden Beitrag geht es um Held_innenfiguren und ihre Bedeutungen für Erwachsene. In einer ethnographischen Studie, die eine Studienkollegin und ich im Zuge des Masterstudienprojekts der Europäischen Ethnologie in Graz zum Thema Held_innen und deren Repräsentation durchgeführt haben, wurde nach den Bedeutungen gefragt, die ein Held/eine Heldin für Erwachsene und für Kinder einnehmen und danach, welche Rolle dabei Begriffe wie Vorbild und Identifikationsfigur spielen. Im Kontext der hierzu geführten (narrativen) Interviews fertigten die Befragten (Jahrgang 1955 bis 1997) Zeichnungen an, in denen sie die Möglichkeit hatten, sich ihre eigenen »Held_innen« auszumalen. 2

Vgl. Dracklé, Dorle (Hg.): Jung und wild. Zur kulturellen Konstruktion von Kindheit und Jugend (=Hamburger Beiträge zur Öffentlichen Wissenschaft, 14). Berlin/Hamburg: Dietrich Reimer Verlag 1996, S. 7f.

3

Vgl. Lenzen, Dieter: Mythologie der Kindheit. Die Verewigung des Kindlichen in der Erwachsenenkultur. Versteckte Bilder und vergessene Geschichten. Reinbeck b. Hamburg: Rowohlt 1985, S. 11.

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Gleichzeitig ließen wir mehrere Kinder im Alter von 3 bis 14 Jahren ihre persönlichen Held_innen zeichnen. Prominente Figuren aus Kindermedien, wie Pippi Langstrumpf oder Peter Pan, wurden von den Zeichnenden als Motive aufgegriffen, aber auch Eigenkreation waren vertreten. Die Zeichnungen zeigten subjektive Perspektiven auf Held_innentum. Die Eigenschaften der thematisierten Kindermedien-Figuren sprachen sowohl Erwachsene als auch Kinder an, denn manche medialen Held_innen für Kinder, die von Erwachsenen erschaffen wurden, spiegelten deren Sehnsüchte und Träume genauso wider wie jene der Kinder. Alle Menschen – so eine häufig geäußerte Annahme – brauchen unabhängig von ihrem Alter Held_innen. Diese These vertritt auch der Soziologe und Philosoph Christian Schneider, wenn er fragt: »Wozu Helden?«. Held_innen sind laut Schneider ein Transzendenzentwurf unserer selbst; sie bieten kollektive und individuelle Orientierungs- und Projektionsmöglichkeiten.4 Held_innenfiguren überschreiten die Grenze zwischen Fiktion und dem, was wir Realität nennen. Denn Held_innen, auch wenn sie als Protagonist_innen eines Buchs oder Films erschaffen wurden, sprechen reale Bedürfnisse an. Vorbilder und Identifikationsfiguren lassen sich nicht immer klar vom Held_innen-Begriff trennen. Im Folgenden wird vorwiegend von Figuren und nicht von Protagonist_innen die Rede sein. Der literaturwissenschaftliche Protagonist_innen-Begriff ist stark auf die fiktionale Ebene beschränkt und trägt nicht der komplexen gegenseitigen Durchdringung von Imagination und Wirklichkeit Rechnung, die eine Konstruktion von Held_innen auszeichnet. In Anlehnung an Beate Binder lassen sich fiktive Held_innen wie Pippi Langstrumpf, Peter Pan und Co, von denen hier die Rede ist, als Figuren bezeichnen. Figuren transportieren laut Binder Wahrnehmungsund Bewertungsschemata, die zum Verständnis von gegenwärtigen, historischen und erwarteten Entwicklungen beitragen. Sie können nicht nur vergangene gesellschaftliche Vorstellungen bewahren, sie prägen auch die gegenwärtige Wahrnehmung und setzen Politiken in Bewegung. Binder verweist darauf, dass es nicht darum gehe, den Realitätsgehalt dieser Figuren zu überprüfen, sondern sie in ihrer Gesamtheit zu betrachten, das heißt eingeflochten in ihre sozialen, ökonomischen, ökologischen, gesellschaftlichen, historischen und politischen Hintergründe. Nur so lässt sich ihre aktuelle Bedeutung für ein Individuum oder Kollektiv verstehen.5 Held_innen sind ambivalente Figuren, die für zeitgenössische Werte stehen und (je nach Perspektive) gut und böse sein können. Der Begriff der Figur ver4

Vgl. Schneider, Christian: Wozu Helden?, in: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hambur-

5

Vgl. Binder, Beate: Figuren der Urbanisierung aus geschlechtertheoretischer Perspek-

ger Instituts für Sozialforschung 18 (2009) 1, S. 91-102, hier S. 102. tive, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte, 2 (2012), S. 92-100, hier S. 99f.

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weist zudem darauf, wie aus Protagonist_innen Held_innen werden können, die als Figuren auf einem Podest stehen.

W IR BRAUCHEN H ELDINNEN UND H ELDEN Die mediale Omnipräsenz der Repräsentation von Held_innen belegt, dass nicht nur Kinder Held_innen brauchen, sondern auch Erwachsene. Held_innen oder sogar Superheld_innen wurden und werden in den unterschiedlichsten Medien und Gestaltformen beschrieben, erzählt, besungen und verfilmt. Der Begriff lässt sich mit antiken Heroen assoziieren, mit Protagonist_innen aus der Literatur, mit Film- oder Comic-Held_innen. Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler spricht von der Gegenwart als einer postheroischen Zeit, die ihren Anfang mit Ende des Zweiten Weltkrieges gefunden hat. Dies bedeutet jedoch nicht, dass wir in einer Zeit ohne Held_innen leben – der Unterschied zu heroischen Zeiten liegt für Münkler in der Art und Weise, wie Helden konstruiert werden. In heroischen Zeiten, so Münklers These, kann nur jemand zum Helden werden, der bereit ist, Opfer zu bringen. Der »heroische« Held tötet, um das Kollektiv zu retten. In postheroischen Gesellschaften dagegen, in denen verbindliche Normen und Konventionen für ein möglichst gewaltloses Zusammenleben gelten, ist es nicht mehr das an der Waffe klebende Blut, das den Krieger zum Helden macht, sondern die Bereitschaft zum Selbstopfer: Nicht die Kampfbereitschaft ist heldenhaft, sondern die Opferbereitschaft, um die der Held weiß und die er bereitwillig annimmt.6 Die sogenannte postheroische Gesellschaft setzt Münkler zufolge in Europa mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ein. Der männliche Heldenbegriff des Kriegers und Soldaten hatte nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes ausgedient. Das Ideal der in der Regel männlichen Heldenfigur hat sich im Zuge der demokratischen Entwicklung der Nachkriegsgesellschaft gewandelt und eine Verbürgerlichung erfahren.7 Helden als männliche Krieger, die einst von Herakles, Odysseus oder Achilles verkörpert wurden, hatten ihre gesellschaftliche Funktion verloren. Alltagshelden dagegen, aber auch Heldinnen, die wie ihr

6

Vgl. Münkler, Herfried: Heroische und Postheroische Gesellschaften, in: Merkur 61

7

Vgl. Immer, Nikolaus/van Marwyck, Mareen: Helden gestalten. Zur Präsenz und Per-

(2007) 8/9, S. 742-752, hier S. 742. formanz des Heroischen, in: dies. (Hg.): Ästhetischer Heroismus. Konzeptionelle und figurative Paradigmen des Helden. Bielefeld: transcript 2013, S. 11-28, hier S. 12.

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männliches Äquivalent stets vorhanden waren, aber sehr oft weggedichtet wurden, wurden zunehmend denkbar. Dies zeigt, dass der Held_innenbegriff keine Konstante ist; er ist beeinflusst von Zeit und Raum, von politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Die Entstehung solcher Held_innenbilder weckt die Frage nach ihrer Bedeutung und Funktion für die Gesellschaft. Im Gegensatz zu traditionellen Heldenvorstellungen gilt nicht mehr die direkte Demonstration von körperlichen Potentialen als heldenhaft; auch das offene Bekennen zu einer körperlichen Dysfunktion kann zu einer heroischen Qualität werden. Nicht die solitäre Gesamterscheinung kennzeichnet nunmehr Held_innen, sondern Einzelmerkmale rücken in den Vordergrund. Der Held_innenbegriff wird durch diese Entwicklung zu einem universellen Etikett, das jede und jeder für sich in Anspruch nehmen kann.8 Oder, um es mit David Bowie zu sagen: »We could be heroes, just for one day«. Held_innen haben für Kinder und Erwachsene eine wichtige lebensweltliche Orientierungsfunktion. Reale und mythische Held_innenfiguren sind Teil eines kollektiven Gedächtnisses. Sie sind Ausdruck von Sehnsüchten und Bedürfnissen der Menschen; sie dienen ihnen als Orientierung, Kompensation und auch Identifikation. Held_innentum kann als Erfüllung menschlichen Potentials angesehen werden. Held_innen sind Ausnahmegestalten, die zwischen dem Menschlichem und Übermenschlichem stehen. Um als beispielhafte Vorbilder gelten zu können, müssen sie jedoch im Bereich des Menschlichen bleiben.9 Menschlich meint dabei nicht nur die körperliche Form ‒ etwa anthropomorphe Vorstellungen ‒, sondern auch menschliche Eigenschaften. Dies wird beispielsweise aus einer Figur wie Benjamin Blümchen ersichtlich, dem sprechenden, menschenähnlichen Elefanten, der für viele Kinder vom Protagonisten zum Helden geworden ist, oder auch die Disney-Verfilmung von Robin Hood, in der Robin Hood durch einen Fuchs dargestellt wird. Die Gestaltung und Repräsentation von Held_innen ist Ausdruck von gesellschaftlichen Normen, für die oder gegen die sie stehen können. Welche Eigenschaften als menschlich und vorbildhaft angesehen werden, ist nicht nur zeitund ortsgebunden, sondern wird auch von der Erwachsenen-Welt bestimmt, ge8

Vgl. ebd. S. 15.

9

Vgl. Primavera-Lévy, Elisa: Helden der Autonomie. Genieästhetik und der Heroismus der Tat, in: Nikolaus Immer/Mareen van Marwyck (Hg.): Ästhetischer Heroismus. Konzeptionelle und figurative Paradigmen des Helden. Bielefeld: transcript 2013, S. 63-81, hier S. 80.

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rade in Hinsicht auf Held_innen für Kinder. Jene Held_innen tragen nicht nur die Sehnsüchte und Bedürfnisse von Kindern in sich, sie sind gleichzeitig Ausdruck der (Erwachsenen-)Gesellschaft. Die Welt der Kinder ist ohne Wünsche und Fantasien der Erwachsenen nicht verstehbar; Kindheit ist eine Konstruktion der Erwachsenen und birgt deren Bedürfnisse und Versagungen. 10 Eigens für Kinder geschaffene Held_innen trennen Kinder von den Erwachsenen und versuchen gleichzeitig sie so zu erziehen, dass sie in die Welt der Erwachsenen hineinwachsen, sozusagen integriert werden können. Das Kind muss jedoch nicht erst Mensch werden, es ist schon einer, wie der Pädagoge Janusz Korczak sagte.11 Kinder haben keine passive Rolle innerhalb der Gesellschaft, sie prägen diese mit. Die Grenzen zwischen Held_innen für Kinder und Held_innen allgemein sind daher nicht selten fließend. Dies wird vor allem bei den aktuell beliebten Superheld_innen sichtbar, die es sowohl in einer Ausführung für Kinder als auch für Erwachsene gibt. Ein Beispiel hierfür wäre Batman, den es einerseits als Zeichentrickserie für Kinder, andererseits in mehreren Realverfilmungen für Erwachsene gibt und dessen MerchandisingProdukte ebenfalls auf alle Altersgruppen ausgelegt sind. Die Werte, mit denen die Kinder konfrontiert werden, sind Ausdruck gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Verhältnisse. Geht es nach dem Philosophen Andreas Urs Sommer, so sind diese Werte Fiktionen. Sommers These ist, dass moderne Gesellschaften Werte gerade deshalb brauchen, weil sie Fiktion sind.12 Werte, die über Held_innenfiguren transportiert werden, sind kulturelle Konstrukte; sie sind auch Ausdruck eines Verschwimmens von Realität und Fiktion. Sie zeigen auf, was von den Menschen verlangt wird, welche Anforderungen innerhalb einer Gesellschaft an sie gestellt werden. Wir leben in Zeiten einer Hochleistungsgesellschaft, die auch als Resultat von Individualisierungsprozessen zu verstehen ist. Der moderne Zwang zu Individualität und Selbstgestaltung des Lebens vollzieht sich vor dem Hintergrund einer generell höheren Lebenserwartung. Gleichzeitig tritt eine Stagnation dieser Individualisierung ein, indem sich die Lebensläufe der Menschen immer mehr 10 Vgl. Köstlin, Konrad (Hg.): Kinderkultur. 25. Deutscher Volkskundekongreß in Bremen vom 7. bis 12. Oktober 1985. Bremen: Focke-Museum 1987, S. 8. 11 Zit. n. Kemper, Herwart: »Das Kind wird nicht erst ein Mensch, es ist schon einer.« (Janusz Korczak), in: Erich Renner (Hg.): Kinderwelten. Pädagogische, ethnologische und literaturwissenschaftliche Annäherungen. Weinheim: Deutscher Studien Verlag 1995, S. 13-25, hier S. 13. 12 Vgl. Sommer, Andreas Urs: Werte. Warum man sie braucht, obwohl es sie nicht gibt. Stuttgart 2016, S. 174.

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strukturieren und damit angleichen. Das Arbeitsleben der Menschen ist geprägt durch einzelne Sequenzen wie Ausbildung und (berufliche) Laufbahn. Sie müssen, um Erfolge in dieser Hochleistungsgesellschaft verbuchen zu können, ihren Lebenslauf diesen Sequenzen des Arbeitslebens stetig anpassen. Einerseits wird von ihnen verlangt, immer stärker durch Individualität heraus zu stechen, andererseits strukturieren verborgene Zwänge des modernen Lebens genau jene individuellen Lebensläufe. Autonomie und Selbstgestaltung sind in Hinblick auf Forderungen wie Anpassung und Flexibilität oftmals mehr Schein als Sein.13 »All children, except one, grow up. They soon know that they will grow up, and the way Wendy knew was this. One day when she was two years old she was playing in a garden, and she plucked another flower and ran with it to her mother. I suppose she must have looked rather delightful, for Mrs Darling put her hand to her heart and cried, ›Oh, why can’t you remain like this for ever!‹ This was all that passed between them on the subject, but henceforth Wendy knew that she must grow up. You always know after you are two. Two is the beginning of the end.«14

»All children, except one« – damit ist niemand anderes als die berühmte Kinderbuchfigur Peter Pan gemeint. Peter Pans Strategie, sich dem Erwachsen-Werden zu entziehen, scheint unter dem Aspekt der Leistungsgesellschaft reizvoll, sollte sie bedeuten, solche Verantwortungen meiden zu können. Sein Stillstand ist jedoch nicht nur körperlich, sondern auch geistig und seelisch. Peter Pans Geheimnis ist das Vergessen. Sein Vergessen schließt neben Regeln und Konventionen ebenso Empfindungen mit ein. Und auch, wenn Peter Pan durchaus das Bedürfnis nach Zuwendung wie beispielsweise mütterlicher Liebe empfindet, kann er dieser Sehnsucht nicht nachgeben; es würde ihn zwingen, erwachsen zu werden.15 Kurz gesagt: Peter Pans Weg macht auf Dauer einsam. Es ist eine gewisse Ironie, die J.M. Barrie damit in seinem berühmten Kinderbuch schildert: Das Verweigern des Erwachsen-Seins, die romantische Über13 Vgl. Gestrich, Andreas: Kindheit und Jugend – Individuelle Entfaltung im 20. Jahrhundert, in: Richard van Dülmen (Hg.): Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2001, S. 465-487, hier S. 486f. 14 Barrie, J.M.: Peter Pan & Peter Pan in Kensington Gardens. Hertfordshire: Wordsworth Classics 2007, S. 9. 15 Vgl. Lexe, Heidi: Pippi, Pan und Potter. Zur Motivkonstellation in den Klassikern der Kinderliteratur (=Kinder- und Jugendliteraturforschung in Österreich. Veröffentlichungen der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendliteraturforschung, 5). Wien: Edition Praesens 2003, S. 123-128.

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höhung des Kindlichen, nach der Therapeut Dan Kiley das populärwissenschaftliche Peter-Pan-Syndrom benannte16, das auch eine Verweigerung von Anpassung an die Forderungen der Gesellschaft beschreibt, führt zu Einsamkeit. Zwischen dem Kultivieren des Besonderen und dem gleichzeitigen Wunsch nach Zugehörigkeit besteht ein paradoxer Bedarf nach Einsamkeit. Dies wird auch sprachlich sichtbar: Man leidet unter Einsamkeit, flüchtet jedoch gleichzeitig vor ihr und in sie und manch einer wird sogar nach Einsamkeit suchen. Eine soziale Praktik zur Bewältigung von Einsamkeit ist dabei die Fantasie, die nicht selten mit Einsamkeit Hand in Hand geht.17 Aus dieser Perspektive betrachtet erstaunt es nicht, dass es im medialen Bereich gerade die Fantasy-Gattung ist, die sich immer größerer Vermarktung und Beliebtheit erfreut – und zwar bei Groß und Klein.18 Im Zentrum der FantasyGattung stehen heldenhafte Taten von Einzelnen, die jedoch immer ein Kollektiv betreffen. Es geht meist um den Kampf einer Weltordnung, einer Niederringung von Mächten, die jene Ordnung bedrohen oder versuchen, deren Errichtung zu verhindern. Ziel ist das Besiegen von unrechtmäßigen Herrschern und despotischen Wesen, die nach Macht streben. Das (vormoderne) heroische Held_innenbild wird in der Fantasy-Gattung in Relation zur modernen Gegenwart gezeigt.19 In Fantasy-Geschichten spiegeln sich politische und ökologische Zustände der Gegenwart wider, in ihnen lassen sich Allegorien für aktuelle Machtspiele und Herrschaftsstrukturen finden.20 Eine Gattung wie die Fantasy stellt aus dieser Sicht keine Realitätsflucht dar, sie dient den Menschen zur Auseinandersetzung mit den Herausforderungen, die das Leben an sie stellt.

16 Vgl. Kiley, Dan: The Peter Pan Syndrome: Men who have never grown up. London: Corgi Books 1984. 17 Vgl. Schaller-Steidl, Roberta: Einsamkeit und Fantasie, in: Elisabeth KatschnigFasch/Cécile Huber/Anita Niegelhell/Roberta Schaller-Steidl (Hg.): Einsamkeiten. Orte. Verhältnisse. Erfahrungen. Figuren. Wien: Turia + Kant 2001, S. 13-27, hier S. 22-24. 18 Vgl. Ewers, Hans-Heimo: Überlegung zur Poetik der Fantasy, in: Ingrid Tomkowiak (Hg.): Perspektiven der Kinder- und Jugendmedienforschung (=Beiträge zur Kinderund Jugendmedienforschung, 1). Zürich: Chronos 2011, S. 131-149, hier S. 131. 19 Vgl. ebd. S. 138. 20 Vgl. ebd. S. 143f.

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D IE F IGUR AUF DEM P ODEST Imaginationen und Wirklichkeit scheinen auf den ersten Blick ein Gegensatzpaar zu bilden. Tatsächlich sind beide jedoch nicht greifbare Begriffe, die ineinander übergehen und aufeinander bezogen sein können. Bilderwelten, Vorstellungen, Fantasien können als real erlebt und damit für die Wirklichkeit gehalten werden.21 Der Soziologe und Philosoph Dietmar Kamper spricht davon, dass Wirklichkeit und Fantasie in spätmodernen Kulturen verwirrte Beziehungen zueinander hätten. Bilderwelten seien auf ihre eigene Art Wirklichkeit, denn was sie zeigen und vermitteln, wird nicht durch die subjektive Erfahrung der Menschen bestätigt, sie hebt sich von dieser ab. In seiner Theorie zur Fantasie erklärt er die Fantasie zum Paradigma, in dem das Imaginäre an die Stelle des Realen tritt. Soziale Bilderwelten werden von ihm als reale Welten behandelt, um die Zusammenhänge zwischen der Welt der Erscheinung und der sinnlichen Realität zu verdeutlichen.22 Was aber ist Wirklichkeit, was ist Realität? Wo liegen die Grenzen zum Imaginären? Diese Fragen ergeben sich nicht erst durch das vermehrte Auftreten einer immer weiter expandierenden (digitalen) Bilderwelt. Die Vermischung von Wirklichkeit und Realität gab es schon in früheren Zeiten, nicht selten als ein Mittel der Legitimation für die Bildung eines »Wir-Gefühls«; ein Beispiel sind Mythen und Legenden, die mit der Zeit zur Realität ernannt wurden. Zu sehen ist dies etwa bei Robin Hood, der einst seine Anfänge in Balladen fand und heute bereits mehrfach als Film- und Serienheld reproduziert wurde. Erstmals im Spätmittelalter aufgetaucht, wurde die Figur des Robin Hood, des Wegelagerers, der Geistliche und Adlige ausraubt, mit der Zeit erweitert und umgedichtet. Aus ihm wurde ein angelsächsischer Held und Patriot, der sich für die Bevölkerung einsetzte, indem er die Reichen bestahl, um den Armen zu geben. Ihm wurde eine politische Dimension verliehen, die ihn funktionalisierbar machte und gleichzeitig ein Nationalgefühl transportieren ließ. Heute beschränkt Robin Hood sich längst nicht mehr auf den angelsächsischen Raum. Er wird gerne von Populisten verwendet in einem Argumentationskontext des »Wir für das Volk und gegen die Eliten«. Wie sehr Imagination und Wirklichkeit im Falle Robin Hoods verschwimmen, wird auch anhand historischer Forschungen sichtbar, die immer wieder versuchen, Robin Hoods Existenz zu beweisen. Als Figur auf einem Po-

21 Vgl. B. Binder: Figuren der Urbanisierung aus geschlechtertheoretischer Perspektive, S. 100. 22 Vgl. R. Schaller-Steidl: Einsamkeit und Fantasie, S. 20.

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dest gibt es ihn in der Wirklichkeit jedoch nur als Denkmal vor Schloss Nottingham. Auch die Sagenfigur Krabat, die in Deutschland und Österreich durch das Kinderbuch von Otfried Preußler bekannt wurde, fällt in dieses Muster. Die sorbische Sagengestalt steht im Mittelpunkt verschiedener Erzählungen unterschiedlicher Herkunft. Krabat wird in diesen Geschichten immer als ein normaler Einwohner der Region geschildert, der an Zauberkräfte gelangt und mit diesen gute Taten vollbringt. Die Kulturwissenschaftlerin Susanne Hose hat sich mit der Sage über Krabat und seiner Bedeutung für die Region Lausitz auseinandergesetzt. In der Gestalt von Johann Schadowitz, einem kroatischen Söldner im kaiserlichen Heer, das als die Krabaten bezeichnet wurde, soll dieser wirklich gelebt haben. Seit dem 19. Jahrhundert versuchen Chronisten dies immer wieder zu beweisen. Sie suchen dabei Parallelen zwischen dem Leben des Reiterobristen Johann Schadowitz und der Sagengestalt Krabat. Dies führte mit der Zeit zu einer Verwebung von Wahrheit und Legende, Geschichte und Sage. 23 Der Weg vom Mythos zur Marke und zum Medienstar ist kein unüblicher. Diese Figuren nehmen in den Medien einen Platz als Kulturvermittler ein. Die Region Lausitz erhofft sich, mit der Popularität der Figur ihr Image zum Positiven zu entwickeln. Krabat dient hier als Markenzeichen für eine heile Welt und trägt zu einem bestimmten Selbstverständnis der Region und ihren Bewohnern bei.24 Die Sagenfigur Krabat wird als Repräsentation auf ein Podest gestellt. Er wird damit Heiliger und Gönner zugleich, er vermittelt Tradition, aber auch moderne Lebensansprüche, stiftet Identität und überzeugt als Argument bei der Verteilung von öffentlichen Mitteln. Diese Gelder für die Modernisierung bringen attraktivere Lebensbedingungen für die Einwohner, die dadurch selbst motiviert werden, ihren Wohnort nach außen zu repräsentieren. Eine Sage wird an einer historischen Person festgemacht, wodurch Krabat aus der imaginären Welt in die Wirklichkeit tritt, an der niemand zweifeln kann. Dies legitimiert eine Würdigung, der zuliebe man ein Denkmal setzen kann. Und dieses Denkmal kann sich durch die vermeintliche Entmythologisierung der Figur des Krabat gleichzeitig dem Verdacht auf eine rein folkloristische Inszenierung entziehen, da die Sage an eine historische Person geknüpft wird: Ein angeblicher Magier, den man der 23 Vgl. Hose, Susanne: Krabat – Zauberlehrling, Hoffnungsträger, Markenname. Die multimedialen Verwandlungskünste einer sorbischen Sagengestalt, in: Christoph Schmitt (Hg.): Erzählkulturen im Medienwandel (=Rostocker Beiträge zur Volkskunde und Kulturgeschichte, 3). Münster/New York/München/Berlin: Waxmann 2008, S. 307-324, hier S. 309f. 24 Vgl. ebd. S. 315

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Hexerei verdächtigte, wird offiziell zu einem ökumenischen Vorreiter, der seinen katholischen Glauben lebte, ohne diesen den evangelischen Untertanen aufzuzwingen, wie es 2004 in einem katholischen Gedenkgottesdienst für Schadowitz formuliert wurde. Somit wird aus einer imaginären Gestalt ein realer Mensch, der eine heile Welt vermittelt. Die Bedeutung der Sagengestalt tritt dabei zunehmend hinter den Markennamen zurück.25 Krabat und Robin Hood befinden sich in guter Gesellschaft: Held_innenfiguren wie diese, die auf einen Sockel gestellt wurden, sind, bei genauerem Hinsehen, fast überall zu finden. Skulpturen und Denkmäler, die in der Landschaft stehen und als Beweis und Erinnerung dienen sollen, umgibt üblicherweise eine Mischung aus historischem Kontext und Fiktion. Die Gründe dafür sind meist, wie im Falle von Krabat oder auch Robin Hood, ökonomischer beziehungsweise politischer Natur. Auch Figuren, die an ein kindliches Publikum gerichtet sind, finden sich in jener Denkmäler-Landschaft wieder: Peter Pan steht in Kensington Gardens; die kleine Meerjungfrau, die von Disney zu Arielle, die Meerjungfrau uminterpretiert wurde, in Kopenhagen; und Michael Endes Momo sitzt als Skulptur in Hannover auf einem Podest. Wer in Südschweden auf der Autobahn zwischen Skurup und Ystad fährt, wird am Straßenrand die Statue einer Gans mit Kind auf ihrem Rücken erblicken – dort soll die Kinderbuchfigur Nils Holgersson mit dem Gänserich Martin ihre Reise begonnen haben. Jene, die einst diese Figuren auf das Podest gehoben haben, lebten zu anderen Zeiten, beeinflusst von anderen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. (Held_innen-)Figuren sind Ausdruck ihrer Entstehungszeit; ihre Bedeutung und Funktion unterliegen, trotz des festen Podest-Fundaments, einem stetigen gesellschaftlichen Wandel.

S OZIALISATION UND G ESCHLECHTERROLLEN Im Mittelalter war die Kindheit eine recht bedeutungslose Übergangszeit, man glaubte zudem nicht, dass Kinder bereits eine vollständige menschliche Persönlichkeit hätten. Die Gründe hierfür waren auch demographischer Natur: Kinder verstarben häufig sehr früh.26 Die Entdeckung des Ichs in der Aufklärung brachte zwangsläufig eine Entdeckung der Kindheit mit sich, wie es der Historiker Philippe Ariès in seiner »Geschichte der Kindheit« beschreibt. Diese Erfindung der

25 Vgl. ebd. S. 321-323. 26 Vgl. Ariès, Philippe: Geschichte der Kindheit. München/Wien: Carl Hanser Verlag 1975, S. 98f.

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Kindheit schaffte Kindern eine eigene Lebenswelt, die von der bürgerlichen Gesellschaft konstruiert wurde.27 Der soziale Status Kindheit kam somit erst mit der bürgerlichen Gesellschaft auf. Die »Entdeckung der Kindheit« als sozialer Status traf zunächst die Jungen: Bei ihnen zeigten sich als erstes Bemühungen, Kinder von den Erwachsenen abzusetzen, beispielsweise durch andere Kleidung. Sie verließen früher das Haus, da sie seit Ende des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts Kollegs besuchten. Mädchen erhielten erst viel später eine Ausbildung und blieben somit längere Zeit in der Gesellschaft der Frauen. Ihren Lebensweg als Hausfrau und Mutter würden sie dort am besten erlernen, so die Annahme. Es wurde daher lange Zeit kein Grund dafür gesehen, Mädchen gesondert als Kinder wahrzunehmen. 28 Dieser geschichtlichen Entwicklung liegen stereotype Vorstellungen von Mann und Frau zugrunde, die lange Zeit in den Köpfen der Menschen verharrten: Die Männerwelt ist die Welt der Erwachsenen, während Frauen und Kinder auf der anderen Seite, der kindlichen Welt stehen. Diese Auffassung änderte sich erst durch die Emanzipationsbewegungen der Moderne und die vermehrte Präsenz von Frauen in der öffentlichen Berufswelt.29 Mit der mentalen Gleichsetzung von Frau und Kind nahm man Frauen jegliches Recht auf Entscheidungs- und Wahlfreiheit. Ihnen wurden somit von vornherein eine Rolle als Mutter und Hausfrau zugeordnet. Da sie sowieso in diese Rolle hineinwachsen würden, gab es keinerlei Grund für eine Ausbildung. »Kindlich« und »naiv« sind bis heute Begriffe, die immer noch unterschwellig mit dem Begriff der Weiblichkeit konnotiert werden. Es waren vor allem die 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts, die Veränderungen in der Wahrnehmung brachten: Protestbewegungen der Jugend wollten ebenso wie feministische Bewegungen die Befreiung aus den Zwängen der gesellschaftlichen Ordnung. Verschiedenste Szenen entwickelten sich, die meist über äußerliche Merkmale, wie Frisur oder Kleidung, erkennbar waren. Die Protestbewegung und ihre Äußerungsformen brachte es mit sich, dass man Jugendliche und auch Kinder als eigenständige Konsument_innen für den kapitalistischen Warenmarkt entdeckte.30 Das ebnete auch einer ökonomischen Welt den Weg, die auf Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen zurechtgeschnitten wurde. Ein berühmtes Beispiel hierfür stellt Walt Disney dar. Nur durch diese ökonomische Entwicklung konnte 27 Vgl. K. Köstlin: Kinderkultur, S. 8. 28 Vgl. P. Ariès: Geschichte der Kindheit, S. 122. 29 Vgl. D. Lenzen: Mythologie der Kindheit, S. 347. 30 Vgl. A. Gestrich: Kindheit und Jugend – Individuelle Entfaltung im 20. Jahrhundert, S. 483f.

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beispielsweise ein Buch mit Erzählungen aus dem Dschungel, einst geschrieben von Rudyard Kipling, durch Disneys Verfilmung zu einer eigenen Marke werden. Viele Held_innen für Kinder sind zu einem kulturellen Label geworden, weil sie Elemente des kulturellen Gedächtnisses geworden sind. Kulturelle Labels arbeiten mit Stereotypen, sie reduzieren sich auf das Nötigste, wodurch sie offen und assoziativ zu erschließen sind. Die Verwendung des kulturellen Labels Dschungelbuch kann unter diesen Voraussetzungen Vorerfahrungen und Erwartungen hervorrufen und mobilisieren. Adaptionen des Stoffes bauen auf dem bereits vorhandenen Vorwissen des Publikums auf. Der Vorteil liegt auf der Hand: Hintergründe und Kontexte sind bereits bekannt und müssen nicht erst vorgestellt werden. Das kulturelle Label steht dabei unabhängig vom Medium, mit dem es transportiert wird, was dem Marketing Tür und Tor öffnet. Merchandising-Produkte wie bedruckte Handtücher, Bettwäsche und vieles mehr von den geliebten Held_innen finden somit einen eigenen Markt und erfreuen sich großer Beliebtheit bei Alt und Jung.31 Eine geliebte Heldin ist die Figur Pippi Langstrumpf. Auch Pippi Langstrumpf ist zu einem kulturellen Label geworden. Wie sehr auch sie zwischen Imagination und Wirklichkeit zu stehen scheint, zeigt sich am schwedischen 20Kronen-Schein. Bis vor kurzem zierte diesen noch Selma Lagerlöf mit der von ihr erschaffenen Kinderbuchfigur Nils Holgersson. Seit 2015 hat Astrid Lindgren diesen Platz eingenommen, gemeinsam mit ihrer Figur Pippi Langstrumpf. Bis 1945 zeichneten sich schwedische Kinderbücher, wie auch solche in anderen europäischen Ländern, meist durch einen moralisierenden Erzählstil aus, indem eine klare Trennung der Geschlechterrollen vorgegeben wurde. Es gab Jungenbücher und Mädchenbücher, aber nur wenige Kinderbücher. Während Jungenbücher vor allem episodenhafte Lausbubengeschichten waren, dienten Mädchenbücher dazu, den Reifeprozess der Protagonistin vorzuzeichnen. Diese Protagonistinnen mussten Aufgaben bewältigen, die ihre Rolle als Frau für sie bereithalten würde – die Lebensaufgabe der Frau war die Hochzeit sowie das Dasein als Mutter und Hausfrau. Pippi Langstrumpf stellte einen großen Bruch in dieser Literatur da, da die Erzählung, statt dem Klischee der werdenden Hausfrau und Mutter zu folgen, den klassischen Lausbubengeschichten ähnelte. Eine

31 Vgl. Groschwitz, Helmut: Gullivers Reisen ins Serienland. Anmerkungen zu medialen Transformationen von Kinder- und Jugendbuchklassikern, in: Christoph Schmitt (Hg.): Erzählkulturen im Medienwandel (=Rostocker Beiträge zur Volkskunde und Kulturgeschichte, 3). Münster/New York/München/Berlin: Waxmann 2008, S. 175186, hier S. 184f.

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Figur wie Pippi funktioniert gerade über ihr Geschlecht als Mädchen.32 Dabei verkörpert sie in sich zwei Dimensionen: die eines Kindes und die eines Mädchens. Eine Sozialisationsgeschichte ist immer auch eine Geschichte über Entwicklungen von Geschlechterrollen. Abbildung 1: »Wonder Woman – Wonder Pippi«

Zeichnung von Frau M., Jahrgang 1965.

32 Vgl. Wellnitz, Birte: Pippi Langstrumpf – Das stärkste Mädchen der Welt revolutioniert das Mädchenbuch, in: Corinna Schlicht: Geschlechterkonstruktionen. Frauenund Männerbilder in Literatur und Film (=Autoren im Kontext Duisburger Studienbögen, 5). Oberhausen: Karl Maria Laufen 2004, S. 152-161, hier S. 157.

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Doch Pippi Langstrumpf brach nicht nur mit einem traditionell verhafteten Frauenbild, sie brach auch mit den Anforderungen, die allgemein an Kinder gestellt wurden. Pippi ist Teil einer Reformpädagogik, die sich für das freie Kind einsetzte: das Kind als Hoffnungsträger für die Zukunft, für das man eine kindgerechte Erziehung forderte. Pippi symbolisiert das reformpädagogische Konzept vom freien Kind. Es stellte damit ein Kinderbuch dar, das nicht von oben herab, sprich von Erwachsenenseite erziehen, sondern aus der Perspektive des Kindes erzählen sollte.33 Pippi als die freche, vielleicht auch leicht sonderbare Figur, die Kinder seit Generationen amüsiert, erfreut sich heute noch großer Beliebtheit. In einer Welt, in der Kinder weniger Macht besitzen als Erwachsene, ist Pippi weiterhin eine Figur, die sich für Kinder einsetzt und ihnen den Mut zu Andersartigkeit und Durchsetzungsvermögen vermitteln kann. Trotz reformpädagogischer Ansätze darf jedoch nicht vergessen werden, wer Pippi schuf: eine Erwachsene. Aus dieser Perspektive kann Pippi auch für Erwachsene als Widerstand gegen geltende Normen gelesen werden, ohne dass sie gleich in ein Peter-Pan-Syndrom verfallen müssen. Und so kann sie zu einer Heldin für Groß und Klein werden – getreu dem Motto »So würde ich gerne sein, darf es aber nicht«34.

33 Vgl. ebd. S. 157f. 34 Ausschnitt aus dem Interview mit Frau M., Gratkorn vom 02.08.2016.

(Super-)Held_innen für Kinder Umstrittene Heldenfiguren zwischen Realität und Fiktion J OHANNA N U ẞ BAUMER

Die Zeitschrift Stern titelt »Superhelden machen Kinder aggressiv«1, die Welt »So schlimm sind Superhelden für Kita Kinder«2. Der Trend, Superheld_innen als Held_innen für Kinder zu vermarkten, wird nicht überall so positiv aufgenommen wie von Kindern und superheldaffinen Eltern. Besonders Vorschulkinder sehnen sich, laut Stern, nach Superhelden wie Batman oder Spiderman. Als nachteilig wird in dem Artikel berichtet, dass sich Kinder nicht rein an den positiven Charaktereigenschaften, die man von Superheld_innen mitnehmen könne, orientieren, sondern vor allem das aggressive Verhalten der Superheld_innen imitierten. Bezugnehmend auf eine Studie an der Brigham Young University in Provo (Utah)3 schlussfolgert die Zeitschrift Stern, dass die Komplexität, mit welcher die Handlung von Superheldengeschichten entwickelt werde, nur für ein älteres Publikum, für das sie ursprünglich auch geschaffen wurden, erfassbar sei. Kindern, vor allem den Kleinsten unter ihnen, sei

1

Vgl. Kriesl, Ilone: »Kehrseite von Batman und Co. Superhelden machen Kinder aggressiv«, in: Stern vom 12.01.2017, http://www.stern.de/familie/kinder/superheldenfoerdern-aggressives-verhalten-bei-kindern-7278898.html.

2

Vgl. dpa/krei: »So schlimm sind Superhelden für Kita-Kinder«, in: Welt vom 02.02.2017, https://www.welt.de/wissenschaft/article161760458/So-schlimm-sind -Superhelden-fuer-Kita-Kinder.html.

3

Coyne, Sarah. M. u.a.: »Pow! Boom! Kablam! Effects of Viewing Superhero Programs on Aggressive, Prosocial, and Defending Behaviours in Prescool Children«, in: Journal of Abnormal Child Psychology 45 (2017), S. 1523-1535.

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diese Komplexität nicht begreiflich.4 Die Zeitung Welt, ebenfalls Bezug nehmend auf diese Studie, ergänzt, dass die unter Jungen maßgeblich ansteigende Aggressivität zu einem Teil auf den Konsum der umstrittenen Superheldengeschichten zurückzuführen sei. Problematisch sei vor allem, dass das Einsetzen von Gewalt in Superheldengeschichten eigentlich immer legitimiert würde.5 Abbildung 1: »Das ist Batman und er ist mein Held. Er fängt immer die Bösen und passt auf mich auf. Auch auf meine Mama und das Baby im Bauch passt er auf [… ]«

Quelle: Bild eines Jungen, ca. 4 Jahre alt.

Doch inwiefern ist gewalttätiges Verhalten überhaupt ein neuer Charakterzug von Held_innen, deren Geschichten von Kindern konsumiert werden? Ein Interviewpartner, 53 Jahre, Lehrer, schwelgte während des Interviews über die Held_innen seiner Kindheit in Erinnerungen. Nicht Superman, Batman und Co. waren seine großen Idole: Neben realen Personen wie Muhammad Ali oder seinem Religionslehrer prägten fiktionale Figuren wie Lederstrumpf seine Kindheit. Besonders wichtig war für ihn, dass der Held ‒ in seinem Fall war es immer ein männlicher Held ‒ ehrlich ist, offen und niemanden von vornherein aus der Ge4

Vgl. I. Kriesl: »Kehrseite von Batman und Co. Superhelden machen Kinder aggres-

5

Vgl. dpa/krei: »So schlimm sind Superhelden für Kita-Kinder«.

siv«.

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meinschaft ausgrenzt. Die Bösen selbst seien es, die sich immer wieder in eine gegnerische Position gebracht hätten, in der sie bekämpft werden mussten. Als Kampfmittel des Helden war alles legitim: von der verbalen Auseinandersetzung bis hin zur Tötung. Diente es zur Rettung der Menschen, war auch das nachvollziehbar. Den Grad des Auftretens gegen das Böse habe der Widersacher durch sein Verhalten selbst evoziert, wichtig sei nur gewesen, dass der Held den Bösewicht nicht von vorneherein töte, sondern zuerst andere, mildere Mittel versuche.6 Im Rahmen der Forschung über mediatisierte Heldenfiguren für Kinder, die diesem Beitrag zugrunde liegt, wurden 13 leitfadenorientierte Interviews mit Personen zwischen 19 und 61 Jahren geführt. Ausgewählte Passagen aus diesen Interviews werden in den Text eingefügt: Neben der dargestellten Literatur geben sie der Wahrnehmung von Alltagsakteur_innen in Form einer erwachsenen Sicht auf Held_innen für Kinder Raum. Die im Beitrag verwendeten Bilder sind ebenfalls im Rahmen der Befragungen entstanden, hierfür wurden neben den erwachsenen Gesprächspartner_innen Kinder zwischen drei und vierzehn Jahren aufgefordert, ihre_n idealtypische_n Helden oder Heldin zu zeichnen. Die Vorannahme dieses Beitrags über Held_innen für Kinder ist, dass Heldenbilder in der Gegenwart nicht nur für Erwachsene, sondern auch für Kinder eine maßgebliche Rolle spielen und eine hohe Alltagspräsenz aufweisen. Unter besonderer Berücksichtigung von Superheld _innen soll daher der Rolle von Held_innen in unserer Gesellschaft, ihrer Entstehung und Aktualität sowie der Individualität der Heldenbilder für Kinder, aber auch für Erwachsene nachgegangen werden.

S UPERHELD _ INNEN – U MSTRITTENE H ELDENFIGUREN FÜR K INDER Thomas Nehrlich weist auf eine kulturhistorisch höchst interessante Entwicklung des Heldentums hin.7 Der Zweite Weltkrieg, von Herfried Münkler als der Wendepunkt datiert, an dem sich postheroische Strömungen in den westlichen Staa-

6

Vgl. Interview mit IP3b, vom 24.07.2016, Zeilennummer 11-212.

7

Vgl. Nehrlich, Thomas: »Wenn Identität mittels einer Maske sichtbar wird. Zu Geschichte, Wesen und Ästhetik von Superhelden«, in: Nikolaus Immer/Mareen van Marwyck (Hg.), Ästhetischer Heroismus. Konzeptionelle und figurative Paradigmen des Helden, Bielefeld: transcript 2013, S. 107-126, hier S. 107.

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ten, vor allem in Europa durchzusetzen begannen8, fällt laut Nehrlich mit dem Auftreten eines bis dato fast gänzlich unbekannten Heldentypus zusammen, dem des Superhelden. Die Kräfte der Superheld_innen beruhen im Gegensatz zu den in den Jahren zuvor als heldenhaft wahrgenommenen Taten von Kriegs- und Sportheld_innen nicht auf Realität. Ihre Beliebtheit und mediale Rezeption übersteigt die der vormals realen Held_innen fast genauso wie ihre Leistungen.9 Besonders in den Medien sind Superheld_innen für Jung und Alt vertreten. Neben diversen Verfilmungen für Erwachsene gibt es mittlerweile auch Kinderserien, welche Superheld_innen als Thema aufgreifen. Hierbei kann es sich um Neuerschaffungen für Kinder handeln, wie die 1998 erstmals ausgestrahlten Powerpuff-Girls10, aber auch um ›kindgerechte‹ Verfilmungen von bereits bestehenden Superheld_innen für Kinder. So findet man auf dem Markt speziell an Kinder gerichtete Filme wie LEGO Batman: Der Film – Vereinigung der DC Superhelden11 oder den 2017 neu erschienenen Film The LEGO Batman Movie12. Die mediale Vermarktung von Superheldengeschichten ist laut der Erziehungs- und Medienwissenschaftlerin Martina Schuegraf ein Indiz dafür, dass konstant ein Bedürfnis nach Held_innen zu bestehen scheint. An Superheldenverfilmungen könne klar erkannt werden, dass die für bewundernswert erklärten Held_innen stetig neu gestaltet werden. Heldenbilder, die heute Geltung erlangen, sind nicht mehr jene, welche in Mythen und Sagen angetroffen werden konnten. Die Heldentat ist laut Schuegraf aber immer noch hauptsächlich das, was einen ›normalen‹ Menschen zum/zur Held_in macht.13 Ihren Ursprung fanden die Superheldengeschichten bei Detective Comics, heute bekannt als DC. Dieser Verlag veröffentlichte im Jahre 1938 erstmals einen mehrere Seiten umfassenden Comic mit der Bezeichnung Superman, der sich als ein wahrer Kassenschlager entpuppte. Dieser erstmals entworfene Superheld war Ursache für den großen Markterfolg dieses Verlags. Die Grundlage für weitere Superheldengeschichten war geschaffen; die Entwicklung der Co8

Vgl. Münkler, Herfried: »Heroische und Postheroische Gesellschaften«, in: Merkur 61 (2007), S. 742-752, hier S. 750.

9

Vgl. T. Nehrlich: »Wenn Identität mittels einer Maske sichtbar wird«, in: Immer/Van Marwyck, Ästhetischer Heroismus (2013), S. 107f.

10 Powerpuff-Girls (USA 1998-2005, R: Craig McCracken). 11 LEGO Batman: Der Film – Vereinigung der DC Superhelden (USA 2013, R: Jon Burton). 12 The LEGO Batman Movie (USA 2017, R: Chris McKay). 13 Vgl. Schuegraf, Martina: »Celebrity als Star, Vorbild, Idol und Held«, in: tv diskurs 17 (2013), S. 24-29, hier S. 26.

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mics schritt von den anfänglich in den 1930ern in Zeitungen abgedruckten Comic Strips zu kohärenten Geschichten fort. Die Entwicklung weiterer Superhelden und Superheldinnen folgte bald. Im Jahr 1939 erschien Batman (auch im Verlag DC), 1940/41 Captain America bei Timely Comics (heute auch als Marvel bekannt), 1941 wurde mit Wonderwoman dem Publikum erstmals eine weibliche Superheldin präsentiert.14 Die eingangs dargestellte Debatte über den Schaden und Nutzen von Superheld_innen, sollten diese von Kindern konsumiert werden, ist kein Novum. Denn schon kurze Zeit nach dem Aufkommen der Superheld_innen nahm in den 1950er Jahren die Kritik an Superman, Batman und Co. einen zentralen Stellenwert in Medien und Politik ein. Kritisiert wurde, damals wie heute, die Gewalt, welche in den Superheldengeschichten allzu präsent schien. 1954 veröffentlichte der deutsch-amerikanische Psychiater Fredric Wertham eine Studie zu dieser Thematik: In Seduction of the Innocent15 wurde unter anderem ein offensichtlicher Zusammenhang zwischen dem Konsum von Superheldencomics und Gewalt unter Jugendlichen hergestellt. Die Debatte über die Schädlichkeit von Superheld_innen schaukelte sich so weit hoch, dass sogar öffentliche ComicVerbrennungen stattfanden. Comicproduzenten reagierten darauf mit dem Zusammenschluss zur Comics Magazine Association of America im Jahre 1954, ein Schritt, der in weiterer Folge für die meisten ihrer Mitglieder eine selbstauferlegte Zensur ihrer Comic-Held_innen bedeutete. Der Verkauf der Superheldencomics litt unter dieser Änderung; dem wurde mit einer neuen Dimension in den Superheldengeschichten begegnet: Die Charaktere erhielten eine Vertiefung, ihre Geschichten wurden differenzierter dargestellt.16 Die bereits in den 1950er Jahren aufkommende Kritik an Superheld_innen und an der oftmals mit ihnen assoziierten Gewalt scheint ihrer Beliebtheit bei Erwachsenen und Kindern bis heute keinen Abbruch zu tun ‒ zumindest erscheint es so, wirft man einen Blick auf die bestehende Vielfalt an Figuren und Geschichten. Vermarktet als Film, Buch, Kinderkostüm, Spielzeug, Werbemotiv und vieles mehr, sind Superheld_innen in der Kinderkultur stark verbreitet. Aber aus welchem Grund? Welche Bedürfnisse erfüllen Superheld_innen, dass sie so gerne von Kindern rezipiert werden?

14 Vgl. T. Nehrlich: »Wenn Identität mittels einer Maske sichtbar wird«, in: Immer/Van Marwyck, Ästhetischer Heroismus (2013), S. 108f. 15 Wertham, Fredric: Seduction of the Innocent, New York/Toronto: Rinehart & Company Inc. 1954. 16 Vgl. ebd., S. 110f.

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Abbildung 2: »Stark, coole Waffen und schön.«

Quelle: Bild eines Jungen, ca.12 Jahre alt.

Der Erziehungswissenschaftler Peter Gstettner führt die große Beliebtheit von Held_innen und Superheld_innen auf ihre Kompensationsfunktion zurück. Identifikation mit dem/der persönlichen (Super-)Held_in und seinen/ihren Fähigkeiten könne den Eindruck vermitteln, der Vervollständigung der Persönlichkeit zu dienen.17 Die Qualität der Inhalte solcher Medien für Kinder ist laut der Medienpädagogin Sara Signer nach wie vor ein Thema, über das Uneinigkeit herrscht. Besonders dem Fernsehen und den dadurch konsumierten Figuren und Inhalten wird im Rahmen dieser Diskussion die meiste Aufmerksamkeit gewidmet, da es sich aus dem breitgefächerten Medienangebot für Kinder als das Meistgenutzte herauskristallisiert hat. Fernsehkonsum bedient mehrere Ansprüche gleichzeitig. Neben seiner Rolle als Unterhaltungsmedium liefert Fernsehen den Kindern in-

17 Vgl. Gstettner, Peter: »Held und Superman. Über Kontinuität und Wandel von Identifikationsfiguren in der Kinder- und Jugendliteratur«, in: Friedbert Aspetsberger (Hg.), In fremden Schuhen. Jugendliche Leser, Jugendliteratur, Gegenwartsliteratur, Wien: Österreichischer Bundesverlag 1990, S. 56-80, hier S. 66.

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formative Inhalte, übernimmt eine alltagsstrukturierende Rolle und kann, ebenso wie Gstettners Superheld_innen, kompensatorische Funktionen erfüllen.18 Der/die klassische Superheld_in ist laut der Medienwissenschaftlerin Rebecca Hains und dem TV-Produzenten Josh Selig in der Regel mit bestimmten Eigenschaften versehen. Ein meist männlicher und mysteriöser Held, häufig ausgestattet mit übermenschlichen Kräften oder Hightech-Utensilien, kämpft, oftmals als Einzelgänger, gegen das Böse, das durch seine Verbrechen die Menschheit bedroht. Die Heldentaten ähneln in vielen Fällen einem Vergeltungsschlag. Superheld_innen der Kinderkultur hingegen weichen von diesem Bild ab. Viele der genannten Attribute von Superheld_innen sind bei ihnen in abgeschwächter Form zu finden, zudem sind sie oft weiblich.19 Über die kompensatorische Aufgabe, die Heldenfiguren für Kinder, aber auch für Erwachsene einnehmen können, spricht eine über die Heldenfiguren ihrer Kindheit interviewte, 51 Jahre alte Pädagogin mit Nostalgie. Als Beispiel führt sie Pippi Langstrumpf an, eine Figur ihrer Kindheit, die das Ausbrechen aus den Regeln und das ›Schlimmsein‹, mit dem sie sich identifizierte, das ihr jedoch verboten war, an ihrer Stelle auslebte. Auch Heidi war für sie eine Art Identifikationsfigur, die ihr nicht ganz so fern war wie Pippi. Als einziges Mädchen unter Jungen war Heidi für sie ein Sinnbild von Stärke und Durchsetzungsfähigkeit, Eigenschaften, welche die Interviewpartnerin in ihrer eigenen Kindheit mehrmals unter Beweis stellen musste.20 Pippi Langstrumpf, Astrid Lindgrens bekannte Heldin, führte in den 1940er Jahren zu einer Revolution im Mädchenbuch, dessen zentrales Narrativ bislang die Sozialisation der Mädchenfiguren in ein gesellschaftlich gewünschtes angepasstes Frauenbild nachzeichnete. Mit ihren fantastischen Kräften mit denen sie sich in der ›Realität‹ bewegte, war Pippi nicht nur eine der ersten starken Mädchenfiguren, durch Pippi Langstrumpf fand die Fantastik im Kinder- und Mädchenbuch dauerhaften Einzug. Pippi zeichnet, ähnlich wie viele Superheld_innen, ihre physische Stärke aus. Sie ist stärker als der durchschnittliche Erwachsene, um genau zu sein, ist sie – so heißt es im Buch – das weltweit stärkste Mädchen. Durch ihre übernatürlichen Kräfte ist Pippi in der Lage, Situa18 Vgl. Signer, Sara: »Qualität im Kinderfernsehen aus Rezipienten- und Angebotsperspektive am Beispiel des Schweizer Kinderfernsehens von 1965 bis 2009«, in: Ingrid Tomkowiak (Hg.), Perspektiven der Kinder und Jugendmedienforschung (=Beiträge zur Kinder- und Jugendmedienforschung, Band 1), Zürich: Chronos 2011, S. 49-70, hier S. 49. 19 Vgl. Hains, Rebecca/Selig, Josh: »Superhelden für die Allerkleinsten: Ein Gespräch«, in: Televizion 20 (2007), S. 54-55, hier S. 54. 20 Vgl. Interview mit IP1, vom 02.08.2016, Zeilennummer 115-174.

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tionen zu bewältigen, vor denen sich ihre Mitmenschen fürchten, auch sie tritt als Beschützerin jener auf, die nicht für sich selbst kämpfen können. Aber nicht nur körperliche Stärke grenzt sie von den anderen Kindern ab, ihre verbale Schlagfertigkeit ist ebenso stark wie sie selbst. Auch die Figur Pippi Langstrumpf löste, wie viele Superheld_innen heute, eine Debatte über den Einfluss, den sie auf Kinder haben würde, aus. Astrid Lindgrens Buch war erzieherisch umstritten, viele Gegner_innen der jungen Heldin sahen Pippi keineswegs in einer Vorbildfunktion für junge Mädchen und befürchteten einen negativen Einfluss auf deren Verhalten.21 Die Soziologen Stephan Moebius und Markus Schroer sprechen in Bezug auf narrative Vorbildgestalten von Sozialfiguren. Sie definieren sie als zeitgebunden und historisch. Jede Epoche, so Moebius und Schroer, bringe ihre eigenen Sozialfiguren hervor, die eine zentrale Rolle in der Gesellschaft einnehmen, da sich über sie Selbst-und Fremdbeschreibungen vollziehen. Sozialfiguren seien ein wandelbares Phänomen, ihr Verschwinden aus dem gesellschaftlichen Kontext sei ebenso möglich wie ihre Neuformierung. Auch Bedeutungsverschiebungen, wie etwa der Wandel von negativ belegten Figuren zu positiv Wahrgenommenen, sind hier möglich.22 Bei Pippi Langstrumpf etwa hat sich ihre anfängliche Ablehnung hin zu einer positiv konnotierten Heldenfigur verändert. Als fiktive Figur bietet sie nicht nur Möglichkeiten der Identifizierung, sondern – wie im Falle der erwähnten Interviewpartnerin – auch von Fremdzuschreibungen in Form einer alternativen, schlimmeren und frecheren Rolle die ihr und Mädchen in ihrer Umgebung oft nicht zugestanden wurde. Trotz der immer wiederkehrenden Kritik an Held_innen und Superheld_innen für Kinder nehmen sie, so Schuegraf, für Kinder und Jugendliche einen wichtigen Stellenwert ein. Besonders die vereinfachte Darstellung der komplexen Welt durch eine Kategorisierung in Gut und Böse entspricht ihren Bedürfnissen. Mit Eigenschaften wie herausragendem Mut und Courage meistert der/die Held _in den Kampf gegen Rivalen und kämpft für das Gute. Die heroischen Attribute, mit denen der/die Held_in ausgestattet ist, heben ihn/sie von ›normalen‹ Menschen ab. Bei Superheldengeschichten finden sich diese Eigenschaften in zugespitzter Form. Ihr zentrales Motiv ist eine dezidierte Teilung der Welt in ›Gut‹ 21 Vgl. Wellnitz, Birte: »Pippi Langstrumpf – Das stärkste Mädchen der Welt revolutioniert das Mädchenbuch«, in: Corinna Schlicht (Hg.), Geschlechterkonstruktionen. Frauen- und Männerbilder in Literatur und Film, Oberhausen: Karl Maria Laufen 2004, S. 152-161, hier S. 155-160. 22 Vgl. Moebius, Stephan/Schroer, Markus: »Einleitung« in: Dies. (Hg.), Diven, Hacker, Spekulanten. Sozialfiguren der Gegenwart, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 7-11, hier S. 7-10.

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und ›Böse‹ sowie die Tatsache, dass der/die Held_in der Geschichte Superkräfte besitzt, mit denen er oder sie sich gegen das Böse zur Wehr setzt. Die biografische Entfaltung, die Superheld_innen im Rahmen ihrer Geschichte zumeist durchlaufen, bieten einen Identifikationsrahmen, in dem eigene Identitätsprobleme bearbeitet werden können.23 Batman und Superman, ursprünglich für ein erwachsenes Publikum geschaffen, finden hierfür ebenso Anklang bei Kindern und begleiten, als Held _in der Kindheit, viele Erwachsene auch in späteren Jahren. Die Grenze zwischen Held_innen für Kinder und Held_innen für Erwachsene scheint ebenso verschwommen wie die Grenze zwischen Realität und Fiktion.

D IE S UBJEKTIVITÄT VON H ELDENFIGUREN Der Politikwissenschaftler Münkler postuliert die Auffassung, dass die westlichen Staaten der Gegenwart einen Wandel von sogenannt heroischen zu sogenannt postheroischen Gesellschaften durchlaufen haben. Als heroische Gesellschaften könnten lediglich jene verstanden werden, in denen der symbolische Heldentod realer Menschen mit Sinn konnotiert würde. In prä- und postheroischen Gesellschaften hingegen würden die Opfer von gewalttätigen Auseinandersetzungen nur mehr als negative Nebenerscheinung von Krieg wahrgenommen.24 Wenn man die Heldenthematik näher betrachtet, so zeigt sich, dass wir heute in einer Zeit leben, in der die Omnipräsenz von Held _innen unübersehbar ist. Held_innen für Kinder bilden dabei keine Ausnahme; in Radio, Fernsehen, auf Plakatwänden, in Büchern, selbst in der Produktwerbung richtet man sich mit Heldenmotiven für Kinder nicht nur an ein kindliches Publikum, sondern versucht auch Erwachsene mit ihnen zu erreichen. Insbesondere Massenmedien bedienen sich laut dem Germanisten Nikolaus Immer und der Literaturwissenschaftlerin Mareen van Marwyck, konstant der Figur des/der Held _in, angefangen bei antiken Held_innen bis hin zur gezielten Schaffung von Superheld _innen. Diese Held_innen erfüllen soziale und gesellschaftspolitische Aufgaben. An ihnen findet exemplarisch körperliche, psychische und moralische Orientierung statt. Sie zeigen unter anderem auf, welche außergewöhnlichen Leistungen der Mensch zu erbringen im Stande ist, und sie erwecken den Wunsch nach Nach-

23 Vgl. M. Schuegraf: Celebrity als Star, Vorbild, Idol und Held, S. 29. 24 Vgl. H. Münkler: Heroische und Postheroische Gesellschaften, S. 742-751.

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ahmung.25 Nicht das Verschwinden, sondern die Veränderung von Heldenbildern scheint in diesem Zusammenhang wichtig. Alte Kriegs- und Arbeitsheld_innen wurden, wie zuvor erwähnt, durch neue fiktionalere Superheld _innen ersetzt. Heldenbilder sind einer ständigen Modifikation ausgesetzt und unterliegen somit einer kontinuierlichen historischen Aufladung. Der/die herausragende Protagonist_in wird infolge der Spezifik seiner/ihrer Beziehung zu einer Gemeinschaft oder Gesellschaft in einem bestimmten historischen Zeitraum zu einer »Explikationsfigur einer mentalitäts-, sozial- und kulturgeschichtlichen Disposition«.26 Ein/e Held_in – jemand mit herausragender körperlicher oder mentaler Stärke, die jene eines ›normalen‹ Menschen bei weitem übersteigt, zeichnet sich durch Tapferkeit aus, großen Mut und hohe Opferbereitschaft. Sie oder er ist eine Person, deren Leben von Herausforderungen geprägt ist und die, zumindest in der literarischen Welt der Heroen, einen verpflichtenden Entwicklungsprozess durchläuft, an dessen Ende die Vorbildlichkeit des/der Protagonist _in hervorgehoben wird. All das sind laut der Literaturwissenschaftlerin Wiebke Hugen die charakteristischen Eigenschaften des/der typischen Held _in, wie sie in der Forschungsliteratur beschrieben werden.27 Der/die Held_in mit seiner/ihrer (Helden-)Tat, später darüber berichtende Zeug_innen, Zuhörer_innen, die deren Berichten ihr Ohr leihen, dieser drei Komponenten bedarf es, laut dem Kulturwissenschaftler Christian Schneider, zur Entstehung von Heldentum. Held_in ist niemand aus sich heraus; Held _innen entstehen in erster Linie durch Zuschreibungen. Das soziale Koordinatensystem, in dem sich der/die Held_in befindet und seine/ihre (vermeintliche) Heldentat vollbringt, ist die Beurteilungsgrundlage für die Bewertung einer vollbrachten (Helden-)Tat. So kann ein und dieselbe (Helden-)Tat in einem Koordinatensystem hoch gelobt und als heroisch anerkannt werden, in einem anderen hingegen die Held_innen als Kriminelle deklarieren. Dennoch, abgehoben von der Masse der ›normalen‹ Menschen, besteht ihre Grundeigenschaft in einer Außerordentlichkeit, die sich in einem das Normale übersteigenden Handeln äußert. Ein Suchen nach universalen Merkmalen, welche zeit- und systemübergreifend identitätsstiftend für Held_innen sind, ist laut Schneider gerade deshalb nicht abwegig. Er 25 Vgl. Immer, Nikolaus/Van Marwyck, Mareen: »Helden gestalten. Zur Präsenz und Performanz des Heroischen«, in: Dies. (Hg.), Ästhetischer Heroismus. Konzeptionelle und figurative Paradigmen des Helden, Bielefeld: transcript 2013, S. 11-28, hier S. 11f. 26 Vgl. ebd., S. 21f. 27 Vgl. Hugen, Wiebke: Kinderhelden im Wandel der Zeit. Zur Konstruktion junger Heldenfiguren in drei Generationen der Kinder- und Jugendliteratur, Norderstedt: GRIN 2014, S. 8.

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versteht Held oder Heldin in einem übertragenen Sinne als eine Art ›Übermenschen‹, der dem ›normalen‹ Leben entflieht und damit gleichzeitig dessen Gegenpart ‒ den Tod ‒ bedingt. Schneider spielt hier auf den Tötungsakt als Tat des Helden an. Mit ihm widersetzt dieser sich dem Tötungsverbot, einer der wesentlichsten Zivilisationsgrundlagen. Seine Verletzung, so Schneider, ist nicht beiläufige Nebenerscheinung der Heldentat, sondern steht in ihrem Zentrum.28 Inwiefern unterscheidet sich nun eine solche, archetypisch skizzierte Heldenfigur von jenen Heldenfiguren, die speziell für Kinder geschaffen wurden? Hugen unterscheidet bei der bislang nicht klar definierten Figur des/der Kinderheld_in in der Literatur zwischen zwei Typen. Zum Ersten kann ein »Kinderheld« eine heroisch handelnde Figur sein, die sich selbst noch im Lebensabschnitt der Kindheit befindet. Zum Zweiten kann der Begriff »Kinderheld« laut Hugen eine sich womöglich bereits im Erwachsenenalter befindende Figur beschreiben, die von Kindern zum/zur Held_in bestimmt wird, da sie bewundert wird.29 In den Gesprächen über Heldenfiguren für Kinder wurde die Subjektivität und Diversität der als heldenhaft konnotierten Figuren und Eigenschaften erkennbar. Eine Gesprächspartnerin, 52 Jahre, Pädagogin, erinnerte sich in unserem Interview daran, was die Heldenhaftigkeit ihrer Kindheitsheld6innen ausgemacht habe. Nicht die überragende Stärke oder der Mut seien für sie der ausschlaggebende Grund gewesen, sondern ihre Fähigkeit mit Witz, Schläue, Treue und Freundschaft die Probleme, die sich in ihrem ereignisreichen Leben auftaten, zu lösen. Die Held_innen ihrer Kindheit unterschieden sich in einigen Punkten von jenen ihrer Freund_innen. Held_innen, die sich nur über ihre herausragende Stärke definierten, waren für sie nicht halb so interessant wie jene, welche mit Hilfe von Verbündeten oder mentaler Stärke gesiegt haben. Besonders solche Figuren für Kinder, die körperlich nicht stark, sondern klein oder schwach waren, boten für sie das größte Identifikationspotential und waren in ihren Augen die prägenden Held_innen ihrer Kindheit.30 Kinder stellen den Anspruch an ihre Lieblingsfiguren, dass sie von ihnen Problemlösungsstrategien im Alltag erlernen können. Bestimmte Situationen und Themen werden von Kinderheld_innen symbolisch adressiert; das abstrakte Darstellen und die Idealisierung

28 Vgl. Schneider, Christian: »Wozu Helden?«, in: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung 18 (2009), S. 91-102, hier S. 92f. 29 Vgl. W. Hugen: Kinderhelden im Wandel der Zeit, S. 16. 30 Vgl. Interview mit IP1b, vom 30.07.2016, Zeilennummer 162-170.

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der Heldenfiguren ermöglicht eine Beschäftigung der Kinder mit dem selbst Erlebten.31 Seit Mitte des 19. Jahrhunderts erfolgte in Kinderbüchern eine verstärkte Auseinandersetzung mit dem Alltag ihrer jungen Leser_innen. Ein frühes Beispiel hierfür sind die Figuren Tom Sawyer und dessen Freund Huckleberry Finn aus Mark Twains 1876 erschienenen Roman The Adventures of Tom Sawyer32. Durch Parallelen der Geschichte zu den Lebenswirklichkeiten der Leser_innen bot sie Kindern Identifikationsmöglichkeiten. Hinzu kam, dass der Roman – im Unterschied zu der damals üblichen Kinderliteratur – in der Alltagssprache der Leser_innen verfasst worden war.33 Bei der Schaffung literarischer Kinderheld_innen schwingt laut Hugen zumindest unterschwellig stets der Gedanke an die Vermarktbarkeit der Heroen mit. Der/die Held_in muss vom Autor/der Autorin so geschaffen werden, dass er/sie ein kindliches Publikum anspricht, er/sie muss aber auch das Publikum der Erwachsenen ansprechen, das die Kaufkraft besitzt und bestimmte Ansprüche an die Figuren stellt, die es den Kindern vermitteln will. Deshalb liege die Vermutung nahe, dass Held_innen für Kinder viel weniger autark entstehen als ihre erwachsenen ›Kollegen‹ und ›Kolleginnen‹. Die von ihr genannten heldenhaften Eigenschaften beträfen beide Gruppen von Heldenfiguren; Held _innen für Kinder kennzeichneten jedoch eher als kindgerecht empfundene Attribute.34 Während Hugen schreibt, dass nicht zweifelsfrei festgestellt werden könne, ob und warum unsere Gesellschaft auf Heldenbilder zurückgreife 35, weist Christian Schneider Held_innen in unserer Gesellschaft gleich mehrere essentielle Rollen zu. Die erste Funktion, die sie erfüllen, ist die, ein Transzendenzentwurf unserer selbst zu sein. Ohne die Identifikationsmöglichkeit, die Held _innen bieten, sei ein kollektives Leben undenkbar. Menschliche Gemeinschaften beruhen auch auf der Grundlage ihrer Fähigkeit, Schranken zu überschreiten. Held_innen böten hier beispielhafte Vorlagen der Grenzüberschreitung, ohne die kollektives Leben nicht möglich sei. Sie böten Projektionsflächen und Orientierungspunkte im Feld 31 Vgl. Götz, Maya: »Die Fernsehfiguren der Kinder… und die Frage, was eine Fernsehfigur erfolgreich macht«, in: Televizion 20 (2007), S. 22-27, hier S. 25f. 32 Twain, Mark: The Adventures of Tom Sawyer, Hartford: American Publishing Company 1876. 33 Vgl. Eckmann-Schmechta, Stefanie: »Helden… was wäre die Kinderliteratur ohne sie?«, http://www.kinderbuch-couch.de/kinderbuch-couch-special-helden.html vom 18.11.2016. 34 Vgl. W. Hugen: Kinderhelden im Wandel der Zeit, S. 17. 35 Vgl. ebd., S. 11.

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der zur Verfügung stehenden Optionen. Held_innen zeigten dadurch Grenzen menschlicher Handlungsweisen auf, ohne die es keinen Zweck im Leben gäbe. 36

K INDERHELD _ INNEN ALS KULTURELLES L ABEL Auch wenn nicht eindeutig geklärt werden kann, warum Held _innen so großen Anklang in unserer ›postheroischen‹ Gesellschaft finden, weisen nicht nur Superheld_innen, sondern auch Figuren aus Kindermedien, die aus der subjektiven Perspektive ihrer Konsument_innen zu Held_innen gemacht werden können, ein großes Vermarktungspotential auf. Gstettner spricht sogar von einer kommerzialisierten Kindheit. Von Erwachsenen geschaffene Figuren, die potenzielle Held _innen für Kinder sein können, sind nicht nur in Büchern und auf Bildschirmen präsent, sondern in stark zunehmendem Maße auch auf dem Warenmarkt. 37 Besonders Figuren, deren Buchvorlage sich stereotypisierte Inhalte entnehmen lassen, werden, dem Kulturwissenschaftler Helmut Groschwitz zufolge, häufig zur Vermarktung herangezogen. Diese stereotypisierten Inhalte machten den Stoff leicht und für viele erkennbar und dadurch auch mit Produkten und Marken kombinierbar. Das habe zur Folge, dass Produkte, die beispielsweise mit dem Etikett Heidi versehen sind, von Käufern und Käuferinnen automatisch mit den klischeehaften Merkmalen, die mit der literarischen Vorlage assoziiert werden, gedanklich verknüpft werden. Für diesen Marketing-Vorgang schlägt Groschwitz den Begriff des kulturellen Labellings vor.38 Ein Label bezeichnet die Etikettierung eines Produktes, die seine Aufladung mit Werten und Vorstellungen ermöglicht. Mit dem Begriff kulturelles Label will Groschwitz verdeutlichen, dass es sich bei der Aufladung des Produkts mit Werten und Assoziationen, die zum Beispeil mit Held_innen und Superheld_innen für Kinder verbunden werden, um einen Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses handelt. Kulturelle Labels werden nicht gezielt von Marktanbietern geschaffen, sie werden jedoch von Verkäufern, aufgrund der weitverbreite-

36 Vgl. C. Schneider: Wozu Helden?, S. 95-102. 37 Vgl. P. Gstettner: »Held und Superman.«, in: Aspetsberger, In fremden Schuhen (1990), S. 57. 38 Vgl. Groschwitz, Helmut: »Gullivers Reisen ins Serienland. Anmerkungen zu medialen Transformationen von Kinder- und Jugendbuchklassikern«, in: Christoph Schmitt (Hg.), Erzählkulturen im Medienwandel, Münster/New York/München/Berlin: Waxmann 2008, S. 175-186, hier S. 179f.

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ten Übereinstimmung über die damit verbundenen Vorstellungen und Werte, zur Vermarktung genutzt. An der Entstehung eines kulturellen Labels sind in erster Linie alltägliche Akteur_innen, die Figuren und die mit ihnen verbundenen Werte immer wieder rezipieren, beteiligt. Bei der Vermarktung von Serien etwa wird der ihnen zugrundeliegende Stoff, zum Beispiel in Form eines literarischen Werks, über ihr Label vermittelt. Handlung und Essenz der Vorlage selbst werden bei diesem Vorgang fast irrelevant. Das kulturelle Label ermöglicht dies aufgrund einer Verwendung der stereotypisierten und universell bekannten Bestandteile des Originals, welche der Identifizierung dienen.39 Der Rückgriff auf kulturelle Labels und der mit ihnen konnotierten Werte ermöglicht zum Beispiel der Filmindustrie bei der Vermarktung klassischer Werke der Kinder- und Jugendliteratur auf Produktplatzierung40 zu verzichten, da die mit den Werken assoziierten Stoffe bereits in das kulturelle Gedächtnis eingegangen sind. Aufgrund des kulturellen Labels können Stoffe zum Beispiel in der seriellen Vermarktung vollkommen uminterpretiert werden und bleiben dennoch durch die Etikettierung mit einem kulturellen Label erkennbar. Die Anwendung des kulturellen Labels reicht von der seriellen Vermarktung über Merchandising bis hin zum Aufladen von Waren mit produktfernen Inhalten. 41 Als Beispiel hierfür soll die sowohl bei Kindern, als auch Erwachsenen beliebte Figur Batman herangezogen werden. Der 1939 entstandene Superheld Batman hat, der Germanistin Anna Stemmann zufolge, seit seiner Entstehung zahlreiche Entwicklungen und Anpassungen durchlaufen, wodurch seine stete Beliebtheit auf dem Markt erklärt werden kann. Die Figur Batman wurde in diversen Darstellungen auf unterschiedlichste Art und Weise inszeniert. Batman ist in mehrfachen Verfilmungen42 auf dem 39 Vgl. ebd., S. 181-185. 40 Produktplatzierung bezeichnet die nicht offensichtlich durch Werbung stattfindende Vermarktung von Produkten, zumeist in visuellen Medien. 41 Vgl. ebd., S. 185f. 42 Verfilmungen: Batman und Robin (USA 1943, R: Lambert Hillyer), Batman und Robin (USA 1949, R: Spencer Gordon Bennet), Batman hält die Welt in Atem (USA 1966, R: Leslie H. Martinson), Batman (USA/UK 1989, R: Tim Burton), Batmans Rückkehr (USA/UK 1992, R: Tim Burton), Batman und das Phantom (USA 1993, R: Eric Radomski/Bruce W. Timm), Batman Forever (USA 1995, R: Joel Schumacher), Batman & Robin (USA 1997, Joel Schumacher), Batman & Mr. Freeze: Eiszeit (USA 1998, R: Boyd Kirkland), Batman of the Future – Der Joker kommt zurück (USA 2000, R: Curt Geda), Batman: Das Geheimnis um Batwoman (USA 2003, R: Curt Geda/Tim Maltby), Batman Begins (USA 2005, R: Christopher Nolan), The Batman vs. Dracula: The Animated Movie (USA 2005, R: Michael Goguen), Batman: Gotham

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Markt präsent. Trotz seiner unterschiedlichen Darstellungsformen und Entwicklungen im Laufe der Zeit, basiert Batman auf dem stereotypisierten Inhalt eines Mannes, der mit einem Fledermauskostüm verkleidet das Böse jagt. 43 Es bedarf keinem Product-Placement zur Vermarktung, seine unverwechselbare Verkleidung sowie das Fledermaussymbol werden durch ihren Wiedererkennungswert vom Markt genutzt. Neben dem sich an Erwachsene richtenden Merchandising, hat Batman auch Einzug in den Markt für Kinder eingehalten. Von BatmanKostümen über Zeichentrickserien findet sich die Figur bis hin zu Lego-Spielen und Lego-Filmen, selbst die bekannte Kindersüßigkeit, das Überraschungs-Ei, hat eine eigene Edition den Superheld_innen, Batman selbstverständlich inklusive, gewidmet.

F AZIT Held_innen und Superheld_innen ‒ das spiegelt ihre Präsenz auf dem Warenmarkt ‒ scheinen sich nach wie vor größter Beliebtheit zu erfreuen. Die Allgegenwart der Heldenthematik und die historische Kontinuität der Heldenfiguren weist auf ihre anhaltende Bedeutung für und ihre essentielle Rolle in der Gesellschaft hin. Insbesondere Heldenfiguren wie Pippi Langstrumpf oder Superheld_innen, die von Kindern rezipiert werden, erfüllen nicht immer alle Ansprüche, die Erwachsenen an sie stellen. Wer oder was ein/e (Kinder-)Held_in ist, scheint je-

Knight (JP/USA 2008, R: Yasuhiro Aoki u.A.), The Dark Knight (USA/UK 2008, R: Christopher Nolan), Superman/Batman: Public Enemies (USA 2009, R: Sam Liu), Justice League: Crisis on Two Earths (USA 2010, R: Lauren Montgomery/Sam Liu), Superman/Batman: Apocalypse (USA 2010, R: Lauren Montgomery), Batman: Under the Red Hood (USA 2010, R: Brandon Vietti), Batman: Year One (USA 2011, R: Sam Liu/Lauren Montgomery), The Dark Knight Rises (USA/UK 2012, R: Christopher Nolan), Batman: the Dark Knight Returns, Part 1 (USA 2012, R: Jay Oliva), Batman: The Dark Knight Returns, Part 2 (USA 2013, R: Jay Oliva), Batman: Assault on Arkham (USA 2014, R: Jay Oliva/Ethan Spaulding), Batman vs. Robin (USA 2015, R: Jay Oliva), Batman vs. Superman: Dawn of Justice (USA 2016, R: Zack Snyder). 43 Vgl. Stemmann, Anna: »Der Held und sein Raum. Batmans Metamorphosen im Spiegel von Gotham City«, in: Komparistik Online. Komparatistische Internet- Zeitschrift (2013), S. 140-149, http://www.komparatistik-online.de/2013-1-12 vom 10.02.2017, hier S. 140-146.

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doch jenseits von allen Debatten stark vom subjektiven Empfinden abzuhängen; die Grenzen zwischen Held_innen für Erwachsene und Held_innen für Kinder, aber auch zwischen Realität und Fiktion scheinen hier zu verschwimmen. Aus den Interviews ergibt sich die Schlussfolgerung, dass Figuren aus Kinderbüchern, Filmen u.ä. durch subjektive Zuschreibungen zum/zur Held_in erklärt werden können. So kann auch eine Figur, die nicht alle klassischen Heldenattribute zu verkörpern scheint, zum/zur Held_in erklärt werden.

Alltagsheld_innen als Wegzeiger der Veränderung

Eine Sehnsucht nach Freiheit Autoethnographische Zugänge zur Repräsentation von Männlichkeit bei Harley-Davidson-Fahrern1 M ICHAEL B ITTNER It’s all the same, only the names will change Everyday, it seems we’re wastin’ away Another place where the faces are so cold I drive all night just to get back home I’m a cowboy, on a steel horse I ride I’m wanted dead or alive2

1

Gewidmet meiner geliebten Tochter Amalia und meiner besten Freundin und Partnerin Jenny. Der Wunsch frei zu sein, der Straße zu folgen, ist tief in meine Biographie eingegraben. Es ist ein Wunsch auszubrechen, mich loszusagen von schmerzhaften und vergangenen Erinnerungen, eine Sehnsucht nach idealisierter Freiheit, nach Tod. Der hier gewählte autoethnographische Zugang ist der bewusste Versuch, das Sinnliche, das Leidenschaftliche und die emotionale Verhaftung durch und über dieses Medium hinaus für die Lesenden sichtbar und erfühlbar zu machen, weshalb eine pathetische Schreibweise gewählt wurde. Der Essay soll lesbar sein, Emotionen, Empathie oder Antipathie erzeugen. Es sind nicht nur meine Bilder und Vorstellungen, welche sich durch den ganzen Text ziehen, sondern auch gesellschaftliche. Es sind Wahrnehmungs- und Vorstellungsinhalte (auch über Männer und Männlichkeit), die durch das historische Wissen über die USA und durch meine Reise-Erfahrungen – auch im Hinblick auf andere Länder – bestimmt sind. Daher ist dieser Text ein Versuch des Verstehen-Wollens, meiner Person wie auch des kollektiv wirksamen, transportierten und transferierten Bilderkanons einer Union der Vereinigten Staaten.

2

Bon Jovi (2010): Wanted Dead or Alive. Greatest Hits. The Ultimative Collection. Disk 1. Nr. 5. CD, Biem/Sabam. Islandrecords.

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Ich erinnere mich zurück an den Weg, die Straße, den Horizont – wie die Sonne den Asphalt zu berühren scheint. Es ist kein Ende in Sicht und Abenteuer locken mit donnernden Stimmen. Das Ziel ist der Weg, der Weg das Ziel. Ich sitze auf meinem Motorrad, bin auf dem Weg nach Faak am See in Kärnten zur alljährlich stattfindenden Bikeweek. Brodeln. Man kann sie spüren, die Vibrationen unter dem Sattel. Sie wummern, röhren, klingen tief, wirken dunkel und eindringlich. Die Benzinleitung ist offen, Treibstoff kann fließen. Ein Knopfdruck: Funkenschlag. Das Benzin-Luft-Gemisch entzündet sich, der Motor erwacht zum Leben. Gestreckte Arme, die nach den Zügeln fassen, dem Lenker. Die Finger der rechten Hand umschlingen den Handgriff, packen zu, klammern. Sie drehen an, während die Kupplung langsam ausgelassen wird und der Motor aufheult. Die Kraft wird auf das Hinterrad übertragen. Bewegung nach vorne, das Motorrad beschleunigt, den Horizont stets im Blick. Ich habe Lust zu singen: »I finally found my way. Said goodbye to yesterday. Hit the gas, there ain’t no brakes […] I’m busting loose, I’m lettin go out on this open road. It’s independence day on this lost highway«3. Staub, Dreck, Fliegen und andere Insekten knallen gegen den Mundschutz, während eine Sonnenbrille meine Augen vor dem Fahrtwind und der Sonne schützt. Das Tachometer zeigt 80 Kilometer pro Stunde an. Der Wind faucht, umschlingt meine Ohren. Ein Gefühl von Freiheit umweht meine Gedanken, das Gemüt pulsiert durch den Körper und lässt Endorphine durch die Adern schnellen. Der Feuerstuhl, das Pferd aus Stahl, schnaubt sich seinen Weg auf dem schwarzen und klebrigen Untergrund, während Spiegelungen über den Horizont tanzen. Durst, Weite, amerikanische Weite. Einen Wimpernschlag später fährt er vorbei. Reitet seinen motorisierten Gaul, führt ihn, treibt ihn an. Er trägt seine Kutte, seine Lederweste – seine Signatur. Ich kann sie erkennen, die Buchstaben, die sich zu dem Wort formen: Lone Wolf. Zwischen den Patches, den Aufnähern, starrt bissig ein Wolfskopf vom Rücken. Wen scheint dieser Reiter zu brauchen? Das Bild des ›einsamen Wolfes‹ irritiert mich. Wölfe sind im Regelfall Rudeltiere, sie gehören einer Gemeinschaft an und pflegen enge familiäre Bande. Ich stelle mir die Frage ob er überhaupt eine Familie hat? Was ich sehe, erscheint widersprüchlich, ambivalent. Das Motorrad verbindet uns durch die Markenzugehörigkeit, seine Repräsentation entzieht sich meinem unmittelbaren Verständnis. Aber ich möchte verstehen, fahre hinterher, verliere die Spur. Die Vergangenheit war gestern, die Zukunft ist noch nicht geschrieben. Im Hier und Jetzt bleiben nur die Straße, mein Motorrad, die vorbeiziehende Landschaft, ich und die anderen: Biker, Weekendbiker, Outlaws auf Zeit, alte und junge Fahrer_innen. 3

Bon Jovi (2010a): Lost Highway. Greatest Hits. The Ultimative Collection. Disk 2. Nr. 3. CD, Biem/Sabam. Islandrecords.

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FREIHEIT

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S INN UND S INNLICHKEIT . D IE F IGUR DES R IDERS Motorradfahren ist ein sinnliches Erlebnis und nicht alles, was man empfindet, ist in Sprache übertragbar. Ob nun der Lärm der Endrohre oder das Rasseln der Kolben, während sie ihrer Arbeit nachgehen, ein Auf und Ab, getaktet, oder der Benzingeruch, der Teer, der Asphalt und die Abgase. Man(n) hat die Möglichkeit, aus dem Alltag auszubrechen. Man(n) muss nicht mehr in seiner Rolle, seiner Realität, der Wiederholung von Abläufen – der Routine – funktionieren, vielmehr kann man für einen kurzen Zeitraum einen anderen Lebensstil führen. Wünsche, Idealvorstellungen, Sehnsüchte sind Aspekte, die sich als Teile eines Ganzen körperlich im Objekt eines Motorrades manifestiert – nämlich einer Harley-Davidson. Ein solches Motorrad zu fahren, bedeutet für die Biker_innen, Sinnlichkeit zu (er-)leben, Bilder und Emotionen zu sammeln. »Neben der regenerativen Kraft, die diesem Lebensstil zugeschrieben wird, ist es vor allem die identitätsstiftende (amerikanisierende) Wirkung«4 ‒ frei nach dem Motto: einmal aufsetzen, starten, Abenteuer erleben und die eigenen Rollenzwänge des Alltags vergessen beziehungsweise hinter sich zu lassen. Ein Ausritt, eine Fahrt, ein Erlebnis. Die Figur des Riders ist historisch; sie spiegelt die Zeit ihres Erschaffens wider. Der Rider verkörpert Ideale, Sinnzuordnungen und Wünsche einer bestimmten Gesellschaft, eines bestimmten Raumes, einer Zeit. Und er ist vor allem eines: eine »sozial konstruierte Geschlechtlichkeit [die] immer wieder neu zur Schau gestellt«5 werden muss, eine Repräsentation von Männlichkeit. Vermutlich hat man, denkt man an Motorradfahren, bestimmte Landschaften vor Auge, die man von den Werbeplakaten diverser Reiseangebote für einen Trip in die USA kennt, oder es schießen einem Bilder von Straßen durch den Kopf: zum Beispiel die in Blutorange glimmernde, am Firmament versinkende Sonne. Oder, wie der Protagonist der Band Bon Jovi im eingangs erwähnten Zitat beschreibt: das Selbstbild eines modernen Cowboys, der sich auf seinem stählernen Pferd treibend durch eine vorbeiziehende Umgebung vorwärtsbewegt. Sein größtes Verlangen scheint dabei die Fremde im Schatten seiner eigenen Person zu sein. Die Neugier auf das Unbekannte treibt ihn hinaus, lässt ihn den Windungen der Straße folgen, um schließlich wieder nach Hause zurück zu kehren, zu seiner Familie, seinen Liebsten. Sie wird zu seiner Motivation, seinem Handlungsmotiv. Er betont es, verstärkt es, wenn er sich selbst als Cowboy be-

4

Weidinger, Martin: Nationale Mythen – männliche Helden. Politik und Geschlecht im amerikanischen Western, Frankfurt am Main/New York: Campus Verlag 2006. Hier S. 100.

5

M. Weidinger: Nationale Mythen – männliche Helden, S. 97.

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zeichnet: ein Geächteter, ein Gejagter, ein Getriebener, ganz gleich, ob tot oder lebendig. Sein Leben scheint gesetzlichen Normen und rechtlichen Festschreibungen entgegen zu laufen. Er ist »ein Grenzgänger«6, der in einem Dazwischen agiert und handelt, einem Ort außerhalb sozial gängiger Verhaltensmuster. Dabei sind die Grenzen zwischen sozial und antisozial ineinander verschwimmend und ungenau und je nach gesellschaftlich-normativem Kontext verschieden. Im Genre des Gangsterfilms oder einschlägiger Literatur wird der Grenzgänger zum erfolgreichen Helden.7 Oder wie es Warshow einst sagte: »The most successful creation of American movies are the gangster and the Westerner: men with guns«8. Das Attribut guns gehört zum Helden dazu, es kennzeichnet ihn. Die Figur des Lone Wolf repräsentiert sozusagen eine adaptierte Form des klassischen Westernhelden mit dem Unterschied, dass die Waffe durch das Motorrad ersetzt wird. Im Wesentlichen wird dabei die alte Figur des Westernhelden in ihre Attribute zerlegt und anhand soziokultureller Sehnsüchte und Wunschvorstellungen neu zusammengesetzt und verortet. Sie repräsentiert ein gewisses Potential an Identifikationsmöglichkeiten. Auch wenn das Genre des Westerns nicht ganz neu ist, so fällt auf, dass es zwischen der Figur des Westernhelden und jener des Lone Wolf Ähnlichkeiten gibt. Der einsame Fahrer ist in erster Linie ein Mann, und wie sich im Zuge meiner Forschung herausstellen sollte: ein schwer auffindbares Subjekt. Wer ist dieser Lone Wolf, dieser einsamer Wolf? Was macht diese Männlichkeitsfigur so anziehend für mich, für andere? Dazu meint Weidinger, dass sich die Vorstellung von Männlichkeit als einsam und wild, wie sie auch der eingangs zitierte Liedausschnitt von Bon Jovi illustriert, nicht nur auf das Genre des Western beschränkt, sondern »tief in der US-amerikanischen Kulturgeschichte verwurzelt und bis in die Gegenwart wirksam (ist). Immer wieder versuchen Männer zumindest für kurze Zeit aus der Zivilisation der sauberen weißen Vorstädte Amerikas auszubrechen, um mit ihren Freunden auf Jagdausflüge zu fahren oder mit ihren Söhnen fischen zu gehen. Letzteres ist als klassisches Initiationsritual hinsichtlich dieses Männlichkeitsbildes zu sehen. Die Frauen […] bleiben zu Hause und warten auf die Rückkehr ihrer Männer.«9

Hier stellen sich eine Reihe von Fragen: Was repräsentieren die männlich konnotierten Wunschfiguren? Wovor scheinen die Rider davon zu fahren? Sind es so6

M. Weidinger: Nationale Mythen – männliche Helden, S. 104.

7

Vgl. M. Weidinger: Nationale Mythen – männliche Helden, S. 97.

8

Robert Warshow, zit. in: M. Weidinger: Nationale Mythen – männliche Helden, S. 97.

9

M. Weidinger: Nationale Mythen – männliche Helden, S. 89

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ziale Hierarchien und Beziehungen, denen sie sich, zumindest auf Zeit, entziehen wollen? Wie lässt sich die Ambivalenz zwischen der Figur des einsamen Wolfs und der Selbstverortung in einer großen Familie deuten? Harley-Davidson etwa wirbt auf Plakaten mit der Gruppenzusammengehörigkeit der Motorradfahrer_innen. Augenscheinlich wird dies, wenn, wie auf der von mir besuchten Bikeweek, Plakate mit dem Schriftzug You never ride alone die Gemeinschaft als eine familiale Institution charakterisieren. Im Kontext der Mediatisierung stechen auch bestimmte Imaginationen von Amerika und eines als USamerikanisch verstandenen Rider-Bildes ins Auge.

D IE ERSTEN S CHRAUBEN WERDEN ZUSAMMENGESETZT . G EBURT UND M YTHOS EINER H ELDENFIGUR Jede Geschichte hat ihren Anfang, so auch die Figur des Lone Wolf. 1903, Milwaukee, US-Bundesstaat Wisconsin: das Jahr und der Ort der Geburt. Die drei Brüder Arthur, Walter und William A. Davidson legen zusammen mit William S. Harley den Grundstein für den heute weltweit agierenden Motorradhersteller. Harley-Davidson präsentiert sich nach außen hin als ein Konzern mit Tradition und Geschichte, der Individualität, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit lebt und verkörpert – ein Mythos, der durch die Jahrzehnte gewandert, gewachsen und an Größe und Komplexität gewonnen hat.10 Er – der Mythos – hat seine Bilder, seine Figuren, seine Heldengestalten, er »ist unmittelbar, allgemeinverständlich und erzählt dabei nicht von einer vollkommenen Welt.«11 Die Motorradmarke scheint Emotionen zu weben, malt und spielt mit Bildern von Weite, jenen amerikanischen Landschaften, deren Enden hinter dem Horizont zu liegen scheinen, und in Filmen die Zuschauer_innen in ihrer romantisierten Darstellung und Inszenierung mitreißen, verzaubern und einvernehmen. Es ist eine Geschichte des Visuellen. Sie repräsentiert unbegrenzte Träume und unbegrenzte Freiheit. »Sie lässt Raum für Sehnsüchte und […] Offenheit.«12 Ein Motorrad, welches als ein repräsentierter amerikanischer Traum interpretiert werden kann, geträumt, geschweißt, verwirklicht und aus dutzenden Teilen zusammengesetzt. Sie – die Harley – wird zu einem Mythos, zu einem stählernen Pferd. Unbändig, ungestüm, wild und schnaubend wie ein Mustang materialisiert sich der Mythos

10 Vgl. Herzig, Rudi: Interview, Faak am See, 8. September 2016. 11 Magdanz, Jana: Spuren des Geistigen. Die Macht des Mythos in Medien und Werbung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2012, S. 50. 12 Ebd.

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in der Figur des Riders und seinem fahrenden Objekt: geschmiedet, gezähmt und zugeritten durch diese Heldenfigur. Ein leistbarer Traum aus Stahl, Leder und Benzin. Letzten Endes heißt ein solches Motorrad zu fahren: Gefühle zu (er-) leben. Es lässt Raum für Sehnsüchte, Weite, Freiheit, Unbändigkeit und Unabhängigkeit und vielleicht für ein sinnliches Leben. Mit Harley-Davidson wird zumeist ein Amerika imaginiert, das es so nicht gab und bis heute nicht gibt. Dieses Bild ist idealisiert und vereinfacht, für unterschiedliche Personen je individuell anpassbar und allgemeinverständlich. 13 In diesem Kontext muss man zwischen »the reality of America and the New World as a symbol«14 unterscheiden. Ein Motorrad dieser Marke ist nicht bloß ein bewegliches Objekt. Seine Fahrer_innen verbinden die subjektive Bedeutung ihres Fahrzeugs mit Sprache und konstruieren so eine Kultur des Motorradfahrens. Kurz gesagt, das Motorrad wird selbst zu einer Praxis der Repräsentation zwischen den einzelnen Mitgliedern einer Gesellschaft, insbesondere in Bezug auf ein bestimmtes Amerikabild und dessen Männlichkeitsverständniss.15 HarleyDavidson ist zu einem Symbol für ein bestimmtes und freies Amerika ge(macht)-worden. Die Auseinandersetzung mit diesem Thema bietet daher die Möglichkeit, sich beispielhaft der Idealisierung eines Sehnsuchtsgedankens anzunähern, die ein transnational wirkendes Männlichkeitsbild vermittelt. Woran liegt es, dass diese Bilder eine solche Anziehungskraft haben? Liegt es an der Neugier oder auch an einem Wunsch, aus den gelebten Alltagsstrukturen auszubrechen? Geht es den Ridern noch um Motorradfahren oder geht es darum, in eine andere Rolle zu schlüpfen, um dann wieder nach Hause zurückzukehren, ohne sein eigenes und normales Leben aufzugeben? Ist dies der Anreiz? Die Präsenz der US-amerikanischen Kultur in Europa und in anderen Teilen der Welt ist seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ein markantes Phänomen – so der Salzburger Amerikanist Reinhold Wagnleitner.16 Insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Alte Welt durch US-amerikanische Stereotype beeinflusst.17 Die dahinter stehende Ökonomie, »the military, diplomacy, and the media«18 13 Vgl. J. Magdanz: Spuren des Geistigen, S. 12. 14 Wagnleitner, Reinhold: Coca-Colonization and the Cold War. The Cultural Mission oft he United States in Austria after the Second World War, United States of America: The University of North Carolina Press 1994, S. 10. 15 Vgl. Hall, Stuart: The Work of Representation, in: Stuart Hall/Jessica Evans/Sean Nixon (Hg.): Representation. 2. Auflage, Los Angeles/London/Neu Delhi/Singapore/ Washington D.C.: SAGE Publications Ltd. 2013, S. 1-47, hier S. 1. 16 Vgl. R. Wagnleitner: Coca-Colonization and the Cold War, S. 10. 17 Ebd. 18 R. Wagnleitner: Coca-Colonization and the Cold War, S. 10.

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hatten dabei besondere Wirksamkeit. Diese stimulierten und stimulieren bis heute Gefühle, Gedanken und (Inter-)Aktionen. Stereotype ebenso wie ihre Träger_innen sind historischen, ökonomischen, demographischen, soziologischen und kulturellen Veränderungen unterzogen. Diese geschichtlichen Entwicklungen, die Ereignisse und die Industrialisierung können durchaus als eine Technisierung von Kultur selbst interpretiert werden, da der technische Fortschrittsglaube zur Zeitenwende um 1900 nicht mehr aufzuhalten war. Maschinen lösen den Menschen in der Produktion ab, die Kutsche oder das Pferd werden durch Automobile und Motorräder ersetzt. Modernisierungen veränderten die Lebens- und Alltagswelten der Menschen. Man kann soweit behaupten, dass durch jene Technisierung von Kultur die globale Vernetzung von kulturellem und sozialem Wissen erst dazu beitrug, dass Stereotype effizienter auf sozialer Ebene vermittelt wurden.19 Es stellt sich die Frage, ob nicht bereits hier das Fundament der Figur des Lone Wolf begraben liegt? Aber zurück zur historischen Verortung der Figur des Lone Wolf und der Geburt von Harley-Davidson im Jahre 1903. Der Beginn des 20. Jahrhunderts ist ein Abschnitt in der Geschichte, der durch Veränderungen und von Aufbruchsstimmung geprägt ist. »Auf der großen Weltausstellung präsentieren geniale Entdecker ihre neuesten Erfindungen, Nietzsche, Freud, Planck, Röntgen […] prägen mit umwälzenden Erkenntnissen die Wissenschaft.«20 Das Bild der USA als ein Land der unbegrenzten Freiheit und der zahllosen Möglichkeiten beginnt sich zu etablieren.21 Mitverantwortlich für die Gestaltung dieser Amerika-Bilder waren auch Schriftsteller, wie zum Beispiel Karl May. Prägend hierfür sind vor allem literarische Werke über den edlen Wilden und fiktiven Apachen-Häuptling Winnetou und dessen Blutsbruder Old Shatterhand, einem überaus gebildeten frontier. Insbesondere in den Bänden Winnetou I-III und Der Schatz im Silbersee, welche auch verfilmt wurden, verkörpern die Protagonisten amerikanische Figuren.22 Bilder von natürlicher Weite, Landschaften und Indianern kollidieren mit jenen von Siedlern und Siedlerinnen die hinausziehen in den Westen als Eroberer eines vermeintlich nicht zivilisierten Landes, als zerstörerische Invasoren die sich das Land und seine Ressourcen einverleiben wollen, wie beispielweise 19 Vgl. R. Wagnleitner: Coca-Colonization and the Cold War, S. 10. 20 Harley-Davidson Presse-Service: Die Geschichte der Harley-Davidson Motor Company. 1903-2013. 110 Years of Freedom. 3. Auflage, Köln: Knut-Briel-GmbH 2012, S. 12. 21 Vgl. R. Wagnleitner: Coca-Colonization and the Cold War, S. 10f. 22 Vgl. May, Karl: Winnetou I (=Karl May´s Hauptwerke in 33. Bänden. Amerika-Band Nr. 8). Zürich 1996.; May, Karl: Der Schatz im Silbersee (=Karl May´s Hauptwerke in 33. Bänden. Amerika-Band Nr. 2). Zürich 1996.

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im Roman Der Oelprinz .23 »Die Selbstdefinition des Landes erfolgte historisch betrachtet, wie (beim) frontier-Mythos […], zu einem großen Teil immer über die regenerative Kraft der weiten, teilweise sehr dünn besiedelten Gebiete unberührter Natur im Westen.«24 Denn dort, in den Weiten der Landschaft, konnte Mann noch ein ursprünglicher Mann sein und den wilden Westen (er-)leben. Gerade dem frontier-Mythos kommt in der Konstruktion von Amerika-Bildern eine besondere Rolle zu, da er in der Formierung der USA und dessen kollektivem Selbstbild, einen überaus wichtigen Beitrag stellte, denn er ist die »Grundlage für die Entstehung dieser Konzeptionen von Staatlichkeit und Geschlecht«25. Der frontier ist dabei jener Mann, der sich der Wildnis stellt und diese für die Zivilisation kultiviert und der Nation einverleibt. Dieser Typus kann als ein einsamer Reiter und damit auch als eine Vorform des Lone Wolfs interpretiert werden, der sich den industriellen und gesellschaftlichen Veränderungen entgegenstellt und an Altbewährtem und Traditionen festhält. Wie Weidinger erwähnt, kann jenes Modell von Männlichkeit nicht nur auf das eingangs zur Sprache gekommene Genre des Westerns beschränkt werden, sondern schlägt sich in vielfältiger Weise auch in ökonomischer Hinsicht nieder. 26 Dabei erscheint Männlichkeit als ein Konzept, welches man sich eben durch ökonomisches Kapital erwerben kann. Sie tritt im Zuge einer Verkörperlichung (als Person) in repräsentativer Form in Erscheinung. Groß gemachte Männer beispielsweise, wie Henry Ford oder David Buick, stehen mit ihren Namen in der Öffentlichkeit. Sie prägen und verändern sie mit ihren Ideen und Konsumangeboten – etwa durch Automobile und Motorräder. Sinn und Sinnzuschreibung von Sprache werden hierbei dem männlichen Geschlecht zugestanden. Männlichkeit, und das, was man darunter versteht, wird fortwährend konstruiert, denn »Stillstand bedeutet Männlichkeitsverlust.«27 Hierbei bedarf es aber – um repräsentativ wirken zu können – der Konstruktion des Anderen, des Nicht-Männlichen. Diese männlichen Individuen verkörpern in der US-amerikanischen Automobilgeschichte Heroen und Gladiatoren der Moderne, welche die Geschichte nachhaltig verändert und aus ihrer Sicht auch geschrieben haben. In der Firmengeschichte des Unternehmens Harley-Davidson wird in diesem Zeitkontext insbesondere das Jahr 1903 als ein

23 Vgl. May, Karl: Der Oelprinz. (=Karl May´s Hauptwerke in 33. Bänden. AmerikaBand Nr. 4). Zürich 1996. 24 M. Weidinger: Nationale Mythen – männliche Helden, S. 98. 25 Ebd., S. 58. 26 Vgl. M. Weidinger: Nationale Mythen – männliche Helden, S. 98 27 M. Weidinger: Nationale Mythen – männliche Helden, S. 97.

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»magisches Jahr«28 bezeichnet. Die Marke wirbt damit, dass Zuverlässigkeit in einem Land der »unendlich langen Distanzen auf einsamen und schlechten Straßen«29 eine wichtige Grundlage für die spätere »Erfolgsstory«30 sei und erinnert wieder an die Figur des frontiers und den US-amerikanischen Bildern von Weite und der Straße als einer Metapher für Mobilität, die Menschen von A nach B gelangen lässt und somit ihre Lebenswelten verknüpft. Die heroische Idealvorstellungen die sich seit den mythischen Pionierzeiten der USA etablierten, formten auch die Helden der Marke Harley-Davidson, die zunächst vor allem in den Bereichen Sport und Militär angesiedelt waren: Walter Davidson zum Beispiel gewann 1908 das Langstreckenrennen von New York. Im Jahr 1916 wird The Enthusiast auf den Markt gebracht, »die Zeitschrift für Harley-Davidson-Fahrer«31. Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs rückten die Kriegshelden in den Fokus der Aufmerksamkeit, während der sportliche Heros in den Hintergrund gedrängt wurde. So schreibt das Unternehmen in seiner eigens herausgegebenen Zusammenfassung über die Konzerngeschichte, dass einen »Tag nach Kriegsende […] Corporal Roy Holtz aus Chippewa Falls, Wisconsin, als erster US-Soldat nach Deutschland«32 auf einer Harley-Davidson einfährt. 1920 erreicht das Unternehmen als größter Motorradhersteller der Welt mit »2000 Vertragshändlern in 67 Ländern«33seine bis dahin maximale Reichweite. Sporthistorisch betrachtet war und ist Harley-Davidson bis heute im Motorsport verankert. Gerade wegen dieser Werbemythen liegt der Fokus der Firma auf dem Verkauf von Motorrädern, was sich vor allem im Wettstreit mit Konkurrenzfirmen, in erster Linie mit Indian Motorcycles, zeigt. Dadurch avanciert das Motorrad – durch und mit den Werksfahrern und Athleten – zu einem Symbol und stand unter anderem für Erfolg, einem männlichen Erfolg. Nicht nur Walter Davidson tritt bei kompetitiven Werbeveranstaltungen als Gladiator der Moderne auf, insbesondere innerhalb der American Motorcycle Association und anderen Motorsportgesellschaften präsentieren diese ihre Fahrkünste einem größeren Publikum,

28 Harley-Davidson Presse-Service: Die Geschichte der Harley-Davidson Motor Company, S. 13. 29 Ebd. 30 Ebd. 31 Ebd., S. 15. 32 Ebd., S. 6. 33 Ebd., S. 17.

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was in der Selbstdarstellung des Konzerns und der daraus resultierenden Konstruktion einer Heldenfigur nach wie vor seinen Platz findet.34 Die Verbundenheit der Marke mit Kriegshelden ist bis heute nicht abgeflaut. In den USA gibt es alljährlich Preisreduktionen und spezielle Angebote für Veteranen. Einige dieser Helden dürfen in diesem Rahmen über das persönlich Erlebte und Erinnerungen an Kriegsgeschehen öffentlich in Fernsehspots zu Wort kommen. Immer wieder fallen dabei die Wörter frei, unabhängig und Amerika. Harley-Davidson denkt an seine Helden ‒ ja mehr noch: Das Unternehmen fordert dazu auf, die Heroen der Nation zu unterstützen. Dies tut es insofern, als versucht wird, den Einzelnen als Motorradfahrer ein Stück ihrer Freiheit zurück zu geben – wie der Konzern selbst unter »Operation Personal Freedom: Our Support for their Service«35 verlautbart. Die Kriegshelden hätten ihre Freiheit für den Kampf gegen das Böse in der Welt geopfert, damit Frauen, Kinder, Alte und Schwache ein sicheres Leben in Freiheit genießen können. Diese Argumentation lässt sich bereits in den Frühzeiten des Unternehmens festmachen. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg hatte man für das US-amerikanische Militär Motorräder gebaut. Während des Weltkriegs dann produzierte das Unternehmen zwischen dem Kriegseintritt 1941 und dem Kriegsende 1945 »anstelle der Zivilmodelle rund 88.000 Militärmaschinen«36. Die im vorliegenden Beitrag, und im Kontext der Unternehmenspolitik, formulierten Heldenrollen waren und sind hauptsächlich männlich konnotiert und bis 1947 gab es praktisch nur Sport- und Kriegshelden. Danach sollte es zu einer Veränderung kommen. Es gibt viele Stereotype die im Zusammenhang mit Bikern stehen. Einer davon ist jener des gewaltbereiten und zügellosen Bikers, welcher unter anderem rund um den sogenannten Hollister Bash in das kulturelle Gewebe der Erinnerungen eingewoben wurde. Hollister ist ein kleines kalifornisches Dorf. Im Zuge einer Motorradveranstaltung am 4. Juli 1947 – dem US-amerikanischen Nationalfeiertag – trafen sich zahlreiche Fans der Motorradmarke.37 Unter die »gesittet auftretenden Biker«38 hatten sich »auch wieder einige Wilde Kerle ge34 Vgl. Harley-Davidson Presse-Service: Die Geschichte der Harley-Davidson Motor Company, S. 14-17. 35 Harley-Davidson: operation personal freedom. Our support for their service., http://www.harley-davidson.com/content/h-d/en_US/home/community/militaryriders.html vom 25.11.2017. 36 Harley-Davidson Presse-Service: Die Geschichte der Harley-Davidson Motor Company, S. 7. 37 Vgl. ebd., S. 22. 38 Harley-Davidson Presse-Service: Die Geschichte der Harley-Davidson Motor Company, S. 22.

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mischt.«39 Sie tranken exzessiv Alkohol, ließen nach damaligen gesellschaftlichen Maßstäben »derbe Sprüche ab«40 und fuhren wie Wilde durch den Ort. Dabei krachte einer der Fahrer in eine Bar, ein anderer urinierte gegen eine Mauer, während wiederum andere Mülltonnen umwarfen. Die Geschichte ist bereits am Abklingen, als zwei Journalisten ihre Story wittern und gestellte Fotos anfertigen. Eines dieser Fotos zeigt einen jungen betrunken Mann auf einer HarleyDavidson, umgeben von leeren Bierflaschen. Am 21. Juli des Jahres erscheint dieses Bild im Life Magazin. Der Outlaw, der Rebell unter den Riderfiguren, wird rund um diesen Hollister Bash geboren. Von nun an unterstellt man den Harley-Fahrern, zumindest in der amerikanischen Öffentlichkeit, Zügellosigkeit und einen Hang zu Gewalt, u.a. durch besagten Hollister Bash. Das Motorrad und die Fahrenden avancieren zu einem Symbol und repräsentieren das Ausleben einer Ungezügeltheit und der Freiheit. Das Unternehmen versuchte, sich von diesen negativen Schlagzeilen zu distanzieren. Die Heldenfigur des Konzerns wurde in den Prospekten dieser Zeit als sauberer und adrett gekleideter Mann in Uniform dargestellt. Harley-Davidson meldete sich darauf zu Wort, dass nur ein Prozent seiner Kundschaft diesem Klischee des Rebellen entspräche. Diejenigen, die wild und ungestüm, aufbegehrend, gewaltbereit und rebellisch waren, zeigten dies nicht nur durch die Wahl des Motorrades, sondern auch durch Verhalten und Kleidung, wie Herzig – Mitarbeiter bei der Pressestelle des Konzerns in Deutschland und Österreich – im Gespräch in Faak am See untermauerte.41 Bild und Image von Motorradfahrern ändern sich in den folgenden Jahrzehnten sehr schnell. Frauen fahren zwar auch Motorräder, jedoch ist ein Großteil von ihnen, bedenkt man ihre gesellschaftliche Situierung und Rollenzuschreibung in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren, hauptsächlich in der Rolle der Mitfahrerin zu finden. »Frau und Mann können aus ihren jeweiligen Sphären nicht dauerhaft ausbrechen, ohne die ihnen zugeschriebene geschlechtliche Identität zu verlieren.«42 Das männliche Rider-Image wird hauptsächlich mit den 1950er Jahren durch Outlaw-Motorradgangs und Gruppierungen wie den Hell´s Angels mitgestaltet, vor allem aber durch das Medium Film, das abtrünnige Biker darstellt und durch Filmhelden wie Marlon Brando und James Dean verkörpert wird. Diese rebellischen Fahrer tragen Lederjacken, Stiefel, Bandanas, stel-

39 Harley-Davidson Presse-Service: Die Geschichte der Harley-Davidson Motor Company, S. 22. 40 Ebd. 41 Vgl. Harley-Davidson Presse-Service: Die Geschichte der Harley-Davidson Motor Company, S. 22f; sowie vgl. R. Herzig: Interview 2016. 42 M. Weidinger: Nationale Mythen – männliche Helden, S. 104.

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len gekreuzte Knochen und Totenschädel zur Schau.43 Zudem sind sie tätowiert, trinken viel Alkohol und duellieren sich mit rivalisierenden Gangs, der Polizei und Jedem, der sich ihnen in den Weg stellen sollte. Damit gleicht dieser Held eher einem Westernhelden, der sich jeder Widrigkeit entgegenzustellen weiß, und dafür kämpft. Der motorradfahrende Held hatte sich von einem Sport- zu einem Kriegshelden und nun, in der Nachkriegsgesellschaft, auch zu einem Antihelden entwickelt, der entgegen gesellschaftlicher Wert- und Normvorstellungen für ein bestimmtes Bild von Freiheit steht. In den späten 1960er und frühen 1970er Jahren etabliert sich eine neue Figur des Riders, nämlich jene des Hippiebikers.44

V ON E ASY R IDERN ZU W OCHENEND -R OCKERN . F AAK AM S EE UND DIE K ONZEPTION DES R IDERS In einem der bekanntesten Filme über Motorradfahren: Easy Rider (1969), mit den Hauptdarstellern Dennis Hopper und Peter Fonda, wird das Wegfahren zu einem Ausbrechen und einem Ritual der Selbstfindung wie auch des Überschreitens gesellschaftlich etablierter Wert- und Normvorstellungen. Der Plot, dass die beiden Protagonisten Drogen über die mexikanische Grenze geschmuggelt und an einen Verbindungsmann verkauft haben, wird von einer gewissen Romantik des Fahrens überlagert:45 einer Sehnsucht nach Weite und Freiheit, einer Freiheit von gesellschaftlichen Grenzen und wahrgenommen Eingrenzungen im ManSelbst-Sein-Können. Dies erscheint im historischen Kontext der späten 1960erJahre und der Hippie-Bewegung nachvollziehbar, da sich die heranwachsende Generation neue Vorbilder und Heldenfiguren suchte, die sich von der Elternund Kriegsgeneration unterscheiden müssen. Man will Abstand gewinnen von der Vergangenheit. Diese Figur des Helden kann überall hin, sie ist selbstbe-

43 Der Totenschädel kommt bis heute in der Motorradszene vor. Er repräsentiert und symbolisiert den Tod, um den jeder und jede weiß, den man aber durchaus als positiv betrachtet. Ein Gefährte, der stets neben einem den Sonnenuntergang entgegenfährt und einem den Weg erleuchten soll, auf dass man sich der Gefahr bewusst sei und nicht der Sehnsucht erliege (Vgl. R. Herzig: Interview 2016.). 44 Vgl. Thompson, William E.: pseudo-deviance and the »new biker« subculture: hogs, blogs, leathers, and lattes, Commerce: Routledge – Taylor & Francis Group 2009, S. 92. 45 Vgl. Easy Rider (Regie: Dennis Hopper, USA 1969).

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stimmt und unabhängig. Klaus Rieser betont dies, wenn er behauptet, dass sie »zwischen selbstbestimmtem Für-Sich-Sein und Einsamkeit angesiedelt«46 ist. Die Handlung des Motorradfahrens verändert sich. Das Zurücklegen der Kilometer ist nicht mehr das eigentliche Ziel. Es wird in seiner gesellschaftlichen Zuschreibung aufgewertet. Das Fahren wird mit der Erfahrung von amerikanischer Weite aufgeladen. Die Motorräder und ihre Fahrer repräsentieren im Zusammenspiel all dieser Aspekte Freiheit, oder besser gesagt, ein Gefühl und ein Bild von ihr. Das zeigt sich insbesondere anhand des folgenden Ausschnitts aus Easy Rider: »BILLY: […] They’re scared, man. GEORGE HANSON: (Jack Nicholson, Anm. d. Verf.): They’re not scared of you. They’re scared of what you represent to ’em. BILLY: Hey, man. All we represent to them […] is somebody who needs a haircut. GEORGE HANSON: Oh, no. What you represent to them is freedom. BILLY: What the hell is wrong with freedom? That’s what it’s all about. GEORGE HANSON: Oh, yeah, that’s right. That’s what’s it’s all about, all right. But talkin’ about it and bein’ it, that’s two different things. I mean, it’s real hard to be free when you are bought and sold in the marketplace. Of course, don’t ever tell anybody that they’re not free, ’cause then they’re gonna get real busy killin’ and maimin’ to prove to you that they are. Oh, yeah, they’re gonna talk to you, and talk to you, and talk to you about individual freedom. But they see a free individual, it’s gonna scare ’em. BILLY: Well, it don’t make ’em runnin’ scared. GEORGE HANSON: No, it makes ’em dangerous. […]« 47

Das Anderssein, die Abweichung von der Norm, die Art und Weise wie Kleidung getragen wird, die körperliche Darstellung gegenüber einem Publikum, alle Attribute der vormals etablierten Figur des Outlaws werden wie bei einem Puzzle neu zusammengesetzt und mit einem neuen Sinn aufgeladen. Der Held repräsentiert dabei den gesellschaftlichen Wandel der späten 1960er-Jahre. Das Heldenhafte ist so zu verstehen, dass er seinen Weg und seine Ziele – oder das Ende einer Straße – sucht und verfolgt. Die Angst der Mitte der Gesellschaft vor dem, was er repräsentiert, kann als eine Angst vor Veränderung in Bezug auf gesellschaftliche und soziale Entwicklungen interpretiert werden. Die in Easy Rider in Szene gesetzten Landschaften wie auch die Wege der Hauptdarsteller spielen mit einem Amerika – darunter verstehe ich den nordamerikanischen Kontinent selbst wie auch die Vereinigten Staaten – als Metapher. 46 K. Rieser: Die Einsamkeit des Westernhelden, S. 246. 47 Vgl. Easy Rider (Regie: Dennis Hopper, USA 1969).

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Diese Darstellungen wirken dabei ahistorisch, also aus ihrer Zeitlichkeit herausgelöst. Sie sind im Sinne eines Mythos gesellschaftlich und individuell adaptierbar, weil sie allgemeinverständlich sind und nicht von einer perfekten Welt erzählen.48 Sie bieten die Möglichkeit zur Identifikation und wirken transnational. Der Held etabliert sich als ein »heroisches Idealbild«49. Aber auch die Landschaft selbst wird zum Statisten. Der Raum um die Gemeinschaft entwickelt sich zu einem Handlungsmotiv und eben zum allgegenwärtigen Statisten selbst, welcher durch die Bilder von Weite und Landschaft die Haupt-Protagonisten fortwährend begleitet. Die Frage stellt sich, ob die Hauptdarsteller nicht eher Nebenrollen einnehmen, während die Umgebung das eigentliche Bild oder die emotionale Bindung zum Motorradfahren konstruiert. Besteht also die Sinnlichkeit des Motorradfahrens in dem Zusammenspiel zwischen einem geografischen und einem emotional aufgeladenen Raum?

F AAK AM S EE MACHT T HEATER . W ELCOME TO H ARLEYWOOD Zurück zu meinem Feld: Faak am See im September 2016. Sinnlichkeit, Gefühle, Bilder und der Geruch von Benzin umwehen meine Nase. Ich folge der Straße und den anderen Motorradfahrer_innen. Die Schilder leiten mich direkt zum temporär umgetauften Faak – zur European Bikeweek nach Harleywood. Alljährlich pilgern hunderttausende begeisterte Fans der Marke HarleyDavidson in das kleine kärntnerische Örtchen direkt bei Villach. Die European Bikeweek ist eine der größten Motorradveranstaltungen in ganz Europa.50 Aus allen Ecken der Welt strömen die Menschen an den See, um sich zu treffen, zu feiern und auszutauschen, und ich bin dieses Mal einer von ihnen. Der Forscher, der auf seinem Motorrad der Straße und den anderen folgt. Ich bin auf der Suche nach dem einsamen Rider, dem Lone Wolf. Im ersten Moment fühle ich mich verloren und ein bisschen hilflos. Wo soll ich hin und wie kann ich diesen Rider finden? Die Straßensperren, die kontrollierende Polizei, die Sicherheits- und Einsatzkräfte dirigieren meinen Weg. Es ist nicht das Gefühl von Freiheit, das mich umweht, nein, eher eines der Kontrolle, der Direktion. Die Motorradfahrer, die Motorradfahrerinnen und ich werden ent-

48 J. Magdanz: Spuren des Geistigen, S. 50. 49 K. Rieser: Die Einsamkeit des Westernhelden, S. 240. 50 Vgl. Harley-Davidson: Europeen Bike Week, http://events.harley-davidson.com/europ ean-bike-week vom 27.11.2017.

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lang der Hauptstraße geleitet, man führt uns, kontrolliert uns, bestimmt, wie und wie schnell wir wohin fahren können. Am Straßenrand sitzen, starren und bestaunen tausende Menschen das Spektakel. Man will sehen und gesehen werden, ich vermute es. Kameras und Smartphones starren mir entgegen, Blitze zucken, Fotos werden geschossen: Trophäen. Dicht an dicht fahren wir nebeneinander her. Wir sind Rider, ob männlich oder weiblich scheint egal zu sein. Die Situation irritiert mich, sie reißt mich mit, mein Herz pocht. Wir beschleunigen, bremsen, geben wieder Gas, das Publikum winkt uns zu. Kurzzeitig steigt das Gefühl auf, ein ›Gladiator‹ wie im gleichnamigen Film zu sein51, der Eintritt in die Arena Harleywood. Die Fantasie spielt Theater. Faak ist wie eine Bühne, das Kolosseum am See. Die Heldinnen und Helden rollen donnernd in der Gemeinde ein. Der See erwartete alle, mich eingeschlossen. Ich werde zu einem Aspekt der Bühne, zu einem Teil der Requisiten und gehöre sowohl zur Gruppe der Hauptdarsteller als auch der der Statist_innen. Ohne es zu realisieren, hat mich die Atmosphäre in Besitz genommen und ich reite mit, lasse mich davon tragen. Nur die Sporen und meine Handschuhe bleiben dort, wo sie hingehören, auf dem Sattel meines ›Reittiers‹, meiner Harley-Davidson. Die Sonne brennt vom Himmel. Es sind knappe 30° Celsius, und das im September. Ich schwitze, der Schweiß fließt unter der Lederjacke, ich habe Hitzewallungen. Ich bin frei, empfinde dieses Gefühl, repräsentiere es und frage mich: »Have you ever seen the rain?«52 Der Lone Wolf ist nicht zu sehen. Es herrscht ein Durcheinander. Die Leute durchmischen sich. Der Raum ist hoch emotionalisiert. Wie soll ich einen einsamen Wolf finden, in dieser Menge? Es kommt mir so vor, als wäre diese Reise nichts anderes als (m)ein Versuch einen Schatten zu jagen, ein Phantom. Schließlich frage ich mich, ob ich selbst zum Schatten werden muss, um ihn zu finden. Statistinnen und Statisten umranden das Geschehen, Faak am See gleich einer riesigen Bühne. Nur die Stände, die Austeller, scheinen fix an Ort und Stelle verhaftet zu sein, zumindest für eine Woche, solange die Bikeweek stattfindet. Es gibt B.B.Q, Spareribs, Burger, Pommes und Live-Musik, dazu Bier und ein gelebtes Amerikanisch-Sein, zumindest wird der american way of life so inszeniert und idealisiert, als würde dieser vorwiegend aus jenen Attributen bestehen. Es herrscht eine Atmosphäre der Imagepflege. 53 Eine Stimmung von gemütlich bis aufgewühlt, ruhig und entspannt bis hin zu einem wahrhaftigen Party-HardFeeling. 51 Vgl. Gladiator (Regie: Ridley Scott, USA 2000). 52 Creedence Clearwater Revival (1993): Have you ever seen the Rain? Platinum: The Ultimate Collection. Nr. 1. CD. EMI Music South Africa. 53 Vgl. Goffman, Erving: Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. 10. Auflage, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2013, S. 10-13.

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Hier wird ein besonderes Image von Freiheit gepflegt, von freien Individuen, von einem europäisch interpretierten freien Amerikanisch-Sein: eine durch Sicherheitskräfte kontrollierte Freiheit für einen bestimmten Zeitraum und einen bestimmten Ort. Es ist ein ambivalentes Bild; zelebrierte Freiheit auf der einen, und maßgebende Kontrolle auf der anderen Seite. US-Amerikanische Flaggen, Flaggen der Konföderation,54 treffen auf Werbeplakate und Werbefahnen namhafter Autohersteller, während die Menge durch die Gassen zieht und in Hollywood-Manier und wie im Film American Pie (1999) lachen, tanzen, feiern.55 Produkte wie Bikerboots mit Sporen, Alkohol wie Whiskey, Lederjacken, als indianisch stigmatisierte Traumfänger usw. werden als typisch amerikanisch – also US-amerikanisch – präsentiert und verkauft. Die Erscheinung der Darsteller_innen, also die Besucher_innen und Fahrer_innen, deren Lederjacken, die Kleidung allgemein, wie auch ihre Frisuren, die Art und Weise, wie gegangen wird: das Image umfasst die ganze sichtbare und wahrgenommene Erscheinung der Personen und erinnert an Filme wie Easy Rider. Es wird ein Gefühl der Bedeutung von Freiheit hergestellt, indem eine Beziehung zwischen Menschen, Objekten und der Bikeweek als Veranstaltung geschaffen wird.56 Image repräsentiert sich durch die Bilder, die Darstellungen, die Menschen. Erving Goffman deutet Image als einen positiv anerkannten Wertekomplex, der ein bestimmtes individuelles Selbstbild im Kontext sozialer Beziehungen darstellt. 57 »Von einer Person kann man sagen, daß sie ein Image hat, besitzt oder es wahrt, wenn ihre Verhaltensstrategie ein konsistentes Image vermittelt, das durch Urteile und Aussagen anderer Teilnehmer, durch die Umgebung dieser Situation bestätigt wird.«58 Man kann es auch so interpretieren, als dass alle Anwesenden sich gegenseitig beobachten, beurteilen und das Erscheinungsbild folglich als passend oder nicht passend eingestuft wird. Das Gegenüber bestätigt die Rolle einer Bikerin oder eines Bikers fortwährend und vor allem dadurch, dass sie stimmig und angepasst (durch Kleidung, Sprache, Auftritt usw.) präsentiert wird, was aber konträr zum Bild von Freiheit steht.59 Denn das Handeln, die Kommunikation, 54 Die Konföderation war ein Zusammenschluss von Staaten auf dem nordamerikanischen Kontinent zur Zeit des Bürgerkriegs beziehungsweise des Sezessionskriegs (1862-1865). Die konföderierten Staaten sind auch als die sogenannten Südstaaten bekannt und existierten nur während dieser Zeit. Nach Beendigung des Kriegs wurden sie wieder in die Union der Vereinigten Staaten integriert. 55 Vgl. American Pie (Regie: Paul Weitz Chris Weitz, USA 1999). 56 Vgl. S. Hall: The Work of Representation, S. 4. 57 Vgl. E. Goffman: Interaktionsrituale, S. 10. 58 E. Goffman: Interaktionsrituale, S. 11. 59 Vgl. E. Goffman: Interaktionsrituale, S. 13.

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die Interaktion insgesamt, wirken nach außen hin vertraut und unbefangen. 60 Offensichtlich scheint das jeweilige Image gewahrt zu sein, denn die Aufrechterhaltung diese Selbstbildes ist »eine Bedingung für Interaktion, nicht ihr Ziel.«61 US-Amerikanische Flaggen wehen im Wind und falls keine Band performt, so dröhnt vor allem Musik aus den 1960er und 1970er-Jahren aus den vielen Boxen, die hier und da wie ein Netz verteilt sind. Das Schauspiel erinnert an eine Mischung aus Winnetou und Easy Rider. Die Biker, die ich sehe, halten an deren Image-Pflege fest; alles easy going, sie tragen lässig sitzende Jeans oder enganliegende Lederhosen, sehr oft auch eine Kutte, die deren Zugehörigkeit zu einem Klub anzeigt und woher der Fahrende kommt. Sie ist Insignie einer bestimmten und individuell anpassbaren Biker-Identität. Bikerinnen kleiden sich ähnlich oder tun es den männlichen Akteuren gleich, wenn sie ihre abgestellen Motorräder – und ihre Kleidung – jenen aus Easy Rider nachempfinden. Das ganze Erscheinungsbild passt zusammen: Rider und Bike bilden eine Einheit und stellen etwas dar: eine performierte Auffassung von Freiheit, bestimmte Bilder von Amerika, einer amerikanischen Weite und Imaginationen eines AmerikanischSein-Könnens. Der Wind weht durch die Gassen, spielt mit am Boden liegenden Kaugummipapieren und ich denke mir: Das erinnert mich irgendwie an Westernfilme. Nämlich die, die ich als Kind sah, insbesondere an die Filme von Winnetou (gespielt von Pierre Brice) und seinem Blutsbruder Old Shatterhand (gespielt von Lex Barker) und jene Italo-Western oder Eurowestern mit Bud Spencer und Terence Hill.62 Es sind Kindheitserinnerungen eines Jungen, glückliche Momente. Ich habe Bilder in meinem Kopf, wo Steppenläufer, rollende Büsche, durchs Bild huschen. Es ist ein kurzer Augenblick, aber in diesen Sekunden fühle ich mich nicht, als wäre ich in Faak am See. Emotionen, Bilder, Erinnerungen und die Szenen, die ich beobachten kann, wirken wie eine riesige Inszenierung, ein Film. Was ich sehen kann, interpretiere ich so, dass jede_r handelt und interagiert, als wüsste jede_r um die eigenen Rollen und Beziehungen zu- und miteinander. Faak am See bildet im Rahmen der Bikeweek, wie Goffman es nennen würde, einen Ort der Action.63 Die Attribute der Repräsentation, also Lederjacken, Motorräder der Marke Harley-Davidson, das gesprochene Wort, das Image usw. werden mit Filmen wie Easy Rider u.ä. und Erinnerungen an diese, adaptiert. 60 Vgl. ebd. 61 E. Goffman: Interaktionsrituale, S. 17. 62 Vgl. u.a.: Winnetou I (Regie: Harald Reinl, BRD 1963); Vier Fäuste für ein Halleluja (i.O. Continuavano a chiamarlo Trinità, Regie: Enzo Barboni, Italien 1971). 63 Vgl. E. Goffman: Interaktionsrituale, S. 203.

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Das Zusammenspiel von Attributen, Imaginationen, Rollen(-Beziehungen) und Atmosphäre schafft durch die Anwesenheit aller Personen einen Raum, in dem die Figur des Lone Wolf oder andere Figuren des Heldischen durch die Zuseher_innen erst ihre Wirkmächtigkeit und die Echtheit und Legitimierung ihrer Existenz zugewiesen bekommen. Sie werden dabei idealisiert und vereinfacht. Der Mythos der Freiheit ergreift die Protagonist_innen – das Publikum, die Biker und Bikerinnen – und wird über das Image, als Teil der Repräsentation, atmosphärisch wirksam, also real und lebendig. Es gibt Patches mit den Schriftzeichen Lone Wolf und es gibt Geschichten über jene Fahrer, die diese Aufkleber tragen. Geschichten über ihn und die Glorifizierung von Freiheit erschaffen ein mythisches Manifest das sich anhand dieser Figur verkörperlicht. Ein_e jede_r entwickelt hier aus verschiedenen werblichen Versatzstücken, die des EasyRider-Images, den Geschichten über den freien Lone Wolf und der HarleyDavidson-Vermarktung entnommener Rider-Bilder, eigene Rollen-Interpretationen und integriert sie in die eigenen Lebensprojekte. Das Biker-Event in Faak am See kann in diesem Sinne als ein Ort der Vergemeinschaftung Ähnlicher betrachtet werden, die sich durch die Äußerlichkeiten körperlich manifestieren und damit sichtbar werden.64 Wofür ein Motorrad steht oder stehen kann, entspricht eher einer bestimmten Fassade. Fahrer und Fahrerinnen, die solche ›geschweißten Träume‹ erwerben, stammen seit den 1980er-Jahren vorwiegend aus der weißen und oberen Mittelschicht.65 Die Zahl der Motorräder in den USA stieg auf über 5,4 Millionen registrierte Fahrzeuge im Jahr 1985 an, »fueled largely by middle-class Baby Boomers«.66 Durch Veränderungen in der Entwicklung und Produktion, wie auch durch massive Werbekampagnen, erwarb sich das Unternehmen, das mehr als einmal nahe am finanziellen Bankrott war, eine solche Popularität, dass die Händler Probleme hatten, die Liefertermine für ihre Kund_innen einzuhalten.67 Harley-Davidson als ein Symbol für Freiheit, einer stilisierten USamerikanischen Freiheit und eines ökonomischen Potentials: Ist sie auch das Mittel um frei zu sein für den Lone Wolf, für andere und vielleicht sogar für mich? Tagelang habe ich ihn nicht gesehen. Ich habe mit Verkäuferinnen und Verkäufern, Besucherinnen und Besuchern gesprochen, aber er hat sich nirgends gezeigt. Ein Schatten, der nicht gefunden werden möchte? Am vierten Tag schleiche ich nur noch herum auf dem Gelände, bin müde, verschwitzt, ausgelaugt und 64 Vgl. Feldtagebuch, Faak am See 2016. 65 Vgl. W. E. Thompson: pseudo-deviance and the »new biker« subculture, S. 90. 66 W. E. Thompson: pseudo-deviance and the »new biker« subculture, S. 90. 67 Vgl. ebd.

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möchte, wenn ich ehrlich bin, weg und mich auf das Motorrad schwingen. Plötzlich bin ich aufgeregt, euphorisch. Auf einmal sehe ich ihn. Den gleichen Mann, den gleichen Rider, meinen einsamen Wolf: Wie er da steht und alles im Überblick hat an seiner Ecke und schweigend an seinem Eis leckt. Meine Füße beschleunigen, die Schritte werden schneller, ich wacher und aufgeregter. Der Puls galoppiert. Ein Windstoß, Staub wird aufgewirbelt. Er ist weg, verschwunden, so plötzlich und unvorhergesehen wie er gekommen war. Verschwunden zwischen den Menschen. Wieder ein Schatten. Später erfahre ich im Gespräch mit einer Verkäuferin, dass es viele gibt, die sich eine Kutte mit den Schriftzügen Lone Wolf überstreifen. Hinter den Wölfen versteckten sich dabei so gut wie immer Männer, die ihren fünfzigsten Geburtstag überschritten haben. Ich stelle mir die Frage, vor was sie wohl davon laufen? Laufen sie überhaupt vor etwas weg? Interpretiere ich nur, oder was lässt mich daran denken? Vielleicht sollte man sich die Frage stellen, was diese Figur für denjenigen repräsentiert, der die Schriftzeichen auf seiner Kutte trägt? Ich möchte ihm diese Frage stellen, aber er ist schließlich nicht da. Es kann aber auch sein, dass es ihm genauso geht wie mir in diesem Augenblick. Ich fühle mich entwurzelt. Überall Gerüche in der Luft, Benzingestank vermischt sich mit dem Geruch von Bier, Alkohol, fettigem Essen und Leder. Soll ich nach vorne, rechts abbiegen, zurück auf die Hauptstraße, dort, wo die Motorräder vorbei brodeln? Die Fingerspitzen kribbeln, mein Bauch zieht sich zusammen und in meinen Gedanken formen sich Bilder, über Amerika, dessen Weite(n), mitten in Europa, in Österreich, in Kärnten. Wehmut und Trauer ergreifen mich, meine Emotionen, sie lassen mich zittern und unruhig werden. Meine rechte Hand zuckt. Sie ist die, die Gas und Benzinfluss steuert. Die Straße scheint mich zu rufen, ich bin infiziert. Der Gedankenfetzen an ein Gespräch der vorangegangenen Tage durchbricht meine Stimmung, die Atmosphäre. Am Weg seien wir alle gleich, nur in der Art und Weise, wie wir uns bewegen, liege ein Unterschied. Sterben würden wir sowieso. Es komme nur darauf an, den Gefahren und Widrigkeiten des Lebens entgegenzutreten, denn dort, am Puls des Lebens, würde man erst richtig zu leben beginnen .68 Worte die in mir eine Sinnfrage auslösen und nach Sehnsucht, nach Weite, Freiheit und pulsierendem Leben.

68 Vgl. R. Herzig: Interview, 2016.

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S OZIALER S INN ZWISCHEN L EDER UND C HROM . E IN R ESÜMEE Es ist ein Tag im September: Faak am See, Kärnten. Die Bikeweek neigt sich ihrem Ende zu. Blubbernde Motoren, donnernde Endrohre, Leder, Stahl und Chrom zeigen sich Seite an Seite mit Gelächter, feucht-fröhlich bis brüllend laut – ein jodelndes Gelalle. Die Stimmung wirkt ausgelassen, heiter, fast schon euphorisch. Die vom Himmel herabbrennende Sonne heizt die Menge an. Der Alkohol tut sein Übriges. Und überall riecht es nach Abgasen, Benzin und Öl. Es ist eine eigene Mischung, die meine Nasenflügel erreicht. Sie dehnen sich, ich sauge die Luft ein, meine Nase zuckt, ein Reiz, ich niese. Die Statist_innen – Biker_innen, Besucher_innen, Anwesende, Neugierige – durchstreifen das Gelände. Zwischen Englisch und Deutsch hört man italienische, arabische, vietnamesische und andere Wortfetzen. Die Musik beschallt sie, mich, uns, ihn. Der einsame Wolf war mir begegnet auf der Straße, vor dem Horizont und ich war ihm gefolgt. Gemeinsam, einsam, jeder für sich, nebeneinander, mit dem Fahrtwind in den Ohren. Am Ende stehe ich da und frage mich, wer er war, woher er kam und welchen Wegen er noch folgen wird. Er stilisiert sich zum Lone Wolf, aber was soll diese Figur darstellen? Ich sattle meine Taschen, stramm zurre ich alles fest. Meine Kleidung und meine Forschungsunterlagen sind verstaut. Die Bikerjeans sind staubig, auch Ölflecken haben sich darauf verewigt. Ich bin ein Forscher und ein Rider. Eigentlich realisiere ich in diesem Moment, wie sehr ich zwischen diesen Welten stehe. Etwa genauso wie es diese Figur des Lone Wolf tut? Sie repräsentiert nicht einfach irgendwas, aber nach dieser Woche kann ich behaupten, dass es um Wünsche und Sehnsüchte geht. 69 Inwieweit man sich als Individuum durch gesellschaftliche Werte- und Normvorstellungen eingeengt fühlt, muss jede_r für sich selbst entscheiden, aber genau diese Vorstellungen kanalisieren sich in Faak am See und in der Figur des Lone Wolf zu einer heroischen, einer mystifizierten, glorifizierten und zweckdienlichen Verschmelzung verschiedenster Attribute. Das Ziel ist der Erwerb eines Motorrades, eines stählernen Pferdes, einem Symbol unbändiger, individueller Freiheit. Ein bestimmtes Freiheitsverständnis wird durch die Imagination bestimmter Bilder aus und über Amerika stimuliert. Medien etablieren gesellschaftliche Bilder und Emotionen über Repräsentationen, die in Verkörperungen wie der Riderfigur Gestalt annehmen, individuell adaptiert werden und dann, im Rahmen von sozialen Ereignissen mit

69 Vgl. ebd.; Feldtagebuch 2016.

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anderen Individuen zum Leben erweckt und realisiert werden.70 Obgleich die Figur des Lone Wolf in ihrer Singularität die Bühne betritt, ist sie immer Teil einer Gemeinschaft, einer ›Familie‹ – You never ride alone. Diese Figur braucht die Anderen und umgekehrt. Ohne ein Publikum würde sie nicht funktionieren. Erst durch die Bestätigung, die Sichtbarkeit und durch verschiedene Blickwinkel und Augenpaare, gewinnt der Lone Wolf an Pathos, an Materialität und Wirkungsmacht. Sie – die Figur – wird sozusagen real und erscheint dadurch authentisch, als gäbe es sie natürlich schon immer. Durch Sprache und Bilder, wie die erwähnten Vorstellungen von Freiheit und Amerika, wird Bedeutung hergestellt. Dies gelingt insbesondere dann gut, wenn sie medial durch populäre Filme wie Road Movies, u.a. Easy Rider, transportiert werden. Motorradfahren wird zu einem Symbol, dessen Zeichenhaftigkeit über Interaktionen teilbar wird. Wir (be)nutzen im Alltag Zeichen, die durch Sprache differenziert und organisiert sind, um zu kommunizieren und mit anderen Bedeutungen auszutauschen. 71 Bedeutung wird durch das System Sprache produziert und in, mit und durch das Repräsentationssystem, also wiederum Sprache, geteilt. »Meaning is produced by the practice, the work, of representation. It is constructed through signifying […] practices.«72 Faak am See steht als ein Beispiel dafür, wie eine Repräsentation von Männlichkeit, in diesem Fall die Heldenfigur des Lone Wolf, funktioniert. Die Identifikation mit dieser Figur ist Teil einer Konstruktion des Selbst und seiner Umwelt, die durch das Teilen von Bedeutung hergestellt wird. Dies setzt das Verstehen der konstruierten Bedeutung voraus. Hier sind es kultur-, schicht- und geschlechtsspezifische Codes, deren Teilen die Möglichkeit eröffnet, die erlebte Wirklichkeit als normal und natürlich aufzufassen.73 Die Marke HarleyDavidson stellt Bedeutungen für Rezipient_innen zur Verfügung, indem sie alte Stigmata und Symbole zeitlich re-definiert. Sie machen das Motorrad zu einem Symbol, das als Objekt nicht alleine steht, sondern durch Kommunikation – Dialoge, Medien usw. – in das kulturelle und soziale Gewebe einer Kultur, in das die Individuen verstrickt sind, eingeflochten wird. Die Identifikation mit der Figur des Lone Wolf bietet die Möglichkeit, eine bestimmte Rolle einzunehmen, um Alltäglichkeiten der subjektiven Alltagswirklichkeiten temporär zu entfliehen. Und auch wenn er sich als lone klassifiziert, indem er den Patch auf der Kutte anbringt, so ist er sicherlich nicht alleine. Denn ohne ein Publikum könnte

70 Vgl. E. Goffman: Interaktionsrituale, S. 14-15. 71 Vgl. S. Hall: The Work of Representation, S. 5-7. 72 S. Hall: The Work of Representation, S. 14. 73 Vgl. ebd., S. 4-5.

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er sich nicht differenzieren und positionieren. Beide Seiten wirken hier komplementär zueinander. Mein Ausritt, meine Suche nach mir, dem einsamen Wolf, (m)einer Vorstellung, neigt sich dem Ende zu. Die Sonne steht tief, glüht in Orange, Rot, Purpur. Der Asphalt und der Horizont scheinen ineinander zu verschmelzen. Flimmern in der Ferne. Der Wind streift über meine Haut, mein Gesicht. Das Leben, ein Fluss ohne Wiederkehr. Das Gelächter verstummt, schweigendes Lachen, die Fahrer_innen beginnen aufzubrechen, donnernd, der Ferne entgegen. Ich schweige, der Asphalt vibriert, brodelt. Ein Zug aus Reiter_innen hat die Zügel in die Hände genommen. Gemeinsam, einsam, jede_r für sich ruft sie uns, mich und ihn, den Lone Wolf – die amerikanische Weite. Einer Vorstellung von Landschaften, idealisierter Bilder von endlosen Straßen und Wegen, die von hier nach dort nach irgendwohin führen. Ich sitze wieder auf meinem Motorrad, verlasse Faak am See, folge den Windungen der Straße, (m)einem Ruf nach Freiheit. Der Lone Wolf hat mich gezeichnet, irritiert, beeindruckt, verängstigt und abgeschreckt. Der gemeinsame Weg endet hier, ein neuer beginnt und führt mich weg. Mein Ziel flimmert in der Ferne, hinter dem Horizont, im Jetzt, im Morgen. Ich lasse die Kupplung los, das Motorrad beschleunigt. Der Moment gehört mir, (m)einer Sehnsucht, (m)einer Vorstellung, (m)einem Helden, dem Helden in mir.

Life begins at the end of your comfort zone Alltagsoptimierung als heldenhafte Grenzüberschreitung B ARBARA F RISCHLING

Dieser Beitrag geht von zwei Narrativen aus, die im Forschungsfeld digitale Selbstvermessung dominant vertreten sind: Das Narrativ der Grenzüberschreitung (»Challenge Your Limits«) und jenes der Optimierung zur besten Version von sich selbst. Die Perspektive wird genutzt um die Rolle von »heldenhaften« Vorbildern in diesem Feld zu beleuchten. Dazu werde ich zunächst auf die Bedeutung der Selbstoptimierung und dem Konkurrieren mit eigenen Leistungen eingehen (diese ist zentraler als der Vergleich mit anderen). Nach einer Diskussion von visuellen Online-Inhalten im Zusammenhang mit dem Fitness-Diskurs werde ich anhand von Werbe-Videos einer High Intensity Trainings-App1 entfalten, inwiefern die Kategorie Gender-Rollen und Heldenbilder bei der Vermarktung dieser App eine Rolle spielen. Daran anknüpfend wird das Moment der Grenzüberschreitung diskutiert und seine Ambivalenzen dargestellt.

1

Beim gewählten Beispiel handelt es sich um die Marke Freeletics und ihre Apps. Um nicht den Eindruck der Produktplatzierung zu vermitteln, wurde der Markenname im Fließtext teilweise ausgespart. Um die Beispiele und die Vorgehensweise dennoch transparent zu machen hat sich die Autorin gegen eine allgemeine Verfremdung der Unternehmensbezeichnung entschieden.

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W ORK IN P ROGRESS ODER : AUF DER S UCHE NACH DER BESTEN V ERSION VON D IR Die Idee der Selbstoptimierung ist dem Feld digitaler Selbstvermessung grundsätzlich inhärent. Fit-Sein habe sich zu einem »eigenständigen Wert« entwickelt, der sich nicht zwingend im Alltag bewähren müsse, so Stefanie Duttweiler. Sie spricht von einem »Gebrauchswert in Wartestellung, der Leistungsfähigkeit und -bereitschaft, Willensstärke und Disziplin, Flexibilität und Agilität, Selbstoptimierung und Selbstverantwortung am Körper anzeigt.«2 Digitale Selbstvermessung meint die Nutzung von Apps, die auf Smartphones oder Tablets installiert sind und Geräten – sogenannten Gadgets oder Devices – wie Smartwatches oder Fitnessarmbänder, die unterschiedliche Aspekte des Alltags ihrer Nutzer_innen dokumentieren. Im Fokus der Vermessung stehen meist für Fitness und Gesundheit relevante Werte wie Bewegungen oder sportliche Aktivitäten (zum Beispiel Schritte, Laufen, Workouts), die Dauer des Schlafes, aber auch die Anzahl der konsumierten Kalorien. Diese Praktiken sind in ein »Alltags-Management« unterschiedlichster Lebensbereiche durch Apps eingebettet, die Smartphone-Nutzer_innen durch ihren Alltag begleiten. Neben Kalendern zur Terminorganisation lassen sich hier zum Beispiel Notizblock- oder ToDo-Apps nennen, aber auch diverse Anwendungen zur Organisation sozialer Kontakte unterschiedlicher Natur (von sozialen Netzwerkseiten wie Facebook über Dating-Apps wie Tinder). Sie alle versprechen den Alltag der Menschen in unterschiedlichsten Bereich einfach organisierbar zu machen und gleichzeitig sicht- und zählbar zu machen (absolvierte Termine, abgehakte To-Do’s, geknüpfte Kontakte als Facebook-Freundschaften oder eine hohe Zahl an Kontakten mit Dating-Potenzial durch Matches auf Tinder). Die Prinzipien der Dokumentation und Vermessung sind daher ähnlich weitreichend wie die Bedeutung eines »fitten Körpers«: »Fitness erweist sich als ein nicht zu unterschätzendes Leitmotiv der postfordistischen Subjektkonstitution […]. Ein fitter Körper ist gefordert, um an Erfolg, Karriere, Gesundheit und Liebe partizipieren zu können […].«3 Digitale Selbstoptimierung, so lässt sich folgern, konfrontiert Individuen

2

Duttweiler, Stefanie: »Körperbilder und Zahlenkörper. Zur Verschränkung von Medien und Selbsttechnologien in Fitness-Apps«, in: dies./Robert Gugutzer/Jan-Hendrik Passoth/Jörg Strübing (Hg.), Leben nach Zahlen. Self-Tracking als Optimierungsprojekt?, Bielefeld: transcript 2016, S. 221-251, hier S. 223.

3

Graf, Simon: »Leistungsfähig, attraktiv, erfolgreich, jung und gesund: Der fitte Körper in postfordistischen Verhältnissen«, in: Body Politics 1, Heft 1 (2013), S. 139157, hier S. 146.

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mit einer grundsätzlich pathologisierenden, weil stets verbesserungswürdigen Perspektive auf ihr Berufs- und Liebesleben sowie ihre Gesundheit. Die im Umfeld von Gary Wolf und Kevin Kelly 2007 gegründete Quantified SelfBewegung geht von dem Leitspruch »Self-Knowledge Through Numbers« aus.4 Menschen und ihre Lebensweise werden dabei grundsätzlich als verbesserungswürdig betrachtet und Technologien als Möglichkeit, diese Defizite auszugleichen. Der Möglichkeits-Charakter dieser Optimierungs-Instrumente erschließt sich aus der Eigenverantwortung der Individuen im Sinne gouvernementaler Logiken.5 Folglich beschreiben Pablo Abend und Mathias Fuchs »the self of the quantified self« als »malleable and deficient, improvable only by technologically driven introspection«.6 Die Idee, das Leben durch digitale Selbstvermessung zu optimieren, ist aber längst über die Ränder der – überwiegend männlich dominierten – Quantified Self-Szene hinausgetreten.7 Versicherungsprogramme, die beim Erreichen einer bestimmten täglichen Schrittzahl Geld ausbezahlen oder die Vorinstallation von Schrittzählern und anderen gesundheitsbezogenen Apps auf Smartphones haben zu dieser Veralltäglichung beigetragen.8 Rankings und Bewertungen sind ein fester Bestandteil des Alltags geworden, egal ob es dabei um Universitäten, Vanille-Eis, den Kund_innen-Support eines Unternehmens oder darum geht, ob das per App vermessene Workout schneller absolviert wurde als beim letzten Mal. Dieses Ranking-Prinzip ist digitaler Selbstvermessung inhärent. Es geht dabei nicht nur um den Vergleich mit anderen, sondern in besonderer Weise auch um das Moment, sich an den eigenen Leistungen und Daten zu messen und diese zu übertreffen. Diesen Schluss lassen Verweise meiner Interview-Partner_innen 4

Quantified Self – Self-Knowledge Through Numbers: http://quantifiedself.com/ vom

5

Vgl. Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas: Gouvernementalität der

16.09.2017. Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000. 6

Abend, Pablo/Fuchs, Mathias: «Introduction«, in: Dies. (Hg.), Quantified Selves and Statistical Bodies (=Digital Culture & Society 2), Bielefeld: transcript 2016, S. 5-21, hier S. 11.

7

Vgl. Schmechel, Corinna: »›Der vermessene Mann?‹. Vergeschlechtlichungsprozesse in und durch Praktiken der Selbstvermessung«, in: Duttweiler/Gugutzer/Passoth/ Strübing, Leben nach Zahlen (2016), S. 141-159, hier S. 141.

8

Als Beispiel für die Bezahlung von »Schritten« lässt sich das Programm MyStep des Schweizer Versicherungsunternehmens CSS nennen. Vgl. den Leitfaden der CSS Versicherung zum Programm »MyStep«: https://mystep.css.ch/files/myStep-LeitfadenAnmeldung.pdf vom 28.06.2016. Für diesen Hinweis danke ich Cornelia Renggli.

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zu9, die zeigen, dass der Vergleich eigener Leistungen für digitale Selbstvermessung zentral ist. Es gehe um die eigenen hundert Prozent und um den Respekt der hundert Prozent, die andere erbringen, erzählte mir ein 31-jähriger Triathlet im Gespräch: »Da macht es keinen Unterschied, ob jetzt einer irgendwo Hahnenkamm-Rennen gewinnt oder ob er so was leistet. […] wenn jemand seine hundert Prozent gibt, dann ist das immer ALLES.« Durch den Fokus auf die Verbesserung der eigenen Leistung werden im Sinn einer individualisierten Perspektive einerseits die subjektiven Dispositionen berücksichtigt, andererseits ist weiter zu verfolgen, ob dieser Fokus auch als ein Sich-Entziehen aus dem Vergleich mit anderen verstanden werden kann. Ein Vergleich wird erst durch die Visualisierung von Leistungen, unter anderem in Form von Grafiken und Diagrammen, möglich. Diese am Display von Smartphones oder anderen mobilen Devices angezeigten Diagramme machen die quantitative Erfassung von Bewegungen visuell nachvollziehbar. Zugleich findet eine zeitliche Rahmung der Bewegungen und Aktivitäten im Tages-, Nacht- oder Monatsverlauf statt. Ina Dietzsch beschreibt solche Visualisierungen als eine Form des »Erzählens mit Zahlen« durch Diagramme und argumentiert mit Verweis auf Sibylle Krämer, dass diese auch eine räumlich-leibliche Ordnung transportieren würden: »Diagramme organisieren Daten in einer meist nicht-linearen, schematisch-abstrakten Ordnung. Ihre ordnende Matrix besteht jedoch nicht im Nacheinander, sondern im Nebeneinander und Untereinander und gewährt Überblick und Übersicht zugleich.« Durch einen »phänomenalen Leibbezug« ergebe sich dabei die Sinnhaftigkeit der Anordnungen: »Die dargestellten Relationen haben eine Richtung, die auf die Leiblichkeit der Betrachtenden bezogen ist. Oben und unten wird dabei als hierarchische Ordnung (Kopf und Fuß), rechts und links im Zusammenhang mit habitualisierten Schreibrichtungen verstanden.«10 Neben dieser, auf Grundlage der vermessenen Parameter erstellten Visualisierungen sind auch andere visuelle Formen von Bedeutung, auf die ich im Folgenden eingehen werde.

9

Diese Interviews wurden im Zuge einer laufenden Forschung zum Umgang mit digitalen Fitness-Tracking-Apps und -Devices geführt, innerhalb derer die Autorin, einen Selbstversuch, Interviews und Beobachtungen durchführt (beziehungsweise durchgeführt hat). Dieser Beitrag bezieht sich auf Interviews mit Nutzer _innen, die zwischen Dezember 2015 und April 2017 durchgeführt wurden.

10 Dietzsch, Ina: »Erzählen mit Zahlen«, in: Zeitschrift für Volkskunde. Beiträge zur Kulturforschung, 2015 (1), 111. Jahrgang, S. 31-53, hier S. 36. Dietzsch verweist hier auf Krämer S. 164 und 166: Sybille Krämer Glossar. Grundbegriffe des Bildes. Diagrammatisch«, in: Rheinsprung 11 – Zeitschrift für Bildkritik (Eikones), S. 162-175.

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F ITNESS -B ILDER O NLINE Vorstellungen vom »richtigen« Lebensstil und vom »idealen« Körper materialisieren sich nicht nur in diesen Leistungs-Diagrammen, sie sind im sogenannten Social Web, auf Diensten wie Instagram, YouTube oder Facebook vor allem in Form von visuellen Inhalten wie Bildern und Videos stark präsent. 11 Inhalte, die von Unternehmen im Zuge von Marketing-Kampagnen distribuiert werden, sind gleichermaßen online vertreten wie Beiträge von Nutzer_innen wie zum Beispiel Selfies vom Training im Fitness-Studio oder ästhetisch und »gesund« aussehende Fotografien von Mahlzeiten. Jill Walker Rettberg weist darauf hin, dass im Jahr 2010 Smartphones, die sowohl mit eingebauten Kameras als auch mit hochwertigen Bildschirmen und günstigen Datentarifen ausgestattet waren, weite Verbreitung erlangten. Diese Voraussetzungen machten das Fotografieren mit dem Smartphone populär und begünstigten, dass Bildern im Social Web zunehmende Bedeutung zukam, während sich Dienste wie Facebook als Kommunikationsmedien für eine breite Masse etablierten. Rettberg betont, dass häufig vergessen werde, dass diese Veränderungen zeitlich noch nicht weit zurückliegen: »It is easy to forget how recent these shifts are. The term ›social media‹ itself was not in popular usage until 2008. Before that, people talked about Web 2.0 and social networking sites, and before that, people simply talked about the web or the internet. Smartphones make taking, sharing and looking at images easier than typing or reading lengthy blog posts, and increasingly self-representation in social media has become visual.«12

Damit unterstreicht sie die Bedeutung von Visualität im gegenwärtigen Social Web und kontextualisiert sie zugleich zeitlich.

11 Ebersbach, Glaser und Heigl folgend besteht das Social Web aus: »webbasierten Anwendungen, die für Menschen den Informationsaustausch, den Beziehungsaufbau und deren Pflege, die Kommunikation und die kollaborative Zusammenarbeit in einem gesellschaftlichen und gemeinschaftlichen Kontext unterstützen, den Daten die dabei entstehen, und den Beziehungen zwischen Menschen, die diese Anwendungen nutzen.« Ebersbach, Anja/Glaser, Markus/Heigl, Richard: Social Web, Konstanz: UTB 2008, S. 31. 12 Rettberg, Jill Walker, »Self-Representation in Social Media«, in: Jean Burgess/Alice Marwick/Thomas Poell (Hg.), The SAGE Handbook of Social Media, (in print), Thousand Oaks: SAGE 2017. Beitrag derzeit online verfügbar: http://bora.uib.no/bitstream/handle/1956/13073/Self-Representation_in_Social_Medi a.pdf?sequence=1&isAllowed=y vom 15.09.2017.

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Mit Fokus auf die Machtverhältnisse, die in Fotografien eingeschrieben sind, verweisen Marita Sturken und Lisa Cartwright auf Michel Foucault und auf die Bedeutung von Fotografie als Normierungsinstrument: Als die Fotografie im 19. Jahrhundert erfunden wurde, wurde sie ein zentrales Regulierungs-Instrument des modernen politischen Staates. Mittels Fotografien wurde festgestellt und verfestigt, was »normal« und »abnormal« sei. Fotografie wurde zur Überwachung, Regulierung und Kategorisierung verwendet und dazu, Differenzen zu etablieren.13 Sturken und Cartwright beschreiben, wie Fotografien in Medien und Werbung dazu beitragen, homogene Bilder von perfekten Körpern, perfekten Posen und dem perfekten Aussehen zu produzieren.14 Es ist davon auszugehen, dass sich diese Dynamik in Social Web-Kontexten noch verstärkt. Einerseits ermöglichen in Smartphones und andere mobile Endgeräte eingebaute Messinstrumente wie zum Beispiel Sensoren den Anwender_innen den Vergleich ihrer eigenen Leistungen sowie den Vergleich mit anderen Nutzer_innen. Der Vergleich basiert zudem häufig auf Richtwerten, die auf etablierte Normen, wie zum Beispiel den Body-Mass-Index, zurückgreifen. Andererseits trägt die visuelle Präsenz solcher Inhalte, die Ergebnisse von Workouts oder Diäten demonstrieren, zur Erwartungshaltung bei, dass sich die Lebensweise sichtbar auf das äußere Erscheinungsbild auswirken würde. Stefanie Duttweiler weist auf die Bild-Dominanz des Fitness-Diskurses hin und beschreibt diesen als »Bild-Diskurs, der sich nicht zuletzt medial entfaltet. Es ist ein Ort der Produktion und Zirkulation von Bildern fitter, schöner und schlanker Körper.«15 Dabei, so Duttweiler werde »ein Begehren nach umfassender Körper- und Selbstveränderung stimuliert, das sowohl im Reich des Imaginären als auch der gesellschaftlich erwünschten Normen und Werte angesiedelt ist.«16 Inhaltlich ist dieser Bild-Diskurs vielfältig und zeigt Menschen nicht nur bei der Ausübung von Sport, sondern auch bei der Zubereitung oder beim darauffolgenden Verzehr von Nahrungsmitteln, oder er zeigt die Mahlzeiten selbst. Als häufige Schauplätze finden sich Natur- beziehungsweise Landschaftsbilder oder urbane, von Beton dominierte Settings wie Industriehallen. Ein weiteres beliebtes Genre sind Vorher-Nachher Geschichten, die von der erfolgreichen Transformation erzählen und diese gleichsam visuell bezeugen.

13 Vgl. Sturken, Marita/Cartwright, Lisa: Practices of Looking. An Introduction to Visual Culture. New York/Oxford: Oxford University Press 2009, S. 106. 14 Vgl. ebd. S. 110f. 15 S. Duttweiler: Körperbilder und Zahlenkörper, in: dies/Robert Gugutzer/Jan-Hendrik Passoth/Jörg Strübing, Leben nach Zahlen (2016), S. 221-251, hier S. 224f. 16 Ebd. S. 225.

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T RANSFORMATION DURCH G RENZÜBERSCHREITUNG . E IN B EISPIEL Ein Unternehmen, das mit solchen Transformations-Videos wirbt, ist das in München ansässige Start-Up Freeletics, das mit einer gleichnamigen High Intensity Trainings-App populär wurde. High Intensity Training bezeichnet physisch äußerst anspruchsvolles, hochfrequentes Workout, das sich durch eine kurze Trainingsdauer auszeichnet und daher als besonders effizient wahrgenommen wird. Die Vermessung fokussiert auf Geschwindigkeit, indem es darum geht, die Trainingsabfolgen in möglichst kurzer Zeit zu absolvieren. Im Zuge meiner Feldforschung zum Umgang mit digitaler Selbstvermessung folge17 ich unter anderem den Online-Aktivitäten von Unternehmen und habe für mein Forschungsfeld relevante Seiten auf Facebook mit »Gefällt mir« markiert.18 Im Mai 2016 wurde das Werbe-Video für die Ernährungs-Coaching-App dieses Unternehmens in meinem Facebook-Newsfeed angezeigt. Dieses Video hat bei jedem Ansehen eine Irritation bei mir hervorgerufen, die ich nun genauer in den Blick nehme. Das Werbevideo mit dem Titel »I am what I eat« zeigt eine Protagonistin, die am Strand barfuß Yoga praktiziert und durch die Wälder läuft, und einen Protagonisten, der am Strand joggt, Fitness-Übungen macht und Gemüse für einen grünen Smoothie schneidet.19 Wodurch wurde meine Irritation hervorgerufen? Das Nutrition Werbevideo bricht mit dem etablierten Werbe-Image der Marke, das von muskulösen Männer-Körpern im urbanen Raum, in Industriehallen oder auf Beton-Sportplätzen dominiert wird. Diese Kontrastierung lässt an binäre Oppositionen wie männlich/weiblich, Kultur/Natur, urban/rural etc. denken. Das Gegensatzpaar Kultur/Natur, das häufig mit männlich/weiblich assoziiert wird, bündle sich im Geschlechtskörper, so Paula-Irene Villa, da dieser »Na-

17 Den meisten dieser Facebook-Seiten folge ich nach wie vor, in dem Sinn, dass ich die Markierung »Gefällt mir« nicht revidiert habe, obwohl die Forschung mittlerweile vorangeschritten ist. So steht das Präsens hier symbolisch für die durch Social-WegDienste beförderte Hybridisierung zwischen Forschung und nicht-Forschung. 18 An dieser Stelle ist es nicht möglich, den Einfluss der »Filter Bubble« auf meinen Forschungsprozess eingehender zu thematisieren/genauer zu bestimmen. Ich habe mich u.a. im Vortrag »Feldforschung in der Filter-Bubble« damit befasst, der bei der 9. Jahrestagung der AG Populärkultur und Medien (GfM) »Popkongress 2017. Zur Methode der ethnografischen Feldforschung« im Februar 2017 in Innsbruck stattfand. 19 I am What I Eat – Freeletics Nutrition: https://www.youtube.com/watch?v=xtPKQPY J8rQ vom 15.09.2017.

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tur und Kultur« zugleich sei. Konkret ist der Geschlechtskörper »naturhaft«, das heißt »seine Natürlichkeit ist sozial gemacht. «20 Das Video ist mit ruhigen, aber triumphalen Klängen und einer Stimme aus dem Off unterlegt, die im gebetsartigen Duktus einen Text spricht. Zu Beginn des Videos hören die Rezipient_innen folgendes: »What defines me? My gender? My nationality? What others think or say about me? What defines me, is what I do.« Mit Nationalität und Geschlecht werden zwei etablierte und als selbstverständlich wahrgenommene Kategorien aufgegriffen. Auf der Text-Ebene wird dabei vermittelt, dass diese DifferenzOrdnungen obsolet seien, weil es auf das eigene Handeln – hier bezogen auf Ernährung – ankomme.21 Auf der Bild-Ebene arbeitet das Video – das wird vor allem aus dem Kontrast zum etablierten Werbe-Image der Marke deutlich – auf offensichtliche Weise mit stereotypen dichotomen Gender-Zuschreibungen. Exemplarisch lässt sich das auch als Zusammenspiel der Stimme aus dem Off mit den Bildern zeigen: Während bei der Frage »Am I strong?« der männliche Protagonist im Bild ist, wird gemäß traditioneller Vorstellungen von Geschlecht dem Publikum bei »Am I beautiful?« die weibliche Protagonistin gezeigt. Die gebetsartige Ansprache der Stimme aus dem Off schließt mit der Frage »Who will you be?«. Nicht zuletzt werden Rezipient_innen des Videos gefragt, wer sie sein werden und nicht, wie sie vorhätten zu leben, »How will you live«. Die Frage »Who will you be« appeliert im Sinne gouvernementaler Theorien direkt an die Eigenverantwortung der Individuen, ihr Leben sinnvoll zu gestalten. In diesem Sinn ist der »fitte Körper« ein Verweis »auf den Willen, an seinem Körper zu arbeiten und für sich Sorge zu tragen. «22 Die Frage »Who will you be« stellt den Zusammenhang zwischen Lebensstilentscheidungen und Subjektivierungsprozessen her und verdeutlicht wie sich das »unternehmerische Selbst« im Sinne Bröcklings auch am Körper manifestiert.23

20 Vgl. Villa, Paula-Irene: Sexy Bodies. Eine soziologische Reise durch den Geschlechtskörper, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2006, S. 19. 21 Auf die Bedeutung von Nationalität wäre in einer gesonderten Analyse ausführlich einzugehen. 22 Graf, Simon: Der fitte Männer-Körper im postfordistischen Alltag. Eine ethnografische Annäherung, in: Katrin Amelang/Sven Bergmann/Beate Binder/Anna-Carolina Vogel/Nadine Wagener-Böck (Hg.): Körpertechnologien. Ethnografische und gendertheoretische Perspektiven (=Berliner Blätter, Heft 70), Berlin: Panama Verlag 2016, S. 48-57, hier S. 48. 23 Vgl. Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007.

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C HALLENGE Y OUR L IMITS »So don’t limit your challenges. Challenge your limits. Don’t just look for a quick fix. Make a permanent change. Make a choice. There are no shortcuts to achieving your goals. You have had a taste of success. Of power. Of fulfillment. Make this feeling last. Get the coach now and make the first stop into a whole new lifestyle today«.24

Damit appelliert Freeletics an seine zukünftigen Nutzer_innen. Der Appell zeigt in aller Deutlichkeit, wie die Eigenverantwortung des sich optimierenden Selbst mit dem Anspruch, seine Grenzen herauszufordern, verknüpft ist. »I am limitless«, sagt die Stimme aus dem Off im Video zur Ernährungs-App. Darüber hinaus ist das Narrativ der Grenzüberschreitung auch im etablierten Branding der Marke fest verankert. Während die Webseite von Freelectics lädt, lese ich am Bildschirm »Life Begins at the End of Your Comfort Zone«. Überspitzt könnte man sagen: Wer den Komfort nicht verlässt und nicht nach GrenzÜberschreitung strebt, wird nichts erreichen. Liest man die Formel als die Inkaufnahme von Unangenehmem, um »erfolgreich« leben zu können, verdeutlicht sich darin die Ambivalenz der Grenzüberschreitung. Es geht um eine Kompromisslosigkeit, die auch im Leitspruch von Freeletics, der Formel »No Excuses« präsent ist: »Free Athletes kennen keine Ausreden, um sich vor dem Training zu drücken. ‚»No Excuses« ist kein Feature, sondern eine Geisteshaltung. Nach diesen zwei Worten lebt die Freeletics Community, und die Athleten in der Community motivieren sich gegenseitig zum Training, egal, unter welchen Umständen«. 25

Die Nutzer_innen der High Intensity Trainings App organisieren sich häufig in Gruppen und trainieren neben- und miteinander auf öffentlichen Plätzen. Die Übungsabfolgen sind nach griechischen Göttern benannt und heißen unter anderem Aphrodite, Thanatos, Ares oder Hades. Ein unsichtbares Band, heißt es, verbinde die Free Athletes und die Götter, gegen die sie antreten.26 Im Rückgriff

24 5 Reasons to Make Freeletics Training a Long Term-Commitment. Not just a Quick Fix. https://www.freeletics.com/en/blog/5-reasons-make-freeletics-training-long-termcommitment-not-just-quick-fix/ vom 16.09.2017. 25 Presse-Kit von Freeletics: https://www.freeletics.com/en/press/wp-content/uploads/si tes/24/2017/04/Freeletics_PressKit_DE_06.04.2017_web.pdf vom 15.09.2017. 26 Vgl. Die neuen Freeletics Workouts: Warum du sie lieben wirst! https://www.freele tics.com/de/blog/die-neuen-freeletics-workouts/ vom 16.09.2017.

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auf die griechische Mythologie werden Menschen mit Göttern verglichen, denen wiederum häufig heroische Eigenschaften zugeschrieben wurden. Jan N. Bremmer weist darauf hin, dass göttliche Epiphanien die griechischen Götter als »tall, beautiful, sweet-smelling, awe-inspiring, in short as ›superpersons‹« zeigten.27 Neben diesem Status als »supernatural beings«28 werden den griechischen Göttern jedoch auch negative Eigenschaften zugeschrieben, so Bremmer: »Greek gods resembled and differed from the Christian God in important aspects. Like Him, they were invisible, but they were not loving […], almighty, or omnipresent; moreover, they were ›envious and disorderly‹ […], their presence could be uncanny, sometimes horrific, and, last but not least, they were frivolously amoral.«

Bremmer betont auch diese »andere«, negativ konnotierte Seite der griechischen Götter. Sie seien nicht liebevoll, allmächtig oder allgegenwärtig, vielmehr neidisch und ordnungswidrig. Während Allgegenwart mit Berechenbarkeit oder Verlässlichkeit assoziiert werden könnte, und damit im Kontext von Selbstoptimierung mit konsequentem Handeln, lässt sich Neid als Element von Konkurrenz und Wettbewerb verstehen. »Jeder Einzelne muss sich in der Verfolgung seines Nutzens mit allen anderen messen, und er kann seinen Nutzen nur in dem Maße steigern, in dem er sich von seinen Mitbewerbern abhebt und für sich beziehungsweise für das, was er in den Tauschprozess einbringt, ein Alleinstellungsmerkmal geltend machen kann.«29 Darüber hinaus kann zügelloses, unmoralisches oder erschreckendes Verhalten als Grenzüberschreitung unterschiedlicher Art verstanden werden. Wer jemand anderen erschreckt, missachtet mitunter die Grenzen des Gegenübers. Heldenfiguren können folglich als Projektionsfläche für reguliertes Abweichen verstanden werden, sie ermöglichen sozusagen eine Grenzüberschreitung innerhalb der Grenzen. »Helden oszillieren in ihren Taten zwischen Normbildung, Normerfüllung und Normbruch, zwischen Exzeptionalität und Exemplarität.«30 Die Orientierungsfunktion von Heldenbildern liege darin »modellhaft in Aussicht [zu stellen, welche Extremleistungen die Gattung Mensch zu erreichen in der Lage

27 Jan N. Bremmer: Greek Religion, Oxford: Oxford University Press 1994, S. 12. 28 Vgl. ebd. 29 Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007, S. 106. 30 Bröckling, Ulrich, »Negationen des Heroischen – ein typologischer Versuch«, in: helden. heroes. héros. E-Journal zu Kulturen des Heroischen 3 (01, 2015), DOI 10.6094/helden.heroes.heros/2015/01/02, S. 9-13, hier S. 9.

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ist. Ihre Außerordentlichkeit liegt in der Grenzüberschreitung zum Außergewöhnlichen […]«.31

Z UR AMBIVALENZ DER G RENZÜBERSCHREITUNG Im Fall von Fitness- und Selbstoptimierung soll permanente Überschreitung der eigenen Leistungsfähigkeit einen »fitten Körper« gewährleisten. Die Formel »Life Begins at the End of Your Comfort Zone« steht demnach auch für ein Verständnis des Umgangs mit sich selbst, bei dem mitunter als negativ wahrgenommene Erfahrungen in Kauf genommen werden, um sich selbst zu optimieren oder die beste »Version« seiner selbst hervorzubringen. Beim Betrachten der Werbevideos für die High-Intensity Trainings-App fällt die Inszenierung des Leidens auf. Es werden schwitzende Körper gezeigt, die, am Boden liegend, damit ringen, noch eine Liegestütze mehr zu schaffen. Den Schauplatz bildet ein von dunklen Schwarz- und Grautönen dominiertes urbanes Setting. Teilweise liegen die Protagonisten auf einer dünnen, ebenfalls schwarzen, Trainingsmatte auf dem nackten Beton, der ein rauhes und kühles Bild vermittelt. »Tradierte Männlichkeitskonstruktionen beinhalten ein großes Maß an Ignoranz gegenüber dem eigenen Körper« hält Corinna Schmechel fest.32 Die Härte des Trainings wird hier als etwas Positives inszeniert, als Teil eines schmerzhaften persönlichen Transformationsprozesses. Die demonstrierte Inkaufnahme von Leiden und Schmerzen weist Parallelen zu mediatisierten Darstellungen des risikoreichen Umgangs mit dem Körper in Street Skateboarding Videos auf. Die dargestellte Härte ist ebenso Teil des Freeletics-Trainings, wie die zwangsläufig auftretenden Stürze beim Street Skateboarding, die Hans Berner als zentral für die Vergeschlechtlichung dieses Sports benennt.33 »Sich für den Erfolg dem Risiko von Manövern an der Grenze des Kontrollierbaren hinzu-

31 Nioklas Immer, Mareen van Marwyck: »Helden gestalten. Zur Präsenz und Performanz des Heroischen«, in: Dies. (Hg.): Ästhetischer Heroismus. Konzeptionelle und figurative Paradigmen des Helden. Bielefeld: transcript 2013, S. 11-28, hier S. 11f. 32 Schmechel, Corinna: »Der vermessene Mann?«, in: Duttweiler/Gugutzer/Passoth/ Strübing, Leben nach Zahlen (2016), S. 141-159, hier S. 151. 33 Vgl. Berner, Hans: »Bust or Bail. Zur vergeschlechtlichten Inszenierung von Risiko, Schmerz und Leiden in professionellen Street Skateboarding-Videos«, in: Friderieke Faust/Stefan Heissenberger (Hg.), Emotionen im Spiel. Beiträge zu einer Ethnologie des Sports (=Berliner Blätter, Heft 71) Berlin: Panama Verlag 2016, S. 95-105, hier S. 100.

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geben und Sturz, Schmerz sowie Verletzung als Konsequenzen eines Fehlversuchs zu akzeptieren«, sei Teil der Vorstellung davon, was es heißt, ein Skateboarder zu sein. Berner zufolge produzieren professionelle Street Skateboarding Videos »ein medial einflussreiches Bild von Street Skateboarding als umfassend von Männern und Männlichkeit dominierten Raum, in dem die Aneignung stereotyp (hyper)maskuliner Zuschreibungen möglich und zugleich unumgänglich ist […].«.34 Freeletics wird sowohl für eine männliche wie für eine weibliche Zielgruppe vermarktet. Ein Blick auf das Werbe-Video »Werde mit Freeletics zur besten Version deiner selbst« zeigt, dass weibliche Protagonist_innen anders, mitunter weniger kämpfend und leidend, inszeniert werden: zum Beispiel beim Training in einem clean aussehenden Hochhausgebäude, mit Schwerpunkt auf Bewegungen, die an Yoga erinnern, während ein männlicher Protagonist auf dem Basketball-Platz auf einer Dachterasse trainiert.35 Die Bild-Ebene des Videos ist auditiv mit einem HipHop-Stück unterlegt. Aus dem Hintergrund tönt es »Do it cuz it inspires you, keep pushing through the pain, go hard and push your limits, and you will feel alive.« Nacheinander werden drei Protagonist_innen gezeigt: Ein Athlet in Nahaufnahme der direkt auf das imaginierte Publikum zuzusprinten scheint. Würde er weiterlaufen, müssten Rezipient_innen wohl ausweichen. Die leichte Untersicht der Kamera und ein Bildausschnitt, der den Kopf ausspart, zwingen den Blick auf den muskulösen Oberkörper. Zudem sehen die Rezipient_innen die Distanzaufnahme einer Athletin, die von links nach rechts den Strand entlangläuft bevor sie am weich aussehenden, aber energieraubenden, Sanduntergrund trainiert. Ein weiterer Athlet wird mit verbissenem Gesichtsausdruck auf dem (fast) nackten Beton einer urbanen Dachterrasse gezeigt, wo er auf dem Rücken liegend Kraftübungen und Klimmzüge an einer Metallkonstruktion ausführt, die an einen Bau-Kran erinnert. Das Video reiht männliche bzw. »weibliche« Körper(ausschnitte) in schnellem Tempo Collagen-artig aneinander. Dem Publikum werden Protagonist_innen vor Augen geführt, die kämpferisch ihre Grenzen zu überschreiten scheinen. Obwohl die einzelnen Körper, ob der hohen Dynamik zu verschwimmen scheinen, zeigen sich bei näherem Hinsehen genderspezfische Unterschiede: Frauen, werden in einem Gebäude oder am Strand trainierend gezeigt, Männer, in direktem Kontakt mit harten Oberflächen beziehungsweise Metallgebilden. Die dargelegten Beispiele zeigen, wie sich Genderrollen und Heldenbilder in der Vermarktung einer High Intensity Trainings-App überlagern und verdeutli34 Ebd. S. 103. 35 Video: Werde mit Freeletics zur besten Version deiner selbst: https://www.youtube.co m/watch?v=6ejJMqAeQCs vom 16.09.2017.

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chen den Stellenwert visueller Repräsentationen im Feld digitaler Selbstvermessung. Dennoch soll dieser Beitrag nicht mit dem Fazit enden, dass die Art und Weise wie die besprochene App vermarktet wird, binäre Geschlechterordnungen reproduziert. Im Sinne einer gedanklichen Grenzüberschreitung soll die von mir aufgeworfene Frage nach dem Vergleich der eigenen Leistungen als ein sichEntziehen aus der Konkurrenz mit anderen noch einmal aufgegriffen und gleichzeitig verneint werden. Denn »die beste Version von sich selbst« und der Wettbewerb mit anderen schließen sich nicht gegenseitig aus, sie bedingen einander vielmehr: »Jeder Einzelne muss sich in der Verfolgung seines Nutzens mit allen anderen messen, und er kann seinen Nutzen nur in dem Maße steigern, in dem er sich von seinen Mitbewerbern abhebt und für sich beziehungsweise für das, was er in den Tauschprozess einbringt, ein Alleinstellungsmerkmal geltend machen kann.«36 Die gewählten Beispiele verdeutlichen die Rolle von Ordnungen – hier der binären Geschlechterordnung – für eine Vergleichbarkeit. Die Möglichkeit zu kategorisieren ist die Grundvoraussetzung für eine Vergleichbarkeit von Menschen und ihren Leistungen. Alleinstellungsmerkmale entstehen jedoch durch die Abweichung von der Norm. Heldenbilder eignen sich als Projektionsfläche für das »unternehmerische Selbst«, da sie »Konformität […] durch Abweichung« und »moralisch reguliertes Abweichen« repräsentieren.37 Neben der zur Schau gestellten Härte betont Freeletics unter anderem, dass langfristiges Training Depressionen, Diabetes, Krebs und Übergewicht vorbeuge.38 Im Dienste eines solcherart als »fit« wahrgenommenen und sicheren Körpers wird das Leiden beim Fallbeispiel Freeletics als »reguliertes Abweichen« lesbar. Menschen, die ihren Körper und Alltag mit Freeletics transformieren, werden zu Vorbildern für sich selbst und die Freeletics-Community, und grenzen sich von Menschen ab, die diese Grenzüberschreitungen nicht in Kauf nehmen (möchten). Damit verbindet die High Intensity Trainings-App den Anspruch kompromisslos an sich selbst zu arbeiten mit einer »vernünftigen« Umdeutung dieser Kompromisslosigkeit. Welche Bedeutung hat eine solche Darstellung für Geschlechterordnungen? Wenn die Überschreitung von Grenzen als oberste Maxime gelesen wird und zu 36 Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007, S. 106. 37 Luhmann, Niklas: »Die Autopoisesis des Bewußtseins«, in: Ders.: Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008, S. 55-108, hier S. 86; nach Bröckling 2015. 38 5 Gründe, weswegen du Freeletics langfristig in dein Leben integrieren solltest https://www.freeletics.com/de/blog/5-grunde-weswegen-du-freeletics-langfristig-deinleben-integrieren-solltest/ vom 16.09.2017.

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einem Mehrwert beiträgt stellt sich Frage, ob der Rückgriff auf etablierte Ordnungskategorien, wie die Binarität von Geschlechtern, nur vermeintlich zur Stärkung dieser Kategorien führt. Vielmehr lässt sich fragen, ob die »beste Version von sich selbst« nicht ausschließlich jenseits von Kategorisierungen existieren kann und daher in einem beweglichen Spektrum zu kontextualisieren ist.

»They should have been famous!« From historical hero to herstorical heroine J EFFREY D. W ILHELM 1 »Whoso wants to do as they wish should not be born a woman.« NANNINA DE’ MEDICI 2 »A slave’s life – not to say what’s in your mind.« EURIPIDES, THE PHOENICIAN WOMEN, 408 BC3

I NTRODUCTION : I NQUIRY AND THE UNDERSIDE OF THE ACCEPTED STORY

Throughout my career as a teacher and as teacher of teachers, I have developed an evolving commitment to deep inquiry as cognitive apprenticeship leading to

1

With Lettie Stratton, Fiona Wilhelm, and Susie Fisher

2

»Whoso wants to do as they wish should not be born a woman.«, in Lives of the early Medici, as told in their correspondence, translated and edited by Janet Ross, London: Chatto & Windus 1910, p. 222. Fulltext https://archive.org/stream/livesofearlymedi00 rossuoft/livesofearlymedi00rossuoft_djvu.txt, accessed March 12, 2018.

3

»A slave’s life – not to say what’s in your mind.«, in Euripides, The Phoenician Women, translated by Andrew Wilson, The Classics Pages, http://www.users.globalne t.co.uk/~loxias/phoenissae.htm, accessed March 12, 2018.

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the development of personal expertise and transformation, to social equity, and to social justice.4 This journey began with my development of inquiry and design curriculum and my research into its uses and effects. Inquiry and design is an educational approach that frames curricular topics as problems to be addressed through the collaborative efforts of learners. Learners are »cognitively apprenticed« into the practices of experts so that they can contribute to the conversations around cultural and disciplinary problems, and then contribute knowledge artifacts and social actions that address the problem in some way. A central feature of inquiryoriented instruction is the personal connection of learners to the content in ways that can be connected back and applied to the world. Another central feature is the conscious soliciting and engaging with multiple perspectives, theories and stories around the issues and problems being studied, particularly those perspectives that may have been silenced or suppressed in some way. The goal of »inquiry and design« is to achieve understanding and the capacity to apply what has been learned.5 Understanding involves the achievement of what is known as »threshold knowledge«. Threshold knowledge is constituted by generative concepts and processes that provide a »gateway« into radically new, more conscious and informed ways of seeing, being and acting in the world and that can be usefully developed and honed, revised and extended throughout a lifetime. 6 In this chapter, I will explore findings from my recent involvement in two inquiry projects into silenced female voices and stories. The first project involved writing books about American women whose stories are currently unknown but important to American history of the Civil War and of sport. The second involved an inquiry into significant female artists from the Renaissance who are relatively unknown today. Together with my thinking partners Lettie Stratton, Fiona Wilhelm (27 yearold females who run their own organic farm and write children’s books) and Susie Fisher (a 65 year-old female end of career art teacher), we will share the stories of what was experienced and learned by inquiring into the »herstory« of historical heroines. Throughout, I will highlight and provide brief commentary on 4

Wilhelm, Jeffrey D./Novak, Bruce: Teaching for Love and Wisdom, New York: Teachers College Press 2012; Wilhelm, J. D./Fry, S./Douglass, W.: The Activist Learner, New York: Teachers College Press 2015

5

Wilhelm, Jeffrey D.: Engaging Readers and Writers with Inquiry, New York: Scholas-

6

Land, R./Meyer, J. H. F.: Threshold concepts and troublesome knowledge 1: Linkages

tic 2007; Wilhelm, Jeffrey et al.: The Activist Learner to ways of thinking and practising in improving student learning. Ten years on, edited by C. Rust, Oxford, UK: Oxford Center for Staff Learning and Development 2003.

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various »throughline« themes of the interviews, and at the end will explore implications and potential ways of moving forward with these central themes for ourselves, our students, and communities.

F IONA AND L ETTIE : L EARNING ABOUT HISTORICAL HEROINES FOR THE WRITING OF BOOKS FOR CHILDREN »We must work to tell these stories, so readers can see their history and new possibilities for themselves!«

Following are edited excerpts from interviews with Fiona and Lettie about their experience researching the stories of neglected historical heroines in the American Civil War, and in the history of sport. Jeff: Lettie:

Fiona:

Lettie:

Fiona:

Tell me about your initial reactions to engaging in your inquiries. My main reaction to writing the books was my surprise at how important the women I researched were to history, but how little I knew and how little others knew about them. Like Elizabeth Van Lew. She ran the biggest spy ring for the Union during the Civil War. Some historians give her a lot of credit in helping win the Civil War. Another female spy was Mary Bowser, a slave who had a photographic memory. But she was a woman and black and so [the confederacy’s] President Jefferson Davis assumed she was uneducated and not smart, so he left documents and plans in the Confederate White House where she worked. Their risks, sacrifices and contributions were amazing – and the contributions were made possible in part by the preconceptions that men had about them and how little men thought they were capable of. Everybody I wrote about stuck out to me. Rose Greenhow went under house arrest and prison and was still spying from prison! She put messages into her embroidery. She was very courageous and smart and had no ›give‹ in her. She was successful because she was so underestimated by the men. She totally understood the culture she lived in and played up the helpless woman thing to manipulate the situation. That was true of so many of the women we researched. Emma »Franklin« Thompson was a soldier passing as a man. But if she had been found out she would have been shot. Across the board, I was

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impressed with the commitment women had to make to follow their conscience. Throughline: Women have sometimes used the ways men underestimate them to »heroically« get things done, but this required great risk, sacrifice and commitment. Lettie:

Fiona:

In sports, it was noteworthy to see how male-driven sports have been and still are – at all levels from small kids to high school to professional sports – and how it is only very recently that this is changing at all. I just did not have this historical perspective. Learning about that made me ask: Why do women have to compare to the men’s leagues – like in soccer or basketball – to be validated? It was interesting to me how people tend to have a comparative mindset. Like it validates the female athlete or the woman’s game that it compares in quality to the men or the men’s game. And the comparisons are all on the men’s terms: like people tend to enjoy jumping ability or athleticism and devalue the teamwork and finesse that women basketball and soccer players bring. Writing the book made me realize how it is still like that. Men’s sports get more viewers. Male professional athletes earn more. Why is that? They are not more entertaining if you really know how to appreciate the fine points of sport.

Throughline: Although women are making progress on many fronts, the sporting world and other domains (business, politics) are still governed by male-oriented thinking and standards. Jeff: Lettie:

Fiona:

What were your major takeaways? All the women we looked at played really critical roles. We were writing books for ARC [The American Reading Company] who are actively seeking out those untold stories of women, but is anybody else? Does school? It is a whole different perspective that seems so important to me. The lesson to me is that you have to look for those sources and stories – you have to be active about it and make it a priority. Nearly every woman [from the Civil War research] gave up everything – family, health, friends – and they all made a huge sacrifice and many had a tragic end. But no one remembers them or their contribution. It is not part of the record, or at least the record a school kid would read. It

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is so different from being a male hero – that stuff is on the front page and people know and remember what you do. I did a library and google search on »influential people in the Civil War« and there were no women. It was all guys. So it was disheartening and upsetting. It made me super motivated and excited to be able to be a part of researching and sharing these women’s stories to students. I wish I had these perspectives and stories when I was a student. It really impressed upon me how important the texts are that you are given in school, and the ones that are available. These kinds of texts were not available from me so I got a skewed view of history – and I was written out of it.

Throughline: What we learned is based largely on what we have the opportunity to learn. If we are not provided with multiple perspectives around issues, then the dominant perspective and story is the only one that it is learned. In many cases, the dominant perspective is a gendered male perspective. Fiona: Lettie:

Fiona:

Fiona:

It didn’t surprise or upset me so much – I kind of expected it. But I was surprised how important these women were to the outcome of the war. It was almost like being upset on their behalf but also on behalf of myself and other young women and how history gets told and how our female experience is so marginalized. In some ways, this silencing made these women even more heroic to me. They had no ulterior motives. They gained nothing but the larger common goal, like abolishing slavery or preserving the Union. They were not after fame in the way it seemed many of the men might be. One thing I learned was that things have not changed, and that there is a history behind gender politics and whose story gets told and the role of women in cultural narrative. So it makes you want to work for the change, even if it is in a small way.

Throughlines: Female stories of heroism have often been silenced and marginalized by how history is told and taught. Teachers and parents and book publishers, et al need to actively promote untold stories and perspectives. Doing so allows young women to see themselves in the historical record, and will educate everyone to the crucial roles of particular women throughout history.

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Lettie:

Fiona:

Lettie:

That is what makes a female heroine – it is selfless. It is for the greater good. It was their commitment, not achievements that were required or foisted on them. And usually they suffered for their heroism – people asked: what made them think they could do that? If it had been a man it would have been OK. They didn’t have to do what they did, and the stakes were higher. There is a difference between what is considered heroic for men and for women, even today, but especially then. It is so limiting for kids to have stereotypes. Things are not different enough. I think the election [2016 U.S. Presidential election] showed that. Hillary was held to a different standard than the men. She was considered uppity or bitchy for speaking her mind because she was a woman when Trump had done much worse – like his xenophobia and sexual abuse.

Throughline: Perhaps we should promote notions of the heroine to counterbalance the concept and narratives of heroism which are often tied up with patriarchy and entrenched power structures. Jeff: Lettie:

Fiona:

Lettie:

Why do you think these women’s stories have not been widely told? I think that women and their contributions were and still are undervalued – so their stories don’t get told. And think of the women at home – doing the farming and raising the children and keeping things together. We think history is about big men and big events and battles but history is mostly everyday life and how we make our ways through the world and help others to do that. That’s the work of women, historically speaking, but it’s not what we think of as history. I think that has to change and I hope our books work for this: that we are all historical actors and what we think, say and do makes a historical difference. I think another part of it was that the women we researched might have been heroic in a socially unacceptable way. Like women weren’t supposed to fight, or to masquerade as men, or be a spy, or tell lies and engage in subterfuge. And the women athletes we researched were always trespassing some kind of male barrier, entering into the male world. I think there is some discomfort with that – with women – or other marginalized people – taking on roles and trying things that were the domain of white men. History – historically – has been written by men. I think that plays a huge part and I think it is great that we now have female historians and others looking into these silenced stories.

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Throughline: Who is in power is more likely to tell the story and this effects whose story gets told as well as how the story gets told. Jeff: Lettie:

Fiona:

What is gained by telling these stories? I think it is important for kids to know that there is more than only one way to enact gender or be of a gender. I want stories that go beyond stereotypes. I want to get past the woman as bystander, cheerleader, supporter for the men. I want to know about women and their agency. It’s like that bumper sticker: Well-behaved women don’t make history. I think it is hard to read history and about women’s roles, and then be excited about being a woman. Typical texts don’t show you possibilities. Your options as a woman are to get raped, to sew and have babies. I think everyone wants to be seen and heard, and to see themselves represented, whether it is your gender orientation, sex, ethnicity, whatever. So I think it is important for kids to see themselves in the books they read in school. Especially in history. And especially when it comes to heroic stories. People’s idea of what is possible is based on what has happened – or what they know happened. Someone breaks the four-minute mile and you suddenly see it as possible instead of as a barrier, and then more people strive to do it. I think it is really important to celebrate different ways of being female, and ways of breaking barriers, and new countercultural or beyond-our-current-culture ways of doing and being.

Throughline: Exploring untold stories and perspectives invites new possibilities to those who read them. Jeff: Lettie:

Are there new ways of thinking about history/gender that you achieved through this project? This [project] has helped me think about my own sources of information, and what types of people are producing those. I looked at my bookshelf and the books are mostly by white male authors. I had not thought about that before. So [this project] increased my awareness about seeking out a variety of voices and perspectives when you are trying to explore something. History is something that is constructed in particular ways for particular purposes. I didn’t really realize that before.

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Fiona:

You can only achieve something if you know it is possible. Women throughout history have had to have greater imagination and endurance than men, because possibilities were not supported or made available to them.

Throughline: History is constructed. Concepts like heroism have a history of constructedness. We can critique, resist and transform these constructions. Jeff: Fiona:

Lettie:

What commitments did this project help develop in you? It pushed me to think more about race and the role of race in how history is presented. So I started looking at more of the African-American perspective, particularly the female. It makes you think about privilege and whose story gets told and how the mainstream story is perpetuated and how teachers and caregivers need to present other stories and counter-narratives. I’ve made a commitment to working for a more inclusive place for people like me, but I have to make sure it is more inclusive for people not like me as well, and that includes actively seeking out their stories and valuing them. it made me feel very grateful that companies like ARC exist that are committed to social justice and telling these stories. That kind of commitment over time is the only thing that can change the norm.

Throughline: Educators, parents and publishers can have a role in telling stories that promote social justice and transformed conceptions of heroism. Fiona:

Lettie:

7

W.T. Jewkes says that the »hero is he who does what must be done«7. From this project, I’d say that the heroine is she who does what must be done and does it in the face of overwhelming social and cultural forces pushing back on her! And that’s true for any person or group who has been oppressed.

W.T. Jewkes in Man the Voyager, edited by W.T. Jewkes and Northrup Frye, New York: Harcourt Brace Jovanovich, 1974, p. 11

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S USIE F ISHER : L EARNING ABOUT FEMALE R ENAISSANCE ARTISTS »These notorious women of courage and genius should have been famous! Very famous. It is an issue of historical fairness, correctness and thoroughness!«8

Jeff: Susie:

Tell me about your inquiry project. I’ve invested hundreds of hours in researching women artists from 1500 to 1900 in order to teach some art inquiry workshops and classes for women. I have to say that I still can’t comprehend how these stories were lost for hundreds of years. These notorious women of courage and genius should have been famous. Very famous. It’s an issue of historical fairness – and of historical correctness and thoroughness!

Throughline: Telling the story of women’s experience and the story of historical heroines is an issue of fairness, correctness and thoroughness. Susie:

8

I always loved teaching art history as an art teacher. I have wanted more and more to do history, and to do women’s history because I just felt something was missing, and that this ›missingness‹ was unfair. More and more I did some short units in my courses on women artists. So as I neared retirement, I wanted to do something deeper on women artists and so I submitted an inquiry course proposal to the Osher Institute [an adult learning forum]. It was accepted and participants flocked to it and so enjoyed it and I’ve now been doing it year after year. That was really exciting. It was great to go deep and commit the time to this. And I found that there was a lot of information on women artists if you are willing to do the research. I got so enthused that I spent 500 hours on preparing an 8 hour class. The images were amazing – it was a feast not to just hear what these women achieved but to see their genius on display. I had no idea that there were such accomplished and famous female artists before the Renaissance. And that some of them had such fame during their lifetimes but now we have not heard of them. Here are some facts: Twenty-three professional women painters worked in Bologna from 1550 to 1650. In general, most came from wealthy fami-

Susie Fisher.

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lies and were trained by their fathers. They purchased villas and mansions. They traveled the capitals of Europe and lived with the royal households in their palaces. They painted popes, queens, kings, and their families. These women who documented the lives of thousands of aristocrats gradually became invisible. It’s interesting to note that the advancements in printing technology had a role in their disappearance. Most, if not all, historians were men. They wrote primarily about male artists. There were only two men who wrote about women artists of the Renaissance. Without them we would have very little information. Giovanni Boccaccio, best known today for his book Decameron9, addressed his history »to the pretty ladies«, whose restricted lives he considered unfair. »Restrained by the desires, the pleasures, the commandments of their fathers, their mothers, their brothers and their husbands, they spend most of their time enclosed within the small circuit of their chamber.«10 His work was very popular during the early Renaissance and helped the cause of women’s art. He spent his last 10 years writing the book Famous Women11. The other writer was Giorgio Vasari. He wrote The Lives of the Most Excellent Painters, Sculptors, and Architects. Published in 1550, rewritten enlarged, and illustrated in 1568.12 I feel so indebted to these two men who wrote down the stories and documented the work of these women. Throughline: Those with voice and power must help to tell the stories of the marginalized or forgotten. Susie:

9

I have very mixed emotions. Part of me celebrates the beauty created by these women, but another part of me is so disheartened and angry that only a few academics know this work. Why did it take me 500 hours to access this? Why isn’t it more available? The interesting thing

Boccaccio, Giovanni., Decameron: http://www.gutenberg.org/ebooks/23700, accessed March 12, 2018.

10 Boccaccio, Giovanni., On Famous Women, Harvard University Press, 2006, edited and translated by Virginia Brown. 11 Boccaccio, Giovanni, On Famous Women, Harvard University Press, 2006, edited and translated by Virginia Brown. In Introductory chapter: De Eva parente prima. N.p. See also: www.nytimes.com/books/01/04/22/reviews/010422.22rowlant.html. 12 Vasari, Giorgi, The lives of the artists; translated with an introduction and notes by Julia Conaway Bondanella and Peter Bondanella. Oxford ; New York : Oxford University Press, 1991.

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to me was thinking about why many of these women are not famous any more. The explosion of books was amazing, so there is all this new information, but there was no literacy among women who were not aristocrats and nuns so there was very little told from the female perspective. So, it’s miraculous that we have this information. An established artist, Tassi, raped one Artemesia Gentileschi – who was sent to study at his studio, and she sued, and she won.13 All of it was documented. I had no idea that these documents existed. Divorces, prostitution, that these were topics of documents was shocking to me. She did a series of portraits of strong women who are physically strong and in active poses of movement – not passive – and they are striking. She did a self-portrait of herself painting because she wanted to communicate her expertise. She painted a Beheading of Holofarnes … so gory with blood spurting out of his arteries. As graphic as anything painted by a man. This was not long after the rape and I think the painting is a reaction against that. Men could do whatever they wanted, but not the women. But she established her own studio and travelled through the courts of Europe. Interesting how morals played into it from the Renaissance on. Women were isolated at home – couldn’t leave without a guard – denied education except for feminine arts. So, these women were strong – they transcended the culture and created their own businesses in a male world. Most had fathers that were artists so that is how they learned. They would start young putting in the background, and then as the years went by they would start doing more detailed work, and eventually became as accomplished as their fathers or masters but would rarely get credit. From well-to-do families, so they had financial options. One woman was told that she could not have possibly painted what she did, on the assumption that she was not capable, so she set up an outdoor studio so she could be observed and prove that she was capable. Throughline: Some women were able to make their own stories public by asserting and proving themselves by any available means. Susie:

My students started by being frustrated with how and why these stories were not told. Disbelief. The quality of the work made them think that women had been neglected – particularly in light of what has been

13 https://www.brooklynmuseum.org/eascfa/dinner_party/place_settings/artemisia_gentil, accessed March 12, 2018.

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overcome. There is the loss of women’s talent that was never cultivated, but then this is a genius and productivity that was achieved and then somehow suppressed. It makes the loss concrete instead of abstract. And it was so much loss to the women themselves, but also to so many others and to culture. Throughline: When females’ capacities are not cultivated and actualized, then everyone and the culture loses. Susie:

Jeff: Susie:

Jeff: Susie:

There were also women who couldn’t take the pressure of having genius in a world where it couldn’t come fully to fruition – where it was suppressed and challenges were placed in their way – some ended up in institutions. There were so many barriers that were overcome – they had to have double the passion – they had to face more and more obstacles so the passion for making art had to be extraordinary. What is gained by telling these stories and bringing this work to light? For you? For your students? I gained a pastime and a passion. I would stay up all night doing the research. The whole thing was joyful and celebratory for me – to be sharing knowledge like this that had been hidden. I think the students were deeply affected by the visual imagery – to see self-portraits and the quality of the work. The images plus the history made it vivid and immediate to them. It was about history with illustrations! What commitments did this project help develop in you? In students? Students came away feeling prouder to be women, and gained knowledge of the journey and the trajectory of women through history, and they wanted to celebrate the roles of women throughout history and the progress that has been made. In our endurance and strength. Can you imagine where women would be if our great grandmothers had acquired property and educated us – if they had the advantages that all men give to their sons? And we have achieved all that we have without these cultural opportunities. The tragedy of lost human potential.

Throughline: There is a thirst for this knowledge about women, but also for what has been suppressed and silenced.

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C ONCLUSION An insight all three women gained from their inquiries was that men and men in power have typically controlled the historical narrative and whose story gets told. This led them to a commitment to actively look for the underside of the official story, to seek out the stories of oppressed and marginalized people and then to share and publish these. They all recognized that this material exists but that one has to dig for it. The inquiries of these three women promoted their coming to value multiple perspectives, and an understanding about the necessity of seeking out multiple perspectives, particularly those of marginalized voices, when one reaches for a full understanding of history. The inquiries also worked to develop a level of wide-awakeness and critical literacy rarely achieved in school: a questioning of how knowledge is created and shared, about whose story gets told and why, about what the effect is on our shared understanding, and the quality of our conjoint lived-through experience because of the stories we hear or do not hear. In terms of threshold knowledge that was developed, looking at specific women in particular historical moments has led all three women to look more critically at the roles of men and women throughout all historical eras, and to reconsider the experiences and contributions of marginalized populations of all kinds. They were provided with a generative lens that they have subsequently turned to other historical issues as well as current issues of social justice. All three women noted that marginalized people have to work doubly hard to be recognized and have their accomplishments accepted. Partly because of this, the inquiries developed social commitments in all three to work to help silenced stories reach mainstream discourse, and to help those who are currently silenced to tell their own stories. As an educator, I am led to ask: what if schools actively promoted this kind of inquiry, and promoted this kind of knowledge-making through book writing, presentations and other kinds of shareable and archivable knowledge artifacts? What if students were positioned, as these women were, as historical researchers who would be contributing to historical understanding? The experience of these three women leads me to argue that the result of a wider use of inquiry and design approaches to learning and knowledge-making would be learning much more about how history is made, and how to do history as a responsible social scientist. It would result, as in these cases, in deep engagement with historical material and issues. This engagement, as we have seen, can lead to social commitments and actions that would reflect the heroism of the subjects they studied.

Wirkungsmacht per Tastendruck Mannwerdung im digitalen Spiel H ARALD K OBERG

Für den 27. Juli 2017 war in Barcelona eine Veranstaltung geplant: »Gaming Ladies«, ein Treffen für Spielerinnen digitaler Spiele. Ende Juni kam die Absage. Weil die Veranstalterinnen nach massiver Kritik, Beschimpfungen und Drohungen die Sicherheit der Teilnehmerinnen nicht gewährleisten konnten. 1 Dass das Publikum digitaler Spiele nicht nur immer größer, sondern auch immer heterogener wird, ist nicht von der Hand zu weisen.2 Die Zahl der Spielerinnen steigt gemäß statistischen Erhebungen ebenso wie das durchschnittliche Alter der Spielenden seit Jahren kontinuierlich. Und der Erfolg von Titeln wie Dream Daddy: A Dad Dating Simulator (Game Grumps, 2017) macht offensichtlich, dass auch mit Inhalten fernab der üblichen Heteronormativität Menschen begeistert werden können. Gleichzeitig erreichen Beschimpfungen und Drohungen, wie sie viele online geführte Auseinandersetzungen prägen, im thematischen Aufeinandertreffen von Frauen und digitalen Spielen immer wieder traurige Höhepunkte. Es scheint, als meine ein kleiner Teil der männlichen Spielerschaft, hier etwas mit aller Vehemenz verteidigen zu müssen, und als seien dazu – angesichts der offenbar höchst angespannten Lage – fast alle Mittel recht. Das erschreckende sexistische Potenzial der immer noch stark männlich geprägten Gaming-Szene ist vor allem in der seit Sommer 2014 nie ganz abebbenden

1

Siehe NN: »Mob gekränkter Männer terrorisiert ›Gaming Ladies‹-Event«, in: der Standard 18. Juli 2017, http://derstandard.at/2000061407721/Mob-gekraenkter-Maen ner-terrorisiert-Gaming-Ladies-Event vom 23.9. 2017.

2

Siehe etwa die jährlich erhobenen Statistiken der Interactive Software Federation of Europe (ISFE): http://www.isfe.eu

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#GamerGate-Kontroverse3 zutage getreten. Während sich dort noch Spieler gegen offen vorgetragene, feministische Kritik an »ihrem« Medium verteidigen, genügte in Barcelona schon der subtile Vorwurf, der in der empfundenen Notwendigkeit einer, Frauen vorbehaltenen, Gaming-Veranstaltung entdeckt werden kann, um extreme Reaktionen zu provozieren. Schon nach dieser kurzen Betrachtung des Phänomens liegt es nahe, hier die Reaktion einer in die Enge getriebenen Gruppe zu vermuten. Und auch nach längerer Auseinandersetzung mit dem Phänomen hält sich – wie dieser Beitrag zeigen soll – die Vermutung, dass hier um eine Bastion der Männlichkeit gekämpft wird; um den männlichen Entfaltungsraum im digitalen Spiel. »Gaming Ladies« hat letztendlich doch stattgefunden, mit neuem Hauptsponsor, an einem anderen Ort. Dass die Zeitung »Der Standard« die Veranstalterin im Interview anonymisiert, zeigt aber deutlich, wie ernst die geäußerten Drohungen genommen werden und welche Wirkung sie auf das Leben der Betroffenen haben. Die folgenden Seiten schlagen einen interpretativen Ansatz vor, wie Konflikte wie der oben beschriebene gedeutet werden können. Dieser Ansatz geht jedoch weit über die Auseinandersetzung mit jener kleinen Minderheit an Spielern hinaus, die sich angesichts feministischen Kritik zu Drohungen und Beschimpfungen hinreißen lassen. Er soll aufzeigen, warum digitale Spiele und mit ihnen verbundene neue Formen des kulturellen Ausdrucks für viele Männer von solcher Bedeutung sind, wie hier Heldenmythen auf eine besondere Weise wirken und wie aus der in Spielen erlebten Selbstwirksamkeit eine Narration des Mannwerdens entsteht. Selbstverständlich wird dabei nicht außer Acht gelassen, dass ein wachsender Prozentsatz an Spielerinnen und Spielern, die sich nicht mit dem männlichen Geschlecht identifizieren, die gleichen Spiele mit großer Begeisterung spielt. So sehr Unterschiede im Spielverhalten – und mehr noch im Sozialverhalten innerhalb der Gaming-Communities – feststellbar sind4, erleben Menschen unterschiedlichen sozialen Geschlechts oft dieselben narrativen Strukturen und Spieldynamiken mit ähnlicher Freude und einem vergleichbaren Gefühl der Selbstverwirklichung. Wie dieser Beitrag zeigen wird, wird die GamingKultur jedoch weiterhin massiv von heterosexuellen Männern geprägt – ein Um3

Siehe Freidel, Morten: »Wenn Kritik kommt, hört das Spiel auf«, in: Frankfurter Allgemeine, 28.10. 2014, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/gamergate-wennkritik-kommt-hoert-das-spiel-auf-13232818.html vom 23.9. 2017.

4

Siehe etwa Toft-Nielsen, Claus: »Digital Gaming Expertise: Negotiating gaming capital and gender within the context of gamers’ daily lives«, in: 5th ECREA Conference, Lisbon 2014, http://www.ecrea-section-strategic-communication.ubi.pt/sub/evento/22.

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stand, der mit Blick auf vorhandene Konstruktionen von Männlichkeit und Heldenhaftigkeit analysiert werden wird. Neben der angeführten Literatur basieren die hier ausgeführten Überlegungen auf teilnehmenden Beobachtungen von und qualitativen Interviews mit Spielerinnen und Spielern, sowie Personen aus deren Umfeld, die ich seit Herbst 2010 im Zuge einer kulturanthropologischen Diplomarbeit und einem daran anschließenden Dissertationsprojekt durchführe.

B EENGTE M ÄNNLICHKEIT Mann sein bedeutet gemäß der australischen Soziologin Raewyn Connell 5 stetig zum Mann zu werden. Es ist kein Zustand in den man hineingeboren wird oder zu dem man selbstverständlich heranwächst. Männlichkeit bedarf, wie es Martina Läubli und Sabrina Sahli formulieren, einiger »Lehrjahre«6. Und auch wenn diese Lehrjahre abgeschlossen sind, bedeutet das nicht das Ende des Sichbeweisen-Müssens. Männlichkeit entsteht durch fortwährendes Tun, es ist immer eine Bewegung zu etwas hin. Und wo angestrebte Ziele erreicht werden, gilt es neue zu setzen »und das immer wieder.«7 Alan Dundes erklärt diese immer wiederkehrende Notwendigkeit in seiner psychoanalytischen Auseinandersetzung mit männlichem Wettkampfverhalten unter anderem anhand der zeitlichen Begrenztheit der männlichen Erektion: »Accordingly, males feel the need of proving repeatedly, that they are able to achieve this indisputable demonstration of masculinity.«8 Er interpretiert männlichen Wettkampf als den ritualisierten Versuch der Entmannung und Verweiblichung des Gegenübers im Zuge einer Demonstration der eigenen Männlichkeit. Um diesen Anforderungen des kontinuierlich wiederholten Männlichkeitsbeweises gerecht zu werden, brauchen Männer entsprechende Räume, die ihnen ausreichend Herausforderungen bieten, um sich wieder und wieder beweisen zu können; etwa im Vorantreiben einer beruflichen Karriere, im Sexualleben oder

5

Connell, Raewyn: Der Gemachte Mann. Konstruktionen und Krise von Männlichkeit,

6

Läubli, Martina/Sahli, Sabrina (Hg.): Männlichkeiten Denken. Aktuelle Perspektiven

Wiesbaden: Springer 2015. der kulturwissenschaftlichen Mascullinity Studies, Bielefeld: transcript 2011, S. 7. 7

Ebd., S. 8.

8

Dundes, Alan: »Traditional Male Combat: From Game to War«, in: Wolf Brednich/Walter Hartinger (Hg.), Gewalt in der Kultur, Passau: Universität Passau 1993, S. 171.

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eben im Spiel, das in seinen vielfältigen Erscheinungsformen zahlreiche Möglichkeiten bietet, Ziele zu setzen und diese zu erreichen. Diese Momente des Triumphes sind, wie Dundes analysiert, geprägt von Symbolen der eigenen Männlichkeit und der Verweiblichung – häufig in Form von Verweisen auf die Penetration – des besiegten Gegenübers; etwa durch die in den Himmel gestreckte Faust, die eroberte Fahne des Gegners (beispielsweise im Spielmodus »Capture the flag«, den viele Online-Shooter-Spiele anbieten) oder auch in sprachlichen Äußerungen. Ausrufe wie »Ich fick dich!« oder »Du bist gefickt!« gehören zum verbalen Standardrepertoire vieler Spiele-Communities und werden dort häufig nicht als unangemessen oder besonders aggressiv wahrgenommen. Während sich die Konzeptionen von Männlichkeit nur langsam und pendelnd von dem von Läubli und Sahli beschriebenen Bild des kämpfenden, entdeckenden und unterwerfenden Mannes weg entwickeln, verschwinden – insbesondere für Jugendliche und junge Männer – die Räume, in denen sie mit diesen Konzeptionen experimentieren können. Auf Schulhöfen und in Turnhallen werden spielerische Raufereien von Erziehenden häufig als Gewalt wahrgenommen und unterbunden. In den Städten fehlt durch Reglementierung und Überwachung des öffentlichen Raumes mehr und mehr die Möglichkeit der unbeobachteten Selbsterprobung; selbst auf den Sportplätzen werden die Regeln strenger, und schon Kinder werden zur emotionalen Selbstkontrolle angehalten. So erzählte mir ein aufgebrachter Vater in einem Interview, seinem neunjährigen Sohn sei mit einem Verweis an die Eltern gedroht worden, weil er beim Fußballspielen einen Gegenspieler angeschrien habe. Die Auseinandersetzung mit dem zugeschriebenen Mannsein lässt sich demnach in den vorgefundenen Möglichkeitsräumen häufig nicht in der (körperlichen) Interaktion erproben, was in weiterer Folge auch die Möglichkeiten zu einer kritischen Reflexion dieser Bilder in vielem einschränkt. Digitale Spiele bieten hier eine der wenigen willkommenen Optionen, abseits der Wahrnehmung der normsetzenden Autoritäten agieren und mit Rollen experimentieren zu können. »Angesichts der kontinuierlichen Zerstörung ihrer Spielräume in der Realität« finden Jugendliche, wie Joachim Kaps schon 1993 analysierte, »die gesuchte Möglichkeit der spielerischen Erprobung, der Auslotung ihrer Grenzen [...] nicht zuletzt in den Angeboten der Medien.«9 Die eingangs erwähnten Statistiken zu Altersstruktur der Spielenden ebenso wie das von mir gesammelte qualitativ erhobene Material legen nahe, dass sich diese Dynamik nicht auf das Ju-

9

Kaps, Joachim: »Zwischen Faszination und Abscheu: Über Medien, Bilder der Gewalt und das schlechte Gewissen der Kultur«, in: Rolf Brednich/Walter Hartinger (Hg.), Gewalt in der Kultur, Passau: Universität Passau 1993, S. 507.

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gendalter beschränkt. Virtuelle Spielewelten sind über Altersgrenzen hinweg ein Abenteuerspielplatz traditionell gedachter Männlichkeiten.

D IE VIELEN F ACETTEN DER S PIELENDEN UND DES S PIELS Die Inhalte der angebotenen Spiele stehen gemäß der Logik des Marktes in direkter Wechselwirkung zu ihrem Publikum. Der immer noch dominante Anteil männlicher Spielender beeinflusst die Entscheidungen der Spiele-Studios, Inhalte zu schaffen, die wiederum diese Gruppe erreichen und begeistern. Der enorme Anteil von Sport-, beziehungsweise Action- und Shooter-Spielen, die, wie Hans Joachim Backe beschreibt, »den perfekten, meist männlichen Körper als Ausdruck der Entschlossenheit und Größe eines besonderen Menschen«10 inszenieren, lässt erahnen, wie stark der Spiele-Markt von traditionellen Männer- und Heldenbildern geprägt ist. Häufig werden Männer in lebensfeindlichen Umgebungen dargestellt. Weitgehend auf sich allein gestellt bekämpfen sie ein eindeutig Böses. Ihr Mut und ihre Geschicklichkeit entscheiden über Leben und Tod. Man fühlt sich an das Menschenbild des Philosophen Thomas Hobbes erinnert, das Enit Steiner beschrieben hatte: »Hobbes’ human beings are explicitly men, extremely competitive, aware of each and everyone’s violent inclination and consequently afraid of experiencing death at the hand of another man.«11 So überholt dieses Menschenbild heute erscheinen mag, so exakt trifft es die Realität vieler Spielehelden, deren Welten oft wenig Handlungsalternativen zur gewaltsamen Unterwerfung des Gegenübers für sie vorsehen. In dieser Einfachheit und moralischen Klarheit machen es Spiele – wie Filme, Romane und andere Formen der Unterhaltungsmedien – ihrem Publikum oft einfach, sich auf die Fiktionen einzulassen. Klare Verhältnisse und die nachvollziehbare Trennung von Gut und Böse erleichtern die Immersion, beziehungsweise das Aufgehen in der Fiktion. Je fremder das zu bekämpfende Gegenüber erscheint, desto einfacher lässt sich eine Erzählung entfalten, die dessen Vernichtung zum gerechtfertigten

10 Backe, Hans-Joachim: »Entfremdete Pixelhelden: Brechung von Immersion und Identifikation im Computerspiel«, in: helden heroes héros: E-Journal zu Kulturen des Heroischen, vol. 2 (2014), https://www.sfb948.uni-freiburg.de/publikationen-en/e-jour nal?page=1, S. 41. 11 Steiner, Enit: »Images of Masculinities and the Feminist Inflection«, in: Martina Läubli/Sabrina Sahli (Hg.): Männlichkeiten Denken: Aktuelle Perspektiven der kulturwissenschaftlichen Masculinity Studies, Bielefeld: transcript 2011, S. 220.

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Handlungsziel erhebt. Diese Form des ethnozentrischen Othering war, wie etwa Hans-Joachim Backe aufzeigt12, ein in den ersten Generationen von Videospielen fast unumgängliches Element des Erzählens. In wenigen Bildern oder einem kurzen Text musste die Motivation des Helden nachvollziehbar gemacht werden. Aggressiv vorrückende Außerirdische (Space Invaders, Midway Games, 1978) oder ein Gorilla, der Frauen entführt (Donkey Kong, Nintendo, 1981) lassen wenig Raum für die ethische Diskussion. Im Zuge der fortschreitenden technologischen und inhaltlichen Weiterentwicklung digitaler Spiele entstanden auch immer potentere Werkzeuge des Erzählens. Von in den Spielverlauf eingewobenen Videosequenzen (Cutscenes) über steuerbare Dialoge zwischen den Figuren bis hin zu Geschichten, die sich durch Entscheidungen der Spielenden in ihrem grundlegenden Verlauf beeinflussen lassen, wurde und wird mit unterschiedlichen narrativen Elementen experimentiert. Die daraus entstandenen Möglichkeiten haben zu weit differenzierteren und vielschichtigeren Narrationen in Spielen geführt, und diese wiederum zu detaillierten Auseinandersetzungen mit Fragen der Moral in Videospielen13. Ein großer Teil der neu auf den Markt kommenden Spiele bedient sich jedoch weiterhin einer eindeutigen, dualistischen Moral, die – bedingt durch intendiertes Othering – die Loyalität und Identifikation der Spielenden in klare Bahnen zu lenken versucht; dies wohl auch mit dem Ziel, den Prozess der Immersion nicht zu irritieren. Denn letztendlich ist es die aus den jeweiligen Erfahrungswelten der Spielerinnen und Spieler erwachsende Interpretation des Gezeigten, die darüber entscheidet, wie weit sie sich auf die Narration eines Spiels einlassen. »Othering im Computerspiel ist also am Schnittpunkt von semiotischer und ludischer Ebene, zwischen Darstellung und Simulation, zwischen Repräsentation und Regeln situiert«14, oder, um mit Miguel Sicart noch einen Schritt weiter zu gehen: Die Bewertung des im Spiel Erlebten lässt sich nicht durch das Spieler_in-Subjekt (player-subject) alleine verstehen, da dieses immer in Relation zum Körper-Subjekt (body-subject) steht, das in einen großen sozialen Zusammenhang eingebettet, beziehungsweise aus diesem erwachsen ist und gesellschaftliche Wertungen und Normen in das Spiel-Erleben mit hinein trägt.15 Nach Sicart entsteht das Spieler_in-Subjekt durch die Teilhabe an Spielen. Es muss dazu im Moment nicht unbedingt selbst spielen, sondern existiert auch in Diskussionen mit anderen Spielerinnen und Spielern oder in der Reflexion des 12 H. Backe: Entfremdete Pixelhelden, S. 41. 13 Allen voran: Sicart, Miguel: The Ethics of Computer Games. Cambridge: MIT Press 2009. 14 H. Backe: Entfremdete Pixelhelden, S. 41. 15 M. Sicart: The Ethics of Computer Games, S. 85.

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Erlebten, wenn das eigentliche Spiel bereits beendet ist. In all diesen Situationen liegt dem Spieler_in-Subjekt jedoch ein Körper-Subjekt16 zugrunde, das die moralischen Konzepte des Spiels mit seinem durch die Sozialisation geformten Werte-Empfinden abgleicht und sie anhand dessen reflektiert. Um die Wechselwirkungen von Männlichkeitskonstruktionen, Heldenfiguren im Spiel und größeren sozialen Dynamiken nachvollziehen zu können, ist es unumgänglich, die Eigenheiten und Einzigartigkeiten des digitalen Spielens als subjektives Erlebnis in diesen Details zu durchleuchten. Wenn Spiele – wie das sowohl in der wissenschaftlichen Diskussion als auch in den Argumentationen von Außenstehenden häufig der Fall ist – als Artefakte verstanden werden, die Spielerinnen und Spieler weitgehend willenlos durch fiktive Welten und Geschichten leiten, wird die daraus resultierende Analyse der sozialen Bedeutung des Spiels ebenso wenig gerecht, wie wenn von der gegenteiligen Annahme ausgegangen wird, der Avatar – die von der Spielerin oder dem Spieler gesteuerte Figur im Spiel – sei eine unmittelbare Repräsentation des Spieler_in-Subjekts im Spiel. Spielabläufe vollziehen sich auf drei aufeinander intensiv Einfluss nehmenden Ebenen, die jede für sich betrachtet und analysiert werden kann, die aber nur in ihrer Gesamtheit ein schlüssiges Bild ergeben: Auf der narrativen Ebene wird, vergleichbar mit einem Film, eine Geschichte erzählt. Auf der ludischen Ebene wird gemäß den Regeln des Spiels mit dem Spiel und eventuell auch mit dessen Narration interagiert. Und auf der sozialen Ebene wird miteinander oder gegeneinander gespielt, es wird über das Spiel gesprochen und das Spiel wirkt auch auf andere Weisen, etwa über die Kultur des Cosplay, über die eigentliche Aktivität des Spielens hinaus in den sozialen Raum hinein.17 Eine weitere zentrale, von Sicart eingeführte Unterscheidung ist die zwischen dem Spiel als Objekt und dem Spiel als Erfahrung18. Ein digitales Spiel lässt sich als Objekt recht eindeutig beschreiben: Es besteht aus einer Reihe von Regeln, die in einer klar definierten Spielwelt gelten, aus Darstellungen von Spielfiguren und dem Raum um sie herum, aus Codes auf einem Datenträger. Das Spiel als Objekt definiert, welche Handlungsräume das Spiel anbietet und 16 Dieses Konzept übernimmt Sicart aus der Phänomenologie Barbara Beckers. Siehe: Becker, Barbara: »Marking and Crossing Borders: Bodies, Touch and Contact in Cyberspace«, in: Body Space and Technology 3, no. 2 (2003). 17 Unterteilungen wie diese finden sich in vielen Texten aus der Game-Forschung. Übersichtlich zusammengefasst etwa bei: Schröter, Felix/Thon, Jan N.: »Video Game Characters: Theory and Analysis«, in: DIEGESIS: Interdisziplinäres E-Journal für Erzählforschung 3.1 (2014), https://www.diegesis.uni-wuppertal.de/index.php/diegesis/issu e/view/7, S. 40-77. 18 M. Sicart: The Ethics of Computer Games, S. 55.

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welche Auswirkungen bestimmte Handlungen haben. Es legt fest, wie die Spielenden im Spiel repräsentiert werden und wie weit sie in die Spielwelt eingreifen können. Zum Spiel als Erfahrung wird das Spiel jedoch erst, wenn es gespielt wird, wenn also – um bei Sicarts Terminologie zu bleiben – ein KörperSubjekt sich auf das Spiel einlässt und somit ein Spieler _in-Subjekt entsteht. Das Spiel als Erlebnis lässt sich weit weniger eindeutig fassen. Es beinhaltet, was das Spieler_in-Subjekt assoziiert, wie es Verbindungen zwischen der Spielwelt und anderen Bereichen seiner Lebenswelt herstellt, wovon es berührt wird und woran es scheitert. Das Spiel als Erlebnis variiert von Subjekt zu Subjekt und ergibt sich aus dessen vielschichtiger sozialer Prägung. So lässt sich das Spiel GTA IV (Rockstar Games, 2008)19 als ein Objekt beschreiben, auf dessen narrativer Ebene Nico Belic, ein bärtiger Serbe mit Kriegserfahrung aus dem Jugoslawien-Krieg, in Liberty City, einer fiktiven Variante von New York, einen Neuanfang versucht, aber schnell ins kriminelle Milieu abrutscht. Auf der ludischen Ebene müssen Spielerinnen und Spieler den Avatar durch eine Reihe von Missionen lenken, in denen Herausforderungen an die Geschicklichkeit zu bestehen sind, die durch Verfolgungsjagden, Schusswechsel und vieles mehr repräsentiert werden. Gleichzeitig bietet das Spiel den Spielenden die Möglichkeit, die Spielwelt frei zu erkunden und mit ihrer Logik zu experimentieren. Auf der sozialen Ebene lässt sich über GTA IV als Objekt nicht viel mehr sagen, als dass es einige Varianten von Online-Modi beinhaltet, in denen Spielerinnen und Spieler sowohl miteinander als auch gegeneinander spielen können. Die enorme Relevanz des Titels GTA IV lässt sich auf Basis des Spiels als Objekt allein nicht erklären. Dazu braucht es eine Analyse der Interaktion der Spielenden mit dem Spiel, eine Analyse von GTA IV als Erfahrung. Da gilt es zu berücksichtigen, dass GTA als Spiele-Reihe höchste Anerkennung unter Spielerinnen und Spielern, und in der Fachpresse genießt. Es muss außerdem gesehen werden, dass das Spiel enorme Anziehungskraft auf minderjährige Spielende hat, die es in den meisten Ländern rechtlich nicht spielen dürften und dass GTA traditionell auch über die Fachpresse hinaus medial auf sich aufmerksam macht und mit seinen Gewaltdarstellungen sowie seinem Umgang mit Themen wie Sexualität und Drogen für Aufregung sorgt. Auch muss beobachtet werden, dass unterschiedliche Gruppen von Spielenden ganz unterschiedlich mit dem Spiel interagieren und sich höchst differente Spielziele setzen. Die Beschreibung dessen, was GTA IV als Erfahrung sein kann, würde hier den Rahmen sprengen.

19 Die Auswahl des Spiels, das hier als Beispiel dient, wurde aufgrund mehrer Erwähnungen des Spiels in Interviews getroffen, die teilweise später noch angeführt werden.

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In Interviews erzählen Spielerinnen und Spieler von ganz unterschiedlichen Erfahrungen mit dem Spiel. Fast alle haben es schon einmal gesehen oder gespielt. Während manche die Faszination für den Titel teilen, die Miguel Sicart in seinen Ausführungen zu Ethik in Videospielen beschreibt20, nennen andere unterschiedliche Gründe, warum sie das Spiel nicht mochten. So erzählte ein vierundzwanzigjähriger Student, ihm habe der Humor gefehlt, der für die Reihe typisch sei. Er bezog sich damit auf sein Wissen über die Geschichte des Spiels, aus der heraus sich Erwartungen gebildet haben. Eine gute Freundin dieses Studenten erzählt wiederum, in einem anderen Interview, sie habe die Stereotypen nicht ertragen, mit denen die kriminelle Szene in Liberty City dargestellt wird. Ihre Ablehnung bezog sich also auf ihr Moralempfinden außerhalb der Spielwelt, auf die Empfindungen ihres Körper-Subjekts. So naheliegend diese Beobachtungen erscheinen mögen, so sehr zeigen sie, wie differenziert die Tätigkeit des digitalen Spielens betrachtet werden muss, um ihre soziale Relevanz zu analysieren. Wie Schröter und Thon aufzeigen, sind Spielende gleichzeitig Figuren in einem Spiel, Spielende des Spieles und Menschen in einem größeren sozialen Kontext. 21 Dieser drei Identitäten sind sich die Spielenden zu verschiedenen Zeitpunkten in unterschiedlicher Weise bewusst. Meine Interviews zeigen, wie viele Studien zuvor, dass sich Spielerinnen und Spieler immer wieder in diesen Rollen reflektieren und, dass ihnen deren Verbindung zur narrativen, ludischen und sozialen Ebene – wenn auch nicht in dieser Terminologie – ebenfalls bewusst ist. So erzählte ein begeisterter Spieler der Battlefield-Reihe (Electronic Arts, beginnend 2002), dass er als Spieler mit seinen gelegentlichen Wutausbrüchen kein Problem hat und auch seine mitspielenden Freunde ihm erklären, er sei eben ein »Rager« und das sei in Ordnung. Als Mensch außerhalb des Spiels sind ihm diese Emotionen aber unangenehm, auch wenn sie sich ausschließlich auf das Spiel beschränken. Ein letzter gedanklicher Schritt muss noch vollzogen werden, bevor die Diskussion auf Männerbilder und Helden in Spielen zurückgelenkt werden kann: Aus der Vielschichtigkeit der Spiele und den verschiedenen Rollen der Spielenden ergeben sich naheliegender Weise allerhand Überschneidungen der einzelnen Ebenen im Spiel als Erfahrung. Wenn die Narration von einem ängstlichen, verunsicherten Mädchen handelt (Tomb Raider, Square Enix, 2013) und dieses Mädchen auf ludischer Ebene mühelos mehrere abgebrühte Soldaten auf einmal im Nahkampf besiegt, so funktionieren diese Ebenen zwar unabhängig voneinander, in der Überlappung von Narration und Spielsystem entstehen aber Irrita20 M. Sicart: The Ethics of Computer Games, S. 61. 21 F. Schröter/J. N. Thon: Video Game Characters, S. 49.

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tionen, die die Immersion hemmen können. Das Spielerlebnis ist dann in sich nicht stimmig, weil sich die unterschiedlichen Ebenen des Spiels nicht reibungslos zusammenführen lassen. Ähnliche Erfahrungen können in OnlineRollenspielen gemacht werden: Hat der eigene Avatar als aufstrebender Held gerade einen Banditenanführer besiegt und dessen Schatztruhen geplündert, entstehen Irritationen, wenn während des Aufsammelns bereits ein weiterer großer Held gegen denselben Banditenanführer zu kämpfen beginnt. Das Spielsystem muss den Gegner immer wieder neu auferstehen lassen, da viele Spielerinnen und Spieler in derselben Spielwelt dieselben Abenteuer erleben sollen. Die Narration wird in dieser Situation aber schwer erschüttert, weil sie den neuerlichen Kampf mit dem gerade besiegten Feind nicht erklären kann. Derartige Irritationen treten auch in der Auseinandersetzung des Spieler _inSubjekts mit dem Avatar auf. Selbst wenn es sprachlich oft so dargestellt und von Außenstehenden häufig so wahrgenommen wird, ist die Identifikation der Spielenden mit ihren Repräsentationen im Spiel (den Avataren) keineswegs unproblematisch und reibungslos. Auch wenn es im Gespräch über ein Spiel durchaus üblich ist, dass Sätze wie »Ich bin eine Elfen-Priesterin auf Stufe dreiundzwanzig« fallen, darf diese Beschreibung nicht im Sinne einer vollständigen Identifikation und damit einer Übereinstimmung der beiden Rollen (Spieler _in und Avatar) verstanden werden. Viele Spiele geben sich Mühe, hier die größtmögliche Übereinstimmung herzustellen, doch schon allein die begrenzten Möglichkeiten einer Spielwelt bedingen, dass bei der Entscheidungsfindung im Spiel dessen Regeln berücksichtigt werden müssen, was zwangsläufig die ludische Ebene in Erinnerung ruft. Und das wiederum irritiert das Aufgehen in der Spielwelt, die Immersion. Darüber hinaus verzichten die allermeisten Spiele, die eine Geschichte erzählen wollen, nicht darauf, den Spielenden ab und an die Zügel aus der Hand zu nehmen, um eben diese Geschichte in eine vorgesehene Richtung zu lenken. Allein diese kurzzeitige Entmachtung der Spielenden irritiert die Beziehung zum Avatar22, und wenn dieser Avatar in Momenten der Loslösung vom Willen des Spieler_in-Subjekts Handlungen vollzieht, die dessen Vorstellungen nicht entsprechen, ist die Irritation umso intensiver. »Das Befremden über das Verhalten des Avatars gegenüber Fremden in der Spielwelt macht uns überdeutlich bewusst, dass es eine generelle Differenz zwischen unserer Wahrnehmung und unserem Verhalten und dem Avatar gibt«23. Das Verhältnis des Spieler_in-Subjekts zum Avatar schwankt also zwischen Identifikation 22 Eine detaillierte und äußerst aufschlussreiche Analyse von Spielen, die sich diese Irritation zunutze machen, präsentiert Hans Joachim Backe in seinem 2014 erschienenen Artikel »Entfremdete Pixelhelden«. 23 H. Backe: Entfremdete Pixelhelden, S. 47.

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und Fremdheit; ein Zustand, den Hans Joachim Backe mit Julia Kristevas Konzept des »Inneren Fremden« zu fassen versucht.24 Gerade wenn es im Weiteren um die Auseinandersetzung mit Spielern und Heldentum gehen soll, ist es entscheidend, dieses diffizile Verhältnis der Spielenden zu ihren Avataren im Kopf zu behalten; ganz besonders, da – wie Backe analysiert – »die Vorstellung des völligen Aufgehens der Spieler_innen in der Spielwelt, der totalen, geradezu aktiven und körperlichen Immersion noch immer weit verbreitet ist«.25

S PIELENDE UND GESPIELTE H ELDEN Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Helden im digitalen Spiel wird fast ausschließlich auf der narrativen Ebene geführt. Die vom Spiel als Objekt präsentierten Heldenfiguren werden betrachtet und, sofern dieser Schritt noch gegangen wird, in ihrem Verhältnis zur ludischen Ebene und dem Spieler _inSubjekt analysiert. In den von mir geführten Interviews mit Spielerinnen und Spielern entsteht jedoch der Eindruck, dass es häufig nicht die gespielten Heldinnen und Helden sind, die in Erinnerung gerufen werden, wenn nach großen Emotionen und erinnerungswürdigen Erlebnissen im Zusammenhang mit digitalen Spielen gefragt wird. Selbst da, wo ich konkret nach Heldenfiguren gefragt habe, bezog sich die Antwort selten auf von den Spielenden gesteuerte Figuren. Oft sind es Erlebnisse der Selbstwirksamkeit, des Gefühls, Einfluss auf eine Welt genommen zu haben. Ein Gefühl, das noch schöner ist, wenn andere mit dabei sind. So erzählt Peter26, ein dreißigjähriger Fahrzeugtechniker auf die Frage nach prägenden Gaming-Momenten von einer Situation, die gemäß den Regeln des Spiels nicht einmal positiv verlaufen ist: Während eines GruppenAbenteuers in einem Online-Rollenspiel ist er bei der Suche nach Schätzen von einem Vorsprung gestürzt; die Spielmechanik ließ in Reaktion darauf – wohl im Glauben, die Gruppe sei schon weiter in der Spielwelt vorgerückt – große Zahlen an Gegnerinnen und Gegner auftauchen, die seine Mitspielenden attackierten. Erst als er mit dem gefundenen Schatz zur Gruppe zurückkehrte, wurde ihm bewusst, was er ausgelöst hatte.

24 Ebd., S. 41. 25 Ebd., S. 45. 26 Alle angeführten Namen von Interviewpartner_innen wurden im Zuge der Anonymisierung der Daten geändert.

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Diese Erzählung ist in diesem Kontext in mehrerlei Hinsicht interessant. Zum einen zeigt sie, dass auch Momente, die auf ludischer Ebene Probleme verursachen, auf sozialer Ebene positiv wahrgenommen werden können. Ein wichtiger Aspekt ist dabei die oben angesprochene Selbstwirksamkeit. Geschichten dieser Art werden kaum von Spielenden erzählt, die nur dabei waren. Es ist die Freude daran, selbst etwas ausgelöst zu haben, die sie erzählenswert macht. Gleichzeitig zeigt Peters Geschichte, wie er das Spiel auf seinen unterschiedlichen Ebenen wahrnimmt. In seiner Erzählung finden sich keine Verweise auf die vom Spiel vorgesehene Narration. Die Situation und die positive Erfahrung, die daraus entstanden sind, spielt sich auf der ludischen und der sozialen Ebene ab. Das Auftauchen der Angreiferinnen und Angreifer erklärt er nicht auf Basis der Narration, sondern der Spieldynamik. Neben dieser Situation erzählte Peter von Momenten, in denen er besonders gefährlichen und eindrucksvollen Gegnern zum ersten Mal begegnete, und von Situationen, in denen ein besonders schwieriger Gegner mit letzten Kräften besiegt wurde. Auch hier ist es nicht die Narration des Spiels, die maßgebend ist, sondern die subjektiv empfundene Herausforderung, die gemeistert wurde. Auch von anderen Spielenden werden auf die Frage nach heroischen Momenten im Spiel oft Szenen angeführt, in denen die eigene Leistungsfähigkeit spürbar wurde. Etwa, wenn der fünfundvierzigjährige IT-Techniker Günther erzählt, dass es ihn schon stolz mache, Spielerinnen und Spieler am hochkomplexen OnlineWeltraum-Strategiespiel EVE Online (Atari, 2003) scheitern zu sehen, in dem er selbst sehr weit fortgeschritten ist. Oder wenn Michael, der weiter oben erwähnte Battlefield-Spieler, sich an das Gefühl erinnert, nach Stunden des aussichtslos erscheinenden Spielens im Online-Modus selbst zu einem Spieler geworden zu sein, der den anderen hoffnungslos überlegen erscheint. Häufig sind es Momente des befriedigten Ehrgeizes, von denen erzählt wird. So werden Verbindungen zum Sport und zur Freude am sportlichen Sieg gezogen. All das geschieht primär auf der sozialen Ebene des Spiels, verbunden mit der Fähigkeit, die Regeln zu seinen eigenen Gunsten zu nutzen. Manchmal schwingt eine Spur von Schuldbewusstsein mit, wenn sich die Interviewten an Momenten ihrer Überlegenheit erfreuen. Aber im Spiel werden derartige Gefühle und auch deren Äußerung als legitim empfunden. Und manchmal wird die kompetitive Motivation im Spiel auch damit erklärt, hier einen Raum gefunden zu haben, in dem man Erfolge verbucht. Etwa wenn Michael vom schleppend verlaufenden Studium erzählt und von der befreienden Möglichkeit, in Battlefield zeigen zu können, dass auch er in etwas gut ist. Oder Rene, der in seiner Jugend in den 1990ern nicht mit den handwerklichen Fähigkeiten seines Cousins mithalten konnte und sich damit tröstete, ihn beim Zocken zu besiegen. Immer

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wieder stoße ich in Gesprächen mit Spielern – im Gespräch mit Spielerinnen scheint dieser Aspekt kaum auf – auf das im Spiel befriedigte Bedürfnis, wirkmächtig zu sein und dabei im Idealfall von anderen wahrgenommen und bewundert zu werden. Hier wird die Möglichkeit geboten, ein Held zu sein, und wie in den Fällen des wütenden Battlefield-Spielers und der legitimen Freude an der eigenen Überlegenheit bietet sich hier auch eine Chance, emotional zu sein und sein Gegenüber – im spielerischen Rahmen – zu erniedrigen. Obwohl Alan Dundes sich in seiner psychoanalytisch informierten Auseinandersetzung mit männlichem Wettkampfverhalten nicht mit digitalen Spielen befasst, hätte er hier Varianten der symbolischen Entmannung des Gegners entdecken können. Etwa, wenn dem Verlierer hämisch Mitleid bekundet wird und ihm der Sieger provokant den Kopf streichelt, oder wenn ein Jugendlicher seinen Gegner während einer Partie League of Legends (Riot Games, 2009) als »Pussy-Boy« bezeichnet. Der traditionell männliche Wettkampf des Mehr-Könnens und -Wissens endet, wie das Spiel als Erfahrung, nicht mit der virtuellen Konfrontation. Wer sich mit Spielen und der dazugehörigen Sprache und Logik nicht auskennt, muss sich der Hilfe erfahrener Spieler oft erst als würdig erweisen. In der Beobachtung spielender Jugendlicher, aber auch von Erwachsenen und von OnlineKonversationen fällt auf, dass Fachwissen nicht ohne weiteres weitergegeben wird. Spielt jemand schlecht, wird ihr oder ihm schnell der Controller aus der Hand genommen und online wird gegenüber schlechteren Spielenden nicht mit Beleidigungen – häufig Äußerungen der Verweiblichung – gespart. Und selbst konkrete Fragen nach Spieldynamiken, aber auch nach der Bedeutung spezifischer Begriffe, werden nicht immer bereitwillig beantwortet. Gaming-Wissen ist ein erarbeitetes Kapital, das oft nur geteilt wird, wenn dessen (männlicher) Besitzerer sein Gegenüber als seiner Hilfe würdig empfindet und/oder sich davon einen Vorteil erhofft; sei es, indem er sich zum Lehrmeister erhebt oder weil er sich eine fähige Mitspielerin oder einen fähigen Mitspieler erhofft. Verweise auf die Narration beziehen sich in der Beantwortung der Frage nach besonders emotionalen, heroischen oder erinnerungswürdigen SpielErlebnissen fast ausschließlich auf die Spielwelt oder auf tragische Ereignisse im Zusammenhang mit nicht von Spielenden gesteuerten Charakteren (NPCs 27). Zwar erklärten einige Interviewpartnerinnen und -partner die Faszination digitaler Spiele anhand des Spiels als erzählendes Medium, in diesen Fällen wurde aber immer wieder aus analytischer Distanz gesprochen und Geschichten wurden an ihrer Glaubwürdigkeit und der Raffinesse der Erzählung gemessen. Nicht einmal, wenn über die Spiele der eigenen Kindheit gesprochen wurde, wurde auf 27 NPC wird als gängige Abkürzung für non-player-character verwendet, also für Charaktere im Spiel, die nicht von Spielenden gesteuert werden.

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Heldenfiguren verwiesen. Aber wieder und wieder waren es die von Läubli und Sahli beschriebenen männlichen Tugenden des Entdeckens, Besiegens und der Zurschaustellung der eigenen Leistungsfähigkeit. Rene erzählte davon, dass er es schon früh genossen hatte, wenn andere ihm bei Spielen zusahen. Und Günther meinte zu Wing Commander (Origin Systems, 1990) einem der bedeutendsten Spiele seiner Jugend: »...da gibt’s keinen wirklichen Helden, nicht? Da bin ich der Held.« Es sind Sehnsüchte, die durchklingen, wenn Spieler über die Faszination des Spielens sprechen; Sehnsüchte nach dem großen Abenteuer, nach Herausforderungen, die gemeistert werden und deren Meister bewundert wird, nach der Möglichkeit, sich über andere zu erheben und bei gleichen Chancen und Bedingungen der Bessere zu sein. Und manchmal wird – wie von Michael weiter oben – die Erfüllung dieser Sehnsüchte den Erfahrungen im Arbeits- und Familienleben gegenübergestellt. Peter, der neben Arbeit und Hausbau nicht mehr zum Handballspielen kommt, beschreibt die Herausforderung in Spielen als notwendigen Ausgleich. Trotz akademischer Ausbildung und einer entsprechenden Anstellung bei einem großen Technikunternehmen bezeichnet er das Spielen von Online-Shootern als die einzige, nach Beendigung der Handball-Kariere verbliebene Tätigkeit, die ihn geistig »komplett« fordert und bei der er »hundert Prozent fokussiert sein muss«. Die Herausforderung im virtuellen Team-Spiel gegen reale Gegner motivierte ihn schon als Schüler, intensiv für Counter-StrikeTurniere (Valve, 2000) zu trainieren. Und auch hier begründet er seine Faszination, bezugnehmend auf die Kritik einiger Lehrerinnen und Lehrer an seinem Spielverhalten, mit den Worten: »Aber es war halt einfach teilweise fad in der Schule, muss man auch dazu sagen.«

S PIELPLATZ DER H ELDEN Digitale Spiele befriedigen eine Vielzahl von Bedürfnissen, und deren Großteil entspricht jenem traditionellen Bild der Männlichkeit, das sich, wirft man einen Blick auf Heldengeschichten in Unterhaltungsmedien, seit Thomas Hobbes nicht grundlegend geändert hat. Digitale Spiele erfüllen eine einzigartige Rolle, indem sie den Mythos dieser Männlichkeit auf die narrative Ebene weitertragen, während sie auf ludischer und sozialer Ebene jene Sehnsüchte kanalisieren, die durch diesen Mythos entstanden sind. Wie die Beispiele aus den Interviews in Ansätzen gezeigt haben, entsteht im Spiel als Erfahrung eine neue Ebene der Narration, die dem Spiel als Objekt noch nicht eingeschrieben ist. Sie erzählt von den Erlebnissen und Heldentaten der Spielenden. Und sie ist es, die als emotionale

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Erinnerung gespeichert und im passenden Umfeld weitererzählt wird. So erwähnten Shooter-Spieler in Interviews, dass sie besondere Leistungen oder amüsante Vorkommnisse im Spiel als Video in einer eigenen WhatsApp-Gruppe mit Gleichgesinnten teilen. Und mehrere Spielerinnen und Spieler des EinzelspielerFantasy-Rollenspiels Witcher 3 (CD Project RED, 2015) erzählten, dass sie ihre Erlebnisse in der durch Entscheidungen der Spielenden geprägten Spielwelt mit Freundinnen und Freunden diskutieren, die ebenfalls das Spiel gespielt haben. Herausragende Leistungen und Erlebnisse werden innerhalb der entsprechenden Gruppen auch von Zweiten und Dritten weitererzählt und verbreiten sich in Einzelfällen über Plattformen wie YouTube. Als Spielende eines Spiels, nicht als Figur in einem Spiel, sind Spielende Heldinnen und Helden ihrer eigenen Geschichte, in Welten, die allen dieselben Möglichkeiten bieten und in denen sich die Talentiertesten, Fleißigsten und Klügsten hervortun. »Nur im Phantasieerlebnis,« schreibt Pierre Bourdieu, »das den Sinn der gesellschaftlichen Wirklichkeit neutralisiert, nimmt die Sozialwelt die Gestalt einer für jedes mögliche Subjekt gleich möglichen Welt von Möglichkeiten an.«28 Und kein Medium zuvor hat so umfassende Möglichkeiten geboten, vom selben Objekt, von denselben Grundbedingungen ausgehend, auf ein Phantasieerlebnis einwirken und die gemachten Erfahrungen auch mit seinem sozialen Umfeld teilen zu können. Die Gleichheit des Ausgangspunktes, die weitgehend neutralisierte gesellschaftliche Wirklichkeit und die Messbarkeit und Kommunizierbarkeit von Leistungen machen digitale Spiele zu einem Spielplatz der Sehnsucht nach Heldentum. Deswegen sind sie gerade für Männer so bedeutsam, die sich mit Erwartungen eines Männlichkeitsbildes konfrontiert sehen, die sie außerhalb der Spiele oft nicht erfüllen können – nicht unbedingt aus einem Mangel an Fähigkeiten, sondern oft aus einem Mangel an Möglichkeiten. Spiele bilden nicht nur den Raum, sich vor anderen zu beweisen, hier darf auch noch geschrien, beschimpft und geflucht werden. Und jeder Versuch von außen, normierend einzugreifen, kann als Angriff auf diese Freiheit interpretiert werden, die hier so geschätzt wird. Denn es sind die von Bourdieu beschriebenen, gesellschaftlichen Wirklichkeiten, die es zunehmend erschweren, ein Mann zu sein, wie er eingangs beschrieben wurde. So erklären sich Tendenzen, diese Wirklichkeiten vom gemeinsamen Phantasieerlebnis fern zu halten. Phänomene wie die zu Beginn erwähnten drohenden Männer aus Barcelona sind in ein weit komplexeres Netzwerk aus sozialen Realitäten eingebettet, und um derartige Dynamiken in ihrer Gesamtheit zu fassen, bedarf es mehr als einer Analyse der Männlichkeitsbilder und der Spiele als Erfahrung. Ich bin aber 28 Bourdieu, Pierre: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987, S. 119.

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überzeugt, dass mit den hier angestellten Überlegungen auf einen zentralen und bislang wissenschaftlich kaum bearbeiteten Aspekt hingewiesen werden konnte. Um hier abschließend zu einem möglichst zutreffenden Gesamtbild zu gelangen, ist es notwendig, noch einmal zu Miguel Sicart und seinen Ethics of Computer Games zurückzukehren. Er führt in aller Klarheit vor Augen, dass Spielerinnen und Spieler digitaler Spiele keine passiven Kreaturen sind 29, sondern dass sie Inhalte ihres Moralverständnisses reflektieren und hierzu in Relation setzen. Selbstverständlich geraten das Spieler_in- und das Körper-Subjekt in Konflikt, wenn im Spiel Handlungen vollzogen werden, die außerhalb des Spiels als ethisch fragwürdig gelten. Und gerade in diesen Konflikten sieht Sicart das Potenzial zur Reflexion der eigenen Handlungen und Urteile. Demnach wäre es zu kurz gedacht, zu meinen, Spieler würden die im Spiel erlebten und erprobten Männerbilder unreflektiert in ihr Leben außerhalb des Spiels übertragen. Ganz im Gegenteil wiesen sie in den Interviews immer wieder auf die von Sicart beschriebenen Konflikte hin und diskutierten Spiel-Handlungen vor dem Hintergrund ihres übergeordneten moralischen Empfindens. Michael reflektierte wie beschrieben seine im Spiel erlebten Wutausbrüche und Ewald, ein Sozialpädagoge und Jungvater hinterfragte im Interview, warum ihn als deklarierten Pazifisten Waffen im Spiel durchaus faszinieren. Ein wertvoller Hinweis auf einen weiteren erklärenden Zugang kommt von Hans-Joachim Backe, der auf den von Berthold Brecht eingeführten Verfremdungseffekt im Theater verweist30. Um das Publikum im Theater zum aktiven Mitdenken anzuregen und die Wahrnehmung der Handlungen der Bühnenfiguren als selbstverständlich und schicksalhaft zu durchbrechen, experimentierte Brecht mit neuen Formen der Darstellung31. Entgegen der Idee der klassisch aristotelischen Dramatik wollte er Irritationen schaffen, die eine gewisse Distanz zwischen den Zuschauer_innen und der Handlung des Stücks herstellen. Diese Distanz soll wiederum dazu anregen, über Alternativen nachzudenken; zu sehen, dass zwar die Figur auf der Bühne eine gewisse Reaktion auf eine bestimmte Situation zeigt, dass es aber auch andere Handlungsmöglichkeiten gegeben hätte. »Verfremden heißt also Historisieren,« um es mit Brechts Worten zu sagen, »heißt Vorgänge und Personen als historisch, also als vergänglich darstellen.«32

29 M. Sicart: The Ethics of Computer Games, S. 4. 30 H. Backe: Entfremdete Pixelhelden, S. 41. 31 Brecht, Bertold: Gesammelte Werke. Band 15, Schriften zum Theater I, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1967, S. 302. 32 Ebd.

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Vergleicht man das Konzept des Verfremdungseffektes von Brecht mit der weiter oben beschrieben Beziehung von Spieler_in-Subjekt zum Avatar und über ihn zur Spielwelt, wird klar, dass digitale Spiele gar nicht anders können, als Brechts Konzept umzusetzen. Die Möglichkeit, auf ludischer Ebene in die Narration einzugreifen, führt vor Augen, dass Geschichten auch einen anderen Lauf nehmen können als den im Vorhinein konzipierten. Und die daraus folgenden Überlegungen führen die Spielerin oder den Spieler als moralisches Körper-Subjekt fast zwangsläufig zur Reflexion der Wirkung von Entscheidungen. Spiele wie The Witcher 3 oder Fallout 3 (Bethesda, 2008) verlangen von den Spielenden, ethisch relevante Entscheidungen zu treffen, ohne sie wissen zu lassen, was aus diesen Entscheidungen resultiert. In mehreren Interviews erzählten Spielerinnen und Spieler, dass sie in derartigen Spielen durchwegs versuchen, gut, also moralisch richtig zu handeln. Und obwohl sie in den meisten Fällen nicht ausprobieren, wohin eine andere Entscheidung geführt hätte, legten sie Wert darauf, die Wahl gehabt zu haben und somit für den Verlauf der Handlung Verantwortung zu übernehmen. Die Möglichkeit, in Spielen moralisch fragwürdige Entscheidungen zu treffen, ist demnach ebensowenig zu verurteilen, wie die Option, mit Geschlechterstereotypen zu experimentieren, sofern das Spiel als Erfahrung die Möglichkeit bietet, die getätigten Handlungen zu reflektieren33. Ganz im Gegenteil können Spiele – wohl effektiver als andere Formen erzählender Medien – Räume zur Erprobung von moralischem Handeln und für eine aktive Auseinandersetzung damit schaffen. Notwendig ist dafür ein verantwortungsvoll designtes Spiel als Objekt, aber in erster Linie ein reflektiertes Körper-Subjekt, dass Geschehnisse in der Spielwelt vor dem Hintergrund außerhalb des Spiels geltender Normen beurteilt. In der Beobachtung von Spielenden und ihrem sozialen Umfeld entsteht, ebenso wie in der Auseinandersetzung mit feministisch informierten sozialwissenschaftlichen Zugängen, der Eindruck, der traditionellen Männlichkeit, wie sie etwa Läubli und Sahli beschreiben, seien schneller die Entfaltungsräume verloren gegangen, als viele Männer sich an die neuen Gegebenheiten hätten anpassen können. Während diese sich also weiterhin bemühen, den Anforderungen des beschriebenen Männlichkeitsbildes zu entsprechen, werden die Räume, die sie dazu nutzen können, immer seltener. Für diese Anpassung bedarf es der Reflexion und für die Reflexion wiederum der Auseinandersetzung mit den eigenen und vorgefundenen Geschlechterbildern. Letzteres ermöglichen digitale Spiele als Erfahrung. Hier ist die Welt häufig so, wie sie Hobbes und Dundes beschreiben, wo Männlichkeit demons33 Siehe dazu: M. Sicart: The Ethics of Computer Games, S. 49.

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triert wird, indem andere verweiblicht werden. Dass diese Welt von einer kleinen Gruppe mit erschreckender Aggression gegen Veränderungsversuche und Kritik verteidigt wird, ist demnach wenig überraschend. Verstört von diesen Eindrücken darf aber nicht übersehen werden, wie viele Spieler gerade von dieser Welt dazu angeregt werden, ihre Wutausbrüche, ihre überraschend aufkeimende Faszination für Waffen oder ganz einfach ihr Bedürfnis, ein Held zu sein, zu hinterfragen.

Autorinnen und Autoren

Anna-Kathrin Bartl studierte Europäische Ethnologie an der Karl-FranzensUniversität in Graz. Das Thema ihrer Masterarbeit lautet: »Die politischen Dimensionen von Antiziganismus. Eine kulturanalytische Perspektive auf Figurierungsprozesse und Ausschließungsmechanismen.« Michael Bittner ist gelernter Fotograf und studiert Europäische Ethnologie und Kulturanthropologie an der Karl-Franzens-Universität Graz. Zudem ist er Tutor für Feldforschung. Seine Schwerpunkte liegen in den Masculinity- und CulturalStudies, der Visuellen Anthropologie, der Autoethnographie, der Amerikanisierung und der Mediatisierung. Karl Braun ist Professor für Europäische Ethnologie/Kulturwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg. Schwerpunkte: Kulturanthropologie Spaniens, Deutschland – Tschechien, Gender und Sexualitätsgeschichte, Geschichte der Jugend. Aktuelle Publikation: Braun, Linzner, Khairi-Taraki (Hg.), Avantgarden der Biopolitik. Jugendbewegung, Lebensreform und die Strategien biologischer »Aufrüstung«. Göttingen 2017. Lisa Erlenbusch ist Germanistin und Kulturanthropologin. Sie arbeitet als wissenschaftliche Projektmitarbeiterin an der Karl-Franzens-Universität Graz. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Bauernkrieg, Nachlässe und Alt-Wiener Volkstheater. Aktuelle Publikation: ERBE_N. Macht – Emotion – Gedächtnis. Weitra 2018, hg. mit Burkhard Pöttler. Barbara Frischling ist Kulturanthropologin. Sie arbeitet als Universitätsassistentin am Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Universität Graz. Ihre Schwerpunkte liegen in der digitalen Alltagskulturforschung, methodischen Überlegungen zum Forschen in, mit und über Digitales sowie Populäre Kulturen. Aktuelle Publikation: Vertrau mir und beweg dich! Notizen zu

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Fitness-Tracking, Ordnungen und Misstrauen. In: Kuckuck. Notizen zur Alltagskultur, 01/16, 2016, S. 12-17. Karin Graf-Boyko ist Kulturanthropologin und derzeit Studienassistentin am Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Karl-FranzensUniversität in Graz. Ihre Forschungsschwerpunkte: Visuelle, Medizinische und Historische Anthropologie. Im Rahmen ihrer Bachelorarbeit stand die Untersuchung materieller Kultur in Erbvorgängen auf Bauernhöfen des 18. Jahrhunderts im Zentrum. Aktuell erforscht sie für ihre Masterarbeit das Zeitempfinden bei Menschen im Ruhestand. Basilius J. Groen ist ordentlicher Professor am Institut für Liturgiewissenschaft, Christliche Kunst und Hymnologie, Karl-Franzens-Universität Graz. Dort hat er auch den UNESCO-Lehrstuhl für den interkulturellen und interreligiösen Dialog in Südosteuropa inne. Renate Hansen-Kokoruš ist Professorin für Slawistik (russische und bosnische/kroatische/serbische Literatur- und Kulturwissenschaft) an der KarlFranzens-Universität Graz. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u.a. Identitätsmodelle in Literatur und Film, Chronotopos der Rückkehr, Satire und Komik. Aktuelle Publikation: Satire und Komik in der bosnischen, kroatischen, montenegrinischen und serbischen Literatur. Hamburg 2018. Theresia Heimerl ist Religionswissenschaftlerin. Sie arbeitet als ao. Professorin für Religionswissenschaft an der Universität Graz. Ihre Schwerpunkte liegen in Religion und Film/TV, Religion und Gender, Europäische Religionsgeschichte. Aktuelle Publikation: Himmlische Frauen. Nonnen in Film und TV, Marburg 2017. Elisabeth Katschnig-Fasch (1947-2012) war Kulturanthropologin und Professorin am Institut für Kulturanthropologie & Europäische Ethnologie der KarlFranzens-Universität in Graz. Ihre Forschungsschwerpunkte: Geschlechterforschung, Lebensstil- und Wohnforschung, neoliberaler Gesellschaftswandel, Stadtanthropologie. Publikation: Das ganz alltägliche Elend. Begegnungen im Neoliberalismus. Wien 2003. Harald Koberg ist Medienpädagoge und Doktorand am Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Karl-Franzens-Universität Graz. Er forscht zu Repräsentationen des digitalen Spielens und deren Einfluss auf soziale Interaktionen.

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Toni Janosch Krause hat Europäische Ethnologie an der Karl-FranzensUniversität Graz und der Humboldt-Universität zu Berlin studiert. Er war bis 2017 Studienassistent am Grazer Institut für Europäische Ethnologie und Kulturanthropologie und lebt derzeit in Berlin. Seine Forschungsschwerbunkte sind Populärkulturen, sowie Forschungsethik und -methoden. Gerald Lamprecht ist Historiker und Leiter des Centrums für Jüdische Studien der Karl-Franzens-Universität Graz. Seine Forschungsschwerpunkte sind jüdische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, die Geschichte des Antisemitismus, Geschichte des Ersten Weltkriegs sowie NS-Herrschaftssystem, Verfolgungsgeschichte der Jüdinnen und Juden, Vermögensentzug und Gedächtnisgeschichte. Derzeit befasst er sich mit der Erfahrungs- und Erinnerungsgeschichte des Ersten Weltkrieges aus jüdischer Perspektive. Aktuelle Publikationen: gem. mit Heimo Halbrainer Nationalsozialismus in der Steiermark. Opfer – Täter – Gegner, 2015; Hg. Geschon Schoffmann. Nicht für immer. Erzählungen, 2017; The Remembrance of World War One and the Austrian Federation of Jewish War Veterans, in: Quest. Issues in Contemporary Jewish History. Journal of Fondazione CDEC 9, 2016, 122-143. Stephan Moebius ist Soziologe und Kulturwissenschaftler. Er arbeitet als Universitätsprofessor für Soziologische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Graz. Schwerpunkte: Geschichte der Sozialwissenschaften, Soziologische Theorie, Kultur-, Religions- und Intellektuellensoziologie. Aktuelle Publikation: Handbuch Geschichte der deutschsprachigen Soziologie, 2 Bde. Hg. mit A. Ploder, 2017. Marion Näser-Lather ist Europäische Ethnologin und zur Zeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Gender Studies und Feministische Zukunftsforschung der Philipps-Universität Marburg tätig. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Gender Studies, Critical Military Studies, Protestforschung, Digitalisierung und Mediterranean Studies. Christian Neuhuber ist Germanist. Er arbeitet als Dozent für Neuere deutschsprachige Literatur am Nabl-Institut der Universität Graz. Seine Schwerpunkte liegen in der Literatur des Barock bis zur Gegenwart, Editionsphilologie, Theatergeschichte und Dialektkultur. Aktuelle Publikation: [mit S. Edler und E. Zehetner] Bairisch-österreichische Dialektliteratur vor 1800. Wien [2018].

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Johanna Nußbaumer hat Europäische Ethnologie und Pädagogik an der KarlFranzens-Universität in Graz studiert. Das Thema ihrer Masterarbeit lautet: »Antimuslimischer Rassismus und Ressentiments in Österreich. Eine Kulturanalyse.«. Sanja Potkonjak is an assistant professor at the Department of Ethnology and Cultural Anthropology, Faculty of Humanities and Social Sciences, University of Zagreb, Croatia. Her major interests are methodology, research ethics, postsocialism, deindustrialisation and aesthetics of memory. She has authored the book Teren za etnologe početnike [Fieldwork or apprentice ethnographers] (2014). Together with Nevena Škrbić Alempijević and Tihana Rubić, she has published the book Misliti etnografski. Kvalitativni pristupi i metode u etnologiji i kulturnoj antropologiji [Thinking Ethnographically. Qualitative approaches and methods in ethnology and cultural anthropology] (2016). Klaus Rieser ist ao. Univ.-Prof. für Amerikanistik an der Universität Graz, Österreich, wo er im Bereich der Kulturwissenschaft und der visuellen Kulturen forscht und lehrt. Er hat das Institut für Amerikanistik von 2007 bis 2013 und von 2016 bis 2017 geleitet. Seine Forschungsbereiche umfassen USamerikanischen Film, Repräsentationen von Familie, sozialem Geschlecht (Männlichkeit) und Ethnizität, sowie visuelle Kulturwissenschaft. Seine Bücher haben sich mit Migration im Film, Experimentalfilmen und Männlichkeit im Film beschäftigt. Mehrere Artikel und mitherausgegebene Bücher behandeln u.a. ikonische Figuren und kulturelle Kontakträume. Er ist Mitherausgeber der Buchreihe »American Studies in Austria« und ist momentan damit beschäftigt, diese in eine online Zeitschrift umzuwandeln. Johanna Rolshoven ist Empirische Kulturwissenschaftlerin und Professorin am Institut für Kulturanthropologie & Europäische Ethnologie der Karl-Franzens Universität in Graz. Ihre Forschungsschwerpunkte: Politische Anthropologie, Stadt-Raum-Kulturanalyse, Mobilitäten. Publikation: Dimensionen des Politischen. Ansprüche und Herausforderungen der Empirischen Kulturwissenschaft. Berlin 2018, hg. mit Ingo Schneider. Martin Scharfe, Dr. phil. habil., geb. 1936 in Waiblingen/Württemberg, lebt und arbeitet in Marburg an der Lahn. Hier an der Universität tätig bis 2001. Publikationen zu Kulturtheorie, Museums- und Ausstellungswesen, Frömmigkeitsgeschichte, Bilderwesen, Geschichte des Straßenverkehrs und des Alpinismus.

A UTORINNEN UND A UTOREN

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Im Druck: Das Herz der Höhe. Eine Seelen- und Kulturgeschichte des Bergsteigens. Ingrid Schlegl ist Übersetzerin für Englisch und Arabisch und Mediävistin. Derzeit arbeitet sie an ihrer Dissertation zum Thema Kampfverweigerung im Kreuzzugskontext und ist als Lektorin am Institut für Geschichte der Universität Graz tätig. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt in der Geschlechtergeschichte des Mittelalters mit besonderem Fokus auf die Masculinities-Studies. Christin U. Schmitz ist Masterstudentin der Europäischen Ethnologie und studentische Mitarbeiterin im Lehrbetrieb am Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Karl-Franzens-Universität Graz. Ingo Schneider ist Professor für Europäische Ethnologie an der LeopoldFranzens-Universität Innsbruck. Seine Forschungsinteressen liegen in den letzten Jahren auf den Feldern der Kulturtheorie/Theorie des Kulturellen Erbes, aber auch der Erzählforschung und der regionalen Kulturanalyse. Aktuelle Publikationen: Johanna Rolshoven/Ingo Schneider (Hg.) Dimensionen des Politischen. Ansprüche und Herausforderungen der Empirischen Kulturwissenschaft. Berlin: Neofelis 2018. – Zuvor: Ingo Schneider/Martin Sexl (Hg.): Das Unbehagen an der Kultur. Hamburg: Argument 2015. Dijana Simić ist Universitätsassistentin am Grazer Institut für Slawistik. Ihre Forschungsschwerpunkte bilden Identitätsnarrative in den postjugoslawischen Literaturen, postkoloniale und Geschlechter-Studien, Migrations- sowie Gedächtnisforschung. Publikation: Poetik des Nirgendwo – Ansätze interkultureller Migrationsliteratur. Hamburg 2015. Nevena Škrbić Alempijević is an associate professor at the Department of Ethnology and Cultural Anthropology, Faculty of Humanities and Social Sciences, University of Zagreb, Croatia. Her main research fields are anthropology of social memory, place and space, island studies, performance studies. Her publications include the book Grad kakav bi trebao biti: Etnološki i kulturnoantropološki osvrti na festivale [The Town as It Should Be: Ethnological and Cultural Anthropological Reflections on Festivals] (with Petra Kelemen, 2012), and the book Misliti etnografski. Kvalitativni pristupi i metode u etnologiji i kulturnoj antropologiji [Thinking Ethnographically. Qualitative approaches and methods in ethnology and cultural anthropology] (with Sanja Potkonjak and Tihana Rubić, 2016).

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Käthe Sonnleitner ist Mediävistin. Sie arbeitete als Professorin an der KarlFranzens-Universität in Graz. Ihre Schwerpunkte sind Sozialgeschichte, FrauenMänner-Geschlechtergeschichte und Stadtgeschichte. Aktuelle Publikation: Rezeption alttestamentlicher Frauenfiguren zur Legitimation weiblicher Herrschaft im frühmittelalterlichen Krönungsordo für Königinnen und Kaiserinnen, in: Irmtraud Fischer (Hg.): Genderforschung vernetzt, 20 Jahre Frauen- und Geschlechterforschung an der Kath.-Theologischen Fakultät der Universität Graz (=Theologie im kulturellen Dialog 31) 2016, 33-60. Kristina Vugdelija is an ethnologist and cultural anthropologist. She is doctoral student and assistant at the Department of Ethnology and Cultural Anthropology, University of Zagreb. Her research focus is on political anthropology and memory studies. Current (PhD) project: The Making of National Heroes in Contemporary Cultures of Memory in Croatia. Jeffrey D. Wilhelm is Distinguished Professor of English Education at Boise State University. He has authored 30 books about literacy teaching. He is the awardee of the NCTE Promising Research Award for You Gotta BE the Book and the Russell Award for Distinguished Research for Reading Don’t Fix No Chevys and for Reading Unbound. He is the founding director of the Maine and the Boise State Writing Projects. Justin Winkler ist Titularprofessor für Humangeographie an der Universität Basel. Er hat zur Geschichte des ländlichen Raumes, Ideengeschichte der Geographie, der Sinnesumwelt und Ästhetik gearbeitet. Er ist Coordinating Editor von Mobile Culture Studies. The Journal. Heidrun Zettelbauer forscht und lehrt am Institut für Geschichte der Universität Graz und koordiniert den dort angesiedelten Forschungs- und Lehrschwerpunkt Geschlechtergeschichte. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich Geschlechter- und Kulturtheorie, Geschlechtergeschichte, Nation, Körper, Autobiographie und Museologie. Aktuelle Publikation: Heidrun Zettelbauer et al. (Hg.), Verkörperungen | Embodiment. Transdisziplinäre Analysen zu Geschlecht und Körper in der Geschichte | Transdisciplinary Explorations on Gender and Body in History, Göttingen 2017.

Kulturwissenschaft María do Mar Castro Varela, Paul Mecheril (Hg.)

Die Dämonisierung der Anderen Rassismuskritik der Gegenwart 2016, 208 S., kart. 17,99 € (DE), 978-3-8376-3638-3 E-Book PDF: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3638-7 EPUB: 15,99€ (DE), ISBN 978-3-7328-3638-3

Fatima El-Tayeb

Undeutsch Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft 2016, 256 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3074-9 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3074-3

Arianna Ferrari, Klaus Petrus (Hg.)

Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen 2015, 482 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-2232-4 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2232-8

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kulturwissenschaft Rainer Guldin, Gustavo Bernardo

Vilém Flusser (1920–1991) Ein Leben in der Bodenlosigkeit. Biographie September 2017, 424 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4064-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4064-3

Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.)

POP Kultur & Kritik (Jg. 6, 2/2017) Oktober 2017, 176 S., kart., zahlr. Abb. 16,80 € (DE), 978-3-8376-3807-3 E-Book: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3807-7

Sonja Hnilica, Elisabeth Timm (Hg.)

Das Einfamilienhaus Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2017 Juli 2017, 176 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3809-7 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3809-1

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