Orte des Unheimlichen: Die Faszination verborgenen Grauens in Literatur und bildender Kunst 9783666451768, 3525451768, 9783525451762

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Orte des Unheimlichen: Die Faszination verborgenen Grauens in Literatur und bildender Kunst
 9783666451768, 3525451768, 9783525451762

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Schriften des Sigmund-Freud-Institus

Herausgegeben von Marianne Leuzinger-Bohleber und Rolf Haubl Reihe 2 Psychoanalyse im interdisziplinären Dialog Herausgegeben von Marianne Leuzinger-Bohleber, Rolf Haubl, Stephan Hau Band 2 Orte des Unheimlichen Die Faszination verborgenen Grauens in Literatur und bildender Kunst

Klaus Herding /Gerlinde Gehrig (Hg.)

Orte des Unheimlichen Die Faszination verborgenen Grauens in Literatur und bildender Kunst

Mit 70 Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.ddb.de› abrufbar. ISBN 10: 3-525-45176-8 ISBN 13: 978-3-525-45176-2 Umschlagabbildung: Hieronymus Bosch, Der Garten der Lüste (Ausschnitt), um 1500, Prado, Madrid. © 2006, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen. Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Klaus Herding Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Unheimliche Orte im Text ____________________________________

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Burkhardt Lindner Freud liest den Sandmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hélène Cixous Die Fiktion und ihre Geister. Eine Lektüre von Freuds Das Unheimliche . . .

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Julia Bernard Unheimliche Bilder im (post)romantischen Text: Balzac, die Brüder Goncourt, Zola . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Insa Härtel Autorität als Kipp- und Krisenfigur. Versuch über unheimliche, ambivalente und paradoxe Effekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Unheimliche Orte der Psyche __________________________________

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Dagmar von Hoff und Marianne Leuzinger-Bohleber Travestie des Unheimlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Rolf Haubl Depersonalisierung im Werk von René Magritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Thomas Röske Das Unheimliche an künstlerischen Werken psychisch Kranker. Verdrängtes bei Hans Prinzhorn und seinen Nachfolgern . . . . . . . . . . . . . . . 138

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Inhalt

Unheimliche Orte im Bild _____________________________________ 159 Stefan Germer Die Lust an der Angst – Géricault und die Konjunkturen des Unheimlichen zu Anfang des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Klaus Herding Finster, lauernd, ungreifbar – die vertraute Altstadt als Hort des Unheimlichen bei Charles Meryon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Mechthild Fend Geblähte Körper. Die Haut oder das Unverhältnis von Innen und Außen in den Porträts von J.-A.-D. Ingres . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 Gerlinde Gehrig Stiegengeschichten – Eine Illustration Alfred Kubins zu Der Sandmann von E. T. A. Hoffmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Margaret Iversen Im blinden Feld: Hopper und das Unheimliche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 Die Autoren und Autorinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300

■ Klaus Herding

Einleitung

Géricaults Pferde befremdeten Delacroix; es sei immer etwas Fratzenhaftes daran, bemerkte er. Dieses verzerrende, der Natur abgelauschte und doch über sie hinaustreibende Moment hat Stefan Germer bei Géricault als das Unheimliche erkannt, in dem wiederkehrt, was wir, als das verdrängte Heimliche oder Verborgene, nicht wahrhaben wollen, unsere eigene Fratze. Eine solche Innenschau hat mit einem esoterischen Blickwinkel oder mit Abkehr von gesellschaftskritischen Fragen wenig zu tun; sie liefert vielmehr, wie Willibald Sauerländer einmal formuliert hat, eine Sozialgeschichte von innen her und stellt eine wichtige Erweiterung kunstgeschichtlicher Mittel dar. Sie geht über das nur Psychologische weit hinaus. Mit bloßem »Psychologisieren« hat Emotionsforschung so viel zu tun wie Quacksalberei mit ärztlicher Kunst. Diese tiefere Fundierung bedarf der Psychoanalyse – und sei es nur, um sich mit ihren Methoden auseinanderzusetzen. Denn wenn etwas in uns ›rumort‹, ist das Unbewusste mit im Spiel. Die in uns verborgenen Gefühle, vor allem das der Angst, können unheimlich auf uns wirken. Dieses Phänomen war auch ein Ausgangspunkt für Freuds grundlegenden Aufsatz von 1919, seinen Versuch, Patienten vom Albdruck des Unheimlichen zu befreien. Freuds These, das Unheimliche sei die Wiederkehr des verdrängten Vertrauten, hat nichts von ihrer Gültigkeit verloren. Sie bildet, was oft verkannt wird, auch das Fundament für Horkheimers und Adornos Theorie von der Wiederkehr des von der Ratio verdrängten Mythischen, das, seit der Aufklärung gezähmt und verbannt, im Nationalsozialismus und, weniger eindeutig, in der darauf folgenden Phase der Kulturindustrie, mit Gewalt zurückschlage. Auch Freud ging von einer Wiederkehr des Verdrängten aus, wobei er die Rückkehr infantiler Verhaltensmuster vom Rückfall in zivilisatorisch überwunden geglaubte Phasen der Entwicklung der Menschheit zu trennen versuchte. Alle drei Autoren verfolgten damit die Absicht einer neuen, befreiten, Selbstkonstituierung des Subjekts. Für den Kunst- und Literaturhistoriker ist diese Befreiungsreflexion nicht nur Therapie, sondern Ausgangspunkt einer kritischen Analyse von Bildern und Texten, die oft davon leben, zu beschönigen, zu vertuschen, zu verwischen, zu verklären, was an Unheimlichem, an Unaussprechbarem, an Unangenehmem unter der Oberfläche liegt. Da die Künstler diese unter der Oberfläche liegende Ebene aber kennen oder ahnen, bricht sie hier und da hervor und wird damit der Analyse zugänglich.

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K. Herding · Einleitung

Ohnehin ist das Unheimliche, wenn wir es als eine dunkle untere Schicht bezeichnen, nur ein Sonderfall der emotionalen Struktur jenes ästhetischen Bereichs, den Baumgarten schon 1750 als den dunklen, verworrenen bezeichnet hat, gegenüber dem rationalen der logischen Erkenntnis, als einen Bereich aber, der das Weltganze zusammenhalte und umfasse. Gefühle, Passionen, Affekte sind nun einmal ein wesentlicher Teil des gesellschaftlichen Lebens. Das emotionale Defizit, das in den Großstädten der Gegenwart herrscht, verstärkt das Untergründige, das von unten her unkontrolliert Hervorbrechende noch. Um so mehr tut es Not, die Gewalt solcher Gefühle über bloße Implosionen hinauszuführen und sie zu verstehen. Wenn hohe Würdenträger unseres Staates sagen, Politik sei nur Gefühlsmassage, so zeigt sich selbst noch in dieser flachen Umkehrung unserer Analyse die gesellschaftliche Relevanz emotionshistorischer Forschung. Viele Kunsthistoriker, die nur die stilistischen Mittel oder die ikonographischen Konventionen zergliedern, haben dies vergessen; große, kritische Fachkollegen wie Wölfflin und Warburg allerdings nicht. Insofern greift das von mir gegründete (1995 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft genehmigte) Graduiertenkolleg Psychische Energien bildender Kunst auf eine bedeutende, teilweise auch politisch verschüttete Tradition zurück, die wir nicht nur pflegen, sondern über die 1920er und auch über die 1970er Jahre hinaus weitertreiben wollen. Nicht von ungefähr haben die Nationalsozialisten, von ihrer Warte aus gesehen mit gutem Grund, die Analyse der Gefühle, und damit die Psychoanalyse und eine kritisch fragende Kunstgeschichte im Sinne der Warburg-Schule, als subversiv bewertet und verboten; mancherorts in Deutschland scheint den Zeitgenossen Gefühlsanalyse noch heute suspekt – oder eben unheimlich – zu sein. Manche halten unser Tun gar für eine Abkehr von der kritischen Kunstgeschichte. Sie haben nicht bemerkt, dass wir uns zum Beispiel um die emotionalen Antriebsfedern von Widerstand und Zivilcourage kümmern, dass wir Warenwerbung untersuchen, indem wir deren subkutane Gefühlsmanipulierung (und deren oft produktiven Umgang mit Gefühlen) aufdecken, oder dass wir, Ernst Kris weitertreibend, politische Karikaturen analysieren, indem wir deren traumanaloge Strukturen offenlegen. Doch die gesamte Kunst- und Literaturgeschichte, die des Mittelalters nicht weniger als die der Neuzeit, ist voller heimlicher Unheimlichkeit, die Romantik eines Victor Hugo nicht weniger als der Surrealismus eines André Breton, der frühe Cézanne ist davon nicht weniger erfüllt als Anselm Kiefer oder Gerhard Richter: Das Unheimliche ist eine der Grunderfahrungen der Moderne, der sich ein emotionsanalytisches Graduiertenkolleg notwendig stellt. Von den nachfolgenden Beiträgen sind die beiden ersten von grundlegender Bedeutung, weil sie Freuds Text selbst analysieren, und zwar auf ebenso unterschiedliche wie verwandte Art: Sie dekonstruieren ihn, loten Freuds Interessen aus, decken seine Ungewissheiten auf und führen ihn über den Autor hinaus,

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dessen Thesen mehr als brüchig erscheinen, aber doch allen Anlass bieten zu fortdauernder Faszination. Lindners sehr kritische Interpretation kreist um Freuds Bemühung, die Evidenz eines besonderen Gefühls des Unheimlichen nachzuweisen und dadurch infantile Kastrationsängste strukturell zu bestimmen. Indem er das Unheimliche mit der Traumdeutung und der Schrift Jenseits des Lustprinzips verknüpft, gelingt dem Literaturwissenschaftler eine Relecture, die den Dualismus von Todes- und Lebenstrieben als Freuds eigenes Problem herausarbeitet. Zweifellos erschwert Freuds Oszillieren zwischen der ontogenetischen und der phylogenetischen Wiederkehr des Verdrängten jede eindeutige Rezeption seiner Schrift; ohne jeden Zweifel aber bietet gerade diese Mehrdeutigkeit Anlass zur weiteren Ergründung des Unheimlichen in Texten und Bildern. Hélène Cixous fasst das Phänomen des Unheimlichen als einen ›Dialog‹ mit dem Tod auf. Sie sieht die Anstößigkeit von Freuds Abhandlung bereits im Begriff des Unheimlichen selbst begründet, dessen Ränder für sie unfassbar sind. Spiegelt sich in der Analyse der Verdrängung, fragt sie, nur eine Verdrängung Freuds selbst, der in seiner Abhandlung zugleich die Rolle des Analytikers wie des Analysanden besetzt? Wird der Leser zum Sandmann, streut Freud ihm Sand in die Augen? Macht Freud E. T. A. Hoffmann unbewusst zu seinem eigenen Doppelgänger? Man muss diese irritierenden Fragen (wie ein Stück Poesie) als Ganzes lesen, um sie zu fassen. Gleichwohl ist die Schlussfolgerung – jede Analyse des Unheimlichen sei durch Verdrängung markiert, weil etwas ungewiss Auftauchendes abgewiesen werden muss – auch für jede weitere wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema zu bedenken. Literarische Texte stehen auch im Mittelpunkt des Beitrags von Julia Bernard. Was Sartre für Flaubert geleistet hat, eine Analyse der Familienverhältnisse des Poeten als Schlüssel zum Verständnis seiner Ausgrenzung, das beschäftigt sie am Beispiel Balzacs und Zolas. Das Phänomen des Unheimlichen verweist strukturell auf gesellschaftlichen Ausschluss, aber auch auf eine Perspektive, aus dessen Blickwinkel (coin) das Disparate, das nicht Normative, das den Beobachtenden selbst bedrängende, weil noch nicht erklärbare, Unheimliche, erstmals beschrieben werden kann. Man kann also, so die These, des Unheimlichen erst gewahr werden, wenn man sich der Gesellschaft gegenüber stellt. Die leidvolle Prämisse dafür ist oft die Erduldung der Exklusion, unter der auch Meryon litt: Fluch und Chance zugleich. Alles Gefestigte, jede Autorität, gerät dadurch ins Wanken. So ist der Verlust der Vaterfigur, der Blick in den Abgrund eines ungeschützten, unbehausten, also unheimlichen Daseins, der Preis der Wahrnehmungsinnovation. Mit ihrer Frage nach der Autorität schließt Insa Härtel indirekt an Cixous’ Problematisierung der Vaterfigur Freuds an. Autorität suggeriert ihr zufolge geheimes Wissen, und dieses Verborgene wirkt sich als unheimlich aus. Zugleich fungiert Autorität als Macht, kulturelle Ordnungen heimisch zu machen, zu stabilisieren. Die Setzung von Autorität aber muss verborgen bleiben, kann und darf sich nicht begründen, um wirksam zu bleiben. Unheimlich ist so das Wirken

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von Autorität selbst ebenso wie, erst recht, deren Vernichtung (z. B. bei der Hinrichtung eines Herrschers), da sich so das Gesetz gleichsam gegen das Gesetz selbst wendet und jede Sicherheit schwindet. Im Künstlerkult wird nun das unheimliche Bild des Vaters in seiner Paradoxie sichtbar gemacht oder aber perpetuiert. Eine Annäherung an diese Problematik wird mit Hilfe von Kierkegaard und Sarah Kofman versucht. Nicht nur die Vaterfigur, sondern die Person überhaupt gerät ins Wanken, wo die Ränder unfassbar werden und das Vertraute unvertraut wird. Dies kann durch den Filter psychoanalytischer Erkenntnisse mitunter noch schärfer bestimmt werden. In diesem Sinne konstatiert Rolf Haubl bei Magritte eine Depersonalisierung par excellence. Zwar entsteht durch die Übersetzung einer unheimlichen Erfahrung ins Bild Distanz; dadurch verliert das Unheimliche seinen Schrecken (gegenüber seiner ›realen‹ Erfahrung). Aber der besondere Fall des Spiegelbilds hat andere Auswirkungen, die ein spezifisches Licht auf das Phänomen des Unheimlichen werfen; das Spiegelbild führt zu Irritationen, die bis zur Depersonalisierung reichen können. Dieses Erlebnis wird als unheimlich registriert. Indem Magritte dies problematisiert, nimmt er innerhalb der philosophischen und künstlerischen Tradition des Abendlandes einen neuen Standpunkt ein, durchbricht er Konventionen, wird er sozusagen zum Therapeuten, der den Schein des Abbilds produktiv zerstört. Indem Magritte den Schriftsteller Edward James bildlich depersonalisiert, fügt er ihm eine extreme narzisstische Kränkung zu, die aber zugleich über die gefährdete Position des Individuums in der Massengesellschaft aufzuklären beansprucht. Es fragt sich auch, ob die gemalten Depersonalisierungen auf Magritte selbst verweisen. Seine mit Unheimlichem durchsetzte Kindheitsgeschichte liefert Anhaltspunkte hierfür. Offenbar sind selbstschützende Verhüllung und befreiende Enthüllung sein Ziel, womit Magrittes Reproduktion verboten als entwicklungsgeschichtliche Modellszene zu deuten wäre. Es scheint, dass gerade die Psychoanalyse heute eher spielerisch mit Freud umgeht, als dass sie seine Lehren befolgte. Die paradoxe Rede vom unvertrauten Vertrauten hat sich als fruchtbar erwiesen, also wird sie benutzt, aber Freuds These vom kindlichen Kastrationskomplex als dem eigentlichen Ort des Unheimlichen wird nur bedingt aufrecht erhalten. So verweisen Marianne Leuzinger-Bohleber und Dagmar von Hoff weniger auf Freuds als auf Lacans These, wonach nicht die Trennung von der Mutter, sondern das Fehlen dieser Trennung jene Angst verursacht, die das Erlebnis des Unheimlichen erzeugt. Offenbar wird dieses in Boteros adipösen, schablonenhaft kindlichen Gestalten reflektiert. Diese Köpfe und Körper von Erwachsenen, die trotz aller Statik ihren Bildraum zu sprengen drohen, wirken unheimlich, ungewohnt und abstoßend, weil sie die Erwartung an das Bild vom Erwachsenen stören. Ihre künstliche Kindlichkeit und Fülle legt nahe, an deformierende Kindheitserlebnisse der Dargestellten oder des Künstlers zu denken. Ob aber die Verarbeitung des Traumatischen hier

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gelingt oder das Unheimliche nur als Verfremdungseffekt eingeführt ist (d. h. nur phänomenologisch in Erscheinung tritt), bleibt mit Recht offen: Grau (Tod) steht gegen Buntheit (Leben); keine Seite dominiert. Botero propagiert eine dualistische Weltsicht, die bei allen Momenten der Travestie und der Groteske Trauerarbeit leistet, darin der lächelnden Mona Lisa vergleichbar. Künstlerische Werke psychisch Kranker werden oft als unheimlich apostrophiert. Prinzhorn ist Kind seiner Zeit, wenn er das Fehlen rationaler Kontrolle in solchen Werken als Zeichen der Überlegenheit rühmt; er rekurriert damit auf das automatistische Verfahren, die écriture automatique, der Surrealisten. Doch zugleich ist ihm diese Produktion unheimlich, und zwar in Gegenstand und Form, da außerhalb der eigenen gesellschaftlichen Normen angesiedelt. Die Erlebnisgrundlage der Kranken ist ihm fremd, ebenso aber auch die daraus resultierende Deformation, bezogen auf das ihm Vertraute. Das hat Auswirkungen auf den Beruf, die Freud sich noch nicht eingestehen mochte: Prinzhorn scheitert bei der Entschlüsselung der Bilder psychisch Kranker als Analytiker, sieht sich ihnen wehrlos ausgeliefert. Doch eben davon ist er fasziniert. Wie Thomas Röske nachweist, resultiert diese ambivalente Dämonisierung jedoch aus der Nichtbeachtung der Lebensgeschichte der Kranken und ihrer künstlerischen Quellen. Erst aus deren Verdrängung ergibt sich der Eindruck des Unheimlichen. Stefan Germer hat das Thema anders fokussiert. Im Unheimlichen erkennt er eine überschüssige Energie, die sich nicht einfrieden lässt, sondern in den ›normalen‹ Alltag und in die Welt der Bilder übergreift. Unheimlich sind nicht Bilder von Toten, sondern deren ›Lebendigkeit‹, geboren aus der Fähigkeit des Künstlers, den Tod zu demonstrieren und zugleich zu negieren – Grenzverwischungen zu erzeugen, die Kontrollverlust nach sich ziehen, Begriffe außer Kraft setzen, verwirren. Géricault inszeniert unterschiedliche Modi solcher Grenzgefühle, die sogar von der Zerstückelung der Glieder bis zur Anmutung von Zärtlichkeit hinüberreichen. Aber diese Ambivalenz und der mehrdeutige Konnotationsrahmen Géricaults (wollte er das Strafrecht beeinflussen, psychologische Etüden schaffen, mit der Lust des Publikums am Schauderhaften spielen?) löst im Betrachter fortwährende Irritationen aus. Was Géricault damit beschwört, ist das Bild der bedrohlichen Natur – die Überlegenheit des Menschen wird ausgehebelt. Diese Umkehrung wird im Vergleich von Géricaults Pferdeköpfen mit denen von Stubbs überdeutlich. Gesteigert manifestiert sich das Unheimliche als Grenzerfahrung im Kinderbildnis der Zeit. Schwer geworden, mit Bedeutung überfrachtet, scheint das Kind als Opfer seinen Peiniger zu diagnostizieren. Der altkluge Blick von Géricaults Kindern verweist auf ein untergründiges, nicht visualisierbares Wissen, das dem erwachsenen Betrachter den Boden unter den Füßen entzieht, ihm unheimlich vorkommen muss. Das Zergliedern, Verrücken, aus dem gewohnten Rahmen Rücken, ist offenbar ein Bindeglied der Beobachtungen zum Unheimlichen in diesem Band. Einer der maßgeblichen Kunstkritiker des 19. Jahrhunderts, Théodore Silvestre, hat dieses

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Phänomen der Deformation bei Ingres bemerkt; er hat daran Anstoß genommen, doch ging er nicht so weit, es als unheimlich zu bezeichnen. So blieb die nähere, psychoanalytische, Bestimmung dieses Bruches bei Ingres Mechthild Fend vorbehalten. Was hat die Verstörung des Kritikers ausgelöst? Offenbar die Verletzung der Integrität des Körpers, der für Ingres immer auch Ausdruck der Seele war. Als unheimlich erscheint diese Verletzung, weil dadurch das »Haut-Ich« gestört wird. Der Kontur bezeichnet damit nurmehr die Umschließung einer leblosen Hülle. Die Haut wird zu einer Art künstlicher Pelle, so dass ihr vertrauter, intimer, Ausdruck ins Unvertaute, Unheimliche (»extime«) umschlägt. Die so entstehende Leere ist das eigentlich Befremdliche, die emotionale Ausstrahlung der Haut wird verweigert; den Betrachter fröstelt. Inwiefern dieses Problem in der Epoche oder auch nur in Ingres’ Sozialisation begründet ist, bleibt hier wie auch bei den weiteren Bildanalysen offen; doch steht diese Art von Forschung so sehr am Beginn, dass mit einer phänomenologischen Beschreibung schon viel gewonnen ist. Wahrscheinlich hat unter der Restauration der äußere Zwang, an einer Hülle festzuhalten, die längst »passé« war, den inneren Zwang, an einer ästhetisch künstlichen, gleichsam gefrorenen Form festzuhalten, begünstigt. Bei Charles Meryon, einem Zeichner und Radierer aus dem Kreis um Baudelaire und Bracquemond, zeigt sich das Phänomen des Unheimlichen oft in verdeckter Form – es verbirgt sich hinter der mehrdeutigen Struktur einer Oberfläche, die, glasklar gezeichnet, im Duktus zugleich vielfache Brüche (Abbrüche), Inkonsequenzen, Disproportionen und ungewisse Dunkelzonen aufweist und dadurch Irritationen auslöst. Gegenstand und Motivation dieser Verunsicherung blieben verborgen, lägen nicht in anderen Zeichnungen offenkundige Verstörungen vor – riesige Luftgeschwader oder unersättliche Vampire als Wasserspeier –, die sowohl auf eine Neurose des Künstlers als auch auf den von ihm als Bedrohung empfundenen Umbruch des lebendig-toten, alten Paris Mitte des 19. Jahrhunderts deuten. So haben wir hier den einzigartigen Fall vor uns, dass ein Künstler vor Freud die persönliche und zeitgeschichtliche Verängstigung als eine latente, ihm ungreifbare (daher seine persönliche und soziale Existenz von den Rändern her angreifende) Bedrohung aufnimmt und im graphischen Strich zu bearbeiten versucht, den Albdruck des Unheimlichen jedoch angesichts noch fehlender Therapiemöglichkeiten nicht abschütteln kann. Gerlinde Gehrig untersucht paradigmatisch eine Illustration Alfred Kubins zu E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann, Freuds zentraler Referenzerzählung. Mithilfe von Freuds These von der Existenz einer »Urphantasie« ist diese Zeichnung, ein Blatt von hoher psychischer und ästhetischer Subtilität, erst richtig zu deuten. Ganz konkret lässt sich nachweisen, dass unruhige Schraffuren und Schatten die Mittel sind, den Betrachter zu verwirren und in ihm das Gefühl des Unheimlichen hervorzutreiben. Die Grenzen zwischen Innen- und Außenwelt lösen sich in diesem Verwirrspiel auf. Wie schon bei Goya und bei Meryon werden psychische Ängste durch graphische Irritationen materialisiert. Indes wird keine gräss-

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liche Handlung gezeigt, wohl aber die Vorahnung eines möglichen Mordes oder der atmosphärische Nachhall einer Vergewaltigung, die man nicht sieht, suggeriert. Der Ort des Unheimlichen ist also durch lokale und zeitliche Ungewissheit charakterisiert. Zudem übersetzt der Zeichner bedrohliche akustische Signale, die für Freud zur Gewalt einer Urszene gehören, in die Sprache des Visuellen. Beunruhigende Traumsymbole (wie Hinauf- und Hinabsteigen) werden in diesem Kontext entschlüsselt und durch weitere Bilder und Schriften, auch von Kubin selbst, untermauert, so dass ein dichtes, vorher nirgendwo geknüpftes Argumentationsnetz gespannt wird, in dem das Unheimliche sich analytisch erstmals einfangen lässt. Margret Iversen geht aus von der Anmutung des Unheimlichen bei den Young British Artists. Als Paradigma fungiert Rachel Whitereads Rauminstallation Ghost. Darin wird das Gefühl der überstarken Präsenz einer doch abwesenden Person suggeriert. Der Raum wirkt vertraut, aber niemand ist da, niemand macht von den alten Möbeln Gebrauch. Von da aus wird der Blick auf Edward Hopper gerichtet. Seine Bilder zeigen: Die intime Beziehung zu den von Kindheit an vertrauten Gegenständen wird vom Leben zerstört, kehrt dann aber als verdrängtes Stückgut in dämonisch-unheimlicher Vision zurück. Das Signifikat dafür ist Düsternis oder harte Lichtführung (was Hopper der Gattung des Film noir entlehnt hat), aber auch Reduktionen des Gegenstands bis hin zu seiner Entleerung oder seine Wiedergabe in Form bleierner Banalität (denn gerade das Konventionelle kann, wenn es erst einmal verdrängt war, unheimlich wirken). Die Tatsache, dass Hopper öde Verschiebebahnhöfe und trostlose Betonwände wählte und ihnen die Anmutung von Langeweile, Flüchtigkeit und Irrelevanz gab, scheint mit der Formlosigkeit von Kindheitserfahrungen zu tun zu haben. Man könnte an dieser Stelle weiter fragen: Ist das Signum des Unheimlichen das Formlose, besser: das nicht Formbare? Das ergäbe dann einen Berührungspunkt mit jener Randunfestigkeit, die von Mechthild Fend als signifikant für den visuellen Ausdruck des Unheimlichen festgestellt wurde, oder mit den formlosen Krakeleien, die Gerlinde Gehrig bei Kubin im gleichen Sinne analysiert hat. Und mit der Urszene berührt sich der Topos des Wiederholungszwangs, den Iversen hier aufruft. Wahrscheinlich enthalten Hoppers Bilder zugleich Deckerinnerungen an Traumata aus der eigenen Kindheit. Die unbeabsichtigte Wiederkehr frühkindlicher Erinnerungen kann zum Entsetzen, zur Hilflosigkeit, zu einem Gefühl der Leere und Ohnmacht führen, das Teil eines Auflösungsprozesses und vor allem, ganz konkret, Teil des Unheimlichkeitskomplexes ist (wie auch bei Meryon). So wäre denn das Unheimliche bei Hopper letzten Endes eine Manifestation des Todestriebes, den der Betrachter spürt und mit seiner eigenen Erfahrung des Unheimlichen verbindet. Insgesamt wird mit diesen Beiträgen weit mehr geboten als nur eine kunstoder literaturhistorische Sammlung von Orten, an denen das Unheimliche uns entgegentritt. Vielmehr werden die analytischen Parameter einer Bestimmung

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dieses so unbestimmbar erscheinenden Phänomens sichtbar – ganz konkret, bis hin zu Wortwahl und Bildform, und dieser Impuls, so hoffen wir, dürfte die künftige Forschung beleben. Die Autor/innen muten sich jedoch durchaus zu, ihre praxisbezogenen Beobachtungen in der Theorie des Unheimlichen zu verankern. Die entsprechenden Schriften von Schelling, Jentsch und Freud wurden zu Rate gezogen. Es mag begreiflich sein, ist aber doch zu ergänzen, dass Martin Heideggers gewichtige Auseinandersetzung mit dem Unheimlichen in den vorliegenden Beiträgen kaum eine Rolle spielt. Das Unheimliche liegt für Heidegger nicht irgendwo abseits, an den Rändern unserer Existenz, sondern »im Dasein als geworfenen, ihn selbst zu seinem Sein überantworteten In-der-Welt-Sein«1. Diese luzide Bestimmung hat den großen Vorzug, das Unheimliche aus der Ecke des Besonderen, Ungewöhnlichen, Ausgesonderten hervorzuholen. Es bedarf keiner Neurose, um Unheimliches zu erleben. Heidegger spitzt dies noch zu, indem er, Freud aufgreifend, sagt: »Das beruhigt-vertraute In-der-Welt-Sein ist ein Modus der Unheimlichkeit des Daseins, nicht umgekehrt«2. Das Unheimliche wirkt sich also im Gewöhnlichen aus, und zwar für jeden Menschen. Auch das »deinon« der griechischen Tragödie, vorher mit »Das Ungeheure« übersetzt, ist für Heidegger das Unheimliche3, und zwar nicht als Kennzeichen einer literarischen Gattung, sondern »des Wesens des Menschen«4. Ähnlich hat danach Jacques Derrida das Unheimliche zu bestimmen versucht5. Wenn Julia Kristeva schreibt: »Inquiétante, l’étrangeté est en nous: nous sommes nos propres étrangers – nous sommes divisés«6, so rückt sie den Begriff des Unheimlichen in die Nähe der Schizophrenie. Das wirft ein Licht auf ein Moment, das in der vorliegenden Publikation noch kaum berücksichtigt werden konnte: die Frage nach einem humanen Umgang mit dem Unheimlichen. Kunstund Literaturhistoriker wären damit überfordert. Psychoanalytiker sind es vielleicht auch noch; Musikwissenschaftler und Musiktherapeuten, die vielleicht am ehesten einen Zugang zu dieser Problematik fänden, haben wir für diesen Band nicht gewinnen können. Wir mussten erst einmal beschreiben, was uns an den, daraufhin noch kaum untersuchten, Bildern und Texten auffiel (und das an wenigen Beispielen). Julia Kristeva hingegen bietet Überlegungen zur Erfahrung der »déstructuration du moi«; sie fordert eine Ethik des Respekts für das Un-

1 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Berlin 1927, § 40, S. 188f. 2 Ebd. 3 Martin Heidegger, »Hölderlins Hymne ›Der Ister‹« (1942), in: Gesamtausgabe II/53 (21993), S. 82. 4 Ebd., S. 89. 5 Jacques Derrida, Spectres de Marx, Paris 1993, S. 272ff. 6 Julia Kristeva, Étrangers à nous-mêmes, Paris 1988, S. 268.

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heimliche in uns7. Aus alledem ergibt sich, dass die Forschung über das Unheimliche weitergehen wird und an Intensität zunehmen dürfte. In Kunst- und Literaturgeschichte ist vor allem der Surrealismus stärker einzubeziehen, aber auch der Blick über die Fächer hinaus wird auszuweiten sein. Der vorliegende Band geht aus der interdisziplinären Forschungsarbeit des Graduiertenkollegs Psychische Energien bildender Kunst und dem dadurch belebten Dialog mit dem Sigmund Freud-Institut in Frankfurt hervor. Stefan Germer, der allzu früh von uns gegangene Kollege, hat dieses Projekt noch mit vorbereitet; seiner inspirierenden Initiative sei auch an dieser Stelle gedacht. Die Publikation, zunächst von Falk Berger und Burkhardt Lindner in Angriff genommen, wurde dann, unter zeitweiliger Mitarbeit von Marianne Koos, vor allem von meiner Mitherausgeberin Gerlinde Gehrig vorangetrieben. Ohne ihr Engagement und ihr profundes Wissen hätte der Band nicht realisiert werden können. Ihr sei mein besonderer Dank ausgesprochen. Da die Publikation sich durch Tod, Krankheit und die Verschlechterung der Arbeitssituation in und außerhalb der Universitäten verzögert hat, war die Druckfassung der meisten Beiträge bereits 2002 abgeschlossen; dankenswerterweise wurde sie von den Autorinnen und Autoren jedoch weitgehend aktualisiert. Gedankt sei auch dem Frankfurter Sigmund Freud-Institut für die Übernahme der Übersetzungskosten der Beiträge von Hélène Cixous und Margaret Iversen, vor allem aber Frau Claudia Oetker in Frankfurt am Main für einen großzügigen Druckkostenzuschuss.

7 Ebd., S. 271 ff. – Vgl. auch Helmut Hühn, »Das Unheimliche«, in: Philosophisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, hg. v. Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel, Darmstadt 2001, Sp. 172-174.

■ Unheimliche Orte im Text

■ Burkhardt Lindner

Freud liest den Sandmann

■ I Freud liest den Sandmann: die Erzählung Der Sandmann von E. T. A. Hoffmann, 1817 in dessen Erzählungsband Nachtstücke erstmals erschienen. Die Lektüre des Sandmanns bildet den Mittelteil von Freuds Aufsatz Das Unheimliche. Vorangestellt ist eine längere etymologische und sprachvergleichende Analyse des Wortfeldes von »unheimlich«. Sie arbeitet die Ambivalenz oder den Gegensinn im Wort »heimlich« heraus, so dass der Ausdruck »unheimlich« eher als Verstärkung der Unheimlichkeit im Heimlichen erscheint und jedenfalls nicht als dessen einfache Negation. Vielmehr, so lautet Freuds erstes Ergebnis, sei das Unheimliche eine besondere »Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht«.1 An dieser Grundeinsicht hält Freud fest. Er nimmt sie später wieder auf, wenn er das Vertraute als das »Verdrängte« bestimmt, das Affekte »gleichgültig von welcher Art […] in Angst verwandelt«2, so dass in der Wiederkehr des Verdrängten diese Angst reaktiviert wird. Und er kommt völlig zu Recht zu dem Schluss, dass für das Auftreten des unheimlichen Gefühls die stofflichen Bedingungen irgendwelcher schrecklicher Motive nicht hinreichen, sondern das Unheimliche gerade auf einer unerwarteten, ungewollten und beklemmenden Wiederkehr des Verdrängten beruht. Dass Hoffmanns Sandmann herangezogen wird, erklärt Freud aus der Erfordernis der »Wahl eines glücklichen ersten Beispiels«, das »das Gefühl des Un1 Die Texte S. Freuds werden zitiert nach: Gesammelte Werke, Frankfurt. a. M. 1960-1987 (G.W., Band in röm. Ziffern) und Gerhard Fichtner, Ingeborg Meyer-Palmedo, Freud-Bibliographie und Werkkonkordanz, Frankfurt a. M. 1989. Freud 1919h, G.W. XII, S. 231. 2 Ebd., S. 237.

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Unheimliche Orte im Text

heimlichen in besonderer Stärke und Deutlichkeit in uns zu erwecken« vermag.3 Diese Formulierung, dass es auf die glückliche Wahl eines überzeugenden Beispiels ankomme, ist erstaunlich. Sie zeigt an, dass der Autor sich mit dem Unheimlichen auf Schwierigkeiten eingelassen hat, denen er mit einigem Glück zu entkommen sucht. Wir werden im folgenden sehen, dass ihm die erhoffte »glatte Erledigung und durchsichtige Darstellung«4 keineswegs glückt. Und sie zeigt weiter an, dass es sich um ein für Freud prekäres Thema handelt. Verklausuliert gesteht er es zu Beginn der Abhandlung ein: »Ja, der Autor dieser neuen Unternehmung muß sich einer besonderen Stumpfheit in dieser Sache [dem Unheimlichen] anklagen, wo große Feinfühligkeit eher am Platze wäre. Er hat schon lange nichts erlebt oder kennengelernt, was ihm den Eindruck des Unheimlichen gemacht hätte.«5 Dazu liest er den Sandmann, nicht nur um sich dieses Eindrucks konkret zu vergewissern, sondern auch, indem er die Erzählung plastisch nacherzählt, um den Leser seiner Abhandlung dem Gefühl des Unheimlichen auszusetzen. Den Anstoß zur Lektüre hatte der Aufsatz von Jentsch Zur Psychologie des Unheimlichen6 gegeben. Mit dessen Nachweis, das Unheimliche beruhe auf der intellektuellen Unsicherheit über die Belebtheit oder Unbelebtheit einer Maschine, Wachsfigur oder Puppe, wofür Jentzsch Hoffmanns Olimpia-Figur als Beispiel dient, ist Freud nicht einverstanden. »Ich muß aber sagen – und ich hoffe, die meisten Leser der Geschichte werden mir beistimmen –, daß das Motiv der belebt erscheinenden Puppe Olimpia keineswegs das einzige ist, welches für die unvergleichliche Wirkung der Erzählung verantwortlich gemacht werden kann. […] Im Mittelpunkt der Erzählung steht vielmehr ein anderes Moment, nach dem sie auch den Namen trägt und das an den entscheidenden Stellen immer wieder hervorgekehrt wird: das Motiv des Sandmannes, der den Kindern die Augen herausreißt.«7 3 4 5 6

Ebd., S. 237. Ebd., S. 263. Ebd., S. 231. Ernst Jentsch, »Zur Psychologie des Unheimlichen«, in: Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift, Halle (1906), Nr. 22, S. 195-198; Nr. 23, S. 203-205. Die Bedeutung dieses nicht besonders originellen Aufsatzes für Freud ist nicht zu überschätzen. Er hat zu einer ersten Fassung der Abhandlung über das Unheimliche geführt, die vor dem Weltkrieg geschrieben wurde und erst 1919 in revidierter Version publiziert wurde. (Freud erwähnt dies mit dem apokryphen Hinweis, in der Kriegszeit von fremdsprachiger Literatur abgeschnitten gewesen zu sein). Die Erfahrung des Weltkriegs dürfte die düsteren und skeptischen Momente der Abhandlung mitbewirkt haben und damit auch eine implizite Distanzierung von Jentschs Wissenschaftspathos. »Stark ist der Wunsch des Menschen nach der intellectuellen Herrschaft über die Umwelt. Intellectuelle Sicherheit gewährt psychische Zuflucht im Kampfe ums Dasein.« Gegen diesen »nie endenden Krieg« habe »die Wissenschaft« ein »unbezwingbares Bollwerk« errichtet. Dieses Pathos der Wissenschaft ist Freud ursprünglich keineswegs fern; gerade deshalb gehört Das Unheimliche zu seinen Revisionen. 7 Freud 1919h, G.W. XII, S. 238.

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In der Tat lässt sich Freud zustimmen, dass die Automate Olimpia nicht im Zentrum der Erzählung steht, sondern wie ihr Titel ankündigt: Der Sandmann. Wer oder was also ist der Sandmann? Für das Kind bezeichnet der Name etwas Ungreifbares, das nur die Erwachsenen zu kennen scheinen, allerdings in sehr entgegengesetzter Auffassung. Die Mutter erklärt es als freundliche Redensart von einem Männchen, das den Kindern Sand in die Augen streut, damit sie einschlafen können; die Amme hingegen entwirft eine Horrorgeschichte vom bösen Sandmann, der den Kindern, die nicht zu Bett gehen wollen, Sand in die Augen wirft, dass sie blutig zum Kopfe herausspringen. Und den Sandmann gibt es wirklich; denn jedes Mal, wenn das Kind Nathanael früh zu Bett geschickt wird, weil der Sandmann kommt, poltert bald später mit schweren Schritten etwas auf der Haustreppe und besucht den Vater. Später erkennt der Knabe ihn – eine Szene, die Hoffmann (Abb. 1) gezeichnet hat – im Zimmer des Vaters versteckt als den von ihm gefürchteten Advokaten und Alchemisten Coppelius. Die Entdeckung endet mit einer Katastrophe, der Urszene einer Kette künftiger Heimsuchungen.

Abbildung 1: E. T. A. Hoffmann, Der Sandmann, Federzeichnung, 1815

Freud gibt zunächst eine Nacherzählung der Hoffmannschen Erzählung, die das Unheimliche des Geschehens hervorhebt und uns zugleich erlaubt, sein Verständnis ihres Zusammenhangs nachzuvollziehen. Daran schließt sich eine psychoanalytische Deutung an, die die Augenangst als Ersatzbeziehung zur Kastra-

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tion erklärt und dies durch eine ungewöhnlich lange Fußnote weiter begründet.8 Sie erläutert die Aufspaltung zwischen der guten und der bösen Vater-Imago und ihre weiteren Verschiebungen. Gegen Jentsch gewandt hebt Freud hervor, dass die Erzählung keinen Zweifel über die Identität von Coppelius und dem Wetterglashändler Coppola lasse, also eine intellektuelle Unsicherheit entfalle, ohne dass deshalb diese Figur ihre unheimliche Wirkung verliere. Dies gilt in analoger Weise auch von Olimpia, die noch in ihrer Zerstörung als mechanische Puppe unheimliche Effekte auslöst. Das Unheimliche, das Hoffmanns Erzählung hervorruft, vollzieht sich auf einem anderen Schauplatz als dem der intellektuellen Unsicherheit, nämlich dem der psychischen Realität. Aber indem Freud die rationalistische Erklärung Jentschs als unzureichend zurückweist, geht es ihm nicht um eine Rehabilitierung des Unheimlichen, sondern um (s)eine bessere Erledigung.

■ II Genaue Relektüren der Freudschen Lektüre des Sandmanns, und zwar gerade solche, die die Psychoanalyse nicht als literaturwissenschaftlich untauglich von vornherein ablehnen, sind über Freuds Leseweise immer wieder gestolpert.9 Gerade einer durch die psychoanalytische Symptomdeutungskunst sensibilisierten 8 Solche doppelte Paraphrase (Nacherzählung als Reproduktion und als Deutung) ist nicht zufällig. Sie findet sich ebenso, wie Jutta Kolkenbrock-Netz beobachtet, in Freuds Der Wahn und die Träume, einer Analyse von Jensens Erzählung Gradiva. Auch hier gibt Freud die Erzählung, wie er schreibt, zunächst »fast durchwegs aus den eigenen Worten des Dichters wieder«, worauf in einem zweiten Schritt die »dichterische Darstellung einer Krankheitsund Behandlungsgeschichte […] nun mit den technischen Ausdrücken unserer Wissenschaft« reproduziert werde. Kolkenbrock-Netz hebt hervor, dass bereits die erste Reproduktion nur scheinbar die Position des Lesers einnimmt, vielmehr bereits von der Erzählweise der literarischen Vorlage abweicht und sie damit ›auktorialisiert‹, so dass dann in der zweiten Reproduktion die Leser-Position ganz verschwindet und durch den Autor der Psychoanalyse ersetzt wird. Jutta Kolkenbrock-Netz, »Diskursanalyse und Narrativik«, in: Jürgen Fohrmann, Harro Müller (Hg.), Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, Frankfurt a. M. 1988, S. 261-283, hier: S. 263 ff. 9 Ich verweise an erster Stelle auf die ungemein eindringliche und subtile Arbeit von Hélène Cixous, »La fiction et ses fantômes. Une lecture de l’Unheimliche de Freud«, in: Poétique, III (1972), S. 199-216 (siehe auch in diesem Band S. 37-59). Das Interesse ihrer Lektüre lässt sich mit folgendem Zitat charakterisieren: »Tout se passe comme si l’Unheimliche se retournait sur Freud lui-même dans une vicieuse répartie du poursuivi au poursuivant […]. Nous verrons que notre rôle de lecteur pris dans l’Unheimliche est un étrange double rôle de l’autre lecteur […]: celui de l’Homme au sable […].« (S. 200). Der Leser sieht sich konfrontiert mit der Einsicht, dass die Psychoanalyse mit sprachlichen Fiktionen arbeiten muss, und damit aber die wissenschaftliche Abgrenzung gegenüber dem Unheimlichen der Fiktion, der Phantasie, der Dichtung aporetisch wird.

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Aufmerksamkeit muss auffällig erscheinen, was Freud nicht auffällt oder von ihm nicht für erwähnenswert gehalten wird. Ich nenne einige Auffälligkeiten. Freud lässt die Besonderheiten der literarischen Form, z. B. die vorangestellten Briefe, beiseite und beachtet das Wechselspiel des Erzählers nicht weiter, der sich bald einmischt, bald zurückhält, sich dann wieder direkt an den Leser wendet, im Tonfall zwischen Ironie und Entsetzen wechselt usw. Er erzählt den Sandmann als konventionell auktorial erzählte Geschichte nach. Er hebt keine bestimmten Formulierungen des Erzählers durch Zitat hervor; was er zitiert, beschränkt sich ausschließlich auf die Wiederholung der direkten Rede in der Erzählung selbst. Auffällig ist weiter, dass er Nathanael falsch schreibt (»Nathaniel«) und den Schlussschrei »Feuerkreis dreh dich« auf die Urszene zurückführt, während er aus Nathanaels Dichtung stammt. Bedeutsam erscheint ebenso, dass er die Figur der Olimpia vernachlässigt, die in der Erzählung ausdrücklich eine »unheimliche« Erscheinung genannt wird, während für den Sandmann durchgehend andere Ausdrücke verwendet werden: grässlich, grausig, grausam, entsetzlich, fürchterlich, hässlich, gespenstisch. Befremden kann weiter, dass Freud die auffällige Fehlleistung der falschen Adressierung des ersten Briefs nicht für bemerkenswert hält. Unerwähnt bleiben bei ihm auch andere vermeintliche Widersinnigkeiten: dass der Erzähler beim Streit zwischen Spalanzani und Coppola um Olimpia Coppelius’ Stimme hören lässt; dass sich wie ein seltsamer Zufall die chemische Explosion im Vaterhaus im Haus des Studenten Nathanael wiederholt oder dass Nathanael am Schluss auf dem Turm Coppolas Perspektiv in der Seitentasche trägt und zwei Türen der Treppe, die das Brautpaar gerade erklommen hat, nunmehr verriegelt sind. Auffällig ist schließlich, dass Freud der Kette der Frauenfiguren – Mutter, Kinderfrau, Schwester, Clara, Olimpia – kein Gewicht beimisst ebenso wenig wie der Dreieckskonstellation der Braut, deren Bruder Lothar und Nathanael. Das alles sind wichtige Indizien für eine weitere Reflexion. Ihr Sinn kann allerdings nicht darin bestehen, Freud »Freudsche Fehlleistungen« nachzuweisen, so als seien wir damit schon klüger als ihr Erfinder. Es geht erst einmal darum, das Interesse, mit dem Freud den Sandmann im Kontext der Abhandlung über das Unheimliche liest, genauer zu bestimmen. Es handelt sich genauer betrachtet um zwei Interessen, die nur auf den ersten Blick sich widersprechen: zum einen soll dank der dichterischen Meisterschaft Hoffmanns die Evidenz eines besonderen Gefühls des Unheimlichen herausgehoben werden; zum andern soll psychoanalytisch als dessen Quelle das infantil Verdrängte, »die Angst des kindlichen Kastrationskomplexes«10, aufgewiesen werden. Freuds Deutung lässt keinen Zweifel, dass er den mit Hoffmanns Worten

10 Freud 1919h, G.W. XII, S.244.

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»Wahnsinn»11 des Nathanael im Kern als eine korrekte Krankengeschichte auffasst. Das ist der Sinn sowohl der Nacherzählung wie der langen angefügten Fußnote. Auf diese Weise verwandelt sich die literarische Erzählung in einen Fall, den Freud durch seine eigenen Krankenanalysen bestätigt sieht und die er – so der Schluss der Fußnote – auch in der Biographie Hoffmanns vorgezeichnet findet. Freud hat ein außerordentliches Interesse – darauf wird noch zurückzukommen sein –, das Unheimliche auf die Figur des ›infantilen Neurotikers‹ zu fixieren. Die Herkunft aus dem Infantilen bildet dann auch den Leitfaden für die Beurteilung weiterer Motive. An dieses Interesse scheint zunächst auch die Analyse des literarisch-ästhetischen Unheimlichen gebunden. Durch die Fall-Analyse hat Freud die unheimlichen Effekte des Textes gebannt, denen er sich offenkundig nur widerstrebend aussetzen wollte. Dies macht sich schon in den strikten Oppositionen zwischen Sinn und Unsinn, zwischen Bedeutsamem und Unwichtigem geltend, die die Deutungsleistung regeln. »Diese sowie viele andere Züge der Erzählung«, schreibt Freud, »erscheinen willkürlich und bedeutungslos, wenn man die Beziehung der Augenangst zur Kastration ablehnt, und werden sinnreich, sowie man für den Sandmann den gefürchteten Vater einsetzt […]«. Und weiter: »In der Tat hat die Phantasiebearbeitung des Dichters die Elemente des Stoffes nicht so wild herumgewirbelt, daß man ihre ursprüngliche Anordnung nicht wiederherstellen könnte«.12 Die Behauptung einer ursprünglichen Anordnung, die sich unterscheiden ließe vom wilden Herumwirbeln der Phantasiebearbeitung, depotenziert die literarischen Ausdrucksqualitäten des Texts. Zu diesem Ergebnis muss man unbedingt gelangen, ohne deshalb in das übliche Vorurteil zu verfallen, die psychoanalytische Interpretation von Kunstwerken verfahre schablonenhaft und stereotyp und verfehle notwendigerweise das Ästhetische. Paradoxerweise hat erst eigentlich Freuds Analyse, welche die Erzählung vom Sandmann zu einem literaturwissenschaftlichen und schulischen Klassikertext hat werden lassen, zugleich das negative Vorurteil gegenüber psychoanalytischer Literaturinterpretation enorm befördert. Dabei nimmt Freud zu Beginn des Aufsatzes über das Unheimliche

11 Es wäre genauer zu untersuchen, wie sehr »Hoffmanns Schreibkonzept sich dem Dialog mit dem Wahnsinn verdankt«. Vgl. Jutta Kolkenbrock-Netz, »Wahnsinn der Vernunft – juristische Institution – literarische Praxis«, in: Jutta Kolkenbrock-Netz, Gerhard Plumpe, Hans-Joachim Schrimpf (Hg.), Wege der Literaturwissenschaft, Bonn 1985, S. 122-144, hier: S. 142. Sie korrigiert Foucaults Feststellung »eines abgebrochenen Dialogs« am Ende des 18. Jahrhunderts (Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1969, S. 8) zugunsten der ›romantischen Literatur‹. Im Feld der juristischen und psychiatrischen Diskurse, in dem Hoffmann als Kammergerichtsrat Schriftstücke verfasste, ist jene Ambivalenz gerade verwehrt, die ihn als poetisches Subjekt konstituiert und diesen interdiskursiven ›Freiraum‹ als eine unabsehbare Anordnung von Duplizitäten/Dualismen sich artikulieren lässt. 12 Freud 1919h, G.W. XII, S. 243.

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gerade das Ästhetische, die »Lehre von den Qualitäten unseres Fühlens»13, ausdrücklich als Zugang zu seinem Thema in Anspruch. Und er selbst hat uns gelehrt, dass dieses Fühlen mit Abwehrvorgängen und Wahrnehmungsverschiebungen verbunden ist. Man wird also hier eher die Frage stellen müssen, ob sich nicht hinter seiner Interpretation, die das Unheimliche der Erzählung auf die zur Augenangst verschobene Kastrationsangst vor dem Vater reduziert, selbst Momente der Abwehr oder eines selbst wieder interpretationsbedürftigen Desinteresses verbergen. Dies zeigt schon die Ausdrucksweise, mit der Bedeutungsfestsetzungen dekretiert werden: die automatische Puppe »kann nichts anderes sein als […]«; »die sonst unverständliche Angabe des Spalanzani, daß der Optiker dem Nathanael die Augen gestohlen […]« ist tatsächlich ein »Beweis« für »die Identität von Olimpia und Nathanael»; »Wir haben das Recht […]«; »Wie psychologisch richtig es aber ist […]«.14 Eine derartig gewaltsame Bedeutungsfestsetzung ›verrät‹, um Freuds hermeneutische Lieblingswendung zu gebrauchen, dass er offenbar ›mehr‹ gelesen hat, als er sich theoretisch eingestehen möchte. Jedenfalls macht seine Deutung zunächst nur einigermaßen plausibel, warum es bei Nathanael zu den unheimlichen Wiederholungen der drei Wahnsinnsausbrüche kommt, nicht aber, worin das Unheimliche der Wirkung auf den Leser, und damit auch auf Freud als Leser, besteht.

■ III Warum verwendet Freud nicht mehr Aufmerksamkeit auf die erzählerische Form, die sprachlichen Details und die Inszenatorik der Hoffmannschen Erzählung? Um hier weiter zu kommen, wenden wir uns zunächst an Freuds Magna Charta: Die Traumdeutung. Dafür gibt es zwei Gründe. Zum einen hat Freud mit diesem Werk ein Terrain annektiert, das seit der Neuzeit wesentlich als Erfahrungsvorbild für die schöpferische Leistung von Kunst und Literatur beansprucht wurde. Zum zweiten konkurriert Freud hier als professioneller Ausleger von (Traum-)Texten mit der Dichtungs-Hermeneutik, die sich um diese Zeit als Literaturwissenschaft etabliert. Und nicht unbeachtet soll die Stelle des Essays über das Unheimliche bleiben, in der es ausdrücklich heißt, das Unheimliche gemahne an die »Hilflosigkeit mancher Traumzustände«.15 Die folgende Befragung der Traumdeutung wird sich also darauf richten, dort die Spur des Unheimlichen zu verfolgen und das aus der Unterscheidung von manifestem und latentem Traumtext resultierende Deutungskonzept zu thematisieren. 13 Ebd., S. 229. 14 Ebd., S. 244. 15 Ebd., S. 248.

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»Der Traum«, sagt Freud in den Vorlesungen von 1915, »ist auch ein neurotisches Symptom, und zwar eines, das den für uns unschätzbaren Vorteil hat, bei allen Gesunden vorzukommen«.16 Dass dem Traum etwas Fremdartiges, Rätselhaftes, Abnormes eignet, hat Freud immer wieder hervorgehoben. Aber er hat es vermieden, ihn näher mit dem Gefühl des Unheimlichen in Verbindung zu bringen, das auf einer beklemmenden Wiederbelebung des Verdrängten besteht. Freud hat durchgehend und entschieden auf seiner Entdeckung, der Traum sei eine »Wunscherfüllung«, bestanden. Der Einwand, es gebe doch viele peinigende und auch nach dem Erwachen noch quälende Träume, widerlegt in der Tat nicht, wie er näher ausführt, die zentrale Bestimmung des Traums als Hüter des Schlafes. Seinen Kritikern unterstellt er zu Recht, sie wollten die fundamentale Unterscheidung von »manifestem Traum« und den »latenten Traumgedanken« nicht ernstlich nachvollziehen. Wogegen sie sich sperren, ist die für Freud unbezweifelbare Annahme, dass dem Traum ein unbewusstes Denken zugrunde liegt. Umso mehr sieht Freud sich genötigt, auf dem ›unliterarischen‹, ›unkünstlerischen‹ Charakter des manifesten Traums zu bestehen. Dass es durchaus durchkomponierte und sinnreich aufgebaute Träume gibt, resultiere vor allem aus der »sekundären Bearbeitung«, die ihren Kern im »Tagtraum« hat. Deren Evidenz lasse mit Sicherheit nicht auf den Sinn, sondern auf die weitestgehende Entstellung der Traumgedanken schließen. Wenn die Psychoanalyse unterstellt, »daß der Träumer es doch weiß, was der Traum bedeutet«17, so behauptet sie dies gerade nicht im Sinne erinnerter Unmittelbarkeit, sondern im Sinne einer durch die therapeutische Grundregel geforderten freien Assoziation. Der Träumer soll kritiklos alles sagen, was ihm zu seinem Traum einfällt. (Freud hat bei eigenen Träumen eine Art automatischer Niederschrift der Einfälle geübt.) Ohne hier auf das komplizierte Verhältnis von Visualität und Sprachlichkeit im Traum und in der Traumerzählung/-deutung näher einzugehen18, muss zumindest gefragt werden, wie die affektive Beteiligung im ablaufenden Traum von Freud eingeschätzt wird. Im hier zuständigen Kapitel der Traumdeutung, Affekte im Traum, finden wir darüber wenig Aufschluss. Dass Freud hier, gemäß seiner Entdeckung des verstellenden Charakters der Traumarbeit, eher Affektverschiebung oder Affektverkehrung – also Diskrepanzen zwischen manifestem und latentem Trauminhalt – interessieren, ist einsichtig. Doch muss die Entschiedenheit erstaunen, mit der er feststellt, »daß so viele Träume [affektiv] indifferent erscheinen, während man sich in die Traumgedanken nie ohne tiefe Ergriffenheit 16 Freud 1916-1917a, G.W. XI, S. 79. 17 Ebd., S. 98. 18 S. dazu: Roger Hofmann und Burkhardt Lindner, »Traumbild und Trauma – Der Ort des Unheimlichen bei Freud«, in: Martin Sturm u. a. (Hg.), Phantasma und Phantome. Gestalten des Unheimlichen in Kunst und Psychoanalyse, Linz 1995, S. 35-48.

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versetzen kann«.19 Und dazu gehört auch sein befriedigtes Bekenntnis: »Ich selbst habe seit Jahrzehnten keinen eigentlichen Angsttraum mehr gehabt.«20 Aber was besagt das? Ein Traumbeispiel aus der Traumdeutung führt hier weiter. Freud kommt mehrfach auf einen bestimmten Traum zurück, den er ausdrücklich »schön« nennt und der mit dem gefährlichen Blick zu tun hat, der in der Abhandlung über das Unheimliche so wichtig ist. Freud schreibt: »Das Zentrum des Traumes bildet eine Szene, in der ich P. durch einen Blick vernichte. Seine Augen werden dabei so merkwürdig und unheimlich blau, und dann löst er sich auf.« In der Traum-Nacherzählung hatte er einige Zeilen vorher geschrieben: – »Ich bin ungemein erfreut darüber, verstehe jetzt, daß auch Ernst Fleischl nur eine Erscheinung, ein Revenant war, und finde es ganz wohl möglich, daß eine solche Person nur so lange besteht, als man es mag und daß sie durch den Wunsch des anderen beseitigt werden kann.«21 Es handelt sich um eine singuläre Passage22, in der Freud den Traum-Blick mit dem Unheimlichen vorübergehend in Verbindung bringt. Erst in Jenseits des Lustprinzips – der Schrift, auf die die Abhandlung über das Unheimliche als in Arbeit befindlich verweist – wird der Traum mit dem Trauma, mit der traumatischen Neurose verknüpft und damit sein auf infantilen Reminiszenzen beruhender Wiederholungscharakter direkt mit Angst und Zwang in Verbindung gebracht.23 Das Träumen untersteht hier einer anderen Wiederkehr des Verdrängten. »Diese Träume suchen die Reizbewältigung unter Angstentwicklung nachzuholen, deren Unterlassung die Ursache der traumatischen Neurose geworden ist. Sie geben uns einen Ausblick auf eine Funktion des seelischen Apparats, welche, ohne dem Lustprinzip zu widersprechen […] ursprünglicher scheint.« Die »Träume der Unfallsneurotiker« und die »Träume, die uns die Erinnerung der psychischen Traumen der Kindheit wiederbringen […] gehorchen vielmehr dem Wiederholungszwang […].«24

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Freud, 1900a, G.W. II/III, S. 471. Ebd., S. 474. Ebd., S. 424. Es gibt sonst nur noch eine zweite Stelle in der Traumdeutung, in der vom Unheimlichen die Rede ist. Sie lautet: »Daß der sexuelle Verkehr Erwachsener den Kindern, die ihn bemerken, unheimlich vorkommt und Angst in ihnen erweckt, ist, möchte ich sagen, Ergebnis täglicher Erfahrung [als Psychoanalytiker].« Ebd., S. 590. 23 Von dieser veränderten Traumkonzeption geht Lacan aus. Jeder Traum hat das ›Es zeigt sich‹, das Fehlen eines Horizonts des Subjekts. Das ist nicht nur phänomenologisch zutreffend, sondern verweist auf die Vorgängigkeit des Traumas, die keinen garantierten Ursprung herstellt, aber gegen den Traum als Reproduktion des ›ursprünglichen‹ Befriedigungserlebnisses immer wieder andrängt. (Das Angeblicktwerden, wie Benjamin sagen würde, stößt mir zu.) Jacques Lacan, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Seminar XI, Olten, Freiburg 1978, S. 82 f., S. 60 ff. 24 Freud, 1920g, G.W. XIII, S. 33.

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Vom Verhältnis von Wiederholungszwang zu Traum und Trauma ergibt sich ein anderer Zugang zur Sandmann-Erzählung. Am Anfang steht der beunruhigende Name des Sandmanns, das Zubettgeschicktwerden, das unerklärliche Poltern auf der Treppe.25 In der Erzählung heißt es über die Abende, wo der Sandmann zu Besuch kommt: »Ich lief darauf in das Schlafzimmer, und wohl die ganze Nacht über quälte mich die fürchterliche Erscheinung des Sandmanns«.26 Es ist nicht von einem Traum die Rede. Der Sandmann ist dem Kind ein reales, in der Wachwelt gegebenes Gespenst, dessen Unfasslichkeit es zu bannen sucht, indem es den Sandmann »in den seltsamsten, abscheulichsten Gestalten überall auf Tische, Schränke und Wände mit Kreide, Kohle hinzeichnete«27. Und nach der Beobachtungsszene, nach der das Kind mühsam wieder gesund wird, hat sich die Figur des Sandmanns und die des Coppelius zu einer realen, feindseligen Person verschmolzen. Über dessen letzten Besuch, der zum Tod des Vaters führt, heißt es: »›Sei ruhig, sei ruhig, lege dich ins Bette! – schlafe – schlafe‹, rief mir die Mutter nach; aber von unbeschreiblicher innerer Angst und Unruhe gequält, konnte ich kein Auge zutun. Der verhaßte abscheuliche Coppelius stand vor mir mit funkelnden Augen und lachte mich hämisch an, vergebens trachtete ich sein Bild los zu werden.«28

Auf Freuds Überlegungen zum Albtraum, der das Unfalltrauma wiederholt, bezogen, können wir also sagen, dass der literarischen Hauptfigur der Hoffmannschen Erzählung gerade eine derartige Trauma-Reproduktion im Traum nicht gelingt. Nathanael wird nicht von einem nächtlich wiederkehrenden Alptraum heimgesucht, sondern wird von Visionen im Wachzustand gequält, die ihn keinen Schlaf finden lassen (oder er fällt nach den Zusammenbrüchen in ein traumloses Koma). Dies verhält sich gerade umgekehrt zum Krankheitsbild des Unfallneurotikers. Dessen Pathologie ist durch die zwanghafte Wiederholung der traumatischen Situation im nächtlichen Traum gekennzeichnet. Für das Tagesverhalten gilt hingegen, dass die »an traumatischer Neurose Krankenden sich im Wachleben« nicht »mit der Erinnerung an ihren Unfall beschäftigen. Vielleicht bemühen sie sich eher, nicht an ihn zu denken.«29 Die Stelle der ausgebliebenen Wiederholung des Schrecklichen durch den Traum nimmt in Hoffmanns Erzählung die künstlerische Bewältigung ein. Der 25 Was sonst ist für den ›unartigen‹ Jungen, der nicht hören und nicht zu Bette gehen will, der »Sandmann« anderes als eine Kastrationsdrohung der Mütter, »deren Ausführung, wie gewöhnlich, dem Vater zugeschoben wird«? Freud 1940e, G.W. XIII, S. 60. Hoffmanns Erzählung akzentuiert diese Ambivalenz deutlich. Der Sandmann, erklärt die Mutter ihre Aufforderung, zu Bette zu gehen, nachträglich verharmlosend, sei doch nur ein erfundenes Bild für das Schläfrigwerden der Kinder. Nathanael indes vertraut eher der alten Kinderfrau, die ihm verrät, dass es mit dem Sandmann nicht geheuer ist. 26 E. T. A. Hoffmann, Der Sandmann, hg. von Rudolf Drux, Stuttgart 1991, S. 5. 27 Ebd., S. 6. 28 Ebd., S. 10 f. 29 Freud 1920g, G.W. XIII, S. 10.

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kleine Knabe bemüht sich zeichnerisch, das quälende Gespenst des Sandmanns zu bannen, ebenso wie später auch der dichtende Jüngling sich literarisch von der traumatischen Wiederkehr des Coppelius und der Zerstörung der OlimpiaPuppe vergeblich zu befreien sucht. Für Hoffmanns Erzählkonzeption ist diese Künstlerproblematik Nathanaels wichtig, weil er sich damit als dessen Alter Ego, dem die dunklen Seiten des Seelenlebens vertraut sind, präsentieren kann. Zugleich präsentiert er sich als reflektierter Autor, der den Leser in die Schwierigkeiten, die Geschichte Nathanaels in ihrer ganzen Unheimlichkeit erzählen zu können, ausdrücklich einbezieht und damit die Empathie verstärkt. Demgegenüber bleiben in der Geschichte Nathanaels Versuche, einen Leser/Zuhörer zu finden, vergeblich oder trügerisch. Was Hoffmann auf diese Weise erreicht, ist, die Wahnzustände und die Wahnsinnsausbrüche Nathanaels erzählbar zu machen und zwar so, dass sie nicht als bloß subjektive Wirklichkeitsverkennungen oder Störungen erscheinen. An dem, was Nathanael erfährt, haben Autor und Leser höchsten emotionalen Anteil. Es besteht eine Art wechselseitiger energetischer Affizierung, die durch die Motive und die Metaphorik die ganze Erzählung hindurch immer wieder aufgeladen wird. Der Autor löst ein, was er in der Passage an den Leser als Leistung der Dichtung versprochen hatte: Poesie müsse – unsichtbar, aber körperlich umso fühlbarer – »wie ein elektrischer Schlag […] treffen«.30 Diese Poetik des Schocks hat Konsequenzen für die Interpretation, die sich nochmals auf das oben erörterte Verhältnis von Affekten im Traum und Auslegung des Traums beziehen lassen. Freuds Traumdeutung interessiert sich nicht für das Schreckhafte des Traumes, sondern für die durch die Traumarbeit bewirkte Darstellung der Traumgedanken. Diese bilden einen »Komplex von Gedanken und Erinnerungen vom allerverwickeltsten Aufbau mit allen Eigenschaften der uns aus dem Wachen bekannten Gedankengänge. […] Die einzelnen Stücke dieses komplizierten Gebildes stehen natürlich in den mannigfaltigsten logischen Relationen zueinander.«31 Die »ganze Masse der Traumgedanken« unterliege aber der »Pressung durch die Traumarbeit […] wobei die Stücke gedreht, zerbröckelt und zusammengeschoben werden«. Was wird dann, fragt Freud weiter, aus den logischen Relationen, etwa den Konjunktionen »Wenn, weil, gleich30 Hoffmann 1991 (wie Anm. 26), S. 17. Deshalb blieb Hoffmann von der Kanonbildung der bürgerlichen Klassik ausgeschlossen. Von dieser Tabuierung (und der damit verbundenen Lust am Verbotenen) berichtet Benjamins Berliner Kindheit um Neunzehnhundert im Stück »Schränke«: »der Name ›Gespenster-Hoffmann‹ und die strenge Weisung, ihn niemals aufzuschlagen« führte dazu, dass er Hoffmanns Werke in der väterlichen Bibliothek nur heimlich lesen konnte. »Von dem, was ich las, verstand ich nichts. Jedoch die Schrecken jeder Geisterstimme und jeder Mitternacht und jedes Fluchs steigerten sich durch die Ängste des Ohres, das jeden Augenblick den Laut des Wohnungsschlüssels und den dumpfen Stoß erwartete, mit welchem der Spazierstock des Vaters draußen in den Ständer fiel.« Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann, Bd. IV, S. 285, Frankfurt a. M. 1972. 31 Freud 1900a, G.W. II/III, S. 316.

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wie, obgleich, entweder – oder« usw., »ohne die wir Satz und Rede nicht verstehen können?« Seine Antwort ist unzweideutig: »der Traum hat für diese logischen Relationen unter den Traumgedanken keine Mittel der Darstellung zur Verfügung«. Damit wird der Traumarbeit ein sekundärer und uneigentlicher Status zugewiesen. Freud sah sich zwar genötigt, vor dem Missverständnis entschieden zu warnen, den Traum mit den latenten Traumgedanken zu identifizieren, vielmehr sei die Traumarbeit das allein Wesentliche am Traum.32 Aber streng genommen müsste er dann den Satz revozieren: »Der Traumdeutung bleibt es überlassen, den Zusammenhang [der Traumgedanken] wiederherzustellen, den die Traumarbeit vernichtet hat.«33 Besteht die Traumarbeit tatsächlich nur in der Vernichtung dieses unbewussten Gedankenzusammenhangs? Müsste man nicht umgekehrt, statt von Vernichtung zu sprechen, sagen, die Traumarbeit habe allererst erzeugt, was man die Traumgedanken heißen könnte? Freud hat diese Perspektive einer im manifesten Traum wirksamen unbewussten künstlerisch-kreativen Ästhetisierungsarbeit – so hat Breton Freud gelesen – eher zurückgewiesen. Dabei lag der Schritt, von der Traumdeutung aus zur Analyse von Kunstwerken zu gelangen, durchaus nah. Die formalen Mechanismen der Traumarbeit werden auf einem Theoriestand beschrieben, der sich zeichen- und texttheoretisch ganz auf der Höhe der ästhetischen Moderne befindet. Nur muss man dann das struktural-genetische Modell von Basis (latente Traumgedanken) und Drapierung (manifester Traum) aufgeben zugunsten des Modells der dynamisierten Oberfläche, des dynamischen Textes. In gewisser Weise hat Freud dem auch vorgearbeitet, indem er einmal die Traumgedanken mit dem unüberschaubaren Geflecht des Pilz-Myceliums vergleicht.34 Eine dynamisierte Texttheorie unterwirft den gedanklichen, figurativen, metaphorischen, klanglichen Assoziationsspielraum der Sprache keinem (latent) vorgegebenen Sinn, sondern begreift den ›manifesten‹ Text selbst als Komplex semiotischer Energien.

■ IV So sehr Freuds Interpretation der Sandmann-Erzählung auf einer nacherzählbaren Story und auf einer psychoanalytisch rekonstruierbaren Fallgeschichte besteht, so gibt es doch zwei Stellen, die davon abweichen und Anschluss an die eben ausgeführten Überlegungen zur Traumdeutung erlauben. Die erste Stelle 32 Ebd., S. 511. 33 Ebd., S. 311. 34 Ebd., S. 530.

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bezieht sich auf die Unterscheidung zwischen realistischer und phantastischer Dichtung. Freud unterstellt zunächst dem Dichter die Macht, seine Leser in eine von ihm als Autor regulierte und erzeugte fiktionale Welt hineinzusetzen. Wir müssen »diese Welt seiner Voraussetzung für die Dauer unserer Hingegebenheit [in der Lektüre] wie eine Realität behandeln«. Das ist das allgemeine Gesetz der künstlerischen Fiktion. In der Welt der Fiktion besteht nun aber, wie der ganze Essay nicht müde wird zu wiederholen, ein grundsätzlicher Unterschied, sozusagen eine Normvorgabe, zwischen einer realistischen, die gemeine Wirklichkeit oder historische Alltagsrealität voraussetzenden Erzählung und einer phantastischen Erzählung, in der wie im Märchen z. B. Tiere sprechen können oder, in einem anderen Genre, »Geister, Dämonen und Gespenster« wie selbstverständlich agieren. Damit ist aber die Spezifik einer unheimlichen Erzählung noch nicht bestimmt. Nur bei oberflächlicher Lektüre der Abhandlung könnte dieser Eindruck entstehen. Freud schreibt nämlich über Hoffmanns Erzählung: »Der Dichter erzeugt zwar in uns anfänglich eine Art von Unsicherheit, indem er uns, gewiß nicht ohne Absicht, zunächst nicht erraten läßt, ob er uns in die reale Welt oder in eine ihm beliebige phantastische Welt einführen wird. Er hat ja bekanntlich das Recht, das eine oder das andere zu tun«. Und wir müssen »ihm darin nachgeben und diese Welt seiner Voraussetzung für die Dauer unserer Hingegebenheit wie eine Realität behandeln.«35

Nun folgt eine bemerkenswerte Fortsetzung: »Aber im Verlaufe der Hoffmannschen Erzählung schwindet dieser Zweifel, wir merken, daß der Dichter uns selbst durch die Brille oder das Perspektiv des dämonischen Optikers schauen lassen will, ja daß er vielleicht in höchsteigener Person durch solch ein Instrument geguckt hat. Der Schluß der Erzählung macht es ja klar, daß der Optiker Coppola wirklich der Advokat Coppelius und also auch der Sandmann ist. Eine ›intellektuelle Unsicherheit‹ kommt hier nicht mehr in Frage; wir wissen jetzt, daß uns nicht die Phantasiegebilde eines Wahnsinnigen vorgeführt werden sollen, hinter denen wir in rationalistischer Überlegenheit den nüchternen Sachverhalt erkennen mögen, und – der Eindruck des Unheimlichen hat sich durch diese Aufklärung nicht im mindesten verringert.«36

Das ist eine äußerst komprimierte Passage, die sich in ihrer Argumentation zu verheddern scheint, jedenfalls genauer Kommentierung bedarf. Freud wendet sich hier nochmals gegen Jentschs Kriterium der intellektuellen Unsicherheit als Ursache für den Effekt des Unheimlichen. Aber er geht über diese Kritik hinaus, indem er die Klärung, ob es sich um eine phantastische oder eine realistische Geschichte handele, selbst als nicht zureichend für die unheimliche Wirkung begreift. 35 Freud 1919h, G.W. XII, S. 242. 36 Ebd., S. 242.

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In der zitierten Passage ist es insbesondere eine Formulierung, die die strikte Unterscheidung realistisch vs. phantastisch ins Rutschen bringt, nämlich die Formulierung, »daß der Dichter uns selbst durch die Brille oder das Perspektiv des dämonischen Optikers schauen lassen will, ja daß er vielleicht in höchsteigener Person durch solch ein Instrument geguckt hat«. Dies ist die einzige Passage, in der Freud auf die spezifische Erzählweise Hofmanns wirklich genauer eingeht. Er tut dies freilich auf eine höchst metaphorische Weise, indem er die Brillen und das Perspektiv Coppolas als magisch-dämonische Instrumente in der Hand des Erzählers bestimmt. Damit erklärt er den Umstand, dass wir die ganze Erzählung hindurch uns aus dem Zwiespalt zwischen realistischer und phantastischer Erzählung durchaus nicht herauslösen können und gerade die Dynamik dieses Zwiespalts, der immer wieder aufgelöst scheint und immer wieder sich erneuert, das Unheimliche der Erzählung ausmacht. Hoffmann lässt uns in der Tat durch das dämonische Perspektiv gucken; setzt es wieder ab, setzt es wieder auf, und wir wissen nie ganz genau, woran wir sind. Erzähltechnisch gesprochen heißt dies, dass die Position des Erzählers keine verlässliche, aber auch keine konstant unzuverlässige ist. Die kunstvoll-souveränen Gesten des Erzählers sind durch das Erzählte immer schon unterminiert. Damit lässt sich aber die Annahme einer »ursprünglichen Anordnung«, die der Erzählung zugrunde liege, nicht länger vereinbaren. Wenn Freud behauptet, »die Phantasiebearbeitung des Dichters« habe »die Elemente des Stoffes […] wild herumgewirbelt«37, er könne aber ihren Sinn »erraten«, so muss dies jetzt umgekehrt heißen: Gerade dieses Herumwirbeln ist eine sehr zutreffende Beschreibung für den Sog und den Drehschwindel, der von dem Text ausgeht und dessen Sinn und die sinnliche Gewissheit des Lesers aporetisch werden lässt. Dies geschieht ausschließlich mit sprachlichen Mitteln. Hier erweist sich noch das kleinste Element als semantisch überdeterminiert, so dass ein immer dichteres Netz von Verweisungen entsteht. »Die buschigten grauen Augenbrauen des Coppelius« kehren in der Schlusskatastrophe im »sonderbaren kleinen grauen Busch« wieder, von dem wir nicht wissen, was er ist, weil Clara vor dem Glase steht und Coppelius erst hinterher auf dem Marktplatz erscheint. Erstaunliche Sprachspiele finden statt: z. B. in der Tanzszene mit der schönen ›Automate‹ Olimpia. »Nathanael merkte bald, wie sehr ihm der Takt gemangelt« […] »er ermangelte nicht, sie immer wieder aufzuziehen«.

In einer kurzen Fußnote – und damit komme ich zur zweiten Stelle – hat Freud eine derartige semiotische Lektüre probiert.38 Er führt die Namen Coppola und Coppelius zurück auf »Coppella = Probiertiegel, was an die chemischen Experimente erinnert, bei denen der Vater tödlich verunglückte, und auf coppo = Au37 Ebd., S. 243. 38 Ebd., S. 263.

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genhöhle«, was auf das durchgehende Motiv des Augenherausreißens verweist. Das ist ein Knoten der semantischen Verdichtung, der die verschiedensten Verschiebungen auslöst. Coppo/Coppella verweist auf die leeren Augenhöhlen des Wandschranks in der Urszene; auf die blickenden und die blutigen Augen später; auf die einem ruhigen See gleichenden Augen der Clara oder die mondfeuchten Augen der Olimpia. Coppo/Coppella verweist auf die Metaphorik des Feuers: auf die Urszene ebenso wie auf das Wahnsinnsmotiv des Feuerkreises; auf die Explosion, die zum Tod des Vaters führte, und auf die abgebrannte Wohnung Nathanaels. Coppo/Coppella verweist weiter auf die grammatische Funktion der Kopula, der elementarsten Form sprachlicher Assoziation, die durch den Sandmann gestört wird. Coppola tritt »am 30. Oktober mittags um 12 Uhr« in Nathanaels Stube; zur »Mittagsstunde« stürzt sich am Schluss der Erzählung Nathanael vom Turm. Coppelius und Coppola stehen durchgehend in Verbindung mit der Topographie der Treppe, die nicht erst in Kafkas Odradek oder in Hitchcocks Filmen einen bevorzugten Ort des Unheimlichen darstellt. – Die Energetik des Unheimlichen, der wir durch den Text in allen seinen Schichten oder Verwebungen ausgesetzt sind, durchschlägt unsere sprachgeleitete Wahrnehmung und verdankt sich keineswegs primär der Darstellung eines ›traurigen Falls‹. (Es handelt sich im wörtlichen Sinne tatsächlich um einen Fall: man muss nur nachlesen, wie oft Nathanael stürzt …)

■ V Freuds Untersuchung des Unheimlichen richtete sich nicht allein und nicht primär auf kunst- oder literaturtheoretische Aspekte39, sondern auf das ganze Feld dieses besonderen Affekts. Umso mehr muss man sich fragen, warum die Analyse der Hoffmannschen Erzählung und überhaupt des Unheimlichen der dichterischen Fiktion im Gesamt der Abhandlung ein derart großes Gewicht gegeben wird. Damit richtet sich der Blick auf die Argumentations- und Darstellungsweise der Abhandlung, die in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlich ist. Sie liest sich so, als habe sich die Sandmann-Lektüre auf die Abfassung des gesamten Texts ausgewirkt. So wie in Hoffmanns Erzählung, nach Freuds Interpretation, der Sandmann als Störer der erfüllten Liebe dazwischentritt, so stört das Unheimliche, in der Schwierigkeit, es begrifflich fassen zu können, immer wieder den 39 Die komplexen und nicht unproblematischen Beziehungen der Freudschen Theorie zu Kunst und Dichtung skizziert in großer Schärfe Jean-Louis Baudry, »Freud und das ›dichterische Schaffen‹«, in: Jean-Louis Baudry, Jean-Joseph Goux, Marcelin Pleynet, Jean-Louis Houdebine, Julia Kristeva, Philippe Sollers, Tel quel. Die Demaskierung der bürgerlichen Kulturideologie, Marxismus. Psychoanalyse. Strukturalismus, München 1971 (zuerst Théorie d’ensemble, Paris 1968), S. 59-85.

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Gang der Abhandlung und sperrt sich gegen Freuds »Vorliebe für glatte Erledigung und durchsichtige Darstellung«40. Schon der dreiteilige Aufbau der Abhandlung ist seltsam: Im ersten Teil wird anhand von Wörterbüchern die Semantik von ›unheimlich‹ in den europäischen Sprachen befragt und in ihren sprachlichen Diskrepanzen aufgewiesen; danach aber bildet die Sprachlichkeit keinen Gegenstand der Reflexion mehr. Im dritten Teil werden zu Beginn die Zweifel des Lesers zuhilfe gerufen, die faktisch nicht laut werden können, so dass er sich, wie der Leser bei Hoffmann, als Alter Ego des Autors in eine literarische Fiktion versetzt fühlen muss. Der mittlere Teil, der mit der Sandmann-Analyse einsetzt, erschöpft sich danach in einer Aufzählung immer weiterer Beispiele, die – wie auch im ersten Teil die Überfülle der sprachlichen Belege – eher irritiert als klärend wirkt. Die Anhäufung von Beispielen soll wiederum durch massive definitorische Grenzziehungen gebändigt werden, die aber selbst wieder zu zahlreich sind, um klärend zu wirken. Es handelt sich, ich zähle es nur auf, um 1. die Grenze zwischen dem Wortgebrauch von unheimlich und den stofflichen Beispielen, 2. die Grenze zwischen der realistischen und der phantastischen Erzählung, 3. die Grenze zwischen Fiktion und Leben, 4. die Grenze zwischen infantil Verdrängtem und phylogenetisch Überwundenem und 5. die selbst wieder zu begrenzende Verdoppelung beider in der Fiktion und im Alltagserleben, 6. die Grenze zwischen einem verdrängten Angstvollen und einem verdrängten Lustvollen, 7. die Grenze zwischen heimlich und unheimlich. Zudem fügt Freud, nachdem er anfangs von seiner Stumpfheit gegenüber dem Gefühl des Unheimlichen gesprochen hatte, später höchst eindrucksvolle Beispiele des eigenen Erlebens ein, in denen er durchaus persönliche Züge preisgibt. Er beschreibt, wie er beim Schlendern in einer italienischen Stadt in eine Gasse mit geschminkten Frauen an den Fenstern gerät und sich dieser ›Besuch‹ gegen seinen Willen und zu seiner größten Peinlichkeit dreimal wiederholt. Ihn erfasste ein unheimliches Gefühl wie einen Bergwanderer, der im Nebel nicht zurückfindet. Er beschreibt sich als 62-Jährigen, den es beunruhigt, auf diese Zahl bei den verschiedensten Gelegenheiten wiederholt und kurz hintereinander zu treffen. Er fühlt sich unheimlich berührt, kurz hintereinander Post von verschiedenen Personen gleichen Namens zu erhalten. Oder er berichtet von einem Doppelgängererlebnis im Eisenbahncoupé, wo er sich im Spiegel für einen fremden älteren Herrn hält, der ihm gründlich missfällt. Derart streut Freud selbst Zweifel gegenüber seiner Behauptung, er habe derartige animistische und dämonische Vorstellungen »bei sich gründlich und endgültig erledigt. […] Das merkwürdigste Zusammentreffen […], die rätselhafteste

40 Freud 1919h, G.W. XII, S. 263.

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Wiederholung […], die täuschendsten Gesichtswahrnehmungen […]« würden »keine Angst in ihm erwecken, die man als Angst vor dem Unheimlichen bezeichnen könne.«41 Weiter spricht dagegen eine Passage, wo Freud über seine Beispiele reflektiert. »Im allerhöchsten Grade unheimlich erscheint vielen Menschen, was mit dem Tod, mit Leichen und mit der Wiederkehr der Toten, mit Geistern und Gespenstern zusammenhängt. […] Wir hätten eigentlich unsere Untersuchung mit diesem, vielleicht stärksten Beispiel von Unheimlichkeit beginnen können, aber wir taten es nicht, weil hier das Unheimliche zu sehr mit dem Grauenhaften vermengt und zum Teil von ihm gedeckt ist. Aber auf kaum einem anderen Gebiete hat sich unser Denken und Fühlen seit den Urzeiten so wenig verändert […].«42

Daran schließt eine längere Reflexion an, die zeigt, wie Freud ›mit dem Tode ringt‹. »Der Satz: alle Menschen müssen sterben, paradiert zwar in den Lehrbüchern der Logik als Vorbild einer allgemeinen Behauptung, aber keinem Menschen leuchtet er ein, und unser Unbewußtes [das »Unbewußte«, das Freud wissenschaftlich begründete] hat jetzt so wenig Raum wie vormals für die Vorstellung der eigenen Sterblichkeit.«43

Schließlich steht die Abhandlung über das Unheimliche, in der Freud dem tödlichen Wiederholungszwang als unheimlicher Wiederkehr des Verdrängten Raum gibt, selbst in einem Wiederholungszusammenhang, der durch den Selbstmord seines Schülers Tausk nun wirklich einen höchst erschreckenden und unheimlichen Charakter gewinnt.44 Es sollen hier keine gewagten Spekulationen über diesen Selbstmord und Freuds Sandmann-Lektüre angestellt werden. Aber man wird es nicht für eine bloß wissenschaftlich distanzierte Bemerkung halten können, wenn Freud bemerkt, das Mittelalter habe »psychologisch beinahe korrekt« den Wahnsinn »der Wirkung von Dämonen zugeschrieben« und dann fortfährt: »Ja ich würde mich nicht verwundern zu hören, daß die Psychoanalyse, die sich mit der Aufdeckung dieser geheimen Kräfte beschäftigt, vielen Menschen darum selbst unheimlich geworden ist«.45 41 Ebd., S. 262. 42 Derrida, indem er die Rhetorik des Gespenstes bei Marx analysiert und dabei, wenn auch nur sehr knapp, auf Freud eingeht, hebt den Einschub- oder Aufschubcharakter dieser Passage besonders hervor: »Dans un uncroyable paragraphe de ›Das Unheimliche‹, Freud reconnaît d’ailleurs que c’est par là, par ce que dit le ›es spukt‹, qu’il aurait dû commencer ses recherches […].« Jacques Derrida, Spectres de Marx, Paris 1993, S. 273. 43 Freud 1919h, G.W. XII, S. 255. 44 Wie sich die ›Tausk-Affaire‹ in Freuds Text über das Unheimliche eingeschrieben hat, analysiert das Kapitel »Freud and the Sandmann« in Neil Hertz’ Buch The end of the line. Essays on psychoanalysis and the sublime, New York 1985, S. 97-121. Jetzt in deutscher Übersetzung: N.H., Das Ende des Weges. Die Psychoanalyse und das Erhabene, Frankfurt a. M. 2001, S. 127 – 156.

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All dies hier Zusammengetragene deutet auf Veränderungen hin, die theoretisch mit der Schrift Jenseits des Lustprinzips durch den Dualismus von Todesund Lebenstrieben sowie durch die Topographie des psychischen Apparats von Ich, Es und Über-Ich in ein grundlegend revidiertes System gebracht werden. Was die Einführung des Todestriebs, als Begründung eines nicht nur neurotischen, sondern trieblichen Wiederholungszwangs für die bisherigen Grundbegriffe bedeutet, soll aber hier nicht näher erörtert werden. Denn man würde bei der Abhandlung über das Unheimliche eher auf eine falsche Fährte geführt, wenn man ihre Ungereimtheiten auf eine noch unentschiedene Haltung Freuds bezöge, ob die bisherige Annahme einer alleinigen Herrschaft des Lustprinzips über alle Erregungsvorgänge des Seelenlebens zu revidieren sei. Man kann nicht sagen, das Unheimliche sei die noch ambivalente erste Formulierung des Todestriebs, auch wenn eine bestimmte Passage über den Wiederholungszwang dies anzuzeigen scheint.46 Was die Abhandlung über das Unheimlichen beunruhigt, ist etwas anderes. Es geht um die Wiederkehr des Verdrängten als etwas dem Seelenleben von alters her Vertrauten, das sich durch die Verdrängung in Angst verwandelt hat und insofern besser verdrängt bliebe. Da Freuds Begriff der Verdrängung, wie auch die Beispiele belegen, sich sowohl ontogenetisch auf die »individuelle Vorzeit« wie phylogenetisch auf die »Völkerurzeit«47 bezieht, steht hier nichts weniger als ein psychoanalytisches Fazit des Geschichtsverlaufs auf dem Spiel. Man versteht nun vielleicht besser, warum Freud so hartnäckig auf den beiden Hauptunterscheidungen besteht, nämlich erstens auf der Trennung zwischen einem Unheimlichen des Erlebens und einem Unheimlichen der künstlerischen Fiktion sowie zweitens auf der Trennung zwischen einem Unheimlichen, das infantil verdrängt wurde, und einem Unheimlichen, das zivilisatorisch überwunden sei. Und obschon er doch eingesteht, dass eine »Verwischung der Abgrenzungen« unvermeidlich sei, richtet sich sein ganzes Interesse darauf, die Wiederkehr des Verdrängten, das von infantilen Komplexen ausgeht, von einem Wiederauftauchen des Zivilisatorisch-Überwundenen strikt zu trennen. Für »die Theorie ist die Unterscheidung der beiden sehr bedeutsam«. Der »Zustand, in dem sich die animistischen Überzeugungen des Kulturmenschen befinden« müssen wir »als ein – mehr oder weniger vollkommenes – Überwundensein bezeichnen.«48

45 Freud 1919h, G.W. XII, S. 257. 46 Ebd., S. 251. Freud verweist hier »auf eine bereitliegende ausführliche Darstellung in anderem Zusammenhange«. Das Unheimliche und der erste Entwurf von Jenseits des Lustprinzips werden im Mai 1919 abgeschlossen. 47 Ebd., S. 259. 48 Ebd., S. 263.

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Aber diese strikte Unterscheidung zwischen dem individualpathologisch Verdrängten und dem kulturgeschichtlich Überwundenen ist durch und durch fragwürdig. Gerade Hoffmanns Erzählung Der Sandmann bietet nicht allein ein literarisches Zeugnis für den infantilen Kastrationskomplex, sondern ebenso eine eindrucksvolle Seismographik für die Wiederkehr ›primitiver‹, ›archaischer‹ Denkweisen unter den Bedingungen der neuen technischen, ökonomischen, politischen Realitäten des 19. Jahrhunderts. Die naturwissenschaftliche Erforschung der Elektrizität, das Vordringen der Maschinenproduktion und die Ausbildung neuer medialer Formen politischer Kontrolle49 werden bei Hoffmann keineswegs romantisch-innerlich poetisiert, sondern als Magie neuer unbewältigter Kräfte höchst wach registriert. (Hoffmanns satirisches Märchen Klein Zaches lässt sich mühelos als Vorankündigung der heutigen Mediokratie lesen). Dass die Menschheit unter den Bedingungen einer technisch global hochgerüsteten Zivilisation immer mehr vergisst und verliert, was sie als magische, mimetische, animistische, religiöse Naturpraxis vermochte, verhindert offenkundig nicht das Weiterwirken der ihr korrespondierenden archaischen Glaubensvorstellungen, scheint deren Weiterwirken vielmehr eher anzutreiben. So betrachtet, bringt die Rede vom Überwundensein archaischer unheimlicher Gefühle die kulturtheoretische Symptomatik des Unheimlichen um ihrer Brisanz. Freud, Theoretiker der Neurose und skeptischer Kulturkritiker, analysiert zwar sehr genau, dass wir in vielerlei Hinsicht »noch so denken wie die Wilden«50, aber ist doch von diesem Noch, das künftig bessere Erkenntnis verspricht, überzeugt. Auch die andere strikte Trennung, die Freud zwischen dem Unheimlichen des Erlebens und dem Unheimlichen in der Dichtung aufrichtet, ist problematisch, verstellt sie doch die Frage, ob nicht gerade die Künste einen vorgeschobenen Posten bilden, um des Archaischen in der Moderne gewahr zu werden. Stattdessen wird, um das Vertrauen auf den Fortgang der wissenschaftlichen Aufklärung nicht zu gefährden, das Feld des Unheimlichen aufgeteilt und befestigt: in überwundene primitive Überzeugungen, die der zivilisierte »Kulturmensch« jederzeit der Realitätsprüfung unterwerfen kann; in das Unheimliche der Fiktion, wo der Dichter und der Künstler mit vergangenen Gespenstern komisch, realistisch, phantastisch nach Gusto schalten und walten kann; und in das Unheimliche innerhalb der infantil-neurotischen Symptomatik.51 Diese wohlabgewogene, auf den weiteren Gang der Geschichte vertrauende Trias aus Zivilisation, Kunst und Individualneurose kann nicht im Ernst das Resultat sein, zu dem die Psychoanalyse des Unheimlichen gelangt. Die Abhandlung führt, wie zu zei49 Siehe hierzu die texttheoretisch und psychoanalytisch unsensiblen, aber in sozialgeschichtlicher Hinsicht ergiebigen Arbeiten von Lienhard Wawrzyn, Der Automatenmensch. E. T. A. Hoffmanns Erzählung vom Sandmann. Mit Bildern aus Alltag und Wahnsinn, Berlin 1994 und von Michael Rohrwasser, Coppelius, Cagliostro und Napoléon. Der verborgene politische Blick E. T. A. Hoffmanns, Frankfurt a. M. 1991. 50 Freud 1919h, G.W. XII, S.256.

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gen war, beträchtliches Sperrgut mit sich, um sich einem derart modesten Resultat zu fügen. Im Unheimlichen findet Freud, so sehr er sich auch gegen diese Einsicht wehren möchte, seiner Theorie- und Therapiearbeit einen gespenstischen Spiegel vorgehalten, der das Pathos des Fortschritts wissenschaftlicher Erkenntnis konterkariert. Insofern sind die ›Ortsangaben‹, die das Feld der Abhandlung markieren, ganz ernst zu nehmen. Am Anfang heißt es, dass ein »abseits liegendes« Gebiet52 erschlossen werden solle. Am Ende heißt es: »Wir sind auf dieses Gebiet der Forschung ohne rechte Absicht geführt worden […]«.53 Bis zuletzt sieht sich Freud in unheimliche Wiederholungen verwickelt, fragt sich, in welche Irre er sich mit diesem Thema hat führen lassen und behilft sich mit dem Verweis auf eine Klärung am anderen Ort. Das Unheimliche ist der Text, in dem die Psychoanalyse sich selbst einen Augenblick lang unheimlich wird. Abbildungsnachweis: Abb. 1 in: Julius Eduard Hitzig, E. T. A. Hoffmanns Leben und Nachlaß (1823), Frankfurt a. M. 1986.

51 Zur Frage, in welchem Umfang die neurotische Symptomatik Thema der Künste sein kann, wäre eine anderer Text heranzuziehen: Freuds wie Das Unheimliche ebenfalls noch vor dem Weltkrieg entworfene aber unüberarbeitet und unpubliziert gebliebene Abhandlung Psychopathische Personen auf der Bühne (Freud 1942a, G.W. Nachtragsband, S. 655 – 661). 52 Freud 1919h, G.W. XII, S. 229. 53 Ebd., S. 268.

■ Hélène Cixous

Die Fiktion und ihre Geister Eine Lektüre von Freuds Das Unheimliche

Wir schlagen hier eine zwiespältige Lesart ein, eine Lektüre zwischen Literatur und Psychoanalyse, deren doppelte Aufmerksamkeit sowohl dem gilt, was sich in der Entfaltung des Textes zeigt, als auch dem, was sich entzieht und die sich auf diesem Weg, der uns weniger ein Diskurs als vielmehr ein sonderbarer theoretischer Roman zu sein scheint, teils von Freud leiten lässt, teils ihn überholt. In Das Unheimliche gibt es etwas »Wildes«, einen Hauch, einen Geist der Provokation, welcher gelegentlich den Autor selbst unvorbereitet trifft, ihn überflügelt und zurückhält. Ein wechselseitiges Feuer flammt auf zwischen Freud und dem Objekt seiner Begierde, nämlich der Wahrheit über das Unheimliche. Ein Text der Ungewissheit: Freuds umfangreiches Um-Schreiben des Konzepts des Unheimlichen, der Fremdheit des Unheimlichen, stellt ein engmaschiges Netz wiederholter Verknüpfungen und Lösungen dar und schreibt in sonderbarer Weise ein System von Beunruhigungen fest. Nichts ist für den Leser weniger beruhigend als diese pedantische, vorsichtige – doch durchtriebene und endlose – Nachstellung, nichts ist beunruhigender als diese Untersuchung von »Etwas«, einem Bereich, einer emotionalen Bewegung, einem unmöglich zu bestimmenden, in Form, Intensität, Eigenschaft und Inhalt variablen Konzept, nichts entzieht sich mehr als diese Suche, die dem Suchenden Labyrinthe beschert; überall bietet das Sonderbare seine geheime Notwendigkeit an. Ein Doppelgänger des Autors vollbringt dessen widersprüchliches Vorgehen: das Zögern, ein Text, sein zögernder Schatten und deren doppeltes Ausreißen. Verknüpfungen: Doch was hier zusammenkommt, wird dort aufgelöst, was sich behauptet, wird geahnt, die Fäden führen zu ihrem Schnittpunkt oder zu ihrer Entwirrung. Im labyrinthischen Raum erscheinen zahlreiche Personen, die als Zeugen zitiert, befragt, beleuchtet und alsbald in irgendeine Straßen- oder Paragraphenecke zurückgeschickt werden. Vor den Augen des Lesers entsteht unweigerlich die Form eines Marionettenspiels, in dem wirkliche Puppen und Trugbilder von Hampelmännern, wahres und falsches Leben von einem zwar souveränen, aber launenhaften Bühnenmeister in Bewegung gesetzt werden. Gezogene Fäden, lockere, verwickelte. Zentrierte Szenen, zerstreute. Angeschnittene Erzählungen, ausgesetzte. Alles schlägt hier fehl. Die Lektüre springt von einem Rand zum anderen. Man meint, einer Beweisführung zu folgen und spürt, wie der Boden brüchig wird: Der Text schlägt einige unterirdische Wurzeln, andere hängen in der Luft. Was hier wie Wissenschaft aussieht, ähnelt etwas weiter einem Roman. Als Metapher seiner selbst schreitet

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der Text voran, wie Mallarmé hinsichtlich Hamlets erinnert, das eigene Buch lesend und dabei festhaltend, was das Gedächtnis im Gegenüber prophezeit. O my prophetic soul! Einem Text der Unsicherheit gilt ein misstrauisches, jedoch fasziniertes Lesen: denn, wenn im Austausch zwischen Text und Lesen, in diesem Spiel der Verführung, bei welcher der Text stets im Vorsprung ist, der Zweifel des Textes den Zweifel des Lesers schafft, kann dieser genau dadurch Vergnügen und Kühnheit gewinnen. Hier also wird es um das sonderbare Vergnügen gehen, das die Lektüre von Freuds Text bereitet, und um das, was ihm untrennbar unterliegt: ein Unbehagen, das Freuds eigenes annimmt, es beschreibt und sich nur selten davon zu unterscheiden vermag. Auf zwei Wegen, wie wir sehen werden, führt Freud seine Ermittlung über das erschreckende Etwas, das den Kern des Unheimlichen bildet. Auf zwei Wege der Lesart, nach Freuds Belieben und trotz Freud, werden wir uns begeben, durch das Sichere und durch das Hypothetische, durch Wissenschaft und Fiktion oder auch durch »Symbolisiertes« und »Symbolisierendes«, mit und aus Ambivalenz, die der unentscheidbaren Natur von allem entspricht, was das Unheimliche berührt: Leben und Fiktion, Leben als Fiktion, Ödipusmythos, Kastrationskomplex, literarische Schöpfung. Unschlüssig der Analytiker, der Psychologe, der Leser, der Schriftsteller: die vielfältigen benannten oder anonymen Themen, die im Rahmen des von Freud selbst verschränkten Textes erscheinen und verschwinden, schlagen mindestens zwei Wege ein, die uns unzufrieden zurücklassen. Wir, die wir uns führen lassen, folgen zunächst Freuds Aufruf fügsam und sind mit ihm enttäuscht: denn die Komplexität der Analyse, ihre Dichte gehen mit der Unentschlossenheit des Analytikers einher. Spiel oder neues Spiel des Zögerns? Ist die Analyse, welche die Frage einer in Falten gelegten Verdrängung aufwirft, nicht hier und dort von den Folgen geprägt, die sie demjenigen, der sie durchführt, bereitet? Alles geschieht, als schlage das Unheimliche gegen Freud selbst zurück – das Verfolgte pendelt gegen den Verfolger zurück; als sei der Motor eine bestimmte Verdrängung von Freud, die jederzeit die Analyse der Verdrängung, die Freud durchführt, wiedergibt: Das Unheimliche steht am Ursprung der Analyse, die Freud davon vornimmt. Sie sondert das Unheimliche aus der Analyse ab, die von ihm gemacht wird. Wir werden sehen, dass unsere Rolle als Leser, der in das Unheimliche verfangen ist, eine seltsame Doppelrolle des anderen Lesers ist, desjenigen, mit dem wir gelegentlich spektral identifiziert werden, nämlich des Sandmanns. Freud zufolge1 springt die gefährliche Brille, die vom Erzähler zum glücklosen Helden wandert, in die Augen des Lesers, den sie in die furchtbare 1 Die Texte S. Freuds werden zitiert nach: Gesammelte Werke, Frankfurt. a. M. 1960-1987 (G.W., Band in röm. Ziffern) und Gerhard Fichtner, Ingeborg Meyer-Palmedo, Freud-Bibliographie und Werkkonkordanz, Frankfurt a. M. 1989. Freud 1919h, G.W. XII, S. 242.

H. Cixous · Die Fiktion und ihre Geister

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Singularität der Welt der Doppelgänger wirft. So kann es keinerlei Zweifel hinsichtlich der zweifelhaften Identität der bedrohenden Personen geben, doch was die zusätzlichen Augen erkennen können, hat Raum weder im Realen noch im Wahrscheinlichen, sondern nur im Unheimlichen, im Verkannten oder Unerkennbaren. Zwar verweist die Augengeschichte stets auf die Kastration, dennoch ist es keine einfache Ödipusgeschichte; durch das unaufhörliche Spiel der Vertauschung wird das Auge vervielfacht und seine vertraute Arbeitsweise verändert sich in rätselhafter Erzeugung der zerstreuten Doppelgänger, Flammenkörner, Sterne, Gläser, Brillen, einer zu fernen oder zu nahen Perspektive, eines Theatergeheimnisses, das Freuds Text nachahmt, streift und wieder flieht. Dreimal begibt sich Freud zur Zusammenkunft mit dem Unheimlichen und versucht es, vom Zweifel ausgehend, zu beschreiben: das ganze Unternehmen bezeichnet sich von Beginn an als Akt theoretischer Kühnheit und zugleich als Antwort auf eine aus dem zu erforschenden Gebiet stammende Anforderung. Subtil fordert das Unheimliche zur Grenzübertretung auf; Antwort oder vielleicht Vorwegnahme seitens Freuds. Die Begierde hat etwas von einem Abenteuer; sie sichert ein Kommen und Gehen, bestimmt Umwege und Pausen. Zunächst im Prolog, rechtfertigt sich Freud in vier Absätzen – bis zur Selbstentlastung, dass er einen Ort in Beschlag nehme, welcher der analytischen Rechtsprechung scheinbar nicht unterliege, ein »abseits liegendes« Gebiet. Die Psychoanalyse bemächtige sich eines von der Ästhetik vernachlässigten Gebiets der Ästhetik; es sei jedoch nicht der erste Abstecher dieser Art: schon lange »rufe« das Kunstwerk Freud »an«, und schon lange schiele er nach seinen verführerischen Wirkungen. Seine Entschuldigung gründet hier auf die Frage des »Fühlens«, auf die Notwendigkeit, dessen flüchtige Eintagsökonomie zu untersuchen. Für die Psychoanalyse seien die Gefühlsregungen als solche keine Untersuchungsgegenstände; sie bildeten nur den Stoff von Wirkungen, die der Ästhetik unterworfen sind. Die Psychoanalyse interessiert sich für das »psychische Leben«, für das »tiefe« Gebiet. Hier lüftet sich das Geheimnis der literarischen Schöpfung; das Geheimnis jener beneidenswerten Macht des Schöpfers, der uns zu verführen vermag, das ist es, was Freud fasziniert: »[…] die Freiheiten des Dichters und damit die Vorrechte der Fiktion in der Hervorrufung und Hemmung« von Gefühlen oder Phantasien des Lesers, die Macht, die Elle der Zensur höher oder niedriger anzusetzen. Daher jene vielfältigen Gesten, um zu einer Theorie dieser Macht anzusetzen unter Ankündigung einer Verlockungsprämie oder der Vorlust. So in Der Dichter und das Phantasieren (1907), wo das theoretische Urteil nur als Bedauern eines Textes, der die Phantasien des Schöpfers behandelt, einsetzt. Man spüre hier die Mischung aus Misstrauen und Anziehung, mit welcher Freud um diese Lust (die bis zum Lustprinzip und darüber hinaus reicht2) kreist, die aus der Zusammenkunft zweier Arten von Lustgewinn be2 Das Unheimliche erschien in: Imago (1919), Bd. V. Jenseits des Lustprinzips erschien im Mai

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steht: aus der durch das formale Gelingen gewonnenen Verlockungsprämie, die ihrerseits wiederum die »tatsächliche« Lust ermöglicht; Zusammenfließen vieler Quellen der Lust. Freud beruft sich zunächst auf die Technik des Schöpfers, womit jene Abstoßung überwunden wird, welche die Phantasie des Anderen als Anderen verursacht. Die Ars poetica begünstige einen Identifizierungsprozess, sie arbeite an »den Schranken […] welche sich zwischen jedem einzelnen Ich und den anderen erheben«. Die – mit der Vorstellung verbundene – formale Lust verberge und erlaube die Entbindung einer anderen Lust aus tiefer liegenden Quellen. Vielleicht kehren wir dann, durch den Umweg über den Anderen, zu unseren eigenen Phantasien zurück, zur »Befreiung von Spannungen« in »unserer Seele«. Allerdings, wenn die Theorie der Verlockungsprämie in ihrem Prinzip offenbar auf einem hedonistischen »Thematismus«3 beruht, lässt sie das entkommen – daher die Verschiebung der Theorie –, was keinerlei Thema oder Signifikat umfassen kann, und was genau das Unheimliche ist. Freud setzt das Unheimliche in einer elastischen Definition zugleich als »Gebiet« und als »Konzept«. Denn das »Gebiet« bleibt unbestimmbar, das Konzept ist ohne Kern: das Unheimliche präsentiert sich zunächst am Rande von etwas anderem. Freud zeigt seine Verwandtschaft mit anderen Konzepten auf, die ihm ähneln (Schreck, Angst, Grauen): es ist in der »Familie«, ohne zur Familie zu gehören. Sicher sei, erklärt Freud, dass der Gebrauch des Unheimlichen unsicher ist. Die Unbestimmbarkeit gehört zum »Konzept«. Aussage und Darlegung fließen darin zusammen. Unfassbare Aussage: dennoch will Freud, gestützt auf das Vorhandensein des Unheimlichen, sich an den Sinn, das Reale, an die Realität des Sinns der Dinge halten. Er forscht also nach dem »Grund des Sinns«. Die Analyse wird alsbald in der Denotation verankert. Nun handelt es sich um ein Konzept, dessen ganze Denotation Konnotation ist. Dritter Absatz: mit großer Unerbittlichkeit kehrt Freud auf den Punkt zurück, wenn er nach dem Beitrag der Ästhetik und der psychologischen Medizin fragt. Er weist auf die Grenzen der Ästhetik hin, welche durch Verdrängung und ideologische Determinierung gesetzt sind: diese Wissenschaft behandle die positiven Gefühle und verstoße die gegensätzlichen (das Hässliche ist als positiver Wert in der Tradition nicht weit gekommen). Daran schließt sich die neuro-psychiatrische Untersuchung von E. Jentsch an.4 Laut Freud ist sie zugleich interessant und enttäuschend: als unzureichender, doch respektierter Vorläufer wird Jentsch mit seinem phänomenologischen Zugang des Unheimlichen nunmehr die »laizistische«, »intellektuelle« und eigentlich anti-analytische Haltung abgeben. Für Jentschs Schei3 1920, wurde aber Freud zufolge 1919 geschrieben. Man verstehe die Gestaltungsbeziehung dieser beiden (unzertrennbaren) Texte als Chiasma. Sie beziehen sich aufeinander. 3 Siehe Jacques Derrida, »La double séance (II)«, in: Tel quel, 42 (1970), S. 38, Anm. 43. 4 Die von Freud zitierte Untersuchung (S. 231) erschien 1906. Bemerkenswertes Verhältnis von Freud zu seinem faszinierenden Vorgänger: trotz allem scheint das Unheimliche mit Intellektualität etwas zu tun zu haben.

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tern nennt Freud von Beginn an einen subjektiven Grund: er habe die Literatur nicht »gründlich« konsultiert; er habe sich auf die Alltagserfahrung beschränkt; er verliere daher »jeden Anspruch auf Priorität«. Die Psychoanalyse will die Literatur befragen. Über das System der Prioritäten wird eine Hierarchie gelegt. Freud appelliert an das, was noch nicht theoretisiert wurde, insbesondere an »die Feinfühligkeit«, genauer gesagt, die eigene, die exemplarisch und dabei doch vom Durchschnitt verschieden sei, da sie »besonders stumpf in dieser Sache« sei. Freud, »der Autor dieser neuen Unternehmung«, löst hier Jentsch ab und tritt in doppelter Verkleidung auf die Bühne: als Akteur und als Bühnenmeister, als Analytiker und als Analysand. »Er hat schon lange nichts erlebt oder kennengelernt, was ihm den Eindruck des Unheimlichen gemacht hätte […].« Durch die Unternehmung des Autors in Frage gestellt, wird das Subjekt, das er ist, zum Ort eines Staunens: was ihm vertraut gewesen ist, wird ihm jetzt unheimlich. Die Dinge können ihn nicht mehr erreichen… Er muss ihnen also entgegenkommen: so bedrängt sich der Forscher, kommt wieder zu sich, damit die Vorstellung, die ihm als Erfahrung dienen wird, aufkommt. Erste Rückkehr dessen, was verloren ging: die Gespensterprozession wird auf Schleichwegen eingeleitet. Dann, wie als Reaktion gegen ein begehrtes nostos, das jedoch die Melancholie ablehnt, kehrt Freud vom Besonderen zum Universellen oder doch beinah zurück: Er ruft die »meisten« (Menschen) an, appelliert an einen beinah unmöglichen Konsens. Und wenn das Unheimliche von allen gleichermaßen anerkannt werde? Eine paradoxe Hoffnung, denkt man sogleich, denn es liegt in der Logik des Unheimlichen, sonderbar zu bleiben. Die Hoffnung darf nicht abgewiesen werden: das Pathetische bei dem Risiko, den Wissenschaftler gegenüber dem Nicht-Wissenschaftler zu stützen, erinnert an den konstituierenden Abstand des Unheimlichen zwischen Vertrautem und Nichtvertrautem, den Freud an die Schwelle seiner Forschung setzt. Genauso wie das noch unbestimmte Unheimliche den Status des Konzepts genießt, genauso nimmt der Nicht-Wissenschaftler die Würde des Wissenschaftlers an. An dieser zweideutigen Ecke, an der sich der Autor als zögerndes Subjekt seiner Forschung bekennt, wechselt der Text zur Methodenwahl über: die Unentschlossenheit wird zur Möglichkeit eines Fortschritts. Eine Gabelung: »man kann zwei Wege einschlagen.« Beide führen in unterschiedlicher Weise zum gleichen Ergebnis, was den Prozess wieder in Schwung bringt; der eine (der linguistische) oder der andere (das Alltagsleben) oder beide. Von der Ambivalenz zur Ambivalenz, von der Sprache als Allgemeinem zur Welt als Serie von Einzelfällen; dennoch werden uns diese beiden Wege nur einmal angeboten, die von Freud getroffene Wahl und der bereits eingeschlagene Weg ist, dass er uns eine Ordnung aufdrängt, die umgekehrt zu derjenigen ist, die er befolgte. Nachträglich präsentiert sich die Geschichte der Forschung über den anderen Weg. Als habe er mit dem Unsagbaren des Unheimlichen, mit dem, was sich in der Sprache manifestiert, beginnen wollen.

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Der umgekehrte Weg: eine Geschichte des »un«. Freud kündigt einen lexikalisch kommentierten Auszug an, wobei er von dem ausgeht, was Jentsch auslässt: was gibt es jenseits des Nicht-Vertrauten, des Neuartigen? Der von Jentsch dargelegte psychologische Gesichtspunkt (das Unheimliche als intellektuelle Unsicherheit), der Anteil des Sehens, des Wissens, der Umgebung machen den ersten Stand der Ermittlung aus: das Unheimliche erscheint dort als Etwas, das von der Welt an das Subjekt gebracht wird. Nichts anderes als die sogleich eingebrachte und verschobene Position von Jentsch: was sagt die Sprache dazu? Die lexikalische Folge, eine Reise der Referenz durch die Fremdsprachen, stellt einen Absatz eines polylinguistischen Wörterbuchs dar. Durch dieses Auslegen von Definitionen hindurch kehrt die Welt als Stichprobenerhebung des Alltags, der Haushalts- und Familienökonomie, des Häuslichen zurück und dennoch wirkt dieses Sammelsurium, weit entfernt davon, unser Zutrauen zu erregen, diese Kette von Zitaten, die heimlich oder unheimlich auffädelt, auf uns wie ein gewaltiger delirierender Diskurs. Die Welt stellt sich hier in trügerischer Reduktion dar, nicht ohne die polymorphe Perversität des Kinder-Wörterbuchs: die Gesamtheit der Absätze strömt einen onirischen Nebel aus, da jede lexikalische Inventur notwendig mit den Grenzen des Eigentlichen und des Bildhaften spielt. Und Freud ist es selbst, der dem Durcheinander das entlockt, worauf es ankommt: in extremis produziert das Wörterbuch das Indiz: »Unheimlich sei alles, was ein Geheimnis, im Verborgenen bleiben sollte und hervorgetreten ist.«5 So wird einerseits das lexikologische Unternehmen von dem Absatz nachgeahmt, der auch als Metapher seiner eigenen Szene funktioniert. Andererseits reißt Schellings Auftritt jäh den Vorhang auf: »Alles, was im Verborgenen bleiben sollte«. Schelling verbindet das Unheimliche mit einem Verstoß gegen die Scham. Erst am Ende taucht die Bedrohung des Sexuellen auf. Sie war jedoch stets vorhanden, in der Paarung und der Vermehrung von heimlich und unheimlich: wenn das eine das andere berührt, schließt sich der Absatz des Wörterbuchs wieder, schließt die Geschichte des Sinns bei sich selbst und zeichnet in dieser Geste die Gestalt des Androgynen nach. Das Wort kommt zusammen, heimlich und unheimlich nehmen einander an, paaren sich. Am Ende der sonderbaren Reise durch die Sprachen kann sich das Unheimliche in diesem Mythos gestalten: von heimlich zu unheimlich reproduziert sich der durchreisende Sinn, wo er erlöscht, wird er entfacht. Der Gegensatz stumpft ab, der Abstand ist nur der Raum für eine Neuerschließung, der Phönix erzeugt sein Ebenbild. Außerdem gibt sich der kommentierende Freud schon Mühe, den verwirrenden Charakter der Verbindung zu mildern, indem er eine Art Verrückung der Gegensätze herbeiführt: bemerkenswerter Widerwille eine absolute Neuerschließung anzuerkennen. Das Zusammenfallen mit dem Gegensatz, sagt er, rührt von der Zugehörigkeit des Heimlichen zu zwei »einander doch recht frem5 Freud 1919h, G.W. XII, S. 232-237. Freuds Text wird vom linguistischen Motiv skandiert.

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den« Vorstellungskreisen her. Dies wirft indirekt die Frage der Hierarchie im Duell der beiden Begriffe auf: gibt es eine Inversion von heimlich zu unheimlich, oder gibt es, ausgehend von heimlich, mit unheimlich das Aufkommen eines neuen Konzepts? Genau darum geht die Untersuchung: was Freuds Aufmerksamkeit beansprucht, das ist gerade Schellings »etwas ganz Neues« zum Inhalt des Konzepts, welches sich dennoch »dort nicht befindet«, sondern sich durch den barocken Wald des Wörterbuchs hindurch windet, beunruhigend nah und bedrohlich unkenntlich. Man erinnere sich, dass Freud für den Leser einen zu seinem eigenen umgekehrten Weg einschlägt: er kommt schließlich beim Sexuellen an, das zu Beginn ignoriert wurde, denn Freud beginnt mit der Sublimierung. Zwei Fäden verbinden sich: ein erster Faden für die Ambivalenz des Sinns, die bis zur Begegnung mit dem Gegenteil reicht; ein zweiter Faden, der die Bemerkung von Schelling einbindet. Die Feststellung lexikalischer Ambivalenz wird davon sexuell beladen. Freud legt den Finger an den Knoten. Er zieht die Fäden und schnürt enger. Die Wahl eines glücklichen Beispiels. Wir kehren an die Gabelung zurück und schlagen jenen Weg ein, der durch die Welt führt. Wieder wird Jentschs Standpunkt angeführt, um ihn sogleich zu überholen. Anstelle des Wörterbuchs die zweigeteilte Szene der beseelten »Objekte« – Freuds Zusammenfassung von Jentschs Standpunkt ist für sich genommen eine muntere Szene. Dabei führt der »Autor« die Beschäftigung mit dem Theater ein, sowohl damit, was das Theater als Trugbild des Lebendigen, als auch damit, was das Leben als Bild an Theatralischem verbergen kann. Auf der Bühne und auf der Bühne der Bühne inszeniert sich das Verhältnis zwischen Freuds Entdeckung in der Ordnung der wissenschaftlichen Wahrheit und dem Mechanismus der Fiktion. Freuds Text selbst funktioniert dabei in der Art einer Fiktion: Die lange Arbeit über die Triebe des Ich, der dramatische Wechsel auf diesen oder jenen Weg, die Auslassungen und Überraschungen, die Sackgassen, all das ähnelt der spezifischen Arbeit der Fiktion, bei welcher der »Autor« jene Vorrechte des Erzählenden ausübt, welche sich der Analytiker nicht gestatten kann. »So gut wie keinem anderen«, schreibt Freud, gelingt dem Dichter »die Erzeugung unheimlicher Wirkungen.« Der Dichter ist auch, was Freud sein will. Freud sieht in dem Dichter denjenigen, den der Analytiker befragen und in der Literatur das, was die Psychoanalyse befragen muss, um sich zu erkennen. Seine Beziehung zum Schriftsteller gleicht dem Verhältnis vom Unheimlichen zum Heimlichen: Im Äußersten versteht und empfindet sich seine Fremdheit gegenüber der Schöpfung als »ein Fall« der Schöpfung. Das Rätsel des Unheimlichen hat eine literarische Antwort, verkündet Freud in Jentschs Gefolge, und diese Antwort ist die sicherste. Kaum hat er sich das Beispiel von Jentsch angeeignet (in Kleinkindmanier: diese Puppe gehört mir), ernennt er sich schon zum wahren Besitzer, da sein Vorläufer damit nicht »korrekt« umgegangen sei! Der Prozedur der Entführung fehlt es nicht an pikanter Kühnheit: das Manöver eines Fuchses! Einerseits zitiert

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Freud das Zitat von Jentsch, der den Sandmann ausgehend von der Figur des Automaten, der Puppe Olimpia, liest. Bei dieser Gelegenheit verwirft er dessen Interpretation. Jentsch führe das Unheimliche auf das »psychologische Manöver« von E. T. A. Hoffmann zurück, das darauf beruhe, Zweifel über Olimpias wahre Natur zu schüren und diese im Raum schweben zu lassen. Lebendig oder leblos? Freud weist das psychologische Argument zurück? Nun gut. Er nimmt es wahr, um das Unheimliche (Jentsch hatte es bereits als dezentriert gegenüber der Aufmerksamkeit des Lesers beschrieben, über diesen Kunstgriff der Dezentrierung bleibt es bestehen) von der Puppe auf den Sandmann hin zu verschieben; derart und unter Vorgabe der kritischen Analyse der Unsicherheit ist die in den Hintergrund verwiesene Puppe eigentlich bereits in die Versenkung geraten. Ihre Verdrängung wird darüber hinaus mit dem Einverständnis oder der Komplizenschaft des Lesers vorgenommen. Denn Freud stellt sich nunmehr in unserem Schutz; seine reale und konstante Sorge um den Gesichtspunkt des Lesers, seine Aufmerksamkeit, sein Bemühen um Kommunikationsfähigkeit, das alles aus seinem gewohnten Bedürfnis zu teilen, zu leiten, zu lehren und sich zu rechtfertigen – diese in seinem gesamten Diskurs vorhandene pädagogische Instanz bedient sich gelegentlich der List der Leugnung. »Ich hoffe, die meisten Leser der Geschichte werden mir zustimmen«, sagt der Redner, der sich dahin, wohin er zurück will, nicht ohne Bündnis vorwagt. Der Dialog mit dem Lektor ist auch ein theatralischer Kunstgriff, bei dem die Antwort der Frage vorausgeht und sie umhüllt. Bis zur umstandslosen Zurückweisung der Olimpia-Episode auf das satirische Genre, was bedeutet, sie aus der Frage des Unheimlichen auszublenden, ist es nicht einmal mehr ein Schritt. Und ohne weitere Debatte wird uns Sand in die Augen gestreut. Darauf folgt Freuds Erzählung des Sandmannes: offenbar die getreue Erzählung, es ist keine Paraphrase. Freud genießt die strukturierende Notwendigkeit, die Erzählung ausgehend von dem a priori als solchen bezeichneten Mittelpunkt neu zu schreiben: die ganze Geschichte geht nun um den Sandmann und das Ausreißen der Augen. Da Freuds Vorgehen die umgekehrte Wiederholung seiner ersten Arbeit ist, sieht man, wie die Erzählung vom Ende ausgehend demonstrativ neu geschrieben wird: eine sich wieder schließende Lesart ähnlich jener, wie sich das Unheimliche auf das Heimliche schließt. Der Leser hat das Gefühl, dass diese (nämlich Freuds eigene) Erzählung gerade nicht so unheimlich ist: vermutlich ist jenes neuartige Etwas, das hätte verborgen bleiben sollen, hier zu stark hervorgetreten? Oder hat Freud das Seltsame zu vertraut gemacht? Ist der Buchstabe entwendet worden? Man muss die beiden Sandmann Erzählungen lesen, um zu entdecken, was sich von der einen zur anderen verschiebt. Als kondensierte Erzählung gerät die Freudsche zu einer sonderbar linearen, logischen Geschichte von Nathanael, die von den Kindheitserinnerungen bis zum Wahn und dem tragischen Ende betont in der Art eines »Falls« gegliedert ist. Entlang dieser Gliederung greift Freud unterschiedlich ein: einerseits um das Phantastische auf

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das Rationale zurückzuführen (das Unheimliche auf das Heimliche), andererseits um explizit Beziehungen herzustellen, die in dem Text als solche nicht gegeben sind. Diese Interventionen bedingen eine Neugewichtung der Erzählung. Durch Abschwächungen bis zur Streichung von Gestalten, wie Clara und ihrem Bruder, die dem Heimlichen zuzuordnen wären, durch Entkräftung der Unsicherheit hinsichtlich Olimpias, was bedeutet, auch Olimpia zur Gruppe des Heimlichen zu drängen, wird der Stoff der Erzählung deutlich gemindert, wobei insbesondere ihr Aspekt von Diskontinuität in der Darstellung, von Überleitung und Folge der erzählerischen Standpunkte gestutzt wird. Damit entsteht eine zwar weit intensivere und bedrängendere, jedoch auch weniger überraschende Gegenüberstellung zwischen dem Sandmann und Nathanael, als das Original es erlaubt. Zwar wird das Auge des Lesers auf die dämonische Brille des Optikers gelenkt (durch Hoffmann, meint Freud, der dem »Autor« zahlreiche Absichten unterstellt), doch die Rolle der Brille, wie sie von Freud neu ins Spiel gebracht wird, ist von beunruhigender Komplexität. Offenbar dient sie dazu, den Zweifel über die Absicht des Autors aufzulösen: führt er uns in die reale oder in die phantastische Welt hinein? Kein Zweifel mehr (Wiederholung, Insistieren Freuds auf der Zurückweisung des Zweifelns): mit einer Reihe von schnellen, kleinen Gewaltstreichen springt Freud von Folge zur Folge (vordergründig von der Ursache zur Folge) bis zum »Punkt der Sicherheit«, der Realität, den er als Schlussstein setzen will, auf den seine analytische Argumentation gründet. Wir sind genötigt, diese »Schlussfolgerung« mit rückwirkenden Folgen anzunehmen oder aus dem Spiel auszuscheiden. Machen wir mit: glauben wir, dass es eine reale Verkettung und nicht nur ein Trugbild von Verkettung in dieser entschiedenen Erklärung gibt.6 Und trauen wir der Logik des »also»; ähnlich Freud werden wir nicht daran zweifeln, dass Coppola wirklich Coppelius und damit auch der Sandmann ist; und wir werden denken, dass Nathanael nicht wahnsinnig, sondern hellsichtig ist. Glauben wir an diese Summe von Folgen (und auch an diese fiktive Einheit von Leser und Analytiker), an diese »Kunst der Deutung«. Nicht ohne den geheimen Wunsch aufzustöbern, was durch eine derart selektive Lesart hätte verborgen bleiben sollen. Freud hat das Märchen um sein System dichter Erzählung, um die Heterogenität seiner Gesichtspunkte, um seine »überflüssigen« Details (der »Opern«-Aspekt der Erzählung mit seinen Chören von Studenten, Städtern, die Folge von der Intrige mehr oder weniger dienlichen Überleitungen), um das ganze Signifikat gekürzt, das scheinbar nicht zur thematischen Ökonomie gehört. Aber ist dieses Fällen im Hoffmannschen Wald (Freud klagt übrigens über dessen Dichte) nicht in seiner Geste selbst herauszustellen? Denn es handelt sich wohl eher um 6 Ebd., S. 242: »Der Schluß der Erzählung macht es ja klar, daß der Optiker Coppola wirklich der Advokat Coppelius und also auch der Sandmann ist. Eine ›intellektuelle Unsicherheit‹ kommt hier nicht mehr in Frage.«

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ein Beschneiden als um ein Zusammenfassen: als sei die Betonung des Verlustes der Augen ansteckend für den Blick selbst, der den gelesenen Text »operiert«. Der in Hoffmanns Erzählung7 so beeindruckende Anteil an Pantomime, was gerade den Reiz seiner Schöpfung ausmacht, dieses plötzliche Aufgehen des Bühnengerüsts, dieser Sprung von der Erinnerung über die briefliche Verbindung zur Karnevalszene, von der Innerlichkeit der Subjekte zu ihrer Externierung, diese Reduplikation eines gewöhnlichen Realen durch ein außergewöhnliches Reales (was der Lektüre untersagt, sich in der einen oder der anderen Welt einzurichten und den Leser dazu zwingt, vom einen auf den anderen Rand zu kippen, weil die Achse Reales und Imaginäres eigentlich nicht zählt), diese herrliche Ausscheidung wird von Freud freiweg verstoßen: daher die anfechtbare Prozessführung gegen die intellektuelle Unsicherheit, der ihn zu diesem Tanz zwischen Psychologischem und Psychoanalytischem führt. Die Demonstrativität schlängelt, krümmt sich, bemerkt, was auf dem Spiel steht, und spiegelt Freuds Verlegenheit wider. So dass beispielsweise dekretiert wird, dass die Unsicherheit in diesem Punkt nicht so unsicher sei: Coppola gleich Coppelius. Allerdings aus Paronomasie. Die Rhetorik macht das Reale nicht aus. Gleichartiges wahrzunehmen beruhigt. Aber Gleichartiges, das »unvollständig« ist? Mit der Reduzierung der »intellektuellen Unsicherheit« auf eine rhetorische Unsicherheit setzt Freud auf lexikalische Gewissheit: weil Jentschs Vokabular der Psychologie entnommen ist, erlaubt sich Freud, diese Unsicherheit, da sie »intellektuell« sei, vollkommen auszuschließen. Wenn das Unheimliche Jentschs Motiv verdrängt, gibt es da nicht eine Verdrängung der Verdrängung? Sagt Jentsch nicht mehr aus, als Freud lesen will? Die Augen in der Tasche. Es ist unsere Aufgabe, in jenem Satz von Freud die Mehrdeutigkeit, und was er zensiert, zu lesen: »Diese kurze Nacherzählung wird wohl keinen Zweifel [darüber] bestehen lassen.« Verstehen wir: Hoffmanns Geschichte. Oder verstehen wir: die kurze Nacherzählung. Es ist aber wohl die in Kürze erzählte Geschichte, die den Zweifel verschiebt und festnimmt. Dieses »Denken der Erzählung« als Deformierung des Denkens des Textes ähnlich denken, wie man vom Denken des Traums spricht: tatsächlich »erzählt« Freud ähnlich, wie er das Bilderrätsel des Traums gedeutet hätte. Er gestaltet in Wirklichkeit ausgehend von einer Schlussfolgerung, welche die Analyse in den stets intra-analytischen Kreis zurückwirft. Eine doppelschneidige Schlussfolgerung: 1. Ausschaltung der »intellektuellen Unsicherheit«, was die Durchsetzung der analytischen Deutung erlaubt und Olimpia ausblendet – Fokussierung auf Nathanael. 2. Beim Sandmann stützt sich Freud auf die Angst zu erblinden und auf das, was sie ersetzt. Der Sandmann wird seinerseits mittels der reduzierenden Gleichung ausgeblendet: Sandmann gleich Verlust der Augen (obwohl es doch nicht so einfach ist). Somit werden mit einem Schlag zwei große außergewöhnliche Fi7 Und wie in allen Märchen von E. T. A. Hoffmann immer mit doppelter Szene (Die Prinzessin Brambilla, Don Juan, Kreisleriana etc. …).

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guren ausgeschaltet und mit ihnen Hoffmanns Theater: Ein Teil des Textkörpers wird eliminiert. Bleiben die Augen: Der Freudsche Boden wird weniger schwankend; wir befinden uns an einem fest mit Beobachtungen und theoretischem Wissen untermauerten Ort (»lernen«, »gelernt«, »gelehrt«). Einerseits ist die Angst, die Augen zu verlieren, eine Tatsache täglicher Erfahrung, welche die Klischees unterstreichen; es handelt sich hier um eine vertraute Panik. Darüber hinaus zeigt die Untersuchung der drei Gliederungen (Räume, Phantasien, Mythen) des Unbewussten, dass diese Angst eine andere verbirgt, diejenige der Kastration. Der hier kurz angerufene Ödipus bezeugt, dass die Selbstblendung eine »Ermäßigung« der Kastration ist. Aber Kastration, Enukleation und Ödipus behaupten sich hier an den gleichen äußersten theoretischen Grenzen, ohne dass man jedoch ihrer relativen Position im Gesamtgefüge, das sie bilden, sicher sein kann. Wenn man verbindet, wird die Betonung mehr auf die Kastration als auf den Ödipus gelegt; die Analyse des Unheimlichen kann dann als Analyse der Kernfrage Ödipus-Kastration gelten. Freud hat im übrigen nichts Unmittelbares zur Verbindung von Kastrationskomplex und Ödipus ausgearbeitet. Es ist der Kastrationskomplex, der den Jungen dazu anstiftet, seinen Ödipus zu lösen: der Kastrationskomplex hat die Tragweite einer Untersagung; er »interveniert« daher unmittelbar im ödipalen Kern, aber handelt es sich um Intervention oder um Verbindung? Freud geht von der Angst aus, die der Junge vor einem Verlust des Penis hat: hier gälte es also dieses Prinzip zu hinterfragen wie auch die Tatsache, dass Freud nie den sexuellen Charakter der Kastration aufgegeben hat (oder hat aufgeben wollen), ebenso wie es sich hier anbieten würde, die Rückkehr zum Vater zu hinterfragen, welche die Kastration impliziert. Eigentlich ist die ganze Analyse des Unheimlichen (dé-lire: etwa ent-lesen und zugleich Delirium, Anm. d. Ü.), wie wir immer deutlicher sehen werden, merklich geprägt von Freuds Widerstand gegen die Kastration, ihre Ausführung und ihr »Jenseits«. Freud legt Wert darauf, dass die Kastration ihr eigenes Rätsel zum Gesetz erhebt: »Die Selbstblendung [des mythischen Verbrechers Ödipus] ist nur eine Ermäßigung für [die Strafe der] Kastration.« Wie ist diese Behauptung zu stützen, von der Freud bald eingesteht, sie sei »in rationalistischer Denkweise« anfechtbar? Tatsächlich könnten ihre Glieder ausgetauscht (die Kastration als Ermäßigung) oder gleichgesetzt werden: die Selbstblendung oder die Kastration. Freud gibt einen Nicht-Beweis zugunsten eines anderen Nicht-Beweises auf mit der Behauptung, das Geheimnis der Kastration verweise auf kein tieferes Geheimnis als das, was die Angst aussagt: die Angst der Kastration verweist auf die Kastration und allenfalls oder mindestens auf den Vorgang der Vertauschung (Ersatzbeziehung zwischen Auge und Penis und anderen Organen8). »Kein tieferes Geheimnis«, schreibt Freud: »das besonders starke und dunkle Gefühl« von Widerstand gegen die Kastrationsbedrohung ist für die ganze Gruppe der Vorstellungen vom 8 Siehe Sándor Ferenczi, Sex in psychoanalysis, New York 1956, Kapitel 10 »Symbolism«.

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Verlust eines Organs gleich. Freuds theoretische Arbeit bezieht sich auf die Eigenschaft der Angst. Die Aufmerksamkeit bezieht sich also auf dieses starke und dunkle Gefühl, was das Unheimliche der Beunruhigung sei. Was gibt es jenseits der Kastration? »Keine andere Bedeutung« als die Kastrationsangst (der Widerstand). Dieses »keine andere Bedeutung« ist das, was sich darstellt (trotz unserem Wunsch, sie zu durchkreuzen) im unendlichen Spiel der Substitutionen, in dem die unbegreifliche Bewegung der Angst zurückkehrt und wieder verschwindet. Es ist dieses Ausweichen vor der Angst in der Angst, diese »Maske«, die nichts maskiert, ein Karussell der Furcht, das zur Furcht zurückführt, ein undenkbares Geheimnis, da es sich auf keinerlei anderen Sinn öffnet: ihre »Unruhe« (wie Hoffmann sagen würde) ist ihre Behauptung. Ist nicht hier genau alles Widerhall, diskontinuierliche Ausbreitung des Echos, allerdings des Echos als Verschiebung und nicht als Punkt, der auf irgendein transzendierendes Signifikat verweist? Wohl vom Ort des Statt-findenden hallt die Wirkung des Sonderbaren wider (und eben nicht: entsteht), jenes Beziehungssignifikat, welches das Unheimliche ist. Ein Beziehungssignifikat: denn das Unheimliche ist in der Tat zusammengewürfelt, es infiltriert die Zwischenräume, es behauptet, wo man sich der Fuge versichern möchte, gähnende Leere. Das ist es, was Freud beinah besessen in Form bedrängender Fragestellungen, die eigentlich allesamt emphatische Sätze sind, unterstreicht: Indes setzt die »Frage« des Warum (Maskierung von weil) die Theorie unversehens der Verpflichtung aus, über die »beliebigen« Züge der Erzählung zu berichten. Was sich dann zeigt, als Schatten der Freudschen Argumentation, das ist das »Beliebige« des Anspruchs hinsichtlich des Sinns: eine Beziehung wechselseitiger Garantie beginnt hier zu schillern; denn aus der Weigerung, die Bedeutungslosigkeit bestimmter Züge hinzunehmen, entsteht die zur Füllung der Hohlstellen bestimmte Hypothese (diese Züge werden dann »voller Sinn«), ansonsten wäre die Erzählung kastriert. Die Angst vor der Kastration kommt der Angst vor der Kastration zur Hilfe. Anschließend an die Benennung der Sätze (Beziehung zum Tod des Vaters; Beziehung zur Beeinträchtigung der Liebe; Behauptung der Beliebigkeit der den eigenen entgegengesetzten Sätze) werden durch die Adjektivierung »infantil« zur Bezeichnung des Kastrationskomplexes die Puppe und ihre Doppelgängerin neu eingeführt: Olimpia, erwachsene »Puppe«, Nathanaels Begierdeobjekt, und die Puppe als Spielzeug von kleinen Mädchen kautionieren das Adjektiv »infantil«. Freud leitet hier eine auf die Kindheit bezogene Ausführung ein: jedes Symptom, jede Fehlleistung träumt von einem Zweig der Gabel, der auf ein Kindheitsereignis trifft. Das Subjekt »man« zitiert den Fall eines achtjährigen Mädchens (einer Patientin), deren »eindringlicher Blick« nach Meinung des Mädchens fähig gewesen wäre, Puppen lebendig zu machen. In diesem Beispiel kreuzen sich drei Auswirkungen des Begehrens: die hysterisch-magische Einstellung9 (der Blick 9 Freud 1919h, G.W. XII, S. 246.

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kann unmittelbare Folgen haben); das »eindringliche« Auge (das Penis-Auge); die insgeheim lebendige Puppe. Mit dem Beispiel werden das Thema Puppe und zugleich die Debatte Jentsch-Freud wieder entfacht. Freud weist auf die Verschiebung der Angst, auf den Wunsch oder den Glauben des Kindes an das Leben der Puppe hin. (Nathanael hat vor Olimpia jedoch keine Angst.) Das scheint widersprüchlich zu sein. Und die Forschung beendet dieses Kapitel mit einer theoretischen und romanesken Unentschiedenheit (wir werden »später« verstehen). Sobald die Puppe auftaucht, biegt die Erzählung ab und flieht. Sie wird jedoch keinem tieferen Ort zugewiesen als demjenigen (typographische Metapher der Verdrängung) stets zu nahen und dennoch zu vernachlässigenden Platz einer Anmerkung. Anmerkung zu Olimpia; oder die andere Geschichte des Sandmannes.10 In der Fußnote bietet uns Freud tatsächlich eine zweite Erzählung an, die lediglich »wiederhergestellt« sei, eine ursprüngliche, originäre Erzählung, die der Falldeutung näher steht als der Verschiebung, die die Phantasie des Schöpfers auf der Basis dieser Elemente herbeigeführt hat. Es handelt sich hier nicht mehr um den Sandmann, sondern um dessen analytische Fassung. Coppelius wird dort als der gefürchtete Vater bezeichnet. Freud stellt die Struktur eines Mythos mit einer Funktionsweise heraus, die jener des Mythos, der in Neurosen wirkt, ähnelt. Dieser Sandmann ist auch eine verstohlene Neulektüre des Wolfsmannes (mit einigen dem Rattenmann entnommenen Elementen): Rolle von Nathanaels Kinderfrau und von der Nanja des Wolfsmannes; in neuen Vater und alten Vater geteilter Vater, Gott-Schwein und zärtlicher Vater; Neuausgabe des Vaters als Lateinlehrer, Herr Wolf (Sohn des Sohnes-filius-Tochter) und als Spalanzani. Sicher hat diese Analogie keinerlei wissenschaftlichen Wert; doch sind es wohl Zitate aus der Geschichte, mit denen (ohne dass Freud auf Kleine Schriften zur Neurosenlehre verweist) die Fortsetzung dieser Analyse gespickt ist. Diese im Hintergrund vorhandenen Fälle erlauben Freud eine Beschleunigung seiner Argumentation und rechtfertigen die scheinbare »Unvorsichtigkeit«. Daraus folgt, dass zwar in der Ordnung dieses neuen Textes die zergliederte, neu zusammengeschraubte und wieder zusammengebaute Olimpia eine neue Bedeutung annimmt, diese jedoch von der Deutung alsbald zurückgeholt wird: »Materialisation von Nathaniels femininer Einstellung zu seinem Vater«, schreibt Freud. Sicher. Die Homosexualität zieht unter diesem charmanten Antlitz neu in die Wirklichkeit ein. Doch Olimpia ist nicht nur ein von Nathanael »losgelöster Komplex«, der sich ihm in Gestalt einer Person darbietet. Wäre sie nur das, warum bringt Freud nicht den Tanz, den Gesang, die Maschinerie, die Mechanik bei

10 Ebd., Anmerkung, S. 243-244.

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dieser Gelegenheit ins Spiel oder theoretisiert sie? Was ist mit jenen Marionetten anzufangen, die die Bühnen der deutschen Romantik heimgesucht haben?11 Erneut wird die schöne Olimpia durch das, was sie darstellt, gelöscht, denn Freud hat für sie keinen Blick. Sie wirkt obszön, diese Frau, die auftaucht, wo »man« sie nicht erwartet und die Freud zu solchem Umweg verleitet. Und wenn sich die Puppe in eine Frau verwandelte? Wenn sie lebendig wäre? Wenn man sie mit dem Blick lebendig machte? Abgeschoben, von der Bühne genommen, zwischen zwei Szenen, geht die Puppe ab … Wieder-Geburt und Geschichte des Doppelgängers. Platz für ein anderes Abenteuer: Freud erzählt uns jetzt eine »erstaunliche Geschichte«, diejenige der Geburt und der Entwicklung des Doppelgängers, Produkt und Maskierung der Kastration; diese fantastische Erzählung spielt sich auf verschiedenen simultanen Bühnen ab, in einer räumlich-zeitlichen Unbekümmertheit, die der Fiktion würdig ist. »Zu den vielen Freiheiten des Dichters gehört auch seine Darstellungswelt nach Belieben […] zu wählen«, sagt Freud über den beneideten Schöpfer. Jetzt verfügt Freud über diese Freiheiten: Sein Text begibt sich in jene unbestimmten, libidinöse Regionen, in denen das Licht des Gesetzes noch nicht seine Logik durchsetzt und in denen die Beschreibung, die plurale Hypothese, alle Spiele des vor-theoretischen Geistes freien Lauf haben. Die Geschichte des Doppelgängers ähnelt dem Roman des »unerreichten Meisters« des Unheimlichen, seine Dichtung weise »ein ganzes Bündel von Motiven« auf, »denen man die unheimliche Wirkung der Geschichte zuschreiben möchte«. Die Gesamtheit (des Romans, der Geschichte) ist »zu reichhaltig und verschlungen«, als dass man daraus »einen Auszug wagen könnte«. Was macht der »verwirrte« Leser? Er begnügt sich damit, »die hervorstechendsten unter jenen (unheimlich wirkenden) Motiven herauszuheben«, um dort zu suchen, was er zu finden wünscht. Und das Übrige? Man zieht einen Faden. Bleibt die Drapierung. Worauf Freud seinen stets von einer Ökonomie der Verwirrung und der Bündelung geleiteten Wunsch befriedigt: das Unheimliche breitet seine Äderungen, Rätsel und Erscheinungen auf historisch-mythischem Hintergrund aus. Erstes Bündel: das Netz der Äußerungen des Doppelgängertums; »Telepathie«, Identifizierung mit einer anderen Person, Versetzung des fremden Ich an die Stelle des eigenen, Ich-Teilung, Ich-Vertauschung, Ich-Verdopplung und endlich die beständige Wiederkehr des Gleichen (dieser letzte Aspekt wird von Freud als Ende hervorgehoben), Wiederholung der nämlichen Gesichtszüge, Charaktere, Schicksale etc. Zweites Bündel: die Erforscher des Doppelgängers: Otto Rank, Hoff11 Angefangen mit dem von Goethe überlieferten Erbe (Faust I und II) des mittelalterlichen und neu aufgeführten Puppenspiels bis zur Zurückdrängung des Begriffs der Phantasie selbst durch Kleist, durch Hoffmann, zwischen Philosophie und Wahn, am Begegnungspunkt mehrerer Sprachen: der des Gedächtnisses, der des Körpers, der des Rätsels, der des Schweigens (siehe hierzu das von Hans Bellmer künstlerisch festgehaltene Echo).

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mann, Freud, der Psychoanalytiker, der »gewöhnliche« Psychologe, der literarische Erfinder, der Dichter Heine; ein Gefüge von Fragestellungen, das bis zur Vorgeschichte auf dem Hintergrund von Göttern und Dämonen zurückreicht. Eine mythische Anthropologie zeichnet sich ab. Drittes Bündel: ein Arm voll von anekdotischen, literarischen, biographischen Beispielen, von Fabeln oder Erinnerungen, Minierzählungen innerhalb der Erzählung. Diese drei aus ungleichartigen, zerstreuten Elementen bestehenden Gruppen setzen sich in einer großen Unordnung von Sinn neu zusammen, entsprechend dem Überschneidungsoder Anziehungspunkt, der häufig vom Zufall bestimmt scheint. Indes kristallisieren sie sich über die Berührung mit dem vierten Bündel, welches das Ganze vermischt: jedes Thema ist der Doppelgänger (oder das Pendant) eines anderen, das Seelenleben des Primitiven verweist auf die Darstellung der Traumsprache, auf die ägyptische Kunst, auf das Seelenleben des Kindes über ein System von Metaphern oder Vorstellungen, welche die Psychoanalyse definiert. Als »Algebrazeichen« ist das Unheimliche das, was die »uneingeschränkte Selbstliebe«, den »primären Narzissmus« maskiert. Doch als sich veränderndes Vorzeichen geht es von der Versicherung des Überlebens zum Vorboten des Todes über. Als »Vorbote« deutet das Unheimliche den Todestrieb an (genauso wie dieser Text ein Vorläufer von Jenseits des Lustprinzips ist), innerhalb dessen die Verstärkung des Lebens mittels des Doppelgängers durch das Pochen der Annullierung, der Entladung ersetzt wird: somit verstärkter, verdoppelter, sich drehender, entladender Text als Vorbote seiner selbst. Im Hintergrund dieser Analyse der stummen Sprache des Todes führt das im primären Narzissmus gestaltete Thema des Kindes die Entwicklungsgeschichte des Ich ein: die Geschichte des Ich schreibt sich in der Geschichte des Themas wie im Blick ein. Der Text stößt durch das Dickicht hindurch: so verwickelt, so verknotet er auch sei, ständig zeigt er andere Wege, wirft er andere Fragen auf. Ein Gefolge von hinausgeschobenen Problemen begleitet ihn: die Andeutung des pathologischen Wahns, das Augenzwinkern in Richtung Ägypten etc. Die Historizität des Ich, die Freud in Versuchung bringt, entspricht seiner Differenzierung in zwei Instanzen; der Doppelgänger nährt sich historisch von den durch die kritische Instanz im Laufe der Zeit abgespaltenen Abkömmlingen des Ich; eine Einverleibung – deren Phantasie wiederum die Metapher eines beunruhigenden Verzehrs hervorruft: der Doppelgänger nimmt demnach die nicht verwirklichten Eventualitäten unseres Schicksals auf, die unsere Phantasie nicht aufgeben will. Während dieses von einem theoretischen Gesichtspunkt aus erwogene und von einem beschreibenden Gesichtspunkt aus inszenierte Ich uns über alles, was darin unterkommt, zum Lacanschen Imaginären zurückführt, ruft es vor allem beim Lesen die gespensterhafte Gestalt der Nichterfüllung und der Unterdrückung hervor, keineswegs als Doppelgänger, Ebenbild oder Spiegelung, sondern als weder lebendige noch tote und unmögliche Puppe. Abgeschoben, und weshalb?

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Feststellung eines Scheiterns: nichts von dem, was Freud gesagt hat, erklärt die Schutzanstrengung des Ich und das Exil des Doppelgängers. Eine Hypothese führt uns zu phylogenetischen Positionen zurück, da Freud die psychoanalytischen »Motive« anhand der kollektiven Geschichtsentwicklung auf der Ebene der Rasse untersucht. Windung um den Doppelgänger, der scheinbar mit einer neuen Form der Provokation »ausgezeichnet« wird: diesmal ist es der außerordentlich hohe Grad von Unheimlichkeit, der uns entkommt, die überbotene Unheimlichkeit. Eine weitere Schleife, eine weitere Verwirrung des Ich, Hoffmann scheint diesmal mit der Gesamtheit der Beunruhigungen verbunden zu sein. Die Fiktion widersteht und kehrt zurück, Hoffmann wird immer deutlicher zur Freuds Doppelgänger. (Durch Spaltung, durch Vertauschung?) Alles geschieht sodann, als stifte der zurückkehrende Hoffmann Freud dazu an, eine Art Fiktion zu produzieren: zwei, drei Kurzerzählungen skandieren die lange Ausführung zur Wiederholung des Gleichartigen, der höchste Fall von Unheimlichkeit. Die Wiederholung wird vom »hätte sich nicht wiederholen müssen« bestimmt werden. In der ersten biographischen Erzählung exponiert sich Freud in einer typischen Bewegung der Leugnung, indem er sich zur Schau stellt, bedeckt er sich mit Sprache, die ihn komisch entblößt: der durch die Psychoanalyse, die er lehrt, psychoanalysierte Psychoanalytiker. Erste Erzählung: »Als ich einst an einem heißen Sommernachmittag«, beginnt Freud… Und in diesem Stil, der zwischen dem realistischen Bericht und der analytischen Abweichung oszilliert, streitet das Unsichere mit dem Sicheren. »Kein Zweifel« über den Charakter der Gegend, sagt Freud. Für den Leser jedoch setzt sich der Zweifel hier und dort, erfasst die geschminkten Frauen (Puppen?) und Freuds Herumwandern – mit obzessiven Wiederkehren. Eine weitere Wiederkehr und anstelle der Hilflosigkeit, die Freud sagt empfunden zu haben, bricht die unwiderstehliche Komik von Mark Twain aus. Frage: nach wie vielen Wiederholungen schlägt die Not in Komik um? Der »Wiederholungsgrad« setzt eine ganze Reflexion voraus, die Freud sich hütet vorzunehmen: er will sexuell jenseits des Lächerlichen bleiben… Eine versäumte Kastrationsgelegenheit! Zweite Erzählung: die Wiederkehr der Zahl 62. »Man« ist der unglückliche Held dieser Seriengeschichte. Banal, diese Heraufbeschwörung der kleinen Rätsel des Alltags, die aufzeigt, wie eine unbeseelte Zahl ein böser Geist werden kann. Die 62, mit ihrem Wiederkehren, agiert ähnlich einem bösen Herrn über die Zeit. »Man« wäre versucht, der Zahl einen Sinn zuzuschreiben: vermittelt über die Nummer wird das Unheimliche komplizierter. Die Welt wiederholt (und nicht das Ich wie in der vorherigen Geschichte). Freud legt Wert auf den Zufall, insofern der Zufall eine Art analytischer Weihe sei. Welchen Sinn würden Sie 62 geben? Sind Sie gegen Aberglauben nicht »hieb- und stichfest«, verstehen Sie die Versuchung des Sinns: »Sie«. Vor allem, wenn Sie 1856 geboren sind und 1919 einen Text schreiben, den der Todestrieb umtreibt, dann sind Sie der Autor auf Be-

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währung, der vor der Ankündigung seines Endes flieht, maskiert mit einem Sie, in dem das Ich sich mit dem Leser identifiziert: Freud reicht uns seinen eigenen Tod weiter; der Stellvertreter ist der Leser, und derjenige, der das für seinen Tod vorgesehene Alter um ein Jahr überschritten hat, ist er nicht ein wiederkehrendes Gespenst? Nachdem Sie, Freud, zurück in Freud, den Analytiker, geschlüpft sind und sich die bedrohliche 62 wieder entfernt hat, tritt der primäre Prozess, den Sie ersetzt hatten, wieder auf die Bühne. Es ist ein Tausch unterirdischer Wege. Das Lustprinzip und sein Jenseits setzen ihre beunruhigenden Herrschaften durch: plötzliche Projektion auf die Vorderbühne des tauben und blinden Wiederholungszwangs, der die intimste der psychischen Instanzen dominiert (das heißt, die archaischste und geheimste Puppe). Der Dämon, das spielende Kind, der Neurotiker, nicht ausreichend bewusst, berühren sich als die guten Leiter des Unheimlichen, welche sie sind. Der Text macht einen Knoten. Bricht ab. Man schneidet. Wunsch nach Unzweifelhaftem. Sie brauchen Sicheres, sagt Freud. Worauf er, aus Reue oder Wiederholungszwang, eine weitere Erzählung zitiert, zweifelhaft, mythologisch und verhüllt: Der Ring des Polykrates oder der allzu Glückliche (habe) den Neid der Götter zu fürchten. Schönes Beispiel für diesen stummen »Dialog« mit dem Tod, der seinen Soll verlangt, und immer Tausch mit dem Leben selbst, dem Lebendigsten bedeutet. Dieser Augenblick ist derjenige des heftigsten Widerstandes Freuds gegen die eigene Entdeckung: er verschiebt, geht zurück, regrediert oder tritt in der Forschung auf der Stelle, macht einen weiteren Umweg (Erinnerung an die Geschichte des Rattenmannes). Derart über die Schnittstellen von Mythologischem und Klinischem, vom Alltäglichsten zum Theoretischsten fortschreitend, über ein sonderbares Spektrum an Beispielen, breitet sich das sonderbare Reich des Darunter aus. Kehren wir vom bösen Blick zum Auge zurück, dank einer zwischen Aberglaube und Augenheilkunde angesiedelten Lesart. Erneut verknoten sich die Fäden: klinischer Faden, Faden des Aberglaubens, Faden der analytischen Erläuterung. Ich projiziere meine Absicht zu schaden auf den anderen und dessen Auge gibt es mir zurück: so auch der »böse Blick« des Textes, der uns verstohlen aus den abgelegensten Gegenden unserer Geschichte anblickt, als wir noch unsere Allmacht verteidigten, unsere Grenzenlosigkeit gegen die Bedrohung der Realität. Zu der Zeit, als die Menschen Götter waren, zur Zeit des »Animismus«. Die unbewusste psychische Aktivität erscheint als eine vom Animismus der Primitiven abgeleitete Form. Mit dem Narzissmus verbunden führt der Animismus den Doppelgänger neu ein. Freud verlässt deshalb nicht das System des Unheimlichen, weil niemand es verlässt; das unheimliche Auge sieht die zurückgelegte Strecke durch eine Rückkehr-Wiederkehr zum Lexikon; das Unheimliche ist das Nahe, das Heimliche geht unmerklich in das Unheimliche, welches das In-

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time der Intimität, die »tatsächliche« Intimität ist, über. Man nimmt die Verbindungskette wieder auf und prüft die Festigkeit der Knoten: die Gleichartigkeit lässt das Grauen nicht aufsteigen, wenn sie nicht aus sich selbst trotz sich selbst herrührt: daher äußert sich der Zweifel nicht nur als Angst, sondern auch als Wiederkehr der Angst. Narziss wird mit Angst ausstaffiert. Das Unheimliche verwandelt sich in Unheimliches. Das verdrängte Unheimliche zeigt sich erneut als Unheimliches. Wiederholung? Allerdings von Freud verschoben in den immer engeren Kreis um eine dezentrierte, fliehende Zielscheibe. Insistierend: Gleichsam ist es das Insistierende des Heimlichen, welches das Unheimliche provoziert. Das Insistieren des Vertrauten schafft mit der Zeit das Sonderbare. Unheimlich: Intensität einer Vibration, die eher zum zu sich Zurückgekehrten führt (eher als sie es erzeugt). Dasjenige, welches dieses Unheimliche, das nichts Neues oder Fremdes ist, »verändert«, ist nur der Verdrängungsprozess. Die Vibration verändert die Ladung der Zeichen. Alle Menschen müssen sterben? »Was sich wieder zeigt«, ist die unmittelbare Gestalt des Unheimlichen, das wiederkehrende Gespenst. Das Gespenst ist die Fiktion unserer Beziehung zum Tod, die durch das Gespenst und in der Literatur konkretisiert wird. Die Beziehung zum Tod verschafft den höchsten Grad von Unheimlichkeit. Nichts Bekannteres und nichts dem Denken Fremderes als die Sterblichkeit. Glänzendes Kapitel über den abgestrittenen Tod, über die Ablehnung des Todes als Instrument der moralischen Ordnung und der staatlichen Gewalt, verdeckt durch den ideologischen Glauben an das Jenseits. Weshalb diese Macht des Todes? Durch sein Bündnis mit der wissenschaftlichen Unsicherheit und mit dem primitiven Denken. »Der Tod« hat im Leben keine Gestalt. Unser Unbewusstes hat keinen Raum »für die Vorstellung der eigenen Sterblichkeit«. Als unmögliche Vorstellung ist der Tod das, was, aufgrund eben dieser Unmöglichkeit, eine Realität des Todes nachahmt. Er geht noch weiter. Signifikat ohne Signifikant. Absolutes Geheimnis, absolut Neues, das im Verborgenen bleiben sollte, denn, wenn es sich mir äußert, bin ich gestorben: Allein die Toten kennen das Geheimnis des Todes. Der Tod wird uns kennen; wir werden ihn nicht kennen. Der Text schreitet hier nur bebend voran; wer ist derjenige, der den Stoff des Todes weben könnte? Die vom Irreduzierbaren des Unheimlichen heftig abgewiesene Theorie kreist zögernd und schwankend um den unerklärlichen Körper des Unheimlichen. Nichts ist neu, alles ist ständige Wiederkehr, außer dem Tod. »Weshalb ist die Angst vor dem Toten bei uns noch so mächtig?«, fragt Freud; weil, sagt er: »der Tote zum Feind des Überlebenden geworden [ist]«. Wenn er zurückkehrt, dann um Sie mit sich zu nehmen (Sie, leichtgläubiger Leser, oder feinsinniger Denker am Ende seines Lebens) in seine »neue Existenz«, zu sich (in dieses Heimliche, dieses tödliche Land, in das die Metapher, der Sinn, das Bild nicht einziehen). Um Sie mit sich zu nehmen: es ist immer die Verschiebung, die

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tückische Bewegung, wodurch die Gegensätze miteinander kommunizieren, es ist das Dazwischen, das sich mit Fremdheit infiziert. Im Grunde muss über das wiederkehrende Gespenst und die Zweideutigkeit der Wiederkehr alles gesagt werden: denn, das, was es unerträglich macht, ist nicht, dass es der Vorbote des Todes oder der Beweis dafür wäre, dass es den Tod gibt, da es, dieses wiederkehrende Gespenst, nichts anderes ankündigt und beweist als seine Wiederkehr. Denn es verwischt die Grenze zwischen zwei Zuständen: weder tot noch lebendig, der Tote zieht vorüber und kehrt zurück in der Art des Verdrängten. Es ist seine Wiederkehr, die das wiederkehrende Gespenst ausmacht, ähnlich wie es die Wiederkehr des Verdrängten ist, die die Verdrängung (neu) festschreibt. Da der Tod am Ende nie etwas anderes als die Verwirrung der Grenze ist. Sterben ist das Unmögliche. Tot sein: das absolut Unsichere. Wenn alles, was verloren ist, wiederkehrt, wie Freud es in Die Traumdeutung zeigte, dann ist nie etwas verloren; wenn alles ersetzbar ist, ist nie etwas verschwunden; ist nie etwas ausreichend tot; die Beziehung der Anwesenheit zur Abwesenheit ist an sich ein immenses »Todessystem«; ein von der Wirklichkeit durchlöcherter Stoff, eine »Gespenstisierung« der Gegenwart. Da eine sehr geringe Menge an Anwesenheit äußersten Falles eine Existenz zu ersetzen, dafür zu gelten vermag, kann das Leben im konkreten Wirklichen bis zur Leere zurückschreiten. Olimpia ist nicht unbeseelt. So schreitet im Gebiet des Lebens die sonderbare Macht des Todes wie das Unheimliche im Heimlichen voran, genauso wie die Leere den Mangel füllt. Vor dem Einfall des Todes (den der Analytiker, »der Wissenschaftler am Ende seines eigenen Lebens«, theoretisch nicht beherrschen kann, doch mittels einer komplexen Strategie von Ausweichmanövern und Stößen vereitelt) beschwört Freud den Schutz der traditionellen Verteidigung: die »Antworten« der Menschen auf den Tod sind alle der etablierten Gewalt, den ideologischen Institutionen, der Religion, der Politik zuzuordnen. Entwicklung des primitiven Animismus zur moralischen Ordnung. Ein weiterer Knoten von Beispielen: endet das Weben von Referenzen denn nie? Freud entschuldigt sich und addiert: noch eines, es wird das letzte sein, noch ein Moment, es genügt nicht. Aus diesen endlosen Ergänzungen strömt unmittelbare Angst, der Text will nicht loslassen; die Beweisführung beunruhigt, festigt sich, legt sich dicke Schichten zu; so, schnell noch ein weiterer Knoten: der Werfer des bösen Blicks, plus die Epilepsie, plus der Wahn, plus das Mittelalter und die Dämonologie, plus das Diabolische der Person (Mephisto) und die schwierige Patientin, und ich überspringe einiges: »abgetrennte Glieder, ein abgehauener Kopf […], Füße, die für sich allein tanzen»: noch ein Beispiel, zugleich die Metapher jener großen Zusammenkunft, bei der die Glieder stets ein ausgerenktes Ganzes bilden, in dem jedes einzelne eine selbständige Tätigkeit bewahrt. Ein Haufen. Doch am Ende kommt das Bild eines Körpers von Beispielen zutage, ohne sich jedoch zu »zeigen«, ein Bild von Bildern; ein Körper, der zu seiner Ausrenkung zurückkehrt. Diesen Körper »krönt« Freud (die Krone als Ruf eines

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Kopfes, der nicht da ist) mit einer ungeheuer unheimlichen Idee, nämlich der Phantasie des lebendig Begrabenen: sein (abwesender) wörtlicher Kopf in den Mutterleib zurückgeschoben, grauenhafte Lüsternheit. Ähnlich dem Unheimlichen, das mit dem Kopf voran in das Heimliche einzieht, und verkehrt zur Welt kommt. Liebe ist Heimweh. Die Liebe ist die Sehnsucht nach der Heimat, sagt die Volksweisheit. Heimweh: Sehnsucht nach der Heimat, eine Formulierung, die stets die Interpretation unterbricht, die in »Weh« Bedauern, Begehren liest. Dieses »Weh« ist auch das, was Ihnen die Heimat antut (angetan hat). Welche Heimat? Diejenige, aus der man stammt, »die alte Heimat des Menschenkindes«. Diejenige, aus der man stammt, ist nie diejenige, zu der man zurückkehrt. Sie befinden sich auf dem Rückweg, der durch das Land der Kinder, den Mutterleib, führt. Sie waren schon einmal hier: Sie erkennen die Landschaft. Immer schon befinden Sie sich auf dem Rückweg. Weshalb wird die mütterliche Landschaft, das Heimische, das Vertraute, derart unheimlich? Die Antwort ist weniger tief begraben, als angenommen. Die Verwischung der Trennung; die Verwirklichung des Begehrens, die in sich eine Grenze verwischt; alles, was Ihnen bei der Realisierung der Bewegung des Lebens erlaubt, sich einem Ziel zu nähern, vor allem gegen Ende Ihres Lebens, alles, was überwindet, abkürzt, erspart, fördert die Befriedigung; scheint die Kräfte des Lebens zu behaupten; all das hat eine andere, dem Tod hingewandte Seite, welche der Umweg des Lebens ist. Der Abkürzungseffekt, der das Leben behauptet, behauptet den Tod. Die Phantasie des lebendig Begrabenen zeichnet die Vermischung von Tod und Leben: Tod im Leben, Leben im Tod, Nicht-Leben im Nicht-Tod. Und die Kastration? Das ist der Einschnitt; das ist der Andere des lebendig Begrabenen: etwas zuviel Tod im Leben; etwas zuviel Leben im Tod an der fusionierenden Kreuzung. Es gibt keinen Rückgriff auf ein drinnen/draußen. Sie sind immer dort. Es gibt keine Umkehrung beider Enden. Daher das Grauen: Sie könnten ein lebendiger Toter sein, Sie könnten sich im zweifelhaften Zustand befinden. Das eigentlich Verwirrende der Abgrenzung ist diese bedrohliche Mobilität, diese Beliebigkeit der Verschiebung, wogegen sich die Verdrängung erhebt. »Die Vorsilbe ›un‹ […] ist die Marke der Verdrängung«, sagt Freud. Ergänzen wir: jede Analyse des Unheimlichen ist an sich ein »un«, eine Marke der Verdrängung und die gefährliche Vibration des Heimlichen. Unheimlich ist nur die andere Seite der Wiederholung des Heimlichen; diese Wiederholung hat zwei Seiten: das, was hervorkommt und das, was abgewiesen wird. Ähnlich wie der Text, der sich vorund zurückschiebt bis an ein beliebiges Ende (das Unheimliche ist ohne Ende, der Text muss jedoch enden). Und diese »Schlussfolgerung« setzt sich selbst wieder in Gang und gibt sich als Rückläufigkeit und als Einwand aus. Wird das theoretische Zaudern ein Ende haben? Wenn die Analyse mit ihrem Anrufen von Beispielen zwischen dem »Leben« und den »Büchern« geschwankt hat, liegt es daran, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem Unheimlichen,

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dem man begegnet, und demjenigen, das man sich vorstellt. Jederzeit zeigt sich nämlich ein Doublieren, ein »bedeutender Unterschied«, der nur bei der Verbindung von Literatur und Leben deutlich erkennbar ist: das Doublieren von Verdrängtem und von Überwundenem. Das Unheimliche des Verdrängten sei mit der Wiederkehr infantiler Triebe verbunden, die eine Dosis von Gefahr und Bedrohung wiederbelebt: es ist ein Inhalt von Vorstellungen, der verdrängt wird, das heißt eine psychische Realität, da die materielle Realität keinen Einfluss auf die Vorstellungen (Mutterleibsphantasie, Kastrationskomplex) habe. Der andere Typus von Unheimlichem, das Überwundene habe dieselbe Urwurzel wie das Verdrängte, biege aber anschließend ab: wir hätten in den Urzeiten ein animistisches Denken gepflegt, das sich dank der materiellen Realitätsprüfung verflüchtigt habe. Überwinden heißt nicht austreiben: die neuen Überzeugungen werden gelegentlich von der Rückkehr der alten überflutet, die durch ein Ereignis, durch dieses oder jenes außergewöhnliche Zusammentreffen scheinbar bestätigt werden. Doch »kehren« sie »zurück«, dann erleben wir, wie sie ohne die Angst, welche die Rückkehr des Triebs erzeugt, neu hervorkommen, und die Realitätsprüfung entschärft sie immer wieder neu. Diese Unterscheidung verstärkt eine andere Unterscheidung, die sie zwar manifest macht, doch indem sie sie schneidet: die Unterscheidung zwischen Leben und Fiktion, die nicht getrennt, sondern getauscht werden. Das Überwundene kann in der Fiktion beängstigend sein. Hingegen kann die Fiktion die Verdrängung des psychischen Inhalts annullieren. Das Unheimliche des Verdrängten, das Unheimliche des Überwundenen tauschen ihre Vorgänge und Wirkungen im Tausch zwischen Leben und Fiktion aus (bis dahin, dass Freud an die Unmöglichkeit, sie im realen Leben »deutlich« zu unterscheiden, erinnert). Ihre Abgrenzungen verwischen sich. Der Unterschied selbst ist ein Produkt der Fiktion. Diese allerletzte Ausführung wäre dennoch ziemlich klar, wenn Freud nicht rückwirkend den Zweifel schließlich neu anregte, indem er ihn genau dorthin zurückholt, von wo er ihn scheinbar vertrieben hatte. Der ganze Körper von Beispielen wird davon erschüttert. Auch der Zweifel ist zweifelhaft, er ist nie ausreichend verscheucht worden. Er ist nie ausreichend sicher. Wenn das Unheimliche im Realen durch den Einfluss der Tatsachen heftig angegriffen wird, so kann er darin an beunruhigender Eigenschaft zunehmen, macht sich aber seltener. In der Fiktion verfügt das Unheimliche, freigestellt von der Realitätsprüfung, über zusätzliche Ressourcen. Zu einer Theorie der Fiktion. Die Fiktion wird mit der Lebensökonomie durch ein ähnlich unleugbares und zweideutiges Band verbunden wie das, welches vom Unheimlichen zum Heimlichen reicht: sie ist nicht irreal, sie ist die »fiktive Realität«, die Vibration der Wirklichkeit. Das Unheimliche in der Fiktion geht über das Unheimliche im wirklichen Leben hinaus und enthält es. Wenn aber die Fiktion eine andere Form der Realität ist, begreift man, dass das Geheimnis des Un-

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heimlichen auf kein tieferes Geheimnis verweist als das des Unheimlichen, welches das Unheimliche umhüllt. Ähnlich wie der Tod über das Leben hinausgeht. Was ist in Wahrheit die Fiktion? Eine Frage, welche die Umrisse des Freudschen Textes umtreibt, dort jedoch nicht einzieht. »Das Unheimliche der Fiktion – der Phantasie, der Dichtung – verdient in der Tat eine gesonderte Betrachtung.« Und an einer weiteren Stelle: »In der Dichtung bestehen viele Möglichkeiten, unheimliche Wirkungen zu erzielen, die für das Leben wegfallen«. Die Analyse wendet sich nun einem anderen Gegenstand zu, demjenigen, den sie beständig durchquert hat, ohne ihn je zu erschöpfen: der Fiktion. Hier handelt es sich nicht nur darum, das Rätsel des Unheimlichen zu untersuchen, sondern auch das Rätsel der Fiktion als solcher und der Fiktion in ihrer privilegierten Beziehung zum Unheimlichen. Die Fiktion erweist sich zunächst als ein Reservat des Unheimlichen – entweder als seine Abgrenzung ins Reservat oder als Aussetzung des Unheimlichen, beispielsweise in der Welt der Märchen, in der das Unglaubliche deshalb nie beunruhigend ist, weil es durch die Konventionen des Genres annulliert wird; dort ist die fiktive Wirklichkeit ohne Unterbrechung. Multiplikation der Wirkung durch den Einfall des Vertrags zwischen Autor und Leser, ein Verfahren, gegen das wir uns »auflehnen«, während uns der Autor schutzlos gegen das Unheimliche bis zum Ende umherirren lässt. Das ist nur möglich, wenn das Überwundene nie tatsächlich überwunden ist. Das Unmögliche könnte sich dann als Mögliches darstellen. (Unterscheiden wir hier die Abwesenheit in der Wirklichkeit aufgrund von Unmöglichkeit von der Abwesenheit aufgrund des Todes). Das Unmögliche ist nicht der Tod; und der Tod ist nicht unmöglich. Für Freud sind die Varianten des Überwundenen eigentlich nur der Mystifikation zuzuordnen. Falscher Tod. Das wahre Geheimnis der Fiktion liege anderswo. Die Fiktion ist über die Erfindung neuer Formen des Unheimlichen das sehr Befremdende: stellt man sich das Unheimliche als Gabel vor, deren einer Zweig zum Befremdenden deutet, der andere zum Beängstigenden, sieht man am Äußersten des Befremdenden die Fiktion zum Unbekannten deuten: das neueste Neue, durch das sie mit dem Tod verbunden ist. Als Reservat des Verdrängten ist die Fiktion am Ende das, was sich der Analyse entzieht, und sie also am stärksten anzieht. Allein der Dichter »weiß«, hat die »Freiheit«, das Unheimliche hervorzurufen oder zu hemmen, anders gesagt die Verdrängung herbeizuführen oder zu verdrängen. Diese »Freiheit« bleibt jedoch unanalysierbar; als andere Form des Unheimlichen; diejenige, die einzige Form, in der »das, was hätte verborgen bleiben sollen«, dem Gesetz der Vorstellung, für alles außer für sich selbst mysteriös, nicht entkommt. Von dort aus, wo wir uns als unermüdlich beunruhigte Leser befinden, kommen wir nicht umhin zu denken, dass Freud hinsichtlich der »Kunst oder des Einfallsreichtums« zur Hervorrufung des Unheimlichen Hoffmann in nichts nachsteht. Das ist natürlich nicht immer der Fall. Dass wir dieses Unbehagen beim Lesen von Freuds Essay haben, liegt daran, dass der Autor sein Doppelgän-

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ger in einem unauflösbaren Spiel am Rande seines eigenen Textes ist: er gehört dazu – er verlässt es bei jeder Satzwendung. Das liegt auch und vor allem daran, dass das Unheimliche auf kein tieferes Geheimnis zurückverweist als auf sich selbst: jede Nachstellung erzeugt ihre eigene Annullierung, jeder Text über den Tod ist ein toter Text, der wiederkehrt. Die Verdrängung des Todes oder der Kastration schreibt den Tod (oder die Kastration) überall ein. Den Tod zu sagen, das ist sterben. Die Kastration zu sagen, ist entweder sie überwinden (sie also annullieren, sie kastrieren) oder sie durchführen. »Im Grunde« ist Freuds Abenteuer in diesem Text dem Paradox des Schreibens selbst geweiht, das seine Zeichen ausbreitet, um das Geheimnis zu »manifestieren«, das es »enthält« und das stets tödlich darüber hinausgeht. »Von der Einsamkeit, Stille und Dunkelheit«, die seit der Kindheit immer da sind, »können wir nichts anderes sagen«, als dass sie beständig sind, sagt Freud. Genauso können wir über das Unheimliche und dessen Doppelgänger, die Fiktion, nichts sagen; außer diesem: dass es nie vollkommen verschwindet… Dass es das »vorstellt«, was sich uns in der Einsamkeit, in der Stille und der Dunkelheit (nie) darstellt: weder real noch fiktiv, die »Fiktion« als Aussonderung des Todes, als Vorwegnahme der Nicht-Vorstellung, hybrid, ein aus Sprache und Stille zusammengesetzter Körper, eine Puppe, die in der Bewegung, die sie kreisen lässt und die sie umkreist, die Doppelgänger und den Tod erfindet. Übersetzt von Eva Groepler; ursprünglich: »La fiction et ses fantômes. Une lecture de l’Unheimliche de Freud«, in: Poétique, III (1972), S. 199-216.

■ Julia Bernard

Unheimliche Bilder im (post)romantischen Text: Balzac, die Brüder Goncourt, Zola

Für Stefan, mit dem ich an den unheimlichsten aller Orte ging, so dass ich diesen Text nun allein schreiben musste, in liebender Erinnerung.

Will man Freuds Begriff des Unheimlichen, den er zum ersten Mal im Herbst 1919 in einer Veröffentlichung systematisch gebrauchte (aber vielleicht zum Teil schon gegen Ende des Ersten Weltkriegs entwickelt hatte),1 sinnvoll verwenden, so ist der »universelle« Geltungsanspruch, den dieser psychoanalytische Begriff in Freuds Text implizit erhebt, aufzugeben und der Begriff explizit zu historisieren und einer kritisch-theoretischen Analyse zu unterwerfen. Für die Notwendigkeit einer solchen Analyse spricht besonders der Umstand, dass das Unheimliche, wie zum Beispiel auch Samuel Weber betont hat,2 »performativ« ist: Statt konkret und nachweisbar irgendwo in einem Kunstwerk oder Text zu existieren, ist es vielmehr als emotionaler Effekt zu beschreiben, der im Betrachter oder Leser hervorgebracht wird.3 Ein solches Verständnis des Unheimlichen verweist nicht nur darauf, dass dieses schwer greifbar ist, sondern impliziert letztlich auch, dass ein solcherart affizierbarer Rezipient als Teil eines größeren, durch einen spezifischen chronologischen Zeitort charakterisierten Publikums existiert.4 Da dieses Publikum (wie auch das betreffende Erfahrungsphänomen) stets nur in einer durch die historische Zeitgebundenheit auf vielfache Weise bestimmten 1 Die Texte S. Freuds werden zitiert nach: Gesammelte Werke, Frankfurt. a. M. 1960-1987 (G.W., Band in röm. Ziffern) und Gerhard Fichtner, Ingeborg Meyer-Palmedo, Freud-Bibliographie und Werkkonkordanz, Frankfurt a. M. 1989. Freud 1919h, G.W. XII, S. 229-268; und auch unter Anmerkung Nr. 34 und 35. 2 So Samuel Weber in seinem Vortrag vom 13. Juni 1998 bei einem Treffen des Graduiertenkollegs Psychische Energien bildender Kunst am Kunstgeschichtlichen Institut der GoetheUniversität Frankfurt a. M. 3 Diese Interpretation der Situation ist der Konzeption vom textimpliziten Leser verpflichtet, wie sie in der wesentlich durch die Schriften Wolfgang Isers initiierten rezeptionsästhetischen Ausrichtung der Literaturtheorie entwickelt wurde. Siehe z. B. Wolfgang Iser, Der implizite Leser, München 1972 und ders., Der Akt des Lesens, München 1976; sowie Susan R. Suleiman und Inge Crosman (Hg.), The reader in the text: essays on audience and interpretation, Princeton 1980. 4 Damit ist die Grundlage für eine kultursoziologische Betrachtungsweise eines solchen Problems benannt, also etwa für Untersuchungen, die sich auf das Publikum verschiedener Literaturtypen zu spezifischen historischen Zeiten konzentrieren und bei ihrer Rekonstruktion eines solchen jeweiligen Publikums auf aussertextuelle Daten zurückzugreifen.

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Form existieren kann, muss es auch auf eine diese Zeitgebundenheit reflektierende Weise verstanden werden. Diese Behauptungen über »das« Unheimliche gewinnen an überzeugender Bestimmtheit, wenn wir sie auf ein rätselhaftes literarisches Phänomen anwenden, nämlich auf eine mit der Romantik5 einsetzende Weise der sprachlichen Repräsentation von »visuellen« Bildern in fiktionalen Texten. Warum ist gerade die psychoanalytische Erfahrungskategorie des Unheimlichen zur Charakterisierung einer literarischen Struktur geeignet, die sich, wie wir sehen werden, immer wiederholt? Die Antwort auf diese Frage hat nicht nur mit jenem wiederholten Auftauchen von etwas an sich Vertrautem zu tun, sondern auch mit den radikalen Eigenschaften, die diesen »textuellen« Bildern praktisch zwanghaft zugeschrieben werden.6 Sie werden als Etwas evoziert, das für seinen Schöpfer oder seine menschlichen Sujets letztlich verhängnisvoll ist – ein Phänomen, welches diese Menschen entweder verrückt machen kann oder Symptom ihrer schon bestehenden psychischen Probleme ist oder sie erblinden lässt. Diesem Phänomen wohnt daher offenbar eine gefährliche zerstörerische Macht inne, die anscheinend durch keines der für gewöhnlich zur Verfügung stehenden Mittel kontrollierbar ist. Mein Argument ist daher, dass diese mit so erschreckender Macht ausgestatteten Bilder in den beiden letzten Dritteln des 19. Jahrhunderts ein gängiges textuelles Phänomen konstituieren, wie sich durch Verweise auf zahlreiche Beispiele 5 Auch wenn die Gültigkeit dieses traditionellen Begriffs inzwischen fraglich geworden ist, kann er für den Moment doch dazu dienen, eine spezifische Gruppe von Vorstellungen über die Rolle des Künstlers und seine schöpferische Tätigkeit zu bezeichnen. Siehe auch Anmerkung Nr. 16. 6 Ein im Fortgang meiner Ausführungen deutlich werdender Aspekt unserer repräsentativen »textuellen Bilder«, der ihre Interpretation als »unheimlich« (im Freudschen Sinne) noch verstärkt, hat mit der retrospektiven Struktur dieser Fiktionen zu tun. Alle drei hier näher behandelten Primärtexte sind »Zeitraffer«-Konstruktionen: Sie erzählen ihre Geschichte, als ob sie die aktuelle Gegenwart beträfe, doch ist die Handlung explizit oder implizit in einem der Vergangenheit zugehörigen historischen Kontext situiert. Balzacs aus den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts stammende Erzählung wird präsentiert, als hätte sie im 17. Jahrhundert stattgefunden, denn es kommen in ihr historische Künstlerfiguren vor; die im 1867 veröffentlichten Roman der Goncourts behandelten künstlerischen Themen werden vom Standpunkt der vierziger und fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts aus betrachtet; und die Ereignisse in Zolas Roman von 1886 spielen sich ihrer Charakterisierung nach weitgehend innerhalb der sechziger Jahre ab, als der Konflikt zwischen Salon und Avantgarde noch ein zentrales Thema war. Diese Struktur kann meiner Ansicht nach als literarisches Äquivalent zum Freudschen Unheimlichen gelesen werden, das sich einstellt, wenn dem Subjekt bekanntes, aber von ihm verdrängtes psychisches Material ungebeten ins Bewusstsein zurückkehrt. Bei Freud ist es die retrospektive Bewusstheit früherer »verworfener« Phänomene, die den charakteristischen Schauder des Unheimlichen bewirkt. Diese »Wiederkehr des Verdrängten« scheint mir einer retrospektiven Zeitstruktur in den hier behandelten Fiktionen analog zu sein, sofern in ihnen jene zurückliegenden problematischen künstlerischen Ereignisse, als ob sie bei ihrem ersten Auftreten nicht gründlich »durchgearbeitet« worden wären, in der anderen Gestalt einer fiktionalisierten Erzählung wiederkehren.

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aus der englischen und amerikanischen Literatur dieser Zeit leicht belegen lässt. Am bekanntesten für eine englischsprachige Lesergruppe ist hier wohl Oscar Wildes Roman Das Bildnis des Dorian Gray (1890/91), in dem nicht mehr der Protagonist der Erzählung, wohl aber sein gemaltes Porträt altert, und in dem dieses Bild den Tod seines menschlichen Doppelgängers verursacht, als dieser es zu zerstören versucht. Auch von einen prominenten Autor geschrieben, aber vielleicht weniger bekannt, ist Edgar Allan Poes Kurzgeschichte Das ovale Porträt (1842), in der ein Maler seine junge Frau zu portraitieren beginnt und so von seinen Bemühungen in Anspruch genommen ist, das Bildnis lebensecht zu machen, dass er kaum wahrnimmt, wie sein lebendiges Modell im Verlauf dieses Prozesses immer mehr dahinschwindet und schließlich in jenem Augenblick stirbt, als der Künstler »das Leben selbst« eingefangen zu haben glaubt. Kaum bekannt allerdings, zumindest im deutschen Sprachraum, sind mehrere Erzählungen Nathaniel Hawthornes, die von Bildern handeln, welche die Macht besitzen, die schrecklichen Schicksale der Dargestellten auf prophetische Weise vorherzusagen.7 Wenn wir nun zu Anfang zu Freuds Text, welcher die ursprüngliche theoretische Quelle des Begriffs ist, zurückkehren, dann besteht zwischen diesen machtvollen fiktionalen Bildern und dem Unheimlichen zumindest in zweifacher Hinsicht ein Zusammenhang. Freud führt im Laufe seines Spieles mit der Bedeutung des Sprachgebrauchs vor, wie die Bedeutung des Wortes in ihr Gegenteil übergeht. Er zeigt dabei, dass »das Unheimliche« ein Effekt ist, der entsteht, wenn etwas Vertrautes eine Verwandlung durchmacht und dann unvertraut wirkt, wenn also, nach seiner Deutung, etwas Bekanntes verdrängt wird und dann wieder ins Bewusstsein zurückkehrt.8 Im Falle unserer »textuellen Bilder« scheint etwas Entsprechendes stattzufinden. Entweder macht die äußere, sichtbare Realität, die diese Bilder »wiedergeben« (sei es eine Person, wie in den meisten der zitierten Beispiele, oder etwas anderes), in diesem Prozess eine Veränderung durch und erscheint im Bilde anders als gewöhnlich, wirkt in der Wiedergabe unvertraut, oder Realität selbst wird (wie in unseren Beispielen aus der angelsächsischen Tradition) aufgrund dieses Vorganges verändert. Der zweite für das hier behandelte fiktionale Phänomen relevante Aspekt des Freudschen Begriffs ist ebenfalls mit der Erfahrung des Unheimlichen verbunden, da er mit einem offenbar inhärenten Widerspruch zu tun hat. Das Motiv einer eigentlich leblosen Entität, die jedoch sehr wohl lebendig zu sein scheint, oder die umgekehrte Situation, in welcher ein animiertes Wesen scheinbar nicht am Leben ist. Freuds Paradigma ist 7 So etwa The birthmark, The prophetic pictures und Edward Randolph’s portrait, wo die Bilder etwas »wissen«, das ihre Betrachter oder die auf ihnen Dargestellten noch nicht verstehen. 8 »Unser Ergebnis lautete dann: Das Unheimliche des Erlebens kommt zustande, wenn verdrängte infantile Komplexe durch einen Eindruck wieder belebt werden oder wenn überwundene primitive Überzeugungen wieder bestätigt scheinen.« Freud 1919h, G.W. XII, S. 263.

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also für unser Thema auch insofern erhellend, als der hier behandelte Korpus »textueller Bilder« eine bewusste Macht erhält oder die psychologische Wirkmächtigkeit eines Wesens annimmt, das in die Ereignisse der äußeren Realität eingreifen kann.9 Diese abstrakten, theoretisch begründeten Thesen gewinnen an Fasslichkeit (und ihre Implikationen werden deutlich), wenn wir sie anhand der kleinen, aber repräsentativen Gruppe fiktionaler Primärtexte erörtern, die im Brennpunkt unserer Untersuchung der »Unheimlichkeit« sprachlich evozierter Visualität stehen sollen. Ihre Auswahl bedarf kaum einer langen Begründung, da es sich um drei der am meisten zitierten Texte der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts handelt, nämlich: die Erzählung »Le chef-d’oeuvre inconnu (Das unbekannte Meisterwerk) von Honoré de Balzac aus dem Jahr 1837 (erste Fassung 1831), den Kurzroman Manette Salomon von Edmond und Jules de Goncourt aus dem Jahr 1867 und Emile Zolas Roman L’oeuvre (Das Werk) von 1886. Drei fiktionale Erzählungen, die sich natürlich alle im traditionellen Rahmen der Literatur des Künstlerlebens (vie d’artiste) bewegen – ein Genre, das die »authentische« Atmosphäre des Boheme-Milieus zu evozieren trachtet und gleichzeitig der Leserschaft erlaubt, die Wechselfälle und Schicksalsschläge, welchen die Psyche eines (post-)romantischen Künstlers ausgesetzt ist, aus sicherer Distanz mitzuerleben. Diese Tradition begann in Frankreich eigentlich mit Charles Nodiers Werk Le peintre de Saltzbourg ou journal des émotions d’un coeur souffrant (Der Maler aus Salzburg oder Tagebuch der Empfindungen eines leidenden Herzens) von 1803.10 Einer ihrer populärsten zeitgenössischen Vertreter war Henri Mürger mit seinem Roman Scènes de la bohème (Szenen aus dem Leben der Boheme) von 1851.11 Doch was wird geschehen, wenn wir bei unserem kurzen Überblick der wesentlichen Inhalte dieser literarischen Repräsentationen von Künstlerfiguren das Hauptaugenmerk nicht nur auf die Künstler richten, sondern auch darauf, wie die Bilder, die sie hervorbringen, »funktionieren«? Balzac führt in seiner Erzählung Le chef-d’oeuvre inconnu den Archetypus des Malers als heroisch scheiternde Figur ein, den sein Antiheld Meister Frenhofer verkörpert. Diesen situiert er im Kontext einer historisierenden Erzählung, in der zwei zeitgenössische Künstlerfiguren aus dem 17. Jahrhundert (Poussin und Pourbus) im Atelier ihres älteren Kollegen dessen »Meisterwerk« La belle noiseuse zu sehen bekommen und erfahren müssen, dass es unverständlich geworden ist. Das Bild zeigt, mit Ausnahme eines übrig gebliebenen Fußes, nicht länger jene weibliche Figur, von welcher der Maler glaubt, er habe sie dargestellt. Auf die durch Selbsttäuschung gekennzeichnete geistige Störung Frenhofers weist nicht 9 Siehe ebd., S. 237. 10 Zu dieser Tradition des literarischen Künstlerhelden siehe als grundlegende Sekundärliteratur: Theodore R. Bowie, The painter in french fiction, Chapel Hill NC 1950. 11 Dieser Roman wurde zunächst 1849 in Fortsetzung für eine Zeitschrift geschrieben, die ein Massenpublikum bediente, und erst 1851 in Buchform veröffentlicht.

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nur dieses visuelle »Symptom« hin, sondern auch die Erscheinung und das ganze Auftreten des Malers bestätigen es. Er korrigiert die Bemühungen der jüngeren Künstler und hält ihnen dabei einen Vortrag über das wahre Kunstschaffen, mit der Kraft eines Besessenen auf manische Weise für eine poetische statt realistische Ausdrucksweise plädierend. Das von ihm selbst gemalte »Meisterwerk« ist schließlich für seinen Tod verantwortlich. Da er von den beiden jüngeren Künstlern darauf aufmerksam gemacht wird, dass sein Meisterwerk eine Illusion ist, zerstört er alle seine Bilder und begeht Selbstmord. Diese Konstellation des »eingebildeten Bildes« kehrte im Verlauf des 19. Jahrhunderts öfter wieder, zum Beispiel in Henry James Erzählung The madonna of the future von 1873-75, wo die Leinwand, auf der angeblich ein Porträt des Modells entsteht, in Wirklichkeit leer ist, nur die Spuren der Zeit zeigen sich auf ihr.12 Das Spezifische an Balzacs Interpretation ist hingegen, dass bei ihm dieses »verrückte Bild«, das seinen Schöpfer täuscht oder seine Täuschung bewirkt, für den Künstler, der es hervorgebracht hat oder dies jedenfalls glaubt, am Ende tödlich ist. Dies führt im Roman Manette Salomon der Brüder Goncourt zwar nicht zum Tode des jungen Künstlers Naz de Coriolus, doch werden wir Zeuge seiner neurotischen Desintegration und seines Persönlichkeitszerfalls bis hin zur fortschreitenden physiologischen Schädigung seines Sehvermögens. Auch wenn diese Erzählung, da sie sich nicht ausschließlich auf einen einzigen Künstlercharakter konzentriert, sondern eine Überfülle an Charaktertypen vorführt, in stärkerem Maße den Gesetzen des Genres der Boheme-Romane gehorcht, so konfrontiert sie uns doch ebenfalls mit einer individuellen »Problemfigur«. Der psychische und physische Niedergang des Malers Coriolus erfährt zwar eine Beschleunigung durch seine Beziehung zur Titelheldin, die erst sein Modell und dann seine Frau wird, doch präsentiert die Fiktion seine Schwierigkeiten als immanente Konsequenz seiner Suche nach einer »modernen« Kunstform. Im Roman der Goncourts ist die Gesundheit des Künstlers nicht durch ein bestimmtes Bild gefährdet, um dessen Schöpfung er ringt, sondern durch die ganze Richtung seines künstlerischen Strebens, auch wenn einzelne Bilder, die er produziert, Wendepunkte innerhalb seines Niedergangs markieren.13 Dass diese fiktionale Figur für eine ganze Generation steht, zeigt sich daran, dass die Fortschritte, die Coriolus 12 Siehe The complete tales of Henry James, Bd. 3 (1873-75), London 1962, S. 11-52. Diese Erzählung ist wahrscheinlich von Balzacs vierzig Jahre zuvor entstandener Fiktion beeinflusst und kann ihrerseits wieder, wie Niess meint, da sie 1875 in französischer Übersetzung in der Revue des deux mondes erschien, Zolas Roman L’oeuvre beeinflusst haben. 13 Diese entscheidenden Bilder in der Laufbahn des Naz de Coriolus sind der Reihe nach: das eine Szene in einem türkischen Bad schildernde Bild Bain Turc, das ein populärer Salonerfolg wird; eine Genreszene mit dem Titel Un mariage à l’église, die wegen ihrer realistischen Details kritisiert wird; eine naturalistische, sur le motif gemalte Strandszene in Trouville, die vom Publikum nicht verstanden wird; und seine Suzanne au bain, ein »aus den Tiefen seines verstörten Empfindungsvermögens geschöpftes« Gemälde, das einen Skandal hervorruft, der seine wachsende künstlerische Entfremdung nur fördert.

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in seiner Kunst macht, praktisch einen Abriss der Geschichte der Kunstentwicklung im 19. Jahrhundert repräsentieren: Sie reicht von der Romantik über den Naturalismus der Schule von Barbizon bis zu einem Realismus, in dem sich die Malweise der Impressionisten ankündigt. Diese Entwicklung kulminiert in einer physischen Störung der Sehfähigkeit des Künstlers, die ihn dazu treibt, während er gleichzeitig an einer psychischen Störung leidet, immer grellere (d. h. postimpressionistische) Farben zu verwenden.14 Auch der künstlerische Antiheld Zolas, Claude Lantier, leidet an »Sehstörungen«, die seine Farbwahrnehmung beeinträchtigen und dazu führen, dass er eine auf Komplementärfarben basierende neoimpressionistische Technik entwickelt.15 Es soll also bezüglich unserer literarischen Beispiele unterstrichen werden, dass bei allen drei Fiktionen die im Zentrum stehenden Künstlerfiguren »nicht sehen können, was sie tun«: Eine Metapher, die den Kern des psychologischen Problems auf symbolischer Ebene verdeutlichen soll (eine Trope, auf welche wir gleich zurückkommen werden). Doch in Zolas Roman spielt zudem auch ein unheimliches Bild eine entscheidende Rolle, und dieses Bild lässt uns verstehen, was es mit dem Tod Lantiers letztlich auf sich hat, denn auch L’oeuvre endet mit dem Tod des Malers. Dieses unheimliche Bild ist Lantiers letztes, im wahrsten Sinne des Wortes unerreichtes, nämlich nicht zustande gebrachtes »Meisterwerk«, das die Pariser Ile de la Cité darstellen sollte, und vor dem er sich schließlich voller Verzweiflung erhängt. Dieses riesige Bild ist nicht nur hinsichtlich seiner psychologischen Macht über den Künstler seltsam und »fremdartig« – denn Lantier opfert diesem Bild seine Liebesbeziehung und lässt in seiner Besessenheit von ihm zu, dass sein Kind vernachlässigt wird, erkrankt und stirbt –, sondern auch insofern, als es aus Elementen besteht, die zu miteinander in Widerstreit liegenden ästhetischen Ideologien gehören: Seine relativ naturalistische Szenerie einer Stadtlandschaft steht in Konflikt mit einer zentralen Figurengruppe von surrealistischer Intensität. Zudem ist eine der Figuren dieser störenden und beunruhigenden Gruppe ein weiblicher Akt, der nach und nach sein lebendiges, ihm zum Vorwurf dienendes Modell aus dem Gefühlsleben des Malers verdrängt und dessen Platz erobert, letztlich aber mit solch bizarrer Emphase gemalt ist, dass Lantier gegen die Macht dieser Darstellung über ihn revoltiert, 14 Im Interesse unserer Zielsetzung klammern wir hier den idiosynkratischen persönlichen Standpunkt der Autoren aus. Natürlich kommt in Manette Salomon nicht nur die antisemitische und frauenfeindliche Einstellung der Goncourts zum Ausdruck, sondern ebenso auch ihre konservative Ablehnung besonders der postimpressionistischen Kunst und ihrer Wege und Ziele. 15 Trotz der in Zolas Roman offensichtlich vorliegenden Konzentration auf die Charakteristika einer bestimmten Kunstrichtung, die in der Sekundärliteratur ad infinitum diskutiert wurde, ist die Figur Lantiers wohl eine Kombination aus Aspekten verschiedener Maler, darunter sicherlich Cézanne und Manet sowie, nach meiner Überzeugung, auch Seurat. Siehe Robert J. Niess, Zola, Cézanne, and Manet: A study of L’oeuvre, Ann Arbor 1968.

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indem er ein Loch durch den Leinwand schlägt und damit die Figur symbolisch »tötet«. Diese kulminierende Szene ist für unsere Fragestellung in mindestens zweierlei Hinsicht von besonderem Interesse. Erstens zeigt Zola als auktorialer Kommentator im Gewand seines Literaten Sandoz, dass diese künstlerische und psychologische Krise Lantiers in den alten, aber nach wie vor ungebrochen geltenden Prinzipien der Romantik gründet. Die Bewegung der Romantik liefert in der Tat den kulturgeschichtlichen Hintergrund für ein Verständnis der hier thematisierten spezifischen Form der literarischen Bildcharakterisierung, wie sehr auch dieser Epochenbegriff einer Revision bedürfen mag.16 Die Art und Weise, in der unsere literarischen Texte das Wesen der künstlerischen Tätigkeit begreifen, wurzelt sicherlich in den während der Zeit der Romantik aufkommenden Vorstellungen, dass kreative Menschen leiden müssen, um »authentische« Kunstwerke zu schaffen, und dass die Stärke der in diesem Prozess entstehenden Emotionen für sie eine Bedrohung darstellt.17 Das weist darauf hin, dass solche gefährlichen »textuellen Bilder,« wie die hier behandelten, in Zusammenhang mit einer damals weitverbreiteten Erscheinungsform des »Unheimlichen« zu sehen sind, nämlich mit einem Konstrukt, dessen Anfänge der Architekturtheoretiker Anthony Vidler ebenfalls mit der Romantik in Verbindung gebracht hat.18 Innerhalb des literarischen Raums manifestierte sich diese Erscheinungsform des Unheimlichen in neogotischen Spukhäusern, Schauergeschichten und Märchen. Wenn Freud als klassisches Beispiel für das Phänomen des Unheimlichen mit Der Sandmann eine der Erzählungen E. T. A. Hoffmanns auswählt, so zeigt das, dass auch für ihn das Unheimliche mit der Zeit der Romantik verknüpft war, denn das fast parodistische literarische Werk Hoffmanns lässt sich als Spätprodukt der deutschen Literatur der Romantik verstehen.19 Mit dem zweiten signifikanten Aspekt von Zolas Text nähern wir uns unserer 16 Da solche Epochenbegriffe inzwischen im akademischen Diskurs problematisch geworden sind, kann eine Kategorie wie »Romantik« nur bedingt und im Bewusstsein ihrer Grenzen Verwendung finden. Ein Beispiel aus der Kunstgeschichte, das diese Problematik drastisch demonstriert, ist der Ausstellungskatalog Ernste Spiele. Der Geist der Romantik in der deutschen Kunst 1790-1990, Haus der Kunst, München 1995: Hier wird von uns erwartet, dass wir glauben, ein einziges begriffliches Etikett könne zweihundert Jahre lang eine zutreffende Beschreibung der in diesem Zeitraum entstehenden Kunst liefern. 17 Eine häufig zitierte zeitgenössische Quelle für diese uns so vertrauten Vorstellung ist Herzensergiessungen eines kunstliebenden Klosterbruders von Wilhelm Heinrich Wackenroder und Ludwig Tieck (1796). 18 Siehe das Kapitel »Unhomely houses« in: Anthony Vidler, The architectural uncanny: essays in the modern unhomely, Cambridge MA, London 1992, S. 17-44. 19 Daher ist nicht überraschend, wenn sich eine Spielart unseres literarischen Paradigmas des 19. Jahrhunderts auch in einer Erzählung Hoffmanns findet: In Hoffmanns beunruhigender Geschichte Die Jesuiterkirche in G. wird erzählt, wie der Maler Berthold versucht, »sein« unheimliches Bild zu vollenden, das Maria und das Kind Jesus zusammen mit dem Knaben

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Kernfrage, denn er betrifft weniger den sozialgeschichtlichen Kontext der dargestellten »Künstlerfiguren« als das Funktionieren des Bildes innerhalb der (post) romantischen Textökonomie. Dieser Aspekt ist: die Wechselbeziehung und damit der Vergleich zwischen den Charakteren Sandoz (dem Fiktionen schaffenden Literaten) und Claude Lantier (dem Maler von Bildern). In Zolas fiktionaler Welt des 19. Jahrhunderts hat der Literat Erfolg, der Maler jedoch nicht. Sandoz beerdigt nicht nur am Ende seinen Freund Lantier, sondern zerstört – aus Rache, wie wir erfahren – zudem auch dessen verhängnisvolles letztes Bild. Diese Konstellation lässt uns die Mechanismen erkennen, die hier am Werk sind. Betrachten wir dieses Figurenpaar als Verkörperungen von oder Zeichen für »Text« und »Bild«, so wird deutlich, dass für Zola das Sprachliche über das Visuelle den »Sieg« davonträgt. Darüber hinaus lässt sich nunmehr die erste unserer beiden zentralen Hypothesen formulieren. Geht man davon aus, dass zwischen der »diskursiven« und der »figuralen« Ausdrucksweise, wie Lyotard sie genannt hat,20 ein prinzipieller Gegensatz besteht, so kommt in dem hier skizzierten Charakter »unheimlicher Bilder« nicht nur die »Aversion« des sprachlichen Texts gegen eine indirekte Offenlegung seiner eigenen Darstellungsverfahren zum Ausdruck, sondern auch das die Textualität an sich kennzeichnende Unbehagen hinsichtlich des grundlegend »Anderen« oder »Fremden« ihrer selbst, nämlich des Bildes. Die erste Hälfte dieser These orientiert sich an dem von Francoise Meltzer in ihrem Buch Salome and the dance of writing entfalteten Argument, dass Texte sich vor den von ihnen selbst präsentierten Bilder »fürchten« oder sie in angstbesetzte Strukturen einbetten, da jene Darstellungen innerhalb der Darstellung automatisch die texteigenen Erzählverfahren enthüllen und als solche innerhalb des textuellen Gewebes verwundbare Punkte bilden.21 Die zweite Hälfte meiner These jedoch vermeidet mit ihrer Aufnahme von Lyotards Unterscheidung zwischen Figur und Diskurs den in Meltzers Argument impliziten Logozentrismus, wel20 Johannes, dem späteren Täufer, und dessen Mutter Elisabeth zeigt. Dieses Bild ist Ursache einer schweren Erkrankung Bertholds und führt, nachdem er es vollendet hat, zu dessen Selbstmord. Eine der Figuren, deren Vollendung ihm Schwierigkeiten macht, trägt des Malers eigene Züge. Zudem erfährt dessen künstlerisches Schaffen durch die idealisierte Beziehung zu einer Frau (der Prinzessin Angiola) zunächst eine entscheidende Förderung. Doch als diese Beziehung sich in einer Ehe konkretisiert und zu einer körperlichen wird, erweist sie sich in (für uns) vorhersehbarer Weise, in künstlerischer Hinsicht als Hemmschuh. Die Verwandtschaft von deutscher und französischer »Romantik« allerdings bleibt eine strittige Frage, auch wenn Nodiers Roman auf deutsche Vorläufer zurückgehen sollte. 20 Siehe Jean-François Lyotard, Discours, figure, Paris 1971. In diesem Buch interpretiert Lyotard die Bedeutung der künstlerischen Entwicklungen des Quattrocento rückblickend von den Errungenschaften Cézannes her und versucht eine rein malerische (die Trennung des »Signifikanten« vom sprachlich »Signifizierten« bedeutende) »Figuralität« zu definieren, die mittels ihrer Immanenz eine Art von »Präsenz« entwickelt. 21 Siehe Françoise Meltzer, Salome and the dance of writing: portraits of mimesis in literature, Chicago, London 1987. Auf Seite 2 heißt es, in Übersetzung: »[…] es gibt einen obsessiven Mythos, der die Literatur von den anderen Künsten zwar nicht unbedingt unterscheidet,

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ches stillschweigend davon ausgeht, dass Texte sich reflexiv nur auf Sprachliches beziehen können, dass sich in ihnen nur Sprachliches zeigen kann, ohne die ihm innewohnende Dynamik preiszugeben. Dieser Unterschied ist wichtig, denn wenn wir anerkennen, dass in Texten nicht nur text- sondern zur gleichen Zeit auch bildspezifische Themen auf dem Spiel stehen können, so eröffnet sich uns die Möglichkeit, unser bestimmtes literarisch-textuelles Phänomen zu historisieren, indem wir ihm (wieder) einen spezifischen kunsthistorischen Augenblick zuordnen. Denn die hier exemplarisch vorgeführten »Probleme« innerhalb der Textökonomie werden, wie ich meine, durch eine besondere Art des Bildes verursacht – eine Art, die ihre Verbindungen zur sichtbaren »Wirklichkeit« gekappt hat und für ihre Selbstdefinition nicht mehr (zumindest nicht mehr ausschließlich) von einer Repräsentationsbeziehung zu diesem externen Referenten abhängt. Es ist auch wichtig, sich klarzumachen, dass diese Charakterisierung einer besonderen Art von visuellem Bild mit einem besonderen Moment in der kunstgeschichtlichen Entwicklung verknüpft ist, vor allem damit, dass das 19. Jahrhundert (und besonders seine letzten beiden Drittel) eine Zeit wachsender Unabhängigkeit der Avantgardekunstwerke von der Aufgabe »realistischer« Darstellung war, die einherging mit ihrer wachsenden Abstraktion bzw. ihrer wachsenden Geltung als autoreferentielle Entitäten.22 Wir müssen nur an den kurzen Abriss der Entwicklung der bildenden Kunst denken, den die Goncourts in Manette Salomon präsentierten, um uns daran zu erinnern, dass die Periode, von der wir hier sprechen, eben die Zeit ist, in der auch die hier thematisierten fiktionalen Texte entstanden. Diese Parallele gilt es, sich bewusst zu machen, weil innerhalb der hier besprochenen literarischen Texte diese ästhetische Entwicklung als »bedrohlich« angesehen wird – und lag der Grund dafür nicht vielleicht gerade darin, dass die Bilder, die wirklich in jener Ära gemalt wurden, schrittweise immer »figuraler« erschienen? Dafür spricht, dass diese Epoche in den Texten als eine Zeit aufscheint, die Bilder hervorbringt oder Künstler zur Schaffung von Bildern veranlasst, deren Beziehung zur Realität ein »gefährlicher« Bezug der Verzerrung oder der mangelnden Verbindung ist, und dass die Texte auf diese Weise Ängste hinsichtlich einer solchen problematischen Unabhängigkeit thematisieren. Allerdings ist klar, dass auch die kunstkritischen Standpunkte der je-

22 aber demonstriert, welche Annahmen das Schreiben über sich selbst macht: den Mythos der Repräsentation. Ein Text ›re-präsentiert‹ nicht nur die Welt für uns; er re-präsentiert auch sich selbst. Aus diesem Grund ist das Porträt vielleicht ein so geeigneter Maßstab für die Macht, die der Repräsentation in einem Text verliehen ist.« 22 Diese allgemeine Entwicklung wurde von viele Autoren erörtert, so zum Beispiel von Sven Lövgren in The genesis of modernism, Stockholm 1959.

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weiligen Autoren als Faktoren in Betracht gezogen werden müssen, will man die Wurzeln solcher »textueller« Bildporträts vollständiger verstehen.23 Als Begründung für den nächsten Schritt unserer Argumentation wollen wir uns daran erinnern, was diese französischen Erzählungen von ihren angelsächsischen Pendants unterscheidet, auf die zuvor kurz eingegangen wurde: Im Falle der französischen Fiktionen sind es die Schöpfer der Bilder, die sterben (oder eine Schädigung erleiden, den Verstand oder die Sehkraft verlieren), und nicht die auf den Bildern dargestellten Personen. Auf der Basis dieses Unterschiedes können wir die zweite unserer beiden Haupthypothesen über »unheimliche« textuelle Visualität in der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts formulieren. Darüber hinaus dient dieser Unterschied ebenfalls zur weiteren Historisierung unseres fiktionalen Phänomens, da die Probleme der in der französischen Literatur konstruierten Künstler mit ihren »textuellen Bildern« auch mit dem spezifischen ästhetisch-historischen Zeitpunkt zu tun haben, zu dem diese fiktiven Künstler erscheinen. Dieser Moment lässt sich am besten unter Rekurs auf Roland Barthes’ Essay Le mort de l’auteur (Der Tod des Autors) von 1968 definieren, in dem er eine Tendenz innerhalb der Literatur analysiert, die in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts mit Mallarmé einsetzte oder jedenfalls deutlich wurde. Von da an ist der Produzent eines Textes von dem Text selbst immer weniger zu trennen, bis hin zu dem Extrem, dass er im Endeffekt nur mehr innerhalb des sprachlichen Textgefüges existiert.24 Akzeptieren wir dieses Konzept vom »Tod« des Autors oder Urhebers und von der damit zusammenhängenden Übertragung der Verantwortung für die Bedeutung eines Textes auf den Leser, so kann man in der Tatsache, dass das hier betrachtete literarische Paradigma buchstäblich von der Zerstörung der Künstler-«Autoren« durch ihre eigene Bilder handelt, sicherlich in gewissen Sinne eine Verkörperung des von Roland Barthes beschriebenen ästhetischen »Ereignisses« sehen.25 23 Dies ist hier zwar aus Platzgründen nicht möglich, doch man kann für diese Thematik auf die folgenden Arbeiten verweisen: Patrick Brady, L’oeuvre de Emile Zola: Roman sur les arts – Manifeste, autobiographie, roman à clef, Genf 1967; Lillian Furst, »Zola’s art criticism«, in: Ulrich Finke (Hg.), French nineteenth-century painting and literature, Manchester 1972, S. 164-181; Jerrold Lanes, »Art criticism and the authorship of the ›Chef-d’oeuvre inconnu‹: A preliminary study«, in: Francis Haskell u. a. (Hg.), The artist and the writer in France: essays in honor of Jean Seznec, Oxford 1974, S. 86-99; Karin von Maur, »Die Brüder Goncourt. Aspekte ihrer Kunstkritik«, in: Helmut Koopmann und Josef A. Schmoll (Hg.), Beiträge zur Theorie der Künste im 19. Jahrhundert, Bd. I, Frankfurt a. M. 1971, S. 360-373. 24 In Frankreich, schreibt Barthes, habe Mallarmé zweifellos als erster in ihrem ganzen Ausmaß die Notwendigkeit erkannt, die bis dahin als Eigentümer der Sprache geltende Person durch die Sprache selbst zu ersetzen. Mallarmés gesamte Poetik bestehe in der Unterdrückung des Autors zugunsten des Textes, was den Ort des Lesers wieder in sein Recht zu setzen bedeute. Siehe Roland Barthes, »Der Tod des Autors«, in: ders., Das Rauschen der Sprache, Frankfurt a. M. 1999. 25 Mit anderen Worten, in diesen Erzählungen träumt der Text davon, wie er Rache nimmt, er projiziert seine eigene Schöpfung in die Metapher der Bilder und beschwört das Verschwin-

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Diese These von Barthes lässt sich mit Hilfe der von Michel Foucault in seinem Aufsatz Le langage à l’infini (Das unendliche Sprechen) angestellten Überlegungen noch weiter entwickeln. In diesem Essay beschäftigt sich Foucault mit der (nur scheinbar gegensätzlichen) Idee, das Schreiben wende den literalen Tod des Subjekts ab und schiebe ihn auf.26 Unter dieser Perspektive scheint die hysterische Reaktion der hier betrachteten fiktionalen Texte in bezug auf ihre Bilder noch stärker als bisher angenommen damit zu tun haben, dass diese Bilder ein Ort sind, wo nicht nur der Autor, sondern die sprachliche Textualität selbst »stirbt«, da sie sich mit ihnen einen Bereich eröffnet, wo ihre Ausdrucksmacht versagt – sie entwirft mit diesen Bildern einen Ort, der jenseits ihres Sprachvermögens liegt.27 Natürlich hat auch dieser »unheimliche Ort«, den die Bilder der Moderne konstituieren, eine longue durée Geschichte, da diese Thematisierung der Gefährlichkeit des Bildermachens und der ein psychisches Unbehagen bereitenden ungewissen Natur der Bilder mit bestimmten wohlbekannten Aspekten einer sich fortschreibenden Mythologisierungstradition des Künstlers übereinstimmt.28 Schon bei Vasari, und letztlich auf die Ästhetik des Quattrocento zurückgehend (die eine solche Tätigkeit neu aufwertet), findet sich nicht nur der Glaube an die Angeborenheit der schöpferischen Begabung und deren Verknüpfung mit dem Wahnsinn, sondern auch die Hybris des bildenden Künstlers, der etwas kreiert, das zuvor nicht existierte, und so implizit Gott nachzuahmen trachtet (dies ist z. B. eine der Quellen prometheischer Ikonographie in Gemälden der Renaissance). 29 Die »unheimlichen Bilder« der Moderne lassen sich also in weiterem Sinne als Teil einer durchgehenden Tradition begreifen, die mit dem psychischen Unbehagen oder der Unsicherheit hinsichtlich des ontologischen Status von Bildern zu 26 den des Autors/Künstlers. Diese Interpretation hat natürlich ein Anachronismusproblem, da die hier behandelten Fiktionen vor den siebziger Jahren Mallarmés geschrieben wurden, doch vollzog sich die von Barthes beschriebene Substitution nicht plötzlich, sondern als allmähliche Entwicklung. 26 Siehe Michel Foucault, »Das unendliche Sprechen«, in: ders., Schriften zur Literatur, Frankfurt a. M. 1988, S. 90-103. 27 Zudem ist darauf hinzuweisen, dass nicht nur die hier besprochenen, sondern alle »textuellen Bilder« per definitionem insofern ein Paradox konstituieren, als sie nicht wirklich existieren (zumindest außerhalb des Textes), es sei denn nur als durch Wörter evozierte »Illusion«. 28 Zu diesem Thema sind die Standardliteratur: Rudolf und Margot Wittkower, Born under Saturn: The character and conduct of artists, a documented history from antiquity to the French Revolution, London 1963; sowie Ernst Kris und Otto Kurz, Die Legende vom Künstler: Ein geschichtlicher Versuch (1934), Frankfurt a. M. 21980, 31995. 29 Zu den neuen ästhetischen Vorstellungen des Quattrocento gehörte auch die Idee, künstlerische Schöpfung sei das Resultat eines nicht völlig unter rationaler Kontrolle stehenden geistigen Prozesses. Siehe zum Beispiel Martin Kemp, »From mimesis to fantasia: The Quattrocento vocabulary of creation, inspiration and genius in the visual arts«, in: Viator, 8 (1977), S. 347-398.

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tun hat – einem Unbehagen avant la lettre, das sich artikulierte, bevor der Begriff des Freudschen Unheimlichen als theoretisches Instrument verfügbar wurde.30 Wir verstehen die Ursprünge eines solchen von den Bildern hervorgerufenen Unbehagens vielleicht besser, wenn wir betrachten, wie unser Textphänomen es innerhalb eines umfassenderen, die Freudsche Interpretation übersteigenden Rahmens zum Ausdruck bringt. In Anbetracht der Art und Weise, wie die »Problembilder« innerhalb ihrer fiktionalen Welt mit verschiedenen Arten der physiologischen oder psychologischen Störung verbunden sind, scheint die Tatsache besonders signifikant zu sein, dass die Bildproduktion traditionellerweise nach Maßgabe eines kognitiven Modells begriffen wurde, als etwas, das wie der menschliche Geist funktioniert. Denn man pflegte, wie W. J. T. Mitchell in seinem Buch Iconology: image, text, ideology dargelegt hat, Wahrnehmung und Erkenntnis als Prozesse zu konstruieren, die über »Bilder im Geist« ablaufen.31 Im Rahmen dieser traditionellen Vorstellungsweise ist die Annahme plausibel, dass die innerhalb der psychischen Struktur eines Bildproduzenten auftretenden Funktionsstörungen in seinen Bildern eine Entsprechung haben, auch wenn dabei die Frage unbeantwortet bleibt, ob die »Bildstörungen« Ausdruck der psychischen Funktionsstörung sind oder sie im Gegenteil erst hervorrufen. Die Unfähigkeit Frenhofers, das tatsächliche Aussehen seines Gemäldes wahrzunehmen, die Probleme, die Coriolus mit seinem Sehvermögen hat, und Claude Lantiers offenbar unbewusste Schöpfung eines halluzinatorischen, »unwirklichen« Sujets im Zentrum seines Pariser Panoramas sind eindringliche Beispiele einer solchen Störung und Verzerrung der Wahrnehmung. Freuds symbolische Verknüpfung des Sehvermögens mit der (männlichen, ödipalen) Sexualität ist in diesem Zusammenhang insofern von Interesse, als sie uns auf eine primordiale Ebene zurückführt, wo eine solche Verschmelzung anzeigt, dass innerhalb der psychischen Ökonomie eine gemeinsame Funktionsweise oder funktionale Analogie vorliegt. Denn für die in (post-)romantischen fiktionalen Texten sprachlich evozierten »unheimlichen« Bilder ist kennzeichnend und vielleicht sogar bestimmend, dass sie stets mit Verdoppelung, Sexualität und Tod verbunden sind. Aufgrund ihrer engen Verknüpfung mit diesen in Wechselbeziehung stehenden Vorstellungen befinden sie sich nicht nur mit Freuds psychoanalytischer Interpretation in Einklang (für die es dabei stets um Kastration geht, wie Freuds Deutung von Hoffmanns Der Sandmann mit der in ihr beschriebenen Angst, der Augen beraubt zu werden, und ihren multiplen Verkörperungen des »Vaters« exemplarisch zeigt), sondern auch mit der von Lacan vorgenommenen Erweiterung und Kritik der Freudschen Begriffe und seiner

30 Natürlich gilt dies auch für unsere fiktionalen Bilder, die sämtlich vor der Ära Freuds, nämlich zwischen 1830 und 1890 geschaffen worden sind. 31 Siehe W. J. T. Mitchell, Iconology: image, text, ideology, Chicago 1986, S. 14-19.

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Ersetzung des Begriffs des »Unheimlichen« durch den der »Extimität«.32 Freud begreift den »Doppelgänger« als Regression auf eine frühere Phase der psychischen Entwicklung und sieht im »Verdoppeln« eine ursprünglich narzisstische Anstrengung, der Sterblichkeit zu entrinnen. Wie später Lacan, so ist auch er der Ansicht, dass mit diesem Verdoppeln eine gefährliche Spaltung des Subjekts verbunden ist, das einen Teil seines Ichs aus sich hinaus projiziert, so dass er ihm »fremd« und daher »unheimlich« wird.33 Diese Beschreibung der Situation ist sicherlich eine zutreffende Charakterisierung der Beziehung, in der unsere »Problembilder« zu ihren Schöpfern stehen: Deren psychische Stabilität ist durch den Prozess des Bildermachens gefährdet, denn ihre Kunstwerke berauben sie eines Teiles ihres »Selbst« und verleiben ihn sich ein. Das Lacansche Modell ist hier auch aus dem Grunde relevant, weil die Verbindung mit einer unterbrochenen, als selbstverständlich vorausgesetzten und/oder aufgedrängten sexuellen Beziehung ebenfalls ein Charakteristikum dieser monströsen Bilder ist. Darin wird deutlich, dass bei ihrer Produktion auch die verschobene Libido ihrer Schöpfer auf die eine oder andere Weise auf dem Spiel steht. Zur Unterstützung dieser These sei an die Verschmelzung erinnert, die Balzacs Meister Frenhofer glauben lässt, sein trügerisches Gemälde der Belle noiseuse sei seine Geliebte oder stelle sie dar. Es sei daran erinnert, dass Manette, das Modell und Weib des Malers Coriolus, sowohl als sein Bildsujet wie auch als einflussreicher Faktor in seinem Leben auf zentrale Weise mit seinem allmählichen künstlerischen Niedergang (wie er sich vom Standpunkt der Goncourts aus darstellt) verknüpft ist. Und es sei darauf verwiesen, dass Claude Lantiers zunehmend fanatische Konzentration auf einen bestimmten weiblichen Akt innerhalb seines verhängnisvollen Panoramabildes von Zola als ein Prozess geschildert wird, der die sexuelle Beziehung, die der Künstler im wirklichen Leben unterhält, ersetzt und schließlich zerstört. Der Lacanschen (Re-)Interpretation Freuds zufolge ist sowohl die »verdoppelnde« Repräsentation als auch die Sexualität mit dem Tod verknüpft, denn die Wiederkehr oder das Auftauchen eines Doppelgängers verkündet die Sterblichkeit, und die Blockierung des libidinösen Impulses bedeutet den Tod (oder, bei Freud, die Kastration). Dass diese drei miteinander verflochtenen Themen der Verdoppelung, der Sexualität und des Todes in der hier betrachteten französischen Literatur des 19. Jahrhunderts mit dem Topos des zerstörerischen Bildes verknüpft werden, lässt die Kennzeichnung des zerstörerischen Bildes als »unheimlich«, umso gerechtfertiger erscheinen. Welche Schlussfolgerungen können wir aus all dem noch ziehen? Zu einem Ergebnis kommt man, wenn man Freuds theoretischen Text über das Unheimliche auf eine vor kurzem von Margaret Iversen vorgeschlagene Weise im Rahmen 32 Dieser Begriff zielt ab auf das Verschwimmen von Inneren und Äußerem, das für Lacan den Ort des Unheimlichen konstituiert. 33 Siehe Mladen Dolar, »›I shall be with you on your wedding night‹: Lacan and the uncanny«, in: October, 58 (1991), S. 5-23.

J. Bernard · Unheimliche Bilder im (post)romantischen Text

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seines Entstehungskontextes begreift.34 In ihrer Untersuchung der filmischen »Unheimlichkeit« von Edward Hoppers Bildsprache wies Iversen darauf hin, dass Freud seinen Essay über das Unheimliche zu gleichen Zeit schrieb, als er auch an seinem ambitionierteren und weiter ausgreifenden Werk Jenseits des Lustprinzips arbeitete, und äußerte die Vermutung, dass die Themenstellung beider Arbeiten mit der Erfahrung des Ersten Weltkriegs zusammenhängen könnte. Besonders das Bewusstsein von der Existenz negativer Triebe, von dem diese beiden Texte geprägt sind, und vor allem die Annahme eines mächtigen »Todestriebs«, der dem »Lustprinzip« des sexuellen Begehrens entgegensteht, lassen sich als Konsequenzen dieses traumatischen historischen Ereignisses und seiner unmittelbaren Auswirkungen begreifen.35 Was unsere außer Kontrolle stehenden, zerstörerischen fiktionalen Bilder betrifft, so kann man feststellen, dass sie eindeutig mit all dem irrationalen Ballast eines primitiven Unbewussten »beladen« sind, sie agieren wie Avatare einer früheren Epoche – einer Zeit, als Bilder noch ikonisch waren und vorrationale oder sogar »magische« Kräfte (im Weberschen Sinne) noch verkörperten, statt bloß zu repräsentieren. Ebenso eindeutig kann man feststellen, dass dem Sprachlichen in unseren fiktionalen Texten implizit die Aufgabe zufällt, im Namen einer modernen Rationalität im gegensätzlichen Sinne zu agieren. Die Störung der textuellen Ökonomie durch diese Bilder ist auf individueller Ebene das fiktionale Äquivalent zu psychoanalytischen Neurosen und auf gesellschaftlicher Ebene das fiktionale Äquivalent zu Rückblenden auf frühere animistische Phasen.36 In diesem Sinne könnte man sagen, wir alle seien »verrückte Künstler«, deren »primitive« Bilderwelt wiederkehrt. Kein Wunder, dass diese Bilder so vertraut und doch so fremd erscheinen: Sie sind etwas, das wir bereits kennen, doch hat es niemals zuvor so ausgesehen. Aus dem Amerikanischen von Jürgen Blasius und von der Autorin überarbeitet.

34 Siehe Margaret Iversen, »In the blind field: Hopper and the uncanny«, in: Art History, 21 (1998), S. 409-429 (siehe auch in diesem Band S. 272-299). 35 Dass Freud zu dieser Zeit die faszinierende Anziehungskraft des Schaurigen oder gar des Zerstörerischen theoretisch zu charakterisieren vermochte, hat seine Herangehensweise an das Thema des »Unheimlichen« sicherlich beeinflusst und war vielleicht sogar ausschlaggebend dafür, es überhaupt zu Thema zu machen. Iversen schreibt dazu, in Übersetzung: »…wir schließen daraus, dass die Texte in wechselseitiger Abhängigkeit voneinander stehen: Die volle Bedeutung des Unheimlichen wurde von Freud vielleicht erst zu der Zeit erkannt, als er Jenseits des Lustprinzips schrieb.« Ebd., S. 428, Anm. 29 (Ü. d. A.). 36 Mit dieser Behauptung ziehen wir Freuds Unterscheidung zwischen dem Unheimlichen literarischer Texte und dem Unheimlichen der individuellen neurotischen Erfahrung in Zweifel, denn wir lesen jenes Unheimliche, als ob es dieses wäre.

■ Insa Härtel

Autorität als Kipp- und Krisenfigur Versuch über unheimliche, ambivalente und paradoxe Effekte

In diesem Beitrag geht es um Wirkmechanismen einer ›krisenhaften‹ westlichpaternalen Autorität. Auf diese baut traditionell auch der Kult künstlerischer Autorschaft. Die Begriffe von Autorschaft und Autorität sind etymologisch verknüpft und funktional miteinander verbunden. Wird einer Person das ›Mandat‹ des Autors übertragen, so ist damit historisch eine Autorisierung verbunden; erfolgen ihre Äußerungen mit dem Namen eines so verstandenen Autors, so kann dies etwa als Qualitätsausweis dienen. Die Position des Autors/der Autorin steht seit Mitte des 20. Jahrhunderts wieder verstärkt zur Diskussion. Ich möchte hier gerade die in Frage gestellte Figur des traditionell männlich gedachten künstlerischen Autors aus der Perspektive der sich in ihr manifestierenden kulturellen Autoritätsentwürfe betrachten und damit ihren Autorisierungs- und Ausschlussmechanismen auf die Spur kommen. Wie genau funktioniert paternale Autorität in diesem Rahmen, über ein bloßes Postulat ihres Wirkens hinaus, welche Strebungen sind in ihrem Modell zusammengefügt und wirken hier mit- und gegeneinander? Der Fokus meiner Ausführungen liegt auf struktural-psychoanalytischen Theorien, die um das Konstrukt des Ödipuskomplexes kreisen. Aus dieser Perspektive zeigt sich die traditionellen Modellen von Künstlertum zugrunde liegende paternale Figur von Autorität als ein schon in sich instabiler und höchst ambivalenter Ort – mit durchaus unheimlichen Effekten.

■ Heimliche Wünsche an Autorität1 Autorität lässt sich mit Horkheimer als »eine zentrale geschichtliche Kategorie« bezeichnen. Sie hat »im Leben von Gruppen und Individuen […] in allen Zeiten

1 In diesem Aufsatz sind totalitäre Figuren nicht mein Thema. Vgl. zum faschistischen und zum stalinistischen System in diesem Zusammenhang die Arbeiten von Slavoj Zizek. – Zur Analyse (post)faschistischen Funktionierens vgl. etwa Lars Quadfasel, Carmen Dehnert, »Wenn der braune Großvater erzählt. Zur Psychoanalyse des postfaschistischen Subjekts«, in: Initiative not a lovesong (Hg.), Subjekt. Gesellschaft: Perspektiven kritischer Psychologie, Münster 2001, S. 37-90.

I. Härtel · Autorität als Kipp- und Krisenfigur

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eine […] entscheidende Rolle« gespielt,2 und die Beurteilung ihrer Formen erfordert immer einen Blick auf deren kontextuelle gesellschaftliche Bedingungen. Beim Versuch einer allgemeinen Definition von Autorität offenbart sich der »widerspruchsvolle Charakter dieser Kategorie«; unvermittelt treten dann konträre Bedeutungselemente zusammen, die der Begriff auch »infolge geschichtlicher Veränderungen gewonnen hat«.3 Autorität als »bejahte Abhängigkeit«4 bewegt sich zwischen äußerem Zwang und argumentativer Überzeugung und beruht gerade nicht auf unmittelbar angewandter Gewalt. Sie ist geprägt von konstitutiver Ungleichheit und tritt mit dem »Anspruch des Gehorsams« auf – doch dieser Gehorsam ist nicht erzwungen; wo zu diesem Zweck »Gewalt gebraucht wird […], hat Autorität immer schon versagt«.5 Verhältnisse der Autorität beruhen »weder auf einer beiden Teilen gemeinsamen Vernunft noch auf der Macht des Befehlenden« – wodurch das Gemeinsame schließlich in der Hierarchie selbst besteht, »deren Legitimität beide Parteien anerkennen und die jedem von ihnen seinen von ihr vorbestimmten, unveränderbaren Platz anweist«.6 Autorität ist auf Anerkennung angewiesen, und durch die Unterwerfung unter die durch sie repräsentierte Ordnung werden Position und Identität des Subjekts etabliert und abgesteckt. In diesem Sinne scheint Autorität auch dem Wunsch nach Orientierung oder Stabilität zu entsprechen; über sie wird versucht, soziokulturelle Machtverhältnisse zu interpretieren und durch die Vorstellung einer verbürgten Stärke anscheinend mit Sinn zu versehen.7 Im psychoanalytischen Verständnis ist der ›Eintritt‹ in die kulturelle Ordnung nur in konflikthafter Weise möglich, so sehr sich Wunsch und Kultur auch gegenseitig durchdringen und konstituieren. Die immer auch auf Triebverzicht beruhende Kultur tritt dem Einzelnen als eine fremde und machtvolle Struktur gegenüber, der er sich ausgesetzt sieht, in der er sich zurechtzufinden hat und die ihm nicht einfach Erfüllung gewährt. Der Aufbau ›väterlich‹ besetzter Autorität 2 – was »auf der bisherigen Struktur der menschlichen Gesellschaft« beruht. Max Horkheimer, »Autorität und Familie«, in: Kritische Theorie. Eine Dokumentation, hg. von Alfred Schmidt, Band I, Frankfurt a. M. 1972, S. 277-360, hier S. 300. 3 Ebd., S. 301. – Bei Horkheimer verweist der widerspruchsvolle Charakter von Autorität etwa darauf, dass sie im Sinne der Entfaltung menschlicher Kräfte wirken kann oder im Sinne von Verhältnissen, die den Interessen der Allgemeinheit entgegenwirken. Eine Entscheidung darüber ist nur durch »die Analyse der jeweiligen gesellschaftlichen Situation« möglich. »Es gibt kein allgemein gültiges Urteil in dieser Hinsicht« (ebd. S. 301f.). – Mich interessiert hier die Widersprüche in sich tragende Struktur der Figur westlich-paternaler Autorität als eine »bejahte Abhängigkeit« (ebd. S. 301). 4 Ebd. 5 Hannah Arendt, »Was ist Autorität?«, in: dies., Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart, Vier Essays, Frankfurt a. M. 1957, S. 117-168, hier S. 118. 6 Ebd. 7 Vgl. Richard Sennett, Autorität, Frankfurt a. M. 1990, S. 20, S. 24.

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verspricht eine Antwort auf die »strukturelle[n] Unwissenheit über die Ordnung, in die der Mensch hineingeboren wird«8 und lässt sich so lesen als Versuch, jene fremde Ordnung heimisch zu machen. Der ›Vater‹ weist einen Platz an in der in seinem Namen etablierten Ordnung, die zugleich den vorgestellten, mit ›der Mutter‹ verbundenen Genuss offiziell verbietet und ihn auf diese Weise formal substituiert. ›Väterliche‹ Autorität funktioniert in der Ökonomie des Ödipuskomplexes als Instanz des Verbotes einer mit der ›Mutter‹ verknüpften phantasmatisch unmittelbaren Erfüllung, die damit als immerhin möglich erscheint, wenn sie nicht verboten wäre. In der ersehnten ›Wieder-vereinigung‹ mit der Mutter soll die Trennung oder Unterbrechung des phantastischen unmittelbar dualen Bandes rückgängig gemacht werden. Doch der springende Punkt im Sinne der Psychoanalyse ist die Vorstellung eines verlorenen vollkommenen Ortes als ein reprojiziertes Phantasma, das erst im Moment des Verlustes oder der Untersagung entsteht, zu betrachten. Entsprechend erhält das dem Vater zugewiesene Verbot jener Vereinigung das Bild möglicher glückseliger Vollkommenheit gerade aufrecht. Hat man das ›verlorene‹ Ersehnte niemals besessen, so erlaubt es die Figur der Versagung, an dem vom Vater besetzten Ort weiterhin eine potentielle Erfüllung anzunehmen, welche aus psychoanalytischer Sicht eben schon ›an sich‹ unmöglich ist. Das Verbot des Genießens im Ödipuskomplex betrifft etwas Unmögliches und stützt allererst den Wunsch, das Verbot zu durchbrechen. Der Genuss ist verwehrt, und in der Folge werden »Schleichwege« gesucht, die eine Wunscherfüllung auf Umwegen versprechen. »Ein solcher Schleichweg ist die Anlehnung an die Autorität. Natürlich, das Begehren ist unkenntlich geworden. Aber das gilt für jede Wunscherfüllung: sie hat das Objekt ihres Begehrens verschoben« – der Wunsch, der befriedigt werden soll, ist einfach nicht mehr erkennbar.9 Die als Repräsentanten der symbolischen Ordnung fungierenden väterlichen Autoritätsfiguren erscheinen als Hindernisse, die den Weg zur Mutter verstellen, und werden selbst zu einem Objekt heimlicher, immer schon verschobener Wünsche. Ihnen scheint – in einem Bezug zum Ort des Anderen – ein Geheimnis eigen zu sein, zu dem man sich einen Zugang ersehnt; in einer Übertragungssituation wird ein privilegiertes Wissen unterstellt, gekoppelt an ein Begehren oder eine Art vergeblicher Liebe.10 Autorität wird schließlich ebenso geliebt wie gefürchtet und in dieser Ambivalenz erscheint sie zwingend, obwohl ihre Ausführung gerade keinen unmittelbaren Zwang impliziert. Gehorcht wird aus Sehnsucht nach dem, was sie zu versprechen scheint – in der verführerischen 8 Armin Adam, »›Autorität ist das, was nicht weiß‹ oder Warum die Dummheit die Bedingung der Autorität ist«, in: Peter Felixberger (Hg.), Aufbruch in neue Lernwelten, Wien 1994, S. 59-66, hier S. 64. 9 Ebd., S. 63. 10 Vgl. auch im Folgenden Adam 1994 (wie Anm. 8); vgl. Jacques Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar Buch XI (1964), Weinheim, Berlin 1987, S. 266.

I. Härtel · Autorität als Kipp- und Krisenfigur

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Hoffnung, es gäbe einen erfüllenden Ort, an den sie einen führen könne. Es geht hier also nicht so sehr um rational begründbare Autoritätsanerkennung, z. B. durch ausgewiesene Kompetenzen; vielmehr scheint Autorität über etwas zu verfügen, was an ihrem Ort eine ansonsten versperrte Erfüllung verheißt. Ein geheimes Wissen, ein Schein – eine Wirkung, die Autorität ausmacht und die von ihr nicht gewusst werden kann. Geliebt muss sie geben, was sie nicht hat.

■ Unheimliche Setzung von Autorität Als eine kulturelle Ordnungen begründende, stabilisierende und heimisch machende Instanz bedarf Autorität notwendig selbst einer Legitimierung. Sie beruht auf einer in ihrer Legitimität anerkannten Hierarchie (s. o.) und diese Legitimität kann, das Begehren immer schon entstellend, z. B. in den Qualitäten der Autoritätsinhaber/innen, in der Tradition oder in anerkannten unpersönlichen Ordnungen gesucht werden. Max Weber etwa definiert Autorität als Chance, »für spezifische (oder: für alle) Befehle bei einer angebbaren Gruppe von Menschen Gehorsam zu finden« und unterscheidet bekanntlich Legitimitätsgeltungen rationalen, traditionalen und charismatischen Charakters.11 Entscheidend für die Wirkung von Autorität wäre demnach deren anerkannte Legitimität; dabei geht es immer schon um Legitimitätsgeltung, -anspruch oder -glauben und nicht um die Feststellung und Bewertung einer jenseits der Anerkennung gegebenen ›objektiven‹ Legitimität. Autorität bzw. Gesetz erscheinen, wie Theoriebildungen unterschiedlichster Couleur verdeutlicht haben, in letzter Instanz gerade nicht legitimierbar oder begründbar: Versuche einer Legitimation von Autorität »führen in den Teufelskreis (ich habe Macht [autorité] über dich, weil du mich dazu autorisierst), zur petitio principii (die Autorisierung autorisiert die Autorität), zur Regression ins Unendliche (x wird von y autorisiert, das von z autorisiert wird), zum Paradoxon des Idiolekts (Gott, das Leben usw. bestimmt mich zur Ausübung der Autorität, ich allein bin der Zeuge dieser Offenbarung).«12

11 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, mit textkritischen Erläuterungen hg. von Johannes Winckelmann, 1. Halbband, Tübingen 1976, S. 122ff. – Nach Bourdieu ist die Anerkennung der Legitimität gerade nicht eine Bewusstseinstat, sondern »wurzelt in der unmittelbaren Übereinstimmung zwischen den einverleibten Strukturen, die […] zu praktischen Schemata geworden sind, und den objektiven Strukturen.« (Pierre Bourdieu, Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt a. M. 2001, S. 226f.). 12 Jean-François Lyotard, Der Widerstreit, München 1987, S. 237.

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Autorität, die einer anerkannten Legitimität bedarf und gerade nicht auf Gewaltausübung beruht, gründet selbst in einer Setzung als grund-lose Gewalt.13 Systemtheoretisch betrachtet tritt sie eben dort auf, wo nicht weiter zu begründende Geltungsverhältnisse in ihrer Kontingenz gleichsam ›gebunden‹ werden sollen, wo also gewissermaßen »das Unbegründbare begründet wird«.14 Der Gründungsakt der Autorisierung ist strukturell nicht begründbar; innerhalb des Wirkungsbereichs der Autorität ist es unmöglich und nicht statthaft, ihn zu ergründen. Es ist gewissermaßen eine Bedingung für die Wirksamkeit einer Autorisierung, dass die Wahrheit der »ohne vernünftigen Grund« eingeführten und nun quasi »vernünftig« gewordenen15 gesetzlosen Setzung im Verborgenen bleibt; demgegenüber führt eine diesbezügliche Erforschung zu einer Aussetzung der Zugkraft bzw. Gültigkeit einer »gesetzmäßigen Ordnung«.16 Mystischer Grund der Autorität: Wird das so Begründete bzw. Autorisierte auf seinen »Ursprung« zurückgeführt, wird es vernichtet.17 In diesem Sinne wird die notwendig ›vergessene‹ Genese von Autorität in Begriffen einer grundlosen Gewalttat beschreibbar, auf die sie sich gründet und die sie aufrechterhält. Es handelt sich gewissermaßen um ein in eine gesetzmäßige Autorität transformiertes Verbrechen. Wie Zizek ausführt, wäre infolgedessen die schauderhafte Vorstellung eines ›absoluten‹ Verbrechens, eines crimen immortale, inexpiabile (Kant)18 – in Form des rechtsförmigen Vollzugs eines Todesurteils, das über die Person (etwa den Monarchen) als Garanten gesetzlicher Ordnung verhängt wird – im freudschen Sinne des Begriffs19 unheimlich. Nimmt doch hier das Verbrechen selbst Gesetzesform an, und was als obszöne Nachahmung der gesetzlichen Ordnung auftritt, zeigt sich letztlich als das, worin 13 Vgl. Jacques Derrida: Gesetzeskraft. Der ›mystische Grund der Autorität‹, Frankfurt a. M. 1996, S. 29. 14 Werner Friedrich, Die Autorität der Differenz, unveröffentlichtes Skript, o.J, S. 5. Vgl. Ralph Kray, K. Ludwig Pfeiffer, Thomas Studer (Hg.), Autorität. Spektren harter Kommunikation, Opladen 1992. 15 Vgl. Blaise Pascal, Gedanken über die Religion und einige andere Themen, hg. v. Jean-Robert Armogathe, Stuttgart 1997, S. 60f., Fragment 60/294 (bei der Nummerierung der Fragmente gibt die erste Zahl die Zählung Lafumas an, die zweite die Brunschvicgs). 16 Vgl. Slavoj Zizek, »Kant und das ›fehlende Glied der Ideologie‹«, in: Hans-Dieter Gondek, Peter Widmer (Hg.): Ethik und Psychoanalyse. Vom kategorischen Imperativ zum Gesetz des Begehrens: Kant und Lacan, Frankfurt a. M. 1994a, S. 52-75, hier S. 60f. mit Bezug auf Pascal und Kant. 17 Vgl. Pascal 1997 (wie Anm. 15), S. 60f., Fragment 60/294. Pascal bezieht sich, so Derrida, auch auf Montaigne, ohne ihn zu nennen. Derrida 1996 (wie Anm.13), S. 24f. 18 Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Teil 1. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, hg. von Bernd Ludwig, Hamburg 1998, S. 143. 19 Die Texte S. Freuds werden zitiert nach: Gesammelte Werke, Frankfurt. a. M. 1960-1987 (G.W., Band in röm. Ziffern) und Gerhard Fichtner, Ingeborg Meyer-Palmedo, Freud-Bibliographie und Werkkonkordanz, Frankfurt a. M. 1989. Vgl. Freud 1919h, G.W. Bd. XII, S. 229-268. Vgl. Zizek 1994a (wie Anm. 16), S. 67.

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die Autorität des Gesetzes selbst gründet. Es ist das Gesetz selbst, das als eine solche Nachahmung fungiert. Das absolute Verbrechen hebt sich selbst als Verbrechen auf, es ist die Institution eines (neuen) Gesetzes als anzuerkennende Autorität. Das Erschreckende an einem solcherart unheimlichen Verbrechen ist demzufolge »nicht seine Fremdheit, sondern vielmehr seine absolute Nähe zur Herrschaft des Gesetzes.«20 Festzuhalten ist, dass sich die obszöne Verdopplung legitim erscheinender, gesetzmäßiger Autorität hier als deren verborgene Wahrheit zeigt. Deren Begegnung ist unheimlich und furchterregend, insofern sich, was zunächst als fremd, schrecklich und absolut unverzeihlich erscheint, in letzter Instanz als etwas erweist, was den symbolischen Institutionen auch der ›heimischen‹ Kultur heimlich zugrunde liegt. Als solches ist es notwendig verdrängt, etwas Traumatisches, das insistiert. Die verdrängte – und als solche das ›Eigene‹ heimsuchende – Kehrseite der im Gesetz begründeten Autorität, die Gründung der gesetzmäßigen Autorität in Form eines schließlich unheimlichen Verbrechens, verweist wiederum auch auf den Freudschen Mythos vom Urvatermord. Diese ›Verkehrung‹ des Ödipus-Mythos lässt sich auch als eine Art »Urszene« von Gesellschaftsentwicklung lesen.21 Jene oft wiederholte Erzählung des Mordes des Urvaters am ›Ursprung‹ der Instanz des symbolischen Gesetzes kann als Versuch gelten, deren nicht zu begründende Setzung in einem ›wissenschaftlichen Mythos‹ doch zu ergründen – nicht einholbar lässt sich diese Setzung nur retrospektiv und auf mythische Weise abhandeln. – Der Versuch, den Anfang darzulegen, ist und bleibt unmöglich, er ist »stets nachträglich gegenüber seiner Darstellung.« Entsprechend zeigt sich das ›ursprüngliche Verbrechen‹, das hiernach als Ursache des symbolischen Gesetzes gelten kann, immer auch als dessen Folge: »Am ›Anfang‹ war die Tat, aber erst das Wort, das richtende und verurteilende Wort ist es, das die Tat zur Tat und als Tat zum Anfang machen kann«.22 An dieser Stelle soll ein Rekurs auf den Urvatermythos erfolgen, da sich mit ihm die paradoxe Struktur paternaler Autorität ebenso wie deren unheimliche Kehrseite weiter eruieren lässt, die auf mythische Weise wirkt. Ihre Begründung lässt sich allein in einer Art »Mythos zweiten Grades«23 darstellen; die Annahme des ›Urverbrechens‹ »unterbricht als Mythos bereits den Mythos des Ursprungs, den er zu fassen versucht«.24 Es war einmal ein Vater, gefürchtet, beneidet, bewundert und geliebt zugleich, machtvoll im Besitz aller weiblichen Wesen – eine 20 Zizek 1994a (wie Anm. 16), insgesamt S. 64-67. 21 Susanne Lüdemann, »Der Tod Gottes und die Wiederkehr des Urvaters. Freuds Dekonstruktion der jüdisch-christlichen Überlieferung«, in: Edith Seifert (Hg.), Perversion der Philosophie. Lacan und das unmögliche Erbe des Vaters, Berlin 1992, S. 111-128, hier S. 114 mit Bezug auf Totem und Tabu. 22 Ebd., S. 116f. 23 Ebd., S. 115. 24 Georg Christoph Tholen, »Vom Gesetz des Symbolischen«, in: Armin Adam, Martin Stinge-

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Vorstellung von exzessivem Genießen bzw. einer auf brutaler Gewalt beruhenden Herrschaft und in diesem Sinne keine (symbolische) Autorität. Der Übergang zu letzterer gründet wiederum in dem »(verleugneten) Akt des ursprünglichen Verbrechens«,25 das sich vollzieht, wenn sich die vertriebenen Söhne zusammentun, den Vater töten, verzehren und »so der Vaterhorde ein Ende«26 machen; wobei der Vaterverzehr als Form der Identifizierung durch Aneignung eines Stücks der väterlichen Stärke gelten kann. Es kommt zum Versuch, sich an die Stelle des Vaters, der eben auch als verehrtes Vorbild fungiert, zu setzen. Die Einsicht in die Vergeblichkeit derartiger Bemühungen, die Gefühlsbindungen aneinander bzw. an den (toten) Vater führen endlich zum Widerruf der Tat, zum Verzicht auf deren ›Früchte‹ in Form des ›Besitzes‹ von Mutter und Schwestern und auf den Erwerb der Vaterstellung, sowie zu einer Einigung in Form einer Art Gesellschaftsvertrag. Der schließlich als Verkörperung des symbolischen Gesetzes wiederkehrende Tote »wurde nun stärker, als der Lebende gewesen war«, heißt es bei Freud: »Was er früher durch seine Existenz verhindert hatte«, das verbot sich die Brüderschar in einer Art von ›nachträglichem Gehorsam‹ jetzt selbst.27 – Es kommt u. a. zur Etablierung einer sozialen Organisation, in der die Beziehungen der »Brüder-Söhne« symbolisch vermittelt sind, der physischen Gewalt entbehren.28 Dabei rechtfertigt sich ein Teil des entstehenden Regelwerks nach Freud ›rationell‹, insofern eine Abgrenzung der Rechte der Gemeinschaft und der Einzelnen notwendig wird. Das jedoch, was an den auferlegten ethischen Ge- und Verboten »großartig, geheimnisvoll, in mystischer Weise selbstverständlich erscheint, das dankt [sic] diese Charaktere dem Zusammenhang mit der Religion, der Herkunft aus dem Willen des Vaters«.29

■ Heldenhafte Künstler Der Vatermord zugunsten sozio-symbolischer Ordnungsgefüge geht einher mit einem Verzicht, selbst an die Stelle des allmächtigen Vaters zu treten. »Keiner der Massensieger konnte sich an seine Stelle setzen, oder wenn es einer tat, erneuerten sich die Kämpfe, bis sie einsahen, daß sie alle auf die Erbschaft des Vaters ver25 lin (Hg.), Übertragung und Gesetz, Berlin 1995, S. 249-254; zit. n. http://www.mewi.unibas.ch/publikationen/sammelbaende/gesetzsymbol.html. 25 Slavoj Zizek, Die Tücke des Subjekts, Frankfurt a. M. 2001, S. 433. 26 Freud 1912-13a, G.W. IX, S. 171. 27 Ebd., S. 173, vgl. insgesamt S. 171ff. und Freud 1939a, G.W. XVI, S. 186ff. Vgl. Zizek 2001 (wie Anm. 25), S. 433. 28 Lüdemann 1992 (wie Anm. 21), S. 115. 29 Freud 1939a, S. 230, vgl. S. 227.

I. Härtel · Autorität als Kipp- und Krisenfigur

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zichten mußten.«30 Aber trotz gefundener (totemistischer)31 Organisationsformen blieb »die Unzufriedenheit mit dem Erreichten«; sie »wurde die Quelle neuer Entwicklungen.« Der Mann wurde schließlich (entgegen einer Frauenherrschaft) wieder »Oberhaupt einer Familie«, und doch war »die neue Familie nur ein Schatten der alten, der Väter waren viele und jeder durch die Rechte des anderen beschränkt«. Die »sehnsüchtige Entbehrung« mag, so Freud, einen Einzelnen schließlich bewogen haben, »sich von der Masse loszulösen« und quasi imaginär die Rolle des Vaters zu besetzen – ein phantastischer Fortschritt, ein Fortschritt in der Phantasie: Erfunden war der heroische Mythos, und in diesem wird die Wirklichkeit im Sinne der Sehnsucht umgelogen: Held wird der, der (vermeintlich) allein den Vater erschlug.32 Dabei handelt es sich eigentlich um keinen anderen als den zur Masse zurückkehrenden, von den Heldentaten berichtenden Dichter-Künstler selbst. Dieser erfindet die Taten seines Helden und damit auf gewisse Weise sich selbst. Der erzählende Künstler-Held senkt sich »herab« zur Realität, hebt die Hörer »empor« zur Phantasie und kann dabei durchaus Verständnis erwarten, denn die Hörer »können sich auf Grund der nämlichen sehnsüchtigen Beziehung zum Urvater mit dem Heros identifizieren.«33 – Die Sehnsucht ist wiederum verbunden mit der Figur privilegierten Genießens, und es erhebt sich ein Bild imaginär-narzisstischer Allmacht an der Stelle der traumatischen Szene urväterlicher Machtfülle. Kofmans Interpretation der Freudschen Ästhetik enthält eine Diskussion der vom heldenhaften Künstler beanspruchten Autoritätsposition. Die Frage der Kunstproduktion wird an den Ödipuskomplex gebunden – also an jene Struktur, in der der Vatermord den Status unbewussten Begehrens hat.34 Bei Kofman wird der Kult des Künstlers entmystifiziert und seine Wirkungsweise zwischen Bewunderung und Mordgelüsten gegenüber ›väterlichen‹ Figuren situiert. Beschreibbar wird eine den Vater/Künstler ebenso verehrende wie erniedrigende – und gerade darin bindende – Relation, eine ambivalente Bindung des Künstlers sowie des Publikums, welche jeweils auf einer ›theologischen‹ Idealisierung einerseits und einer narzisstischen Identifizierung andererseits (verbunden mit

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Freud 1921c, G.W. XIII, S. 151. Die ›totemistische‹ Figur wiederum hat auch obszöne Aspekte. Insgesamt Freud 1921c, G.W. XIII, S. 151f. Ebd., S. 153. Vgl. Zizek 2001 (wie Anm. 25), S. 432. – In der Argumentation Harold Blooms geht es um »a matter of oedipal rivalry and ›creative misreading‹«, um eine Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn in patrilinearer Genealogie. Es hat Versuche gegeben, die darin enthaltenen geschlechtsspezifische Modelle umzuschreiben. Lisa Ticker, »Mediating generation: the mother-daughter plot«, in: Art History, 25 (2002), Nr. 1, S. 23-46, hier S. 26. Vgl. Harold Bloom, Einflußangst. Eine Theorie der Dichtung, Frankfurt a. M. 1995. Insofern es mir hier gerade um die Funktionsweise traditioneller ›väterlichen‹ Konstruktionen geht, kann ich dem an dieser Stelle nicht nachgehen.

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dem Wunsch, an der Stelle des ›Vaters‹ zu sein) beruht.35 In der Idealisierung (etwa durch den Biographen) wird der ›große Mann‹ und Held in die Reihe infantiler ›väterlicher‹ Vorbilder eingetragen – Schwäche oder Unvollkommenheit markierende Spuren seiner Erscheinung werden idealisierend eingeebnet, individuelle Züge der Physiognomie zugunsten des Wunsches ausgelöscht.36 Zugleich geht es beim Versuch, den Künstler-Helden näher zu bringen, immer auch darum, den Abstand zu ihm zu verkleinern – wenn wir etwa »auch von Gelegenheiten hören, in denen er es wirklich nicht besser gemacht hat als wir, uns menschlich wirklich nahe gekommen ist«, verringert sich die Distanz und diese Verminderung wirkt immer auch in Richtung einer Erniedrigung.37 Die der väterlichen Idealgestalt eigenen, widerstehend nahen Züge sind es, die es erlauben, in ein direktes Verhältnis zu ihr zu treten, die den Abstand verringern zwischen Publikum und Künstler, zwischen Held und Vater, die also die Autorität in ihrer ambivalent-bindenden Kraft inaugurieren und den Ansatzpunkt bieten für eine Distanzverminderung, um – narzisstisch identifiziert – endlich selbst an deren Position zu partizipieren. Im Künstler-Kult kommt demzufolge zugleich das Bild des Vaters und des Helden zum Zuge – insofern nur die ›väterliche‹ Identifizierung und die herbeigewünschte Ersetzung des Vaters einen siegreichen Helden ergibt, bleibt dessen Bewunderung letztlich die des Vaters.38 Anders gesagt: Der Schlüssel der »theologische[n] Kunstauffassung« liegt »im Narzißmus sowohl des Künstlers wie in dem des Zuschauers«.39 Es kommt zu einer Bewegung zwischen dem ›religiösen Stadium‹ (auf die »den Göttern abgetreten[e]« Allmacht wird dabei nicht wirklich verzichtet)40 und narzisstischer Selbstfixierung. Religion und Kunst, so Kofman, entsprechen in diesem Sinne »derselben Ideologie.«41

■ Paradoxe Autorisierungsmechanismen Wenn Kofman Religion und Kunst im Künstlerkult als durchaus vereinbar konzipiert, dann in einer demaskierenden Weise, die sich im Namen der Psychoanalyse ebenso von der theologischen Verehrung des Künstlers wie von der narzissti35 Vgl. Sarah Kofman, Die Kindheit der Kunst – Eine Interpretation der Freudschen Ästhetik, München 1993, S. 35ff. 36 Vgl. Freud 1910c, G.W. VIII, S. 202f. 37 Freud 1930d, G.W. XIV, S. 550. Vgl. Kofman 1993 (wie Anm. 35), S. 35ff. 38 Vgl. Kofman 1993 (wie Anm. 35), S. 37. 39 Ebd., S. 170. – Das heißt nun m. E. aber natürlich nicht, dass sich Kunst auf ihre narzisstische Funktion o. ä. reduzieren lässt. 40 Freud 1912-13a, G.W. IX, S. 108. 41 Kofman 1993 (wie Anm. 35), S. 193.

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schen Identifizierung distanziert.42 Wenn Kierkegaard knapp 150 Jahre zuvor gegen eine Verschaltung ästhetischer und religiöser Sphären und gegen die Annahme von deren Kompatibilität polemisiert, so tut er dies im Namen einer Differenz, einer Qualität ›göttlich‹ bevollmächtigter Autorität, welche eine Religion und Kunst vereinigende Vision potentiell zum Verschwinden bringt. Der Geniekult in der Prägung des 18. und 19. Jahrhunderts lässt nach Neumann nicht nur den Künstler als quasi religiöse Figur erscheinen, sondern erhält seinerseits auch Einzug in die Theologie. In der Verkopplung ›genialer‹ und religiöser Vorstellungen kann der »Künstler-Heros« in Zeiten einer fragwürdig gewordenen Religion den religiösen Führer ersetzen und Christus, »dem höchsten Genie«, gleichgesetzt werden, »um die Dignität des Christentums zu behaupten.«43 Demgegenüber weist ein Autor wie Kierkegaard einen solchen Parallelismus u. a. zurück und wendet sich gegen eine Abschaffung der Sphäre des »Paradox-Religiösen« oder gegen deren ›Zurückerklärung‹ »in das Ästhetische«, durch die aus einem Apostel »nicht mehr und nicht weniger denn ein Genie« wird.44 Es droht unterzugehen, was nach Kierkegaard die ›göttlich‹ beauftragte Redner-, Führer- und Verkünderfigur vom Genie unterscheidet und was seine Absage an einen Parallelismus entsprechend begründet. Folgt man Kierkegaards Ausführungen, so ist das Genie das, was es ist, »kraft dessen, was e[s] in sich selber ist«; es ist dadurch charakterisiert, dass es in sich selbst lebt, sich aus sich selbst entwickelt. Auf diese Weise »spiegelt sich diese seine Selbstentwicklung hin als sein Wirken.« Dabei entfaltet es sich, seinem eigenen Genius folgend, »ohne Rücksicht darauf, ob es andern Gewinn bringt oder nicht« – seine Leistung hat keinerlei Ziel oder Zweck außerhalb seiner. Auch seine Aussage wird ›rein ästhetisch‹ durch Beurteilung von Inhalt und Form gewürdigt.45 – Hingegen soll einer wie Paulus keinesfalls »mittels der schönen Bilder sich und seine Lehre in Empfehlung bringen; umgekehrt müßte er wohl zu dem Einzelnen sagen: ›möge das Gleichnis nun schön oder abgedroschen und veraltet sein, das gilt gleichviel, du sollst daran denken, daß das, was ich sage, mir durch eine Offenbarung anvertraut ist, so daß da Gott selber oder der Herr Jesus Christus der Sprechende ist […]‹.«46 Die religiöse Autorität wird beschrieben als eine Art Vollmacht, und entsprechend ist nicht so sehr die Aussage selbst entscheidend, sondern, dass sie von einem auf diese Weise ›Bevollmächtigten‹ ausgesprochen wurde. Für dessen Autorität gibt es folglich kaum einen anderen Beweis »als

42 Vgl. z. B. ebd., S. 38. 43 Eckard Neumann, Künstlermythen. Eine psycho-historische Studie über Kreativität. Frankfurt a. M., New York 1986, S. 84, u. a. mit Bezug auf die Schleiermacher-Schule, S. 68ff. 44 Sören Kierkegaard, »Über den Unterschied zwischen einem Genie und einem Apostel«, in: Kleine Schriften. Düsseldorf, Köln 1960, S. 115-134, hier S. 117. 45 Ebd., S. 119, S. 133, vgl. S. 121f. 46 Ebd., S. 121.

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seine eigne Aussage«47 – Kraft eines Glaubens, einer symbolischen Wirksamkeit. Eine Autoritätsäußerung stützt sich auf den Akt des Aussagens – und so muss es auch sein, so Kierkegaard; könnte der Apostel »sinnenfällig« beweisen, dass er die Vollmacht hat, »so wäre er gerade kein Apostel«, hätte er einen anderen Beweis als seine eigene Aussage, »träte der Gläubige ja in ein unmittelbares Verhältnis zu ihm, nicht in ein paradoxes.«48 In diesem Fall besteht das Paradox eben in der Berufung, der Bevollmächtigung durch Gott: Dieser bestellt einen einzelnen Menschen dazu, göttliche Autorität zu haben, und ein solch paradox-religiöses Verhältnis lässt sich eben nicht denken, »sondern lediglich glauben«. Das Neue der durch den Apostel verkündeten Lehre, »die Art und Weise, auf welche die Lehre in die Welt gekommen,« ist paradox und durch das Denken nicht anzueignen. Seine Vollmacht oder Autorität spaltet die Figur des Apostels: Das Faktum seiner Berufung steht immer »paradox außerhalb seiner persönlichen Identität mit sich selber als der bestimmten Person, die er ist […]« und kann niemals als »Moment[…] seiner eignen Lebensentwicklung« gelesen werden.49 In dieser sich dem Zugriff des Denkens, der Vernunft entziehenden und in ihrer Paradoxie nicht aufzuhebenden Konstellation lässt sich die Differenz zwischen Menschlichem und Göttlichem, die für die Argumentation aufrechtzuerhalten ist, nicht durch eine eindeutige ›räumliche‹ Grenzziehung fixieren. Es besteht nach Kierkegaard ein ewiger, wesentlicher, qualitativer Unterschied zwischen Gott und Mensch – und doch auch eine Nähe, insofern sich in einer Person ein paradoxes Verhältnis von Transzendentem und Immanentem zusammenzieht, manifestiert. Etwas Anderes wirkt in einem Menschen oder durch diesen hindurch, das ihm, um die Autorität wirksam zu machen, zugesprochen wird und sich ihm zugleich entzieht. Kommt es hier nicht potentiell zu einer Desintegration der individuellen Grenzen, vielmehr zu einer Verwirrung in der Zuordnung von ›Autorschaft‹? Und lassen sich davon ausgehend im Hinblick auf die mit Autorität sprechende Person, welche die Diskrepanz zwischen dem anderen Ort der Autorität und seiner ›eigenen‹ Besetzung gleichsam verkörpert oder sich in dieser Verkörperung ›verdoppelt‹, nicht mögliche unheimliche Wirkungen annehmen, wenn diese Verwicklung zutage tritt – anknüpfend etwa an Formen der Angst über die Unsicherheit der Grenzen des ›Eigenen‹ oder dessen, was in den eigenen Äußerungsformen treibt?50 Kierkegaards Text impliziert eine Spaltung in der bevollmächtigten Person und damit in der Zuschreibung von ›göttlicher‹ Autorität. Einerseits ist es nicht 47 48 49 50

Ebd., S. 128f., S.131. Ebd., S. 131. Ebd., S. 126 und 120. Vgl. zur Frage des Unheimlichen bei Kierkegaard in anderem Zusammenhang etwa Vanessa Rumble, »Kierkegaard and the uncanny: a cast of sinners and automatons«, Enrahonar 29 (1998), S. 131-136. – Zur Frage einer ›Identität‹ von Mensch und Gott im Christentum vgl. Slavoj Zizek, Die gnadenlose Liebe, Frankfurt a. M. 2001b.

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ein dem Aussageinhalt innewohnender Wert, der die Grundlage der Autorität bildet – er wird quasi ersetzt durch die autorisierte Person. Zugleich wird einer Person nur dann Autorität zugesprochen, wenn sie etwas Anderes, etwas sie selbst Übersteigendes repräsentiert, eine fremde Botschaft übermittelt: Einer autorisierten Person wird, so Zizek, unabhängig von der inhaltlichen Qualität dessen, was sie äußert, gehorcht; zugleich verfügt sie nur dann über Autorität, wenn sie eine transzendente Botschaft überbringt, d.h. deren Träger ist. Genau dort, wo sich die Kennzeichen einer – kontingenten, autorisierten – Person und der Inhalt einer solchen Botschaft überlagern, wird Autorität wirksam; das heißt nach Zizek: sie wird wirksam in dem, was in ihr mehr ist als sie selbst, »in dieser Überschneidung, die genau dem entspricht, was Lacan als Objekt klein a bezeichnete«.51 Die Einsetzung in die symbolische Instanz erzeugt oder erschließt einen ›überschüssigen‹ Raum, der wieder die Frage des Begehrens stellt – das Objekt klein a kann als Objekt-Grund des Begehrens gelten. Mit dieser Auslegung kommt wiederum ein unheimlicher Zug der Autoritätsbildung ins Spiel. Geht es doch um das »paradoxe unheimliche Objekt, das im wahrgenommenen positiven und empirischen Objekt sich notwendigerweise meinem Blick entzieht und insofern die treibende Kraft für mein Begehren nach ihm ist […].«52 Bevor ich auf diesen unheimlichen Angelpunkt an der phantasmatischen Schnittstelle der paradox gebildeten ›väterlichen‹ Autorität näher eingehe, bleibt festzuhalten, dass der Gedankengang der Bevollmächtigung Aufschluss geben kann über Funktionen von Autorität und Mechanismen der Autorisierung, die – in einer Art Umkehrung des von Kierkegaard zurückgewiesenen Parallelismus – ebenso im künstlerischen Anspruch wirksam, wenn auch nicht selten verstellt sind. Ist bei Kierkegaard das ›Genie‹ von keinerlei Vollmacht getragen,53 so verstellt eine solche Vorstellung eine m. E. hier wirksame autorisierende Instanz. Deren Unterschlagung wäre dann nicht erst in der Parallelisierung von Genie und religiöser Autorität angelegt, sondern in anderer Form im Geniegedanken selbst potentiell schon enthalten. Wenn auch der Künstlerkult vorstellbar eine Verkennung der Autorisierung impliziert, insofern er – wie auch Freuds Ableitung der Position des phantastischen Helden aus dem Urvatermythos nahe legt – auf einer narzisstischen ›Lüge‹ und Anmaßung beruht, so müssen nichtsdestoweniger auch künstlerische Produktionen um ihrer Wirkung willen getragen sein durch ein ermächtigendes Außen der Äußerung (z. B. durch Institutionen des Kunstbetriebs): Die Äußerung wird wirksam erst, wenn sie in ein gesellschaftlich 51 Slavoj Zizek, Grimassen des Realen. Jacques Lacan oder die Monstrosität des Aktes, Köln 1993, S. 106-109. 52 Slavoj Zizek, »Ideologie zwischen Fiktion und Phantasma«, in: Riss. Zeitschrift für Psychoanalyse, 10 (1995), Nr. 29/30, S. 131-149, hier S. 139. 53 Nach Kierkegaard hat das Genie eben keine Vollmacht, nicht einmal »innerhalb der Relativität des menschlichen Lebens« (wie z. B. der Königsbote). Vgl. Kierkegaard 1960 (wie Anm. 44), S. 122.

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anerkanntes Feld eingeschrieben oder durch den ›großen Anderen‹ zur Kenntnis genommen wird.54 Es ist in der Überlagerung entsprechend ein unergründliches ›Mehr‹, welches die Wirkmacht paternaler Autorität bestimmt, das auch die in einer Ambivalenz befangene und die Wirkungsweisen der Autorisierung mitunter imaginär verstellende Künstlerfigur in Szene setzt. Auch bei Künstlern mit Helden-Status geht es um ein »magische[s] Etwas, das in ihnen mehr ist als sie selbst«, wie Michalka z. B. für den Mythos Jackson Pollock im Nachkriegsamerika der 50er Jahre zeigt. Die (Selbst-)Inszenierung Pollocks in unnahbarer Selbstversunkenheit und Rätselhaftigkeit »sichert ihm sein Geheimnis, etwas in ihm, das mehr ist als er selbst, kurz den Rest oder das gewisse Etwas, […] das wir uns im Glauben an Pollock oder in der phantasmatischen Identifikation mit seiner vermeintlich unergründbaren Intuition oder seiner ihm von uns zugeschriebenen Dynamik zu sichern suchen«.55

■ Unheimliches Mehr-Genießen Der Überschuss, das beunruhigende Mehr in ihm als er selbst wird auch als eine Art doppelbödige Kippfigur beschreibbar, die etwas in sein Gegenteil umschlagen lassen kann, sich nicht verorten lässt und auch beim Versuch, das ›Mehr‹ theoretisch zu umschreiben, immer wieder entgleitet.56 Wie gesehen, führen die ›transzendenten‹ Dimensionen, die die Zuschreibung von Autorität bestimmen, zu einer Art Spaltung der die Autorität verkörpernden Person, sie verschränken sich in ihrer Differenz mit den persönlichen, den vergänglich-menschlichen Zügen. Dabei geht es nicht nur um eine kontingente Verkörperung der Instanz des Anderen, sondern auch um ein unmenschlich wirkendes, unzerstörbares und unbegreifliches Moment in dieser Verkörperung selbst. Solche Faktoren sind es, die Autorität erst zugkräftig machen und zugleich als immer schon instabiles Gebilde erscheinen lassen. Dies sei im Folgenden näher ausgeführt. Zunächst wird die Verkörperung in einer Person selbst zu einer Bedingung des Funktionierens der sie übersteigenden Instanz; so gesehen hängt die göttliche 54 Vgl. in anderem Zusammenhang Zizek 1993 (wie Anm. 51), S. 113. 55 Michalka verknüpft dieses ›gewisse Etwas‹ indessen direkt mit dem Ich-Ideal. – Matthias Michalka, »Das Stottern der Helden, oder: Was hat das Kollektiv, was das ›Ich‹ nicht hat?«, Vortrag im Kunstverein Ludwigsburg 1998, zit. n. http://www.xcult.ch/texte/michalka/ m1.html, S. 4. 56 Diese Erfahrung begleitet insbesondere meine Zizek-Lektüre, etwa im Versuch, verschiedene Arbeiten zusammenzulesen. Gerade, wenn man meint, man ›hat es‹, schlägt es wieder um …

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Autorität von ihrer kontingenten Menschwerdung ab. Der symbolische Mechanismus knüpft sich an einen »idiosynkratischen Zug«, der offensichtlich ein Hindernis darstellt, »die paternale Funktion vollständig zu erfüllen«, der im Grunde aber – übertragungswirksam – garantiert, »daß die Person aus Fleisch und Blut tatsächlich als die Verkörperung der paternalen Autorität handelt.«57 – Der empirische, unvollkommene Vater verkörpert eine symbolische Instanz, der er nie gerecht werden kann, und in dieser Hinsicht ist zu akzeptieren, dass es in dieser Verkörperung nicht er selbst, sondern der große Andere ist, der spricht; der Vater als symbolisches Mandat ist ›mehr Vater‹ als der Vater selbst.58 Dabei ist die vergängliche empirische Person nicht einfach Träger der symbolischen Funktion, sondern, sobald eine Person auf diese Weise funktioniert, werden gerade deren alltäglich-gewöhnlichen Eigenschaften – charismaverstärkend – zum Objekt der Faszination.59 Dieser Wechsel in ein Objekt der Faszination – mit potentiell ebenso bewunderungsverstärkenden wie erniedrigenden Zügen – verweist wiederum auf das Objekt klein a, das, wie gesehen, konstitutiv ist für die Wirksamkeit von Autorität. Hier deutet sich etwas an, das sich im anderen entzieht und Triebkraft des Begehrens ist (s. o.), das auch die symbolische Autorität auf wiederum unheimliche Weise verdoppelt und als eine Art konstitutive Restverbindung zum mythisch genießenden Urvater funktioniert. Es geht um ein ›Mehr‹, auch im Sinne eines Mehr an Genießen. Wird der Vatermord als Autorität des toten Vaters in Form einer symbolischen Instanz in das symbolische Universum transformiert und integriert, so ist diese Transformation niemals komplett. Es bleibt ein ›Rest‹ in Form jener wiederkehrenden obszön genießenden Urvaterfigur. Im Zuge der Etablierung der symbolischen Funktion produziert sich (nachträglich) eine ›Wiederkehr‹ des Urvaters in der Erscheinung obszönen, traumatischen Genießens.60 Ausgehend von der Bevollmächtigung einer Person oder ihrer Überführung in die symbolische Dimension findet man sich schließlich auf der phantasmatischen ›Kehrseite‹ wieder, auf der Seite eines angenommenen, die Form ›befleckenden‹ Mehrgenießens, das, auch Ursache des Begehrens, zunächst für die Wirksamkeit von Autorität in der paternal-ödipalen Konstellation (heimlich) nichts als erforderlich ist. Der ödipale, »als Instanz des symbolischen Gesetzes« herrschende Vater »ist notwendig ein in sich selbst gedoppelter«; seine Autorität

57 In anderem Zusammenhang: Slavoj Zizek, Liebe Deinen Nächsten? Nein Danke! Die Sackgasse des Sozialen in der Postmoderne, Berlin 1999, S. 237. 58 S. Zizek 1995 (wie Anm. 52), S. 141, Slavoj Zizek, Denn sie wissen nicht, was sie tun. Genießen als ein politischer Faktor, Wien 1994b, S. 147. 59 Zizek 1993 (wie Anm. 51), S. 125f. 60 Vgl. Slavoj Zizek, Liebe Dein Symptom wie Dich selbst! Jacques Lacans Psychoanalyse und die Medien, Berlin 1991, S. 106; Zizek 1994b (wie Anm. 58), S. 147f.

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kann nur gestützt auf eine obszöne ›Urvaterfigur‹ zur Geltung kommen.61 Die Vorstellung des genießenden Vaters, des möglichen Genießens an der Stelle des Vaters, rettet aus der Misere, dass Erfüllung im psychoanalytischen Verständnis immer schon unmöglich ist. Diese Vorstellung ist nun an der Stelle der Instanz des Verbotes platziert, an der Stelle, von der das ödipale Verbot ausgeht. Der Urvatermythos – als »supplementärer Mythos zu Ödipus« – verleiht der unmöglichen Erfüllung ›Fleisch und Blut‹ und suggeriert, dass zumindest einem Subjekt der volle Genuss vergönnt war.62 Die das Genießen verbietende Autorität als Instanz des Gesetzes findet eine Stütze also ausgerechnet in einem verhängnisvollen, nicht einzupassenden Bild dieses Genießens. Von den heimlichen schmutzigen Genießensvorgängen nichts wissen will der,63 der ohne Rechtfertigung oder Begründung vorzubringen, verbietend das symbolische Regelwerk zur Wirkung bringt – und im Zuge dieses Aussagens scheint sich zugleich ein Genießen zu enthüllen. Der unheimliche Doppelgänger symbolischer Autorität tut, gewissermaßen zum schaurig-schönen Schreckbild geworden, was verboten (unmöglich) ist, was als anstößig gilt – er scheint zu genießen. Durch die Annahme eines am Ort des Vaters bzw. seines Doppelgängers möglichen Genießens, durch die heimliche, ›zwischen den Zeilen‹ eingeräumte Überschreitung des Verbots formt sich die ambivalente Bindung an die ödipale Autorität; der vorgestellte mögliche Genuss deutet auf jenen angenommenen, das Begehren bedingenden Schatz am Ort des Anderen, um dessentwillen man liebend gehorcht und der einem zu schaffen macht. Nicht nur haftet in dieser Konstellation dem Vater, den man liebt, verehrt und der den Genuss verbietet, auf wiederum auch erniedrigende Weise das Obszöne selbst an, sondern, unheimlicher noch, die Vorstellung dieser obszön-genießenden Kehrseite ist auch an dem eigenen, unkenntlich gewordenen Wunsch ›ursprünglich‹ beteiligt. Tritt also hervor, was heimlich so gut funktioniert, so ist die Beziehung zur Autorität verunsichert. Mit dem Offenbarwerden des überwunden Geglaubten als konstitutivem Kern der Autoritätskonstruktion entsteht in der Beziehung eine Orientierungslosigkeit, die sich nicht sofort mit bekannter Handhabe einbinden lässt. Außerdem wird man in der Begegnung des am Ort der Autorität unterlegten (Mehr-)Genießens potentiell mit dem Umstand konfrontiert, dass das ›eigene‹ Streben nach »Schleichwegen« zur Wunscherfüllung – in dem die Autorität schließlich als das fungiert, was die fremden Strukturen heimisch machen, mit Sinn ›erfüllen‹ und integrieren soll – von dem ausgeschlossenen, überwältigenden, nicht integrierbaren und irritierenden (unmöglichen) Genießen abhängt. Man würde gewissermaßen auf ängstigende Weise jenem zu nahe kommen, was 61 Zizek 1991 (wie Anm. 60), S. 108. – Zu einer Zizekschen Deutung des Status des Christentums, auch im Hinblick auf ein potentielles Fehlen des unheimlichen ›obszönen‹ Hintergrundschattens vgl. Zizek 2001b (wie Anm. 50). 62 Insgesamt Zizek 1991 (wie Anm. 60), S. 107. 63 Vgl. Zizek 2001 (wie Anm. 25), S. 437.

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dem gewohnten Ort des Begehrens in der symbolischen Ordnung überaus fremd und zugleich unheimlich ›vertraut‹ ist – was wäre hier also ›heimisch‹ zu nennen?

■ Krisenhafte ödipale Konstellationen Die symbolische Autorität ist mit einem obszönen Fleck des Genießens versehen, der in der herkömmlichen ödipalen Konstellation ihre Effektivität erst garantiert und zugleich ihre Krisenhaftigkeit impliziert. Die schattenhafte Überlagerung oder Unterfütterung der in sich gedoppelten symbolischen Autorität mit Obszönität ist sozusagen eine unausgesprochene ›Wahrheit‹ der familial-ödipalen Konstellation. Ihre Un(an)erkanntheit oder ›Heimlichkeit‹ wäre Grundlage für deren ›normales‹ Funktionieren. (Gerade der Schimmer oder Schein der Übertretung des Verbots stärkt das Spiel ödipaler Identifikation.) Und zugleich kann man darin bereits die Anlage einer Krise lesen, insofern sich Autorität auf etwas stützt, was sie ›öffentlich‹ ausschließt und was niemals wirklich kontrollierbar ist. – Verliert etwa die im Zuge der Etablierung symbolischer Autorität gesetzte Ignoranz gegenüber dem Genießen an Wirkung, dann vermag die väterliche Autorität in obszöne Ur-Vaterfiguren umzuschlagen. Funktioniert ›der Vater‹ weniger als der wie auch immer unzulängliche Träger symbolischer Autorität, so hat dies (einhergehend mit der Beschränkung auf ein imaginäres Ideal) auch »seine monströse Kehrseite zur Folge«. Der »Rückzug« des symbolischen Gesetzes in seiner herkömmlichen Form – das den ihm unterworfenen Subjekten einen Zugang zur Welt und deren Konsistenz verspricht – geht einher mit dem »Vormarsch« des »unheimlichen Doppelgängers«.64 Gerade im Moment der Krise ödipaler Autorität kann sich die Weise ihres ›normalerweise‹ unsichtbaren Funktionierens zeigen.65 – Es lässt sich sagen, dass die mit der Funktion des Vaters verbundene Autorität des Gesetzes in der ›modernen‹ Gesellschaft funktioniert. Das Subjekt wird nicht mehr wie in der ›vormodernen‹ Gesellschaft durch ein Initiationsritual in der sozialen Struktur verortet, sondern es gewinnt seine ›Freiheit‹, indem es sich in Distanz zum ›väterlichen‹ Gesetz positioniert.66 Dabei erfolgt die Distanzierung auf eine Weise, die die Funktion der Gesetzesautorität wahrt. In der ›Postmoderne‹ wird ge64 Zizek 1999 (wie Anm. 57), S. 189f. bzgl. des Über-Ichs. – Vgl. insgesamt Zizek 2001 (wie Anm. 25), S. 429f., S. 460. – Auf (auch Zizeksche Konzeptionen betreffende) Diskussionen, welche Vorstellung des Symbolischen potentiell verblasst, kann ich hier leider nicht weiter eingehen. 65 Vgl. dazu Zizek 2001 (wie Anm. 25), S. 430. 66 Renata Salecl, »Sexuelle Differenz als Einschnitt in den Körper«, in: Jörg Huber, Martin Heller (Hg.), Inszenierung und Geltungsdrang. Interventionen / Museum für Gestaltung Zürich, Zürich 1998, S. 175f. – Salecl versteht die angeführten unterschiedenen Gesellschaftsformen

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rade der Glaube an die symbolische Autorität untergraben, ihre Wirksamkeit fragil. »Das postmoderne Subjekt akzeptiert die Macht der Institutionen oder die Macht der Gesellschaft, seine Identität zu formen, nicht mehr […].«67 – Mit dem Vertrauen und der Gewissheit hinsichtlich symbolischer Institutionen schwindet auch eine verlässliche Instanz in der Position dessen, den man für wissend halten könnte.68 Eine Suspendierung der paternalen symbolischen Autorität, welche zunächst eine Distanz zum Genießen verbürgt, führt u. a. zum Auftauchen von herrischen (Ur-)Vaterfiguren, die – etwa in Form eines sexuellen Belästigers, »eines Vaters, der dem Charakter des Freudschen Vaters der Urhorde sehr ähnelt […]«69 – als Orte der Aneignung und Verstellung unmöglichen Genießens fungieren. Verschiedene Phänomene auf dem Felde der Kunst lassen sich als Konsequenz einer angenommenen ›Krise väterlicher Autorität‹ lesen. Salecl hat z. B. anhand bestimmter Verfahren der Body art gezeigt, dass in diesem Kontext vollzogene Verletzungs- oder Verstümmelungsrituale (in welchen sich überdies sehr verschiedene künstlerische Anliegen manifestieren können, potentiell ebenso Entwie Remythisierungen des Künstlers) auch vor diesem Hintergrund eines Unglaubens an die symbolische Autorität gelesen werden können. Sie stellen sich dann dar als gleichsam ›perverse‹ – oder perverse Rituale inszenierende – Versuche, mit diesem sich wandelnden Glauben umzugehen (wobei in der Perversion die der symbolischen Instanz unterlegte Seite obszönen Genießens gerade anerkannt wäre; das Gesetz wird mit dem Genussobjekt parallelisiert; in gewisser Weise wird versucht, es – bei mangelndem symbolischen Verbot – wirksam zu machen).70 – Im Rahmen lacanscher Konzepte werden differente künstlerische Praktiken, die je nach Kontext verschieden einzuschätzen sind, gemeinsam im Zusammenhang einer kulturellen Veränderung beschreibbar, in der die traditionell bindende Kraft des Symbolischen brüchig geworden ist. So wird anscheinend jede Form von Gewalt am Körper als Kunst präsentierbar, es scheint kein Geheimnis mehr zu bestehen.71 So lässt sich ausgehend von postmoderner Kunst eine Verlagerung beschreiben von einer Fokussierung auf die realitätskonstitutive Wirkungsmacht symbolisch-repräsentationaler Gefüge hin zum Realen »as a

67 nicht genealogisch; die Unterscheidungen markieren hier potentiell gesellschaftlich parallel anzutreffenden Arten der Identifizierung mit der symbolischen Ordnung (vgl. ebd.). 67 Ebd. 68 Vgl. Zizek 2001 (wie Anm. 25), S. 470. 69 Salecl 1998 (wie Anm. 66), S. 177. Vgl. Zizek 2001 (wie Anm. 25), S. 432. 70 Vgl. Slavoj Zizek, »Gibt es ein perverses Genießen in der Politik? Von Narren und Schurken«, in: André Michels u. a. (Hg.), Jahrbuch für klinische Psychoanalyse, Bd. 1, Tübingen 1998, S. 268-283, hier S. 276. Vgl. Salecl 1998 (wie Anm. 66), S. 182. 71 Vgl. in anderem Zusammenhang Renata Salecl, »The new age of anxiety«, in: Insa Härtel, Sigrid Schade (Hg.), The body and representation, Opladen 2002, S. 107-122, hier S. 120.

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thing of trauma«.72 Formen der Abject art, die z. B. »Körpersäfte[n], Ausscheidungsprodukte[n] und Körperteile[n]«73 künstlerisch inszenieren und Ekelgefühle evozieren, haben potentiell ebenfalls eine Art ›Krise‹ hervorgerufen. In Abhängigkeit von den jeweiligen diskursiven Bezugsrahmen können Arbeiten der Abject art unterschiedliche Bedeutungen erhalten – sei es z. B. »als Tabubruch, als feministische Befreiungsgeste oder als ›obszönes‹ Kunstwerk«.74 – Einbezogen sein können etwa das Erforschen traumatischer Wunden, die Untersuchung der Bedingungen der mit der paternalen symbolischen Ordnung konstitutiv verbundenen Ausschließungen, wie ›infantilistische‹, das väterliche Gesetz verspottende, Differenz in Frage stellende Positionen – eine »mimesis of regression«, welche wiederum über ›infantile‹ Positionen hinaus auf das ›Anorganische‹ zu gehen vermag.75 Es wäre also je nach Kontext zu fragen, wie das Verhältnis von soziokulturell bewirkten Tendenzen einer Re-Definition von Erfahrungen in Begriffen eines faszinierend wirkenden ›Traumatischen‹76 zu Formen von Autorität bestimmbar wird. Welche Formen der Regulation werden dominant, welche ›Sackgassen‹ sind möglicherweise mit ihnen verbunden und welche Potentiale (z. B. hinsichtlich einer Reflexion und Veränderung der mit traditionellen ödipalen Autoritätskonstruktionen verbundenen Ausschlussmechanismen)? Inwieweit werden die angedeuteten künstlerischen Tendenzen als Teil einer gesellschaftlichen Logik interpretierbar, in der alles sichtbar scheint und die (allerdings erfolglos) alle Ängste und unheimlichen Objekte beherrschen will?77 Wann kann man sie sich als Versuche deuten, zu dem unheimlichen Objekt oder ›realen‹ Rest vorzustoßen bzw. solches zu enthüllen? Und/Oder in welchem Kontext ist die Lesart möglich, hier werde ein Verworfenes in den Bereich kultureller Intelligibilität eingeschleust?78 Wie wird potentiell ein Zusammenhang zwischen kulturell anerkannten Produktionen und dem Obszönen, wie wird die Labilität ihrer Grenzziehung 72 Hal Foster, The return of the real: the avant-garde at the end of the century, Cambridge Mass. 1996, S. 145f. 73 Sigrid Schade, »Andere Körper«, in: Ausst.-Kat. Andere Körper, hg. von Sigrid Schade, Linz, Kulturhaus 22. September bis 30. Oktober 1994, Wien 1994, S. 10-25, hier S. 22f. 74 Anja Zimmermann, Skandalöse Bilder – Skandalöse Körper. Abject art vom Surrealismus bis zu den Culture Wars, Berlin 2001, S. 248. – Leider muss ich es hier bei diesen andeutenden Bemerkungen belassen. 75 Vgl. Foster 1996 (wie Anm. 72), S. 153-168. – Dabei konstatiert Foster auch eine Verlagerung von mit einer ›krisenhaften‹ symbolischen Ordnung potentiell verknüpften ekstatischen oder auch melancholischen Positionen der ›Postmoderne‹ zu u. a. dem Bestreben, sich die ›obszöne Vitalität der Wunde‹ anzueignen und eine spezifische radikale Nihilität zu besetzen. 76 Foster führt für eine solche Faszination z. B. eine Unzufriedenheit mit spezifischen postmodernen Positionen ebenso wie die Zerstörung bestimmter sozialer Strukturen oder auch invasive Krankheiten wie die AIDS-Krise an. Foster 1996 (wie Anm. 72), S. 166ff. 77 Vgl. in anderem Zusammenhang Salecl 2002 (wie Anm. 71), S. 121. 78 Vgl. dazu Zimmermann 2001 (wie Anm. 74).

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Unheimliche Orte im Text

aufgezeigt? Oder wann vermag eine im Rahmen einer Suspendierung ›väterlich‹ symbolischer Autorität situierte Vorführung ihrer obszönen Kehrseite selbst noch als eine Art Schutzschild zu fungieren, als ein Schutzschild davor,79 dass das Genießen unmöglich oder etwas ausgeschlossen bleibt?

■ Zusammenfassung Dieser Beitrag hat sich der krisenhaften, bereits in sich instabilen Figur westlichpaternaler Autorität und den an ihrem Ort traditionell wirksamen Mechanismen gewidmet, die auch für die Autorisierung künstlerischer Autorschaft grundlegend sind. Zunächst lässt sich sagen, dass die paternale Autorität einen Versuch darstellt, jene fremde symbolische Ordnung heimisch zu machen, welcher der Mensch sich anfänglich ausgesetzt sieht und die ihm nicht einfach Erfüllung gewährt. Unmittelbarer Genuss ist unmöglich, die väterliche Figur am Ort des Anderen verbietet das Genießen, bildet das ersehnte ›primäre‹ Objekt durch die Untersagung und wird als Repräsentant der symbolischen Ordnung selbst zu einem Objekt verschobener heimlicher Wünsche: Es ist diese fremde Ordnung und ein in der Autorität gesuchtes privilegiertes Wissen über diese, auf die sich das Subjekt schließlich begehrend bezieht (vgl. Adam). Dabei muss die paternale Autorität an der Schnittstelle menschlicher und ›göttlicher‹ Attribuierungen tautologisch behauptet werden, um wirksam zu sein. Der Akt der Autorisierung ist nicht begründbar – es handelt sich um einen unheimlichen Gründungsakt, den zu ergründen innerhalb des Wirkungsbereichs der Autorität nicht möglich und nicht statthaft ist und der sich ausgehend vom Freudschen Urvatermythos auch als Effekt einer ›Mordtat‹ denken lässt, die den symbolischen Ort von Autorität allererst einräumt. Führt nach Freud u. a. die Erfolglosigkeit der Bestrebung der einzelnen Brüder, selbst das Erbe des allgewaltigen (Ur-)Vaters anzutreten, auch zu einer Art Gesellschaftsvertrag, so wird im Falle des männlich gedachten Dichter-Künstlers die Wirklichkeit im Sinne der Sehnsucht umgelogen: Die Entbehrung der unbeschränkten Macht des Vaters mag nach Freud einen Einzelnen bewogen haben, losgelöst von der Masse imaginär dessen Rolle zu besetzen. Erfunden war der heroische Mythos: Held wird der, der vermeintlich allein den ›Vater‹ erschlug, sich seiner Überwindung rühmt. Dies wiederum ist im Grunde der von den Heldentaten berichtende Dichter-Künstler selbst (s. o.). Der Heros vermag anscheinend nicht zu erklärende oder zu begründende Dinge zu vollbringen, er ist mit einem

79 Vgl. in anderem Zusammenhang Slavoj Zizek, Das fragile Absolute. Warum es sich lohnt, das christliche Erbe zu verteidigen, Berlin 2000, S. 90f.

I. Härtel · Autorität als Kipp- und Krisenfigur

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›Mehr‹ ausgestattet, mit einem gewissen Etwas, das ihm auch Autorität verleiht (vgl. in anderem Zusammenhang Michalka). Schließlich ist es ein unergründliches ›Mehr‹ in ihr als sie selbst, das die in einer Spaltung oder Ambivalenz befangene und diese Wirkungsweisen potentiell imaginär verstellende Künstlerfigur in Szene setzt und das auch darüber hinaus die Wirkmacht paternaler Autorität bestimmt. Der Autoritätsperson wird in dieser Logik etwa ein Mehr an Genießen unterstellt und das, was durch ihre Behauptung im ödipalen Szenario gerade ausgeschlossen werden sollte, ist in ihr selbst auch schon enthalten: Ein unheimlicher Doppelgänger, der ihre Effektivität erst garantiert und zugleich eine Störung involviert. In der Figur des väterlichen Verbots, wenn es wirksam ist, schwingt ein Rest des ›urväterlichen‹ Willens mit: Untergründig scheint etwas von jenem Genießen eingeräumt, dessen Verzicht explizit gefordert ist. Dies impliziert eine unheimliche Wiederkehr, wenn dieser Zug aus dem verborgenen Funktionieren hervortritt und sich in seiner obszönen Gestalt zu erkennen gibt. Tritt die symbolische Instanz in ihrer bindenden Wirksamkeit schließlich zurück, so tritt die obszöne Kehrseite, die ihr vormals als heimliche Stütze diente, potentiell in den Vordergrund (vgl. Zizek) und dies kann auch in der Kunst eine ›Krise‹ ödipaler Autoritätskonstruktionen aufrufen, deren Potentiale und Risiken weiter zu eruieren wären. Dabei ist es über eine Wahrnehmung des Rückzugs traditioneller ›väterlich‹symbolischer Autoritätsgefüge als »völlige Katastrophe« oder als Eröffnung geradezu unbegrenzter, von auferlegten normativen Idealen unabhängiger Möglichkeiten hinaus notwendig, eine andere »Erklärung zu finden für die veränderte Beziehung des Subjekts zur symbolischen Ordnung« – im Sinne einer »Transformation, die erst noch durchdacht werden muß.«80 So sind m. E. die Darlegung und die Unterbrechung der Bewegung zwischen traditionell paternalen Autoritätskonstellationen und dem Erscheinen ihres unheimlichen oder ›obszönen‹ Doppelgängers wichtig, und es ist zu realisieren, was in diesen Gestalten nicht aufgeht.

80 Salecl 1998 (wie Anm. 66), S. 184f.

■ Unheimliche Orte der Psyche

■ Dagmar von Hoff und Marianne Leuzinger-Bohleber

Travestie des Unheimlichen

■ 1. Einleitung Die Bilder des kolumbianischen Malers Fernando Botero1 haben inzwischen eine weltweite Verbreitung gefunden. Sie üben offensichtlich eine große Faszination auf Menschen in Süd- und Nordamerika, Europa und Asien aus. Für viele Betrachter wirken die bunten adipösen Figuren mit den stereotypen Kindergesichtern anziehend und abstoßend zugleich, amüsierend und befremdlich, vertraut und unheimlich. Worauf beruht diese Faszination, worauf die widersprüchlichen affektiven Reaktionen auf diese Bilder? Welche unbewussten Phantasien werden beim Betrachter angesprochen? Diesen Fragen gehen wir in einem interdisziplinären Dialog nach und stellen unsere Überlegungen und Hypothesen in diesem Rahmen zur Diskussion. Methodisch entwickeln wir dabei unser Interpretationsverfahren weiter, das wir in einer gemeinsamen Arbeit zu Elfriede Jelineks Lust vorgestellt haben, nämlich eigene Interpretationshypothesen durch die Perspektive der anderen Disziplin zu kontrastieren und dadurch abzustützen oder aber zu verwerfen.2 Inhaltlich geht es dabei auch um den Versuch, die Psychoanalyse als einen Schlüssel für das Verständnis von Boteros rätselhaften Bildern zu nutzen.

1 Fernando Botero (1932 -): kolumbianischer Maler; begann seine Arbeit 1948 als Illustrator; 1950 ging er nach Europa und arbeitete dort v. a. in Madrid und Florenz; von 1956-57 war er in Mexiko; 1958 Professur für Malerei an der Kunstakademie in Bogotá; 1960-1973 New York City; seit 1973 lebt und arbeitet er in Paris. 2 Vgl. Dagmar von Hoff und Marianne Leuzinger-Bohleber, »Psychoanalytische und textanalytische Verständigung zu Elfriede Jelineks Lust«, in: Psyche 51 (1997), S. 763-800.

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■ 2. Melancolía Stockholm im September 2001. Auf dem Titelbild des Katalogs einer eben eröffneten Ausstellung: Fernando Boteros Melancolía (Abb. 1). Die füllige, transvestitische Figur mit dem fröhlich blumigen Rüschenkleid, den weißen Spitzen, welche die schwarze männliche Körperbehaarung freigeben, löst zuerst ein heiteres Lächeln aus, das aber fast gleichzeitig erstirbt beim Blick in das fahle, entleerte Kindergesicht: Bilder aus der Ausstellung Körperwelten3 – ein Befremden – der Wunsch wegzublicken. Leere, Erstarrung, Ratlosigkeit, etwas Unheimliches – so die widersprüchliche affektive Reaktion. Eine Szene vor langer Zeit: ein transvestitischer Analysand erzählt, dass er im Kaufhaus ein geblümtes Sommerkleid mit Rüschen geklaut und darin zu Hause vor einem Spiegel onaniert habe – auch danach zuerst ein amüsiertes Lächeln beim Gedanken an die groteske Inszenierung, das sogleich erfriert beim Blick in das bleiche Kindergesicht, aufgesetzt auf den hochgewachsenen, breitschultrigen Männerkörper. Ist Transvestitismus eine naheliegende Assoziation zu Melancolía, oder enthalten die Erinnerungen an die spezifischen Szenen mit dem schwer traumatisierten Analysanden darüber hinaus Informationen zu latenten, unbewussten Mitteilungen in Boteros Gemälde?

■ 2.1 Das »erstorbene Lachen« – Trauer und Melancholie »With the window open things become visible, but consolidated in their strange unrealness. Then Mama takes a deep breath, takes me by the hand, and tells me. ›Come let’s take a look at the house through the window.‹ And I see the town again, as if I were returning to it after a trip – I can see our house, faded and run down, but cool under the almond trees; and I feel from here as if I’d never been inside that green and cordial coolness, as if ours were the perfect imagery house promised by my mother on hights when I had bad dreams…«4

Das unwirkliche Gefühl, in das, wie Botero hier selbst beschreibt, viele seiner Erinnerungen getaucht sind, finden wir häufig in seinen Bildern atmosphärisch wieder. Mario Vargas Llosa charakterisiert Boteros Malerei als Ausdruck des südamerikanischen »magischen Realismus«. Auch in der Melancholie – als chronifiziertem pathologischen Trauerzustand – wird das Erleben der Wirklichkeit »ma3 Diese Ausstellung wurde mit großem Erfolg in verschiedenen deutschen Städten gezeigt – menschliche Leichname waren dabei in kunstvoller Weise mit Verfahren der modernen Pathologie präpariert. 4 David Elliot, »The enigma of Fernando Botero«, in: ders. (Hg.), Ausst.-Kat. Fernando Botero. Paintings and large-scale sculptures, Stockholm, Moderna Museet 2001-02, S. 8.

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Abbildung 1: Fernando Botero, Melancholie (Melancolía), Öl auf Leinwand, 193 x 130 cm, 1989, Besitz des Künstlers

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gisch derealisiert«: Die Zeit bleibt stehen – der »Schatten des Objekts ist auf das Ich gefallen.«5 Nach Freud ist Melancholie eine tief schmerzliche Verstimmung, in der das Interesse für die Außenwelt aufgehoben wird. Der Austausch mit dem realen Objekt erlischt. Die Liebesfähigkeit geht verloren zugunsten einer Einkapselung in die eigene, dunkle Welt. Der Melancholiker verliert sein Selbstwertgefühl und ist nicht mehr fähig, kreativ und aktiv zu gestalten. Der Spiegel, in den er schaut, ist zu klein und kann seinen Augen keinen Glanz verleihen. So blickt Boteros transvestitischer Mann melancholisch in den Spiegel, findet sich aber darin nicht. Er sucht vergebens sein eigenes Selbst. Seinen Augen fehlt die strahlende Eigenliebe eines Narziss, dessen Stolz und triumphale Selbstbesetzung. Sie wirken abgestumpft, trübe und verraten den erlittenen Verlust. Im Stadium der Melancholie erstirbt die innere Lebendigkeit. Ein schwerer Mantel der Düsterkeit legt sich über das Selbst. Die Affekte verlieren ihre modulierende Lebendigkeit und ihre Funktion, den eigenen seelischen Zustand – und jenen des Gegenübers – wahrzunehmen und mitzuteilen. Das Selbst wird vom verlorenen Objekt aufgesogen – in seiner Eigenständigkeit ausgelöscht. Das verspielte Blumenkleid des Transvestiten erinnert an eine lebendige, farbenfrohe Kinderzeit – an Phantasien und Spiele unter den Mandelbäumen beim heimatlichen Haus. Allerdings sind Farben und Rüschen zu erstarrten Relikten einer verlorenen Welt geworden. Sie können den Transvestiten weder wärmen und schützen noch wirklich erfreuen. Die schwarzen Männerhaare enthüllen das versteckte Geheimnis, die archaische Selbst- und Identitätsproblematik: Der Mann verleugnet seine Männlichkeit. Er flüchtet in die Kleider einer Frau und sehnt sich nach einem weiblichen Körper. Ein fremdes Haus für seine biologisch determinierte männliche Existenz? Wie wir aus Psychoanalysen mit transvestitischen Analysanden wissen, steht das Symptom für eine archaische (heimliche) Sehnsucht nach der Verschmelzung mit dem mütterlichen Primärobjekt. Das Selbst ist unbewusst immer noch mit ihm verschmolzen und hat sich nicht in seiner Eigenständigkeit konstituiert. In omnipotenter Weise wird der Geschlechtsunterschied negiert: das Selbst ist sowohl männlich als weiblich, verfügt über einen Penis und eine Vagina und kann sich parthogenetisch, ohne Angewiesenheit auf einen Anderen, fortpflanzen. Die Abhängigkeit vom eigenen Körper, dem Geschlecht und vom Liebesobjekt wird negiert und in omnipotente Kontrolle und phantasierte Unabhängigkeit gewendet. Auch die Generationsschranke wird verleugnet: Der Transvestit lebt in einem zeitlosen Zustand zwischen den

5 Die Texte S. Freuds werden zitiert nach: Gesammelte Werke, Frankfurt. a. M. 1960-1987 (G.W., Band in röm. Ziffern) und Gerhard Fichtner, Ingeborg Meyer-Palmedo, Freud-Bibliographie und Werkkonkordanz, Frankfurt a. M. 1989. Freud 1933a, G.W. XV, S. 7.

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Generationen, befreit von Lebenszyklus und Sterblichkeit.6 Verraten die analogen Darstellungen in Boteros Bildern ähnliche unbewusste Zusammenhänge? Auch seine Figuren sind auffallend zeitlos und altern nicht. Die Körper der Kinder unterscheiden sich kaum von jenen der Väter und Mütter – Säuglinge sehen Greisen ähnlich. Boteros transvestitischer Mann wirkt nicht nur derealisiert, sondern auch dehumanisiert wie eine überdimensional große Puppe. Die Identitätsmerkmale werden äußerlich bestimmt – durch die Kleider und die Umgebung. Die Gesichter selbst, Spiegel unverwechselbarer Identitäten,7 sind in Boteros Figuren schematisiert und entindividualisiert. Die Farbe der Haut erinnert an Porzellan oder an eine Figur aus dem Wachsfigurenkabinett. Llosa schreibt dazu: »Here clothes do make the man: bishops, nuns, virgins, generals and saints are here not ways of being but ways of appearing and dressing when they are dressed. Their appearance is all that they are, so that the dichotomy between being and appearing has no meaning for them. Their appearance is their essence.«8

Das Zusammenfallen von äußerer Erscheinung und dem eigentlichen Sein erinnert an die in psychoanalytischen Praxen heute recht häufig gestellte Diagnose der narzisstischen Persönlichkeitsstörung.9 Die damit charakterisierten Menschen sind beziehungsunfähig und leiden an einer inneren Leere und Einsamkeit. Allerdings spüren sie das Fehlen eines stabilen Selbst und einer tragenden inneren Objektwelt meist kaum: ihre narzisstische Abwehr bietet ihnen einen Schutz vor dem Leiden an der inneren Beziehungslosigkeit. Die narzisstische Fassade ersetzt eine idiosynkratische Sinn- und Identitätsfindung. Narzisstische Besetzungen des Selbst rücken an die Stelle der Abhängigkeit vom Objekt und seiner zärtlichen und libidinösen Zuwendung. Die Interessen des Anderen, der sich der Funktionalisierung durch das Selbst entzieht, werden negiert und verleugnet: es besteht kein lebendiger Austausch mit äußeren und inneren Objekten. Die Lebensgeschichten von Menschen, die schließlich eine narzisstische Persönlichkeitsstörung entwickeln, illustrieren zwar einerseits immer idiosynkratische, durch schwere Traumatisierungen gekennzeichnete Leidensgeschichten. Sie verweisen aber andererseits auf prekär gewordene, als unlösbar erlebte Widersprüche in der aktuellen äußeren Realität, auf Latentes in der Kultur. 6 Vgl. dazu Marianne Leuzinger-Bohleber, »Transvestitische Symptombildung. Klinischer Beitrag zur Ätiologie, Psychodynamik und Analysierbarkeit transvestitischer Patienten«, in: Psyche, 38 (1984), S. 817-847; demnächst englisch in: Peter Fonagy u. a. (Hg.), Gender, identity and sexuality. 100 years after Freud’s three theses on sexuality, London. 7 »Les choses donnent prise, elles n’offrent pas de visage. Ce sont des êtres sans visage«. Emmanuel Lévinas, Difficile Liberté (1963), Paris 1976, S. 20. 8 Ausst.-Kat. Stockholm 2001 (wie Anm. 4), S. 23. 9 Vgl. Heinz Kohut, Narzißmus, Frankfurt a. M. 1973; Otto F. Kernberg, »Zur Behandlung narzisstischer Persönlichkeitsstörungen«, in: Psyche, 29 (1975), S. 890-905.

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Gestaltet Botero in Melancolía analoge individuelle und kollektive Phantasien und Konflikte? Erkennen wir unbewusst hinter der spielerisch bunt gestalteten Oberfläche seiner Bilder die Not gescheiterter (sexueller) Identitätsbildungen, Beziehungslosigkeit, traumatischen Objektverlust, Einsamkeit und Leere? Boteros Bild Famiglia (Abb. 2) könnte darüber Aufschluss geben. Seine Darstellung wirkt wie eine Parabel: die Mutter stillt mit deanimiertem und depressivem Gesicht ihren Säugling. Der adipöse Vater liest beziehungslos seine Zeitung. Der größere Junge streichelt Mutter und Säugling. Die negativen Gefühle der Geschwisterrivalität werden verleugnet und mit ihnen Emotionen überhaupt: ein starres, stereotypes Ausdrucksverhalten ist eine mögliche Folge.

■ 2.2 Die Leere und das Trauma – Wiederkehr des Gleichen:

Schablone als Identitätsersatz? Emotionale Erstarrung bzw. ein »numbing« jeglicher Gefühle, Derealisierung und Einkapselung sowie ein Einfrieren von Bewegung und Entwicklung, ein roboterähnliches, freudloses »Überleben auf Sparflamme« sind bekannte Reaktionen auf extreme Traumatisierungen, die ursprünglich vor allem bei Überlebenden der Shoah und ihren Familien beschrieben wurden. Durch das Trauma, eine plötzliche, nicht vorausgesehene, extreme Erfahrung, meist verbunden mit Lebensbedrohung und Todesangst, wird der natürliche Reizschutz durchbrochen. Das Ich ist einem Gefühl extremer Ohnmacht und seiner Unfähigkeit ausgesetzt, die Situation kontrollieren oder bewältigen zu wollen. Es wird mit Panik und extremen physiologischen Reaktionen überflutet. Diese Erfahrung führt zu einem psychischen und physiologischen Schockzustand. Die traumatische Erfahrung zerstört zudem das empathische Schutzschild, das das verinnerlichte Primärobjekt bildet und destruiert das Vertrauen auf die kontinuierliche Präsenz guter Objekte und die Erwartbarkeit menschlicher Empathie. Im Trauma verstummt das innere gute Objekt als empathischer Vermittler zwischen Selbst und Umwelt.10 Laub, Peskin und Auerhahn (1995) sprechen von einem »schwarzen Loch«: die extreme Traumatisierung wirkt unerkannt als verschlingendes Energiezentrum, das nicht nur das psychische Erleben der ersten, sondern auch der zweiten und dritten Generation von Holocaust-Überlebenden determiniert. Abraham und Maria Torok (1978) beschrieben ähnliche Phänomene mit dem Begriff der

10 Vgl. Werner Bohleber, »Die Entwicklung der Traumatheorie in der Psychoanalyse«, in: Psyche, 54 (2000), S. 797-839; Helmut Dahmer, »Derealisierung und Wiederholung«, in: Psyche, 44 (1990), S. 133-144 und William G. Niederland, Folgen der Verfolgung: Das Überlebenden-Syndrom Seelenmord, Frankfurt a. M. 1980.

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Abbildung 2: Fernando Botero, Eine Familie (Una familia), Öl auf Leinwand, 183 x 146 cm, 2000, Besitz des Künstlers

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»inclusion«, der Einschließung oder der Krypta.11 Der traumatische Verlust wird in eine innere Gruft verbannt, statt betrauert zu werden und entfaltet von dort aus konstant und unerkannt seine Wirkung. Das Trauma zerstört zudem die idiosynkratischen Unterschiede, die persönliche Unverwechselbarkeit der Individuen. Die vortraumatischen Persönlichkeiten spielen kaum noch eine Rolle: Alle werden zu uniformen Opfern von Gewalt und Zerstörung. In Boteros Bildern begegnen wir vielen dieser Merkmale wieder: die roboterähnlichen, schablonenhaften Figuren wirken wie in einem Schockzustand erstarrt, in sich eingeschlossen – leer und verflüchtigt in Adipositas und dekorativer Hülle. Die Generationen sind teleskopisch ineinander geschoben und teilen das gleiche traumatische Schicksal.12 Die individuellen Unterschiede sind eingeebnet und einer schablonenhaften Gleichheit gewichen. Verbirgt die bunte, lebensfrohe Fassade die unheimliche, kaum fassbare Wirkung des Traumas? Wie kommt die Wahrnehmung des Unheimlichen zustande? Dazu folgen nun kontrastierend einige kulturgeschichtliche (3) und theoretische (4, 5) Überlegungen.

■ 3. Was ist unheimlich? In Grimms Wörterbuch steht »unheimlich« (das von »heimlich« abgeleitet ist) für »nicht vertraut, fremd, entfremdet, unfreundlich etc.« Erst seit dem Ende des 18. Jahrhunderts wird es in bezug auf das Gefühlsleben verwandt und erhält u. a. die Bedeutungen »schrecklich, grauenvoll, schauder, angst.« Für Sigmund Freud gehört das »Unheimliche« in seinem gleichnamigen Aufsatz (1919) ebenfalls zum »Schreckhaften, Angst- und Grauenerregen.« Dabei ist das Unheimliche jene Art des Schreckhaften, »welche auf das Altbekannte, längst Vertraute zurückgeht.«13 Doch wie kann das Vertraute unheimlich und schreckhaft werden? Freud beginnt mit einer etymologischen Klärung des Wortes und verweist bei 11 »Alle Worte, die nicht gesagt werden konnten, alle Szenen, die nicht erinnert werden konnten, alle Tränen, die nicht vergossen werden konnten, werden gleichzeitig mit dem Trauma, das den Verlust hervorrief, verschluckt. Werden verschlungen und konserviert. Die unaussprechliche Trauer errichtet im Inneren des Betreffenden eine geheime Gruft«. Nicolas Abraham u. Maria Torok, Kryptonymie. Das Verbarium des Wolfsmannes, Berlin, Wien 1978, S. 391. 12 Haydée Faimberg, »Das Ineinanderrücken der Generationen. Zur Genealogie gewisser Identifizierungen«, in: Jahrbuch der Psychoanalyse, 28 (1987), S. 114-143. Jean Cournut, »Ein Rest, der verbindet. Das unbewußte Schuldgefühl, das Entlehnte betreffend«, in: Jahrbuch der Psychoanalyse, 29 (1988), S. 67-99. Marianne Leuzinger-Bohleber, »Transgenerative Weitergabe von Traumatisierungen. Einige Beobachtungen aus einer repräsentativen Katamnesestudie«, in: dies. u. Ralf Zwiebel (Hg): Trauma, Konflikt und Beziehung, Tübingen 2003, S. 81-107. 13 Freud 1919h, G.W. XII, S. 229.

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seiner Begriffsklärung zum Unheimlichen auch auf Friedrich Schelling: »Un-h. nennt man Alles, was im Geheimnis, im Verborgenen… bleiben sollte und hervorgetreten ist.«14 Das Besondere an Schellings Definition ist, dass das Geheime, Vertrauliche und dem gleichen Hause Angehörige zum Unheimlichen wird. Was »heimelig oder heimatlich«, was frei von Furcht war, der vertraute Ort, schlägt um in sein Gegenteil – das Versteckte, Verborgene tritt hervor und entfaltet unheimliche Wirkungen, so dass der vertraute Bereich zum gespensterhaften, fremden Ort wird. Schließlich kommt Freud zu der Schlussfolgerung: »Also heimlich ist ein Wort, das seine Bedeutung nach einer Ambivalenz hinzu entwickelt, bis es endlich mit seinem Gegensatz unheimlich zusammenfällt. Unheimlich ist irgendwie eine Art von heimlich.«15 Was unheimlich ist, wäre also das, was vertraut gewesen ist. Denn das Unheimliche ist wirklich nicht etwas Neues oder Fremdes, sondern etwas dem Seelenleben des Subjekts von alters her Vertrautes. In der Literatur nun wird diesem Unheimlichen im Heimlichen ein erschreckendes Gesicht verliehen. Unheimlich sind dann Phänomene wie die Puppe Olimpia in E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann (1815) oder die Figur des Doppelgängers. Unheimlich ist aber auch die Erzählweise selbst, wenn sie ihren logischen Standort verlässt und den Leser in einen verrückten Taumel zieht, wobei unentscheidbar bleibt, ob der Protagonist wahnsinnig ist oder nicht.16 Auch Freud verweist darauf, dass es die Erzählweise selbst ist, nämlich dass »der Dichter uns selbst durch die Brille oder das Perspektiv des dämonischen Optikers schauen lassen will«,17 die dafür sorgt, dass dem Unheimlichen ein ungehemmter Taumel, ein sich bis zum Wahnsinn steigerndes Schwindelgefühl eigen ist. Es ist also nicht nur das Motiv der belebt erscheinenden Puppe Olimpia, das eine unheimliche Wirkung entfaltet, sondern es ist die Erzählinstanz selbst, die den unheimlichen Effekt hervorbringt. Unheimlich wäre dann die Schrift und die Zeichenpraxis selbst. Freud hat zwar den Zusammenhang von Literatur und Unheimlichem gesehen, denn das Hauptmotiv des Unheimlichen gleicht der Beschreibung der Kunst, den Kern des Unheimlichen verortet er jedoch in der neurotischen Kastrationsangst und bringt ihn in Zusammenhang mit seiner Vorstellung des Ödipuskomplexes. Sowohl Sigmund Freud als auch Jacques Lacan verstehen das Unheimliche als eine Bedrohung der vernünftigen Sprache, als eine Angst um die Symbolisierungsleistung, was das Unheimliche nicht nur in die unmittelbare Nachbarschaft einer Bedrohung durch die Psychose, sondern auch von Derealisierungserfahrungen nach Extremtraumatisierungen stellt (vgl. 2.). 14 15 16 17

Ebd., S. 235. Ebd., S. 237. Vgl. den Protagonisten Nathanael in E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann. Freud 1919h, G.W. XII, S. 242.

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Während bei Freud die Trennung von der Mutter mit Angst verbunden ist, findet sich ein grundsätzlicher Unterschied bei Jacques Lacan, der gerade das Fehlen der Trennung als Grund für Angst postuliert. Neben Freuds bekanntem und viel zitiertem Aufsatz hat auch Jacques Lacan in seinem Seminar X Die Angst (1962/63) auf den Begriff des Unheimlichen rekurriert. Für ihn ist das Unheimliche etwas, das die Angst konstituiert. Für Lacan wird Angst im Register des Realen verortet. Er kontrastiert sie mit der Schuld, die er dem Symbolischen zuordnet. Angst ist demnach ein Affekt, der auf ein Objekt zielt, das jedoch nicht symbolisiert werden kann wie andere Objekte sonst. Angst erscheint, wenn etwas Spezifisches am Ort des Objekts a auftaucht. In Lacans Terminologie ist das Begehren ohne Mangel nicht denkbar, so dass gerade das Fehlen die Dynamik des Begehrens hervortreibt. Die Angst nun aber beschreibt den Mangel am Mangel, womit gemeint ist, dass an der Position des Objekts a, welches das Begehren in Szene setzt, etwas ist, das auf das Objekt einstürzt und es zu vernichten scheint. Entsprechend verknüpfen sich Vorstellungen von der Fragmentierung des Körpers (Lacans Das Spiegelstadium) sowie das Phänomen des Doppelgängers und das der Blendung mit dieser Symptomatik. »Der Mensch findet sein Heim in einem Punkt, der im Anderen gelegen ist, jenseits des Bildes, aus dem wir gemacht sind, und dieser Platz repräsentiert die Abwesenheit, in der wir sind.«18 Nach Lacans Definition stürzt das Unheimliche von Außen auf das Subjekt ein. Seien es die Augen, die der Optiker Coppelius Nathanael entgegenwirft; seien es der Doppelgänger oder ein Gespenst; sie alle springen dem Subjekt entgegen. Denn dass es nichts zu kompensieren oder zu sublimieren gibt, dass es der Mangel ist, der hier mit dem unheimlichen Gespenst zusammenfällt, ist genau der Horror, um den es im Unheimlichen geht. In jenem Moment, in welchem das Objekt sich nicht mehr entzieht oder verschleiert und geheimnisvoll ist, da es auf den Mangel verweist, sondern offen daliegt, kann es seine katastrophale Wirkung entfalten. Insofern kann man sagen, dass das Unheimliche jenen Teil des Unbehagens repräsentiert, der das Ich, über die Angst hinaus, zur Depersonalisation führt. Überhaupt scheint unser ganzes Aufmerksamkeitsideal zur Disposition zu stehen.

■ 4. Das Bild als Unheimliches Was zeigen Fernando Boteros Bilder? Auf den ersten Blick erscheinen sie heiter. Die folkloristischen Anteile sowie der Traditionsbezug zu den Naiven Malern, ebenso die kräftigen Farben, erinnern an die Buntheit und Fröhlichkeit einer exotischen, da südamerikanischen Welt. Bei genauerem Hinsehen wird der Be18 Jacques Lacan, Die Angst. Seminar X, 1962/63, dt. Übersetzung, Manuskriptfassung.

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trachter mit einem anderen Phänomen konfrontiert. Unter der Oberfläche dieser scheinbar heiteren Welt verbergen sich ein Travestie-Problem und ein Schrecken. Dabei entsteht das unheimliche Phänomen bei der Betrachtung der Bilder letztlich aus einer Kippfigur, die darin besteht, danach zu fragen, was hier eigentlich travestiert und wie es in Szene gesetzt wird. Heinrich von Kleist hat diese Bewegung einmal für Caspar David Friedrichs Mönch am Meer beschrieben, wenn er seine Empfindungen vor Friedrichs Gemälde, welches für ihn der Inbegriff romantischer Sehnsucht ist, wie folgt fasst: »Dies aber ist vor dem Bilde unmöglich, und das, was ich in dem Bild selbst finden sollte, fand ich erst zwischen mir und dem Bilde, nämlich einen Anspruch, den mein Herz an das Bild machte, und einen Abbruch, den mir das Bild tat; und so ward ich selbst der Kapuziner, das Bild ward die Düne, das aber, wo hinaus ich mit Sehnsucht blicken sollte, die See, fehlte ganz. Nichts kann trauriger und unbehaglicher sein, als diese Stellung in der Welt: der einzige Lebensfunke im weiten Reiche des Todes, der einsame Mittelpunkt im einsamen Kreis. Das Bild liegt, mit seinen zwei oder drei geheimnisvollen Gegenständen, wie die Apokalypse dar, als ob es Youngs Nachtgedanken hätte, und da es, in seiner Einförmigkeit und Uferlosigkeit, nichts, als den Rahm, zum Vordergrund hat, so ist es, wenn man es betrachtet, als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären.«19

Und so wie Kleist beschreibt, dass das Meer nicht mehr nur für die Weite einsteht und das Bild nicht nur die Einsamkeit des Mönchs vor der Unendlichkeit des Meeres dokumentiert, wird deutlich, dass hier plötzlich eine weitere Dimension des Bildes ins Spiel kommt, denn das Meer verwandelt sich in einen Abgrund. Es ist der Terror, der aus Caspar David Friedrichs Seelandschaft einem entgegenspringt und im krassen Verhältnis zu Überlegungen steht, inwieweit Caspar David Friedrich in diesem Bild pantheistische Gedanken zum Ausdruck gebracht hat. Vielmehr gerät die Gemäldebetrachtung zu einem psychisch traumatisierenden Effekt. Kleist zwingt den Betrachter zum Schauen, er reißt ihm die Augen auf und setzt ihn der Angst aus. Versöhnung bietet dabei lediglich die Orientierung an anderen Betrachtern, deren Aufmerksamkeit weniger vom Sog des Bildes, als von der Umgebung der Gemäldegalerie selbst bestimmt ist: »Ja, wenn man diese Landschaft mit ihrer eignen Kreide und mit ihrem eigenen Wasser malte; so, glaube ich, man könnte die Füchse und Wölfe damit zum Heulen bringen: Das Stärkste, was man, ohne allen Zweifel, zum Lobe für diese Art von Landschaftsmalerei beibringen kann – doch meine eigenen Empfindungen, über dies wunderbare Gemälde, sind zu verworren; daher habe ich mir, eh ich sie ganz auszusprechen wage, vorgenommen, mich durch die Äußerungen

19 Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, hg. von Helmut Sembdner, München 2001, S. 327.

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derer, die paarweise, vom Morgen bis Abend, daran vorübergehen, zu belehren.«20 Doch betrachten wir weiter Boteros Bilder: Es sind Personen zu sehen, die in ihrer massigen Körperlichkeit ins Bild gesetzt werden. Diese Personen wirken kindlich und grotesk zugleich. Schon bald kann man aber feststellen, dass etwas mit diesen geradezu aufgeblasenen Figuren nicht stimmt. Dies ist das Verhältnis zum Bildrahmen, genauer zur Quadrierung des Bildes. Denn all die Figuren scheinen die Begrenzungen des Bildes fast zu sprengen, anders herum formuliert, die Proportionen der Personen sind zu groß für den Bildausschnitt. Man wird also konfrontiert mit einer überbordenden, zumeist blassen, geradezu wächsernen Körperlichkeit von Figuren, die einem das Sehen verleiden, indem sie keinen Raum für die Wahrnehmung des Hintergrunds preisgeben, vielmehr drohen sie das Bild selbst zum Platzen zu bringen. Dieses Missverhältnis zwischen Vorder- und Hintergrund wiederholt sich in dem, was wir in den Figuren entdecken. Auf den ersten Blick wirken die Figuren infantil, sie könnten im Kontext einer naiven, kindlichen Welt stehen; auf den zweiten Blick schon verrät die Gestik und Mimik in ihrer Ausdruckslosigkeit eine andere Körperlichkeit und verweist vielleicht eher auf eine organische Qualität, die im Embryonalen (oder im Greisenalter) zu suchen wäre. So kann man den Figuren kaum eine innere und äußere Haltung zuschreiben, selbst die Annahme eines im Körper sich befindlichen Skeletts wirkt obsolet. Vielmehr geht es um eine materielle Qualität des Feisten, wie sie in der gespannten Haut zum Ausdruck kommt. Dieser Wahrnehmungsmodus wuchert und stülpt sich ebenfalls anderen Objekten über. Die Figuren sprengen den Rahmen, so wie sie auch auseinander zu platzen drohen, wenn sich ihre organische Qualität nicht auf ihren Körper begrenzt, sondern auch im Hintergrund (z. B. den Bäumen) zu finden ist. Ja, es scheint, als ob die Vegetation die Körper überwuchert und damit übernimmt. Damit haben die Figuren aber auch Unabgeschlossenes und bezeichnen eine destruierte Individualität, wie sie zum Beispiel auch bei traumatisierten Menschen zu finden sind. Statik, nicht Dynamik, ist hier vorherrschend. Und überhaupt scheint der menschliche Körper von einer grotesken Logik und einer normsprengenden Qualität heimgesucht zu sein, wenn die Gesichter in ihren Fleischmassen hervorquellen und überproportional groß zu den sonstigen klein gehaltenen Gliedmaßen und Organen sind. Die Teile passen einfach nicht zusammen. Auch der farbige Hintergrund kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass in fast jedem Bild ein irritierender grauer Ton aufscheint. Dies sind Zeichen der Monotonie und des Todes, die dem Üppigen und der im Fleisch geronnenen Zeit als Reaktion auf den Tod gegenüberstehen. Wenn Kleist den Betrachtern sagt: »Schaut in das Bild, dann seht ihr den Abgrund!«, entsteht bei der Konfrontation mit Boteros Arbeiten ein ähnliches Phä20 Ebd., S. 328.

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nomen. Für einen Moment sieht man sich selbst – wie in einer Erinnerung –, nur dass es da nichts zu sehen gibt, dass die Bilder einem so wenig erzählen. Das Erlebnis der eigenen Kindheit, einer vergangenen magischen Welt, bleibt stumpf. Das Unheimliche besteht beim Betrachten der Bilder nämlich gerade darin, dass wir in das Unproportionierte eingehen, dass wir gezwungen werden, uns mit dieser organischen Masse zu arrangieren. Und alles, was es sonst noch zu identifizieren gäbe, wird einem systematisch entzogen: sei es der Hintergrund im Sinne eines Kontextes oder einer Landschaft oder aber einer Spiegelung. Entsprechend sind in Boteros Bildern die Handspiegel, mit welchen sich Figuren betrachten, viel zu klein geraten – so als gäbe es für sie keine Möglichkeit, sich ihrer selbst zu vergewissern, wie auf Melancolía. Und so wie die Bilder – ohne Hintergrund – nichts erzählen können, zeigen auch die Spiegel keine Gesichter, die es zu identifizieren gäbe. Die Vorstellungen von Geschichte und Identität werden letztlich aufgelöst, und die Bilder erzeugen bei der Betrachtung eine seltsame Amnesie. Ja, für einen Moment befürchtet man, keine Erinnerungen zu haben. Dieser Effekt entsteht, obgleich Fernando Botero kritisch und bewusst mit der westlich geprägten Kunsttradition umgeht. Denn wie in Melancolía knüpft er nicht nur an Dürer, sondern vordringlich auch an Edouard Manets Dans la serre (Abb. 3) an. Wie Jonathan Crary gezeigt hat, drückt sich in Manets bekanntem Bild eine oft bemerkte psychologische Leere und Distanziertheit aus. Dies zeigt sich in einer wachsbildhaften Leblosigkeit der Frau und in ihrem abwesenden Blick, der einen momentanen Zustand verrät, in dem die normative Wahrnehmung suspendiert ist. Deshalb spricht Crary von Trance und bringt diese Abwesenheit von Sinn oder die Störung des repräsentativen Charakters und der Darstellungsfunktion der Wahrnehmung in Zusammenhang mit der psychologischen Entwicklung Ende des 19. Jahrhunderts, und verweist sowohl auf Janet als auch auf Freuds Hysteriestudien. Entsprechend deutet Crary auch die offensichtlich verformte, also anatomisch nicht korrekt dargestellte Form der linken Hand der Frau. Aber auch die Hand des Mannes, mit dem weisenden Charakter des Fingers, scheint den Tastsinn zu anästhetisieren – wie gelähmt erscheint die gestische Möglichkeit gebündelt in einem zentralen Nicht-Ereignis.21 Man könnte behaupten, dass sich in Manets Bild noch ein Geheimnis bewahrt: Handelt es sich um ein Ehepaar oder etwa um zwei Personen, die einen Ehebruch planen? Wird in dem Gemälde diese Ambivalenz zum Ausdruck gebracht? Wird hier also noch eine Spannung erzeugt, zeigt sich bei Botero eine endgültige »Entleerung«. Die gepanzerte und verdrängende Funktion lassen den Körper des Dargestellten nicht nur erstarren, sondern machen die Betrachtung selbst zu einem uniformen Akt. Man vermutet kein Geheimnis mehr unter der Oberfläche. In diesem Zusammenhang ließe sich insofern von einer paradigma21 Vgl. Jonathan Crary, Aufmerksamkeit, Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt a. M. 2002.

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Abbildung 3: Edouard Manet, Im Wintergarten (Dans la serre), Öl auf Leinwand, 115 x 150 cm, 1878–79, Nationalgalerie, Berlin

tischen Wende sprechen, nämlich von der Symptomatik der Hysterie zur Beschreibung der Depression. Und so wie Manet jene Dissoziation aufdeckt, die an die moderne Wahrnehmung gekoppelt ist, zieht uns Botero in die öde und unheimliche Welt einer Darstellungen, hinter der sich nichts mehr zu verbergen scheint. Denn hier findet keine metaphorische Verschiebung, kein Gleiten (wie noch in Manets Bild: z. B. von den grünen schmalen Blättern zu den Falten des Frauenrocks) mehr statt. Alle Details bleiben isoliert und verweisen darin auf eine grenzenlose Einsamkeit. Botero verstärkt also die Affirmation der Leere, wie sie bei Manet anklang. Vielleicht sollte man in diesem Zusammenhang auch den Umstand betrachten, dass so gut wie in allen Bildern Boteros die Farbe Grau verwandt wird und damit ein verstörendes Gegenelement zu den bunten Farben bietet. Es ist dieser graue Ton, der, wie in Melancolía, darauf verweist, dass es nichts zu sehen gibt. Und so reiht dieses Grau zwischen den Bildern (die graue Wand, der graue Hund, die grauen Bäume, das graue Gitter, das graue Essbesteck, der graue Fuß etc.) etwas auf, das womöglich von der unheimlichen Tristesse einer depressiven Welt erzählt. Aber auch die gesellschaftliche Ohnmacht unter der Signatur der Globalisierung sowie geronnener Gewalterfahrung und die Monotonie eines Lebens, das sich im Kampf um das tägliche Überleben erschöpft, findet sich hier thematisiert.

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Das Unpassende und Unproportionierte – letztlich also nicht Ausbalancierte – in den Bildern wird auch an den Figuren selbst thematisiert. In dem Bild Estudio con el modelo masculino (Abb. 4) werden folgende Missverhältnisse aufgeworfen. Das nackte männliche Modell ist unförmig und die Körpermassen sind falsch proportioniert. Die Hände erinnern vielleicht eher an Tatzen, als dass sie menschlich erscheinen. Auch die Behaarung ist unpassend. So ist neben einer deutlichen Flächenbehaarung auf der Hand wiederum keine Behaarung auf den Oberarmen zu finden, vielmehr erscheinen die Behaarungsflecken als flächiger Pelz. Die Haltung des Sitzens hat weibliche Konnotationen, wobei Hand und Fuß noch einmal skizzenhaft als ein abgeschnittenes Element (rechte Hand und rechter Fuß) wiederholt werden. Auch ist die unpassende, viel zu klein geratene Damenuhr am linken Handgelenk des männlichen Aktmodells deplatziert. Die Geschlechtszugehörigkeit wird dadurch aufgerauht, auf ein gender-crossing wird angespielt. Die beiliegenden Requisiten verweisen auf literarische Vorlagen. Dazu gehören der Helm aus einem anderen Jahrhundert, der an Bilder von Rembrandt erinnert, und der Ofen, auf dem Wasser in einem viel zu kleinen Topf kocht. Auffallend ist auch hier der erstarrte und entleerte Blick des in die Mitte gerückten Aktmodells. Resümierend gesagt: Die hybride Konstruktion der Bilder, das Unpassende, wie es in der Behaarung und der geschlechtlichen Ambivalenz zum Ausdruck kommt, lässt den komischen Effekt erfrieren und verweist auf ein Erschrecken über eine seltsame Derealisation, welche die Figuren aus der Zeit herauskatapultiert, sie in schrecklicher Weise Puppen ähneln lässt, und die Uhr als Symbol der Zeit, die übrigens im Mittelpunkt des Bildes positioniert ist, zu einem seltsamen Rätsel macht. Zeit als verdeckte Chiffre kommt auch in den deutlich politisch konnotierten Bildern Boteros zum Ausdruck wie auf Masacre en Colombia (Abb. 5) Dieses Bild erinnert an Goyas Non se puede mirar (Abb. 6) aus den Desastres de la guerra. Bei Goya handelt es sich um den Augenblick vor der Erschießung von Zivilisten verschiedener Herkunft am Ausgang einer Grotte. In das Bild hinein ragen die Gewehrläufe mit den aufgesteckten Stiletten. Und so wie diese Waffen, welche die Täter nicht mitinszenieren, fliegen auch durch Boteros Bilder Projektile. Auch hier teilen sie die Bildmitte. Botero zeigt aufeinander geworfene Leichen. Sie wurden erschossen, gehängt, geschändet, massakriert. Eine Figur rechts wird gerade erschossen, ihr Hut fliegt durch die Luft. In der Mitte des Bildes ist der Leichenberg. Der Hintergrund wird von zerstörten Häusern gebildet, wobei das Haus in der Mitte am oberen Bildrand in Flammen aufgeht. Irritierend dabei ist nur, dass die Flammen der Zerstörung in ihrer leuchtenden und hellen Farbgebung in gelb und weiß einen fast sakralen Charakter haben. Auffallend an diesem Bild, wie auch an allen anderen Gemälden und Zeichnungen Boteros, ist, dass es für jedes einzelne Bild mehrere Vorlagen gibt, also immer eine Travestie eines anderen Gemäldes vorliegt. Dabei ist evident, dass Botero hierfür fast die gesamte europäische Kulturgeschichte bemüht und die vi-

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Abbildung 4: Fernando Botero, Studie mit männlichem Modell (Estudio con el modelo masculino), Pastell, 170 x 123 cm, 1972, Besitz des Künstlers

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Abbildung 5: Fernando Botero, Massaker in Kolumbien (Masacre en Colombia), Öl auf Leinwand, 129 x 192 cm, 2000, Besitz des Künstlers

Abbildung 6: Francisco de Goya, Man kann es nicht ansehen (No se puede mirar), Die Schrecken des Krieges (Los desastres de la guerra), Blatt 26, Radierung, Kaltnadel, Grabstichel und Polierstahl, 14,5 x 21 cm, 1810–1820

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suellen Ikonen einer europäischen Gemäldetradition einbezieht. Von Giotto übernimmt er Farben, Gesten und die Flächigkeit, von Georges de la Tour übernimmt er die wächsernen Körper, die Augenführung und das Allegorische und Symbolische, von Carravaggio die Haltung der Figuren und viele Requisiten, von Velázquez ganze Gemäldeaussagen und von Leonardo da Vinci die Mona Lisa (Abb. 7) sowie von Albrecht Dürer die Melancholie. Und so wie Balthus dem hageren, kindlichen und verführerischen Körperideal in all seinen Bildern treu bleibt, entwirft Botero unentwegt dicke, aufgeblasene Körper, die in ihrer Porzellanhaftigkeit vor Verletzung, Verfall und Tod schützen sollen. Diese unförmigen Leiber scheinen nichts mehr zu wollen, auch vom Betrachter der Bilder nicht und sind irritierend und unheimlich zugleich.

Abbildung 7: Fernando Botero, Mona Lisa, Öl auf Leinwand, 187 x 166 cm, 1987, Privatbesitz

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■ 5. Travestie von Kultur Was versteht man unter Travestie? Unter Travestie versteht man eine satirische Verspottung einer bedeutungsvollen ästhetischen Vorlage, welche der Parodie ähnelt. Doch im Gegensatz zu dieser geschieht es bei der Travestie durch Beibehaltung des Inhalts und dessen Wiedergabe in einer anderen, unpassenden und lächerlich wirkenden Gestalt, durch die Diskrepanz zwischen Form und Inhalt. Travestie ist sowohl in der bildenden Kunst als auch in der Literatur ein gängiges Stilmerkmal, wirkt jedoch erst bei Kenntnis des Originals. Auffallend nun bei Fernando Botero und seinem Werk ist, dass er nicht einzelne Maler und Kunstepochen nachahmt, sondern sich die Ikonen der europäischen Kulturgeschichte vornimmt. Damit steht aber insgesamt eine Kulturtradition zur Disposition und darüber ein Kulturverständnis, wie es für eine eurozentristische Ausrichtung kennzeichnend ist. Durch Boteros hybride Konstruktionen und synkretistischen Stilmerkmale wird eine marginalisierte Welt, nämlich die südamerikanische, thematisiert und Kunst insgesamt in die globale Struktur unserer Zeit gesetzt. Insofern kann man sagen, dass er sich in seinen Bildern kritisch mit Bildtraditionen beschäftigt, um zu zeigen, wie eine globale Welt in ihrer Gefräßigkeit und ihrem Machbarkeitswahn sämtliche Elemente zu verschlucken droht, und die subtilen Elemente in dehumanisierenden Tendenzen zerstört werden. Insofern sollte man vielleicht sogar davon sprechen, dass Botero die allegorische Kraft der Bilder Dürers oder Georges de La Tours weiterführt, wenn er sie in Travestie übersetzt. Er zeigt in seinen Bildern, wie das bildliche Sujet überschritten wird, wie das Ideal einer Aussage gesprengt wird und darüber der unheimliche Effekt eintritt, dass letztlich nichts mehr repräsentiert werden kann. Keine Tiefendimension entsteht, nur die glatte Oberfläche springt einem entgegen und reißt den Abgrund auf. Der kulturkritische Aspekt von Boteros Bildern liegt also gerade darin, auf den Mangel an Symbolen und auf das Fehlen von gesellschaftlichen Kräften und Energien hinzuweisen. Boteros Kunst und seine Kreation des grotesken Körpers ist immer auch vor dem Hintergrund einer Auseinandersetzung mit der westlichen Kultur zu verstehen. Denn die Karnevalskultur, so wie sie Michail Bachtin verstand, re-inszeniert gerade die Volkskultur, und zeigt, wie diese auf spektakuläre Weise im Karneval (als Fest) eine Umstülpung im Sinne einer Parodie der Hochkultur hervorbringt.22 Das bedeutet, im Spiel der karnevalesken Verkehrung der offiziellen Welt taucht die Ahnung einer anderen Welt auf, in welcher Antihierarchie, Relativität der Werte, Infragestellen der Autoritäten, Offenheit, fröhliche Anarchie, Verspottung aller Dogmen Geltung haben, wo synkretistische Strukturen und eine Vielzahl von Perspektiven zugelassen sind. Nun ist es das Blasphemische, Pa22 Vgl. Michail Bachtin, Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur (1929), Frankfurt a. M. 1985.

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rodistische und das Obszöne, das dem funktionalen normerfüllten Körper gegenübersteht. Letztlich also ist es die travestitische und parodistische Sinngeste, die das Werk Fernando Boteros kennzeichnet und die gebrochene, unbewusste Sehnsucht nach dem un-heimlich Weiblichen, der Seele, verrät. So interpretieren wir Boteros »artistic hedonism, its passsionate defense of the art as an activity that is justified by the pleasure it produces and displays« nicht, wie llosa dies postuliert, als einen Versuch, unser Vertrauen wiederherzustellen und uns zu überzeugen, »that the hunger of beauty is still a legitimate appetite.«23 Vielmehr scheint ein psychoanalytisch geschulter Blick darin die Spuren einer existentiellen Traumabewältigung zu entdecken, die – analog zur transvestitischen Symptombildung – seelische Kreativität beschwört, um passiv Erlittenes in aktiv Gestaltetes umzuwandeln. Die groteske Travestie von Boteros Mona Lisa verweist, so vermuten wir, auf den drohenden, traumatischen Verlust der Seele, wie sie im Lächeln seines berühmten Originals zu sehen ist. Eine Seelenlandschaft, die durch Fernando Boteros Bilder erneut sichtbar und spürbar für den Betrachter wird. Abbildungsnachweis: Abb. 1, 2, 4, 5, in: Ausst.-Kat. Fernando Botero, hg. von David Elliot, Stockholm, Moderna Museet 29. September 2001 bis 13. Januar 2002, Stockholm 2001. Abb. 3 in: Vivien Perutz, Edouard Manet, Ontario 1993. Abb. 6 in: Ausst.-Kat. Francisco de Goya: Radierungen, hg. von Karl-Ludwig Hofmann, Höchst, Jahrhunderthalle 1997, Heidelberg 1996. Abb. 7 in: Ausst.-Kat. Fernando Botero, hg. von Werner Spies, München, Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung 1986, München 1986.

23 Ausst.-Kat. Stockholm 2001(wie Anm. 4), S. 29.

■ Rolf Haubl

Depersonalisierung im Werk von René Magritte

Über einem Kaminsims hängt ein Spiegel: Ein schwarz gekleideter Mann, von dem man nur die Rückansicht sieht, steht davor und blickt hinein. Überraschend zeigt der Spiegel als Spiegelbild aber nicht wie erwartet die Vorderansicht des Mannes, sondern erneut seine Rückansicht. Magritte hat diese Szene gemalt und Reproduktion verboten (Abb. 1) betitelt. Das Bild gehört zu den typischen Irritationen, die der belgische Surrealist in seinem Werk dem Alltagsbewusstsein zu bereiten sucht. Auf mich als Betrachter wirkt das Bild unheimlich. Streng genommen ist aber zunächst einmal nicht das Bild unheimlich, sondern – wenn überhaupt – die Szene, die es darstellt: Unheimlich wäre mir, würde mir im Alltag widerfahren, was dem Mann in der dargestellten Szene widerfährt. Diese Unterscheidung betont auch Sigmund Freud,1 wenn er in seinem Aufsatz über Das Unheimliche zwar nicht für die bildende Kunst, aber doch auch auf sie anwendbar, schreibt, »daß in der Dichtung vieles nicht unheimlich ist, was unheimlich wäre, wenn es sich im Leben ereignete«. Damit verweist er auf eine Distanzierung, die durch fiktionale Darstellungen möglich wird. Was der Betrachter in seinem Alltag als unheimlich erleben würde, verliert für ihn als Betrachter eines Bildes, das eine unheimliche Szene darstellt, an emotionaler Intensität. Vielleicht sogar soweit, dass gar keine unheimliche Wirkung mehr zustande kommt. Zu den Vorteilen einer solchen Distanzierung gehört es, dass sich der Betrachter mit der dargestellten Szene probehandelnd auseinander setzen kann. Weiß er, dass er ein Bild sieht, behält er die Kontrolle über die Situation. Sie erst befähigt ihn zu überlegen, was er wohl erleben würde, wenn die im Bild dargestellte Szene kein Bild, sondern Alltagsrealität wäre. Ein solches Gedankenexperiment hängt von der Einbildungskraft des Betrachters ab: Je mehr er sich die im Bild dargestellte Szene als Alltagsrealität vorstellt, desto mehr löst das Bild dieselben Gefühle aus, weil es als Bild verschwindet. Dass sich der Betrachter dies vorstellt, ist nicht zwangsläufig und wird immer auch durch die Art der bildlichen Darstellung mitbestimmt. Sie kann einer Illusionierung mehr oder weniger entgegen kommen: Da Reproduktion ver1 Die Texte S. Freuds werden zitiert nach: Gesammelte Werke, Frankfurt. a. M. 1960-1987 (G.W., Band in röm. Ziffern) und Gerhard Fichtner, Ingeborg Meyer-Palmedo, Freud-Bibliographie und Werkkonkordanz, Frankfurt a. M. 1989. Freud 1919h, G.W. Bd. XII, S. 264.

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Abbildung 1: René Magritte, Reproduktion verboten (La reproduction interdite), Öl auf

Leinwand, 81 x 65 cm, 1937, Museum Boijmans Van Beuningen, Rotterdam

boten realistisch gemalt ist, lädt das Bild dazu ein. Zudem weist die Komposition dem Betrachter eine Position zu, die ihn hinter den Mann stellt, der auf der dargestellten Szene zu sehen ist. Bezieht er diese Position, steht er mit ihm in einer Reihe und sieht, indem er das Bild betrachtet, gleichzeitig in den dargestellten Spiegel, der den größten Teil der Bildfläche bedeckt, was durch das Format des Bildes unterstützt wird, das mit seinen 79 x 65,5 cm etwa die Größe eines unserer

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üblichen Spiegel hat. Zwar bleiben genug Unterscheidungsmerkmale, die den Betrachter daran hindern, das Bild mit der im Bild dargestellten Szene zu verwechseln, wer dazu bereit ist, kann freilich die Grenze lockern, die Realitätswahrnehmung und Phantasie trennt. Welchen Realitätsstatus hat nun aber die im Bild dargestellte Szene? Neben der bereits diskutierten Möglichkeit, dass eine fiktionale Darstellung weniger unheimlich ist, als es die entsprechende Szene im Alltag des Betrachters wäre, nennt Freud2 auch das Gegenteil: »daß in der Dichtung [bzw. bildenden Kunst] viele Möglichkeiten bestehen, unheimliche Wirkungen zu erzielen, die fürs Leben wegfallen«. Somit stellt sich die Frage, ob es die dargestellte Szene vielleicht überhaupt nur als fiktionale Darstellung gibt? Indessen weist Freud3 in seinem Aufsatz darauf hin, dass die Selbstbegegnung in einem Spiegel, wie sie im Alltag gezielt oder beiläufig vorkommt, irritierend, wenn nicht gar unheimlich sein kann. Jeder kennt zumindest das leise Befremden, das an manchen Tagen ein Blick in den Spiegel hervorruft: Bin das wirklich ich, der mich da seitenverkehrt – vom Standpunkt des anderen aus – ansieht? Freilich lassen sich solche Erlebnisse kaum mit dem Grad von Realitätsverkennung in der von Magritte dargestellten Szene vergleichen. Allerdings kommen, wenn auch selten, derart extreme Verkennungen tatsächlich vor, nämlich als Spiegelhalluzinationen und in Spiegelträumen, in denen das eigene Spiegelbild – das Selbst-Bild im Spiegel – schrecklich entstellt oder aber, auch dafür gibt es Belege, überhaupt nicht erscheint. In meiner Sammlung solcher Träume und Halluzinationen4 bin ich bislang zwar nie genau auf die von Magritte dargestellte Szene gestoßen, sie findet darin aber ohne weiteres ihren Platz. Folgt man klinischen Erfahrungen, so sind Selbstverkennungen im Spiegel meist der sinnlich-symbolische Ausdruck einer drohenden oder bereits erfolgten Depersonalisierung, wie sie bei Identitätsstörungen aufgrund unbewältigter lebensgeschichtlicher Konflikte und Traumata auftreten. Die eigene Depersonalisierung zu erleben, ist unheimlich. Sie sich nur vorzustellen, zwar weniger, aber doch auch. Im Sinne von Freuds Begriff nimmt Angst die spezifische Qualität des Unheimlichen an, wenn eine der folgenden Bedingungen erfüllt ist: »wenn überwundene primitive Überzeugungen wieder bestätigt scheinen«5, mithin die sinnliche Gewissheit besteht, dass doch wahr sei, was wir Erwachsene als Aberglaube zu verwerfen gelernt haben. Oder »wenn verdrängte infantile Komplexe durch einen Eindruck wieder belebt werden«.6 Denn dann erinnert die Wahrnehmung einer bestimmten Szene unbewusst an ein le2 Ebd. 3 Ebd., S. 262f., Anm. 4 Rolf Haubl, »Unter lauter Spiegelbildern …« Zur Kulturgeschichte des Spiegels, Basel 1991, S. 459ff. 5 Freud 1919h, G.W. XII, S. 263. 6 Ebd.

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bensgeschichtlich frühes Ereignis, das so unerträglich gewesen ist, dass es verdrängt werden musste, um sich anhaltende psychische Schmerzen zu ersparen. Wenn eine solche Szene unheimlich wirkt, dann deshalb, weil die Wahrnehmung eines befremdenden Geschehens überraschend als verfremdete Wahrnehmung eines vertrauten Geschehens erscheint. Plötzlich wird offen-sichtlich, was im Dienste des Selbstschutzes besser verborgen geblieben wäre. Zu behaupten, Magritte habe gemäß diesem theoretisch anspruchsvollen Begriffsverständnis eine unheimliche Szene dargestellt, verlangt, das Offen-sichtlich-werden eines bestimmten überwundenen, wenn nicht gar verdrängten Geschehens nachzuweisen. Wie bewusst Magritte diese Szene gestaltet hat, sei dahingestellt. Für plausibel halte ich die Grundannahme, dass sich bei ihm, wie bei anderen auch, der kreative Prozess als ein ständig veränderndes Gefüge aus bewussten, vorbewussten und unbewussten Erlebnisinhalten entwickelt, in dem ein Künstler gleichzeitig treibende wie getriebene Kraft ist. Dabei können die symbolisierten Erlebnisinhalte über sein individuelles Leben hinaus wirken, wenn sich die Symbole eignen, um ähnlichen Erlebnisinhalten anderer Menschen einen treffenden Ausdruck zu verleihen. In Werken, in denen dies gelingt, werden die Lebensthemen des Künstlers zu einer Sonde, mit der er sich und seinem Publikum die Themen, die in Kunst und Gesellschaft verhandelt werden, auf charakteristische Weise erschließt. Wie ich im folgenden zu belegen versuche, ist Reproduktion verboten nicht das einzige Bild, das eine Depersonalisierung zum Gegenstand hat. Im Gegenteil: Das unheimliche Phänomen der Depersonalisierung gehört, wenn auch oft ironisch gebrochen, zu den zentralen Themen, mit welchen sich Magritte in seinem Werk auseinander setzt. In kunsthistorischer Perspektive ist dieses Werk ein Meilenstein in der Thematisierung der Frage, welchen Realitätsstatus das Bild – das künstlerisch gemalte Tafelbild – hat: in welchem Verhältnis es zu einer »Realität an sich« und deren nicht-bildlichen Repräsentationen steht7. In psychoanalytischer Perspektive, zumal in einer, die einen biographischen Werkzugang wählt, wird daraus die Frage nach der Repräsentation vorbewusster oder gar unbewusster kritischer Ereignisse und Erlebnisse, die Magritte lebensgeschichtlich und zeitgeschichtlich beschäftigen. Wenn manche Kunsthistoriker betonen, dass sich Magrittes Bilder einer narrativen Vereinnahmung verweigern, dann hält die Psychoanalyse mit ihrem Glauben an die integrative, vielleicht sogar kurative Funktion von Geschichte(n) dagegen: Sie (re-)konstruiert Geschichte(n), wohl wissend, dass sie rationalisiert und damit »stets wegführt vom Bild«.8 Ein exklusiver Wahrheitsan-

7 Regine Prange, Der Verrat der Bilder, Freiburg i. B. 2001. 8 Ralph Konersmann, Rene Magritte. Die verbotene Reproduktion. Über die Sichtbarkeit des Denkens, Frankfurt a. M. 1991, S. 62.

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spruch ist deshalb auch nicht angebracht. Er wäre keine interdisziplinäre, sondern eine imperiale Geste.

■ Malen als »befreiende Enthüllung» Reproduktion verboten! Das ist erst einmal der Malerei selbst gesagt: Sie soll nicht abbilden. Mit der Visualisierung des Verbotes liefert Magritte einen Kommentar zur Kunstgeschichte und formuliert auf deren Hintergrund seine eigene, konstruktivistische Position9, mit der er gegen überkommene Traditionen opponiert. Zur Urgeschichte der Malerei gehört jener Passus, in dem Platon10 Sokrates feststellen lässt, dass jeder ein Maler sein kann, nämlich dann, so sagt er seinem Gesprächspartner, »wenn du einen Spiegel nehmen und überall herumtragen wolltest. Schnell wirst du eine Sonne machen und was am Himmel ist, schnell eine Erde, schnell dich selber und die übrigen Lebewesen, und Kunst- und Naturdinge«. Dieser Vergleich mit einem Spiegel findet sich später bei Leonardo da Vinci11 wieder, der in seinem Traktat von der Malerei schreibt, dass »auf der Spiegeloberfläche wahre Malerei« sei, weshalb der Spiegel als »Lehrer der Maler« anerkannt zu werden verdiene. Obgleich beide Spiegel-Vergleiche – aus dem jeweiligen Kontext herausgelöst – dieselbe Position zu vertreten scheinen, besteht zwischen ihnen tatsächlich ein Gegensatz. Während Platon den Spiegel bemüht, um die Malerei zu diskreditieren, geht es Leonardo um die Versinnbildlichung eines neuen Ideals. Im Buch X seines Staates hebt Platon zu einer vernichtenden ontologischen Kritik der Malerei an, um deren Defizit gegenüber der Philosophie – streng genommen: gegenüber Platons eigener, rationalistischer Auffassung von Philosophie – zu erweisen. Zielt diese Philosophie auf die Erkenntnis der Ideen, so begnügt sich die Malerei mit bloßer Nachahmung. Mithin bleibt sie hinter der Wahrheit des Seienden zurück und dies gleich dreifach: erstens vergegenwärtigt sie nicht die Idee des Seienden, sondern nur eine von dessen Erscheinungen; zweitens unternimmt sie dies anders als der Handwerker nicht herstellend, sondern darstellend, mithin zum Schein; drittens ist die Darstellung eine zufällige, da de facto immer nur eine der unzähligen möglichen Ansichten der Erscheinung des Seienden erscheint. Als Schein eines Scheins ist die nachahmende Kunst für Platon aber nicht nur ontologisch defizitär, sondern überdies auch psychologisch fragwürdig, weil sie nicht nur Kinder und Toren, sondern sogar philosophische Köpfe dazu verfüh9 Ralf Schiebler, Die Kunsttheorie René Magrittes, München 1981. 10 Platon, »Der Staat«, in: ders., Werke in acht Bänden, hg. v. Gunther Eigler. Übers. v. Friedrich Schleiermacher, Bd. 4, Darmstadt 1971, S. 571. 11 Leonardo da Vinci, Traktat über die Malerei, hg. v. Marie Herzfeld, Jena 1990, S. 188f.

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ren kann, der Sinnlichkeit und infolgedessen auch den Gefühlen mehr zu trauen als dem vernunftgeleiteten Verstand. Damit aber wird der Weg für eine Schwächung der Realitätsprüfung bereitet, die Menschen zu Opfern derer macht, die sich auf Täuschung verstehen: »Die Maler sind wie jene Gauklertruppe des Höhlengleichnisses, wie jene Artisten, die […] die Menschen unterhalten, indem sie ihnen Schattenbilder vor Augen führen, wobei die Menschen diesen Schatten gebannt zusehen, davon gefesselt sind und den Betrug nicht bemerken. Die Malerei stellt genau diejenige Situation wieder her, die für den Philosophen die Grundsituation der Verkehrung ist, aus der er die Menschen zu befreien sucht. Die Malerei knüpft die Fesseln, die er löst, je wieder neu«.12

Allerdings ist nicht allein der Maler, der nur eine Art künstlichen Traum für Wachende schaffen kann, dafür zur Verantwortung zu ziehen. Verantworten müssen sich ebenfalls die Philosophen, die sich vergleichbarer Mittel bedienen – wie die Sophisten, die Platon beschuldigt, wahres Wissen nur vorzuspiegeln. Von Platon geht eine philosophische Bilderkritik aus, bei der epistemologische Argumente stets mit staatspolitischen Argumenten verknüpft sind. Die Verpflichtung auf Ideen impliziert eine Entsinnlichung, die stets primär den Gebildeten und folglich der herrschenden Klasse zugute kommt, während in dieser Perspektive der entfesselten Sinnlichkeit ein revolutionärer Impuls inhärent ist, der sich nicht mit Ideen begnügen will. Folglich wird es, da sich Bilder – oder allgemeiner: sinnliche Symbole – auf Dauer nicht verbieten lassen, zur gängigen Praxis der herrschenden Klasse, selbst die Sinnlichkeit ihrer Untertanen zu beschäftigen, bevor es andere tun. Epistemologisch hat erst Kant auf die unverzichtbare Funktion sinnlicher Symbole im Erkenntnisprozess aufmerksam gemacht: »Wir mögen unsere Begriffe noch so hoch anlegen, und dabei noch so sehr von der Sinnlichkeit abstrahieren, so hängen ihnen doch noch immer bildliche Vorstellungen an, deren eigentliche Bestimmung es ist, sie, die sonst nicht von der Erfahrung abgeleitet sind, zum Erfahrungsgebrauche tauglich zu machen.«13

Demnach »taugen« Ideen einem Menschen nur dann, wenn es ihm gelingt, ihnen irgendeine Anschauung zu unterlegen, mithin sie sinnlich-symbolisch zu besetzen. Dass diese Besetzung zu einer Fixierung und infolgedessen zu einer Täuschung werden kann, ist für Kant unbestritten. Deshalb plädiert er für einen Erkenntnisprozess, der eine permanente begriffliche Kritik der Anschauung er12 Wolfgang Welsch, »Das Zeichen des Spiegels. Platons philosophische Kritik der Kunst und Leonardo da Vincis künstlerische Überholung der Philosophie«, in: Philosophisches Jahrbuch, 90 (1983), S. 230-245, hier: S. 231. 13 Immanuel Kant, »Was heißt: sich im Denken orientieren?« (1786), in: ders., Werke, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. III, Frankfurt a. M. 1958, S. 267-283, hier: S. 267.

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möglicht, ohne sich aber der Illusion hinzugeben, die Anschauung letztlich aufheben zu können. Was die epistemologische Aufwertung des Bildes anbelangt, nimmt Leonardo einen wichtigen Platz ein, wenn er den Spiegel als Ideal des Malers, mehr noch: des Renaissance-Menschen, exponiert. Allerdings ist sein Programm bei vielen, die sich später auf ihn berufen haben, sehr verkürzt worden. Leonardo hält den Spiegel deshalb für vorbildlich, weil dieser sich der Welt der Erscheinungen vorbehaltlos öffnet. Wie der Spiegel, so soll auch der Maler von sich und seinen tradierten Vorgaben absehen, mithin alles Sichtbare der malerischen Darstellung für wert halten und zwar in der unverwechselbaren Gestalt, in welcher es ihm erscheint. Damit ist nun aber keine passive Wiedergabe des Gesehenen gemeint, sondern ein aktives Zur-Darstellung-bringen, das durchaus auch Vorgestelltes einschließt. In diese Spannung zwischen Bild und Begriff sieht sich Magritte explizit selbst gestellt: »Wir wünschen uns immer, das zu sehen, was von dem, was wir sehen, verborgen wird. Es gibt ein Interesse für das, was verborgen ist und was uns das Sichtbare nicht zeigt. Dieses Interesse kann die Form eines ziemlich intensiven Gefühls annehmen, ich möchte es eine Art Kampf nennen zwischen dem verborgenen Sichtbaren und dem erscheinenden Sichtbaren.«14

Beides zugleich kann nur in einer surrealen Weltsicht in Erscheinung treten, weil sie im Sichtbaren das Unsichtbare zu zeigen versucht. So gesehen vertritt der Spiegel in Reproduktion verboten den Maler selbst, der sich weigert, lediglich ein Abbild zu liefern. Diese Weigerung hat Magritte in einem heute nicht mehr erhaltenen Kurzfilm auf den Punkt gebracht: In diesem Film kommt eine Sequenz von Szenen vor, die die Rückansicht eines Mannes zeigen, der einen Spiegel in der Hand hält, in dem man ein Gemälde sieht: Großaufnahme des Spiegels. Schnitt. Großaufnahme einer Hand mit einem Stein. Langsam öffnen sich die Finger und lassen den Stein fallen. Schnitt. Der fallende Stein zerstört den Spiegel.15 Magritte widersetzt sich der Abbildtradition der Malerei. Programmatisch erklärt er: »Meine Gemälde ähneln Gemälden. Meine Malerei ist ein Denken, das sieht«.16 Diesen Denk-Bildern verlangt er, was sein ganzes Werk leitmotivisch durchzieht, eine »befreiende Enthüllung«17 ab. Im kunsthistorischen Zusammenhang heißt das, Bilder zu machen, die den Betrachter von dem ontologischen Trugschluss befreien, es mit Abbildern zu tun zu haben. 14 15 16 17

René Magritte, Sämtliche Schriften, hg. v. Andre Blavier, Berlin u. a. 1985, S. 497. Ebd., S. 46. Ebd., S. 529. Ebd., S. 304.

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Befreien will Magritte den Betrachter auch von dem Trugschluss, der Künstler müsse ein Original-Genie sein. Die Kunst des Malens, die sich seinem konstruktivistischen Bild-Denken verpflichtet, verlangt dann auch einen Maler, der sich als Konstrukteur und nicht als Artist versteht. Denn dieses Malen »duldet keine Originalität«.18 »Die Originalität gehört zu dieser mittelmäßigen Welt, die man verändern muß«.19 Deshalb hat Magritte auch nichts gegen die technische Reproduktion von (seinen) Bildern einzuwenden. Insofern entbehrt Reproduktion verboten nicht der Ironie. So will der Titel, anders als Schneede20 meint, nicht auf das Problem der Verbreitung »falscher Inhalte« aufmerksam machen. Vielmehr kleidet Magritte damit sein Bild auratisch ein, wohl wissend, dass das auratische Zeitalter längst passé ist: Vorsicht Original! Magritte, der sein Leben lang Sozialist und zeitweise sogar Kommunist gewesen ist, hat diesen Auraverlust als Chance begriffen, »mit den Denkgewohnheiten der Künstler, die Gefangene ihres Talents, der Virtuosität und all der kleinen ästhetischen Besonderheiten«21 sind, zu brechen. Artistische Malerei nimmt er in Verdacht, »die Kunst als ausreichendes Ziel zu betrachten«.22 Insofern bezieht sich das im Titel ausgesprochene Reproduktionsverbot auf die Reproduktion des bürgerlichen Genie-Künstlers mit der unverwechselbaren Malweise. Ihm setzt Magritte seine eigene schablonenhafte Malweise entgegen, die sich sehr gut, weil ohne großen Qualitätsverlust, reproduzieren lässt.23 Letztlich liegt die Ironie darin, dass Magritte gerade dadurch selbst ein Original geworden ist, freilich eines, das sich auf der Höhe seiner Zeit befindet, weil es sich der Kombination von (scheinbaren) Fertigteilen bedient. Es ist die Zeit der sich formierenden Massengesellschaft, in der sich das selbstbewusste Individuum, das von der bürgerlichen Gesellschaft propagiert und vom Genie-Künstler repräsentiert wird, als Phantasma erweist, das sich in einem ständigen kräftezehrenden Kampf um Sichtbarkeit verflüchtigt. Zurückbleibt eine narzisstische Bedürftigkeit, gesehen zu werden, die mit jeder narzisstischen Kränkung, übersehen worden zu sein, zunimmt.

18 19 20 21 22 23

Ebd., S. 428. Ebd., S. 205. Uwe M. Schneede, René Magritte. Leben und Werk, Köln 1973, S. 107. Magritte 1985 (wie Anm. 14), S. 79. Ebd., S. 499. Vgl. Hans Georg Wilkens, »Phantastik und Warenästhetik. Die Bilder René Magrittes in der Werbung«, in: Christian W. Thomson, Malte Fischer (Hg.), Phantastik in Literatur und Kunst, Darmstadt 1980, S. 457-470.

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■ Sehen – Gesehen-werden – Sehen, dass man gesehen wird Reproduktion verboten ist als Porträt des exzentrischen englischen Dichters Edward James gedacht, der, als er es in Auftrag gibt, gerade einen großen Publikumserfolg feiert. Man kann sich vorstellen, dass er diesen Erfolg als narzisstische Gratifikation erlebt haben dürfte und ihn in einem dementsprechend gemalten Selbst-Bild zum Ausdruck gebracht haben wollte. Zumindest wäre das für einen Porträtauftrag keine unübliche Motivation. Das Genre Porträt ist bekanntlich eng mit der Geschichte des abendländischen Individualismus verbunden.24 In der Kunst der Antike und des Mittelalters kommt es nur vereinzelt und dann als Stifterbild vor. Für das ausgehende Mittelalter sind versteckte Porträts belegt: in diesen Fällen stellt ein Maler eine Heiligenfigur in ihrer typischen Ikonographie, aber mit den individuellen Gesichtszügen einer bestimmten historischen Person dar. Die betreffende Person kann ein Herrscher oder wiederum der Stifter des Bildes, schließlich der Maler selbst sein. Diese Maskierung verschwindet in der Renaissance, über die Jacob Burckhardt25 schreibt, es beginne »plötzlich von Persönlichkeiten zu wimmeln; der Bann, welcher auf dem Individualismus gelegen, ist hier völlig gebrochen; schrankenlos spezialisieren sich tausend einzelne Gesichter«, was nicht zuletzt in einer Vielzahl von (Selbst-)Porträts ihren Ausdruck findet. Ein bemerkenswertes Zeugnis für diese Entwicklung liefert das Selbstbild im Konvexspiegel26, das Francesco Mazzola, genannt Parmigianino, hinterlassen hat. Dieses Bild, das auf eine hölzerne Kalotte in der Form eines damals üblichen Barbier-Spiegels gemalt ist, zeigt den Maler, wie er sich in einem solchen Spiegel sieht. Am rechten Bildrand erkennt der Betrachter dann auch das Segment eines scheibenförmigen Gebildes, das ein Stück des benutzten Spiegels sein dürfte, der Licht von einem gegenüberliegenden Fenster erhält, das sich aufgrund der in das Bild übernommenen Abbildeigenschaften der konvexen Spiegelfläche nach oben wölbt. Überhaupt machen die zur Peripherie hin zunehmenden Verzerrungen den eigentümlichen Reiz dieses Selbstporträts aus. Sie kulminieren in der dargestellten Hand des Malers, die dem Betrachter unnatürlich groß und nahe erscheint. Diese Verzerrungen symbolisieren eine mittelalterliche Weltsicht, in der es dem Menschen nicht gelingt, sich selbstbewusst zu behaupten. In Parmiganinos Selbstporträt sind sie marginalisiert. Sie können der Person nichts anhaben: »Der Porträtierte wohnt im Zentrum der systematischen Verzerrungen ganz un24 Vgl. Bernd Busch, »Innenansichten des Porträts. Gedanken zur Herstellung des Bildthemas«, in: Gerd Jüttemann u. a. (Hg.), Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland, München 1991, S. 448-477 25 Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien (1860), Berlin 1928, S. 132. 26 Parmigianino, Selbstbildnis im Konvexspiegel, Öl auf einer Holzkugelkalotte von 24,4 cm Durchmesser, 1523/24, Kunsthistorisches Museum, Wien. Abb. in: Jurgis Baltrusaitis, Der Spiegel, Gießen 1986, S. 295.

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berührt«.27 Dieses Zentrum ist das verzerrungsfrei gemalte Gesicht des Porträtierten, das wie von innen strahlt und dadurch zum Signum einer selbstbewussten Individualität wird. Vor dem skizzierten historischen Hintergrund gewinnt der Sachverhalt an Gewicht, dass Magritte den Individualisten James gesichtslos porträtiert. Indem er dies tut, depersonalisiert er ihn. Er stellt ihn als Anonymus dar, was vom Standpunkt des Individualismus aus (mithin unabhängig von der tatsächlichen Reaktion des Dichters) einer narzisstischen Kränkung gleichkommt. Ist das Gesicht Signum des Selbst, so darf man vermuten, dass das gesichtslose Porträt eine Krise des selbstbewussten Individualismus anzeigt, gegen die sich auch Künstler vergeblich stemmen. Magritte nimmt sich von dieser Desillusionierung nicht aus: James ist sein Double, das Porträt ein stellvertretendes Selbstporträt. Dies belegt etwa der Sachverhalt, dass Magritte Porträts gemalt hat, bei denen darüber gestritten wird, ob sie nun ihn selbst oder den Freund darstellen. Aber auch die eindeutigen Selbstporträts von Magritte weisen in diese Richtung. So malt er sich selbst immer wieder als schwarz gekleideten Mann mit Bowler. Dieses Outfit zitiert die Herrenattitüde des Bürgers, die in der Massengesellschaft freilich zur Travestie verkommt. Deshalb zeigt das Ölgemälde Golkonda (Abb. 2) eine Häuserzeile, auf die es Dutzende kleine schwarz gekleidete Männer mit Bowlern und Aktentaschen unter dem Arm herabregnet, die sich wie Regentropfen gleichen. Und auf dem Ölgemälde Der Monat der Weinlese28 sieht der Betrachter vom Inneren eines leeren Zimmers aus durch ein nach innen geöffnetes Fenster, vor dem die Bowler-Männer in lückenlosem Schulterschluss zusammenstehen. Kein Zweifel: Das Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit, das Walter Benjamin29 in seinem berühmten Aufsatz beschrieben hat, verändert nicht nur die Kunst, sondern dringt auch zur Innenwelt des modernen Menschen vor. Eine der ironischen Pointen beider Bilder ergibt sich daraus, dass Magritte die Vervielfältigung des schwarz gekleideten Mannes mit Bowler nicht per technische Reproduktion, sondern per Hand vornimmt, die den Pinsel mit den widerständig-zähen Ölfarben führt. Dadurch kommen Kopien zustande, die nicht identisch sind, sondern kleine, wenn auch fast unmerkliche Besonderheiten aufweisen. Man versteht: Individualität befindet sich in der Massengesellschaft auf dem Rückzug. Noch ist sie nicht ganz verschwunden. Aber es bedarf eines zwei-

27 Gottfried Boehm, »Die opake Tiefe des Inneren. Anmerkungen zur Interpretation der frühen Selbstporträts«, in: Manfred Wundram (Hg.), Studien zu Renaissance und Barock, Frankfurt a. M., New York 1986, S. 21-33, hier: S. 31f. 28 René Magritte, Der Monat der Weinlese (Le mois des vendanges), 1959, Öl auf Leinwand, 130 x 160 cm, Privatsammlung, Paris. Abb. in: Jacques Meuris, René Magritte. Köln 1990, S. 106. 29 Walter Benjamin, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« (1936), in: ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Bd. I.2, Frankfurt a. M. 1974, S. 431-469.

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Abbildung 2: René Magritte, Golkonda (Golconde), Öl auf Leinwand, 80,7 x 100,6 cm,

1953, The Menil Collection, Houston

ten Blicks, der sich gegen das bloß kategorisierende Wiedererkennen sträubt, um sie wahrzunehmen. Nun kann man in der Massengesellschaft die Anonymität hinnehmen oder gegen sie ankämpfen. Wer diesen Kampf aufnimmt, versucht, aus der Masse herauszuragen, um gesehen zu werden. Das aber ist ein ambivalentes Bestreben. Dem Wunsch, etwas von sich zu zeigen, das andere aufmerksam macht oder gar beeindruckt, steht die Angst entgegen, dass sie etwas zu sehen bekommen, das man vor ihnen verbergen möchte. Auch dazu liefert Magritte einen Kommentar. Und zwar mit einem weiteren Porträt von James: Dieses Mal ist der exzentrische Individualist in Vorderansicht dargestellt. Aufrecht sitzt er im Dunkeln an einem Holztisch. Sein linker Arm ruht auf der Stuhllehne, sein rechter auf der Tischplatte, wobei die Hand besonders auffällt, da sie den Untergrund nur mit den Fingerspitzen berührt. Daneben liegt ein verwitterter Stein. Die dargestellte Haltung drückt so etwas wie kontemplative Erwartung aus. Den Aufmerksamkeitsfokus des Porträts aber bildet das Gesicht, genau genommen: die strahlende Lichtscheibe, die Magritte statt dessen zeigt. Er verweigert dem Betrachter somit wiederum den Blick in das Gesicht des Porträtierten. Zur Interpretation kann man auf Magrittes eigene, die 3. Person bemühenden Worte zurückgreifen, wenn

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er im Zusammenhang mit einem seiner motivisch verwandten Bilder ausführt: »Die Wahrheit (die zu definieren kein Philosoph je imstande war) ist unbekannt. Wir sehen ihr Gesicht nicht. Das Gesicht der von Magritte gemalten Person sehen wir auch nicht; sie ist wie die Wahrheit.«30 Da wir gerne glauben, die »Wahrheit« eines Menschen – seine »wahren« Gefühle und Absichten – auf seinem Gesicht ablesen zu können, enttäuscht uns Magritte, indem er die mimischen Anhaltspunkte für überhaupt alle Wahrnehmungssignale auslöscht. Dass diese Löschung durch die Darstellung einer strahlenden Lichtscheibe statt des Gesichts erfolgt, mag dabei als eine wörtlich zu nehmende Anspielung auf eine blendende und deshalb der Wahrnehmung der »Wahrheit« eines Menschen abträgliche Erscheinung aufgefasst werden, wie sie zu den tradierten Konventionen der Porträtkunst gehört und allen öffentlichen Personen abverlangt wird. Der Titel des Bildes ist: Das Lustprinzip (Abb. 3). Worin besteht der Zusammenhang zwischen Lustprinzip und Gesicht? Indem das Lustprinzip den Körper eines Menschen ergreift, verändert es auch dessen Gesicht: Die Gesichtszüge geraten außer Kontrolle. Auf diese Weise werden auch geheime Regungen unfreiwillig enthüllt und der Sanktionierung zugänglich. Sie unterstehen deshalb gewöhnlich einer strengen mimischen Ausdruckshemmung, durch die Affekte, freilich vor allem die, die das herrschende Realitätsprinzip subvertieren könnten, verhüllt bleiben. Das dem Lustprinzip unterworfene Gesicht enthüllt aber nicht nur die affektive »Wahrheit« des betreffenden Menschen, es erlaubt zudem, das, was enthüllt worden ist, einer identifizierbaren Person individuell zuzurechnen und diese dadurch zur Verantwortung zu ziehen. Kein Gesicht zu haben, was einschließt: ein Allerweltsgesicht zu machen, das sich der Identifizierung entzieht, sorgt dafür, dass das Verantwortungsgefühl diffus wird. Anonymität ist somit ein Zustand sozialer Depersonalisierung, der eine Schwächung des herrschenden Realitätsprinzips begünstigt. In einer Massengesellschaft wird dieser Zustand generalisiert, weshalb sie massenpsychologisch als besonders hemmungslose Gesellschaft erscheint. Mithin bringt Magritte die Perspektive der Massenpsychologie auf den Punkt, wenn er das Lustprinzip gesichtslos darstellt. Um den Massenmenschen nicht vorschnell moralisch zu diskreditieren, gilt es freilich zu bedenken, dass das herrschende Realitätsprinzip seinen Mangel an Rationalität durch Repression ersetzt. Das individuelle Streben, Hemmungen abzulegen, artikuliert deshalb – wie entstellt auch immer – den berechtigten Anspruch auf eine gesellschaftliche Lebensform, die mit einem Minimum an Fremd- und Selbstzwang auskommt. Anonymität bietet somit auch einen Schutz vor Sanktionen, den man benötigt, um die (Selbst-)Kontrolle lockern zu können. In dieser Schutzfunktion ist sie der Intimität verwandt. Intimität aber zielt 30 Magritte 1985 (wie Anm. 14), S. 379.

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Abbildung 3: René Magritte, Das Lustprinzip (Le principe du plaisir), Öl auf Leinwand,

73 x 54 cm, 1937, Edward James Foundation, Chichester

über den bloßen Schutz hinaus: Wenn es Menschen gelingt, miteinander intim zu sein, eröffnet ihnen das Lustprinzip einen Spiel-Raum für Enthemmungen, die sie sich wechselseitig von Angesicht zu Angesicht, also bei Inanspruchnahme ihrer vollen individuellen Verantwortlichkeit, zugestehen. Da dies prinzipiell ein riskantes Unternehmen ist, verträgt es in der Regel keine Öffentlichkeit.

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Wenn Magritte sein Porträt Das Lustprinzip nennt und das Gesicht von James durch eine strahlende Lichtscheibe ersetzt, dann macht er den exzentrischen Individualisten nicht nur anonym, sondern er schützt damit auch dessen Privatsphäre. Diese Schutzmaßnahme wirkt indessen paradox, da sie die mit der Herstellung des Porträts eingeleitete Veröffentlichung auf halber Strecke unterbricht. Vielleicht ist sie sogar rückgängig gemacht: Immerhin wäre es vorstellbar, dass Magritte das Gesicht erst malt und dann durch eine Übermalung verdeckt. Die paradoxe Wirkung verweist darauf, dass hier ein Konflikt zwischen Enthüllen und Verhüllen dargestellt wird. Bezieht man den Titel des Porträts auf diesen Konflikt, dann handelt er von Exhibitionismus und Voyeurismus: Ist es nicht bereits exhibitionistisch, sich porträtieren zu lassen? Wie möchte man für die Öffentlichkeit dargestellt werden? Mit einem öffentlich wirksamen Gesicht, das einen vorteilhaft erscheinen lässt, oder mit dem Gesicht, das man sonst nur jemandem zeigt, mit dem man intim ist? Der Porträtmaler und in seinem Gefolge alle Porträtisten in den audiovisuellen Medien haben die Macht, den Porträtierten schlecht aussehen zu lassen. Welches Gesicht möchten sie die Öffentlichkeit von ihm sehen lassen? Und welches Gesicht möchte die Öffentlichkeit sehen? Eines, das ihre Schaulust befriedigt, die zwischen der Lust an der Heldenverehrung und der Lust an der Demaskierung zahlreiche voyeuristische Seherwartungen ausbilden kann? Indem Magritte dem Betrachter das Gesicht von Edward James verweigert, macht er im Medium der Malerei auf das Problem der Porträtierung und deren besonderer Verantwortung aufmerksam, wobei er gleichzeitig den Exhibitionismus von James und den Voyeurismus des Betrachters enttäuscht. Freilich erfolgt diese Enttäuschung nur vordergründig. Denn die Ersetzung des Gesichts durch eine strahlende Lichtscheibe verleiht dem Mann am Tisch etwas Numinoses, das Neugier weckt, weil die Verhüllung des Gesichts suggeriert, das es etwas zeigt, was verhüllt werden muss. So schafft es Magritte, indem er einen geheimnisvollen James malt, sowohl dessen Exhibitionismus zu befriedigen als auch dessen Privatsphäre zu schützen. Ebenso ergeht es dem Voyeurismus des Betrachters: Er wird befriedigt, weil das Numinose einen sensationellen Anblick verspricht, der augenblicklich aber nicht sichtbar ist, was dazu verführt, ihn sinnlich zu antizipieren, wodurch der Betrachter auf der strahlenden Lichtscheibe seine eigenen Seherwartungen »gespiegelt« findet. Dass Magritte mit dem voyeuristischen Blick des Betrachters – nach Maßgabe seines eigenen Lustprinzips – spielt, lässt sich auch für Reproduktion verboten plausibel machen. Denn wenn James im Spiegel seine Rückansicht sieht, dann hat er als Spiegelbild die Ansicht seiner selbst vor Augen, die tatsächlich nur der Betrachter sehen kann. Es ist, als wäre sich der gemalte James bewusst, dass er betrachtet wird. Im Bewusstsein der Anwesenheit eines Publikums aber kann keine intime Selbstbegegnung im Spiegel stattfinden. Folglich – so ließe sich die dargestellte Szene dann interpretieren – wagt er es auch nicht, sein »wahres« Ge-

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sicht zu zeigen. Vielmehr wird seine ganze Aufmerksamkeit von dem absorbiert, was hinter seinem Rücken vorgeht. Magritte setzt dieses Bewusstsein, betrachtet zu werden, was nicht zuletzt sein Bewusstsein als Maler ist, dass seine Bilder ein Publikum haben, noch pointierter in Szene: Die Gouache Das Glashaus (Abb. 4) zeigt wiederum die Rückansicht eines schwarz gekleideten Mannes – James oder dieses Mal Magritte selbst? Dieser hat seinen Blick auf den Horizont eines weiten Wasserspiegels gerichtet, der sich hinter einer kleinen Mauer erstreckt. Der Hinterkopf des Mannes aber zeigt in den Haaren eine Öffnung, in der der Betrachter dessen Gesicht sieht. Der dargestellte Blick verliert sich in einer unbestimmten Ferne. Der gesamte Gesichtsausdruck wirkt, als habe der Mann Visionen, die zwischen »innerer« und »äußerer« Wahrnehmung oszillieren.

Abbildung 4: René Magritte, Das Glashaus (La maison de verre), Gouache, 35,5 x 40,5 cm,

1947, Museum Boijmans Van Beuningen, Rotterdam

Betrachtet man einen Menschen in einer solchen psychischen Verfassung, dringt man unweigerlich in seine Privatsphäre ein. Er wird – was der Titel des Gemäldes bewusst macht – zu einem gläsernen Menschen, der sich nicht dagegen wehren kann, dass das Publikum auch gegen seinen Willen Ein-Blick in seine psychische

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Realität nimmt. Magritte zeigt ihn aber nicht völlig wehrlos: Denn das in der Öffnung des Hinterkopfes erscheinende Gesicht signalisiert, dass der Betrachter vielleicht nur einen Augenaufschlag davon entfernt ist, entdeckt zu werden und sich wegen seiner voyeuristischen Verletzung der Privatsphäre verantworten zu müssen, auch wenn ihn der Maler selbst, der sich in diesem Falle als Komplize des Publikums-Voyeurismus anbietet, in diese Lage gebracht hat. In den historischen Kontext der Massengesellschaft gestellt, in der um die knappe Ressource Aufmerksamkeit konkurriert wird, lässt sich das Motiv der »befreienden Enthüllung« als Wunsch verstehen, sich unverstellt zu zeigen. Daran gemessen ist Depersonalisierung ein Zustand, der die Erfüllung dieses Wunsches verhindert. Dies ist allerdings ein ambivalenter Zustand, der mit dem Risiko zu tun hat, gesehen zu werden. Gesehen und mehr noch: identifiziert zu werden, ist deshalb ein Risiko, weil sich letztlich nicht kontrollieren lässt, wie andere einen sehen. Nicht identifizierbar zu sein, hat somit Vorteile. Es kommen keine intimen Beziehungen zustande, für deren Entwicklung man sich persönlich verantwortlich fühlen müsste. Insofern hilft Anonymität, sich vor Enttäuschungen und narzisstischen Kränkungen zu schützen. Allerdings hat dieser Schutz einen hohen Preis: den Verzicht auf die mögliche narzisstische Gratifikation, kein Niemand, sondern ein Jemand zu sein.

■ Das verhüllte Gesicht der Mutter Schließlich stellt sich die Frage, was das Leitmotiv der »befreienden Enthüllung« für Magritte persönlich bedeutet. Oder anders gewendet: Verweisen die zahlreichen Depersonalisierungen, die er dargestellt hat, vielleicht auf eine eigene lebensgeschichtliche Problematik? Magritte selbst hätte diese Frage freilich nicht akzeptiert, da er der Psychoanalyse sehr ablehnend gegenüber stand: »Die Psychoanalyse ist ein sehr intelligentes System. Aber sie ist nur eine Interpretation unter anderen. Sie gibt den dargestellten Dingen, den vom Künstler ausgewählten Gegenständen einen Symbolwert. Ich hingegen glaube, daß eine Wolke in einem Gemälde nicht mehr als eine Wolke ist. Ich glaube nicht an das Unbewußte und auch nicht daran, daß die Welt sich uns als ein Traum darstellt, außer im Schlaf. Ich glaube nicht an den Wachtraum. Ich glaube auch nicht an die Imagination. Sie ist willkürlich, und ich suche nach der Wahrheit, und die Wahrheit ist das Mysterium. Schließlich glaube ich auch nicht an ›Ideen‹. Wenn ich welche hätte, wären meine Bilder symbolisch. Nun, ich versichere, sie sind es nicht.«31

31 Ebd., S. 451.

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Diese »Versicherung« klingt nicht souverän, sondern eher so, als fühle sich Magritte von der Psychoanalyse bedroht: »Die Kunst, wie ich sie auffasse, sträubt sich gegen die Psychoanalyse: Sie evoziert das Mysterium, das man nicht mit einer Art Problem verwechseln darf, so schwierig es sei. Ich achte darauf, nur Bilder zu malen, die das Mysterium der Welt evozieren. Damit das möglich ist, muß ich sehr wach sein, was bedeutet, daß ich aufhöre, mich gänzlich mit Ideen, Gefühlen, Empfindungen zu identifizieren. (Im Gegensatz dazu sind Traum und Wahnsinn einer absoluten Identifikation günstig)«.32

Um die Sorge, die Magritte um seine »Wachheit« hat, verständlich zu machen, muss man sich mit den beiden Konzepten befassen, die er hier verteidigt. Das eine ist das »Mysterium«, das andere die »Freiheit des Denkens«. In dem, was Magritte mit freiem Denken meint, fließen Rationalismus und Lebensphilosophie in der Vorstellung einer existentiellen Freiheit der Sinnstiftung zusammen: »Meine Bilder sind entworfen worden als materielle Zeichen der Freiheit des Denkens […] Das Denken gibt dem Leben einen Wert. Alle Werte sind Gaben des Denkens. Was gibt, ist frei. Das Denken ist wesentlich frei. Es ist Licht. Dennoch manifestiert unser Denken in den gewöhnlichen und außergewöhnlichen Momenten des Lebens nicht seine ganze Freiheit. Es wird unaufhörlich bedroht, betroffen von allem, was uns widerfährt. […] Für das Denken ist der einzige Wert der Sinn, das heißt, das moralische Denken des Unmöglichen. Den Sinn denken bedeutet für das Denken, sich von gewöhnlichen, fast gewöhnlichen oder außergewöhnlichen Ideen zu befreien.«33

Damit widerstrebt Magritte letztlich die Anerkennung des der Psychoanalyse eigenen Determinismus des Unbewussten, da sie ihn an seinem Glauben an die Freiheit des Denkens zweifeln lassen müsste, auch wenn er diese Freiheit nicht als Voluntarismus verstanden wissen will: »Gleichermaßen möchte ich nicht an die Arbeit glauben, die sich ohne mein Wissen im ›Unbewußten‹ vollzöge, wie ich auch nicht an ›den Willen‹ glauben möchte (ich möchte nicht ›ich will‹ glauben oder sagen); ich ziehe den verschiedenen Erklärungen durch das ›Unbewußte‹ meinen Glauben vor, an dem ich festhalte und demzufolge alle unsere Ideen und alle unsere Gefühle unvorhersehbar sind: jeder Augenblick ist eine unvorhersehbare Erscheinung, jeder Augenblick bekundet das absolute Mysterium der Gegenwart«.34

Solche Formulierungen erinnern an die Anschauungskategorie der »Plötzlichkeit«, die seit der Frühromantik die Moderne prägt. Sie ist »das theatralische

32 Ebd., S. 463. 33 Ebd., S. 294, 306f. 34 Ebd., S. 384.

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Jetzt, zu dem Vergangenheit und Zukunft zusammenfließen«.35 Dadurch aber nährt es die Illusion, dem Wiederholungszwang in Geschichte und Lebensgeschichte mit einem Schlag entkommen zu können. Gerade diesen Zwang aber hat die Psychoanalyse den Menschen in ihr historisches Gedächtnis zurückgerufen. Liest man den Text seinem metaphorischen Gehalt nach, dann ruft er eine bestimmte Szene auf. Die etymologische Ableitung führt »Mysterium« auf (gr.-lat.) myein zurück und das heißt: »die Augen schließen«. Nimmt man in diesem Sinne auch den »Augenblick« als »Augen-Blick« und die »unvorhersehbare Erscheinung« als Erscheinung«, die »vorher [früher] nicht zu sehen« ist, dann transportiert Magrittes Sentenz, dass »jeder Augenblick eine unvorhersehbare Erscheinung [ist]« und »das absolute Mysterium der Gegenwart [bekundet]« eine wegweisende latente Bedeutung. Vielleicht so: Jeder (meiner) Blick(e) trifft (bis heute) auf geschlossene Augen! Das Programm einer »befreienden Enthüllung« wäre dann einerseits als Wunsch zu verstehen, diese Erfahrung mangelnder Resonanz im Bild festzuhalten, andererseits als Wunsch, Resonanz zu erhalten, indem sich die »geschlossenen Augen« öffnen und den Blick erwidern mögen. Leider sind kaum psychobiographisch brauchbare Zeugnisse aus Magrittes früher Lebensgeschichte bekannt. Mit einer Ausnahme: »1912 will seine Mutter Regina nicht mehr leben. Sie wirft sich in die Sambre«.36 So steht es wie beiläufig in einer – in der 3. Person verfassten – autobiographischen Skizze, die Magritte zu einem Ausstellungskatalog beiträgt. Was er nicht erwähnt, sind die rätselhaften Begleitumstände dieses Selbstmordes. Denn als die Mutter des damals Vierzehnjährigen im Fluss gefunden wird, ist ein Nachtgewand um ihr Gesicht geschlungen. Jahre später malt Magritte ein Ölbild mit dem Titel Der Kern der Geschichte (Abb. 5). Der »Kern« von wessen Geschichte soll dies sein? Der seiner eigenen? Das Bild zeigt eine Frau, die hinter einer Tischplatte steht, auf der eine umgedrehte Tuba und ein Koffer abgestellt sind. Der Kopf der Frau ist durch ein Tuch verhüllt, das dicht an ihrem Gesicht anliegt, so dass sich die Nase abzeichnet. Mit der linken Hand greift sie sich an den Hals, aber offensichtlich nicht, um das Tuch wegzuziehen, sondern um es fester anzudrücken. Die Handhaltung gleicht einem Würgegriff. Die Frau wird ersticken. Ohne einen Laut begibt sie sich auf eine Reise ohne Wiederkehr. Handelt es sich um Magrittes Mutter? Unterstellt man, dass es sich um seine Mutter handelt, werden auch einige andere motivgleiche Bilder bedeutsam: zum Beispiel das Ölgemälde Die Liebenden (Abb. 6). Es zeigt das Brustbild einer Frau, hinter der, seitlich versetzt, ein Mann zu erkennen ist, der mit seinem Gesicht fast das Gesicht der Frau berührt. Jeder 35 Karl Heinz Bohrer, Der Lauf des Freitag. Die lädierte Utopie und die Dichter, München 1973, S. 45 und ders., Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt a. M. 1998. 36 Magritte 1985 (wie Anm. 14), S. 297.

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Abbildung 5: René Magritte, Der Kern der Geschichte (L’histoire centrale), Öl auf Leinwand,

116 x 81 cm, 1927, Privatsammlung, Brüssel

der Köpfe ist mit einem Tuch verhüllt. Aus dem gleichen Jahr stammt ein Ölgemälde, das denselben Titel trägt (Abb. 7) und der Szene eine größere Intimität verleiht: Ist das verhüllte Paar im ersten Fall in einer Gartenlandschaft platziert, so im zweiten in einem Innenraum, wo aus der Zu-Neigung die Andeutung eines Kusses wird. Diese und ähnliche Bilder stellen womöglich Schlüsselszenen dar, die Magrittes Anspruch an Kunst, »befreiende Enthüllung« zu sein, auch einen lebensgeschichtlichen Sinn verleiht. Wie wird der Vierzehnjährige den Selbstmord seiner Mutter erlebt haben? Reproduziert er nicht in der immer wiederkehrenden Gesichtslosigkeit der depersonalisierten Figuren auf seinen Bildern das Trauma, das Gesicht der Mutter plötzlich und auf unerklärliche Weise zu verlieren? Dabei fragt sich, ob er es erst in der Pubertät und nicht vielleicht bereits früher verloren hat. Zur Begründung dieser Vermutung lässt sich ein subtiler indirekter Hinweis anführen: In der Selbstbegegnung im Spiegel, die das Bild Reproduktion verboten darstellt, liegt auf dem Kaminsims ein Buch, dessen Beschriftung erwartungsgemäß gespiegelt ist. Es sind Die Abenteuer des Arthur Gordon Pym. Das

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Abbildung 6: René Magritte, Die Liebenden II (Les amants II), Öl auf Leinwand,

54 x 73 cm, 1928, Australian National Gallery, Canberra

Abbildung 7: René Magritte, Die Liebenden (Les amants), Öl auf Leinwand, 54 x 73 cm, 1928, Richard S. Zeisler, New York

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Buch erzählt die Geschichte einer phantastischen Seefahrt, die Edgar Allan Poe, der zu Magrittes erklärten Lieblingsschriftstellern gehört, geschrieben hat. Manifest geht es um eine Entdeckungsreise zum Südpol, die sich in ihrer latenten Bedeutung aber als Reise zur Entdeckung des eigenen Selbst lesen lässt. Sie gipfelt darin, dass Pym erkennt, ein »Melancholiker«37 zu sein. Diese Erkenntnis von Pym, der als literarische Personifikation Poes verstanden werden darf, führt – Marie Bonaparte38 arbeitet dies in ihrer psychoanalytischen Interpretation der Erzählung heraus – auf die regressive Spur des verlorenen ersten Objekts (Mutter); hier lauert der (psychische) Tod, falls der Prozess des Trauerns, in dem die Trennung anerkannt wird, misslingt. So ist auch der Tod, den Pym am Südpol erleidet, Chiffre einer gescheiterten Individuation, die entlang der Gleichsetzung von Pym – Poe – Magritte vielleicht auch das lebensgeschichtliche Thema des Malers von Reproduktion verboten ist. Angenommen, dieses wäre so. Dann lässt sich das Bild als entwicklungspsychologische Modellszene deuten, wobei es den Hinweis von Winnicott39 zu beachten gilt, dass »das Gesicht der Mutter der Vorläufer des Spiegels« ist. Die Entwicklung des Selbstbewusstseins wurzelt in der vorsprachlichen Interaktion zwischen Mutter und Kind. Nicht nur Berührungen, sondern vor allem Blicke wirken dabei mit. So ist empirisch belegt, dass frühe Mutter-Kind-Beziehungen dann optimal waren, »wenn die Mutter dem Säugling unbekümmert erlaubte, sie anzusehen, d. h. Augenkontakt gestattete und förderte, insbesondere während sie dem Kind die Brust (oder Flasche) gab«.40 Der bloße Augenkontakt aber macht es nicht. Es kommt auf die emotionale Qualität des mütterlichen Blickes an: »Die Mutter schaut das Kind an, und wie sie schaut, hängt davon ab, was sie erblickt«.41 Kohut spricht von einem »Glanz im Auge der Mutter«42 als notwendiger Entwicklungsbedingung, mithin davon, dass das Kind vor den Augen seiner Mutter besteht: in ihnen Anerkennung findet. Einer klinischen Vignette von Fenichel43 zufolge ist dies buchstäblich zu nehmen: So berichtet er von einem Patienten, »der als kleiner Junge davon überzeugt war, daß im Kopf seiner Mutter Kinder wachsen können, weil er jedesmal, wenn er seiner Mutter genau in die Augen sah, darin das Bild eines Kindes sehen konnte«. Unabhängig davon, wel37 Edgar Allen Poe, »Umständlicher Bericht des Arthur Gordon Pym von Nantucket« (183738), in: ders., Das Gesamtwerk, hg. v. Kuno Schuhmann u. Hans Dieter Müller, Bd. 3, Herrsching 1979, S. 112-400, hier: S. 131f. 38 Marie Bonaparte, Edgar Poe. Eine psychoanalytische Studie (1934), Frankfurt a. M. 1981. 39 Donald W. Winnicott, »Die Spiegelfunktion von Mutter und Familie in der kindlichen Entwicklung«, in: ders., Vom Spiel zur Kreativität, Stuttgart 1985, S. 128-135, hier: S. 128. 40 Margret Mahler u. a., Die psychische Geburt des Menschen. Symbiose und Individuation, Frankfurt a. M. 1978, S. 65. 41 Winnicott 1985 (wie Anm. 39), S. 128. 42 Heinz Kohut, Narzißmus, Frankfurt a. M. 1975, S. 141. 43 Otto Fenichel, »Schaulust und Identifizierung« (1935), in: ders., Aufsätze. Bd. I. Olten 1979, S. 382-408, hier: S. 390.

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che Funktion diese phantasmatische Überzeugung fallspezifisch auch gehabt haben mag, sie belegt die »lebensspendende Macht des Auges der Mutter«.44 Im Umkehrschluss ist damit aber auch gesagt, dass ein glanzloser Blick der Mutter ihrem Kind das Leben nehmen kann. Wenn die Mutter zu einer »Gorgo« wird, versteinert das Kind (und, nebenbei gesagt, Magritte hat etliche Versteinerungen gemalt). Die emotionale Qualität eines Blickes wird nicht zuletzt über den Gesichtsausdruck kommuniziert, den die Mutter macht, wenn sie ihr Kind anblickt. Solange es noch unfähig ist, zwischen sich und ihr genau zu unterscheiden, sieht es in ihrer Mimik sein momentanes Erleben gespiegelt. Eine empathische Mutter gibt deshalb ihrem Säugling Wahrnehmungshilfen, indem sie intuitiv ihren Gesichtsausdruck besonders prägnant gestaltet. Außerdem ahmt sie zunächst einmal spiegelgleich den an ihrem Kind wahrgenommenen Gesichtsausdruck nach und akzentuiert ihn, woraus sich mitunter Sequenzen wechselseitiger Nachahmung ergeben. Allmählich erweitert sie dann diese expressive Synchronizität durch eine expressive Reziprozität, die eine komplementäre Rollenverteilung verlangt und dadurch die Individuation des Kindes fördert.45 Im Unterschied dazu spiegelt das Gesicht einer unempathischen Mutter ihrem Kind nur »ihre eigene Stimmung oder – noch schlimmer – die Starrheit ihrer eigenen Abwehr«.46 Zu dieser Gruppe von Müttern gehören nicht zuletzt depressive Mütter. Bedenkt man mögliche Vorgeschichten, die zu dem Selbstmord von Magrittes Mutter geführt haben, so wuchs vielleicht auch Magritte mit einer Mutter auf, die keine lebensspendenden Blicke für ihren Sohn hatte. Wenn ein Kind nicht umhin kann, sich mit dem Bild zu identifizieren, das es im Gesicht seiner Mutter gespiegelt sieht, wenn sie es ansieht, dann entwickelt sich sein Selbstbewusstsein von einer konstitutiven Entfremdung her, wie sie Lacan47 als »Spiegelstadium« beschreibt. Beim Blick in den Spiegel wird das Kind dann unbewusst erst einmal jenes Bild als Selbstbild vor Augen haben, das es mit den Augen seiner Mutter sieht. Wie lange sich dieses Bild hält, ist eine Frage der korrigierenden Erfahrungen, die es im Verlauf seines weiteren Lebens macht. In dieser Deutungsperspektive stellt Magritte einen erwachsenen Mann vor den Spiegel, der sich nicht erkennt, weil er sich nicht kennt. Sich fremd bleibt. Dieser Mann wäre Magritte selbst.

44 A. Riess, »The mother’s eye. For better and for worse«, in: The Psychoanalytic Study of the Child 33 (1978), S. 381-407, hier: S. 400. 45 Vgl. Susan J. Pawlby, »Interactive interaction«, in: H. Rudolph Schaffer (Hg.), Studies in mother-infant-interaction, London 1977, S. 203-227. 46 Winnicott 1985 (wie Anm. 39), S. 129. 47 Jacques Lacan, »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint« (1949), in: ders., Schriften I, Olten und Freiburg i. B. 1973, S. 61-70.

R. Haubl · Depersonalisierung im Werk von René Magritte

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Die »befreiende Enthüllung«, die er als Ziel seiner »Forschungen«48 zum Programm erhebt, ließe sich somit in lebensgeschichtlicher Hinsicht als Programm verstehen, das erlittene Trauma eines Mangels an lebensspendender Empathie zu bewältigen: Reproduktion verboten. Magritte versucht dies, indem er das Trauma sinnlich-symbolisch reinszeniert. Indem er (Selbst-)Porträts malt, auf welchen die Porträtierten depersonalisiert sind – auf denen er die Porträtierten depersonalisiert hat. Damit gibt er das Unheimliche, das ihn in Bann schlägt, an uns, sein Publikum, weiter. Und wir erleben die dargestellten Szenen als unheimlich, weil sie uns unbewusst an ähnliche existentielle Gefährdungen erinnern. Wie haben wir sie bewältigt? Wie weit sind wir (immer noch) die, als die wir gesehen wurden? Indem es Magritte mit seinen Bildern gelingt, unsere Blicke anzuziehen, überträgt er uns als Publikum die Rolle einer Mutter, die ihre Augen für ihn öffnet. Abbildungsnachweis: Abb. 1, 2, 3, 6 u. 7 in: Ausst.-Kat. René Magritte, hg. von Daniel Abadie, Paris, Galerie Nationale du Jeu de Paume, 11. Februar bis 9. Juni 2003, Stuttgart 2003. Abb. 5 in: Uwe M. Schneede, René Magritte, Köln 1973. Abb. 4 in: Ausst.-Kat. René Magritte, hg. von Gisèle Ollinger-Zinque, Frederik Leen, Brüssel, Koninklijke Musea voor Schone Kunsten van Belgie 1998, Gent 1998.

48 Magritte 1985 (wie Anm. 14), S. 107.

■ Thomas Röske

Das Unheimliche an künstlerischen Werken psychisch Kranker Verdrängtes bei Hans Prinzhorn und seinen Nachfolgern Unlängst wurde in einem Aufsatz über »Anstalts-Kunst« (Asylum Art) das »Vokabular des Exotischen und Sensationellen« moniert, das die amerikanische Tagespresse in den 80er und 90er Jahren bei Besprechungen von Ausstellungen mit Werken psychoseerfahrener Menschen verwendet hat. Die Autorin fühlte sich »an marktschreierische Werber für Nebenvorstellungen« erinnert. Dabei machte sie unter den kritisierenswerten Epitheta neben »gespenstisch«, »erschreckend« und »mysteriös« auch das Eigenschaftswort »unheimlich« (uncanny) aus.1 Dieses Wort begegnet einem allerdings schon in wesentlich älteren Texten über künstlerische Werke von Anstaltsinsassen. Häufig verwendet es der Kunsthistoriker und Psychiater Hans Prinzhorn (1886-1933) in seinem Buch Bildnerei der Geisteskranken, das 1922 erschien und die Diskussion über das Sondergebiet in einer breiteren Öffentlichkeit erst eigentlich begründet hat (Abb. 1).2 Die Studie basiert auf einer Sammlung künstlerischer Werke psychisch kranker Menschen, die er als Assistenzarzt der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg in den Jahren 1919-1921 zusammengetragen hat und die heute als Sammlung Prinzhorn dort der Öffentlichkeit zugänglich ist. Im Unterschied zu früheren Veröffentlichungen, die vor allem diagnostisch orientiert waren, stellt Prinzhorn die ästhetische Originalität vieler Werke von Schizophrenen heraus. Sie resultiere aus der Befreiung unbewusster Schaffenskraft bei den psychisch Kranken: »Sie wissen nicht, was sie tun.«3 Obgleich er von »Bildnerei« spricht und nicht von Kunst, begründet für ihn die Abwesenheit rationaler Kontrolle sogar Überlegenheit gegenüber Werken professioneller zeitgenössischer Künstler, die nach gleichem strebten, aber »fast nur intellektuelle Ersatzkonstruktionen« schüfen.4 Seiner Überzeugung von der Dominanz des Unbewussten entsprechend interessieren Prinzhorn biographische Fakten wenig. Er ist überzeugt, die Werke allein durch Einfühlung erschließen zu können. Und so macht er auch die psychische Krankheit weder an inhaltlichen noch an forma1 Anne E. Bowler, »Asylum art: the social construction of an aesthetic category«, in: Vera L. Zolberg, Joni Maya Cherbo (Hg.), Outsider art. Contesting boundaries in contemporary culture, Cambridge, New York, Melbourne 1997, S. 11-36, hier S. 30. 2 Hans Prinzhorn, Bildnerei der Geisteskranken. Ein Beitrag zur Psychologie und Psychopathologie der Gestaltung, Berlin 1922. 3 Ebd., S. 343. 4 Ebd., S. 348.

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Abbildung 1: Hans Prinzhorn (Porträtfoto), um 1922, Sammlung Prinzhorn, Heidelberg

len Kriterien fest – nur die Anmutung des Unheimlichen bei Betrachtung eines Bildwerks ist ihm Indiz für die Psychose seines Urhebers.5 In der Folge taucht diese Idee nicht nur im Tagesschrifttum auf, sondern etwa auch bei den beiden einflussreichsten neueren Autoren zum Thema, die sich auf das Buch von 1922 berufen: Alfred Bader und Leo Navratil.6 Prinzhorn hat damit also Schule gemacht. Deshalb sollte das Problematisieren bei ihm beginnen: Was war ihm »unheimlich« an den künstlerischen Werken von psychisch kranken Menschen und warum? Im Folgenden wird zunächst der Gebrauch des Wortes in Bildnerei der Geisteskranken untersucht. Anschließend wird er psychologisch beleuchtet – orientiert an dem Aufsatz Das Unheimliche von Sigmund Freud, der 1919 publiziert wurde, 5 Ebd., S. 337ff. 6 Siehe etwa Alfred Bader, Leo Navratil (Hg.), Zwischen Wahn und Wirklichkeit. Kunst – Psychose – Kreativität, Luzern, Frankfurt a. M. 1976, S. 38 und S. 69.

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also in zeitlicher Nähe zu Prinzhorns Buch.7 Wie bei dem Psychoanalytiker soll die Vorsilbe »un« als »Marke der Verdrängung«8 aufgefasst werden: Freud geht davon aus, dass es sich beim Unheimlichen um »etwas wiederkehrendes Verdrängtes« handelt, seiner Einsicht folgend, dass »jeder Affekt einer Gefühlsregung, gleichgültig von welcher Art, durch Verdrängung in Angst verwandelt wird«.9 Deshalb soll es hier um die Frage gehen: Auf welches »Altbekannte, Längstvertraute«10 erlaubt Prinzhorns »beunruhigendes Fremdheitsgefühl«11 rückzuschließen? Sie wird allerdings nicht strikt individualpsychologisch aufgefasst. Prinzhorn wird vielmehr als Exponent einer Haltung gesehen, die in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg gründet und die Einstellung zu sogenannter Outsider Art bis heute bestimmt.

■ Was Prinzhorn unheimlich war Zunächst fällt auf, dass Prinzhorn zwei Arten des »Unheimlichem« an der Anstaltskunst kennt: ein Unheimliches des Gegenstandes und ein Unheimliches der Darstellung. Ersteres sprechen schon frühere Texte zum Thema an. So weist der deutsche Psychiater Fritz Mohr in seinem Aufsatz Zeichnungen von Geisteskranken (1909) auf »eine gewisse Neigung zur Darstellung von ›Unheimlichem‹« bei den Zeichnungen eines seiner Patienten hin und bringt sie mit dessen »Halluzinationen schreckhafter Art« in Zusammenhang (Abb. 2).12 Was er hier mit »Unheimlichem« meint, führt er leider nicht aus. So ist nur zu vermuten, dass er in der abgebildeten originellen Komposition den schwarzen breiten Schweif mit dem Totenschädel im unteren Bilddrittel und das stark angeschnittene Profil am rechten Bildrand als unheimlich interpretiert. Prinzhorn schließt sich Mohr an, wenn er die »Darstellungen angsterregender Gestalten« bei Schizophreniekranken auf »Unheimlichkeitserlebnisse« zurückführt. Hier denkt er an Halluzinationen, wahrscheinlich auch an Erfahrungen in

7 Die Texte S. Freuds werden zitiert nach: Gesammelte Werke, Frankfurt. a. M. 1960-1987 (G.W., Band in röm. Ziffern) und Gerhard Fichtner, Ingeborg Meyer-Palmedo, Freud-Bibliographie und Werkkonkordanz, Frankfurt a. M. 1989. Freud 1919h, G.W. XII, S. 227-268. 8 Ebd., S. 259. 9 Ebd., S. 254. 10 Ebd., S. 231. 11 Prinzhorn 1922 (wie Anm. 2), S. 337. 12 Fritz Mohr, »Zeichnungen von Geisteskranken«, in: Zeitschrift für angewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung, 2 (1909), S. 291-300, hier S. 296 (von MacGregor wird dieses Zitat falsch wiedergegeben und falsch nachgewiesen, s. John M. MacGregor, The discovery of the art of the insane, Princeton 1989, S. 193).

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Abbildung 2: Patientenzeichnung, undatiert (aus: Mohr 1909)

der sogenannten »Wahnstimmung« am Anfang einer Psychose.13 Zugleich sieht er allerdings diese »Unheimlichkeitserlebnisse« nicht als spezifisch für die von 13 Ausführlich beschrieben als »Trema« von Klaus Conrad, Die beginnende Schizophrenie. Versuch einer Gestaltanalyse des Wahns, Stuttgart 21966; zumindest eine Anmutung des Unheimlichen unter ihren Beispielen beziehen auch Bader und Navratil auf die Wahnstimmung, s. Bader, Navratil 1976 (wie Anm. 6), S. 38.

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ihm untersuchten Werke an und weist darauf hin, dass sie sich überall dort fänden, »wo dämonische Vorstellungen lebendig sind«. »Am weitesten« habe es »der asiatische Osten damit getrieben«, doch sei ebenso »im westeuropäischen Mittelalter« der »Machtbereich solcher Unheimlichkeitsträger« wie Dämonen und Geister.14 An anderen Stellen seines Buches vergleicht Prinzhorn außerdem Patientenwerke mit Darstellungen des Phantastischen in der europäischen Kunstgeschichte und erwähnt in diesem Zusammenhang Künstler wie Bosch, Brueghel, Goya und Kubin.15 Solchem Unheimlichen des Gegenstandes stellt er ein anderes Unheimliches gegenüber. Im »flüchtigen Überblick« des im Buch ausgebreiteten »Material(s) von 170 Bildwerken Geisteskranker« drängt sich ihm »ein gemeinsamer Grundcharakter dieser höchst mannigfaltigen Bilder auf«, den er als »faszinierende Fremdartigkeit« bezeichnet: »ein(e) Beziehung auf Erlebnissphären, die uns unheimlich bleiben, auch wenn wir mit der Unheimlichkeitssphäre künstlerischer Phantastik vertraut sind«.16 Diese Differenzierung könnte man zur Scheidung Freuds zwischen dem Unheimlichen »im Erleben« und dem »Unheimlichen der Fiktion« in Beziehung setzen; letzteres erzeugt dem Psychoanalytiker zufolge das Gefühl des Unheimlichen beim Rezipienten in abgeschwächter Form.17 Dann höbe Prinzhorn darauf ab, dass in den künstlerischen Werken von Anstaltspatienten die Erfahrung grundlegender Verunsicherung spürbar wird. Doch meint er offenbar etwas anderes, das typisch expressionistisch erscheint: Prinzhorn möchte den Gehalt eines Wortes nicht nur verstärken, sondern überschreiten. Er macht dessen herkömmlichen Gebrauch fragwürdig, um sprachlich etwas anzudeuten, das »schwer aus der Sphäre des gefühlsmäßigen Eindrucks in begriffliche Formulierungen überzuführen ist«.18 Was genau bereitet Prinzhorn solche Sprachprobleme – was löst eine solche Verunsicherung bei ihm aus? Blicken wir auf drei Beispiele der Heidelberger Sammlung, die ihm unheimlich sind. Bei der auf 1918/19 datierten Pastell-Zeichnung eines Kopfes von Otto Emil Marcus (Abb. 3) deutet Prinzhorn die Aufschrift als Hinweis auf die Anregung zum Bild, die »Erlebnisgrundlage«. Der Text lautet: »Oft Original-Kopf gesehen in Eßlingen, dagegen der Charakter Mixtum«, und: »Dezemberfreude: ›ich bin dein Tod‹. Kind aus Eßlingen sagt zu mir dabei kopfschüttelnd«. Prinzhorn 14 Prinzhorn 1922 (wie Anm. 2), S. 337. 15 In Prinzhorn 1922 (wie Anm. 2), finden sich diese Namen auf folgenden Seiten: Bosch – 298, 326, 336; Brueghel – 298, 327, 336; Goya – 101; Kubin – 269, 298, 336. Zum Einfluss des Kunsthistorikers Wilhelm Fraenger auf diese Auswahl von Künstlern s. Thomas Röske, »›Außerhalb der Kontinuität geschichtlicher Prozesse‹ – Wilhelm Fraenger und Hans Prinzhorn blicken auf Kunst von Außenseitern«, in: Ausst.-Kat. Wilhelm Fraenger in Heidelberg, Heidelberg, Kunstverein 2004, S. 130-143, hier S. 133. 16 Prinzhorn 1922 (wie Anm. 2), S. 291. 17 Freud 1919h, G.W. XII, S. 261. 18 Prinzhorn 1922 (wie Anm. 2), S. 291.

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schließt aus dieser Beschriftung, dass »psychiatrisch gesprochen, die illusionistische Umdeutung eines realen Gesichtseindruckes der Zeichnung als Anregung gedient« hat. Wenn er zugleich von der »unheimliche[n] Wirkung des Kopfes« spricht, gibt er als Grund dafür jedoch nicht den mutmaßlichen Ursprung der Bildidee, die Wirklichkeitsverkennung oder die Todesverkündigung an, sondern eine Eigenheit der Gestaltung: die »Mischung von kindlichen und greisenhaften Zügen«.19 Prinzhorn wird verunsichert durch eine Ambivalenz der Darstellung.

Abbildung 3: Otto Emil Marcus, Kinderkopf (Dezemberfreude: »Ich bin dein Tod«), Blei-

stift, Pastellkreide, weiß gehöht auf braunem Karton, 41 x 34 cm, 1918 oder 1919, Sammlung Prinzhorn, Heidelberg, Inv. Nr. 83 19 Ebd., S. 101.

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Auch der Bleistiftzeichnung Lufterscheinung von Otto Stuß (Abb. 4) aus dem Jahre 1909 liegt die »illusionistische Umdeutung eines realen Gesichtseindruckes« zugrunde. In einem Beitext erklärt der Patient, dass ihm die Vorlage als »Luftzeichnung« erschienen sei. Verschiedene Luftzeichnungen »seien schon bei Leuten vor Jahrhunderten gezeichnet gewesen und durch ›Luftzug‹ auf ihn übergegangen«. Nun könne das Bild, mit Hilfe seiner Zeichnung, wieder auf andere übergehen. Das »Grauenhafte des Gesamteindrucks«, das Prinzhorn hier beschäftigt, macht er auch diesmal nicht an der »Erlebnisgrundlage« fest, sondern wieder an einer Verquickung von Heterogenem in der zeichnerischen Umsetzung. Ihm scheinen »die hervorstehenden Hauptteile des Gesichts wie in anderem Material« aufgesetzt. Die Deutung als Physiognomie tritt in Widerstreit mit Assoziationen anderer, zumal unangenehmer Dinge: »Man denkt an jene Gebäckformen, die sich in siedendem Fett bilden, an Darmgeschlinge oder an Geschwüre.«20 Unheimlich wird Prinzhorn auch diesmal zumute, weil er nicht zu einer einheitlichen Deutung des Bildes gelangen kann. Schließlich sei hier das wichtigste Beispiel des Autors für den »Charakter des Fremdartig-Unheimlichen, das uns unbegreiflich und faszinierend quält«, angeführt, ein Blatt August Natterers, genannt Neter. Die zwischen 1911 und 1919 entstandene aquarellierte Zeichnung Wunderhirte (Abb. 5) geht, wie Natterer berichtet, auf eine Himmelserscheinung im November 1907 zurück, die sich immer wieder gewandelt habe. Natterer lieferte Prinzhorn eine genaue Beschreibung, aus der hervorgeht, dass die Darstellung verschiedene Stadien einer Erscheinung synthetisiert, die sich langsam aufgebaut hat: »Da stand zunächst eine Brillenschlange in der Luft […]. Und daran kam der Fuß […]. Dann kam der andere Fuß daran. […]«, usw. Warum sieht sich Prinzhorn gerade hier dem »spezifisch schizophrenen Seelenleben so wehrlos ausgeliefert« wie »bei keinem anderen Bildwerk«? Erneut bringt er seine Verunsicherung nicht mit dem Ausgangspunkt der Darstellung, der Vision oder Halluzination, in Verbindung, sondern mit einem kombinatorischen Moment der Gestaltung: »daß hier aus Organteilen organismenartige Bildungen entstanden sind, die doch nirgends zentriert werden. Zwar wird der Scheinorganismus sauber zu Ende gezeichnet, allseitig geschlossen, – aber […] mit einer pointenlosen Konsequenz, die den Nach-Denkenden in eine Art Irrgarten ohne Ende führt.« Die Textstelle ist auch insofern aufschlussreich, als Prinzhorn diesmal seine Verunsicherung genauer benennt. Er scheitert mit dem ihm gewohnten analytischen Vorgehen. Angesichts des »Wunderhirten« findet er beide »Hilfswege […] versperrt«, die ihm sonst erlaubten, sich »in schizophrene Vorstellungskomplexe hineinzufinden«, den »rationale[n] wie de[n] ästhetische[n]«21 – Prinzhorn ist verwirrt, weil ihm eine Pointe fehlt. Für ihn ist die Gestaltung weder vorstellungslogisch noch 20 Ebd., S. 103. 21 Ebd., S. 219.

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Abbildung 4: Otto Stuß, »Lufterscheinung«. Halluzination, Bleistift, 32 x 20 cm, um 1909,

Sammlung Prinzhorn, Heidelberg, Inv. Nr. 235

ästhetisch auf den Punkt gebracht – den er für sein einfühlendes Vorgehen benötigt.

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Abbildung 5: August Natterer, »Wunderhirte«, Bleistift, Wasserfarben, Firnis auf Aquarell-

karton, 24,5 x 19,5 cm, zwischen 1911 und 1917, Sammlung Prinzhorn, Heidelberg, Inv. Nr. 176

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■ Prinzhorn und der Surrealismus Aus den Beispielen wird deutlich: Das Unheimliche an den vorgestellten Bildern besteht für Prinzhorn darin, dass sie für ihn das spannungsvolle Nebeneinander von heterogenen Werkebenen oder -teilen nicht zugunsten einer Einheit auflösen. Dieses Charakteristikum trifft sich mit der Ästhetik der Surrealisten, die zur gleichen Zeit, da der Assistenzarzt an seinem Buch arbeitete, begannen, Seh- und Denkgewohnheiten zu irritieren und damit neue Erfahrungen beim Betrachter zu provozieren. So haben André Breton und seine Freunde als vorbildlich etwa immer wieder jene Stelle aus den Gesängen des Maldoror (1869) von Isidor Ducasse (»Comte de Lautréamont«) zitiert, in welcher der Autor die Schönheit eines jungen Mannes mit »der unerwarteten Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch« vergleicht.22 Gemäß dem vorwiegend literarischen Interesse der ersten Surrealisten entstanden zunächst, ab 1919, Gedichte, die sich dieser kombinatorischen Ästhetik bedienten. Als einer der ersten hat dann Max Ernst ab 1923 in entsprechender Weise Bilder gestaltet (Abb. 6) – beeinflusst übrigens auch von Werken August Natterers.23 Ernst hatte das Buch Bildnerei der Geisteskranken bereits 1922 erworben und noch im selben Jahr nach Paris mitgebracht. Zwischen Prinzhorns Sicht auf Bildwerke Schizophrener und der Kunstauffassung der Surrealisten besteht aber nicht nur eine Übereinstimmung, was das Resultat betrifft. Die (Re-) Konstruktion des spezifischen gestalterischen Vorgehens von Schizophrenen, die der Kunsthistoriker und Mediziner versucht, kommt überdies einer Beschreibung des »automatischen« Verfahrens surrealistischer Künstler nahe: Der Psychotiker richte »aus ungesiebten Zufällen und unbedachter Willkür eine Art von Formgesetzlichkeit auf, die nicht nach sinnvoller Einheit strebt. Indem sich Einfälle hemmungslos aneinanderreihen, entsteht aus der naiven Rhythmik der Strichführung eine äußere formale Einheitlichkeit.« Doch sichert für Prinzhorn anders als für die Surrealisten die Dominanz des Unbewussten im kreativen Prozess noch nicht den ästhetischen Wert eines Werkes. Zur »Kunst« gehört in seiner Sicht mehr: »In günstigen Fällen schließen sich die beiden an sich divergierenden Tendenzen (Stoffgestaltung und formale Einheitstendenz) ohne bewußte Führung zusammen – dann entstehen Werke, die auf dem Boden ernsthafter Kunst gewertet werden müssen.« Seine Wertmaßstäbe erlauben nicht, »das Verweilen auf dem Augenblick vor der Entscheidung«, das sich in der Werken der meisten Schizophrenen beobachten lasse, anders denn als Ausdruck von Krankheit zu begreifen. Das Unentschiedene sei »denn allerdings in 22 Comte de Lautréamont, Die Gesänge des Maldoror, übersetzt von Ré Soupault, München 1976, S. 173. 23 Siehe hierzu zuletzt Marielène Weber, »August Natterer, ein schizophrener Künstler«, in: Inge Jádi, Bettina Brand-Claussen (Hg.), August Natterer. Die Beweiskraft der Bilder. Leben und Werk. Deutungen, Heidelberg 2001, S. 341-366, hier S. 360-363.

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Abbildung 6: Max Ernst, Sturz der Engel, Öl auf Leinwand, 128 x 128 cm, 1923, Sprengel-

Museum, Hannover

jeder Beziehung für den Schizophrenen kennzeichnend«, da es »in jeder Spaltungserscheinung, in jeder ambivalenten Einstellung« stecke.24 Was die Surrealisten als einen neuen Weg künstlerischer Erfahrung propagieren, ist für Prinzhorn in einem Maße unverständlich, das für ihn bereits die Grenze gesunder Kreativität überschreitet.

■ Das Unheimliche als Rhetorik und Verdrängung Doch ist sein Schluss nicht einfach in die lange Geschichte der Abwertung von Neuem als verrückt einzuordnen. Prinzhorn ist von dem spezifisch Unverständlichen dieser Werke zugleich fasziniert. Gerade hier setzt seine Erklärung der von 24 Ebd., S. 338.

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ihm erlebten Unheimlichkeit an – die für ihn »den letzten, vielleicht allein ganz stichhaltigen Unterschied typisch schizophrener Gestaltung von aller übrigen« bedeutet. In den »typischen Werken« Schizophreniekranker meint er, den »Abglanz« der »völligen autistischen Vereinzelung, de[s] über alle Schattierungen psychopathischer Weltentfremdung hinausgehenden grauenhaften Solipsismus« dieser Menschen zu spüren.25 Das Unheimliche ist für Prinzhorn Reflex eines Uneinfühlbaren, das aus dem Rückzug in abgelegenste Zonen des Individuellen resultiert. Wir teilen heute Prinzhorns Sicht der Schizophrenie nicht mehr, da wir die Abhängigkeit psychischer Krankheit von äußeren Faktoren kennen und wissen, dass Menschen selbst im späten Stadium einer Schizophrenie noch relativ zugänglich sind. Doch selbst im Vergleich mit Psychiatern seiner Zeit stellt Prinzhorn die Schizophrenie übersteigert dar – er dämonisiert sie geradezu. Hierzu verhält sich sein methodischer Ansatz insofern komplementär, als bei ihm der Rezipient das künstlerische Werk in vollkommener Passivität erlebt und sich, wie oben zitiert, dem Eindruck »wehrlos ausgeliefert« sieht. Damit formuliert er ein Extrem innerhalb der damals in vielen akademischen Fächern verbreiteten Methodik der Einfühlung. Die Propagierung ohnmächtiger »Wesensschau« soll suggerieren, dass Prinzhorns Betrachtung von keinerlei Vorurteil belastet ist – tatsächlich setzt diese radikale Einfühlung ihn aber gerade dem Verdacht allzu großer Subjektivität aus. Seine Feier des Überwältigtwerdens durch ein großartig Erschreckendes ist gleichwohl nicht allein individualpsychologisch zu deuten. Sie ist vielmehr eine Variante typischer Reaktion auf das Trauma des Ersten Weltkriegs. Wie viele Generationsgenossen war Prinzhorn durch die Erfahrung des unsinnigen und grausamen Todes Unzähliger und der Zerstörung bislang ungekannten Ausmaßes über die Zivilisation seiner Zeit desillusioniert und »allen Kulturwerten gegenüber im Tiefsten Nihilist«26 geworden. Wie viele in Europa suchte er damals nach einem verlässlichen Grund, wieder Vertrauen in menschliches Handeln zu legen. In den Werken Schizophrener glaubte er ihn gefunden zu haben. Der Ausdruck starker Erschütterung in seinem Buch gehört zur Rhetorik der Authentizität. Indem Prinzhorn vom Unheimlichen an diesen Werken schreibt, möchte er seine Leser davon überzeugen, dass er etwas Echtem begegnet sei. Das ist zweifellos eine Illusion. Wenn dies weder ihm noch vielen seiner Nachfolger auffiel, so könnte das dafür sprechen, dass die Wunschprojektion von ei25 Ebd., S. 339. Roger Cardinal scheint 1994 noch eine ähnliche Anmutung zu meinen, wenn er hervorhebt: »what attracts us about the Outsider artwork is indeed more often its autistic air than any evidence of literal autism.« (Roger Cardinal, »Toward an outsider aesthetic«, in: Michael D. Hall, Eugene W. Metcalf Jr. (Hg.), The artist outsider. Creativity and the boundaries of culture, Washington, London 1994, S. 20-43, hier S. 33). 26 Hans Prinzhorn, »Die erdentrückbare Seele«, in: Der Leuchter 8 (1927), S. 277-296, hier S. 278.

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ner anderen psychischen Energie sekundiert wurde, die aus Verdrängung resultiert. So ist zu fragen: Auf welches »Altbekannte, Längstvertraute« erlaubt Prinzhorns »beunruhigendes Fremdheitsgefühl« rückzuschließen? Oder kürzer: Was an den Werken psychoseerfahrener Menschen wird von Prinzhorn und seinen Nachfolgern verdrängt? Darauf sollen hier vier Antworten gegeben werden – zugleich mit vier Vorschlägen dafür, wie man das jeweilige Gruseln austreiben könnte.

■ 1. Die psychische Krankheit Freud geht in seinem Text »Das Unheimliche« auf die Verunsicherung durch Psychotiker ein, ebenso wie die einzige frühere Studie zum Thema, 1906 von dem Psychologen Ernst Jentsch publiziert. Jentsch sieht das Unheimliche wesentlich begründet im »Zweifel an der Beseelung eines anscheinend lebendigen Wesens und umgekehrt darüber, ob ein lebloser Gegenstand nicht etwa beseelt sei«. Entsprechend erklärt er es in »Äußerungen des Wahnsinns« damit, dass »durch sie in dem Zuschauer Ahnungen von automatischen – mechanischen – Prozessen geweckt werden, die hinter dem gewohnten Bilde der Beseelung verborgen sein mögen«.27 Demgegenüber stellt Freud diese Wirkung mit der »Ahnung von Geheimkräften« auf eine Stufe. »Der Laie sieht hier die Äußerung von Kräften vor sich, die er im Nebenmenschen nicht vermutet hat, deren Regung er aber in entlegenen Winkeln seiner eigenen Persönlichkeit dunkel zu spüren vermag.«28 Die spezifische Beunruhigung beim Anblick eines psychisch Kranken resultiert demnach daraus, dass der Betrachter die Bedrohung eigener psychischer Gefährdung spürt. Überträgt sich dieses Empfinden auf die künstlerischen Werke von Psychoseerfahrenen? Tatsächlich geht der Schweizer Psychiater Alfred Bader davon aus, wenn er die unheimliche Wirkung von Patientenbildern erklärt: »Versuchen wir uns über das Unbehagen, das gewisse von Schizophrenen gezeichnete Gesichter, diese oft schauderhaften Masken, hervorrufen, klarer zu werden. Ist nicht das Unbehagen der Beweis dafür, dass wir uns einer Gefahr bewusst werden, die jedes Menschengehirn belauert? Es ist die Gefahr der ›Sprengung‹, jener Spaltung der Persönlichkeit, die das Wesen der Schizophrenie ausmacht. Es handelt sich um die latente Möglichkeit des Menschengehirns, sich zu dissoziieren, was zuweilen in den Träumen geschieht und experimentell durch Bruchteile von Milligrammen bestimmter Drogen herbeigeführt werden kann. Diese Dissoziation lässt gleichsam den Teufel hervortreten, den wir gewöhnlich in der Tiefe unsere Seele verborgen halten, der aber stets bereit ist aufzutauchen.«29 27 Jentsch, zit. nach Freud 1919h, G.W. XII, S. 237. 28 Ebd., S. 257. 29 Alfred Bader, »Die Bildnerei der Geisteskranken – Ein Spiegel der Menschenseele«, in: Jean

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Wenn das Unheimliche der Werke das Unheimliche der Krankheit ihrer Urheber ist, so impliziert dies, künstlerische Werke psychisch Kranker seien eine bloße Spiegelung ihrer »Verrücktheit«. Das Gefühl des Unheimlichen stellt sich im Sinne eines Vorurteils ein, bevor noch eine Differenz wahrgenommen werden kann, bevor noch genauer auf die Werke geblickt wird. Ist auch wenig wahrscheinlich, dass der Mediziner Prinzhorn selbst diese hysterische Reaktion zeigte, so war und ist sie doch in der Bevölkerung verbreitet. Ihr entgegen zu arbeiten, könnte gerade mit einer eingehenden Betrachtung der kreativen Leistungen psychisch kranker Menschen gelingen, die aufzeigt, wie diese mit ihrer Krankheit und der daraus resultierenden gesellschaftlichen Marginalisierung umgehen, wie sie Ordnung in ihr Denken und Fühlen zu bringen und die abgebrochene Kommunikation mit der Außenwelt wieder aufzunehmen versuchen.

■ 2. Die psychisch Kranken Die Verdrängung der psychisch Kranken hinter den Werken der Heidelberger Sammlung ist deutlich bei Prinzhorn, der zwar im Mittelteil des Buches Zehn Lebensläufe schizophrener Bildner vorstellt, im Grunde aber an den Biographien und den Persönlichkeiten der Patienten nicht interessiert war. In den kleiner gedruckten Abschnitten mit kurzen Lebensgeschichten und Berichten zum Krankheitsverlauf sah er nur einen »Kontrast« zu seinen einfühlenden Interpretationen der Werke30, in denen er denn auch nur selten biographische Fakten aufgriff. Immerhin hat er die meisten seiner zehn »schizophrenen Meister« offenbar selbst aufgesucht und interviewt. Solche Mühe machte er sich bei den anderen in seiner Sammlung vertretenen Anstaltsinsassen selten. Von einigen ließ er sich zwar die Krankenakte schicken. Zumeist gab er sich jedoch mit den spärlichen Angaben zufrieden, die Ärzte zu den eingesandten Werken (oder sogar auf sie) notiert hatten. In Bildnerei der Geisteskranken werden die Urheber der Bildwerke, wenn überhaupt, ohnehin nur mit Fall-Nummern erwähnt. So sind für viele »Fälle« bis heute noch nicht einmal Namen bekannt. Es hat lange gedauert, bis begonnen wurde, Biographien hinter der »Irrenkunst« nachzuspüren und die lebensgeschichtlichen Kontexte dieser Werke zu rekonstruieren. In der Sammlung Prinzhorn werden seit Mitte der 1980er Jahre Biographien erforscht. Zum ersten Mal wurden Ergebnisse dieser Bemühungen in einer großen Wanderausstellung präsentiert, die 1980/81 in vielen deutschen Städten zu sehen war.31 30 Cocteau, Georg Schmidt, Hans Steck u. a. (Hg.), Insania pingens, Basel 1961, S. 33–57, hier S. 54. 30 Prinzhorn 1922 (wie Anm. 2), S. 121. 31 Ausst.-Kat., Die Prinzhorn-Sammlung. Bilder, Skulpturen, Texte aus psychiatrischen Anstalten (ca. 1890-1920), Heidelberg, Kunstverein 1980, Königstein 1980.

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Im Rückblick wirkt die Begeisterung Prinzhorns und vieler seiner Nachfolger über die Entdeckung künstlerischer Werke aus psychiatrischen Anstalten grotesk: Menschen mit verändertem, als krank definiertem Denken, Fühlen und Verhalten werden aus dem gesellschaftlichen Alltag verdrängt und mit Hilfe von Anstaltsmauern der allgemeinen Aufmerksamkeit entzogen – um dann als wunderbar eigenwillige Kreative (wieder-) entdeckt zu werden wie Wilde einer unerforschten Erdregion. Die Überraschung ist die Folge einer physischen wie psychischen Verdrängung. Diese wird prolongiert, wenn die Werke psychisch kranker Menschen einzig als ästhetische Objekte wahrgenommen und höchstens von der Krankengeschichte begleitet werden. Wichtig ist, das ganze Leben der Autorinnen und Autoren zu würdigen und dabei zu zeigen, wie ihre Bildwelten darin und in ihrer spezifischen Außenseitererfahrung wurzeln. Uns werden die Werke von Anstaltsinsassen so lange als unheimliche Widergänger erscheinen, wie wir am Leugnen ihrer Biographien festhalten und damit einer verbreiteten Dämonisierung der Krankheit entsprechen. Kunst kommt vom Künstler – jeder Kunstbetrachter schließt von einem Werk auf dessen Urheber, bewusst oder unbewusst, und wo keine Fakten vorliegen, werden sie durch Stereotype ersetzt. Das gilt für Werke von professionellen Künstlern, über deren Leben oftmals positive Klischees kursieren, ebenso wie für diejenigen psychisch Kranker.

■ 3. Die Werke psychisch Kranker Prinzhorn hat in Heidelberg mehr als 5000 Werke zusammen getragen. Für sein Buch musste er eine Auswahl treffen. Auf den 170 Abbildungen von Bildnerei der Geisteskranken zeigte er zwar mehr Bilder und Skulpturen von Anstaltsinsassen als irgendein Autor vor ihm, so dass ihm das Verdienst zukommt, als erster diese Kunstäußerungen in beeindruckender Vielfalt sichtbar gemacht zu haben. Vergleicht man die Auswahl mit dem Heidelberger Gesamtbestand, wird allerdings deutlich, dass selbst bei den zehn schizophrenen Meistern Kriterium der Auswahl nicht war, einen repräsentativen Querschnitt zu bieten. Bei August Natterer griff Prinzhorn zum Beispiel allein die Visionszeichnungen heraus, während er Porträts, Darstellungen von Blumen und Schmetterlingen sowie Entwürfe für Maschinen ignorierte. Ihre Bild- und Formensprache war ihm offenbar zu gewöhnlich, zu wenig »verrückt«. Indem er sie unterdrückte, verhinderte er zugleich, dass sie der Leser seines Buches als Brücke von seiner eigenen Welt zu der Natterers nutzen konnte. Viele Werke von denjenigen Patientenkünstlern, die gänzlich unberücksichtigt blieben, hätten eine ähnliche Funktion erfüllt. Prinzhorns Auswahl bekräftigt dagegen das Bild von der Ausnahmestellung der Werke psychoseerfahrener Menschen. Diese Zensur haben viele andere Promotoren von Art Brut oder Outsider Art fortgesetzt, zumeist mit Verweis auf die ästhetische Qualität der Werke. Das Stau-

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nen erregende Fremde scheint allemal mehr Zuspruch des Publikums zu garantieren als Inhalte und Formen, die an Vertrautes anschließen. Doch wenn es nicht bei einem oberflächlichen Nervenkitzel und einem Bestätigen von Vorurteilen über das »Typische« der »Irrenkunst« bleiben soll, ist es nötig, die erhaltenen Œuvres komplett zu sichten und die ganze Bandbreite künstlerischer Werke von psychisch kranken Menschen in den Blick zu nehmen. Der wohlige Schauer des Unheimlichen ist auch Resultat eines Aussortierens von angeblich Uninteressantem.

■ 4. Die Quellen der Werke psychisch Kranker Schließlich liegt dem Gruseln sicherlich die Verdrängung eines ästhetischen Momentes zugrunde – bei Prinzhorn wie bei nachfolgenden Interpreten von Outsider Art. Die Kombination von Heterogenem ist nicht die einzige gestalterische Gemeinsamkeit von Werken, die auf Prinzhorn unheimlich wirken. Aufschlussreich ist ein »Fall« in seinem Buch, bei dem er seine Beunruhigung selbst nicht erklären kann. Was er – ungewöhnlich umständlich – über die Wirkung der Sakralen Figur (Abb. 7) von Hermann Behle (»Beil«)32 schreibt, welcher er eine der wenigen Farbabbildungen seines Buches widmet, bleibt unergiebig: »Es läßt sich gar nicht leugnen, daß man unter dem unmittelbaren Eindruck des Bildes geneigt sein wird, gerade jene Feierlichkeits- und Unheimlichkeitskomponente darin zu fühlen, die man am ehesten als typisch schizophren bezeichnen möchte. Wohl wird man dann einen Teil dieser Wirkung in der Gebärde an sich, in der räumlichen Ungeklärtheit, in der starren Götzenhaftigkeit usw. zu begründen versuchen. Allein es bleibt ein Rest, den man am liebsten durch die Diagnose Schizophrenie gedeckt sähe. Daß gerade dieses Bild tief in die Psychologie des Dämonischen einzuführen geeignet ist, sei nur noch angemerkt.«33

Was ist dieser »Rest«? Vor der zitierten Passage spricht Prinzhorn ein Charakteristikum des Bildes an, welches an das Moment der Kombination von Heterogenem erinnert: »Die Einteilung des Körpers in kleine Quadrate nach Art von Steingutplatten gibt der Gestalt etwas Flächenhaftes, während ihre Farbigkeit und die angedeutete Schattierung, an Fayence erinnernd, zu plastischer Auffassung drängt.«34 Doch diesmal bringt der Autor diese Ambivalenz nicht in Verbindung mit dem Unheimlichen. Auffälliger ist allerdings, dass Prinzhorn hier einen Kontext unerwähnt lässt, der sich geradezu aufdrängt: Die Figur bezieht sich in Farbigkeit, Musterung und Aufbau offensichtlich auf Volkskunst. Ähnlich geometrisierende Frauenfiguren finden sich auf Stickereien aus vielen Teilen Eu32 Um 1906, Kleisterfarben auf Papier, verschollen. Eine frühe Kopie hat sich in der Sammlung des Hospital Sainte-Anne, Paris, erhalten. 33 Prinzhorn 1922 (wie Anm. 2), S. 248. 34 Ebd., S. 247.

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Abbildung 7: Hermann Behle, Sakrale (Götzen-) Figur, Kleisterfarben, 32 x 20 cm, undatiert, ehemals Sammlung Prinzhorn, Heidelberg (verschollen)

ropas. Beehle war Landarbeiter35 – volkstümlich geschmückte Kacheln, Fayencen und Textilien werden ihm vertraut gewesen sein (Abb. 8). Warum benennt Prinzhorn, der »die Gestaltungsversuche dieser letzten Jahrtausende auf unserem kleinen Erdball ungefähr übersieht«36, diese Quellen der Bildfindung nicht? Hat er sie nicht erkannt? Tatsächlich schweigt Prinzhorn sich auch in den früher erwähnten Beispielen über die Bedeutung ähnlich offensichtlicher Bezüge und Quellen aus. So ordnet er die Zeichentechnik des Elektromechanikers Natterer zwar richtig zu, wenn er schreibt: »Durchweg nüchtern klare Sachlichkeit im Strich, nach Art einer tech-

35 Ebd., S. 240. 36 Ebd., S. 318.

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Abbildung 8: Handtuch, Kreis Ustjuzkoje, Gouvernement Nowgorod, Stickerei mit Baum-

wolle auf Leinen, 34,5 x 17,0 cm, Ende 19. oder Anfang 20. Jahrhundert, Staatliches Russisches Museum, St. Petersburg

nischen Zeichnung«.37 Er nutzt diese Beobachtung aber nicht, um die eigentümliche Wirkung der Blätter zu erklären. Dabei besteht in der zeichnerischen Umsetzung visionär erlebter Bilder mit dem Instrumentarium eines Konstrukteurs zumindest ein wesentlicher Teil der originellen Leistung. Bei der Luftzeichnung von Otto Stuß meldet sich zwar der Kunsthistoriker in Prinzhorn assoziierend zu Wort: »Sobald man das Blatt als Kopf erkannt hat, wird man in die Rhythmik des Strichgefüges hineingezogen, das die ganze Fläche wie ein selbständiges Gewächs überzieht. Die Eigenlebendigkeit der Strichzüge überwiegt fast ihren darstellerischen Sinn. In diesem Zug, der in dem Begriff des Ornamentalen nicht ganz zu erfassen ist, liegt eine Wesensähnlichkeit mit der Zeichenweise altdeutscher Meister.«38

Doch anstatt der Spur nachzugehen oder zumindest darüber zu spekulieren, ob Stuß tatsächlich durch Werke von Dürer, Altdorfer, Huber oder anderer Künstler 37 Ebd., S. 208. 38 Ebd., S. 103.

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des 15. und 16. Jahrhunderts angeregt wurde, lässt der Autor diesen Faden gleich wieder fallen. Vernachlässigt Prinzhorn das Aufspüren von Bildquellen, um sein Axiom vom unbewussten Schaffen der Anstaltspatienten nicht zu gefährden? Neben der willkürlichen Kombination von Heterogenem zeichnet die meisten Werke in Prinzhorns Buch, und zumal die ihm unheimlichen, eine Zeichenoder Maltechnik aus, die von derjenigen zeitgenössischer Kunst deutlich abweicht. Sie verweist auf andere Kontexte: auf Volkskunst, Gebrauchsgraphik, technische oder architektonische Konstruktion, ältere Kunst. Prinzhorn hebt dieses Unzeitgemäße der Werke nicht eigens hervor, er ignoriert es sogar fast immer. Sein Kunstgeschmack war von der Reformkultur um 1900 und von neuen künstlerischen Strömungen am Beginn des 20. Jahrhunderts geprägt, von Impressionismus, Symbolismus, vor allem aber Expressionismus (Abb. 9).39 In seinem Buch entwickelt er eine eigene Ausdruckstheorie der Kunst. Dementsprechend war er Anhänger einer symbolischen Selbstrepräsentation der Künstler in ihren Werken, die man als Gestus der Moderne bezeichnen könnte – freie, großräumige Bewegungen mit Pinsel oder Stift, die rasch den Mal- oder Zeichengrund besetzen (»beherrschen«). Gegenständsnähe, Kleinteiligkeit und minutiöse Ausführung waren den Modernen verpönt, da sie einem »unmittelbar[en] und unverfälscht[en]«40 Gestalten entgegen zu stehen schienen. Das kommt gut in einem künstlerischen Credo Henri Matisses von 1909 zum Ausdruck: »[…] wir wollen innere Ausgeglichenheit durch Vereinfachung der Ideen und plastischen Formen erreichen. Unser einziges Ideal liegt im kompositorischen Ganzen. Die Einzelheiten tun der Reinheit der Linien und der Gefühlsintensität Abbruch, wir lehnen sie ab. […] Der Maler braucht sich nicht mehr um kleinliche Einzelheiten zu bemühen, dafür ist die Photographie da, die es viel besser und schneller macht. […] Ich strebe jenen Zustand höchster Zusammenfassung und Verdichtung an, der das wahre Gemälde ausmacht.«41

Dieser Einsatz für gestalterische Freiheit und Großzügigkeit richtete sich gegen die Kunst und die kulturellen Werte der »bürgerlichen« Vatergeneration, der ein starres Festhalten am Gegenstand, Kleinlichkeit und Künstlichkeit vorgeworfen wurde. Traditionelle Tugenden, wie Sauberkeit, Ordnung, Pünktlichkeit und Gewissenhaftigkeit, wurden für alle, die sich jung fühlten, einzig als Repressionsmittel identifiziert und deshalb abgelehnt. 39 Siehe Röske 1995 (wie Anm. 26), S. 139 ff., sowie Bettina Brand-Claussen, »Prinzhorns Bildnerei der Geisteskranken‹ – ein spätexpressionistisches Manifest«, in: Ausst.-Kat. Vision und Revision einer Entdeckung, Heidelberg, Sammlung Prinzhorn 2001, Heidelberg 2001, S. 11-31. 40 Programm der Dresdner Künstlergruppe »Brücke« aus dem Jahre 1906, zit. nach Dietmar Elger, Expressionismus. Eine deutsche Kunstrevolution, Köln 1991, S. 17. 41 Henri Matisse, »Bekenntnis. Gespräch mit Etienne 1909«, in: Les Nouvelles, die deutsche Übertragung 1925 in Paul Westheims Künstlerbekenntnisse, zit. nach: Henri Matisse, Farbe und Gleichnis. Gesammelte Schriften, Frankfurt a. M., Hamburg 1960, S. 34 und 38.

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Abbildung 9: Ernst Ludwig Kirchner, Fehmarnküste, Kreide auf Papier, 50,3 x 35,2 cm, 1913, Graphische Sammlung im Städelschen Kunstinstitut, Frankfurt a. M.

Prinzhorn hat den Elan der Modernen und zugleich ihre Feindbilder geteilt. Überzeugt, in den Werken psychoseerfahrener Menschen dasjenige in Reinkultur gefunden zu haben, wonach die Modernen stets gesucht hatten, war er blind dafür, dass gerade hier auch traditionelle Werte zum Tragen kommen. Ungewöhnliche Ikonographie sowie naive Farb- und Formensprache halfen bei der Verschleierung dieser Erkenntnis, die sich einzig als Anmutung des Unheimlichen, sozusagen subkutan bemerkbar machte. Von dem Verblendeten haben sich viele ebenso Blinde führen lassen, die an dem Paradigma der Moderne vom Künstler als Einzelkämpfer festhielten – übrigens auch gegenüber nachfolgenden Auffassungen von Kunst. Nicht zufällig geht die besondere Wertschätzung soge-

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nannter Outsider Art auch heute noch oftmals mit einer Ablehnung jüngerer Entwicklungen der Kunst einher. Mit der Stilisierung des psychisch kranken Künstlers zum Extrem modernen Künstlertums – als Autist unter Individualisten – ist allerdings weder diesem noch uns gedient. Indem wir erkennen, dass er an vertraute gesellschaftliche Werte und Formen anzuknüpfen und mit ihrer Hilfe eine wenn auch ganz persönliche Ordnung in Gedanken und Gefühle, die ihn überfordern, zu bringen versucht, kommen wir diesen Werken näher. So können wir jene Kommunikation wieder aufnehmen, die diesen gesellschaftlich Marginalisierten lange verweigert wurde – und das Unheimliche abzubauen helfen, das psychische Krankheit heute noch immer für viele hat. Abbildungsnachweis: Abb. 1 Sammlung Prinzhorn, Psychiatrische Universitätsklinik Heidelberg. Abb. 2 in: Fritz Mohr, »Zeichnungen von Geisteskranken«, in: Zeitschrift für angewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung; 2 (1909). Abb. 3, 4, 5, 7 in: Hans Prinzhorn, Bildnerei der Geisteskranken, Berlin 1922. Abb. 6 in: Bestandskatalog Sprengel Museum Hannover, bearb. von Magdalena M. Moeller, Hannover 1985. Abb. 8 in: Ausst.-Kat. Russische Avantgarde und Volkskunst, Baden-Baden, Staatliche Kunsthalle 1993, Stuttgart 1993. Abb. 9 Städelsches Kunstinstitut, Frankfurt a. M., Graphische Sammlung.

■ Unheimliche Orte im Bild

■ Stefan Germer

Die Lust an der Angst – Géricault und die Konjunkturen des Unheimlichen zu Anfang des 19. Jahrhunderts1 1

■ I. Es ist schwer zu fassen. Obgleich man voraussetzen darf, dass jeder zumindest eine ungefähre Vorstellung vom Unheimlichen besitzt, entzieht es sich dem schnellen, definitorischen Zugriff und flieht die konkretisierende Verbildlichung. Fixe Grenzen sind ihm fremd, denn es untergräbt Begriffe und sprengt Darstellungscodes. Trotzdem steht es zum Ästhetischen in Beziehung, weil Sichtbarkeit – oder genauer eigentlich: das Sichtbarwerden – zu seinen Wesenszügen gehört. Schließlich darf man mit Schelling dasjenige unheimlich nennen, »was im Geheimnis, im Verborgenen bleiben sollte und hervorgetreten ist.«2 Doch die Relation des Sichtbarwerdenden zum Verborgenbleibenden lässt sich nicht darstellen, allenfalls andeuten: weshalb es in der Malerei keine Repräsentation, sondern höchstens eine Evokation des Unheimlichen geben kann.3 Wenn die Vorstellung 1 Dieser Text wurde 1999 posthum in einer Übersetzung von Julia Bernard veröffentlicht. »Pleasurable fear: Géricault und uncanny trends at the opening of the nineteenth century«. Art History 22: 159–183. Wir danken Frau Dr. Bernard für die Erlaubnis, die deutsche Version des Beitrags an dieser Stelle zu publizieren. 2 Die Texte S. Freuds werden zitiert nach: Gesammelte Werke, Frankfurt. a. M. 1960-1987 (G.W., Band in röm. Ziffern) und Gerhard Fichtner, Ingeborg Meyer-Palmedo, Freud-Bibliographie und Werkkonkordanz, Frankfurt a. M. 1989. Freud 1919h, G.W. XII, S. 235. 3 Georg Christoph Tholen, »Einleitung: Der befremdliche Blick«, in: Martin Sturm, Georg Christoph Tholen, Rainer Zendron (Hg.), Phantasma und Phantome. Gestalten des Unheimlichen in Kunst und Psychoanalyse, Linz 1995, S. 11-25.

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von den »psychischen Energien bildender Kunst« einen Sinn hat, dann hier. Das Unheimliche bezeichnet eine überschüssige Qualität, die sich nicht in Darstellungen einfrieden lässt, wenngleich sie in ihnen anschaulich werden muss, um auf ein »Jenseits der Bilder« verweisen zu können, welches verborgen bleibt. Um zu verstehen, wie dieses Verweisungsverhältnis funktioniert, wie also der Eindruck des Unheimlichen in Werken bildender Kunst erzeugt werden kann, mag eine Beobachtung von Hélène Cixous hilfreich sein. »Das Unheimliche« – schreibt sie – »zeigt sich nur am Rande von etwas anderem.«4 Wenn man sich die abgehackten Köpfe und Gliedmaßen ansieht, die Théodore Géricault malte (Abb. 1 und 2), wird augenfällig, was Cixous meint. Nicht die Köpfe als ganze wirken unheimlich, sondern nur randständige, auf den ersten Blick vielleicht sogar übersehene Details. Unheimlich ist, dass Münder und Augen geöffnet sind, so dass die Köpfe uns anzusprechen, anzustarren scheinen. Die Köpfe sind also möglicherweise – obwohl offensichtlich von ihren Leibern getrennt – nicht tot, sondern noch immer lebendig.

Abbildung 1: Théodore Géricault, Studie mit abgeschlagenen Armen und Beinen (Étude de

bras et de jambes coupés), Öl auf Leinwand, 52 x 64 cm, Musée Fabre, Montpellier 4 Hélène Cixous, »La fiction et ses fantômes. Une lecture de l’Unheimliche de Freud«, in: Poétique, 10 (1972), S. 199-216 (siehe auch in diesem Band S. 37-59).

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Abbildung 2: Théodore Géricault, Köpfe von Hingerichteten (Têtes de suppliciés), Öl auf

Leinwand, 50 x 61 cm, Nationalmuseum, Stockholm

Dieser Effekt ist in den Bleistiftstudien noch stärker als in den ausgeführten Gemälden (Abb. 3). Géricault zeigt keinen Toten. Worum es ihm geht, ist vielmehr der Ausdruck des Untoten, der die Lebenden mit seinen Blicken verfolgt. Nicht das Tote ist unheimlich, sondern das Tote, das nicht tot sein will, das noch zuckend sich bewegt, uns anlallt oder eben anstarrt. Dasjenige mithin, welches die identitätsbegründenden Abgrenzungen auflöst und seine Stoffe mit Vorliebe in ambivalenten Situationen findet.5 Dennoch lässt sich das Gefühl der Unheimlichkeit historisieren. Oder präziser, es lässt sich innerhalb dieses Gefühls zwischen einer psychischen Wirkstruktur, die nicht, oder nur schwerfällig und über lange Zeiträume wandelbar ist, und ihren Gegenständen unterscheiden, die an bestimmte historische Konstellationen gebunden sind, mit ihnen auftauchen und wieder verschwinden. Entsprechend kann man Konjunkturen des Unheimlichen verzeichnen. Ohne Zweifel erlebte Frankreich zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine solche Konjunktur.6 Aus ihr sollen drei Facetten vorgestellt werden, in 5 Anthony Vidler, The architectural uncanny: essays in the modern unhomely, Cambridge Mass., London 1992, s. »Preface« und »Introduction«, S. IX-XV u. S. 3-14. 6 Mladen Dolar, »›I shall be with you an your wedding-night‹: Lacan and the uncanny«, in: October, 16 (1991), S. 5-23.

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deren Mittelpunkt jeweils ein verunsicherndes Gefühl von Kontrollverlust und Grenzverwischung steht. Die Ängste, die zu Anfang des vorigen Jahrhunderts von untoten Toten, nicht zu domestizierenden Haustieren und von sexualisierten Kindern ausgelöst wurden – dies sind die Fälle, um die es hier gehen soll – haben symptomatischen Charakter. Sie hingen mit einer Verwirrung und Verwischung dessen zusammen, was gesellschaftlich als »belebt« respektive als »tierisch« oder aber als »kindlich« galt.

Abbildung 3: Théodore Géricault, Vier Studien eines abgeschlagenen Kopfes (Quatre études

d’une tête de guillotiné), Bleistiftzeichnung, 20,9 x 27,9 cm, Privatsammlung

■ II. Worauf diese Verwirrung zurückzuführen war, lässt sich bei meinem ersten Beispiel, den abgehackten Köpfen, recht genau bestimmen. Bekanntlich hatte Joseph Ignace Guillotin mit einem am 1. Dezember 1789 in die Nationalversammlung eingebrachten Antrag eine Revolution des französischen Strafwesens eingeleitet. Sein Vorschlag sah vor, alle zum Tode verurteilten Verbrecher, unabhängig von

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ihrem Stand, »mit Hilfe einer einfachen Mechanik«7 zu enthaupten.8 Dieses Verfahren, das erst 1792 akzeptiert und bald darauf in großem Stile eingesetzt werden sollte, war ein Resultat aufklärerischen Denkens. In ihm verbanden sich die Absicht, das Strafwesen zu humanisieren, mit der Möglichkeit, es zu rationalisieren. In den Augen ihrer Verfechter erschien die Guillotine für sämtliche Beteiligten als eine fortschrittliche und humane Lösung. Für den zu Bestrafenden, weil sie ihm die Martern der alten Hinrichtungsmethoden ersparte. Für die Zuschauer, weil sie die langwierigen und grauenerregenden Methoden der Vergangenheit durch ein kurzes Blutvergießen ersetzte. Für den Scharfrichter, weil sie ihn von dem monströsen »corps à corps«9 mit dem Hinzurichtenden befreite und ihn dadurch von einer außerständischen Existenz zu einem würdigen Organ der Exekutive werden ließ. Doch die Einführung der Guillotine brachte neue Schrecken und Unsicherheiten mit sich. Ihre maschinelle Effizienz nahm dem Publikum das Spektakel des Todeskampfes und damit die Gewissheit, dass der Hinzurichtende augenblicklich tot war oder nicht etwa doch, trotz der messerscharfen Trennung seines Kopfes vom Rumpf, eine Zeit lang weiterlebte und daher den eigenen Tod wahrnehmen konnte. Diese Unsicherheit sollte die Geschichte der Guillotine begleiten. Noch im Horizont der Revolution entlud sie sich beispielsweise in den Schauergeschichten eines Auberive, der unter dem Titel Anecdotes sur les décapités schon im Jahre 1797 vom Fortleben der Geköpften berichtete. Zwei Jahre zuvor hatte der deutsche Arzt Sömmering mit seinem Aufsatz Über den Tod durch die Guillotine eine Debatte innerhalb der medizinischen Fachwelt ausgelöst. Fällt – so fragte Sömmering bohrend – der Exitus tatsächlich mit dem Moment der abrupten Enthauptung zusammen? Und verliert der abgetrennte Kopf sofort jegliches Bewusstsein? Sömmering selbst verneinte beide Fragen. Da er glaubte, »daß 1. der Sitz des Empfindungsvermögens sich im Gehirn befindet und 2. Empfindungen statthaben können, selbst wenn die Versorgung des Gehirns mit Blut suspendiert oder nur schwach ist, bzw. nur partiellen Charakter hat«, folgerte er, dass »in einem durch diese Hinrichtungsform vom Rumpf abgetrennten Kopf die Empfindungsfähigkeit, die Persönlichkeit, das Ichbewußtsein noch einige Zeit lebendig

7 Joseph Ignace Guillotin, »Gesetzesvorlage«, in: Journal des débats et des décrets, 1. Dezember 1789, zit. nach Daniel Arasse, Die Guillotine. Die Macht der Maschine und das Schauspiel der Gerechtigkeit, Hamburg 1988, S. 21. 8 Zu den Konsequenzen s. Michel Foucault, Discipline and punish: on the birth of the prison, Übers. Alan Sheridan, London 1977, Bd. 1, insb. S. 12-15. 9 Arasse 1988 (wie Anm. 7), S. 10. Dorinda Outram, The body and the French revolution: sex, class and political culture, New Haven, London 1989, Kapitel 7.

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bleiben und der am Hals erlittene Schmerz noch nachwirkt.«10 Daniel Arasse bemerkt: »Schrecklich daran ist vor allem die aus der sofortigen Wirkung der Guillotine resultierende ›Ungleichzeitigkeit‹: Abrupt und unwiderruflich wird die Physis zerstört, während das Bewußtsein noch fortbesteht. Diese Gefährdung der Einheit von Leib und Seele genügt, um die todsichere Pünktlichkeit des niedersausenden Fallbeils eine fragwürdige Errungenschaft werden zu lassen. Die sofortige Wirkung der Guillotine wird zu einer Ungeheuerlichkeit in philosophischer Hinsicht: Sie zwingt dazu, das Ende des physischen Lebens von dem des psychischen Lebens zu unterscheiden. Dies aber bedeutet eine zeitliche Diskrepanz, bei der die Einheit des Subjektes in Stücke geht. […] Die Dauer der traditionellen Hinrichtungsarten konstituierte die Bewährungsprobe der hora mortis; mit dem Eintreten des Todes waren auch die Qualen des Sterbens beendet. Wenn aber wie Sömmering meint, ›der Guillotinierte so lange bei Bewußtsein ist, wie das Gehirn seine Lebenskraft bewahrt‹, dann muß der Enthauptete die ganze Zeit das Gefühl ertragen, gestorben zu sein. Die sofortige Wirkung der Guillotine führt somit zu etwas Paradoxem: einem fühlenden Kopf, ohne Körper, der nur eines denken kann: ›Ich denke, aber ich bin nicht mehr.‹ Die Guillotine […] stellt das beruhigende kartesianische Cogito in Frage und bedeutet für den Hingerichteten das Unding des erlebten Totseins.«11

Wenngleich Philosophen und Ärzte versuchten, die Behauptung vom Fortleben des Kopfes zu entkräften, blieb diese Vorstellung bis weit ins 19. Jahrhundert hinein eine der mächtigsten Schauerphantasien. Es nützte wenig, dass Pierre-JeanGeorges Cabanis in seinem Werk Rapport du physique et du moral de l’homme der Vorstellung entgegentrat, dass es im menschlichen Körper von einander unabhängige Zentren der Lebensprinzipien gäbe und das Gehirn die »Werkstätte des denkenden Prinzips« sei.12 Trotz seiner Bemühungen, das Gehirn als ein bloßes Anhängsel des Rumpfes zu definieren, welches von diesem abgelöst weder Existenz noch Empfindung haben könne, blieben die Geschichten von den untoten Köpfen, welche die eigene Hinrichtung überlebt hatten, weiter im Umlauf. Insonderheit beschäftigten sie die Imagination der französischen Romantik. Diese speiste sich gerade dort, wo es um Gewalt und Grausamkeit ging, mit Vorliebe aus Schreckbildern, die ihren Ursprung in der Revolution hatten und, abgelöst vom konkreten historischen Kontext ihrer Entstehung, ins zeitlos Monströse wuchsen. Für die Vorstellung vom Weiterleben guillotinierter Köpfe galt dies um so mehr, als die Praxis der öffentlichen Hinrichtung keineswegs mit der 10 Samuel Thomas von Sömmering, Über den Tod durch die Guillotine (1795), zit. nach Arasse 1988 (wie Anm. 7), S. 54; ebenso bei Jeremy Bentham, Anmerkung Nr. 31, in: Nina Athanassoglou-Kallmyer, »Géricault: politique et esthétique de la mort«, in: Régis Michel (Hg.), Géricault, Paris 1996, Bd. I, S. 121-141, insb. S. 130. 11 Arasse 1988 (wie Anm. 7), S. 54-55. 12 Pierre-Jean-Georges Cabanis, Über die Verbindung des Physischen und Moralischen in den Menschen, ebd., S. 59, ebenso Jean-Joseph Sue, Guyot de Fère. Vgl. dazu AthanassoglouKallmyer 1996 (wie Anm. 10), S. 130.

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Revolution verschwunden war, sondern sowohl von Napoleon als auch unter der bourbonischen Restauration fortgeführt wurde, wobei die letztere es immerhin auf drei bis vier öffentliche Enthauptungen pro Woche brachte.13 Schrecken, Grausamkeit und die Unsicherheit über das Weiterleben der Köpfe blieben erhalten. Sie nährten eine morbide Schauerliteratur, die sich an den »erschröcklichen« Einzelheiten des Untodes ergötzte, und provozierten eine Debatte, in der die Abschaffung der Todesstrafe gefordert wurde.14 Géricault ist mit beiden Tendenzen – der romantischen Begeisterung für das Schauderhafte und den liberalen Bemühungen um eine Strafrechtsreform – in Verbindung gebracht worden.15 Im weiteren Sinne dürften damit der ästhetische wie der politische Kontext seiner Arbeit zutreffend benannt worden sein. Als Erklärung seiner Beschäftigung mit den Exekutierten greifen derartige Interpretationen jedoch viel zu kurz. Denn, obwohl er zu den Kreisen liberaler Kritiker der Todesstrafe in Beziehung stand, ist ausgeschlossen, dass seine Bilder öffentlich ausgestellt wurden.16 Öffentlichkeit aber wäre die notwendige Voraussetzung politischer Wirksamkeit gewesen, ohne sie wäre der Appell – wenn man den Werken einen solchen unterstellen möchte – ungehört verhallt. Doch selbst die Annahme, dass der Maler für sich, in der Schutzzone seines Ateliers Kritik an der öffentlichen Strafpraxis angemeldet haben könnte, scheint durch den optischen Sachverhalt nicht gedeckt. Vergleicht man Géricaults Stockholmer Köpfe mit dem fünfzehn Jahre später entstandenen Bild, das Jacques-Raymond Brascassant vom Kopf des Königsattentäters Guiseppe Fieschi (Abb. 4) malte, so wird der Unterschied zwischen einem politisch gemeinten, an die Öffentlichkeit (wenn auch nicht notwendig an ein konkretes Publikum) adressierten Kopfstück und dem im Atelier verbleibenden, wesentlich künstlerischen Zwecken dienenden Bild Géricaults offensichtlich. Brascassant deutet mit der Silhouette der Guillotine und dem Haupt des Attentäters elipsenhaft die Geschichte an; anders als Géricault verzerrt er die Züge des Hingerichteten nicht, sondern gibt ihm eine geradezu porträthafte Würde; mit den Worten »A Fieschi« greift der Maler die Widmung auf, welche David seinem Bildnis des toten Marat gegeben hatte und borgt seinem Protagonisten so etwas von dessen revolutionärem Märtyrerglanz. Brascassants Bild zeigt, welcher Rahmungen die Darstellung eines abgeschlage13 Nina Athanassoglou-Kallmyer, »Géricault’s severed heads and limbs: the politics and aesthetics of the scaffold«, in: Art Bulletin, 74 (1992), S. 599-618. 14 Athanassoglou-Kallmyer 1996 (wie Anm. 10), S. 131f. 15 Athanassoglou-Kallmyer 1992 (wie Anm. 13), Anm. 120, passim; Sybille Beck, Das Motiv der Hinrichtung. Zur Repräsentation von Geschichte in der Kunst des 18. und 19. Jahrhunderts, Marburg 1997. 16 Zum liberalen Milieu während der Restauration vgl. Nina Athanassoglou-Kallmyer, »Imago belli: Horace Vernet’s ›L’atelier‹ as an image of radical militarism under the restoration«, Art Bulletin, 68 (1986), S. 269-280, sowie dies., »Liberals of the world unite: Géricault, his friends and la liberté des peuples«, Gazette des Beaux-Arts, 132 (1990), S. 227-242.

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nen Kopfes bedurfte, um öffentlich präsentabel zu werden: Erzählung, Porträt und Dedikation wirken zusammen, um das Grauenhafte zu nobilitieren und zu politisieren.17

Abbildung 4: Jacques-Raymond Brascassant, Kopf des Giuseppe Fieschi (Tête de Giuseppe

Fieschi), Öl auf Leinwand, 1836, Musée Carnavalet, Paris

17 Zum Fieschi-Kopf vgl. Ausst.-Kat. Le corps en morceaux, hg. Anne Pingeot, Paris, Musée d’Orsay 1990, S. 162; Athanassoglou-Kallmyer 1992 (wie Anm. 13), S. 131.

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Im Unterschied dazu bleibt der Schauder bei Géricault rahmen- und vor allem aber namenlos, also unfähig, Mitgefühl oder gar politische Empörung zu mobilisieren. Die Anteilnahme für die anonymen Hingerichteten dürfte sich weiter reduzieren, wenn man erfährt, dass das Bild keine dokumentarische Schilderung, sondern ein Produkt kalkulierender Montage ist. Nur den Kopf des Mannes malte der Künstler nach dem eines geköpften Diebes; für die Frau dagegen bediente er sich – wenn man seinem Biographen Clément glauben darf – eines lebenden Vorbildes, nämlich »eines kleinen buckligen Mädchen, das in den Ateliers Modell stand.«18 Nicht die politische Empörung über den gewaltsamen Tod der Geköpften also, sondern – so scheint es – das kühle Interesse an einem malerischen Bravourstück, welches den Toten lebendig und die Lebendige als tot zu zeigen vermag, dürften dem Künstler den Pinsel geführt haben. Vollständig befriedigt eine solche Erklärung aus rein artistischem Interesse allerdings nicht. Die Bilder mit den abgetrennten Köpfen und Gliedmaßen sind mehr als die »peinture sans sujet«, die Eugène Delacroix in ihnen erkennen wollte.19 Was sie bestimmt, ist eine ambivalente Mischung destruktiver und sexueller Regungen. Hierbei werden die Akzente kontrastierend gesetzt. Das Stockholmer Bild ist durch die Differenz zwischen männlichem und weiblichem Kopf geprägt, denen jeweils ein unterschiedlicher Ausdruck zugeordnet wird.20 Losgelöst von ihren Körpern verlieren diese »têtes d’expression« freilich die Eindeutigkeit und scheinen deshalb gerade Zustände des Lebens und nicht etwa des Todes oder Gestorbenseins vorzuführen: Schlafend die eine; von Schreck, Schmerz, vielleicht aber auch Erregung gekennzeichnet der andere. Genau genommen gehören diese Emotionen unterschiedlichen Momenten des Hinrichtungsprozesses an. Aggression, Angst, Erregung und Schmerz – wie ihn der männliche Kopf aufweist – haben ihren Ort vor bzw. im eigentlichen Augenblick der Enthauptung. Der aufgerissene Mund des Mannes zeigt exakt jenes »Schreien in alle Ewigkeit«, welches Lessing in seinem Laokoon als unschöne Fixierung eines partikularen Momentes aus dem Bereich der bildenden Künste verbannt wissen wollte. Der weibliche Kopf dagegen führt – auch dies ein Lessing’sches Moment – die schlafesgleiche Ruhe einer Toten21 nach der Hinrichtung vor. Abbreviatorisch fasst das Stockholmer Bild also die unterschiedlichen Gefühlslagen vor, während und nach einer Exekution zusammen und weist sie den beiden Geschlechtern zu.

18 Charles Clément, Géricault – Étude biographique et critique (1879), Paris 1973, S. 304, Nr. 105. 19 Eugène Delacroix, Journal 1822-1863, Paris 1980, S. 515-516; vgl. Inken Knoch, »Une peinture sans sujet? Étude sur les fragments anatomiques«, in: Régis Michel (Hg.): Géricault, Paris 1996, Bd. I, S. 143-160. 20 Michael Fried, Courbet’s realism, Chicago, London 1990, S. 27-28. 21 Gotthold Ephraim Lessing, Wie die Alten den Tod gebildet. Eine Untersuchung (1769), Stuttgart 1984, passim.

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Im Vergleich mit dieser recht theatralischen Distribution wirkt das Stilleben aus Montpellier, buchstäblich eine nature morte, subtiler und zugleich verstörender. Géricault verzichtet auf die Vieldeutigkeit des Physiognomischen und eine klare geschlechtliche Differenzierung. Dennoch ist auch bei den Gliedmaßen ein sexuelles Moment spürbar. Anders als beim Stockholmer Bild ist die Aggression hier jedoch nicht mehr Gegenwart, sondern nur noch Erinnerung, während die aktuelle Gefühlslage vom ruhigen Beieinander der Glieder bestimmt ist. Durch Anordnung, Lichtführung und malerische Behandlung suggeriert der Künstler ihre Zusammengehörigkeit: Zärtlichkeit, nicht Aggressivität bestimmt die Szene; fast wirkt es, als umarme der abgehackte Arm die abgetrennten Beine. Gerade das aber macht die Unheimlichkeit des Gemäldes aus. Denn Géricault suggeriert, dass Aggression und Auslöschung der Differenz zwischen den Geschlechtern die Vorbedingungen für Zärtlichkeit bilden. Dazu kommt ein drittes, nicht minder problematisches Moment: die Ausgrenzung des Betrachters. Sie ist für beide Darstellungen bestimmend, wird jedoch gegensätzlich akzentuiert. Im Stockholmer Gemälde wird die Anwesenheit des Betrachters vor dem Bild registriert, wobei dieser durch den abgeschlagenen Männerkopf – der wie ein maskulines Medusenhaupt wirkt – gleichzeitig fixiert und auf Abstand gehalten wird. Beim Bild aus Montpellier fehlt eine direkte Betrachteransprache. Hier wird der Zuschauer nicht explizit abgewiesen, doch das Bild verschließt sich ihm gegenüber im selbstgenügsamen Beieinander der Körperteile. Weder voyeuristisches Interesse noch narzisstische Identifikation – die beiden häufigsten Formen der Bezugnahme zwischen Bild und Betrachter – finden einen Ansatzpunkt. Das Gemälde gibt ihm weder ein Anderes, welches begehrt werden könnte, noch einen Spiegel des Selbst, nach dem er sich zu modellieren vermöchte. Auf diese Weise berauben die Bilder den Betrachter der Verfügungsgewalt über ihren Gegenstand. Sein Blick ist weder der des souverän Verfügenden noch der des eitel sich Bespiegelnden. In der Betrachterbeziehung wiederholt sich somit, worauf das Sujet der Bilder bereits verweist. Ihr Thema ist die Entmächtigung des männlichen Subjektes in dem Moment, da ihm bewusst wird, dass sein auf die Mutter gerichtetes Begehren am Einspruch und Einschreiten des Vaters scheitern, bzw. mit seiner Entmächtigung, Entmannung, Kastration enden wird.22 Diese ödipale Konstellation erklärt, weshalb sich Géricault im Stockholmer Bild die Artikulation geschlechtlicher Differenz nur als Scheitern vorstellen kann. Und zwar als ein Scheitern, das vom männlichen Protagonisten offensichtlich als einschneidender erlebt wird und das ihn stärker zeichnet als die weibliche Figur. Diese Konstellation erklärt aber auch, weshalb im Gemälde aus Montpellier Zärtlichkeit nur als das Resultat der Auslöschung geschlechtlicher Differenz präsentiert werden kann. Unheimlich ist dies, weil Géricault eine historische Re22 Freud 1916-17a, G.W. II, S. 341-350.

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miniszenz – die longue durée der Erinnerung an die revolutionäre Gewalt und deren kurzfristiges Wiederaufleben in den Hinrichtungen der Restauration – nutzt, um etwas dem (männlich gedachten) Individuum Vertrautes, aber Fremdgewordenes vor Augen zu stellen. Thema, wenngleich nicht Gegenstand der Bilder sind die Artikulation und die Erinnerung an das Scheitern des männlichen Begehrens in der ödipalen Phase: ein unheimliches Moment der psychosexuellen Entwicklung, das hier in auf die Geschichte verschobener Form wiederkehrt. Bezieht man die beiden Bilder auf das vorangegangene Schaffen des Künstlers, wird offenkundig, dass die Motive der geschlechtlichen Differenz und der Zerstückelung (wobei die letztere die Bedingung für die Darstellung der ersteren bildet) neu sind.23 Mit ihnen erweitert er seine Fähigkeit, Körper zu imaginieren. Zum ersten Mal erscheinen diese als teilbar, während sie zuvor – besonders in den Studien nach männlichen Modellen, aber auch in den durch die Verschmelzung von Reitern und Pferden erzeugten Hyperkörpern – stets als unauflösbarer Verband schwellend-angespannter Muskeln konzipiert worden waren: Phantasmen körperlicher Ganzheit und Unversehrtheit, welche der Furcht vor Fragmentierung mit einer Panzerung des Körpers bzw. seiner Verwandlung in einen Phallus begegneten. Die frühen Muskelmaschinen und Zentaurenphantasien Géricaults zeugen von der Abwehr von psychischen Kräften, die das malerisch entworfene Bild eines imaginären, vollständigen Selbst zu zertrümmern drohten. Weil es dem Künstler jedoch nicht gelang, diese Bedrohung in produktive künstlerische Energie zu verwandeln, musste er sie durch Aufbietung des Immergleichen – die Auftürmung von noch mehr Muskeln und immer irrwitzigere Verschränkungen von Pferd und Reiter – aus dem Kreis des Darstellbaren ausschließen. Anders wurde das erst, als die Kraft der Zerstörung nicht mehr bloß als eine beständig vorauszusetzende, aber um des Zustandekommens der Bilder willen auszugrenzende (und deshalb in diesen nicht zeigbare) Bedingung der Darstellungen begriffen wurde, sondern deren Form und Sujet zu prägen begann. In den besprochenen Bildern abgeschlagener Köpfe und zerstückelter Glieder entdeckte Géricault die Möglichkeit, Körper auf anderen Wegen als durch die zuvor eingesetzte narzisstische Projektion zu generieren. Damit vergrößerte sich sowohl das Spektrum seiner Darstellungsmöglichkeiten wie der Kreis des Darstellbaren: geschlechtliche Differenz wurde als die disruptive Kraft präsentabel, als die der Maler sie erlebt haben muss.24 Gleichzeitig gewann das Verhältnis des Künstlers zu seinen Sujets an Komplexität. Da diese nicht mehr ausschließlich als Extension oder Reflexion des Selbst 23 Gegen dieses Argument: Linda Nochlin, »Géricault and the absence of women«, in: Michel 1996 (wie Anm. 19), Bd. I, S. 403-17. 24 Für die Geschichte seiner Beziehungen zu Mutter und Tante siehe Stefan Germer, »›Je commence une femme, et ça devient un lion‹: on the origin of Géricault’s fantasy of origins«, in: Michel 1996 (wie Anm. 19), Bd. I, S. 439-440.

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fungieren mussten, wurden andere als rein identifikatorische Beziehungen vorund darstellbar. Die Objekte gewannen – dies war die Voraussetzung dafür, dass sie unheimliche Wirkungen auslösen konnten – den Schein eines Eigenlebens gegenüber der sie imaginierenden künstlerischen Subjektivität. Nicht länger vergrößerte Versionen des Selbst, konnten sie zu Manifestationen eines Fremden, Fremdgewordenen oder als fremd Erlebten werden. Künstlerisches Mittel, um die beständigen Variationen des Eigenen in Richtung auf ein als faszinierend (ebenso abstoßend wie anziehend) erfahrenes Fremdes zu überschreiten, war die Fragmentierung. Logischerweise änderte sich deshalb auch Géricaults Einstellung zu ihr. Denn er begriff die Möglichkeit, die Panzerung der Körpergrenzen imaginierend aufzubrechen, nun nicht mehr allein als eine angstbesetzte und deshalb im Akt der Gestaltung abzuwehrende Bedrohung, sondern im gleichen Maße als lustauslösende Vorstellung. Zeugnis für diese Lust an der Zerstückelung ist im Stockholmer Bild der zwischen Todesentsetzen und orgasmischem Stöhnen changierende Gesichtsausdruck des Mannes, während sie im Stilleben aus Montpellier nicht bloß einzelne Elemente affiziert, sondern die Stimmungslage der gesamten Darstellung prägt. Dieser Unterschied ist bedeutsam. Während die Lust an der Angst bei den Stockholmer Köpfen zur Angelegenheit des dargestellten Mannes gemacht und dadurch sowohl personalisiert wie in ihrer Reichweite begrenzt wird, wird sie bei den Gliedmaßen in Montpellier auf das ganze Gemälde ausgedehnt, bestimmt Komposition, Malweise und Farbauftrag, scheint also weniger von den präsentierten Körperteilen auszugehen, als der Empfindungsweise des Künstlers zu entsprechen. Die Behandlung von Köpfen und Gliedmaßen könnte kaum gegensätzlicher sein. Beim Stockholmer Bild definiert eine heftige, geradezu aggressive Pinselführung das Verhältnis des Malers zu seinem Sujet; ein blasses Licht isoliert die Gesichter voneinander; trotz der Draperien, welche der erste Blick für Betttücher oder Gewänder halten möchte, um sich die Fortsetzung der Körper vorstellen zu können, sind die, nach anatomischen Traktaten25 gemalten, Schnittstellen derart unmissverständlich dunkel- bzw. bräunlich-rot akzentuiert, dass kein Zweifel an der Abgehacktheit der Köpfe möglich ist. In Montpellier spielt Géricault dagegen mit den Ambivalenzen. Eine einheitliche atmosphärische Lichtführung verbindet die Gliedmaßen und isoliert sie aus dem dunkel, fast schwarz gehaltenen Umraum. So wird der Eindruck einer nachgerade innigen Verbindung der Körperteile erzeugt: Schönheit, nicht Schrecken ist die vorherrschende Emotion. Waren die Elemente des Stockholmer Bildes durch die fahlen Grün-, Braun- und Grautöne voneinander getrennt, war also der Akt der Zerstückelung in der Farbgebung wiederholt worden, so kennt die Darstellung in Montpellier den gegenteiligen Effekt. Ein nahezu goldener Ton, von den Rändern nach innen an Intensität zunehmend, schließt Arm, Schulter 25 Knoch 1996 (wie Anm. 19), S. 147-148.

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und Füße zusammen, während die Gelenkpunkte, an denen die brutale Zerstückelung sichtbar ist, in tiefe Schatten getaucht wurden, so dass der Betrachter sich die Körper aus einer gewissen Distanz als ganze, unversehrte imaginieren kann. Es eröffnen sich ihm also zwei konkurrierende, von der eigenen Einstellung abhängige und mit dieser changierende Sichtweisen: eine »heimelige«, für die Stimmigkeit, Ruhe und das Insichgeschlossensein des Motivs zählen, und eine »unheimliche«, welche die im Schatten verborgene, gleichwohl aber unableugbare Brutalität für den eigentlichen Gegenstand des Bildes, seine »verdeckte Wahrheit«, ja für die Bedingung seiner zunächst so augenfälligen Harmonie hält. Tendenziell weist auch die Stockholmer Darstellung in ihrer Mischung aus Lebens-, Todes-, Schlafes- und Erregungsmotiven ein derartiges Changieren zwischen dem Heimeligen und Unheimlichen26 auf, aber bei ihr bleibt den Assoziationen des Betrachters aufgrund der offensichtlichen Isolation der Köpfe und vor allem wegen der größeren Determiniertheit der Physiognomien ein wesentlich kleinerer Spielraum. Offenbar wächst der Grad der »Unheimlichkeit« einer Darstellung in dem Maße, in dem sie dem Betrachter die Möglichkeit eröffnet, schockartig zwischen zwei einander eigentlich ausschließenden Deutungen zu wechseln.

■ III. Freilich ist fraglich, ob der Betrachter überhaupt zu einer abschließenden Deutung kommen soll oder ob Géricaults Bilder nicht darauf zielen, möglichst lange jenes Gefühl von Unentscheidbarkeit zu erhalten, welches ihnen ihre spezifische Anziehungskraft garantiert.27 Jede einseitige Auflösung der Ambivalenzen, jeder Versuch, das malerisch formulierte »Weder-Noch« in verbale Posivitäten mit programmatischem Charakter zu verwandeln – die Bilder als Protest gegen die Todesstrafe oder als Bekenntnis zu einer bestimmten Form romantischer Ästhetik und selbst noch, wie hier skizziert, als Dramatisierung eines Freud’schen Szenarios – muss die Gemälde als Objekte der Anschauung verfehlen. Das zu Sehende lässt sich nicht vollständig in Interpretationen auflösen, welche ihm im Tausch für sein Geheimnis einen Sinn verleihen würden, sondern bewahrt nichtsymbolisierbare Reste, die eben, weil sie erklärungsbedürftig, aber nicht in der konventionellen Form des Verweises – ein Zeichen steht für eine Sache – zu erklären sind, für den Betrachter eine fortdauernde Irritation bilden. Das gilt nicht allein da, wo sich Géricault ausgefallenen Sujets widmet, son26 Freud 1919h, G.W. XII, S. 231-235. 27 Vgl. hierzu: Slavoj Zizek, »Grimaces of the real, or when the phallus appears«, in: October, 16 (1991), S. 45-68.

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dern stärker noch, wo er sich – wie bei seinen Pferdedarstellungen – an konventionalisierten Ikonographien und Bildelementen abarbeitet. Sein Interesse an ihnen wird meist biographisch erklärt. So gibt es Anekdoten, die von seiner frühen Begeisterung für das Reiten und Voltigieren berichten, ihn in Ställen, bei Zirkusreitern und als königlichen Kavalleristen beobachten, seinen reiterlichen Wagemut und Leichtsinn feiern und seinen vorzeitigen Tod auf die Folgen eines Reitunfalls zurückführen.28 Zu solchen Erzählungen passt, dass die Besessenheit sich in seiner künstlerischen Produktion fortsetzte, dass er mit Carles Vernet einen reputierten Tiermaler als ersten Lehrer wählte29 und dass er schließlich Pferde zu den wichtigsten Protagonisten seiner Bilder machte. Ein genauerer Blick auf diese Darstellungen lehrt allerdings, dass viele von ihnen mit der niederen Gattungsbezeichnung »Tierstück« kaum zutreffend beschrieben sind. Denn Pferde treten bei Géricault auf allen Stufen der Gattungshierarchie auf: in Historienstücken, Genreszenen und Porträts en face erscheinen sie nicht nur neben menschlichen Akteuren, sondern nehmen mitunter deren Stelle ein. An sich ist eine solche Substitution nicht ungewöhnlich. Die Kunstgeschichte kennt eine lange, auf einem Denken in physiognomischen Entsprechungen beruhende Tradition der Analogiebildung von menschlicher und tierischer Gestalt wie zwischen menschlichem und tierischem Verhalten.30 Neu an Géricaults Pferdebildern war, dass sie in einer Zeit entstanden, in der die epistemologische Basis der Mensch-Tier-Vergleiche zu bröckeln begann, so dass einige von ihnen aktiv dazu beitragen konnten, die Vorstellung von der Vergleichbarkeit des Humanen und des Animalischen aufzulösen. Natürlich geschah das nicht auf einen Schlag. Zunächst war das Pferd auch bei Géricault Stellvertreter des Menschen und Vergrößerung des Selbst. Es fügte sich in eine gesellschaftlich-ikonographisch und individuell-psychisch fundierte Logik der Symbolisierung und des Verweises, die dem Dargestellten durch Rückbindung in Systeme der Sinnstiftung jede Bedrohlichkeit nahm. Beim Gardejäger (Abb. 5) von 1812 oder den etwas später entstandenen frauenraubenden Zentauren kann deshalb von Unheimlichkeit keine Rede sein. Es sind mächtige Fiktionen der Einheit von Menschlichem und Tierischem, zu narzisstischer Identifikation einladend, oder konventionell-mythologische Repräsentanten eines triebbestimmten Lebens: Produkte einer männlichen Einbildungskraft, in der Frauen nur als Beute vorkamen. So lange die phantasmatische Austauschbarkeit von Mann und Tier gewahrt blieb, ließ sich diese Einheit behaupten und – wie beim Mazeppa (Abb. 6) – durch die Entgegensetzung beider Komponenten sogar noch festigen. Denn obgleich der rück28 Régis Michel, Géricault. L’invention du réel, Paris 1992, S. 144f. 29 Marc J. Gotlieb, The plight of emulation: Ernest Meissonier and French salon painting, Princeton 1996, S. 141. 30 Hier soll lediglich auf die Schrift des Arztes Gian Giacomo della Porta aus Neapel, Humana Physiognomia (1586), hingewiesen werden und auf die zahlreichen Studien von Charles Le Brun.

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lings auf das Pferd gebundene Held und das Tier zweifellos Antagonisten waren, gab Géricault ihrem Gegensatz eine derart beruhigende Reziprozität, dass er das Bedrohliche verlor und sich in eine muskulöse Männerphantasie verwandelte.

Abbildung 5: Théodore Géricault, Angreifender Offizier der Jäger zu Pferde (Officier de

chasseurs à cheval de la Garde impériale, chargeant), 292 x 194 cm, Öl auf Leinwand, 1812, Louvre, Paris

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Abbildung 6: Théodore Géricault, Mazeppa, 28,5 x 21,5 cm, Öl auf Leinwand, Privat-

sammlung

Beängstigend wurde die animalische Natur erst dort, wo die Gleichwertigkeit von Mensch und Tier bezweifelt wurde: sei es, weil der Reiter, wie Géricaults Kürassier (Abb. 7), verletzt worden war, sei es, weil ihm das Pferd – wie im Züricher Schmiedeschild (Abb. 8) – von vornherein überlegen war. Wo die phantasmatischen Identitätsprojektionen zerbrachen, wurde die Fremdheit zwischen Mensch und Tier thematisch. Keine Übergänge mehr zwischen Animalischem und Humanem: Die Pferde des Kürassiers und des Schmiedes waren weder Stellvertreter noch Triebrepräsentanzen der Männer, sondern ihrer Natur nach von diesen grundsätzlich verschieden. Ihre Unheimlichkeit resultiert aus der Verbindung der unbezähmbaren Kraft ihrer massigen Körper mit einem überlegen-bewussten Blick. Er durchbricht die alte Zentaurenlogik, welche dem Menschen die Ratio, den Tieren dagegen die Triebe zugesprochen hatte. An Géricaults Pferden erschreckt nicht das triebhafte Wesen, sondern die Ahnung, dass sie ein Bewusstsein besitzen, welches dem menschlichen gleich, wenn nicht gar überlegen ist, so dass sie sich der Kontrolle nicht aus tumb-störrischer Bockigkeit, sondern aus Berechnung entziehen werden.

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Abbildung 7: Théodore Géricault, Verwundeter Kürassier (Cuirassier blessé), 358 x 294 cm,

Öl auf Leinwand, um 1814, Louvre, Paris

Der Witz dieser Darstellungen besteht darin, dass sie die Überlegenheit der Pferde über die sie vorgeblich Lenkenden nicht allein durch die ungleichgewichtige Verteilung der Kräfte im Gemälde vor Augen führen, sondern diesen Eindruck durch den aktiv aus dem Bild gerichteten Blick der Tiere auch auf den Betrachter übertragen. Ihr Blick trifft ihn von oben herab. Wie die Figuren im Bild wird er also als klein und den Pferden unterlegen gedacht. Seinem Auge fehlt die Souveränität. Es findet keine Bestätigung, kann sich das Dargestellte nicht zu eigen ma-

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Abbildung 8: Théodore Géricault, Der Hufschmied (Le maréchal-ferrant), Öl auf Leinwand, 124,5 x 102,5 cm, um 1814, Kunsthaus, Zürich

chen, sieht sich statt dessen einem fremden Sehen unterworfen. Wie bei den abgehackten Köpfen ist die Entmächtigung des Betrachters – das Durchkreuzen seiner narzisstischen, auf die Bilder gerichteten Projektionen, durch das er aus einem von diesen Erhebung Erwartenden zu einem in seinem Begehren Ertappten wird – Voraussetzung dafür, dass die dargestellten Wesen den Anschein von Autonomie erhalten und darum überhaupt erst unheimlich wirken können. Das als unbezwingbar geschilderte Tier gewinnt durch diese Präsentation eine Fremd-

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heit und Bedrohlichkeit, die der entmächtigte Zuschauer nicht bloß als Sujet, sondern als eine im Moment der Betrachtung aktualisierte Erfahrung erlebt. Géricault hat zeitlebens an solchen, die Bildwirkung steigernden Strategien gearbeitet. Seine Beschäftigung mit den eigensinnigen, dunklen und regelrecht bösen Aspekten des Natürlichen dürften sich aus diesem Interesse erklären. Die bedrohliche Natur war dabei eine Chiffre für das den Betrachter abweisende Bild: Ihre Selbstbezogenheit und Selbstgenügsamkeit entsprach dessen Beharren auf Autonomie. Allerdings war die Abgrenzung nach außen bei den Gemälden nur Schein, Mittel, um die Involvierung des Betrachters durch seinen vorgeblichen Ausschluss aus dem Geschehen zu verstärken.31 Géricaults Entwurf einer verschlossenen, für sich sein wollenden und gerade in dieser aggressiven Alterität beängstigenden Natur wurde in zwei unterschiedlichen Modi artikuliert, die einander innerhalb der Entwicklung seines Werkes ablösten. Beide waren hyperbolisch. Der ältere wurde aus einer bis zur Auflösung getriebenen Übersteigerung ikonographisch-kompositorischer Topoi, der jüngere durch die dramatisierende Verabsolutierung empirischer Beobachtungen gewonnen. Die Darstellungen des verletzten Kürassiers und des Züricher Schmiedes entsprechen dem älteren Modus. Sie griffen auf die antike Bildformel des Rossebändigers zurück, doch einzig, um die für diese charakteristische symmetrische Kräfteverteilung zwischen Mensch und Tier auszuhebeln. Das geschah durch die kompositorische Anlage der Bilder wie durch die Auswahl der ikonographischen Elemente. Bei beiden Werken schrieb der Künstler die Pferde jeweils bildparallel und dominant in die Fläche ein, so dass sie Festigkeit und Monumentalität gewannen, während die sie Zügelnden solcherart in labile Diagonalen eingefügt wurden, dass ihnen die Kraft zur Beherrschung des Bildraumes fehlte. Der auf diese Weise geschaffene Gegensatz wurde durch die übrigen, jeweils durch binäre Oppositionsbeziehungen verknüpften Bildmittel differenziert und verstärkt. Innere Kraft gegen äußere Schwäche, Gerichtetheit gegen Ungerichtetheit der Bewegung, gezieltes Sehen gegen einen reflexiv gebrochenen Blick, auf allen Ebenen diente die Entgegensetzung der Relativierung der menschlichen Akteure. Ganz ohne Theatereffekte ging es dabei jedoch nicht ab. Die aufgestellte Mähne des Pferdes im Schmiedebild und die bemühte Dämonie der Augen der Tiere in beiden Gemälden lassen einen Wunsch nach Wirkung spüren, der unfreiwillig komisch wirkt. Dennoch waren gerade diese Übertriebenheiten gewollt, denn zeichenhaft sollten sie die grundsätzliche Wesensverschiedenheit zwischen Mensch und Tier akzentuieren. Um die Artikulation dieser Differenz geht es Géricault auch bei seinem zweiten Modus, doch bei ihm wird sie weder im Rückgriff auf konventionelle bildrhetorische Mittel noch durch die Konfrontation binärer Oppositionen gewonnen, sondern aus der empirischen Beobach31 Michael Fried, Absorption and theatricality: painting and beholder in the age of Diderot, Chicago 1980.

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tung entwickelt. Deshalb kann der Maler in vielen seiner Skizzen, Gemälde und Radierungen auf das menschliche Gegenüber der nun bildfüllend in Szene gesetzten Pferde verzichten oder aber die Rolle von Stallknechten, Reitern, Kutschern auf ein kraftloses Assistieren beschränken. Die Pferde des zweiten Modus waren sich selbst genug: die Fremdartigkeit ihres Wesens kam in ihrem Körperbau wie in ihrer Verhaltensweise klar zum Ausdruck. Vorderhand klingt das paradox. Schließlich könnte man erwarten, dass Darstellungen, die das Produkt ausgiebiger empirischer Studien waren und zugleich Kenntnis der aktuellen hippologischen Fachliteratur verrieten, sich durch eine große Nähe zu ihren Objekten auszeichnen würden. Doch im Falle von Géricault muss es so etwas wie einen dialektischen Umschlag gegeben haben. Je näher er den Tieren kam, je obsessiver er sich auf Einzelheiten von Ausdruck und Haltung stürzte, desto deutlicher trieb er die Fremdartigkeit seines Gegenstandes heraus. Mehr noch, je genauer der Künstler die Pferde beobachtete, desto weniger konnte er sich deren Verhalten erklären. Der vertraute Umgang mit ihnen nahm den Tieren also ihren Schrecken nicht, sondern steigerte ihn geradezu. Dabei war die Entfremdung durch Annäherung, welche in Géricaults Bildern fassbar wird, kein individuelles Problem, sondern reflektierte einen weitergehenden Bruch in der gesellschaftlichen Vorstellung vom Natürlichen und markierte zugleich das Ende eines bestimmten aufklärerischen Optimismus, der nicht nur von der Parallelität wissenschaftlicher und künstlerischer Forschungen geträumt, sondern künstlerische Praxis als aktive Aufklärung begriffen hatte.32 Alex Potts hat diesen Prozess analysiert. Mit ihm können wir innerhalb des Wandels der Naturvorstellung zwischen Aufklärung und frühem 19. Jahrhundert drei Phasen unterscheiden. Den Anfang markiert Georges-Louis LeClerc de Buffons Projekt einer Histoire naturelle von 1749 (Abb. 9), die nach einer Einleitung über den Menschen zum Pferd fortschritt, um sich dann den Schafen, Ziegen, Schweinen und schließlich den Hunden zuzuwenden.33 Diese Reihenfolge, erklärte der Naturforscher, entspreche der allgemeinen Vorstellung der Ähnlichkeiten und Differenzen der Tiere und der Art des Interesses, welches man ihnen entgegenbrächte. Die Natur wird also nach Ähnlichkeits- und überdies nach Vertrautheitsverhältnissen geordnet, wobei – denken wir an die bei Géricault eingetretene Entfremdung – die Nähe zwischen Mensch und Pferd besonders ins Auge fällt. In den Stichen, welche Buffons Text begleiten, ist von Nähe im Sinne von persönlichem Bekanntsein oder Umgang mit Tieren freilich wenig zu spüren. Sie folgen den Vorgaben des Autors, der für die bildliche wie die textliche Darstellung der Natur Repräsentativität, Vollständigkeit und Übersichtlichkeit gefordert hatte. Für die Illustratoren hieß dies, synthetisierende Produktion ide32 Alex Potts, »Natural order and the call of the wild: the politics of animal picturing«, in: Oxford Art Journal, 13 (1990), Nr. 1, S. 12-33. 33 Ebd., S. 15.

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aler Typen, ruhig ins Profil gewandt, so dass ihre charakteristischen Züge und ihr Körperbau klar erkennbar waren. Außerdem wurden sie durch Szenerie und Staffage stets in die gesellschaftlichen Zusammenhänge zurückgebunden, in denen man sie antreffen konnte. Im Ganzen also: eine mehrfacher Systematisierung unterworfene, domestizierte, vertraute und zugleich stillgestellte Natur.

Abbildung 9: Jacques de Sève, Illustration aus: Georges-Louis LeClerc de Buffon, Histoire

naturelle, 1749

In der zweiten Phase geriet ebendiese Natur in Bewegung. Als der englische Künstler und Pferdespezialist George Stubbs 1766 The anatomy of the horse vorlegte, stieß der Band nicht allein wegen der bis dahin unerreichten Präzision der auf zahlreichen Sektionen, Skizzen und Studien beruhenden Stiche auf begeisterte Aufnahme bei Fachpublikum und Laien.34 Grund für den Erfolg war auch, dass es dem Künstler gelungen war, seinen Pferdeskeletten und -écorchés (Abb. 10) den Anschein des Lebendigen zu geben, also den Eindruck zu erwecken, man 34 Ausführlich zu den anatomischen Arbeiten des Künstlers: Terence Doherty, The anatomical work of George Stubbs, London 1974, S. 5f., sowie S. 37f. und S. 84f.

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habe nicht etwa tote Tiere vor sich, sondern könne aus dem Sezierten sowohl die Prinzipien begreifen, nach denen ihr Körperbau organisiert war, als auch die Mechanismen verstehen, die ihrer Bewegung zugrunde lagen.35 Natürlich kannte der Band auch ruhig ins Profil gewandte Pferdedarstellungen, welche den Bau des Knochengerüsts, den Verlauf der wichtigsten Muskelpartien und die Lage der Hauptarterien zeigten. Doch das eigentliche Neue und vom Standpunkt der strengen Darstellungsregeln, welche Buffon ausgegeben hatte, geradezu Skandalöse an der Anatomy of the horse waren die trabend im Dreiviertelprofil gezeigten Pferde in unterschiedlichen Stadien des Seziertseins.

Abbildung 10: George Stubbs, Anatomische Ansicht eines Pferdes, aus: The anatomy of the

horse, London 1766, Taf. 13, Kupferstich

An ihnen wird ein epochaler Wechsel in der Art, das Natürliche zu denken, fassbar. Dass Stubbs die Regeln von Ruhe und Übersichtlichkeit zumindest in Teilen seines Werkes verletzen und durch bewegte, deshalb notwendig verzerrende Darstellungsprinzipien ersetzen konnte, hing mit der Verschiebung von Sein zu Leben als Ordnungskategorie des Natürlichen, oder disziplingeschichtlich gesprochen, der Ergänzung der vergleichenden Anatomie durch die sich entwickelnde

35 Christopher Lennox-Boyd, Rob Dixon, Tim Clayton (Hg.), George Stubbs: the complete engraved works, London, New York 1989, S. 56f.

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Physiologie zusammen.36 Ihren Niederschlag fand diese veränderte Haltung beispielsweise in den Werken des französischen Anatomen Georges Cuvier.37 Cuvier ersetzte das klassifizierende Tableau, in welchem die vergleichende Anatomie des 18. Jahrhunderts eine Vielfalt von Organen verschiedener Lebewesen zueinander in eine strukturelle Beziehung gesetzt hatte, durch eine beschränkte Anzahl von Funktionen, bei deren Ausführung die verschiedensten Organe eines Lebewesens zusammenwirkten. Atmung, Ernährung, Bewegung, Fortpflanzung, kurz: die Manifestationen einer neuen Qualität des Natürlichen, die man seine »Lebendigkeit« bzw. in unserem Falle seine »Animalität« nennen könnte, rückten ins Zentrum der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit. Um diese neue Qualität erfassen zu können, war ein Blickwechsel gefordert. Wer zu den Funktionsprinzipien des Lebendigen vordringen wollte, konnte nicht mehr an der Oberfläche der Körper stehen bleiben. Sondern musste, so wie Stubbs dies in seinen Illustrationen vorführte, zu den »verborgenen Knochengerüsten und eingehüllten Organen« vordringen, weil sie erst wirklichen Aufschluss über die Geheimnisse des Lebendigen versprachen. Die Wendung des Blickes von der Oberfläche in die Tiefe der Körper war von epochaler Bedeutung. Denn er lehrte, dass die äußeren Merkmale unzureichend und trügerisch sein konnten, Erkenntnis als Arbeit des Freilegens zu denken war und Wahrheit in der Tiefe vermutet werden musste. Und sie lehrten, dass die animalische Natur der Zeit unterworfen, endlich, oder deutlicher noch, todesverfallen und todesbringend war. Die Erkenntnis, dass Animalität und Mortalität unauflöslich miteinander verschränkt, die Erfahrung der Lebendigkeit also nicht von der des Todes abzulösen ist, prägt Stubbs’ Naturauffassung sowohl in den Anatomien, die wir bereits kennen, wie in seinen fiktiven Naturszenen im Kampf zwischen Pferd und Löwen. In beidem wird er nicht nur zum Vorläufer, sondern regelrecht zum Vorbild der französischen Romantiker. Géricault und Delacroix haben seine Anatomien und Kampfszenen kopiert. Freilich bedeutet die Übereinstimmung im Motivischen nicht, dass die Künstler die Naturauffassung teilen würden. Bei Stubbs und den französischen Romantikern steht die Natur im Zeichen des Todes. Doch für Stubbs hat diese Vorstellung nichts Negatives. Seine Pferde bewegen sich in einem Zwischenreich von Leben und Tod. Obgleich man sie gehäutet, ihrer Muskulatur beraubt und bis aufs Skelett seziert hat, traben sie tapfer weiter. Natürlich nutzt der Künstler den leisen Kitzel, der von einem wie grinsend wirkenden Pferdegebiss oder den wie belebt erscheinenden Augenhöhlen ausgeht. Doch seine Darstellungen haben nichts Gruseliges. Wenn man bedenkt, wie viele Knochengerüste durch die Texte der Schauerromantik klappern, merkt man, wie sachlich hier von Leben und Tod gehandelt wird. 36 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a. M. 1971, S. 322-341 (über Curvier). 37 Zu Curvier und Stubbs siehe Potts 1991 (wie Anm. 32), S. 24f.

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Diese optimistisch-aufklärerische Auffassung, die sich vom Gang in die Tiefe neue, nützliche Erkenntnisse erhofft, zerbricht in der dritten Phase der Veränderung des Naturverständnisses. Also in jener Zeit, der Géricault angehört. Nunmehr wird nicht nur die Hybris offensichtlich, die in dem Wunsch steckt, die Geheimnisse des Lebendigen zu lüften. Sondern es wird auch begriffen, dass diese Erkenntnisse heillos sind, weil sie das Pferd, welches bei Buffon noch als Vertrauter des Menschen erschienen war, in eine Art Maschine verwandeln, die nach ihren eigenen, dem Menschen einsichtigen, aber letztendlich fremdartigen Gesetzen funktioniert. In seinen empirischen Darstellungen wird Géricault zum Chronisten dieser Entfremdung. Zugleich protokolliert er die Enttäuschung über den Ausgang der aufklärerischen Experimente. Stubbs war angetreten, seinem Betrachter Durchblick zu verschaffen und dabei zu demonstrieren, dass das Einzelne sich auf das Wunderbarste in eine übergreifende Ordnung einfügte. Deshalb ist seine Natur, obwohl ihr der Tod eingeschrieben und obgleich sie den brutalen Kampf der wilden Tiere kennt, ohne Schrecken und deshalb letztlich auch nicht unheimlich. Géricault geben diese Ordnungen keinen Halt mehr. Wildnis und Zivilisation lassen sich nicht präzise scheiden. Aus den vertrauten Freunden der Menschen werden unkontrollierbare Bestien. Ihr Verhalten folgt – so wie das die Aufklärer postuliert hatten – eigenen Regeln. Aber diese sind dem Menschen fremd. Deshalb interessieren Géricault auch nicht die Ursachen, sondern die Effekte des Lebendigen. Nicht die übergreifende Ordnung des Lebens, sondern die Irreduzibilität seiner partiellen Manifestationen beschäftigen ihn. Wo Stubbs dem Tod seinen Stachel nahm, indem er ihn als Bestandteil des Lebens präsentierte, stellt Géricault die Beliebigkeit und Sinnlosigkeit des Todes eines Pferdes dar. Interessanterweise laden nun gerade diese aus der sicheren Ordnung des Natürlichen gelösten, vereinzelten Tiere die Projektionen des Betrachters ein. Auch wenn man sich schwerlich auf eine verbindliche Deutung einigen kann, wird sich kaum jemand mit der Erklärung zufrieden geben, dass die Tiere auf nichts weiter als auf ein dem Menschen fremdgewordenes Funktionieren der Natur verweisen. Vielmehr können sie – eben weil sie aus den Zwängen der Symbolisierung und Stellvertretung herausgelöst wurden – zu frei flottierenden Signifikanten werden, welche die Wünsche und Ängste der Betrachter anziehen und sie dazu bringen, dem scheinbar sinnlos Gewordenen aus eigenem Interesse eine neue Bedeutung zu verleihen.

■ IV Dass Bilder des Unheimlichen eine Beteiligung des Betrachters verlangen, erklärt, warum es so schwierig ist, verbindliche Kriterien für sie zu finden. Was als

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unheimlich empfunden wird, variiert nicht nur von Individuum zu Individuum, sondern ist zudem – wie wir sahen – historischem Wandel unterworfen und an spezifische historische Konstellationen gebunden. Was eine Epoche als gruselig empfand, mag die nächste belustigt oder achselzuckend verwerfen. Von den bisher gezeigten Beispielen wirken heute am ehesten die abgeschlagenen Glieder und Köpfe, schon bei den Pferden dürften die Meinungen auseinander gehen. Mein letztes Exempel – das Unheimlichwerden der Kindheit – mögen manche gar völlig aus dem Kreis der bisher gezeigten Bilder verbannen wollen. Denn wirkt der junge Alfred Dedreux (Abb. 11) nicht eher unglücklich als unheimlich? Löst er nicht eher Mitleid als Erschrecken aus? Nun ich denke, dass wir es hier mit dem Historischgewordensein des Unheimlichen zu tun haben. Wir müssen rekonstruieren, was wir nicht mehr nachempfinden können. Ich will das in zwei Schritten versuchen. Man könnte sie »vom Unglück« und »von der Macht« der Kinder überschreiben. Zunächst zum Unglück der Kinder. Die Kinderbildnisse, die eine kleine, aber distinkte Gruppe innerhalb Géricaults Œuvre bilden, weisen weder das Abstoßende der abgeschlagenen Köpfe noch die unkontrollierbare Vitalität der Pferde auf. Dennoch haben sie ein Merkmal mit diesen Beispielen gemeinsam. Sie besitzen jenen fremdartigen Blick, der auf eine Bewusstheit weist, die umso beunruhigender ist, als sie vom Betrachter nicht vollständig beherrscht werden kann. Vielleicht ist dieses Charakteristikum bei den Kindern sogar noch deutlicher als bei den Dekapitierten oder den Pferden, weil es nicht von stärkeren Effekten begleitet oder überlagert wird. Obwohl die Kinder im Vergleich mit dem zuvor Gesehenen geradezu still wirken, besitzen sie eine unabweisbare Präsenz. Géricault beschreibt sie mit wenigen, klaren Zügen und versetzt sie, wo er sie ganzfigurig über den Horizont ragen lässt, in eine dominierende, den Betrachter beherrschende Position. Beim Ganzkörperporträt des jungen Alfred Dedreux greift Géricault außerdem auf eine aus England kommende Mode zurück. Sie verlangte eine komplizierte Mischung aus kultivierter Natur und naturalisierbarer Kultur. Denn das Porträt sollte in keinem Fall bloßes Abbild sein, sondern etwas über den Dargestellten verraten und den Betrachtern ein Rätsel aufgeben, an welchem sie ihren Scharfsinn erproben konnten. Dazu bedurfte es zweier Operationen. Zunächst wurde der zu Porträtierende möglichst lässig in die Landschaft gelagert. Seine Haltung sollte nichts Affektiertes haben, sondern eben jene unerlernbare Selbstverständlichkeit besitzen, die den geborenen Aristokraten vom bürgerlichen Parvenu unterscheidet. Nachdem so Kultur naturalisiert worden war, wurde in einem zweiten Akt die Natur kultiviert. Dazu modellierte man die Pose des Darzustellenden nach der eines (mehr oder weniger) bekannten Kunstwerks. All dies hat Géricault, der gut mit den englischen fads and fashions vertraut war, bei Alfred Dedreux versucht. Das Kind ist exquisit, also mit Geschmack und Understatement gekleidet. Seine Haltung wirkt nicht geziert, sondern natürlich.

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Abbildung 11: Théodore Géricault, Alfred Dedreux als Kind (Alfred Dedreux enfant), Öl auf

Leinwand, 45,7 x 38,1 cm, um 1814, Metropolitan Museum of Art, New York

Und dennoch entspricht seine Pose der Haltung des Merkur aus Herculaneum. Trotz solcher Vorkehrungen wirkt der kleine Alfred nicht wie ein nonchalantes Mitglied der landed gentry. Sondern wie jemand, der in dem zu groß geratenen Körper eines Fremden gefangen und trotz seiner dominierenden Stellung in seiner Umgebung isoliert ist. Konzentriert man sich einmal auf den Faltenwurf von Alfreds goldbraunem Überwurf, kann sich überdies der irritierende Eindruck einstellen, dass das kleine Kerlchen drei Arme besitze, nämlich die beiden Kinderärmchen und einen dritten, im Überwurf versteckten.

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Offensichtlich funktionierte jenes alte angelsächsische Spiel, mit dem Reynolds die Kenner auf Kosten der Kinder amüsiert hatte, beim jungen Alfred nicht mehr. Warum nicht? Weil, so würde ich antworten, sich zwischen dem späten 18. und dem frühen 19. Jahrhundert die Vorstellung davon, was ein Körper und insbesondere ein kindlicher Körper war, geändert hatte. Wer ein Schlagwort für diese Entwicklung benötigt, könnte sagen, dass eine semiotische Definition des Körpers durch eine biologisch-psychologische abgelöst wurde. Wie hat man sich das vorzustellen? Reynolds hatte frei über den Körper des Master Crewe (Abb. 12) verfügen können und sich und seinen Betrachtern einen Spaß bereitet, als er dem Kind die Gestalt und das Gewand Heinrichs VIII. unterschob, so wie Holbein sie festgehalten hatte. Die Diskrepanz zwischen kindlichem Körper und königlichem Anspruch war offensichtlich. Sie sollte die Kenner herausfordern, ihren wit einzusetzen, um den scheinbaren Riss im Gefüge des Sinns eine Bedeutung abzugewinnen. Wit – von Friedrich Schlegel in seinen literary notebooks mit »Witz« übersetzt – meint eine Form der Gewitztheit, in der sich Bildungswissen mit der Fähigkeit zu assoziieren und zu kombinieren verbindet. Es ist ein Talent, welches sich am besten in Gesellschaft entfaltet, denn ein Rätsel kann mehrere Lösungen besitzen. Reynolds’ Verbindung des Kindes mit dem König beispielsweise konnte aktualisierend als Anspielung auf die Anmaßungen des jungen Herrn verstanden oder retrospektiv als Verweis auf den kindischen Charakter von Heinrich VIII. gelesen werden. Unabhängig davon, ob nun diese oder jene oder vielleicht gar eine völlig andere Deutung zutrifft, ist klar, dass Künstler und Kenner ein Spiel spielen, in dem es um Zeichen und nicht etwa um Kinder und deren Körper geht. In Master Crewe überlagern sich zwei semiotische Systeme: ein kunstgeschichtliches, das die Holbein-Motive umfasst, und ein aktuelles, zu dem die Proportionen und der physiognomische Ausdruck des Namensgebers zählen. Beide sind fiktiver Natur: ihnen entspricht nichts in der empirischen Realität. Master Crewe ist nicht mit dem gleichnamigen Kind identisch, sondern ein reines Geistesprodukt. Er konnte als Heinrich VIII. dargestellt werden, weil sein empirischer Körper nicht biologisch, sondern als ein transparentes Medium begriffen wurde, welches beliebige semiotische Codierungen vertrug. Reynolds konnte seine Körper beliebig manipulieren, weil er sie nicht als biologische Funktionseinheiten, sondern rein semiotisch als Verkettung und Überlagerung von Zeichen auffasste. Genau das unterscheidet Master Crewe von Alfred Dedreux. Und macht das Unglück des Jüngeren aus. Alfreds Körper musste einander widersprechenden Anforderungen gehorchen. Auf der einen Seite sollte er der neuen Vorstellung vom Kind entsprechen, so wie sie Pädagogik, Medizin, Psychologie, Anthropologie und viele andere aufklärerische Disziplinen im Laufe des 18. Jahrhunderts entworfen hatten. Er sollte kindlich sein, naiv vielleicht, aber geistige Gaben und Bildungstrieb erkennen lassen. Er sollte wohlgeformt, durch Sport, Haltungsübungen und richtige Ernährung gekräftigt sein. Sein Blick sollte Eigenliebe,

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Abbildung 12: Joshua Reynolds, Master Crewe als Heinrich VIII. (Master Crewe as Henry

VIII), Öl auf Leinwand, 139,7 x 110,5 cm, vor 1776, Privatsammlung

aber auch Liebe für seine Bezugsperson und – in Alfreds Alter – Gefühlskultur erkennen lassen. Und so weiter, und so weiter. Dazu sollte er immer noch den älteren Anforderungen nach aristokratischer Pose und kunstgeschichtlicher Anspielung entsprechen. So sowohl den neuen medizinisch, psychologisch, pädagogisch geformten als auch den alten semiotischen Körper zeigen. Anforderungen, die jeden überfordert hätten: kein Wunder, dass der junge Alfred unglück-

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lich, in seinem Körper gefangen und von seiner Umgebung isoliert wirkt. Und den kunstgeschichtlichen Scherz, den man mit ihm treibt, nur noch widerwillig erträgt. Freilich ist er kein bloßes Opfer. Und das gibt ihm einen unheimlichen Charakter. Wir hatten einleitend erkannt, dass es wiederum der Blick des Porträtierten ist, welcher dem Betrachter und damit all denjenigen, die über Alfred verfügen wollen, eine Grenze zieht. Dieser Blick wirkt bedrohlich, weil er verrät, dass Alfred weiß, wie ihm geschieht, und weil er seinen Peinigern Vergeltung anzukündigen scheint. Während man beim Porträt von Alfred Dedreux allenfalls von einer latenten Umkehrung der Gewaltverhältnisse zwischen Erwachsenen und Kindern sprechen kann, wird sie im Bildnis von Louise Vernet (Abb. 13) explizit gemacht. Mit ihr kommt nach dem Unglück die Macht der Kinder in den Blick. Anders als Alfred ist Louise mit ihrer Körperlichkeit zufrieden. Genau das aber macht sie gefährlich. Denn sie erzeugt kein Mitleid, sondern zeigt Lust und mag daher im Betrachter illegitime Gelüste erwecken. Sie ist alles andere als das brave Produkt fürsorglicher Erziehung. Kokett rutscht ihr, als sie sich flirtend dem Betrachter zuwendet, das Kleidchen von der Schulter, während sie seinem Blick nicht ausweicht, sondern ihn geradezu sucht, ja herausfordert. Eigentlich bedarf es gar nicht der überdimensionierten »Muschi« – auch im Französischen ist dieses obszöne Wortspiel geläufig – um zu begreifen, dass wir es mit einem sexuell initiativen Mädchen zu tun haben. Ist dieses Szenario allein schon aufgeladen genug, um den Rahmen einer simplen Männerphantasie zu sprengen, so wird es geradezu unheimlich, da Louise von dem auf sie gerichteten Begehren zu wissen scheint, ohne sich zu dessen Objekt zu machen. Statt dessen kehrt ihr Blick die Kräfteverhältnisse zwischen Bild und Betrachter um. Er lockt den Betrachter bloß, um ihn festzuhalten – als Louise Begehrenden festzuhalten. Er raubt ihm dabei Initiative und Kontrolle über das Sehen und verwandelt ihn seinerseits in ein Objekt. Was Louise mit uns treibt, geht über die bloße Zähmung des Blickes – die der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan bekanntlich für die charakteristischste Leistung der Malerei hielt – weit hinaus. Was Louise treibt, bewirkt eine Entwaffnung des phallischen Sehens, oder – um eine andere Figur Lacans zu bemühen – eine Trennung von Auge und Blick. Das Auge verbleibt in dieser Konstellation auf der Seite des Subjektes, aber es ist nicht mehr Träger des Blickes, sondern begehrt diesen: als etwas von außen Kommendes, für die Anerkennung seiner Autonomie jedoch Unverzichtbares und es genau deshalb auf ewig in defizienter – Freud hätte gesagt: kastrierter – Stellung Fixierendes. Das Kind gewinnt Macht über den erwachsenen Betrachter, weil es die Grenzziehung zwischen der Welt der Kinder und derjenigen der Erwachsenen ignoriert. Also eine zentrale Errungenschaft der aufklärerischen Pädagogik revidiert und dabei demonstriert, dass weder die Kleinen noch die Großen unschuldig sind. Die aufklärerische Pädagogik hat das immer gewusst, aber gerne beiseite

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Abbildung 13: Théodore Géricault, Louise Vernet als Kind (Louise Vernet enfant), Öl auf

Leinwand, 60,5 x 50,5 cm, um 1822, Louvre, Paris

geschoben. Denn zur Entdeckung der Kindheit gehörte auch die Erkenntnis, dass Kinder zwar noch keine Sexualität, wohl aber Ahnungen und Wissen vom Sexuellen besitzen. Rousseau, dem es am liebsten gewesen wäre, die Kleinen möglichst lange in einem Zustand der Unwissenheit zu halten, war pragmatisch genug, um zu erkennen, dass Kinder in zivilisierten Gesellschaften früher mit sexuellen Themen konfrontiert werden würden, als in ländlich-abgeschiedenen Regionen. Im Emile riet er den Erziehern deswegen:

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»Wenn ihr nicht sicher seid, [Euren Schüler] bis zum sechszehnten Lebensjahr über die Verschiedenheit der Geschlechter in Unkenntnis lassen zu können, so seht zu, daß er sie vor dem zehnten Lebensjahr kennen lernt.«38 Das Wissen um den Sex schied die Kinder von den Erwachsenen. Es war eines der Dispositive, mit deren Hilfe sich die Kindheit als eigenständige Periode abgrenzen und die Macht der Erziehenden über ihre Schutzbefohlenen festigen ließ. Sexualisiert man – wie Géricault dies beim Porträt von Louise Vernet tat – die Kindheit, so untergräbt man nicht allein den Mythos von der kindlichen Unschuld und der besonderen Schamhaftigkeit kleiner Mädchen. Sondern man zeigt zugleich, dass die von den Erwachsenen auf die Kinder projizierten Wünsche keineswegs bloß hehrer Humanität und Nächstenliebe entsprangen. Damit aber stürzte eine wohletablierte Trennwand zwischen den Sphären ein und begrub die Autorität der Erzieher unter sich. Dass dies sowohl einen Verlust als auch einen Gewinn bedeutete, wird im Vergleich mit den einige Jahre vor Louise Vernet von Phillip Otto Runge gemalten Hülsenbeck’schen Kindern (Abb. 14) deutlich. Wie Louise werden sie dem Betrachter in einer monumentalisierenden, den Horizont überragenden Weise gegenübergestellt. Aber anders als Géricault sucht Runge nicht die Konfrontation oder Herausforderung. Es geht ihm nicht um die Verwischung der Sphären der Kinder und der Erwachsenen. Vielmehr setzt er alles daran, einen Eindruck von der Besonderheit der kindlichen Erlebniswelt zu geben. In der gesteigerten Körperlichkeit wird – wie Jörg Traeger gezeigt hat39 – ein entschieden handgreiflicher, aber spezifisch kindlicher Umgang mit der Welt demonstriert; das haptische Verhältnis zur Welt wird dabei altersmäßig so differenziert, dass es als Ausdruck einer schrittweisen Entfaltung des Bewusstseins gelesen werden kann. Die Welt der Kinder wird gegen die Sphären von Arbeit und Berufstätigkeit, deren Zeichen am Horizont versammelt sind, abgeschottet. Das kindliche Dasein erfüllt sich in reiner Gegenwärtigkeit, ohne einen Gedanken an die Zukunft verschwenden zu müssen. Statt dessen scheint es, wie der urtümlich-kräfige Wuchs der Pflanzen nahe legt, als eine ungebrochen-ursprüngliche, geradezu mythische Welt beschrieben. Reflexiv-gebrochen, sentimentalischer Blick auf naive Periode, Kindheit als Utopie vs. Kindheit als Atopie: Ortlosigkeit. Statt in die Sicherheit der gesellschaftlich-ständischen, familiär-berufsorientierten, kreatürlich-natürlichen Ordnungen eingefügt zu sein, fällt Louise Vernet aus ihnen heraus. Mehr noch, sie konfundiert diese Ordnungen. Konsequenzen der Ambivalenz des Diskurses über die kindliche Sexualität in der aufklärerischen Erziehungsliteratur: das Kind ist naiv und wissend zugleich. Dies wird 38 Jean-Jacques Rousseau, Emile oder Über die Erziehung (1762), dt. Ausg. München 1971, S. 217. 39 Jörg Traeger, Philipp Otto Runge: Die Hülsenbeck’schen Kinder. Von der Reflexion des Naiven im Kunstwerk der Romantik, Frankfurt a. M. 1987.

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Abbildung 14: Philipp Otto Runge, Die Hülsenbeck’schen Kinder, Öl auf Leinwand,

131,5 x 143,5 cm, 1805-06, Kunsthalle, Hamburg

über Blick und Pose vermittelt und durch Attribute vereindeutigt. Während das bei Rousseau noch sozial und regional auseinander gehalten werden kann, findet bei Géricault eine Vermischung der Sphären statt. So entsteht eine Unheimlichkeit der Kinder, deren Körper mehr wissen, als ihnen eigentlich erlaubt ist. Die Verkehrung der Relation zwischen Blick und Objekt, und die Tatsache, dass er von einem Punkt aus erfasst wird, den er selbst nicht einnehmen kann, demütigen den Betrachter.

■ Thesen für den Schluss: Dialektik der Aufklärung, Géricault arbeitet die irrationalen Konsequenzen der fortschreitenden Rationalisierung heraus. Mehr über eine Sache zu wissen, heißt keineswegs, ihr den Schrecken zu nehmen.

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D. h. historische Spezifität des Unheimlichen, angewiesen Sein auf einen Betrachter. Unheimliches ist weniger eine Qualität der Bilder als Produkt des Zusammenwirkens von Bild und Betrachter. Warum bereitet das Vergnügen? Vielleicht weil es den rationalisierten Triumph über die eigenen Ängste, vielleicht aber auch gerade eine lustvolle Regression ermöglicht. Autonomie des Bildlichen im Sinne von Luhmann als Bedingung und Form einer gesellschaftlichen Wirkung. Das Unheimliche als Grenze der Interpretation. Abschlussteil über den künstlerischen Nutzen der Beschäftigung mit dem Unheimlichen. Verhältnis von Unheimlichkeit und deren dringlichem Substrat. Was inszeniert wird, ist eine Überschreitung des Bildes auf eine hinter diesem vermutete Realität hin; ein anti-ästhetischer Zug im Interesse einer Erhöhung der Effektivität des Ästhetischen. Dank an Julia Bernard, Werner Busch, Viktoria von Flemming, Edda Hevers, Thomas Kirchner, Régis Michel und Robert Simon. Abbildungsnachweis: Abb. 1, 2, 3, 5, 6, 7, 8, 11, 13, in: Germain Bazin, Théodore Géricault. Étude critique, documents et catalogue raisonné, Paris 1994. Abb. 4 in: Ausst.-Kat. Das Fragment – Der Körper in Stücken, hg. Anne Pingeot, Paris, Musée d’Orsay, Frankfurt a. M., Kunsthalle Schirn 1990, Frankfurt a. M. 1990. Abb. 9 Archiv des Autors. Abb. 10 in: Venetia Morrison, The art of George Stubbs, London 1989. Abb. 12 in: Ausst. Kat. Reynolds, hg. von Nicholas Penny, London, Royal Academy of Arts 1986, London 1986. Abb. 14 in: Uwe M. Schneede, Helmut Leppien (Hg.), Hamburger Kunsthalle: Meisterwerke, Heidelberg 1994.

■ Klaus Herding

Finster, lauernd, ungreifbar – die vertraute Altstadt als Hort des Unheimlichen bei Charles Meryon

■ Das Unheimliche als Enigma Am erstaunlichsten an Freuds Untersuchung Das Unheimliche ist zweifellos, dass der Psychoanalytiker gleich im ersten Absatz das Unheimliche dem »Stoff der Ästhetik« zuordnet;1 erst gegen Ende wendet er sich dem Unheimlichen im realen Leben zu. Tatsächlich kristallisiert sich in seiner Untersuchung (trotz aller Lücken und Schwächen2) nicht nur eine begriffliche Dimension des Unheimlichen heraus, sondern auch eine konkrete Beschreibung des ästhetischen Ausdrucks, in dem sich dieses Phänomen offenbart und verbirgt. Charles Meryon ist einer der wenigen Künstler, die unter dem »Schreckhaften, Angst- und Grauenerregenden«3 nicht nur gelitten, sondern ihm auch künstlerischen Ausdruck verliehen haben. Meryon hat seine traumatisierte Wahrnehmung so gestaltet, dass in seinen Radierungen die schreckhafte (d.h. ihn, den Künstler, nicht nur den Betrachter, erschreckende4) Dimension als Bruch mit den ›normalen‹ Wahrnehmungsgewohnheiten bewahrt blieb – nicht nur im Motiv, sondern in der künstlerischen Form selbst. Es ist kaum zu glauben, dass noch niemand in den Diskurs um Meryon, den Künstler des Unheimlichen par excellence, Freuds Abhandlung über Das Un1 Sigmund Freud, Das Unheimliche (1919), in: Gesammelte Werke, Bd. XII, S. 227-268 (i.f. zitiert als: Freud 1919h, G.W. XII), S. 229. 2 Es geht nicht an, Freuds Aufsatz nach fast 90 Jahren ohne Rücksicht auf die reichhaltige Rezeptionsgeschichte hier einer unmittelbaren Kritik zu unterziehen. Eine Abhandlung, die fast ein Jahrhundert lang Anstöße gibt, zählt selbstverständlich zu den großen kulturgeschichtlichen Leistungen. Gleichwohl geht es nicht mit rechten Dingen zu, dass Freuds Abhandlung keine weitere grundlegende gefolgt ist. Denn es ist ja allzu offensichtlich, dass sie nicht genügen kann. Unter die methodischen Fehler rechne ich vor allem, dass Freud nicht zwischen dem offensichtlichen und dem versteckten Unheimlichen unterscheidet. Man könnte auch sagen, dass er das Unheimliche nur dort erfaßt, wo es motivisch als Erschreckendes vor Augen tritt, nicht aber dort, wo es sich durch die sprachliche (oder bildkünstlerische, musikalische usw.) Form selbst als unheimlich konstituiert. 3 Freud 1919h, G.W. XII, S. 229. 4 Es wird zu wenig beachtet und ist doch äußerst hellsichtig (vielleicht nicht einmal vom Autor selbst in ganzer Konsequenz bemerkt), dass Freud das selbstreflexive Adjektiv »schreckhaft« und eben nicht sofort das aktiv auf das Gegenüber bezogene Epitheton »erschreckend« wählt. Es ist, bezogen auf Meryon, von primärer Bedeutung, diese beiden Seiten zu sehen.

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heimliche eingebracht hat. Daher seien, im Blick auf Meryon, Freuds Hypothesen ganz kurz in Erinnerung gerufen (ohne seine Ausführungen zu E. T. A. Hoffmanns Sandmann noch einmal nachzuzeichnen). Etymologisch wie phänomenologisch kommt Freud bekanntlich »zum nämlichen Ergebnis«: das Unheimliche gewinne seine emotionale Wirkung aus seinem »verhüllten Charakter«; es sei jene irritierende, verunsichernde, aufwühlende »Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht«.5 Das Vertraute kann nur dadurch unvertraut und fremdartig wirken, dass es den Schein des Vertrauten zugleich behält und sprengt. Doch die Störung des Vertrauten erfolgt oft latent, nicht immer offensichtlich; deshalb hebt Freud bei Gutschkow das Beispiel des ausgetrockneten Teiches hervor, über den man nicht gehen kann, »ohne dass es Einem immer ist, als könnte da wieder einmal Wasser zum Vorschein kommen«.6 Umgekehrt kann diese Störung aber auch auftreten als ein Hervorbrechen dessen, was verborgen bleiben sollte. Daher hebt Freud bei Schelling hervor: »Unheimlich nennt man Alles, was […] im Verborgenen […] bleiben sollte und hervorgetreten ist«.7 Beides begegnet uns bei Charles Meryon. Der Künstler, ein Freund Baudelaires, der um die Jahrhundertmitte in dem zerstörerischen Umbruch lebte, den Haussmann in Paris anrichtete, ein Republikaner und bewusster Gegner des Zweiten Kaiserreichs, doch psychisch krank und voller Angstzustände, war wohl der Hellsichtigste unter den introspektiven Künstlern, die das französische 19. Jahrhundert hervorgebracht hat. Meryons Feld ist das alte Paris, das unter Haussmann buchstäblich umgegraben und seines vertrauten Anblicks beraubt wurde – in einem Maße, wie wir es in Kenntnis der uns wiederum vertraut gewordenen Boulevards kaum mehr erahnen können. Erst wenn man die Stadtplanung unter Napoleon III. beachtet, die in verkehrs- und militärgerechten Straßenachsen die sinnfällige Bestätigung politischer Macht suchte8, eine fieberhafte Bauspekulation auslöste und damit eine »ceinture rouge« aus Elendsquartieren um die Hauptstadt zog, kann man Meryons Stadtbild als Gegenmodell begreifen. Den imperialen Fassaden werden bei ihm Armenviertel und Hinterhöfe entgegengesetzt, die dem gleichen Verfalls5 6 7 8

Freud 1919h, G.W. XII, S. 231. Ebd., S. 234 (gesamtes Zitat von Freud durch Sperrdruck markiert; kursiv: K. H.). Ebd., S. 235 (gesamtes Zitat von Freud durch Sperrdruck markiert; kursiv: K. H.). Vgl. dazu u. a. David P. Jordan, Transforming Paris. The life and labors of Baron Haussmann, New York u. a. O. 1995 (dt.: Die Neuschaffung von Paris, Frankfurt a. M. 1996). Baumaßnahmen und Graphik werden stärker verzahnt in der teilweise nützlichen maschinenschriftlichen Diss. von Dennis Paul Costanzo, Citysacpe and the transformation of Paris during the Second Empire, University of Michigan, Ann Arbor, 1981, Meryon hier S. 68-85. Man darf dabei aber eines nicht übersehen: Meryon konzipierte 1852 seine Radierungen wie einen Schutzschild gegen das, was passieren könnte; der tatsächliche Abriss im großen Stil begann erst Mitte der 1850er Jahre, und erst 1859-60 publizierte Léopold Flameng Paris qui s’en va, eine bekannte Folge von Radierungen.

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prozess ausgesetzt sind wie die Natur. Dies demonstrierte der Künstler in einer zweiundzwanzig Blätter umfassenden Folge von Radierungen des alten, untergehenden Paris, die er 1852-54 (mit späteren Ergänzungen) schuf (Abb. 1), und zwar im Vorgriff auf eine ferne archäologische Zukunft, in der diese alten Reste von Paris und damit auch seine Radierungen wieder ausgegraben würden. Sein Zyklus, genannt Eaux-fortes sur Paris, sollte auch ihn selbst umfassen; zu diesem Zweck ließ sich Meryon von einem anderen Freund, Félix Bracquemond, zeichnen, um das Bildnis dann, als wäre es ein versteinertes Relief, als Radierung wiederzugeben (Abb. 2), zusammen mit den anspruchsvollen Versen:

Abbildung 1: Charles Meryon, Eaux-fortes sur Paris, Deckblatt, Radierung, 1852 (Schnei-

derman 1990, Nr. 22 I)

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Messire Bracquemond A peint en cette image Le sombre Meryon Au grotesque visage (Der edle Herr Bracquemond Hat in diesem Bild gemalt Den düsteren Meryon In seiner grotesken Gestalt).

Abbildung 2: Charles Meryon und Félix Bracquemond, Bildnis Meryons, Radierung,

2. Zustand, 1854 (Schneiderman 1990, Frontispiz)

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Sein eigenes Bild in dieser Form zu veröffentlichen, war ungewöhnlich. Eine auf die Vergangenheit gerichtete, scheinbar antimodernistische Vision wird damit zum Angriff gegen modernism, d. h. gegen das moderne, aber aus Meryons Sicht inhumane Leben gewendet. Das Deckblatt des ohne Auftrag entstandenen Zyklus (Abb. 1) ist ebenfalls in Form einer Versteinerung gehalten. Damit setzt Meryon nicht nur seine Arbeit, sondern auch Paris mit einem naturgeschichtlich längst untergegangenen Lebewesen gleich. Wir sind hier weit entfernt von jener die Vergangenheit verklärenden Geschichtsvorstellung, von der etwa Piranesis Titelblatt zu Il Campo Marzio geprägt ist.9 Dort ist der Stein sorgfältig zubehauen, der Name des Künstlers in Art einer antiken Inschrift eingemeißelt; für die Darstellung (das eigene Werk) wird der gleiche Rang wie für das Dargestellte (die Antike) beansprucht. Meryon dagegen bezieht seinen Namen, auch typografisch, in den naturgeschichtlichen Zerfallsprozess ein; er entrückt die eigene Zeit in eine vorweggenommene (vorgeschichtliche) Vergangenheit und erklärt das Deckblatt zum archäologischen Zufallsfund einer fernen Zukunft, in der man vielleicht einen Hinweis auf das alte Paris in Form einer Versteinerung auf dem Meeresgrunde finden mag. Den Untergang der als unmoralisch angesehenen Großstadt10 zu behaupten und sie dem natürlichen Zerfallsprozess preiszugeben, war seit der Französischen Revolution eine die Ewigkeit repräsentativer Bauten unterschwellig bedrohende Vorstellung. 9 In diesem Zusammenhang wird es für den Leser am einfachsten sein, Piranesis Titelblatt nachzuschlagen in Ausst.-Kat. Charles Meryon, Paris um 1850, Zeichnungen, Radierungen, Photographien, hg. von Margret Stuffmann, Frankfurt a. M., Städelsches Kunstinstitut und Städtische Galerie, Hamburg, Hamburger Kunsthalle, Den Haag, Haags Gemeentemuseum, 1975-76, Stuttgart 1975, S. 81. Dieser Katalog ist für den vorliegenden Versuch grundlegend. Was die Radierungen betrifft, gelangten danach zu ähnlichen Schlüssen Gabriele Hammel-Haider, »Bemerkungen zu Meryons Stadtlandschaften«, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 40, 1977, Nr. 3-4, S. 245-264, sowie James Leo Yarnall, »Meryon’s mystical transformations«, in: The Art Bulletin LXI, 1979, Nr. 2, S. 289-300. Neben anderen, weiter unten genannten Arbeiten sind für einen allgemeinen Überblick, der hier nicht geboten werden kann, jetzt maßgeblich: Richard S. Schneiderman, The catalogue raisonné of the prints of Charles Meryon, London 1990 (bespr. v. David P. Becker, in: Print Quarterly VIII, 1991, Nr. 1, S. 91-97); Roger Collins, Charles Meryon. A life, London 1999 (mit besonderer Betonung des Seemann-Phase Meryons; bespr. v. Martin Hopkinson, in: Print Quarterly XVII, 2000, Nr. 3, S. 314-315). Zum Forschungsstand vgl. auch Roger Collins, »Où en est notre connaissance de Meryon?«, in: Nouvelles de l’Estampe, Okt. 1993, Nr. 130-131, S. 19-25. – Das Deckblatt von Meryons Folge ist bereits der zweite Versuch des Künstlers in dieser Art, eine zukünftige Vergangenheit zu antizipieren: 1850 überließ es ihm sein Lehrer Eugène Bléry, das Deckblatt seiner eigenen Serie Album de six pièces gravées sur nature près Dampierre zu radieren; Abb. in: Ausst.-Kat. Meryon 1975 (wie Anm. 9), S. 17. 10 Wie Adele M. Holcomb, »Le stryge de Notre-Dame: Some aspects of Meryons’s symbolism«, in: Art Journal 31, 1971-72, Nr. 2, S. 150-157, nachgewiesen hat, kommen hier mehrere Traditionsstränge zusammen; keineswegs wird Paris erst bei Meryon zum Sündenbabel (so Ausst.-Kat. Meryon 1975 [wie Anm. 9], S. 10), der die Situation allerdings besonders anschaulich beschrieben hat: »Il y a, dans les grands centres de civilisation, d’immenses trous à

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Meryon bearbeitet das alte Paris also in dem Bewusstsein, dass es dem Untergang geweiht ist. Er gestaltet das noch Gegenwärtige so, dass es von der Ahnung des Untergangs gezeichnet ist, der Tod vorweggenommen wird, obwohl die Objekte (La Pompe, La Morgue, La Rue des mauvais garçons) kristallklar als präsent gezeichnet sind. Es geschieht hier nichts Grauenerregendes, aber dergleichen könnte sich im nächsten Augenblick ereignen, und dies wird indiziert durch das, was Baudelaire und Benjamin den shock nannten: durch abrupten Licht- und Schattenwechsel, durch die Wiedergabe des Festen als brüchig und des Unfesten als fest.11 Der Künstler macht dadurch das Bild des alten Paris zur Chimäre, er untergräbt das Gefühl des Vertrauten, das im zeitgenössischen Besucher der Altstadt Vertrauen auslöste – dies alles, ohne zunächst »erschreckende« Motive zu präsentieren. Man könnte Freud vorhalten, dass er zu rasch auf das schon im Motiv Beunruhigende abzielt, auf »das Motiv des Sandmannes, der den Kindern die Augen ausreißt«;12 dadurch begibt er sich der Möglichkeit, dem Unheimlichen im Duktus der Sprache (der künstlerischen Form) selbst nachzuspüren – er verdeckt den Blick auf das unterschwellig Irritierende, das nicht im explizit erschreckenden Motiv, sondern bereits in der irrlichternden Erzählweise E. T. A. Hoffmanns liegt. Auf die bildende Kunst übertragen: Über das Unheimliche vor dem Unheimlichen, das in Stadt- oder Landschaftsbildern ohne Handlung und ohne Figuren lauernd hervorschaut, macht sich Freud keine Gedanken. Zu diesen bloßen Formen des Unheimlichen kommen bei Meryon jedoch auch beunruhigende Motive, in gleichzeitigen oder späteren Radierungen, in denen der ehemalige Seemann sich wie auf einem Schiff im Ozean zu bewegen scheint, bei wildem Wetter, so dass um ihn herum alles wogt und durcheinander gerät (Le Collège Henri IV), oder in ungewohnten Bahnen verläuft, so dass durch die Luft plötzlich seltsame Meeresgeschwader in Paris einrücken (Le Ministère de la Marine) oder Vogelschwärme durch ihre Übergröße den Alltag bedrohen (Le Pont-au-Change). Das noch nicht fassbare Ereignis einer unvermutet hereinbrechenden oder unmittelbar bevorstehenden Katastrophe wird in scheinbar herkömmliche Stadtveduten eingebunden und erweist sich gerade dadurch als inkompatibel mit diesen: Proportion und Perspektive werden gestört, aber man sieht nicht – und das löst die Irritation des Unheimlichen aus – in welcher Absicht, mit welchem Ziel unsere Sehgewohnheiten untergraben werden. Und doch gibt es einen unübersehbar weiten, unauslotbaren und daher wiederum irritierenden Spielraum zwischen dem latent und dem patent Unheimlichen.13 11 fumier ou les vices croissent à foison …« (Brief v. 20. 5. 1849 an den Vater; zitiert nach Gustave Geffroy, Charles Meryon, Paris 1926, S. 39). 11 Diese Umkehrung hat Courbet, der Meryon kannte, in seinen Meeresbildern übernommen. 12 Freud 1919h, G.W. XII, S. 238 (Hervorhebung Freuds). 13 Auf den Begriff des Unheimlichen bei Meryon bin ich erstmals eingegangen in meinem Aufsatz »Meryons ›Eaux-fortes sur Paris‹ – Probleme der Verständigung im Second Empire«,

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So weit in aller Vorläufigkeit einige Stichworte zu den im- und expliziten Mitteln Meryons, das Heimliche aufzustören, zu enthüllen, zu verfremden, es kalt und nackt, gewissermaßen ausgezogen, zu präsentieren und ihm dadurch jede vertraute Anmutung zu nehmen. Um aber nicht zu viel vorwegzunehmen, sei nun gleich der Blick auf einige Arbeiten aus dem Zyklus Eaux-fortes sur Paris gerichtet.

■ Les mystères de Paris14 Zu den Eigenschaften, die, auch bei Freud, das Unheimliche bestimmen, das sich eigentlich der Bestimmbarkeit entzieht, gehören das Gefährliche und das Rätselhafte.15 Beides löst Angst aus (z. B. bei E. T. A. Hoffmanns Nathanael). Was löst nun bei Meryon Angst aus, was ist hier als zugleich gefährlich und rätselhaft inszeniert? Beginnen wir mit der Radierung La Pompe Notre-Dame von 1852 (Abb. 3), einem Blatt, das ein Jahr später im Salon ausgestellt war. Wir befinden uns im 14 in: Kritische Berichte 4, 1976, H.2/3, S. 39-60 – dort in einem weiteren und tieferen Zusammenhang, als ich ihn hier präsentieren kann. Alle Leser, die Näheres über Meryons implizite Sozialkritik, aber auch über sein Verhältnis zur Poesie erfahren möchten, seien auf diesen Aufsatz verwiesen. Mit der Unterscheidung zwischen latent und patent Unheimlichem soll keine zeitliche Abfolge konstruiert werden. In welcher Reihenfolge Meryon seine Blätter gezeichnet und radiert hat, ist trotz des neuen, chronologisch angelegten Kataloges von Schneiderman 1990 (wie Anm. 9) nicht in jedem Falle bekannt. Einen Überblick der 25 Blätter, die zwischen 1852 und 1854 radiert wurden und mit den Eaux-fortes sur Paris assoziiert werden können, bietet Asher Ethan Miller, »Autobiography and apes in Meryon’s ›Eaux-Fortes sur Paris‹«, in: The Burlington Magazine CXLI, 1999, S. 4-11, hier S. 10-11. Man weiß aber, dass das bereits 1850 gezeichnete Blatt Le Petit Pont (Abb. in Ausst.-Kat. Meryon 1975 [wie Anm. 9], S. 105 sowie Schneiderman 1990 [wie Anm. 9], Nr. 20 I/IV/VI/VII) am Anfang stand. Zwölf Blätter der Serie sind zwar nummeriert und Meryon selbst hat sie als die »douze pièces principales de cette suite« bezeichnet (vgl. Charles Meryon, »Mes Observations« [1863], publiées par Philippe Verdier, in: Gazette des Beaux-Arts 125, Dez. 1983, S. 221-236, Zitat S. 224), doch ist nicht immer eindeutig, ob diese Nummern der Reihenfolge der Publikation der Radierungen entsprechen. Möglicherweise hat Meryon sich eine feste Reihenfolge vorgenommen, die dann von ihm selbst verworfen oder durch äußere Umstände umgestoßen werden musste. Unabhängig davon geht es im vorliegenden Versuch um eine ideelle Abfolge von einem vorbereitenden Stadium des Unheimlichen hin zu dessen unverkennbarem Ausbruch. Eine solche Systematik hilft, Meryons Denkprozess zu entschlüsseln. 14 Titel des berühmten Fortsetzungsromans von Eugène Sue (1843). Die Verwendung dieses Titels impliziert die Annahme, dass Meryon sich auf Sue bezogen hat. Aber auch unabhängig von dieser Frage ist festzuhalten, dass Sue und Meryon in ähnlicher Weise das vertraute Bild des alten Paris verfremden, Klüfte und Schlünde auftun, die bis dahin nicht ins Blickfeld gerückt waren und damit das scheinbar Heimliche ins Unheimliche verkehren. Vgl. zu dieser Problematik ferner Hammel-Haider 1977 (wie Anm. 9). 15 Freud 1919h, G.W. XII, S. 237, 238.

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Herzen von Paris und blicken auf die Seine. Der Augenpunkt liegt tief, zwar über dem Wasserspiegel, aber weit unterhalb der beiden Brückenbogen des Pont Notre-Dame. Wir können uns weder mit den Anglern und den Seglern auf dem Fluss noch mit den Passanten am Ufer oder dem Schornsteinfeger und dem Dachdecker auf einer Ebene sehen; wir schweben dazwischen. Der Blick ist zweigeteilt; er fällt auf die Cité mit Notre-Dame, und links auf einen sperrigen, der Brücke vorgelagerten Komplex, der von zwei vielteiligen, auf Pontons ruhenden Balken wie von Baugerüsten abgestützt wird. Doch da ist nichts im Bau; was provisorisch erscheint, ist von Dauer – von bedrohter Dauer allerdings: Es ist die wenige Jahre später, 1856-1858, abgerissene Wasserpumpe der Pariser Altstadt. Deren Unterbau musste stabil, doch bei steigendem Pegel für das Wasser durchlässig sein, um gleichbleibende Wasserzufuhr zu sichern. Die Schaufelräder, die das Wasser aufnehmen, verstecken sich im Inneren der Konstruktion.

Abbildung 3: Charles Meryon, La Pompe Notre-Dame, Radierung, 8. Zustand, 1852 (Schneiderman 1990, Nr. 26 VIII)

Auf der von bemoosten Pultdächern notdürftig gegen die Witterung geschützten Balkenkonstruktion sitzen die einstöckigen Häuser der Wasserwärter. Zwischen ihnen ragt, zurückversetzt, der sechsstöckige Turm auf, in den das Wasser hochgepumpt werden muss, um von dort, gefiltert, zu den Brunnen der Umgebung abzufließen. Nicht Notre-Dame, sondern diese bizarre ›Nicht-Sehenswürdigkeit‹ beansprucht den Blick. Doch Meryon vergönnt uns keinen Einblick in dieses Großgerät des Pariser Alltags. Wir erfahren nichts über die Wirkungsweise der

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Pumpe. Wir gewahren ihren Anblick; der Einblick bleibt uns verwehrt. Meryon fängt uns außen ab; indem er das Äußere gegensätzlich, attraktiv und repulsiv, gestaltet, schürt er die Ungewissheit vor dem, was sich dahinter verbirgt: Es muss nicht nur eine Pumpe sein; es könnten sich in diesem Dunkel auch Piranesis Carceri verbergen. Attraktiv, die Neugier stimulierend, ist das wirre Gestänge. Aber die Neugier bleibt unbefriedigt; was im Inneren vorgeht, entzieht sich uns, und so wirkt der hybride Aufbau zugleich repulsiv – er stößt uns zurück. Von diesem gleichen Gegensatz ist, wie Freud gezeigt hat, E. T. A. Hoffmanns Sandmann bestimmt. Doch Meryons Mittel sind ungleich verhaltener; schon wegen des Verzichts auf narrative Elemente lösen sie eine stillere, gleichwohl nicht weniger nachhaltige Wirkung aus. Als brüchig erscheint das Gemäuer oberhalb dieser Konstruktion und an der Uferböschung – überall da, wo es verschattet ist: fünf Wände sind es, die von leicht gewellten Waagrechten, von Senkrechten in unregelmäßigen Abständen, von schrägen Schraffen in beiden Richtungen durchzogen werden, so als seien nicht die festen Wände, sondern umgekehrt die sie beschädigende Witterung das Beständige. Die Wasseroberfläche wird von unregelmäßigen, annähernd senkrechten Strichen durchkreuzt, die willkürlich verlaufen. Sie wirken wie Risse in einer Glasplatte, denn nicht die leichte Bewegung der Wellen im Licht wird wiedergegeben, vielmehr wird ein scheinbar kohärenter Wasserspiegel von ihnen gleichsam zerschnitten. Abermals wird auf mögliche Gefahren abgehoben: Untiefen sind nicht sichtbar, doch bei dem extrem niedrigen Wasserspiegel muss man sie gewärtigen; die Striche suggerieren die Gefahr, ohne sie zu zeigen. Als unheimlich wird man eine solche Inszenierung noch nicht einstufen; wohl aber führt sie auf dieses Phänomen zu, bereitet es untergründig vor, zeigt den Stoff, aus dem Meryon dann das Unheimliche schöpft.16 Der Künstler bricht hier mit der Tradition der Vedute: Der Blick wird von der geordnet und gleichmäßig grau schraffierten Altstadt und den Türmen der Kathedrale dezidiert abgelenkt und zu dem sie weit überragenden Turm der Pumpe 16 Eine ähnlich bedrohliche und bedrohte Stadtansicht ohne unmittelbar bedrohliches Personal hat Meryon in dem Blatt Le Pont-Neuf 1855 geschaffen; vgl. Ausst.-Kat. Meryon 1975 (wie Anm. 9), S. 116-117 sowie Schneiderman 1990 (wie Anm. 9), Nr. 30 II/VI/VII/XI. Die Brüchigkeit der Brücke und der Brückenpfeiler wird hier durch erhöhte Unregelmäßigkeit der Schraffen noch gesteigert; auch durchkreuzen die schwarzen Schlieren im Wasser, die hier Schatten suggerieren, die Oberfläche noch wilder, und in den Fenstern werden exzentrisch bewegte Gestalten sichtbar. Ähnliches gilt für die Blätter L’Arche du Pont Notre-Dame (1853) und La Tour de l’Horloge (1852); Abb. Ausst.-Kat. Meryon 1975 (wie Anm. 9), S. 106107 sowie Schneiderman 1990 (wie Anm. 9), Nr. 28 IV/VII bzw. Ausst.-Kat. Meryon 1975 (wie Anm. 9), S. 110-111 sowie Schneiderman 1990 (wie Anm. 9), Nr. 23 III/VI/X. Im ersten Blatt werden wir als Betrachter unter die Brücke geduckt, die wir in La Pompe eben noch aus einiger Entfernung beobachten konnten. In beiden Blättern sind die Licht-Schatten-Gegensätze noch verstärkt, auch wird die Verunsicherung hinsichtlich der Konsistenz des Materials noch weiter getrieben als in La Pompe.

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mit seinem monströsen Unterbau hingeführt. Hier, nicht dort, treffen Licht und Schatten hart aufeinander; hier, nicht dort, stehen dunkle Schraffen gegen fast strukturlos weiße Wände (auch sie freilich sind von Rissen durchzogen); kurz – hier, auf der nicht repräsentativen Ebene, spielt sich das Leben ab. Gerade darum befremdet es, dass wir kaum einen Menschen sehen. Hinter keinem der achtzig Fenster des Blattes zeigt sich ein Lebewesen; von keinem der fünfzehn Spaziergänger oder der beiden Besucher hoch oben auf den Zinnen von Notre-Dame erkennen wir das Gesicht; keiner der drei Angler, der sieben Ruderer und der drei Segler gibt sich zu erkennen. Meryons Verschwiegenheit ist groß, und hinter seinem Schweigen verbergen sich viele Fragen: Was geht hier vor? Was verbirgt sich im Inneren der Balkenkonstruktion, die zugleich übermäßig stabil und vom Verfall bedroht wirkt? Was kommt auf uns zu? Unter diesem Aspekt müssen wir noch einmal zu dem Gebäude zurückkehren. Mit diesem hat es eine Bewandtnis, die sich nicht erschließt. Da nun Meryon so manche Bauten des alten Paris, darunter auch La Pompe, mit dem Wort »pauvre« belegt, haben wir es in all diesen Fällen mit einer Verschiebung zu tun, denn dieses gleiche Epitheton verwendet er auch für sich selbst.17 Das Gebäude vertritt eine Person, den Künstler, und es verbirgt ein Problem, das im Künstler liegt. Im Gebäude personifiziert sich das alte, dem Untergang geweihte Paris, mit dem Meryon sich identifiziert. Ohne die Altstadt zu beschönigen, unbarmherzig nüchtern vielmehr, stellt er sie in ihrer Dürftigkeit vor, als ein Gebilde, das sich buchstäblich aufbäumt gegen die bleibenden Sehenswürdigkeiten der Stadt. Aber diese Nüchternheit ist rätselhaft, sie ist hintergründig, ihr Antlitz verbirgt ihre Essenz, und diese Verheimlichung generiert Angst. Es ist sehr 17 Meryon hat 1854 eine zweite Radierung von La Pompe Notre-Dame geschaffen, aber als Vignette einbeschrieben in einen geflochtenen Kranz, der wie eine Dornenkrone wirkt (also keineswegs »verniedlicht«, wie es im Ausst.-Kat. Meryon 1975 [wie Anm. 9], S. 87 heißt, Abb. ebd., S. 114 sowie Schneiderman 1990 [wie Anm. 9], Nr. 39 II). Damals war der 185658 erfolgte Abriss der Pumpe bereits gewiss. Nur deshalb konnte Meryon die Vignette mit folgenden Versen rahmen: C’en est fait O forfait! Pauvre Pompe Sans pompe Il faut mourir! […] (Nun ist’s geschehen, Welche Schande! Arme Pumpe, Ohne Pomp Heißt es nun sterben! […]) Die vorstehende Übersetzung folgt weitgehend der im Ausst.-Kat. Meryon 1975 (wie Anm. 9), S. 87; Abweichungen: K. H.

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merkwürdig, dass Freud diesen Vorgang der Verheimlichung nicht verwortet hat. Er, der mit so hoher sprachlicher Sensibilität an sein Sujet herangeht, lässt gerade den Prozess, in dem das Heimliche unheimlich wird, außer acht. Dieser Prozess kann nur erschlossen werden, wenn man die Verschiebung zwischen Person und Objekt in die Analyse einbezieht. La Rue des mauvais garçons (Abb. 4) ist ein exzellentes Beispiel für den Effekt jener Verschiebung, durch die ein Gebäude die Valenz einer lebenden Person einnimmt. Die Gasse, in der sich so manches Gelichter herumtrieb, ist wider Erwarten in helles Licht getaucht. Aber der Grund und Boden, mit dem wir in das Blatt eingeführt werden, ist mit dunklen Schraffen belegt, als klaffe hier ein Abgrund. Auch die Tür- und Fensterhöhlen sind dunkel. Abgesehen von zwei Frauen, die wir nur als Rückenfiguren erkennen, ist die Straße menschenleer. Da die Fenster vergittert sind, nimmt das unförmige Gebäude, von dem wir nur Erdgeschoss und ersten Stock erkennen, das Gepräge eines Gefängnisses an. Die unverhältnismäßig große Zahl 12 über einem der Gitterfenster macht vollends jeden Rest einer heimeligen Atmosphäre zunichte. Der Künstler hat folgende, bemerkenswerte Verse in das Blatt eingegraben: Quel mortel habitait En ce gîte si sombre Qui donc là se chachait Dans la nuit et dans l’ombre? Était-ce la vertu Pauvre, silencieuse? Le crime, diras-tu Quelqu’âme vicieuse. Ah! Ma foi, je l’ignore Si tu veux le savoir Curieux, vas y voir Il en est temps encore … Mars LIV.

(Welcher Sterbliche hauste In dieser so düsteren Bleibe, Wer verbarg sich dort Im Schutze der Nacht Und des Schattens? War es die Tugend, Arm und verschwiegen? Das Verbrechen, wirst du sagen, Eine verdorbene Seele. Ach, ich weiß es wirklich nicht, Willst du es wissen,

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Neugieriger, dann sieh nach, Solange noch Zeit ist. März 1854.) 18

Abbildung 4: Charles Meryon, La Rue des mauvais garçons, Radierung, 3. Zustand, 1854

(Schneiderman 1990, Nr. 38 III) 18 Die vorstehende Übersetzung folgt weitgehend der im Ausst.-Kat. Meryon 1975 (wie Anm. 9), S. 85; Abweichungen: K. H. – Fehler in der Transkription des Originals wurden berichtigt.

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Entgegen dem graphischen Befund wird in diesen Versen die Gasse als düster, als nächtlich und schattenhaft bezeichnet. Und abermals droht der Abriss: »Sieh nach, solange noch Zeit ist«. Bemerkenswert ist ferner die moralische Unentschiedenheit oder das Beieinander von potentiell Gutem und Schlechtem, das für Meryons ambivalentes Verhältnis zum alten Paris so bezeichnend ist – für ihn ein »curieux assemblage de force et de vice«19. Der ursprünglich utopische Charakter der Mittelalter-Sehnsucht, von Saint-Simon und von Victor Hugo als Ferment der Selbstbestimmung des Volkes hochgehalten20, war um die Jahrhundertmitte noch wirksam und diente im Zweiten Kaiserreich dazu, die Geschichtsfeindlichkeit der bonapartistischen Usurpatoren anzuprangern und deren vorwiegend technizistischem Begriff von Modernität eine von Atmosphäre und Leben erfüllte Stadtstruktur entgegenzusetzen. Meryon zeigt sie uns und erschüttert diese Hoffnung zugleich. Die Brüchigkeit und Bedrohlichkeit des alten Paris werden ebenso unerbittlich demonstriert, wie das neue Paris abgelehnt wird. Es gibt keinen Ort mehr, an den man sich beruhigt zurückziehen könnte. Aber: Ob gut oder böse, ein Versteck jedenfalls bietet dieser verschwiegene Ort – die Worte »Wer verbarg sich dort/Im Schutze der Nacht … « sind deutlich auf einen Schutz suchenden Menschen gemünzt. Übrigens ist die Gleichsetzung von Mensch und Haus nicht nur umgangssprachlich (»ein gelehrtes Haus«) ein alter Topos, sondern auch literarisch, wie ein beliebiges Beispiel aus dem 17. Jahrhundert zeigen mag, Andreas Gryphius’ Vers: »Was sind wir Menschen doch? Ein Wohnhaus grimmer Schmerzen«21 – ein Exempel dafür, dass auch die emotionale Konnotation dieses Ausdrucks geläufig war. Die Ambivalenz im Erleben der mittelalterlichen Stadt ist für das Selbstverständnis des Künstlers entscheidend – mit diesem Zwiespalt bedachte er das alte Paris und sich selbst. Für das ›gute‹ mittelalterliche Paris stand u. a. die Rue de la

19 Auf Le Strgye gemünzt; vgl. den weiter unten in extenso zitierten Brief Meryons von 1863; erstmals publiziert von Stefanie Heraeus, Traumvorstellung und Bildidee – surreale Strategien in der französischen Graphik, Berlin 1998, S. 150-153. 20 Dieser Aspekt wird näher ausgeführt bei Monika Steinhauser, »Charles Meryon, Paris um 1850, Zeichnungen, Radierungen, Photographien. Zur Ausstellung in Frankfurt und Hamburg«, in: Kunstchronik 29, 1976, H. 3, S. 74-85, hier v. a. S. 80-81 (auch in allen übrigen Teilen nach wie vor ein sehr erhellender Beitrag). Was sie nicht erwähnt, ist, dass Hugo Meryon gekannt hat und dass es über Baudelaire eine Verbindung zwischen beiden gab; das geht aus einem Brief Hugos an Baudelaire vom 29. 4. 1860 hervor, in dem Hugo sich höchst rühmend über Meryon äußerte; wörtlich wiedergegeben bei Aglaüs Bouvenne, Notes et souvenirs sur Charles Meryon. Meryon artiste – Meryon poète, son tombeau, Paris 1883, S. 16. 21 Der Titel des Gedichtes lautet: Menschliches Elend; vgl. Deutsche Dichtung des Barock, hg. v. Edgar Hederer und Karl Pörnbacher, München, 2. veränderte Aufl. 1957, S. 97.

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Tixéranderie mit dem freundlichen Bewuchs ihrer Häuser; das ›schlechte‹ mittelalterliche Paris verkörperte die Ancienne Porte du Palais de Justice.22

■ Unheimlichkeit in der Zeit: flüchtiger Augenblick und lastende Dauer Meryon kennt beides, das implizit Unheimliche mit der lauernden Möglichkeit seines Hervorbrechens, und das explizit Unheimliche als das rätselhaft Grauenerregende. Das erste erzeugt Irritation und lässt die Phantasie unruhig werden, das zweite macht der beunruhigten Seele den Garaus. Man kann zwar Meryons Radierungen, auch unter dem zweiten Aspekt, nicht einfach als graphische Parallele zu Hoffmanns Erzählung lesen – Methoden und Ergebnisse, Genese und Wirkung sind anders. Dennoch bleibt es erstaunlich, dass noch niemand gefragt hat, wie weit sich Freuds Beobachtungen auf diesen Stoff übertragen lassen. Eine zweite Stufe des Unheimlichen erklimmen wir mit dem Blatt La Morgue (Abb. 5) von 1854. Schon die Bestimmung des Gebäudes, Leichenschauhaus zu sein, weckt in der Vorstellung Grauen, weil man sich die darin aufgebahrten, unbeerdigten Toten vor Augen führt, wozu im 19. Jahrhundert noch die weit verbreitete Angst kam, es könne sich um Scheintote handeln. Auch in diesem Blatt herrscht zunächst alltägliche Selbstverständlichkeit. Auf den ersten Blick glaubt man, eine Stadtvedute vor sich zu haben, an der nur auffällt, dass die Gebäude alles andere als sehenswert sind. Es wird so getan, als gehe nichts Besonderes vor. Wieder sind wir an der Seine. Ein Prospekt vier- bis siebenstöckiger Häuser ragt en face vor uns auf. Es sind schlichte, schmucklose, ineinander verkeilte Häuserfronten, mit teils verhängten, teils schwarz gähnenden, in der Mehrzahl unbelebten Fensterhöhlen inmitten heller Fassaden.23 Die Ebene vor den Häusern ist 22 Abb. in Ausst.-Kat. Meryon 1975 (wie Anm. 9), S. 113 sowie Schneiderman 1990 (wie Anm. 9), Nr. 24 II/IV(Rue de la Tixéranderie) und Ausst.-Kat. Meryon 1975 (wie Anm. 9), S. 104 sowie Schneiderman 1990 (wie Anm. 9), Nr. 34 II (Ancienne Porte du Palais de Justice). 23 Eine ähnlich anklagend ärmliche Aufreihung Pariser Altstadthäuser hat Meryon in einem weiteren Blatt, Le Pont-au-Change vers 1784, festgehalten (Abb. in Ausst.-Kat. Meryon 1975 [wie Anm. 9], S. 135 sowie Schneiderman 1990 [wie Anm. 9], Nr. 52 I/V/VI). Dort hat er die Analogie der Häuser zu einer Gruppe verängstigter Menschen durch Überlängung der eingeschwärzten Fensterflächen noch unterstrichen. – Anzumerken ist noch, dass spätestens seit Edgar A. Poes The Murders in the Rue Morgue (1841) die Gegend um La Morgue im Rufe des Unheimlichen stand. Baudelaire hat diese Geschichte (innerhalb der Histoires extraordinaires) zwar erst 1856-57 übersetzt; da er aber 1848 den ersten Text von Poe ins Französische übertragen hatte, ist nicht auszuschließen, dass Meryon über Baudelaire bereits zur Zeit der Entstehung seiner Radierung von dieser Erzählung Kenntnis hatte; explizit erwähnt er sie in dem Gespräch, von dem Baudelaire am 18.1.1860 berichten wird (s. unten Anm. 33).

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zweigeteilt: eine Treppe führt in der Mitte vor ein verschlossenes Tor, vor dem sich Menschen versammelt haben. Auf der Treppe selbst erkennt man im ersten Zustand des Blattes eine Frau, die nach unten eilt, von einem Polizisten aber daran gehindert wird. Rechts von diesem Einschnitt, einem sehr bedeutsamen Einschnitt, liegt das einzige Gebäude, das wir von vorn und von der Seite sehen, die Morgue. Der Eingang muss auf der Gegenseite liegen; aber wie das verschlossene Tor zeichnet sich auch dieses Gebäude durch einen Giebel, und, über dem Sockelgeschoss, durch einen Eckpilaster aus. Es ragt also aus der namenlosen Häusergruppe hervor. Links eine Kaimauer, deren Brüstung voll mit Zuschauern besetzt ist. Den Anlass bietet die Szene im Vordergrund: Vorn, auf einer gepflasterten Uferstraße, wird eine Wasserleiche hergetragen.24 Zwei Trauernde, eine Frau und ein Kind. Ein Polizist weist den Weg zur Morgue. Nur sie ›lebt‹; aus zwei mächtigen Schornsteinen bläst sie Rauch über die Häuser hin, und dadurch, dass die Laibungen ihrer Fenster sich nach rechts hin erweitern, sieht es aus, als seien diese Fenster Augen, die sich blinzelnd nach links, zu der Uferszene, wendeten – gerade hier, bei der Totenhalle, schockiert die Analogie des Hauses zum Menschen. Dies beunruhigt, denn wer will sich mit einem Toten identifizieren? Vor dem Gebäude sind Leichentücher zum Trocknen aufgespannt. Auch diese kalte Sachlichkeit mag ein Frösteln auslösen. Unweit davon liegt, neben anderem Gerät, ein Anker; da er dort nur deponiert ist, büßt er jede weiterführende symbolische Bedeutung, wie etwa die des Trostes bei C. D. Friedrich, ein. Das Leben geht weiter: Auf dem Wasser liegt ein langgezogenes hölzernes Waschhaus; man erkennt ein, zwei Gestalten, die sich ausruhen, Wäsche hängt zum Trocknen aus; Taue liegen auf dem Dach. Ein einziger Augenblick ist dargestellt, der Leichentransport und die Reaktion der Zuschauer hierauf. Dennoch gewinnt man den Eindruck: Dieser Augenblick dauert eine Ewigkeit. Und dies trotz aller Insignien der Flüchtigkeit: der drei Rauchfahnen, der weisenden Geste des Schutzmanns, der klagenden Bewegungen unten und oben und der Szene auf der Treppe. Was diesen Augenblick aller Flüchtigkeit enthebt, ist die gleißende Helligkeit der Wände (so brüchig einige von ihnen auch erscheinen), deren kurze Schatten die Mittagszeit anzeigen – die Zeit scheint stillzustehen in dieser Mitte des Tages. Der Tod lässt die Dauer zu einem Albtraum gerinnen. Kein Entrinnen aus der kahlen Häuserfront, kein Entrinnen aus der Präsenz des Todes ist angezeigt. Gleichwohl ist, bis auf die Trauer24 In einem Begleitgedicht zu La Morgue, das Meryon zusammen mit dem 4. Zustand des Blattes unter dem Titel L’Hôtellerie de la Mort als Radierung publizierte (vgl. Ausst.-Kat. Charles Meryon, prints & drawings, hg. von James D. Burke, Toledo, Museum of Art, New Haven, Yale University Art Gallery, St. Louis, Art Museum, 1974-75, Newhaven 1974, S. 72-74), hat er den Tod als das gemeinsame Schicksal der Pariser und der Stadt Paris apostrophiert, offensichtlich mit autobiographischer Anspielung. Vgl. dazu Miller 1999 (wie Anm. 13), mit der Schlussfolgerung, dass die Leiche in La Morgue die des um Hilfe rufenden Schwimmers in Le Pont-au-Change sei und dass beide Male eine Selbstdarstellung Meryons gemeint sei.

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Abbildung 5: Charles Meryon, La Morgue, Radierung, 4. Zustand, 1854 (Schneiderman

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gruppe, niemand an diesem Tod wirklich beteiligt; die ganze Last wird dem Betrachter aufgebürdet, der seinerseits in das Geschehen so wenig eingeführt wird, dass er kaum Mitgefühl in sich wachrufen kann. Dieser Tod lässt uns kalt, suggeriert Meryon, obwohl er durch die Düsternis der Inszenierung alles tut, um Todesgrauen wachzurufen. Emotionalität wird nur in der kleinen Trauergruppe am Ufer zugelassen; im übrigen wird dem Geschehen der Resonanzraum entzogen, und nichts stört und verstört mehr als dieses Abschneiden des Widerhalls. Die Kulisse ist an der Trauer nicht beteiligt. Wie um das zu demonstrieren, lässt der Künstler dicht neben der Trauergruppe einen Schlot aus dem Waschhaus aufragen und verunstaltet er die Breitseite der Morgue durch ein Abflussrohr. Dieser

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Tod bleibt folgenlos. Das flüchtige Ereignis, die unter die »faits divers« zu rechnende Auffindung einer Wasserleiche, wird unerbittlich von der sachlichen Umgebung aufgesogen, aber gerade dadurch steigt im Betrachter das Gefühl des Unheimlichen auf. Es ist der umgekehrte Effekt zu dem »gellenden Schrei«, mit dem sich Nathanael über das Geländer stürzt, um mit zerschmettertem Kopf auf dem Straßenpflaster liegen zu bleiben.25 Dort allgemeines Entsetzen, hier dessen fast völlige Unterbindung. Aber die Wirkung liegt nahe beieinander: Das Unheimliche haftet an der Vorstellung, in jedem Augenblick könnte den Betrachter das gleiche Schicksal ereilen, ohne dass die Stadt, der er nicht zu entrinnen vermag, Notiz davon nähme. Es kommt hinzu, dass die collageartige Verdichtung der hochragenden Hinterhäuser für jeden Kenner des alten Paris auch ohne bedeutsames Ereignis die Suggestion einer überfallartigen Bedrängnis erzeugen musste. Gerade die scheinbare Präzision, die Absenz schummriger Ecken, die extreme Nüchternheit, der leider eine Ausgabe der Eaux-fortes sur Paris mit Texten Baudelaires aus dessen Tableaux parisiens zum Opfer fiel26 – das alles ist nicht nur Signum eines schonungslos modernen Blicks auf das alte Paris, sondern steigert die paradoxe Erwartung, hier könne gleich etwas unerwartet Anderes hervorbrechen.27 Meryon erzeugt einen antisachlichen Duktus mit betont sachlichen Mitteln. Dazu kommt, dass das künstlich wirkende, gleißende Scheinwerferlicht die Szenerie wie in einem Kriminalfilm erhellt und jeden Anflug von Stimmung zerstört. Meryon enttäuscht in der Tat die mentale Prädisposition einer fiktiven Einstimmung auf das Unheimliche, um dieses um so unmittelbarer anzudeuten. Aber das war, wie wir aus zahlreichen Briefen wissen, sein eigenes Lebensgefühl.

25 Freud 1919h, G.W. XII, S. 241. 26 Der Verleger Poulet-Malassis hatte eine solche Zusammenarbeit angeregt; doch Meryon klammerte sich an die Faktizität seiner Darstellungen, die er nicht von Poesie umrankt sehen wollte (obwohl er ja selbst mehrere seiner Radierungen mit Versen versah). Vgl. W. A. Bradley: »Meryon et Baudelaire«, in: The Print Collectors Quarterly, Dez. 1911, S. 587-609; dazu Stuffmann, in: Ausst.-Kat. Meryon 1975 (wie Anm. 9), S. 26 und 76. Die dort vorgebrachte These, Baudelaire habe sich nicht für die Geschichte von Paris interessiert und Meryon habe auf Texten bestanden, »in denen die dargestellte Oberfläche erklärend redupliziert würde«, kann nicht die ganze Wahrheit sein – schon Meryons Verse zu La Rue des mauvais garçons beweisen das Gegenteil, und Baudelaire war nicht geschichtsfeindlich, sondern nur an der Überwindung des Gegensatzes von »ancien« und »moderne« interessiert. Näher liegt die Annahme, dass Meryon Angst hatte, es mit Baudelaire nicht aufnehmen zu können; auch dürfte er gespürt haben, dass Baudelaires Bestreben, die Vorstellung des »ancien« zu dekonstruieren, seinem eigenen, verzweifelten Festhalten daran widersprach. 27 Margret Stuffmann hat dies zuerst genau beschrieben: »Die Wirkung des Unheimlichen, weil Unbestimmten, mit dem die Romantik oft arbeitet, ist bei Meryon durch eine täuschende Präzision verfremdet, und die Vorstellung von Gefährlichkeit wird durch die topographische Authentizität verstärkt …« (Ausst.-Kat. Meryon 1975 [wie Anm. 9], S. 21).

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Paris ist das »asile funèbre«28, dem er verhaftet bleibt. Endlich wird das Unheimliche durch zwei weitere Faktoren hervorgetrieben: Meryon verwendete oft ein blaues Papier, das Bleu de Hollande, das seinen Szenen den Anschein gibt, als seien sie in das kalte Licht einer Mondscheinnacht getaucht; und es wird verstärkt durch das bedrückend winzige Format – in einer Zeit, in der die schiere Größe der Bilder Aufsehen erregen sollte. Überdies ist in diesem Format jede Einzelheit so krampfhaft festgehalten, als wolle sich der Zeichner selbst damit Halt geben – dieser horror vacui wird in jedem Strich von La Morgue oder dem Lycée Henri IV deutlich. All dies ist auch für die Analyse der Verknüpfung von Werk und Krankheit bedeutsam.

■ Unersättliche Vampire, ungreifbare Luftgeschwader Das Potential des Unheimlichen ist damit entfaltet; nun beginnt es, die Wirklichkeit auch motivisch zu erobern. Ein Blatt, in dem dies geschieht, ist Le Pont-auChange von 1854 (Abb. 6 u. 7). Um seine Aussage zu fassen, muss man wenigstens die beiden wichtigsten Zustände miteinander vergleichen. Die Komposition des 2. Zustands wirkt auf den ersten Blick traditioneller als die der vorigen Blätter – eine Stadtvedute alter Art. Wir blicken über die Seine zum Palais de Justice auf der Ile de la Cité; wir sehen, in leichter Krümmung, die Wechslerbrücke mit sechs Arkaden; links der Mitte ist in der Ferne der Wasserturm des Pont NotreDame zu erkennen; auf dem Wasser ein Schwimmbad und ein Waschhaus; hinter der Brücke auf beiden Seiten dichte Häusergruppen. Die Szene ist belebt, denn ein Spektakel spielt sich ab: Nach links, auf das Quartier du Châtelet zu, schwebt ein bemannter Ballon, der die Aufschrift ESPERANZA trägt; einige Vögel umkreisen ihn. Diesem Ballon recken auf der Brücke viele Menschen (möglicherweise Teilnehmer eines Leichenzuges29) die Arme entgegen; auch auf dem Wasser und am Ufer halten einige danach Ausschau. Die Insassen eines Ruder28 Dieser Ausdruck fällt in einem Brief Meryons vom 23.1.1862, der in Toledo/Ohio aufbewahrt und in dt. Übersetzung in Ausst.-Kat. Meryon 1975 (wie Anm. 9), S. 90 zitiert wird. Aus dem Kontext lässt sich erschließen, dass damit La Morgue gemeint ist. Doch scheint es mir unabweisbar, dass Meryon hier an Paris insgesamt dachte. Die reiche Korrespondenz Meryons ist immer noch nicht ganz publiziert; wichtige Konvolute liegen in London (British Library), Paris (Louvre, Département des Arts Graphiques; Bibliothèque Nationale de France, Département des Estampes/Département des Manuscrits; Archives Nationales) und in Toledo/Ohio (Museum of Art). Ein erster Teil bei Anatole de Montaiglon, »Charles Meryon, 1821-1868. Lettres écrites de 1861à 1863 à Benjamin Fillon«, in: Nouvelles Archives de l’Art Français 1872, S. 463-485; weitere Briefe bei Bouvenne 1883 (wie Anm. 20); in Ausst.Kat. Meryon 1974 (wie Anm. 24) sowie bei den in einzelnen Anmerkungen genannten Autoren. 29 Dies wird in der gesamten Literatur behauptet; ein sicheres Indiz dafür gibt es jedoch nicht.

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boots sind so darauf fixiert, dass ihre Aufmerksamkeit ganz von einer Person abgelenkt wird, die auf das Boot zustrebt – eine Interaktionsstörung, zumal der Mann, für einen Schwimmer unüblich, beide Arme über Wasser hält; offenbar ist damit der Hilferuf eines Ertrinkenden gemeint. Seine Hoffnung (speranza) auf Rettung scheint enttäuscht zu werden; nicht auszuschließen ist, dass Meryon in dem Ertrinkenden sich selbst gesehen hat.

Abbildung 6: Charles Meryon, Le Pont-au-Change, Radierung, 2. Zustand, 1854 (vgl.

Schneiderman 1990, Nr. 40 V)

Abbildung 7: Charles Meryon, Le Pont-au-Change, Radierung, 9. Zustand, 1854 (vgl.

Schneiderman 1990, Nr. 40 X)

Ballons wurden von Napoleon III. als Symbol des Fortschritts zur Bestätigung seines Systems genutzt.30 Hier aber wird die im Ballon manifestierte »Hoffnung« offensichtlich trügerisch. Geläufig war »speranza« ohnehin nur im negativen 30 Affirmative Verwendung u. a. in Le Constitutionnel v. 11. 8. 1851 (Abb. bei René de Livois, Histoire de la presse française, 2 Bde., Lausanne 1965, Bd. 1, S. 247). – Zu Ehren von Napole-

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Sinne, nämlich als Zitat aus Dantes Inferno: »lasciate ogni speranza voi ch’entrate« – diese berühmte Stelle hatte Victor Hugo in Notre-Dame de Paris erneut in Umlauf gesetzt, um auf die dunklen Verließe des Pariser Justizpalastes und damit auf Rechtswillkür überhaupt aufmerksam zu machen.31 Meryon rückt nun den Ballon mit dem unseligen Stichwort und das Palais de Justice auf ein und demselben Blatt unmissverständlich nebeneinander, mehr noch: Für das »lasciare« führt er ein handgreifliches Signal ein: Der Ballon verliert Treibstoff und beginnt zu sinken. Zur negativen Semantik von Hoffnung gehört auch ein L’Espérance betiteltes Gedicht von Meryon selbst, das der Künstler sogar als Radierung herausgab. Darin spielt er mit dem Schicksal, das »zum armen Stecher den zu schmächtigen Seemann gemacht hat«, deutlich auf sich selbst an: Léger Aérostat, ô Divine Espérance Comme le frêle esquif que la houle balance, […] Mais ô triste rêveur, pourquoi dans les nuages, Te promener ainsi quand il s’agit d’images? […] Crains de tenter du sort le caprice bizarre: Toujours de ses faveurs pour nous il est avare. Puisqu’un Destin nouveau t’a mis la pointe en main, T’a fait pauvre graveur de trop frêle marin; Vas que sur l’enduit noir qui recouvre ton cuivre, Ta main laisse après toi le remous qui doit suivre, Tout esquif passager sur l’orageuse mer, Qu’on appelle »la Vie»; Océan dur, amer, Où trop souvent hélas! fallacieux mirage, L’espoir qui nous leurrait, va mourir au rivage! C. M. mars MDCCCLIV.

31 ons Geburtstag am 15. 8. 1852 ließ Louis Bonaparte einen Ballon mit leuchtendem N steigen (Stich von Best, Hotelin u. Cie. nach Prévost; Foto BN 68 C 34960). Vgl. ferner Ausst.Kat. Charles Meryon, Officier de la Marine, peintre-graveur 1821-1868, Paris, Musée de la Marine, 1968-69, Nr. 627-630. Zum Ballon als Vehikel progressiver Kritik an bonapartistischem Fortschrittsglauben vgl. Bradford R. Collins, »Manet’s ›Rue Mosnier decked with flags‹ and the flaneur concept«, in: The Burlington Magazine, CXVII, 1975, Nr. 872, S. 709714 (dort werden auch Daumier und Baudelaire als Kritiker eingeführt). – Zu der surrealen Zusammenstellung von Brücke und Kugelform vgl. Grandville (Jean-Ignace-Isidore Gérard, gen. Grandville), Le pont des planètes; Abb. in: Gottfried Sello, Grandville, Das gesamte Werk, 2 Bde., München 3. Aufl. 1972, Bd. 2, S. 1254. 31 Victor Hugo, Notre-Dame de Paris (1482), Paris 1831 (vollständig erst 1832); Neuausgabe m. Einführung, Anmerkungen und Varianten von Marius-François Guyard, Paris 1959, 8. Buch, S. 367-368.

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(Leichtes Luftschiff, oh Göttliche Hoffnung, Gleich dem zerbrechlichen Schiffchen, das die Dünung wiegt […] Jedoch, oh trauriger Träumer, warum in den Wolken Schweifen, da es doch nur um Bilder geht? […] Hüte dich, herauszufordern die närrischen Launen des Schicksals: Stets geizt es doch mit seiner Gunst. Da ein neues Geschick dich mit der Nadel betraut, Aus dem allzu schmächtigen Seemann einen armen Stecher gemacht hat, Sieh zu, dass auf der schwarzen Fläche, die dein Kupfer bedeckt, Deine Hand die Spur zurücklässt, die nach sich zieht Jedes flüchtige Boot auf dem stürmischen Meer, Das man »das Leben« nennt; harter, bitterer Ozean, Wo allzu oft, ein Trugbild nur, Die Hoffnung, die uns lockte, am Ufer zerrinnt! C. M. März 1854.) 32

Im 9. von insgesamt 12 Zuständen des Blattes Le Pont-au-Change ist der Ballon einer abnehmenden Mondsichel von gewaltiger Größe gewichen. Die Vogelschwärme haben sich vermehrt; dicht über der Brücke ziehen riesige Enten dahin, und oben erblickt man ein halbes Dutzend Vögel gleicher Größe, in denen man riesige Raben und Möwen vermuten könnte. Dies gilt trotz Meryons eigener Äußerung, es seien Adler. Das ist in mehrfacher Hinsicht signifikant. Meryon öffnet dadurch einen Spalt zwischen der politischen Ikonographie – Adler als Wappentiere napoleonischer Herrschaft werden hier als Unheilsboten aufgerufen – und seiner eigenen Wahrnehmung dieser Vögel, die ihn als Präzisionsfanatiker zu ganz anderen Benennungen führen musste. Der Spalt, der sich hier auftut, hat aber weniger mit beginnender Geistesverwirrung zu tun als vielmehr mit Meryons Angst vor dem Unheimlichen in Form einer übermächtigen Staatsgewalt. Quelle ist ein Brief Baudelaires vom Januar 1860.33 Als Baudelaire Meryon darauf hinwies, dass so viele Adler an einem Pariser Himmel unwahrscheinlich seien, erwiderte dieser, es stehe selbst in den Regierungsblättern, dass die Bona32 Ausst.-Kat. Meryon 1974 (wie Anm. 24), Nr. 61 m. Abb. sowie Schneiderman 1990 (wie Anm. 9), Nr. 41 II. Die vorstehende Übersetzung folgt weitgehend der im Ausst.-Kat. Meryon 1975 (wie Anm. 9), S. 88-89; Abweichungen: K. H.; Fehler in der Transkription des Originals wurden berichtigt. Obwohl die letzte Ziffer der römischen Jahreszahl nicht ganz eindeutig ist, kann die Zahl (entgegen Bouvenne 1883 [wie Anm. 20], S. 40) nicht als 1851, sondern nur als 1854 gelesen werden. 33 Brief Baudelaires vom 8.1.1860 an seinen Verleger, Poulet-Malassis; vgl. Geffroy 1926 (wie Anm. 10), S. 126-128; ausführlich auf Englisch zitiert in Ausst.-Kat. Meryon 1974 (wie Anm. 24), S. 63-64.

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partisten Adler steigen ließen, um aus dem Vogelflug Schlüsse zu ziehen. Bei der Deutung dieses Briefes wird übersehen, dass Baudelaire selbst von Adlern sprach und mit seiner Frage an Meryon, warum so viele Adler, diesem allererst die Anspielung auf die politische Bedrohung in den Mund legte. Meryon lässt dann seine Naturbeobachtung wider besseres Wissen fahren, weil er in Baudelaires Deutungsangebot eine Affinität zu seinen eigenen Ängsten erblickt. Der Rekurs auf Raben ist ebenfalls literarisch konnotiert. In dieser Hinsicht konnte sich Meryon auf das berühmte Gedicht The Raven (1845) von Edgar A. Poe beziehen, das Baudelaire 1853 ins Französische übertragen hatte und das Manet 1875 mit Lithographien illustrierte. Über Poe, dessen Existenz Meryon in Zweifel zog, unterhielt er sich wiederum mit Baudelaire.34 Ganz offensichtlich ist jedenfalls das fremdartige Zeichen der Hoffnung einem viel befremdlicheren Zeichen des Unheils gewichen. In diesem Wechsel vom 2. zum 9. Zustand des Blattes35 wird vollends deutlich, dass der emotionale Ausdruck für Meryon von zentraler Bedeutung ist, und klar wird auch, dass Sehnsucht und Gefährdung für den Künstler dicht beieinander liegen. So unübersehbar und erschreckend aber die großen Vögel sind, so bescheiden sind im Grunde auch hier noch die Mittel, welche diesen Schrecken hervorrufen: Sie bestehen einzig und allein darin, die Proportionen zu verrücken. Es genügt, dass die Dimensionen der Vögel die der menschlichen Körper überragen; die Erfahrung wirklicher Enten und Raben lässt sich damit nicht vereinbaren. Verunsicherung tritt ein, ja Angst, von diesen Tieren vernichtet zu werden. Dies gilt vor allem für die Raben, denen alle Aufmerksamkeit gilt – und mit Recht: denn während die Enten über die Brücke hinwegstreichen, fliegen die Raben von beiden Seiten herbei, treffen optisch über der Mondsichel aufeinander und könnten sich von dort auf die Menschen herabstürzen. Hitchcocks Vögel ante portas. Fiktive und reale Gefahr werden aber in diesem Blatt miteinander verbunden. Nicht nur droht von den Vögeln Gefahr; gefährdet war auch die Brücke selbst; ihr Abriss war geplant und wurde 1858-61 vollzogen. Die Vögel kündigen also auch Unheil für den Pont-au-Change selbst an. Schon in dieser Radierung hatte Meryon die Atmosphäre in seine Vorstellung vom Unheimlichen einbezogen, indem er den Wolken anthropo- und zoomor34 Derselbe Brief; möglicherweise hat Baudelaire in diesem Brief mehrere Gespräche mit Meryon zusammengefasst. Abgesehen von diesem Brief hat sich Baudelaire mehrfach zu Meryon geäußert; vgl. Charles Baudelaire, »Salon de 1859«, in: Œuvres complètes, hg. v. Claude Pichois, 2 Bde., Paris 1976, Bd. 2, S. 666-667; hier zeigt sich bereits, dass er Meryons beunruhigende und emotional zwiespältige Kunst ausgezeichnet verstand, wenn er »le ciel tumultueux, chargé de colère et de rancune« oder »la noire majesté de la plus inquiétante des capitales« in dessen Radierungen rühmt. Vgl. ders., »Peintres et aquafortistes« (1862), ebd., Bd. 2, S. 736-741. 35 In Ausst.-Kat. Meryon 1975 (wie Anm. 9), S. 88 richtig als 9. Zustand beschrieben, dann aber auf S. 121 irrtümlich als 11. Zustand abgebildet.

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phe Gestalt gab. Diese Gebilde sind in einer Vorzeichnung und im 7. Zustand des Blattes36 deutlich nachzuweisen; ein schlafendes Paar ist erkennbar, im Druck oberhalb des Wolkenpaares zudem der grässlich geöffnete Rachen einer Riesenschlange. Ferner ist hier, oben links, wenn auch nur schwach, ein bemanntes Luftschiff oder Gespann auszumachen. Diese Motivik wird nun in dem erst 1865 entstandenen Blatt Le Ministère de la Marine37, und hier wieder im 5. Zustand (Abb. 8), gewaltig verstärkt. Wir befinden uns auf der Place de la Concorde; links, schräg angeschnitten, der nördliche Trakt des von Jacques-Ange Gabriel 1755-1775 errichteten, mit Säulenkolonnaden großer Ordnung geschmückten Doppelpalais, rechts dahinter der berühmte Obelisk aus Luxor und die Madeleine-Kirche mit ihrer 1833 vollendeten Tempelfassade; dazwischen ein dunkles Häusergewirr. Auf Gabriels Gebäude, das noch heute das Marineministerium beherbergt, zieht ein gewaltiges Luftgeschwader zu: zuoberst ein Reiter, dem weiter unten zwei andere als Arrièregarde folgen; dann untereinander drei bemannte Delphine, angeführt von einem bemannten Fisch-Vogel-Wesen und einem weiteren Delphin, darunter ein Kampfwagen, auf dem drei heftig gestikulierende Männer stehen; gezogen wird dieser Wagen von drei Pferden und drei Mischwesen, hinterdrein rast ein unbemanntes Pferd. Eine große Rolle spielt die Dreizahl, die, ob bewusst oder nicht, den männlichen Impetus der Attacke verstärkt. Der Obelisk wird, wie ein Mastbaum, der von einer Querstange zum Anbringen der Segel durchzogen wird, von einem Segelschiff gekreuzt; ihm eilen ein Reiter auf einem Schlangenross und ein weiteres Segelboot voraus. Am Ende ein Drache, darunter weitere Riesenvögel. In den oberen Reihen sind fast alle Männer mit Lanzen bewaffnet; dies und die Richtung des Zuges, der schräg von oben auf das Obergeschoss des Gebäudes zustösst, lassen keinen Zweifel daran, dass der Angriff der wilden Horde dem Ministerium gilt. Übrigens türmen sich auch in diesem Blatt Wolkengebirge auf, in denen man die Gestalten von Riesen erkennen mag. Die Obrigkeit scheint auf den unerhörten Luftangriff bereits zu reagieren; man sieht Reiter und Uniformierte zu Fuß aus unterschiedlichen Richtungen heranstürmen, doch erkennt man auch eine Kutsche und mitten auf dem Platz ein von dem Vorgang gänzlich unberührtes Paar, so dass man auf ein großes Durcheinander schließen kann. Auf der bloßen Erde liegt ein riesiger Säbel, ob er dem Luftgeschwader »entfallen« ist, bleibt offen.38 Überhaupt sind der Beschreibung Grenzen gesetzt, weil Meryon vieles in undurchdringlichem Dunkel verbirgt. 36 Ebd., R 18(7), Abb. S. 121; Vorzeichnung: Ausst.-Kat. Meryon 1974 (wie Anm. 24), Nr. 53. 37 Dieses Blatt ist das einzige, das Meryon im Auftrag der »Société des Aquafortistes« geschaffen hat. 38 In Wirklichkeit führt sich Meryon hier selbst ein, denn der Säbel war ein Geschenk seines Vaters; die Quellen zusammengestellt bei Johannes Hartau, »Die Macht der Druckkunst: Der ›Guéraud‹ von Charles Meryon«, in: Jahrbuch des Zentralinstituts für Kunstgeschichte 3, 1987, S. 169-194, dort Anm. 30.

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Abbildung 8: Charles Meryon, Le Ministère de la Marine (Fictions & Vœux), Radierung, 7. Zustand, 1865 (Schneiderman 1990, Nr. 94 VII)

Man kann in diesem Falle von drei Polen des Unheimlichen sprechen: Der Luftangriff zerstört jedes Vertrauen in die Sicherheit der eigenen Wahrnehmung, wobei die gegen alle Regeln der Zentralperspektive verstoßende Größe dieser Lebewesen zusätzliche Irritationen bewirkt – wird man doch mit Erscheinungen konfrontiert, die vor den Bombengeschwadern des 20. Jahrhunderts nur als Albtraum oder, künstlerisch geformt, nur als Höllenvision in der Art des Hieronymus Bosch oder als Gottesgericht wie in Grandvilles Fiktion Crime et expiation39 vorstellbar waren. Zweitens bleibt der Betrachter über Ursache und Absicht des Angriffs im Unklaren. Das Gebäude ist als unzugänglich und undurchdringlich 39 Vgl. Sello 1972 (wie Anm. 30), Bd. 1, S. 312 (Premier rêve: Crime et expiation, 1847).

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inszeniert; auch die Adlertrophäen auf dem Dach, Zeichen der kaiserlichen Macht, erfüllen apotropäische Funktionen. Von den Offizieren und Schreibern, die innen ihre Amtsgeschäfte versehen, erfährt man nichts. Unklar bleibt, ob Meryon sich vorstellte, dass dort ein Krieg vorbereitet, Willkür getrieben oder sonst ein Unrecht verübt werde, das den Angriff ausgelöst haben könnte.40 Dieses Verschweigen einer visuell nachvollziehbaren Begründung gehört zu der surrealen Strategie des Künstlers. Übrigens wird diese Verunsicherung durch den Zusatz »Fictions & Vœux« in der Legende des Blattes (eine Schutzformel?) eher verstärkt als gemindert. Drittens bleibt der Betrachter, ganz wörtlich, im Dunkeln hinsichtlich der Reaktion auf das Geschehen und wird dadurch ebenfalls verunsichert: das vertraute Leben auf der Straße entzieht sich ihm. Infolge des seitlichen Gebäudeanschnitts sind die Fenster hinter den Kolonnaden verdeckt, so dass man nicht sieht, wie in den Amtsräumen reagiert wird. Die Gegenwehr auf dem Platz versinkt vollends im Schatten. Meryon stellt somit einen rätselhaften, gefährlichen und unbestimmbaren Angriff dar, gegen den sich niemand zu wehren vermag. Bildimmanent und vom Betrachter her gesehen gilt: Der Einzelne kann sich mit niemandem identifizieren; denn das Haus der Angegriffenen bleibt ihm verschlossen, und auf dem Platz ist niemand, mit dem er in einen fiktiven Diskurs eintreten, mit dem er sich auseinandersetzen, dem er ins Auge sehen oder dem er sich gar anschließen könnte. Er bleibt, wie Baudelaires solitärer Wanderer in der Wüste der Großstadt, inmitten der Menge allein. In den protosurrealistischen Blättern Meryons wird das Unheimliche demnach als unvermuteter, rätselhafter und Angst auslösender Einbruch gefährlicher imaginärer Lebewesen in den Alltag inszeniert. Zu diesem Teil seines Œuvres zählt das 1864 radierte Blatt Vue à vol d’oiseau du Collège Henri IV ou Lycée Napoléon prise du sommet du Panthéon. Auch von diesem Blatt existieren mehrere Zustände. Auf manchen ist allein die Ansicht des Gymnasiums und seiner Umgebung wiedergegeben, im 4. Zustand hingegen (Abb. 9) ist die berühmte Lehranstalt samt angrenzenden Pariser Gebäuden in eine Weltlandschaft versetzt, in der Hochgebirge und offenes Meer unmittelbar an die Pariser Innenstadt grenzen. Der Kontrast zwischen dem getreuen Konterfei der Häuser und der fantastischen Erfindung ist deshalb so verblüffend, weil beide Teile in größter Exaktheit gezeichnet sind. Dem Betrachter wird suggeriert: Hier ist kein Zweifel möglich – beides ist gleichermaßen real. Unter dem Aspekt des Unheimlichen interessiert 40 Ursprünglich war der Platz von Wassergräben umzogen, die erst 1852 zugeschüttet worden waren. Möglicherweise war diese Veränderung ein Anlass für Meryon, gerade diesen Platz auszuwählen. Doch hatte der ehemalige Seemann wohl auch persönliche Gründe, alte Rechnungen mit dem Ministerium zu begleichen; 1849 hatte er den Dienst in der Marine quittiert. Im übrigen enthält die Komposition eine Erinnerung an die Revolution von 1848. Wie aus Briefen an den Vater hervorgeht, war diese Revolution das prägende, aber auch traumatische Jugenderlebnis des 1821 geborenen Meryon. Vgl. dazu auch Ausst.-Kat. Meryon 1975 (wie Anm. 9), S. 95.

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Abbildung 9: Charles Meryon, Vue à vol d’oiseau du Collège Henri IV ou Lycée Napoléon

prise du sommet du Panthéon, Radierung, 4. Zustand, 1864 (Schneiderman 1990, Nr. 91 IV)

vor allem die an die Häuser anbrandende See. Es gibt nicht die Andeutung eines Uferstreifens. Nicht nur diese Gefährdung kann Erschrecken auslösen, sondern erst recht, was auf dem Meer vor sich geht: sechs oder sieben Wale von riesiger Größe, manche von ihnen Wasserfontänen versprühend, rücken heran, vorneweg ein Seeungeheuer, dahinter mehrere Segelschiffe. Den Horizont überragend, stehen Neptun und Amphitrite, als gewaltige Aktfiguren, auf zwei Walen; in eine zentralperspektivische Relation zu den Bauten gesetzt, würden sie die Höhe von fünf- bis siebenstöckigen Häusern erreichen. Nicht die Sonne, sondern ein dreieckiges Licht erstrahlt über ihnen.41 Übergroße Fische und Vögel tummeln sich in und über der See. Aber auch im »Pariser« Teil des Blattes geht es nicht ganz geheuer zu. Neben Schlittschuh laufenden, ringenden und turnenden Schuljungen erblicken wir im Vordergrund ein sich aufbäumendes Einhorn und rechts eine allegorische Frauengruppe – Meryon hat die Hauptfigur als »générosité« und als »abondance« bezeichnet42; sie gibt die Fülle der Weisheit an die Schüler weiter. Offensichtlich spielt der Künstler mit den Realitätsebenen. Er spielt auch mit den Proportionen, denn im Inneren der Schulhöfe sehen wir winzige Schulkinder; nur sie sind mit der Perspektive Meryons vereinbar (er hatte die Schule von der Kuppel des Pantheon aufgenommen). Und schließlich spielt der Künstler mit der Bedeutung, die von der Konvention her bestimmten Formen zugewiesen sind: Einige der Baumkronen, welche die Dächer der Höfe überragen, wirken 41 Offenbar das Erleuchtungssymbol der Freimaurer. 42 In einem ausführlichen Brief, den die Zeitschrift L’Union des Arts von ihm erbat und der in der Nummer 40 vom 29.10.1864, S. 3 abgedruckt wurde; zum Inhalt vgl. Heraeus 1998 (wie Anm. 19), S. 122. Ein zweiter Brief Meryons erschien in Nr. 41, 5.11.1864.

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wie Echsen, die auf den Dächern lustwandeln. Diese Allusionen, Verrückungen und Phantasmagorien entziehen sich durchaus nicht der Deutung und sind keinesfalls nur mit persönlichen Ängsten zu erklären, wie dies Meryons Arzt, Dr. Gachet, versucht hat.43 Vielmehr greift Meryon hier den Topos der Gleichsetzung von Großstadt und wilder Natur auf, mit dem zwei Jahrzehnte vorher Eugène Sue gearbeitet hatte; dort kommen übrigens schon »Reptilien« in Pariser Altstadtvierteln vor.44 Paris als Ozean zu beschreiben, war ebenfalls geläufig; Edmond Texier hatte die Stadt als »mer orageuse, hurlante […], qui clapote, tempête, mugit au milieu de l’océan immobile de monuments et d’édifices, vagues pértifiées« bezeichnet.45 Auch die fantastischen Motive als solche sind nicht singulär: Célestin Nanteuil und Grandville haben vergleichbare Zusammenstellungen gewagt.46 Unter dem Aspekt des Unheimlichen ist hingegen das unvermittel43 Brief Dr. Gachets an Aglaüs Bouvenne vom 1.12.1881. Dass Meryon als Seemann Angst vor dem Wasser, zumal vor dem Ertrinkungstod, gehabt habe, leuchtet ein – das ist bei Matrosen häufig zu beobachten. Aber das trägt ebenso wenig zur Erklärung der spezifischen Kompositionsweise dieses Blattes bei wie Gachets Vermutung, dass sich hier »Meryons Erlebnisse als Seemann mit seinen Albträumen vermischt« haben. Vgl. Ausst.-Kat. Meryon 1975 (wie Anm. 9), S. 94. 44 Gleich zu Beginn der »Geheimnisse von Paris« setzt Sue die Pariser Unterwelt mit dem Urwald gleich; hier wie dort herrschten kannibalische Sitten. Vgl. Eugène Sue, Les mystères de Paris, Ausg. in 6 Bänden, Paris 1843, Bd. 1, S. 6: Der Leser »pénétrera dans des régions horribles, inconnues; des types hideux, effrayants, fourmilleront dans ces cloaques impurs comme les reptiles dans les marais. Tout le monde a lu ces admirables pages dans lesquelles Cooper […] a retracé les moeurs féroces des sauvages […]. Seulement les barbares dont nous parlons sont au milieu de nous […]«. Speziell für die Radierung Le Collège Henri IV ist die Rede von den Reptilien des Marais bemerkenswert. Zu der Gleichsetzung von Wildnis und Großstadt vgl. auch Norbert Miller/Karl Riha, Eugène Sue und die Wildnis der Städte, Nachwort zur deutschen Ausgabe, 2 Bde., München 2. Aufl. 1974, Bd. 2, S. 665-685. – In ähnlicher Weise setzte Baudelaire Urwald und Großstadt einander gleich; vgl. Walter Benjamin, »Das Paris des Second Empire bei Baudelaire«, in: Gesammelte Schriften, Bd. I/ 2, Frankfurt a. M. 1974, S. 541-542. Noch einen Schritt weiter geht Edgar A. Poe, wenn er die alte Babylon-Metapher von der Großstadt auf eine wilde Insel in der Südsee überträgt: »Der Ort war sonderbar wild und zerklüftet und erinnerte mich an die Beschreibungen, welche uns die Reisenden von der zerstörten Stadt Babylon überbracht haben. Von den Felstrümmern, die nach Norden zu eine riesige, zum Himmel aufsteigende Schranke bildeten, war der Boden nach jeder Richtung hin mit ungeheuren Blöcken und Schuttmassen übersät, die die Überreste irgendeines gigantischen Bauwerks zu sein schienen …« (Edgar A. Poe, »Der Bericht des A.G. Pym aus Nantucket«, Kap. XXI; in: Geschichten des Grauens, Bd. 2, München 4. Aufl. 1975, S. 167). Zur Urwaldmetaphorik vgl. ferner Norbert Miller, »Paris in der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts«, in: Ausst.-Kat. Meryon 1975 [wie Anm. 9], S. 25-34; ders., Die Exotik des Vertrauten, in: Daidalos 16, 15. Juni 1985, S. 43-63. 45 Edmond Texier, Tableau de Paris, 2 Bde., Paris 1852, hier Bd. 1, Einleitung, S. III. Diese und weitere Quellen bei Steinhauser 1976 (wie Anm. 20), S. 83. – Bei Texier (ebd., Bd. 1, S. I) wird Paris übrigens auch noch einmal als »merveilleuse Babylone« bezeichnet. 46 Zu Nanteuil vgl. Ausst.-Kat. Meryon 1975 (wie Anm. 9), S. 74; zu Grandville vgl. Sello 1972 (wie Anm. 30), Bd. 1, S. 312 (Premier rêve: Crime et expiation, 1847).

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te Aufeinanderprallen der Gegensätze, die Zerstörung aller Relationen und das scheinbare Festhalten an einer naturgetreuen Stadtansicht (also die Weigerung, das gesamte Blatt fantastisch zu gestalten) bemerkenswert. In Le Stryge (Der Vampir) von 1853 (Abb. 10), der bekanntesten Radierung Meryons, konfrontiert uns der Künstler mit einer wasserspeienden Teufelsfratze von Notre-Dame. Wir befinden uns auf gleicher Höhe mit dem geflügelten Wasserspeier, der sein groteskes Gesicht in die kralligen Hände stützt. Mit ihm geht der Blick in die Ferne, über die Tour Saint-Jacques hinweg zu den Hügeln von Montmartre. Die Wirkung des Blattes beruht nicht zuletzt auf der unerhörten Kontraktion der Antipoden Turm und Monster. Zugleich sehen wir hinab in die Pariser Straßenschluchten, und wie in La Morgue ist die Reihe der Häuser durch einen verschatteten Einschnitt in der Mitte unterbrochen, wodurch unsere Aufmerksamkeit zweigeteilt wird. Vier große Raben umkreisen den Wasserspeier im Vordergrund, ein Vogelschwarm in der Ferne schließt sich an. Die Tour Saint-Jacques galt von alters her als ein Zeichen des Widerstandes der städtischen Bevölkerung gegen die Staatsgewalt. Unter Napoleon III. hatte dieser Aspekt an Bedeutung gewonnen, denn der Turm sollte im Zuge der Haussmannisierung abgerissen werden, doch waren die Proteste so stark, dass er stehen blieb und nach Freilegung der Fundamente neu befestigt wurde. Henri Le Secq hat ihn in dieser Position fotografiert47; Victor Hugo hat ihn (in einer Zeichnung von 1837) auf das freie Land versetzt und dadurch in den Rang eines hochragenden Denkmals erhoben.48 In Meryons Radierung fungiert er, in einer ersten Lesart, als Gegenbild zu dem Vampir, wie der Künstler den Wasserspeier in diesem 5. Zustand des Drucks benennt, dem er die folgende, in gotischen Lettern gehaltene Inschrift hinzufügt: Insatiable vampire l’éternelle Luxure Sur la Grande Cité convoite sa pâture (Unersättlicher Vampir, ewige Wollust, der über der großen Stadt nach Beute lechzt). Das Bildfeld ist als einziges der Eaux-fortes sur Paris oval gerahmt49, was ihm eine besondere Bedeutung verleiht, wirkt es dadurch doch wie ein Frontispiz oder Titelbild (dadurch, dass die Raben die ovale Rahmung überschneiden, wird diese konventionelle Form zugleich durchbrochen). Tatsächlich steckt in der grotesken Figur des Wasserspeiers das heimliche Leitmotiv der gesamten Folge, denn es 47 Vgl. Ausst.-Kat. Meryon 1975 (wie Anm. 9), S. 148. 48 Ausst.-Kat. Dessins de Victor Hugo, hg. von Pierre Georgel, Paris, Maison de Victor Hugo, 1971-72, Paris 1971, Abb. 12. 49 Vergleichbar ist nur noch das kleine Blatt Ancienne Porte du Palais de Justice von 1852 (Abb. in Ausst.-Kat. Meryon 1975 [wie Anm. 9], S. 104), das einen annähernd kreisförmigen Umriss aufweist. Dieses Blatt wagte Meryon aus Angst vor der Zensur nicht zu veröffentlichen:

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Abbildung 10: Charles Meryon, Le Stryge (Der Vampir), Radierung, 5. Zustand, 1853

(Schneiderman 1990, Nr. 27 V) Er sah in Wahlspruch und Wappenschild jene republikanische Grundhaltung der Stadt verkörpert, die das Zweite Kaiserreich zwar erschüttern, aber nicht zerstören konnte. Übrigens ist dies nicht der einzige Fall: Auch die Verse unterhalb von Le Stryge wagte Meryon zunächst nicht zu veröffentlichen, »redoutant avec raison la censure de quelqu’hostile«, wie er selbst 1863 an Burty schrieb; vgl. Heraeus 1998 (wie Anm. 19), S. 152 (Zeile 69-70 des Briefes).

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ging dem Künstler ja um die Bedrohung des alten Paris; es war also folgerichtig, eine mittelalterliche Skulptur so stark hervorzuheben. Allerdings war dieser Wasserspeier nicht alt. Er war erst 1850 bei der Restaurierung der Kathedrale durch Viollet-le-Duc aufgestellt worden, und die Neuheit der Skulptur kommt in den harten Außenkonturen und in der festen, konsistenten Binnenzeichnung zum Ausdruck, womit ein völlig intakter Zustand demonstriert werden soll. Konsequenter wäre es gewesen, für das alte Paris eine gotische Figur zu wählen, andererseits ist die Bedrohung, der die Altstadt ausgesetzt ist, durch die Einführung einer neuen Figur mit negativer Bedeutung eindeutiger – nichts könnte die Ausweglosigkeit der verzwickten Situation besser charakterisieren als diese ›Fehlleistung‹. Der eigentliche Vampir war in Meryons Augen der erst am 2. Dezember 1852 zum Kaiser gekrönte Napoleon III. Das Profil des Wasserspeiers mit seiner langen, gebogenen Nase könnte sogar auf dessen Züge anspielen; in jedem Falle war Napoleon für unseren Künstler der Blutsauger und Verderber. Doch kann man in einer zweiten Lesart die Tour Saint-Jacques mit der grotesken Gestalt des Unholds auch zusammensehen. Es ist nämlich nicht auszuschließen, dass Meryon sozusagen selbst in diese unheimliche Maske geschlüpft ist und sich als Wächter über Paris verstanden hat. Zum einen hat er die Skulptur zunächst als »vigie« bezeichnet, als Allegorie der Wachsamkeit. Die Wachthabenden auf Schiffen wurden so genannt. Als einstiger Seemann dürfte Meryon diese Position mehr als einmal bekleidet haben; das weist auf die Möglichkeit einer Identifizierung mit der ausspähenden Figur hin. Hinzu kommt, dass der Künstler sich selbst auch als »grotesque visage« bezeichnet hat, wie wir der Legende seines Selbstbildnisses (Abb. 2) bereits entnehmen konnten. Unheimlich ist in Le Stryge nicht allein die Gestalt des Vampirs insgesamt; rätselhaft und erschreckend ist vor allem der Blick: Einerseits ist das Auge verschattet und wirkt daher blind, andererseits ist in dieses Grau sogar die Pupille eingezeichnet, die, in die Mitte, nahe an die herabgezogenen Stirnfalten gerückt, ein fernes Gegenüber scharf und unerbittlich zu fixieren scheint. Damit stellt sich die weniger ästhetische als psychologische Frage, ob dieses Wesen für Meryon unbelebt oder beseelt gedacht war (auf der Ebene der Objektrepräsentation in der bildenden Kunst ein scheinbar unzulässiger Einwurf) – mit anderen Worten: Es ist zu fragen, ob der Künstler von einer magischen Objektvorstellung besessen war, die ihm kindliche Ängste einjagen konnte wie die, durch den »bösen Blick«50 eines gleichsam lebenden Objekts an seiner eigenen Person Schaden zu nehmen. In diesem Zusammenhang ist der 1. Zustand des Blattes (Abb. 11) von Bedeutung. Hier hat Meryon Turm und Teufel, die beiden magischen ›Lebewesen‹, die eine besondere emotionale Wirkung auf ihn ausübten, noch ausgespart – und kein Zustand wirkt unheimlicher als dieser mit seinen Leerstellen. 50 Freud 1919h, G.W. XII, S. 252.

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Abbildung 11: Charles Meryon, Le Stryge (Der Vampir), Radierung, 1. Zustand, 1853

(Schneiderman 1990, Nr. 27 I)

Mehrfach hat sich der Künstler mit versteinerten Fabelwesen identifiziert und zugleich die Beobachterposition des Künstlers als »hibou spectateur«, als »sehende Eule«, außerhalb und hoch über der Stadt für sich beansprucht51 – was für Meryons Selbstverständnis weniger die Position des Wächters als vielmehr des Außenseiters bedeutete. So sind in Le Stryge Täter und Opfer in einer ›Person‹ evoziert. Übrigens hat diese doppelte Identifikation ihren Vorläufer auch in der 51 Ausst.-Kat. Meryon 1975 (wie Anm. 9), S. 28.

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Figur des Quasimodo in Victor Hugos Notre-Dame de Paris von 183152. Dort wird die groteske Romangestalt, der negative Held, ebenfalls mit steinernen Wasserspeiern und Monstern verglichen.53 Ein anderer Vorläufer ist Delacroix’ Mephisto, der über das alte Paris dahinfliegt.54 Doch indem Meryon sich selbst in solchen Situationen inszeniert, zerstört er das fiktive Ambiente, wird er ortlos und bewegt sich auf vertrautem Gebiet in unvertrauter, erschreckender Weise. Der Künstler selbst hat in einem Brief an Philippe Burty, in dem er übrigens Le Stryge mit der Tour Saint-Jacques verbindet (!), den Wasserspeier der Domäne der Träume zugeordnet. Das ist deshalb bedeutsam, weil er damit der späteren Kritik, seine Radierungen seien irrational, den Wind aus den Angeln nimmt – er wollte gar nicht allein in der Sphäre der Realität verweilen. In dem erst 1998 publizierten Brief heißt es: »[…] ce monstre insolite, curieux assemblage de force et de vice, d’idiotisme et de frénésie, qui là grimaçant et morne, dominant le vide qui se creuse sous lui […], dans son immobilité de pierre, semble réfléchir lui-même, tout cela, dis-je, jette l’esprit, sans qu’on puisse s’en défendre, dans le domaine infini des rêves et de la méditation.« ([…] dieses ungewöhnliche Monster, seltsame Ansammlung von Kraft und Laster, von Idiotie und Raserei, beherrscht Grimassen schneidend und schwermütig in seiner steinernen Erstarrung die Leere, die sich unter ihm auftut […]. Es scheint über sich selbst nachzudenken. All dies, sage ich, wirft den Geist, ohne dass man es abwehren kann, in das unendliche Reich der Träume und der Meditation.)55

Das Hauptbeispiel für die Identifikation des Künstlers mit einem grotesken Fabelwesen ist in Meryons Werk neben Le Stryge die schon erwähnte, im gleichen Jahr 1853 entstandene einzige Lithographie des Künstlers, Le Singe de Notre Dame, mit dem Gedicht Sur une Chimère de Notre Dame de Paris (Abb. 12) – ein Blatt, das allzu selten beachtet wird.56 Dieses Ausschau haltende Geschöpf erinnert an einen Affen und somit unweigerlich an Meryons Aussage, er sei oft mit 52 Meryon selbst hat Hugos Roman als Quelle genannt; vgl. Verdier 1983 (wie Anm. 13), hier S. 221. 53 Über die doppelte Konnotation des Wasserspeiers mit Napoleon III. und Meryon selbst hatte ich Anfang 1975 eine Diskussion mit Margret Stuffmann. Das Ergebnis dieses Gesprächs ist in ihren Katalog eingegangen: Ausst.-Kat. Meryon 1975 (wie Anm. 9), S. 84. 54 Lithographie, 1828. Abb. in Ausst.-Kat. Eugène Delacroix. Themen und Variationen, Arbeiten auf Papier, hg. von Margret Stuffmann, Frankfurt a. M., Städtische Galerie im Städelschen Kunstinstitut, 1987-88, Stuttgart 1987, S. 69. 55 Vgl. Heraeus 1998 (wie Anm. 19), S. 151, Übersetzung (von mir etwas modifiziert) S. 37. 56 Merkwürdigerweise weder in Ausst.-Kat. Meryon 1974 (wie Anm. 24) noch in Ausst.-Kat. Meryon 1975 (wie Anm. 9) behandelt, obwohl im letzteren Katalog (S. 15) das Vorbild gezeigt wird, nämlich Charles F. Daubignys Wasserspeier von Notre-Dame (eine Illustration zu Victor Hugos gleichnamigem Roman). Erst Miller 1999 (wie Anm. 13), S. 9 kommt auf Meryons Blatt zurück und gelangt zu ähnlichen Folgerungen wie Holcomb 1971-72 (wie Anm. 10).

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einem Affen verglichen worden.57 Über die Schimäre hat Meryon (unter Anspielung auf Victor Hugos Notre-Dame de Paris), die folgenden, auf sich selbst bezogenen Verse gesetzt: Dis moi grotesque esprit par qui l’homme est singé Charge des temps passés, démon de la matière Que contemples tu donc, hideux monstre de pierre Dans ce gouffre béant où ton œil est plongé? Rêves-tu le Sabbat? Sur ton crâne rongé Attends-tu pour hurler un baiser de sorcière Comment se pétrifia ta face grimacière, Ou Satan t’avait jugé, ou bien Dieu t’a jugé. Et quand auprès de toi bondissante et craintive D’Esmeralda passait la compagne captive De l’étreindre en tes bras tu ne fus pas tenté? Pour l’Enfer comptes-tu les noyés de la Seine Ou n’es-tu que le masque autrefois redouté l’étrange épouvantail d’une époque lointaine? Novembre MDCCCLIII

(Sag mir, grotesker Geist, durch den der Mensch geäfft wird, Du Ballast vergangener Zeiten, Dämon der Materie, Was betrachtest du denn, abscheuliches Monster aus Stein, In diesem gähnenden Abgrund, in den dein Auge hinabtaucht? Träumst du vom Sabbat? Wartest du, um heulen zu können, Dass deinen kahlen Schädel der Kuss einer Hexe berührt? Wie nur ist dein Grimassengesicht zu Stein geronnen? War es Satans Urteil? Oder hat Gott dich gerichtet? Und als bei dir, zitternd vor Furcht, die gefangene Gefährtin Esmeraldas vorbeizog, Warst du nicht versucht, sie in deinen Armen zu erdrücken? Zählst du für die Hölle die Wasserleichen der Seine Oder bist du nur die ehemals gefürchtete Maske Das seltsame Schreckgespenst einer fernen Epoche?)58 November MDCCCLIII 57 So Baudelaire in dem bereits erwähnten Brief vom 8. 1. 1860; engl. zitiert in: Ausst.-Kat. Meryon 1974 (wie Anm. 24), S. 63. 58 Gegenüber der Transkription bei Bouvenne 1883 (wie Anm. 20), S. 42, wo allzu viele Satzzeichen ergänzt sind, beschränkt sich die hier wiedergegebene auf die notwendigsten. Da das Gedicht, soweit ich sehe, nirgends übersetzt ist, habe ich versucht, es hier möglichst wortgetreu zu übertragen.

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Abbildung 12: Charles Meryon, Le Singe de Notre Dame, Lithographie, 1853

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■ Die Angst des Künstlers – Neuralgie und Neurose Aber Meryon hat sich nicht nur als Scheusal erlebt und an seiner vermeintlichen Inferiorität gelitten, er hat sich auch ›nach oben‹ geträumt und sich den Wachtraum gegönnt, »Kaiser oder König eines mächtigen Staates« oder »Diktator einer starken Republik« zu sein (Träume, die er sogar publiziert, aber in der Zeile unterhalb der Überschrift sogleich ad absurdum geführt hat); am Ende, nachdem er 1866 zum zweiten Male in das Irrenhaus von Charenton eingeliefert wurde, hat er sich für Christus gehalten – vermutlich für einen Christus mit der Dornenkrone.59 Wie bei E. T. A. Hoffmanns Sandmann scheint es möglich zu sein, ein »infantiles Moment für die Entstehung des unheimlichen Gefühls in Anspruch zu nehmen«60, und dieses Gefühl könnte versuchsweise ebenfalls erklärt werden »durch die narzißtische Überschätzung der eigenen seelischen Vorgänge, die Allmacht der Gedanken und die darauf aufgebaute Technik der Magie, die Zuteilung von sorgfältig abgestuften Zauberkräften an fremde Personen und Dinge (Mana), […] mit denen sich der uneingeschränkte Narzißmus jener [animistischen] Entwicklungsperiode gegen den unverkennbaren Einspruch der Realität zur Wehr setzte.«61 Es scheint, dass diese These Freuds in der neueren Literatur nicht widerlegt worden ist. So gehen wir von ihrer Gültigkeit aus und werfen die Frage auf, ob sie auf Meryon übertragbar ist. Meryon bleibt unbehaust; es ist, als habe er das Unheimliche perpetuieren wollen. Aus welchem Grunde aber? Einige Hypothesen dazu können wir vielleicht vorbringen, wenn wir uns nun abschließend der Persönlichkeit Meryons noch entschiedener zuwenden und fragen, ob sich in seiner Biographie und seinen schriftlichen Äußerungen Anhaltspunkte für ein solch magisches Kunstverständnis finden. Vielleicht lässt sich dadurch, ohne die Grenze zwischen Kunst und Leben zu verwischen, dem Hang zur Perpetuierung des Unheimlichen näher kommen. Halten wir zunächst fest: Gerade an neuralgischen Punkten des vergehenden Paris hängt Meryon; sozial längst dysfunktional gewordenen Einrichtungen wie der Pompe Notre-Dame oder der Morgue vertraut er die Emotionen an, die er in der Begegnung mit anderen Menschen nicht austauschen kann. In der »Pauvre Pompe« und dem »Asile funèbre«, in dem vergitterten Haus der Rue des mauvais garçons, in Le Stryge und in der Chimère de Notre-Dame sieht er sich selbst; in den Gebäuden nimmt er seine eigene Leidensgeschichte vorweg. Zu einem Ver59 Kaiser, König, Diktator in den Radierungen La Loi Solaire und La Loi Lunaire von 1856; vgl. Ausst.-Kat. Meryon 1974 (wie Anm. 24), S. 106, 107, Nr. 110, 111 m. Abb. sowie Schneiderman 1990 (wie Anm. 9), Nr. 58 und Nr. 60. – Christus: Bouvenne 1883 (wie Anm. 20), S. 28. 60 Freud 1919h, G.W. XII, S. 244. 61 Ebd., S. 253. Freud schließt daraus, »daß alles, was uns heute als ›unheimlich‹ erscheint, die Bedingung erfüllt, daß es an diese Reste animistischer Seelentätigkeit rührt und sie zur Äußerung anregt« (ebd.).

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such, sich, ohne einer technizistischen Fortschrittsideologie zu verfallen, innerhalb des modernen Lebens zu verwirklichen wie Baudelaire oder Courbet dies gelang, kommt es nicht. Meryon ist nicht gescheitert, wie oft behauptet wird. Aber er war dreifach gefährdet: Er erkannte den Zerfall der alten, nicht mehr heilen Welt und stand diesem Prozess ohnmächtig gegenüber; er lehnte die repräsentative Neugestaltung der Großstadt ab, da sie, mit Zerstörung und Vertreibung verbunden, für ihn unmenschlich war; er vermochte aber auch nicht, seine Kunst agitatorisch zugunsten einer Humanisierung der neuen Wirklichkeit einzusetzen oder sich mit ihrer Hilfe poetisch über sie hinwegzuträumen. Was folgt daraus, dass Meryon in den mittelalterlichen Bauten und Monstern sich selbst erkannte? Wenn ich darauf erst jetzt, am Ende, zurückkomme, so deshalb, weil die Frage nach der Person methodisch erst nach einer Werkanalyse Sinn ergibt, und nur dann, wenn sie auf das Œuvre rückbezogen werden kann. Was die Person angeht, so ergeben die Bilder, als Dokumente für Meryons Seelenzustand des Künstlers gewertet, wenig Aufschluss. Ein Freund, Léopold Flameng, hat den Künstler auf dem Krankenbett kurz vor der ersten Einweisung nach Charenton festgehalten (Abb. 13) – ein Blatt, dessen eindrucksvolles Helldunkel Meryons Tagträumerei unterstreicht, ihm aber nichts von seiner Hellsichtigkeit nimmt. Dr. Gachet schließlich hat Meryon in vier eindringlichen Skizzen wiedergegeben (Abb. 14), in deren Abfolge man bis zur letzten, im Todesjahr 1868 aufgenommenen, zwar immer stärkeren Leidensdruck bemerken kann – Näheres aber kann man daraus kaum schließen. In der Tat war Meryon wohl der einzige Künstler, der sogar seine Schizophrenie produktiv genutzt hat. Man muss sich jedoch davor hüten, hier zu weit gehen zu wollen: Leben und Werk lassen sich bekanntlich nicht in eins setzen. Freud hat die grundsätzliche Unterschiedlichkeit von realer und fiktiver Ebene gerade im Hinblick auf das Phänomen des Unheimlichen sehr deutlich betont; er stellt fest, »daß im Reiche der Fiktion vieles nicht unheimlich ist, was unheimlich wirken müßte, wenn es sich im Leben ereignete«.62 Dichter (und bildende Künstler) behandeln oft »Seelen, Geister und Gespenster, als wären sie vollberechtigte Existenzen, wie wir es selbst in der materiellen Realität sind«.63 Anders aber, so Freud weiter, verhält es sich, »wenn der Dichter sich dem Anscheine nach auf den Boden der gemeinen Realität gestellt hat.«64 Dann reagieren wir »auf seine Fiktionen so, wie wir auf eigene Erlebnisse reagiert hätten […].«65 Diese Feststellung führt uns, soweit zitiert, geradewegs auf Meryon zu. Für ihn gilt, dass er uns zwar mit einer offensichtlich fiktiven Welt konfrontiert, aber in ein und demselben Blatt auch wieder so tut, als biete er nichts als eine historisch und topographisch 62 63 64 65

Ebd., S. 265. Ebd. Ebd. Ebd., S. 266. Ich übergehe Freuds anschließende Darlegungen, weil sie auf Meryon nicht zutreffen. Um so mehr halte ich mich an den sehr aufschlussreichen zitierten Passus.

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Abbildung 13: Léopold Flameng, Meryon auf dem Krankenbett, Heliogravure nach Zeich-

nung, 1858

getreue, objektive Wiedergabe des zeitgenössischen Paris. Dieser Bruch erst macht die Erscheinung der Fabelwesen bei ihm unheimlich. Diesen Bruch offen zu legen, hat zunächst nichts Krankhaftes an sich; man darf das ungewohnte, synthetische, collagenhafte Verfahren, also die Verrückung der Wahrnehmungsgewohnheiten, keineswegs als verrückt interpretieren.66 Vielmehr scheint es, als habe Meryon damit einer psychischen Verstörung Ausdruck verliehen, die uns aufgrund ihrer künstlerischen Produktivität interessiert. Es scheint zwar, dass das – erst 1855 sich andeutende – Krankheitsbild auch paranoide Züge aufwies und dass Meryon zunehmend an einer Persönlichkeitsspaltung litt.67 Doch ist hier Vorsicht geboten: Nicht alles, was als Paranoia oder gar als Schizophrenie diagnostiziert wurde, dürfte heutigen Erkenntnissen standhalten. 66 Man darf ohnehin nicht vergessen, dass vieles, was im 19. Jahrhundert als »verrückt« oder »wahnsinnig« gebrandmarkt wurde, diese Bezeichnung nicht verdient. Vgl. Edgar A. Poe, Eleonora, zit. nach Geschichten des Grauens, Bd. 1, München 4. Aufl. 1975, S. 113: »Ich stamme aus einem Geschlecht, das durch kraftvolle Phantasie und heiße Leidenschaftlichkeit ausgezeichnet ist. Die Menschen haben mich einen Wahnsinnigen genannt; aber es ist doch die Frage, ob der Wahnsinn nicht die höchste Stufe der Geistigkeit bedeutet, ob nicht vieles Glorreiche und alles Tiefe seinen Ursprung in einer Krankhaftigkeit des Gedankens, in dem besonderen Wesen eines Zustandes hat, der auf Kosten des allgemeinen Verstandes aufs äußerte, und zwar einseitig, erregt ist […]« 67 Friedrich Panse, »Persönlichkeit, Werk und Psychose Charles Meryons«, in: Archiv f. Psych-

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Abbildung 14: Dr. Gachet, Meryon in den Jahren 1864, 1865, 1866 und 1868 (4 Skizzen), rote Kreide, Privatbesitz, um 1864

iatrie und Zeitschr. f. Neurologie 187, 1951, S. 205-230. – Miller 1999 (wie Anm. 13) verweist auf Baudelaires berühmte Äußerung: »Mais un démon cruel a touché le cerveau de M. Méryon; un délire mystérieux a brouillé ces facultés qui semblaient aussi solides que brillantes. […]« (Baudelaire, »Salon de 1859«, in: Œuvres complètes 1976 [wie Anm. 34], Bd. 2, S. 667), aber diese Aussage fiel erst 1859.

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Meryon wurde, wie eine Generation später van Gogh, von Dr. Gachet behandelt, der übrigens auch in Kontakt zu dem schwermütigen Alfred Bruyas stand, einem der bedeutendsten Mäzene des 19. Jahrhunderts. Was wir von dieser Behandlung wissen, ist kunsthistorisch und psychiatrisch gleichermaßen erhellend: Gachet gab nämlich eine fulminante Fehldiagnose ab. Er befand, dass Meryon geistesverwirrt sein müsse, weil er unvollständige Sätze konstruiere. In dem oben schon genannten Brief von Dr. Gachet von 1862 werden einzelne Sätze Meryons zitiert, deren teilweise alogische, teils nur elliptische und unzusammenhängende Struktur von Gachet und seither von der kunstgeschichtlichen Forschung unreflektiert als hinreichender Ausweis mentaler Verwirrung betrachtet wurde. Von da aus fiel es nicht schwer, auch die Verrückung der Gegenstände von ihrem gewohnten Ort als getreue Widerspiegelung der Geisteskrankheit anzusehen.68 Aber: Meryons elliptische Satzstrukturen haben bei Baudelaire, Lautréamont oder Rimbaud ihre Parallelen, und seine ungewohnte Organisation des Bildfeldes zeigt zunächst einmal nur, dass alle Objekte frei verfügbar, austauschbar werden, was ein Stück Zeitsignatur ist. Auch Aglaüs Bouvenne hat 1883 einen Brief Meryons als Beweis für dessen Geisteskrankheit herangezogen, der nichts anderes als das unkonventionelle Denken des Künstlers belegt; Meryon pocht darin auf seine Unabhängigkeit und verwahrt sich in völlig normaler Ausdrucksweise gegen die Zumutung, in einer gefängnisartigen Haftanstalt gehalten zu werden.69 Bouvenne nennt Meryon selbst zu der Zeit, als er noch graphisch arbeiten konnte, ohne Umschweife »le pauvre fou« und bezeichnet auch die beiden surrealen Werke »La loi lunaire« und »La loi solaire« ebenso unumwunden wie unbegründet als »deux œuvres complètement folles«.70 Selbst das für Bouvenne wichtigste Beweisstück, ein langer Brief, den Meryon am 21. März 1867 aus der Irrenanstalt an seinen einstigen Freund, den Stecher Bracquemond, richtete, reicht als Beweis für eine Geistesverwirrung nicht aus. Der Künstler will »être rendu à la liberté«; er empfindet, dass Bracquemond sich nicht genügend für ihn einsetze, woraus er schließt »que vous n’êtes des nôtres«; daher »il y a nécessité que scission s’effectue entre nous«. Meryon befürchtet, dass sein früherer Kollege jetzt paktiere »avec certaines gens de ce parti hautain, sceptique, mécréant« (womit wohl die Anstaltsleitung gemeint ist); er unterstellt Bracquemond, er sehe in ihm nur noch einen »concurrent fâcheux«, er beklagt die »jalousie de métier« usw.71 Alles in allem handelt es sich um ein von tiefem Misstrauen geprägtes Zerwürfnis, was in einer Konkurrenzgesellschaft leider nichts Ungewöhnliches ist (wobei durch den Freiheitsentzug die Vorwürfe gegen den Freund wohl schärfer ausfielen als es sonst gewesen wäre, aber durchaus berechtigt gewesen sein können). Jedenfalls ist die Argumentation nicht konfus. 68 Vgl. Ausst.-Kat. Meryon 1975 (wie Anm. 9), S. 88, 94. 69 Bouvenne 1883 (wie Anm. 20), S. 29 (Brief Meryons v. 22. 8. 1867 an den Geschäftsführer der Anstaltsverwaltung von Charenton). 70 Bouvenne, ebd., S. 26, 28. 71 Alle Zitate ebd., S. 30-35.

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Was man gegen den Brief weit eher einwenden muss, ist seine insistierende Redundanz, seine schiere Länge, seine letzten Endes produktivitätshemmende Sterilität. Dies hat Bouvenne nicht bemerkt; statt dessen nimmt er den Brief zum Anlass, auf einen angeblichen »désordre cérébral« auch in den Werken zu schließen, désordre qui fut l’inspirateur des nombreuses et regrettables retouches qu’il fit subir à presque toutes ses planches, les surchargeant inutilement de figures, d’emblèmes souvent incompréhensibles où courent dans les airs ces ballons accompagnés de légendes obscures? que signifient les enseignes ajoutées à des maisons historiques, que veulent-elles dire? (voyez la tourelle dite de Marat) et le Ministère de la Marine, ces figures allégoriques dont les ciels sont surchargés?72

Bouvenne geht so weit, einer Purifizierung das Wort zu reden, nur die ersten Zustände hält er für »gesund«, alles andere für hochgradig »verwirrt«. Das alles ist obsolet, aber nur allzu geläufig: Selbst Blake und Daumier wurden als »fou« bezeichnet, und Grandville, der 1847 im Irrenhaus starb, hatte so viele »verrückte« Kompositionen geschaffen, dass ihm mit diesem Ende in den Augen der Zeitgenossen nur recht geschah.73 Da dieses Verdikt auch Künstler traf, die nicht oder 72 Ebd., S. 35. – Mit der »tourelle dite de Marat« ist die Radierung Tourelle rue de l’École de Médecine von 1861 gemeint, Abb. in Ausst.-Kat. Meryon 1975 (wie Anm. 9), S. 126 sowie Schneiderman 1990 (wie Anm. 9), Nr. 72 I/III/X/XIII; zur Interpretation vgl. Philippe Junod, »Meryon en Icare? Hypothèses pour une lecture de la Tourelle, rue de l’École-deMédecine«, in: Ausst.-Kat. Charles Meryon, David Young Cameron (ohne Hg.), Genf, Musée d’Art et d’Histoire, 1981, Genf 1981, S. 81-97. Der Name geht auf eine Tradition zurück, nach der Marat in diesem Turm ermordet worden sein soll. Für Meryon enthielt dieses Blatt eine Rückerinnerung an die Hoffnungen der Revolution von 1848, mit deren Zielen er sich identifizierte. Wie sehr Bouvenne Unrecht hatte, wenn er Meryon hier die Verwendung unverständlicher Zeichen ankreidet, sieht man schon daraus, dass der Künstler diese Zeichen (Allegorien der Wahrheit und der Gerechtigkeit) in einem späteren Zustand aus Angst vor der Zensur löschte. Vgl. dazu vor allem Steinhauser 1976 (wie Anm. 20), S. 82. Meryon hat zeitlebens moralisch argumentiert, wohl auch, um eigene Schuldgefühle zu übertönen. Dieser Aspekt, der hier nicht weiter verfolgt werden kann, wurde vor allem behandelt von Hartau 1987 (wie Anm. 38). 73 Die Frage nach der Geisteskrankheit oder gar der Schizophrenie Meryons wird erneut (und sehr konkret am Material) aufgeworfen von Michel Thévoz, »La recherche du sens perdu«, in: Ausst.-Kat. Meryon, Cameron 1981 (wie Anm. 72), S. 105-124. Der Autor schreibt mit Recht: »S’il y a un sens à cette suspension du sens en pleine inflation académique, la question n’est plus de savoir si Meryon était ou non un insensé, mais si cette question a encore un sens« (S. 105). Allerdings kann ich seinen Thesen zu Meryons »double bind«-Komplex mit dessen Bewunderung der konventionellen Malerei nicht immer ganz folgen. Es geht m. E. nicht darum, dass Meryon etwa Ary Scheffer zu seinem Idol erhob, sondern es ging ihm um eine sinnerfüllte Malerei. »Sinn« aber konnte er der modernen Malerei, die ja zunächst den überkommenen Sinn preisgab, nicht abgewinnen. Da erging es ihm ähnlich wie Proudhon, der erst dann zu Courbet finden konnte, als dieser ihm 1863 ein ikonographisch bedeutsames Bild lieferte.

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nicht erkennbar geisteskrank waren, dürfte es primär als Projektion einer nicht verarbeiteten gesellschaftlichen Umbruchsituation auf bestimmte Individuen – Künstler vor allem – zu verstehen sein, von denen sich Teile des Bürgertums zeitweilig die allgemeine Erneuerung erhofften.74 Das Vorurteil, das Ungewöhnliche, Erschreckende, Unvertraute sei verrückt, hat aber im Falle Meryons die Forschung bis heute beeinflusst. Es verdeckt den Blick auf das, woran dieser Künstler wirklich erkrankt gewesen sein mochte. Nochmals sei es gesagt: Die Verrückung der Objektwelt kann nicht als Verrücktheit ausgelegt werden, und der Zerfall einer eindeutigen Ikonographie wird heute geradezu als Epochenkennzeichen des späteren 19. Jahrhunderts gesehen, kann also ebenfalls nicht Meryon angelastet werden. Wie die Traumforschung ergeben hat75, ist Eindeutigkeit auf diesem Feld in einer Epoche, die nicht mehr starr zwischen Innenwelten und Außenwelten trennte, nicht zu erwarten. Seitdem Tagträume sich mit dem Bedürfnis verbanden, Bewußtseins- und Wahrnehmungsdiskurse künstlerisch zu reflektieren, war Vieldeutigkeit angesagt. Wenn also bei Meryon Wale, Luftschiffe, Vögel in einem translogischen oder gar widersprüchlichen Kontext auftauchen, werden damit mehrere Bedeutungsschichten amalgamiert, deren Entzifferung einen ›eingeweihten‹ Betrachter voraussetzt. Das gab es seit Jahrhunderten in der Emblematik. Problematisch wird das Ganze erst, wenn die Verständigung auch innerhalb der Eingeweihten nicht mehr gelingt. Eine solche Hinfälligkeit früherer Interaktionsmöglichkeiten be-

74 Graphiker scheinen von dieser »Gefahr« (diesem historischen Vorurteil?) besonders betroffen zu sein; vgl. Pierre Courtin, L’œuvre gravé 1944-1972, Paris 1973, S. 20: »La gravure rend méchant, la gravure rend fou, chacun le sait. Les statistiques prouvent que la plus grande quantité de névrosés se trouve dans la profession de graveur […]«. Rainer Michael Mason, »L’habitation poétique, et autres états«, in: Ausst.-Kat. Meryon, Cameron 1981 (wie Anm. 72), S. 113-124, fragt indessen mit Recht, ob dieser Satz nicht selbst von Geistesverwirrung zeugt. – Weit tiefgründiger sind Flauberts Mémoires d’un fou (1838). Weiteres zu diesem Topos bei Maurice Z. Shroder, Icarus, The image of the artist in French Romanticism, Cambridge/Mass. 1961, S. 42, 47f., 60, 71-75. – Eine überraschende rezeptionsgeschichtliche Parallele eröffnet sich bei dem Metzer Architekturmaler François de Nomé (1592/93-1624), dessen Werke »were ›discovered‹ in the twentieth century by an audience attuned to Surrealism and art brut, […] and some critics took the artist’s works to be symptomatic of schizophrenia« (Morten Steen Hansen, »The exhibition Enigma, Monsù Desiderio: Un fantastique architectural au XVIIe siècle, held at the Musées de la Cour d’Or, Metz«, in: The Burlington Magazine, CXLVII, 2005, Nr. 1224, S. 202-203. 75 Präsurrealistische Vorgänge, die sich im Nachttraum oder im Bereich des Mesmerismus manifestiert haben, sind eher untersucht worden als Einfälle, die sich infolge eines Tagtraums oder einer kuriosen Stimmungslage herausgebildet haben. Vgl. Tony James, Dream, creativity and madness in 19th Century France, Oxford 1995; Heraeus 1998 (wie Anm. 19); Jonathan Crary, Suspensions of perception. attention, spectacle, and modern culture, Cambridge/MA u. London, 1999; Ausst.-Kat. La Peinture comme crime, hg. von Régis Michel, Paris, Louvre, 2001.

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einträchtigte z. B. die Verständigung zwischen Meryon und Baudelaire, wie aus dem erwähnten Streit um die Adler hervorgeht. Doch auch dieser Fall ist nicht eindeutig; im Grunde standen hier unterschiedliche Modi der Verständigung zur Debatte: Beide Künstler argumentierten positivistisch (optische Wahrscheinlichkeit vs. Nachricht aus dem Regierungslager); beide zielten auf eine Objektivität ab, die sie gar nicht meinen konnten. So redeten sie in ihrer Alogizität aneinander vorbei. Darum ist auch dieser Beleg alles andere als ein Hinweis auf verwirrten Geisteszustand. Ernster zu nehmen ist daher die andere, schon angedeutete, Folge solcher Kommunikationsstörungen: die Auszehrung. Um 1863 ließ Meryons Produktivität zum ersten Male nach (eine Krise, von der er sich jedoch 1864-65 wieder erholte); er schuf damals eher trockene Blätter wie Océanie, Pêche aux Palmes (1863), Presqu’Île de Banks, Pointe des Charbonniers, Akaroa (1863)76 – eine Folge des Mangels an Verständigungsmöglichkeiten? Führte dies zur fruchtlosen Wiederholung von Anklagen in den Briefen? Hängt damit wiederum der Hang zur Perpetuierung des Unheimlichen zusammen? Dieses wäre dann mehr als ein fiktives, also ephemeres Geschehen, es würde ein reales, unseliges Beharren auf dem Zustand des Unbehaustseins bedeuten, der in den eben angeführten späten Blättern oder, zu Beginn der zweiten Krise, in L’Ancien Louvre, d’après Zéeman (1865-1866)77, zu Entleerung und Verödung führt. Insgesamt aber besteht die Spannung bei Meryon gerade in der unerhörten Mixtur von präsurrealer Fiktion und einer positivistischen Bodenhaftung, die das Umkippen des Vertrauten in bodenlose Unheimlichkeit als die denkbar entfernteste aller Möglichkeiten erscheinen lässt und den Betrachter daher um so sicherer – verunsichert. Abbildungsnachweis: Goesta Ecke, Charles Meryon (Meister der Graphik, Bd. XI), Leipzig o. J. [1923], Tf. 1 (= Abb. 2), Tf. 3 (= Abb. 14), Tf. 5 (= Abb. 12), Tf. 6 (= Abb. 13), Tf. 9 (= Abb. 10), Tf. 13 (= Abb. 4), Tf. 17 (= Abb. 3), Tf. 20 (= Abb. 6), Tf. 21 (= Abb. 7), Tf. 22 (= Abb. 5), Tf. 26 (= Abb. 9), Tf. 29 (= Abb. 8). Ausst.-Kat. Charles Meryon, Paris um 1850 Zeichnungen, Radierungen, Photographien, hg. von Margret Stuffmann, Frankfurt a. M., Städelsches Kunstinstitut und Städtische Galerie, Hamburg, Hamburger Kunsthalle, Den Haag, Haags Gemeentemuseum, 197576, Stuttgart 1975, S. 102 (= Abb. 11), S. 97 (= Abb. 1).

76 Ausst. Kat. Meryon 1974 (wie Anm. 24), Nr. 93, 96 sowie Schneiderman 1990 (wie Anm. 9), Nr. 88 V/VI und Nr. 89 III/IV/VII. 77 Ausst. Kat. Meryon 1974 (wie Anm. 24), Nr. 85 sowie Schneiderman 1990 (wie Anm. 9), Nr. 96 I/IV/V/VII.

■ Mechthild Fend

Geblähte Körper Die Haut oder das Unverhältnis von Innen und Außen in den Porträts von J.-A.-D. Ingres »Umrisslinien sind niemals ausgehöhlt, sie sind, im Gegenteil, gewölbt.« J.-A.-D. Ingres1

Die Gemälde des französischen Künstlers Jean-Auguste-Dominique Ingres riefen bei zeitgenössischen Kommentatoren, wie dem Kunstkritiker Théophile Silvestre, Phantasien der Gewalt auf. Besonders die Porträts von Frauen, auf den ersten Blick würdevolle Bildnisse eleganter Damen der Gesellschaft, beschrieb Silvestre (1856) als ein Werk der Deformation: »Der rechte Arm von Mme Duvauçay ist ein aufgeblasener Darm; die rechte Hand von Mme Leblanc ist ausgestopft; die Finger der Prinzessin Broglie sind gebrochen; die Nase von Mme Moitessier existiert nicht […]. Wenn die Figuren des Herrn Ingres sich beschweren könnten, so stiege aus seinen Bildern ein Schreien und Stöhnen auf, wie es sich aus Schlachtfeldern erhebt.«2

Nicht nur hinsichtlich der hier genannten Porträts, sondern grundsätzlich stand Silvestre Ingres und damit einem Künstler, der die Tradition des Neoklassizismus ins 19. Jahrhundert transformierte, skeptisch gegenüber. Seine Vorliebe galt Delacroix, der in seinen Gemälden stärker mit dem Ausdruckspotential des maleri-

1 Henri Delaborde (Hg.), Ingres, sa vie, ses travaux, sa doctrine d’après les notes manuscrites et les lettres du maître, Paris 1870, S. 130: »Jamais les contours extérieurs ne creusent. Au contraire, ils bombent«. 2 Théophile Silvestre, »Ingres d’après nature« (zuerst in: Histoire des artistes vivants: Etudes d’après nature, 1856), in: Ingres raconté par lui-même et par ses amis, ses contemporains, sa postérité. Collection des grandes artistes…dirigée par Pierre Courthion, Vésenaz, Genf 1948, S. 15-56, hier S. 41: »Le bras droit de Mme Devauçay est un boyau soufflé; la main droite de Mme Leblanc est empaillée; les doigts de la princesse de Broglie sont brisés; le nez de Mme de Moitessier n’est pas […]. Si les personnages de M. Ingres pouvaient se plaindre, il sortirait de ses tableaux tous les cris, tous les gémissements qui s’élèvent des champs de bataille.« Am ausführlichsten dokumentiert sind die Porträts von Ingres in dem Ausstellungskatalog Portraits by Ingres. Image of an epoch, hg. von Gary Tinterow, Philip Conisbee, London, National Gallery, Washington National Gallery und New York, Metropolitan Museum of Art 1999/2000, New York 1999.

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schen Gestus arbeitete.3 Ingres hingegen, der die Spuren des Malprozesses in seinen Gemälden weitgehend tilgte und für den der Kontur wesentliches Formelement in der Bezeichnung war, warf er vor, die Gegenstände in starre Linien einzuspannen und seine Objekte zu »versteinern«.4 Ausgerechnet an dem Künstler, der ihm als Repräsentant der akademischen Tradition galt, bemängelte Silvestre überdies gravierende Fehler in der Zeichnung. Doch die Frage, ob die von Silvestre benannten Eigenschaften von Ingres’ Gemälden nun auf künstlerisches Unvermögen zurückzuführen sind, oder, wie heutige Kommentatoren im Gegensatz dazu nahe legen, Abstraktionstendenzen darstellen, die Ingres zu einem wichtigen Wegbereiter künstlerischer Positionen der Moderne machen,5 ist hier nicht von Bedeutung. Jenseits der gängigen Gegenüberstellungen von Romantik und Klassizismus oder Modernität und Traditionalismus geht es mir darum, die inneren Widersprüche in der Malerei von Ingres herauszuarbeiten. Dabei schließe ich an diejenigen neueren Arbeiten zu Ingres an, welche die Formqualitäten der Gemälde nicht nur als künstlerische Bewältigung spezifischer Darstellungsprobleme der Moderne würdigen, sondern stärker der beunruhigenden Wirkung nachgehen, die die Stilisierung des menschlichen Körpers in der Malerei hervorruft.6 Es geht darum, die gewaltsamen Phantasien, die Ingres’ Bilder nicht nur bei Silvestre auslösten, ernst zu nehmen und zu fragen, von welchen spezifischen Qualitäten der Körperdarstellung sie provoziert werden. Silvestre entwarf ein Kriegsszenario, um deutlich zu machen, welcher Zwangsbehandlung Ingres die Dargestellten seines Erachtens unterzog. Der Text des Kunstkritikers verfährt aber auch selbst gewaltsam: In einem sadistischen Gestus zergliedert er die Porträtierten, indem er nur isolierte Körperglieder benennt. Das ist hier deshalb von besonderem Interesse, weil er damit eines jener Motive aufruft, das Sigmund Freud später – ausgehend von literarischen Texten des 19. Jahrhunderts, insbesondere seiner Lektüre von E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann – mit dem Unheimlichen in Verbindung bringen sollte: »Abgetrennte Glieder, ein abgehauener Kopf, eine vom Arm gelöste Hand, wie in einem Märchen

3 Vgl. zu Théophile Silvestre: Jean-Paul Bouillon u. a. (Hg.), La promenade du critique influent. Anthologie de la critique d’art en France 1850-1900, Paris 1990, S. 50-51. 4 Silvestre 1856 (wie Anm. 2), S. 37: »Ainsi, quand il accuse en lignes inflexibles le contour des objets, naturellement ondoyant ou fondu dans l’atmosphère, il pétrifie les objects«. 5 So vor allem Uwe Fleckner, Abbild und Abstraktion. Die Kunst des Porträts im Werk von J.-A.D. Ingres, Mainz 1995; und bereits Robert Rosenblum, Jean-Auguste-Dominique Ingres, London 1967; sowie zuletzt ders., »Ingres’ portraits and their muses«, in: Ausst.-Kat. Portraits by Ingres 1999 (wie Anm. 2), S. 3-43. 6 Zu nennen ist hier insbesondere Carol Ockman, Ingres’s erotizised bodies: Retracing the serpentine line, New Haven, London 1995. Das Augenmerk auf die Widersprüche in Ingres’ Arbeiten legt der von Susan Siegfried und Adrian Rifkin herausgebene Band Fingering Ingres, Oxford, Malden 2001, vgl. Einleitung, S. 2.

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von Hauff, […] haben etwas ungemein Unheimliches an sich«.7 Das 19. Jahrhundert hatte eine besondere Affinität zum Unheimlichen,8 der sich auch Ingres, wie Adrian Rifkin meint, nicht entziehen konnte: »Durch ein glückliches Zusammentreffen koinzidieren Ingres’ unheimliche Distorsionen mit der Verbreitung von denjenigen, die Freud zu seiner Theorie des Unheimlichen führen sollten – den Geschichten von E. T. A. Hoffmann. Diese sollten einen Teil der Pariser Elite buchstäblich überwältigen, als sie Ende der 1820er Jahren in der Revue de Paris, dem Journal des Débats oder anderen bedeutsamen kulturellen und politischen Organen übersetzt wurden. Wenn das also die kulturelle Szene war, gegen die Ingres anmalte, dann klingt sie dennoch in seinem künstlerischen Verfahren an und kontaminiert es.«9

Rifkins methodischer Zugriff besteht darin, Ingres retrospektiv mit dem Unheimlichen zu traktieren. Er verwendet ein bewusst eklektizistisches Verfahren, Hoffmann und Ingres aufeinander treffen zu lassen, »um einen neuen Platz für das Moderne bei Ingres zu finden«.10 Das Moderne ist dann gerade da zu suchen, wo der Traditionalist sich am entschiedensten dagegen verwahrte. Ähnlich möchte ich für die Bildnisse von Ingres zeigen, wie das Unheimliche unfreiwillig, wie ein Kehrbild, hinter den, auf den ersten Blick einheitlich gefassten, Körpern der Porträtierten aufscheint. Die These ist, dass gerade die Betonung des Konturs, die als stilistisches Verfahren in der Tradition des Neoklassizismus steht, Phantasien von desintegrierten Körpern provoziert. Unheimlich an dem von Freud aufgeführten literarischen Motiv des isolierten Körperglieds ist das Beschwören einer Desintegration: die Verletzung der Integrität des Körpers und dem korrespondierend derjenigen des psychischen Selbst. Für Freud sind körperliche und psychische Identität untrennbar aneinander geknüpft. »Das Ich«, stellt er 1923 in Das Ich und das Es fest, »ist vor allem ein körperliches, es ist nicht nur ein Oberflächenwesen, sondern selbst die Projekti7 Die Texte S. Freuds werden zitiert nach: Gesammelte Werke, Frankfurt. a. M. 1960-1987 (G.W., Band in röm. Ziffern) und Gerhard Fichtner, Ingeborg Meyer-Palmedo, Freud-Bibliographie und Werkkonkordanz, Frankfurt a. M. 1989. Freud 1919h, G. W. XII, S. 257. 8 Mladen Dolar argumentiert, dass das Unheimliche als Kehrseite des aufgeklärten Rationalismus ein spezifsches Phänomen der Moderne sei. Nicht zuletzt zeige sich dies in der besonderen Beliebtheit von Schauerromanen. Siehe: »›I shall be with you on your weddingnight‹: Lacan and the uncanny«, in: October 16 (1991), S. 5-23, hier S. 7. 9 Adrian Rifkin, Ingres then, and now, London, New York 2000, S. 62: »By a happy coincidence, Ingres’ uncanny distortions chronologically coincide with the diffusion of those that are to give rise to the theory of the uncanny in Freud – the stories of E. T. A. Hoffmann, which will literally overwhelm a section of the Parisian cultural elite at the end of the 1820s as they are translated in the Revue de Paris, the Journal des Débats or other significant cultural and political organs. Yet if this was the cultural scene against which Ingres sets his colours, then despite this it resonates in and contaminates his practices.« 10 Ebd., S. 24: »So in framing this piece of work, to find modernity a new place in Ingres, some resort to an arbitrary eclecticism appears pardonable. Hence the matter of E. T. A. Hoffmann.«

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on einer Oberfläche.«11 Die Ich-Bildung vollzieht sich über die – für Freud als Projektion vor allem visuelle – Wahrnehmung der Körperoberfläche. Insofern bringt das Motiv des isolierten Körperteils die Grenzen des Selbst ins Spiel, nämlich als gefährdete.12 Aufgerufen wird eine mit dem frühkindlichen Narzissmus verbundene Erfahrung, in der die Umrisse des Selbst noch nicht klar konturiert sind. Wie Freud schreibt, handelt es sich bei den vom Unheimlichen aufgeworfenen Ich-Störungen »um ein Rückgreifen auf einzelne Phasen in der Entwicklungsgeschichte des Ich-Gefühls, um eine Regression in Zeiten, da das Ich sich noch nicht scharf von der Außenwelt und vom anderen abgegrenzt hatte.«13 Freud verweist hier also auf die Grenzen des Körpers oder besser des Körperbildes. Diesen Aspekt des Unheimlichen hebt der französische Psychoanalytiker Didier Anzieu in seiner Studie Das Haut-Ich hervor: »Die von Freud beschriebene Angst vor dem Unheimlichen ist mit einer Gefahr für die Individualität des Selbst verbunden, welche aus der Schwächung des Gefühls der Selbstgrenzen entsteht.«14 Für Anzieu ist es die Haut, die als körperlich-organische Gegebenheit der psychischen Selbstgrenze, dem Haut-Ich, korrespondiert. Von psychoanalytischen Überlegungen ausgehend lese ich den Text Silvestres als Artikulation einer Sorge um die Körpergrenzen und die Integrität des Ichs, eine Sorge, die durch das Betrachten von Ingres‘ Porträts provoziert wird. Paradoxerweise ist es bei Ingres gerade die Betonung des Konturs – die übermäßige Sicherung der Körpergrenze – die Verunsicherung hervorruft.15 Silvestre berührte die Frage der Körpergrenze in seiner Studie über Ingres nicht nur dort, wo er von abgetrennten Körpergliedern sprach oder den übertriebenen Einsatz der Umrisslinie kritisierte, sondern auch indirekt, indem er in der zitierten Kommentierung der Porträts den Arm der Madame Duvauçay als »aufgeblasenen Darm« und die Hand der Madame Leblanc als »ausgestopft« beschrieb. Er charakterisierte damit die äußerlich sichtbaren Formen der Porträ11 Freud 1923b, G. W. XIII, S. 253. Vgl. dazu auch Judith Butler, Körper von Gewicht, Berlin 1995 (zuerst: Bodies that matter, 1993), S. 88. 12 Vgl. Samuel Weber, »Das Unheimliche als Struktur: Freud, Hoffmann, Villiers de l’IsleAdam«, in: Claire Kahane (Hg.), Psychoanalyse und das Unheimliche. Essays aus der amerikanischen Literaturkritik, Bonn 1981, S. 122-147, hier S. 144. 13 Freud 1919h, G. W. XII, S. 249. 14 Didier Anzieu, Das Haut-Ich, Frankfurt a. M. 1996 (zuerst: Le moi-peau, Paris 1985), S. 137. 15 Auch Fleckner 1995 (wie Anm. 5), S. 271, bringt die Äußerung Silvestres mit der Frage nach der Identität des Menschen in Verbindung: »Die angenommene Integrität des Menschen, die Vorstellung seines in der Idee vorgebildeten Wesens, ist in der Moderne zerbrochen und kann im Abbild der äußeren Gestalt nicht wieder zusammengefügt werden: Die formale Gestaltung des Menschen im Bildniswerk von Ingres […] ist letztlich Ausdruck dieser Erfahrung der Moderne, und nur insofern hat Silvestre recht, wenn er behauptet, den Aufschrei der Dargestellten in den Porträts des Künstlers zu hören.« Fleckner operiert hier mit einem philosophischen, idealistischen Begriff der menschlichen Identität, der anders als der psychoanalytische Ich-Begriff den Körper nicht einbezieht.

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tierten und begab sich zugleich auf ein Terrain, von dem die Gemälde nichts zu sehen geben: er fand ein Bild, in dem die Grenze des Körpers – so ließe sich mit Anzieu sagen – von innen her erfahren und ausgemessen,16 aber auch unter Druck gesetzt wird. Das, was dabei als Körperinneres imaginiert wird – Stroh17 und Luft – ist eine leblose, unfleischliche Substanz. Diese Beobachtung machte auch Charles Baudelaire, der 1855 feststellte, »daß der Maler [Ingres], von seiner fast krankhaften Bemühtheit um Stil fortgerissen, oft die Modellierung unterdrückt oder bis zur Unsichtbarkeit verringert, in der Hoffnung, dadurch dem Kontur mehr Bedeutung zu verleihen; derart, daß seine Gestalten sich wie untadelige Musterzeichnungen ausnehmen, die von einer weichen, leblosen, dem Organismus fremden Materie aufgebläht sind.«18

Durch die Betonung des Umrisses wird die Frage aufgeworfen, was die Haut eigentlich umhüllt, und in der Rede von einem »aufgeblähten« Körper die unangenehme Phantasie einer inneren Leere evoziert.19 Das Äußere verweist nicht auf ein dahinter liegendes Physisches oder Psychisches, und die Porträtierten ermangeln aus der Perspektive Silvestres des Ausdrucks. Es ist neben der Deformation der Körper wohl diese Emotionslosigkeit, die Ingres’ Figuren Anlass gäbe, sich, wie Silvestre meinte, zu beklagen. Damit allerdings rührte der Kritiker an ein Dilemma der Repräsentation: Ist die Fixierung im Bild immer auch ein gewaltsamer Akt, so wäre doch der Grund zur Beschwerde dahin, könnte dem Schmerz darüber Ausdruck verliehen werden. In der Ausdruckslosigkeit der Figuren mit ihrer übermäßig geschlossenen äußeren Hülle artikuliert sich eine Schwierigkeit der Vermittlung zwischen Innen und Außen, die zugleich ein Problem der Repräsentation ist. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Innen und Außen stellt sich für Ingres’ Porträts auf mehrfache Weise. Norman Bryson etwa betont in einem überzeugenden Vergleich zwischen Bildnissen von Ingres und solchen seines Lehrers Jacques-Louis David den fehlenden Bezug zwischen Interieur und Außenwelt.20 Bei David sind die Porträtierten, auch wenn sie in einem Innenraum dargestellt sind, anders als bei Ingres in eine sozial und politisch definierte Umwelt eingepasst. Dabei kann bei den während der Revolution entstandenen Porträts, wie etwa dem Bildnis von Madame Trudaine (1790/91), selbst das Fehlen von Requisiten bedeutsam werden. Die Gemälde entstehen in einer politischen Situation, in 16 Vgl. Anzieu 1996 (wie Anm. 14), S. 142. 17 Silvestre (wie Anm. 2) verwendete das Wort empailler, von paille = Stroh, wörtlich also: mit Stroh ausstopfen. 18 Charles Baudelaire, »Die Weltausstellung 1855«, in: Sämtliche Werke/Briefe, hg. von Friedhelm Kemp und Claude Pichois, München, Wien 1977, Bd. II, S. 241. 19 Vgl. zur Phantasie der inneren Leere Anzieu 1996 (wie Anm. 14), S. 132. 20 Vgl. Norman Bryson, Tradition and desire. From David to Delacroix, Cambridge 1984, S. 159-166.

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der es sich kein Staatsbürger und keine Staatsbürgerin erlauben konnten, sich in die Abgeschlossenheit des Hauses zurückzuziehen und ihren Reichtum durch aufwendige Einrichtungsgegenstände zur Schau zu stellen. Gerade durch die Kargheit des Interieurs und die Schlichtheit der zuweilen in den Farben der Trikolore gehaltenen Kleidung, sind die Dargestellten in ein Verhältnis zur Revolution gebracht.21 Auf eine solche Positionierung der Porträtierten in einem politischen Bezugsrahmen wird bei Ingres verzichtet. Wie Bryson treffend formuliert, stört »kein Verweis auf eine Außenwelt die katzenhafte Selbstgenügsamkeit der Personen. Der häusliche Raum ist von einem politischen Außerhalb abgeschnitten.«22 Die Frauen werden – insbesondere in den späteren Porträts wie dem der Vicomtesse d’Haussonville (1845) oder der Princesse de Broglie (1853) – in geschlossenen Räumen gezeigt, gefüllt mit preziösen Gegenständen und üppigen Stoffen, die jene sinnlichen Assoziationen auf sich ziehen, welche die unfleischliche Haut verweigert: Seide scheint zu knistern, Samt vermittelt entsprechende taktile Reize, und die Polster scheinen den Abdruck von Personen zu atmen, die gerade noch auf ihnen geruht haben. Die weich gefütterten Interieurs werden ganz im Sinne von Walter Benjamins berühmter Formulierung zu einem Gehäuse. Benjamin zufolge begriff das 19. Jahrhundert »die Wohnung als Futteral des Menschen und bettete ihn mit all seinem Zubehör so tief in sie ein, dass man ans Innere eines Zirkelkastens denken könnte, wo das Instrument mit allen Ersatzteilen in tiefe, meistens violette Sammethöhlen eingebettet, daliegt. […] Das zwanzigste Jahrhundert machte mit seiner Porosität, Transparenz, seinem Freilicht- und Freiluftwesen dem Wohnen im alten Sinne ein Ende.«23

Diese dem Wohnen des 19. Jahrhunderts eigene Hermetik ist bei Ingres hervorgehoben, indem die Innenräume weder Türen noch Fenster, sondern zur imaginären Erweiterung des Bildraumes allenfalls Spiegel aufweisen.24 Über Brysons Vergleich hinaus lässt sich bei Ingres noch auf einer anderen Ebene von mangelnder Durchlässigkeit sprechen, nämlich in Hinblick auf die Darstellungsweise der Haut. Die Körpergrenze der Porträtierten ist ebenso hermetisch wie die Räume, in denen sie sich befinden. Mit der Korrespondenz, die ich hier zwischen der Körpergrenze auf der einen, dem Interieur und dem sozialen Raum auf der an21 Vgl. ebd., S. 161. 22 Bryson 1984 (wie Anm. 20), S. 163: »Nothing in the outer world troubles or distracts their sleek, feline self-sufficiency: they are sensualist, and they are relaxed. Where David had placed domesticity in a tense relation to the polis, Ingres cuts domestic space off from the political outside.« 23 Walter Benjamin, Das Passagenwerk, Frankfurt a. M. 1983, Bd. I, S. 292. 24 Die Porträtierten sind entweder in einem geschlossenen Innenraum oder vor einem Landschafts- oder Stadtprospekt dargestellt. Ausnahme unter den gemalten Bildnissen sind meines Wissens lediglich das Porträt der Caroline Murat (1814), das die Schwester Napoleons und Königin Neapels in einem Interieur mit Ausblick auf den Vesuv zeigt, und das in Liège befindliche Gemälde von Napoleon als Erstem Konsul (1804).

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deren Seite herstelle, beziehe ich mich auf die Ethnologin Mary Douglas, die in ihrer Studie Reinheit und Gefährdung (1966) auf den Körper bezogene Rituale und hygienische Praxen als Symbole gesellschaftlicher Prozesse untersucht. Für Douglas ist der Körper ein Symbol, »das für jedes abgegrenzte System herangezogen werden kann«,25 und die Körperränder können bedrohte oder prekäre Grenzen repräsentieren. Ich gehe davon aus, dass bei Ingres wie bei David eine Beziehung zwischen der Behandlung der Grenzen des Körpers und jener der räumlichen wie gesellschaftlichen Grenzen besteht und nehme daher den Vergleich der beiden Künstler hinsichtlich der Darstellungsweise der Haut nochmals auf. Gerade in Hinblick auf die Durchlässigkeit und Lebendigkeit der Haut lassen sich Unterschiede zwischen der Porträtmalerei Davids und der Ingres‘ benennen. Betrachtet seien dabei hier nicht jene während der Revolution entstandenen Bildnisse Davids, die sich durch eine lebhafte Struktur sichtbar bleibender Strichspuren auszeichnen und bei welchen Bildhintergrund und Figur in einem offenen Pinselduktus gegeben sind, sondern solche Porträts, die in Hinblick auf ihren Stil und die malerische Technik Ingres’ Arbeiten näher verwandt sind. So tritt in dem 1795 fertig gestellten Porträt des niederländischen Patrioten Jakobus Blauw (Abb. 1) die Eigendynamik und damit die Selbstthematisierung der Malerei zugunsten einer feineren und verschliffenen Malweise zurück.26 Kleidung und Haut des Dargestellten sind dabei mittels einer detailgenauen Wiedergabe in ihrer Stofflichkeit deutlich unterschieden, wobei besondere malerische Aufmerksamkeit auf Gesicht und Hände verwandt ist. Die Farbe ist hier fein nuanciert, die Tönung der Haut reicht von einem weißlichen Inkarnatston, auf dem hie und da ein bläulicher Schimmer liegt, bis hin zu verschiedenen Rotschattierungen. Durch diese Reflexe zeigt sich die Haut als subtiler Spiegel eines zu imaginierenden Inneren wie Äußeren. Sie ist eine Membran, die auf das verweist, was nicht direkt sichtbar ist: das Körperinnere und die Welt außerhalb des Bildausschnittes. Im Sinne Anzieus ließe sich sagen, dass die Haut als »Instrument und Ort des Austausches mit dem Anderen«27 bestimmt ist. Aber es ist nicht unbedingt notwendig, hier auf Anzieu zu verweisen, denn bereits die Anatomie des 19. Jahrhunderts benannte die Haut explizit als Ort der Kommunikation. 28 Der 25 Mary Douglas, Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu, Frankfurt a. M. 1988 (zuerst: Purity and danger. An analysis of concepts of pollution and taboo, London 1966), S. 152. 26 Vgl. zu dem Gemälde sowie zur Person des Dargestellten Ausst.-Kat. Jacques-Louis David, Paris, Louvre 1989-1990, Kat. Nr. 143, S. 319. 27 Anzieu 1996 (wie Anm. 14), S. 13. Als ein Ort der Kommunikation zwischen Innen und Außen wurde die Haut bereits von den Anatomen des 19. Jahrhunderts beschrieben. 28 So z. B. von Julien Fau, Anatomie des formes extérieures du corps humain, Paris 1845, S. 20: »La peau […] est percée d’ouvertures qui établissent la communication de cette enveloppe avec les membranes muqueuses considérées par les anatomistes comme un tégument interne. […] Les ongles et les poils ne sont que des dépendances de la peau qui, suivant l’élégante

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berühmte Mediziner Bichat, Zeitgenosse Davids, bezeichnete die Haut als eine »limite sensitive«, also eine Grenze (limite), die sensoriell zwischen Innen und Außen des Körpers vermittelt. Meines Erachtens entspricht diese Formulierung Bichats sehr genau der Auffassung der Haut in Porträts wie dem von Jakobus Blauw: Die Körperoberfläche ist einerseits relativ glatt, neoklassizistisch geschlossen, andererseits wird sie durch subtile Farbakzente als ein empfindsames Organ präsentiert.

Abbildung 1: Jacques-Louis David, Jacobus Blauw, Öl auf Leinwand, 92 x 73 cm, 1795,

National Gallery, London

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Außerdem lassen rötliche Felder auf der Hand auf darunter liegende Knochen schließen, die bläulichen Schatten erhöhen nicht nur den Eindruck von Plastizität, sondern lassen subkutane Adern assoziieren. Diese Qualität des Subkutanen wurde in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entdeckt, auch das Wort souscutané taucht erst um diese Zeit in der französischen Sprache auf. Die Aufmerksamkeit für das Subkutane erfolgte im Zuge der Abkehr vom mechanistischen Menschenbild und der Entdeckung des Nervensystems als der bestimmenden Kraft des Lebendigen. Barbara Stafford beschreibt in ihrem Buch Body criticism, wie im 18. Jahrhundert mit dem über das Vermögen der sensibilité auf die Außenwelt reagierenden Nervensystem eine neue Zone unterhalb der Haut verorteter Emotionen entdeckt wird.29 In Davids Porträt von Jakobus Blauw verweist die Haut darüber hinaus nicht nur auf die Anatomie und die Zone des Subkutanen, sondern sie stellt auch eine Verbindung zwischen dem Körper und dem ihm Äußeren her, das Blau ist zugleich Reflex der Umgebung, denn es nimmt die Farbe der Jacke auf. Damit korrespondiert, dass helle Farbpunkte auf der Nase ein von außerhalb des Bildraumes eintreffendes Licht zu reflektieren scheinen. Auch Blauw ist so gezeigt, als reagiere er auf etwas jenseits des Bildes: er hat sich von seiner Schreibarbeit abgewendet und richtet einen aufmerksamen Blick in Richtung des Betrachters. Das fünfzehn Jahre später entstandene Bildnis der Comtesse Daru (Abb. 2) hat, was Pose und Kleidung der Dargestellten anbelangt, große Ähnlichkeit mit in der gleichen Epoche entstandenen Gemälden Ingres’, etwa mit den Porträts von Madame Rivière (1804/1805) und von Madame Duvauçay (1807). Die Damen tragen weit dekolletierte Empirekleider, wobei Brust- und Schulterpartie als relativ große, homogene Fläche präsentiert sind, und demonstrieren mit Schmuck und den locker um den Körper geschlungenen Kaschmirschals Reichtum und modische Orientierung. Gerade im Vergleich mit dem Bildnis des Jakobus Blauw sind bei Davids Darstellung der Comtesse Daru die unbedeckten Körperpartien nur wenig nuanciert und modelliert. Gleichwohl ist auf der hellen Haut ein Echo der Lokalfarben eingetragen: etwas von dem Grün des Schals schimmert auf Arm und Hand; Schulter und Hals reflektieren den Ton der Smaragdkette. Als äußere Begrenzung des linken Arms ist über den darunter liegen29 définition de Bichat, est une limite sensitive, placée à l’extrémité du domaine de l’âme, où les corps extérieurs viennent sans cesse heurter, afin d’établir les relations de la vie animale, et de lier ainsi l’existence de l’homme à celle de tout ce qui l’entoure.« Die von Fau erwähnte Definition gibt Bichat in seiner Anatomie générale appliquée à la physiologie et à la médecine. Paris 1801, Bd. IV, S. 640. 29 Barbara Maria Stafford, Body criticism. Imaging the unseen in enlightenment art and medicine, Cambridge, London 1991, S. 38: »The volatile nervous system – governed by an impressionable sensibilité responsive to environmental effluvia – created a new medium or ›atmospheric‹ third world of fleeting emotions and fluid instincts coursing beneath the skin.« Vgl. grundsätzlich auch die breit angelegte Kulturgeschichte der Haut von Claudia Benthien, Im Leibe wohnen. Literarische Imagologie und historische Anthropologie der Haut, Berlin 1998.

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den Umriss ein trockener, leicht krümeliger Strich gelegt, der eine diffuse Übergangszone bildet.

Abbildung 2: Jacques-Louis David, Comtesse Daru, Öl auf Leinwand, 81,6 x 65,2 cm, 1810, The Frick Collection, New York

Ingres dagegen umriss in seinen Frauenporträts – die neoklassizistische Konzentration auf den Kontur radikalisierend – diejenigen Teile des Körpers, die von den prachtvollen Kleidern unbedeckt bleiben, mit scharfer Linie. Die sichtbaren Hautpartien weisen fast keine Binnendifferenzierung auf und sind von einheitli-

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chem Glanz. Schattierungen sind weniger durch Modifikationen in der Farbigkeit, denn durch Hell-Dunkel-Abstufungen erzielt, was dem Körper eine amorphe Plastizität verleiht, ohne ihn jedoch zu strukturieren. Ganz entschieden distanzierte sich Ingres damit davon, der Haut in Porträt- wie Aktmalerei durch malerische Mittel den Eindruck von Lebendigkeit zu verleihen; und das, obwohl auch im 19. Jahrhundert eine solche künstlerische Fähigkeit, wie etwa in Balzacs Novelle Das unbekannte Meisterwerk (1831/1837) deutlich wird, als Demonstration von Virtuosität und genialischer Schöpferkraft gelten konnte.30 Bei Ingres‘ Porträt von Marie-Françoise Rivière (Abb. 3) zum Beispiel ist die Haut, vor allem am Dekolleté, als monochrome gelblich-beige Schicht gegeben. Nur im Gesicht sind über eine leicht rötliche Färbung die Wangen markiert. An der auf einem Kissen ruhenden Hand sind blaugraue Striche eingetragen. Sie nehmen die Farbe des Samtes auf, sind aber so gerade gezogen, dass sie nicht zugleich als Verweise auf subkutane Adern gelesen werden können. Gerade die Hand mit ihren gelängten Fingern weist so wenig Binnenmodellierung auf, dass sie gänzlich knochenlos wirkt. Die Haut ist an keiner Stelle durch Lichtpunkte belebt und bildet somit keinen Bezug auf ein fiktives Außerhalb des Bildes. Während sich also die Haut in den Bildnissen von David, in dem Maße, wie der Bildraum geöffnet ist, als ein Ort der Vermittlung zwischen Innen und Außen zeigt, korrespondieren bei Ingres die Flächigkeit der Haut mit der Hermetik des Interieurs. Die Beobachtungen zur Geschlossenheit der Körperoberfläche gelten für die Männerporträts von Ingres nur in eingeschränktem Maße. In dem als Pendant zu dem Bildnis seiner Gattin angelegten Porträt von Philibert Rivière (Abb. 4) etwa ist in der Darstellung der Hand eher suggeriert, die Haut spanne sich um eine feste und definierbare Substanz aus Knochen und Muskeln. Doch widerspricht diese Differenzierung der Geschlechter nicht meiner These von einer Korrespondenz zwischen der Hermetik des Interieurs und der Geschlossenheit der Haut in den Frauenporträts. Denn im Rahmen des für die Gesellschaft der bürgerlichen Moderne konstitutiven Dualismus von Öffentlichkeit und Privatheit, Innenwelt und Außenwelt, war die häusliche Sphäre nicht nur weiblich konnotiert, sondern auch der Lebensraum der Frau, zumindest der bürgerlichen Frau.31 Darüber hinaus lässt sich die stärkere Glättung und Idealisierung der weiblichen Körper auch mit künstlerischen Konventionen begründen. In kunsttheoretischen wie anatomischen Abhandlungen des 19. Jahrhunderts, aber auch in wei30 Siehe zu der Novelle in Zusammenhang mit der Frage des Inkarnats Georges Didi-Huberman, Die leibhaftige Malerei, München 2002 (zuerst: La peinture incarnée suivi de ‘Le chefd’oeuvre inconnu’ par Honoré de Balzac, Paris 1984). 31 Vgl. zur geschlechtsspezifischen Aufspaltung des Raumes in der Moderne Griselda Pollock, »Die Räume der Weiblichkeit in der Moderne«, in: Ines Lindner u. a. (Hg.), Blickwechsel. Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit in Kunst und Kunstgeschichte, Berlin 1989, S. 313-332.

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Abbildung 3: Jean-Auguste-Dominique Ingres, Madame Rivière geb. Marie-Françoise-

Jacquette-Bibiane Blot des Beauregard, Öl auf Leinwand, 116 x 90 cm, 1805, Louvre, Paris

ten Teilen der visuellen Kultur, wird die Tradition fortgeschrieben, vor allem den weiblichen Körper in gerundeten, einheitlich konturierten Formen zu sehen und zu repräsentieren. Diese idealisierende Wahrnehmung radikalisierend, erklärte Charles Baudelaire im späteren 19. Jahrhundert die Akrobatin mit ihrem eng sitzenden Trikot, das den Körper abstrahierend modelliert, zum Idealbild der

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Abbildung 4: Jean-Auguste-Dominique Ingres, Philibert Rivière, Öl auf Leinwand,

116 x 89 cm, 1804-05, Louvre, Paris

Frau.32 Diese Form der Abstraktion von der Physiologie ist von der feministischen Kunstgeschichtsschreibung als eine Fetischisierung des weiblichen Körpers 32 Charles Baudelaire: »Der Maler des modernen Lebens« (1863), in: Sämtliche Werke/Briefe, hg. von Friedhelm Kemp, Claude Pichois, Bd. V, München, Wien 1977, S. 250.

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interpretiert worden, eine Fetischisierung, in der die Sinnlichkeit des Fleisches und die potentielle Bedrohlichkeit weiblicher Sexualität gefangen ist.33 In dem, dort aus kritischer Perspektive, angesprochenen Sinne hält auch Georges Bataille hundert Jahre später die Entmaterialisierung des Körpers für das Geheimnis weiblicher Erotik – wobei er Ingres’ Große Odaliske (1814) oder eines seiner Frauenporträts im Auge gehabt haben könnte: »Der erotische Wert der weiblichen Formen ist, scheint mir, an das Zurücktreten jener natürlichen Schwerfälligkeit gebunden, die an den materiellen Gebrauch der Glieder und die Notwendigkeit eines Knochengerüstes erinnert: Je unwirklicher die Formen sind, je weniger deutlich sie der tierischen Wirklichkeit, der physiologischen Wirklichkeit des menschlichen Körpers angepaßt sind, desto besser entsprechen sie dem ziemlich allgemein verbreiteten Bild einer begehrenswerten Frau.«34

Die Konsequenz, mit der Ingres auf die »physiologische Wirklichkeit« verzichtete, führt jedoch dazu, dass diese in einer Art Wiederkehr des Verdrängten die Bilder einholt. Die Idealisierung ist so auf die Spitze getrieben, dass seinen Darstellungen nicht die beruhigende Wirkung eignet, die einem Fetisch mit Freud zugesprochen werden kann.35 Die undifferenzierte Glätte gibt den Figuren eine amorphe Plastizität, die, statt die weibliche Körperlichkeit zu transzendieren, gerade Fragen nach der materiellen Beschaffenheit der Körper aufwirft. Außerdem verstieß die Entleerung allzu sehr gegen die Sehgewohnheiten und die Konvention, das Bild des Körpers über die Kenntnis der Anatomie aufzubauen. Das Studium der Anatomie war seit der Gründung der Kunstakademien fester Bestandteil der Künstlerausbildung. Dazu gehörte auch im 19. Jahrhundert die Teilnahme an von Medizinern abgehaltenem Anatomieunterricht, das Zeichnen nach Skeletten, nach, zumeist aus koloriertem Wachs, gefertigten Muskelfiguren sowie nach anatomischen Illustrationen aus entsprechenden Handbüchern.36 Der an der Akademie nach wie vor hauptsächlich am Modell des männlichen Körpers vermittelten Aktdarstellung geht das Wissen über das inne33 Siehe etwa Abigail Solomon-Godeau, »Die Beine der Gräfin« (zuerst: »The legs of the countess«, in: October 11 [1986/87]), in: Liliane Weissberg (Hg.), Weiblichkeit als Maskerade, Frankfurt a. M. 1994, S. 90-147, hier vor allem S. 101. 34 Georges Bataille, Der heilige Eros (zuerst: L’érotisme, Paris 1957), Darmstadt, Neuwied 1963, S. 140. Aufmerksam geworden bin ich auf diese Passage bei Bataille durch den Text von Charles Bernheimer: »Manets Olympia: Der Skandal auf der Leinwand«, in: Weissberg 1994 (wie Anm. 33), S. 148-176, hier S. 162. 35 Freud 1927e, G. W. XIV, S. 309-317. 36 Eine Neuheit sind seit der Mitte des 18. Jahrhunderts Anatomiebücher speziell für den Gebrauch von Künstlern. Vgl. zum Anatomieunterricht im 18. Jahrhundert nach wie vor Jean Locquin, La peinture d’histoire en France de 1745 à 1785, Paris 1912. Siehe außerdem Anthea Callen, »The body and difference: anatomy training at the Ecole des Beaux-Arts in Paris in later nineteenth century«, in: Art History 20 (1997), S. 23-60. Die Professoren, die im 19. Jahrhundert den Anatomieunterricht für die Schüler der École des Beaux-Arts erteilten,

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re Gerüst des Körpers voraus. Das Innere ist dabei nicht nur das Physische, sondern – damit verknüpft – auch ein im Innern lokalisiertes Psychisches. Gerade im Zusammenhang mit den Schriften Lavaters und der seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert aktuellen Physiognomik wurde über die Möglichkeit nachgedacht, das Verhältnis von Wesen und äußerer Form wissenschaftlich zu bestimmen.37 Dieses Verhältnis beschäftigte gleichermaßen die Anatomietraktate für Künstler. Jean-Joseph Sue, der während der Zeit, als der junge Ingres die Klasse Davids besuchte (1797-1801), für die Schüler der École des Beaux-Arts Anatomie unterrichtete,38 fragte in Hinblick auf die inneren Gefühlsregungen in seinem Traktat Élémens d’anatomie à l’usage des peintres, des sculpteurs et des amateurs (1788) danach, »wie sich die Seelenbewegungen durch die harmonische Tätigkeit der Muskeln im Äußeren manifestieren?«39 Mit der Beziehung zwischen dem physischen Inneren und der äußeren Erscheinung des Körpers befasste sich im 19. Jahrhundert intensiv eine neue Gattung anatomischer Schriften für Künstler, die sich der Anatomie der äußeren Formen des Körpers widmeten. Der erste Text dieser Art ist Pierre-Nicolas Gerdys Anatomie des formes extérieures du corps humain (1829).40 Das Verhältnis von äußerlich sichtbarer Form und dem inneren Gerüst des Körpers, Knochenbau und Muskelbildungen wird hier minutiös erfasst. Diese Vermittlung wird in extensiven Ausführungen gesucht, die jenem »Ideal einer erschöpfenden Beschreibung« folgen, das Foucault als Charakteristikum des klinischen Denkens des 19. Jahrhunderts herausgestellt hat. Zielt dieses Ideal auf eine kontinuierliche »Korrelation zwischen dem Sichtbaren und dem Aussagbaren«41, so hat die Sprache in der künstlerischen Anatomie zudem eine komplexe Übersetzungsarbeit zwischen dem unsichtbaren Inneren und dem sichtbaren Äußeren zu leisten. Als Schwelle zwischen Innerem und Äußerem und als Ort, an welchem selbst eine entsprechende Übersetzung stattfindet, kommt der Haut dabei eine doppelte Funktion zu. Sie ist einerseits die Hülle, die verdeckt und modelliert und so die Intervention, mit welcher der Anatom dem 37 nennt Philippe Grunchec, Le Grand Prix de peinture. Les concours des Prix de Rome de 1797 à 1863, Paris 1983, S. 89. 37 Vgl. Ilsebill Barta, Christoph Geismar (Hg.), Die Beredsamkeit des Leibes, Salzburg, Wien 1992, S. 114. 38 Vgl. zu Jean-Joseph Sue d. J. Grunchec 1983 (wie Anm. 36), S. 89, und Ludwig Choulant, Geschichte und Bibliographie der anatomischen Abbildung, Leipzig 1852, S. 150. 39 Jean-Joseph Sue, Élémens d’anatomie à l’usage des peintres, des sculpteurs et des amateurs, Paris 1788, S. 14-15: »Comment par l’action harmonieuse des muscles, les mouvements de l’âme se manifestent-ils à l’extérieur?« 40 Pierre-Nicolas Gerdy, Anatomie des formes extérieures du corps humain, appliquée à la peinture, sculpture et la chirurgie, Paris 1829. Vgl. zu Gerdy auch Jean-François Debord, »De l’anatomie artistique à la morphologie«, in: Ausst.-Kat. L’âme au corps, Galeries Nationales du Grand Palais, Paris 1993, Paris 1993, S. 102-117, hier S. 106-107. 41 Michel Foucault, Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt a. M. 1988 (zuerst: Naissance de la clinique, Paris 1963), S. 127.

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naiven Auge »zu Hilfe kommt«, notwendig macht, andererseits ist sie jene Membran, an der sich Spuren des Inneren abzeichnen.42 Für den anatomisch geschulten Künstler wäre die gemalte Haut dementsprechend eine Schicht, die über das Wissen vom Körper gelegt wird und auf das Innere verweisend zugleich als Ort der Bezeichnung funktioniert. So beredsam ist der Körper in Ingres’ Gemälden nicht, und es verwundert daher kaum, wenn Zeitgenossen von einer Abneigung des Künstlers der Anatomie gegenüber berichten. In seinem eigenen Atelier, wo er seit 1825 Schüler unterrichtet, verzichtete er auf diesen Teil der Lehre. So erzählte Amaury-Duval (18081885), selbst ehemaliger Schüler von Ingres, in seinem 1878 veröffentlichten Atelierbericht folgende Anekdote: Eine Gruppe von Schülern, man könnte sie als konservative Rebellen bezeichnen, klagte das Anatomiestudium als traditionellen Bestandteil der Ausbildung ein und sprach den Wunsch aus, für das Atelier ein Skelett zu erwerben. Amaury-Duval, der sich in seinem Text auf diese Weise als loyaler Schüler und intimer Kenner der Eigenheiten des Meisters präsentiert, sprach sich als Einziger gegen diese Anschaffung aus und warnte – in einer merkwürdigen Verschiebung – vor der »monströsen« Geldausgabe.43 Seinen Warnungen zum Trotz wurde das Skelett gekauft und in einer düsteren Ecke des Ateliers aufgestellt, so dass Ingres es zunächst nicht sah. Nachdem er es jedoch bemerkt hatte, betrat er das Atelier solange nicht mehr, bis das Objekt schließlich wieder entfernt wurde. Interessant ist, wie Amaury-Duval – und hier zeigt er sich vielleicht nicht als der treue Schüler, der er selbst zu sein vorgibt – die Reaktion des Meisters auf das Knochengerüst beschreibt. Als Ingres das Skelett erblickt, »malt sich«, so heißt es, »ein regelrechtes Gefühl des Entsetzens auf sein Gesicht«.44 Mit der Anwesenheit des Skeletts setzt Amaury-Duval, indem er ein Gefühl auf dem Gesicht des Meisters sich unwillkürlich abzeichnen lässt, genau 42 So schreibt etwa Gerdy 1829 (wie Anm. 40) in seiner Einleitung, S. XII-XIII: »Dans les cas difficiles […] les formes se montrent si mal dessinées ou tellement changées que l’artiste ne peut plus les reconnaître; alors, la science des parties sous-cutanées, […] donne plus de précision aux formes extérieures en en rappelant la structure. Elle rend distinctes ces formes sous-cutanées, malgré la peau qui les voile, […] ainsi l’anatomie, venant au secours des yeux, donne de la transperance à la peau et montre à l’intelligence de l’artiste les formes de la surface du corps par le souvenir des parties cachées sous le voile qui les couvre.« [Hervorhebungen M. F.] 43 Amaury-Duval trat 1825 ins Atelier von Ingres ein und frequentierte es nach Unterbrechung erneut zu Beginn der 30er Jahre. Amaury-Duval [Eugène Emmanuel Amaury PineuDuval], L’Atelier d’Ingres. Édition critique de l’ouvrage publié à Paris en 1878. Introduction, notes, postface et documents par Daniel Ternois. Paris 1993, S. 139: »J’ai parlé de l’antipathie de M. Ingres pour anatomie; voici ce qui nous arriva un jour à propos d’un squelette.« Amaury-Duval empfahl seinen Mitschülern: »dans l’intérêt de votre bourse, de ne pas vous livrer à une aussi monstrueuse dépense.« 44 Ebd., S. 140: »Le squelette étant placé dans la partie la plus obscure de l’atelier, il [Ingres] ne le vit pas tout d’abord; mais, quand il s’approcha pour corriger un de nos camarades qui en

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jenes Verweissystem wieder in Kraft, in dem die Haut ein Ort ist, an dem sich Emotionen mitteilen. In Ingres’ Gemälden hingegen ist der Ausdruck des Emotionalen verweigert, das Äußere kommuniziert kein Inneres.45 Dies zeigt sich in besonders konsequenter Form in dem 1856 nach zwölfjährigen Mühen fertig gestellten Porträt der sitzenden Madame Moitessier (Abb. 5). Es handelt sich um ein Kniestück, das Inès Moitessier in einem weit dekolletierten, ärmellosen Kleid mit üppigem Blumendekor zeigt. Die Haut ist in einem uniformen weißlich-beigen Ton dargestellt, auch hier bildet lediglich das Wangenrot eine Ausnahme. Mittels feiner Schattierungen an den Randzonen wird dem Körper eine ebenso monumentale wie amorphe Plastizität verliehen. Auf Binnenmodellierung ist so weit verzichtet, dass der Körper – von dem Ellenbogen am gebeugten rechten Arm abgesehen – gänzlich knochenlos aussieht. Der linke Zeigefinger ist zugespitzt an den Kopf gelegt und scheint aus einer biegsamen Masse geformt zu sein. Auf der rechten Bildseite sind Schulter und Arm mit einem einheitlichen, nur von einem Streifen Kleid und Armschmuck unterbrochenen Kontur begrenzt. Dabei hat der leicht unterhalb der Schulter ansetzende Träger des Kleides den Effekt, ein Gelenk zu verdecken, so dass der Arm ohne anatomisches Bindeglied aus der Schulter zu fließen scheint. Ohne räumliche Struktur ist diese Körperpartie auf der Fläche organisiert. Das provoziert eine Irritation zwischen Fläche und Raum, wie sie ebenfalls durch die Gestaltung des Gesichts entsteht: Kontur, Auge, Mund und Nase sind als flächige Bildzeichen von der körperhaften Formung des Kopfes unabhängig.46 Auch bleibt die räumliche Position des unter dem Kleid zu vermutenden Körpers diffus. Dort, wo das Kleid eng geschnürt ist, verdecken Fransen die Randzonen, und die Verbindung von Rumpf, Hüfte und Beinen ist unklar. Es ist, als würde sich die Illusion, das Kleid verhülle einen weiblichen Körper, unter dem bauschigen Rock verlieren. Über die Zurücknahme des räumlichen Illusionismus wird außerdem vor Augen geführt, dass unter einem gemalten Kleid kein Körper, sondern die Leinwand sitzt. Der Bildstatus des Gemäldes wird gegen die Aufgabe der Gegen-

45 était tout près (je suivais le maître des yeux), je vis un véritable sentiment d’effroi se peindre sur sa figure«. 45 Rifkin 2000 (wie Anm. 9), S. 122, macht eine ähnliche Beobachtung, wenn er von der Indifferenz Ingres’ den dargestellten Dingen gegenüber spricht, »an indifference for all but the search for style«. Rikfin bringt dies mit der Verminderung der semantischen Funktionen von Kunst zusammen. 46 Dies hat Bryson bereits für andere Porträtköpfe Ingres’ gezeigt. Vgl. Bryson 1984 (wie Anm. 20), S. 125-127; zu Madame Moitessier siehe auch S. 170-173. Bryson kommt es vor allem auf das in Ingres’ Porträts wirksame Prinzip der Verschiebung an. Durch den Bruch zwischen Zweidimensionalität und Dreidimensionalität, der die gewohnte Einheit der Perspektive aufhebt, führt Ingres eine Differenz zwischen Bild und Abgebildetem und zugleich zur künstlerischen Tradition ein.

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Abbildung 5: Jean-Auguste-Dominique Ingres, Madame Moitessier geb. Marie-ClotildeInès de Foucauld, Öl auf Leinwand, 120 x 92,1 cm, 1856, National Gallery, London

standswiedergabe stark gemacht. Das Abweichen von der Abbildhaftigkeit wird noch deutlicher in dem Bild, das in dem Spiegel im Hintergrund zu erkennen ist. Die Dargestellte ist dort derart abstrahiert, dass sie wie ein matter Schatten ihrer selbst erscheint, und die Verformung der Hand ist gesteigert. Zudem sind die Prinzipien der Perspektive außer Kraft gesetzt, der fast en face gezeigte Kopf

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könnte im Spiegel kaum im Profil zu sehen sein.47 Die Möglichkeit einer Selbstvergewisserung über ein (Spiegel-)Bild wird hier unsicher, zugleich sind Fragen der Repräsentation aufgeworfen. Denn das Spiegelmotiv macht auch die Selbstbezüglichkeit des Bildes zum Thema. Außer Madame Moitessier ist in dem Spiegel eine Reihe parallel angeordneter Rahmen reflektiert, es handelt sich, wie in einer späten Ölstudie zu dem Gemälde noch deutlicher wird, um eine Flucht von Spiegeln.48 Eine solche Mehrfachspiegelung ist nur möglich, wenn sich vor der Porträtierten ebenfalls ein Spiegel befände, so dass diese dann nicht aus dem Bild und in Richtung eines fiktiven Betrachters blickte, sondern ihr eigenes Spiegelbild betrachtete. Die Spiegelung hält die Dargestellte gänzlich im Interieur oder im Bildraum gefangen, so wie auf der anderen Seite die Betrachtenden gänzlich aus dem Bild ausgeschlossen werden. Sie werden unablässig auf die Oberflächlichkeit des Bildes gestoßen und von seiner uniformen Glätte abgewiesen. Das Interieur, der intime Innenraum, wird als Oberfläche, als Äußerlichkeit präsentiert, und damit erfährt der Gegensatz zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit eine Störung. Zu Beginn seines Aufsatzes über Das Unheimliche, wo Freud sich mit der Etymologie des Wortes befasst, weist er darauf hin, dass »unheimlich« und »heimlich, heimisch, vertraut«49 kein Begriffspaar bilden, das einander ausschließende Gegensätze bezeichnet. Vielmehr zeigt »das Wörtchen heimlich unter den mehrfachen Nuancen seiner Bedeutung auch eine […], in der es mit seinem Gegensatz unheimlich zusammenfällt. […] Also heimlich ist ein Wort, das seine Bedeutung nach einer Ambivalenz hin entwickelt, bis es endlich mit seinem Gegensatz unheimlich zusammenfällt. Unheimlich ist irgendwie eine Art von heimlich.«50

Das Intime und das Fremde können nicht klar voneinander abgegrenzt werden. In Ermangelung eines französischen Äquivalents für das deutsche Wort »unheimlich« hat Jacques Lacan den Begriff extimité – als eine Art falscher oder künstlicher Gegensatz zu intimité – geprägt. Die Dimension der extimité stört die 47 Das wurde in der Forschung bereits mehrfach hervorgehoben. Vgl. zuletzt Sarah Betzer, »Ingres’s second Madame Moitessier: ‚Le brevet du peintre d’histoire’«, in: Susan Siegfried, Adrian Rifkin (Hg.): Fingering Ingres. Oxford/Malden 2001, S. 31-51, hier S. 37 und 50-51. 48 Vgl. zu der Spiegelung Jean Clay, Romanticism. With a foreword by Robert Rosenblum, New York, Paris, Lausanne 1981, S. 48. Gary Tinterow vertritt im Katalog zur Londoner Ausstellung die These, die Studie sei nicht – oder zumindest nur zum Teil – von Ingres selbst, sondern von einem seiner Assistenten ausgeführt worden. Ingres habe den Assistenten beauftragt, die Studie der Mehrfachspiegelung in Madame Moitessiers Haus anzufertigen. Wie dem auch sei, die Idee, eine solche Mehrfachspiegelung in das Porträt zu integrieren, ist sicher mit einem Hinweis auf eine entsprechende Situation im Haus der Porträtierten nicht hinreichend erklärt. Vgl. Ausst.-Kat. Portraits by Ingres 1999 (wie Anm. 5), S. 439-440. 49 Freud 1919h, G. W. XII, S. 231. 50 Ebd., S. 248 und 250.

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klare Trennung zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit. In diesem Zusammenhang wird Silvestres Sprachbild von dem aufgeblasenen Darm nochmals interessant, denn es erinnert an eine andere Verwendung des Darms als Wurstpelle. Wie eine Pelle wird der »aufgeblasene Darm« zu einer Außenhaut, Inneres und Äußeres sind verkehrt. Die extimité verweist, wie Mladen Dollar im Anschluss an Lacan schreibt, »weder auf das Innere noch auf das Äußere, sondern ist dort lokalisiert, wo die intimste Innerlichkeit mit dem Äußeren koinzidiert und bedrohlich wird, Horror und Furcht provozierend.«51 Von dieser Bemerkung ausgehend kann abschließend festgestellt werden, dass in Ingres’ Porträts die Intimität des Interieurs mit der Äußerlichkeit der Bildfläche zusammentreffen. Die Haut ist der symbolische Ort, an dem dieses Zusammentreffen verhandelt wird, wobei angstvolle Phantasien vom Körperinneren ausgelöst werden. Wie Madame Moitessiers Kleid spannt sich die gemalte Haut nicht um einen zu imaginierenden Körper aus Fleisch und Blut, sondern legt sich direkt auf die Leinwand. Sie wird in ihrer untiefen Glätte zur Metapher für die Oberfläche des Bildes und funktioniert nicht als Ort der Kommunikation. Gerade weil sie den Verweis auf ein physisches oder psychisches Inneres verweigert, macht sie die Repräsentation zum Thema und das gewohnte Verhältnis von Innen und Außen wird fremd. Für Gespräche und Anregungen danke ich Andrea Klier, Edda Hevers, Abigail SolomonGodeau und Falk Berger.

Abbildungsnachweis: Abb. 1, 5 © National Gallery. Abb. 2 © The Frick Collection, 1937. Abb. 3 © R.M.N. Abb. 4 Foto nach: Fleckner 1995.

51 Dolar 1991 (wie Anm. 8), S. 6: »The dimension of extimité […] points neither to the interior nor to the exterior, but is located there where the most intimate interiority coincides with the exterior and becomes threatening, provoking horror and anxiety.« Siehe zu Lacans Kategorie der »extimité« und zum Verhältnis von Innen und Außen in Zusammenhang mit den Arbeiten der Performance-Künstlerin Orlan auch Parveen Adams, The emptiness of the image. Psychoanalysis and sexual differences, London, New York 1996, S. 147-149.

■ Gerlinde Gehrig

Stiegengeschichten – Eine Illustration Alfred Kubins zu Der Sandmann von E. T. A. Hoffmann

Alfred Kubin ließ sich 1911 von E. T. A. Hoffmanns Novellensammlung Nachtstücke zu achtundvierzig Federzeichnungen inspirieren.1 Das Buch erschien 1913 im Verlag Georg Müller in München, der schon 1909 Kubins Roman Die andere Seite publiziert hatte.2 Zu dieser Zeit hatte der Künstler die schöpferische Krise überwunden, in welche er nach der Vollendung seines Frühwerkes geraten war und befand sich auf dem Höhepunkt seiner Tätigkeit als Illustrator.3 Damals entstanden auch Zeichnungen zu den Erzählungen Edgar Allan Poes und die irritierenden Szenen zu Der Doppelgänger von Dostojewski.4 Für die Illustrierung dieser sogenannten unheimlichen Literatur hatte Kubin einen »düsteren Stil« ausgebildet, den er jedoch nach der spezifischen Stimmung seiner literarischen Vorlage nuancieren konnte. So zeigen die Illustrationen zu den Nachtstücken ein nervöses Strichgewirr, in welches die Darstellung gleichsam verstrickt wird und mitunter kaum noch zu erkennen ist. Die einzige ganzseitige Arbeit, die der Künstler zu dem ersten und bedeutendsten Nachtstück Der Sandmann schuf, ist ein prägnantes Beispiel für diesen Stil (Abb. 1). Aber sie zeichnet sich noch durch weitere bemerkenswerte Charakteristika aus. Diese Illustration ist ein Phantasiebild und zwar in zweifachem Sin1 »In einem wilden Schaffensrausch machte ich 48 Zeichnungen für die Nachtstücke unseres einzigen Hoffmann, eine Nachricht, die dir ja wohl auch Freude machen dürfte.« Brief Alfred Kubins an Hans von Müller vom 18. April 1911, Kubin-Archiv, Städtische Galerie im Lenbachhaus, München. 2 E. T. A. Hoffmann, Nachtstücke, mit achtundvierzig Zeichnungen von Alfred Kubin, München, Leipzig 1913. Zur Entstehung der Hoffmannillustrationen siehe auch Gerlinde Gehrig, Sandmann und Geierkind. Phantastische Diskurse im Werk Alfred Kubins, Phil. Diss. Frankfurt a. M. 2001, Köln 2004, S. 41-58. 3 Nachdem sich in den Jahren 1899 bis 1904 die symbolistischen Motive des Frühwerkes erschöpft hatten, geriet Kubin in eine schöpferische Krise, die ihn zu einer Neuorientierung zwang. Eine besondere Rolle spielte in diesem Zusammenhang die Entstehung seines Romans Die andere Seite im Jahre 1907. Sie führte dazu, dass der Künstler sich nach verschiedenen Ausflügen in die Malerei in den Jahren 1904 bis 1907 ganz dem Zeichnen zuwandte. Ein anderer Grund dafür war, dass seine Gemälde ihn weder künstlerisch zufrieden stellten noch beim Publikum besonderen Anklang fanden. Die Tätigkeit als Zeichner und Illustrator bot hier bessere Aussichten und ein besseres Auskommen. 4 Edgar Allan Poe, König Pest und andere Novellen, übersetzt von Gisela Etzel, mit vierzehn Bildbeigaben von Alfred Kubin, München, Leipzig 1911. Fedor Dostojewski, Der Doppelgänger, mit 60 Bildern von Alfred Kubin, München 1913.

G. Gehrig · »Stiegengeschichten«

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ne: sie zeigt eine Szene, die in der Erzählung nur durch ein Geräusch repräsentiert wird, und sie ist eine Schlüsseldarstellung, welche auf Phantasien verweist, die als latenter Inhalt zwischen Bild und Text verhandelt werden. Bei der Erforschung dieser rätselhaften Dialoge spielt das psychoanalytische Verständnis der Phantasien als szenisch strukturierte und funktionale psychische Phänomene, welches sich über Sigmund Freuds Konstrukt der Urphantasien exemplarisch erschließen lässt, eine zentrale Rolle. Freud war schon früh auf das ungeheure Wirkungspotential der Phantasien gestoßen. 1897 schrieb er an Wilhelm Fließ den berühmten Satz, der seinen Zweifel an der Verführungstheorie zum Ausdruck brachte. »Ich glaube an meine Neurotica nicht mehr.«5 Manche der Verführungsszenen, die ihm seine Patienten aus ihrer Kindheit berichtet hatten, konnten sich so niemals ereignet haben. Zudem fiel auf, dass diese Erzählungen ähnliche Muster besaßen und sich unterschiedlichen Gruppen zuordnen ließen. Freud beschrieb sie in der Folge als infantile Sexualtheorien oder als den Familienroman der Neurotiker. Der Ursprung dieser psychischen Bildungen blieb jedoch geheimnisvoll. Dies machte die Einführung eines neuen Begriffs notwendig: der Urphantasie. Bei diesem Modell geht Freud davon aus, dass es einen Kanon bestimmter Basisphantasien gibt, die weitgehend unabhängig vom äußeren Erleben des Subjektes sind. Er erwähnt das Konstrukt zum ersten Mal in der Mitteilung eines der psychoanalytischen Theorie widersprechenden Falles von Paranoia von 1915, und es ist bezeichnend, in welchem Kontext wir es antreffen.6 Der Autor berichtet von der Urszenenphantasie einer paranoiden Patientin, die durch eine akustische Wahrnehmung ausgelöst wird. In diesem Zusammenhang führt er eine Bemerkung Otto Ranks an, dass das Geräusch ein unverzichtbares Requisit der Belauschungsphantasie sei. Es könne sowohl von den sexuellen Aktivitäten der Eltern als auch von dem lauschenden Kind selbst stammen. Diese Funktion des Geräusches als Auslöser der Imagination wird für das Verständnis der Illustration Kubins von besonderer Bedeutung sein. In den Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose findet sich schließlich eine interessante Formulierung. »Wenn man sich in die Deutung der diesbezüglichen Träume des Patienten einließ, fand man die deutlichsten Hinweise auf eine episch zu nennende Dichtung.«7 Freud stellt also fest, dass Phantasien »epischen Charakter« haben. In seinen Berichten davon treffen wir auf Szenen, die wie Schauspiele aufgeführt werden. Sie haben ihre eigenen Orte, ein bestimmtes Personal, einen ereignisreichen Handlungsablauf und unverzichtbare Motive und Requisiten. Doch diese inneren Dramen sind nicht schematisch aufgebaut. 5 Die Texte S. Freuds werden zitiert nach: Gesammelte Werke, Frankfurt. a. M. 1960-1987 (G.W., Band in röm. Ziffern) und Gerhard Fichtner, Ingeborg Meyer-Palmedo, Freud-Bibliographie und Werkkonkordanz, Frankfurt a. M 1989. Brief Sigmund Freuds an Wilhelm Fließ vom 21. September 1897. Freud 1985c (1887-1904), S. 283. 6 Freud 1915f, G.W. X, S. 213. 7 Freud 1909d, G.W. VII, S. 428.

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Abbildung 1: Alfred Kubin, Coppelius und Olimpia, ganzseitige Illustration zu Der Sandmann, Strichätzung, 14,7 x 10,5 cm, 1913

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In ihnen werden bestimmte Muster variiert, die sich als Erklärungsmodelle für die Geheimnisse der infantilen Sexualforschung und die Inszenierungen sexueller Wunscherfüllungen beschreiben lassen.8 Diese Phantasiebildungen behandeln die typischen Konfliktsituationen, welche die frühen psychischen Entwicklungsstufen des Menschen bezeichnen. Sie werden in Kunstwerken verarbeitet und können das Interesse des Rezipienten erregen, da sie Problemstellungen thematisieren, die für ihn von Bedeutung sind. Auf diese Art wird es möglich, dass jene latenten Inhalte, die oftmals Abwehr erzeugen, dennoch zum Gegenstand des kollektiven Diskurses werden. Die Illustrationen Kubins zu den Nachtstücken zeichnen sich in hohem Maße durch eine »Durchlässigkeit« für latente Botschaften aus. Ich werde dies im Folgenden an der erwähnten Illustration zu Der Sandmann nachweisen. Das Bild zeigt eine düstere Hinterhofszene. Von einer hohen schmalen Türöffnung in der Hauswand führt eine Treppe, die von einem Rundbogen gestützt wird, hinunter in den Hof. Auf dieser Treppe befinden sich zwei Gestalten. Eine davon schreitet mit großen Schritten die Stufen hinab, ihre Hand fährt das Geländer entlang. Diese Person scheint männlichen Geschlechts zu sein. Sie ist dunkel gekleidet, und eine Schirmmütze verschattet ihr kaum erkennbares Gesicht. Doch diese Kopfbedeckung hat einen irritierenden Effekt. Auf den ersten Blick wirkt sie beinahe wie das Gesicht des Protagonisten, oder sie könnte eine Maske sein, die er hochgeschoben hat. Seine eigentliche Physiognomie erinnert eher an einen Totenschädel. Unter seinen linken Arm hat der Mann achtlos eine Figur geklemmt, die ein langes weißes Kleid trägt. Diese wohl weibliche Gestalt ist leblos. Ihre Gliedmaßen hängen herunter und schleifen so auf den Treppenstufen nach. In der Hauswand befinden sich ein paar dunkle Öffnungen, die man erst nach längerem Hinsehen erkennen kann. Links neben der Tür ist ein seltsam schmales und hohes Fenster. In der rechten unteren Ecke des Bildes muss sich neben dem »Treppenbogen« ein rechteckiges Kellerloch befinden. Davor zeichnet sich schemenhaft ein Besen ab, der an die Hauswand gelehnt ist. Die Beleuchtung des Schauplatzes ist ungewöhnlich. Über dem Kopf des Mannes befindet sich ein weißes rautenförmiges Feld auf der Hauswand. Es ist außer dem Gewand der Frau die einzige helle Zone auf dem Bild. Die Lichtquelle ist nicht dargestellt. Es kann weder das Licht einer Laterne sein noch der Schein des Mondes, denn beides würde die Szenerie gleichmäßiger erhellen. Der Lichtfleck könnte also eine andere Qualität und eine andere Bedeutung besitzen. Der eigentliche Protagonist dieser Darstellung ist die unheimlich belebte Dunkelheit. Das ganze Bild ist mit einer merkwürdig elektrisierenden Spannung aufgeladen. Sie entsteht durch ein Netz verwirrender und überaus heftiger Schraffuren, das 8 Freud 1905d, G.W. V, S. 95-97. Das Kapitel über die infantile Sexualforschung wurde 1915 hinzugefügt. Als ein Beispiel von vielen für die wunscherfüllende Funktion der Phantasien sei hier auf die Beschreibung der Schlagephantasie in Ein Kind wird geschlagen verwiesen. Freud 1919e, G.W. XII, S. 206f.

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wie ein Schleier die Szenerie verhüllt. Das Grundmuster bilden die waagrechten Linien des Vordergrundes und die durchgehenden senkrechten Striche an den Längsseiten der Illustration. Dieses Gerüst wird von mehreren Schichten diagonaler Schraffuren überlagert. Vorherrschend sind dabei die Linien, welche parallel zur Treppe verlaufen. Die verschiedenen Wandzonen sind mit wildem Gekrakel überzogen, das alle Umrisse verschwimmen lässt. Ein deutliches Muster heftiger diagonaler Kreuzschraffuren befindet sich über dem hellen Fleck und der Personengruppe. Hier werden die Linien breit und fleckig, sie müssen mit besonderem Nachdruck gezeichnet worden sein. Dies zeigt sich auch dadurch, dass die Schraffuren am oberen Bildrand ausbrechen. Sie sind das »Echo« der hastigen Abwärtsbewegung des Mannes. Doch sie vermitteln ebenfalls ein Gefühl der Anspannung, der Erregung und der Gewalttätigkeit. Die Schraffuren haben nicht nur die Funktion, die Dynamik des Geschehens zu betonen, sie materialisieren auch eine spezifische Atmosphäre. Ein weiterer Effekt ist die Verwirrung des Betrachters. Er kann kaum etwas erkennen und wird zu langem und genauem Hinsehen gezwungen. Ein Licht unbekannter Herkunft ist wie ein Suchscheinwerfer auf die Wandzone über dem fliehenden Täter gerichtet, so als dürfe es nicht direkt auf das merkwürdige Paar fallen. An dieser Stelle droht das dichte Netz der Schraffuren zu zerreißen, doch zugleich entsteht eine Gegenbewegung. Das kleine Licht blitzt nur für einen Augenblick auf, sofort wird die Dunkelheit die Szene wieder verschlingen. Obwohl wir die Außenseite eines Hauses sehen, suggeriert diese seltsame Beleuchtung einen Innenraum. Dieser Eindruck erzeugt beim Betrachter Unsicherheit. Was sieht er hier eigentlich, und wie soll er sich zu diesem Geschehen positionieren? Jene Fragen verweisen auf eine wichtige Qualität der Darstellung. Sie provoziert eine Auflösung der Grenzen zwischen Innen- und Außenwelt und führt den Rezipienten in den Bereich der inneren Wahrnehmungen. So erinnert die Illustration an einen undeutlichen Traum, eine verstörende Phantasie oder eine verzerrte Wahnvorstellung. Unter diesen Voraussetzungen wird auch die Funktion des hellen Lichtfleckes, dessen Quelle sich nicht ausmachen lässt, verständlicher. Er bezeichnet den Blick des Subjekte auf dieses flackernde Bild und damit die Bemühung im Dunkel seiner Empfindungen und Gedanken etwas zu erkennen und zu verstehen. Doch das Bild Kubins berichtet vom Scheitern dieses Versuches, denn die Umrisse des Paares bleiben undeutlich. Der Lichtschein trifft die leere Wand über ihm, und es entsteht nur ein blinder Fleck. Die Darstellung innerer Wahrnehmungen als unheimlich belebte Dunkelheit, in welcher sich Bewegungen und Umrisse nur erahnen lassen und in welcher sich Dinge zutragen, die besser unsichtbar bleiben sollten, findet sich auch auf einem Blatt Goyas. Es ist die erste Radierung der Folge Die Schrecken des Krieges mit dem Titel Traurige Vorahnungen kommender Ereignisse (Abb. 2). Wir sehen eine kniende Männergestalt mit ausgebreiteten Armen, die ein zerlumptes weißes Gewand trägt. Die Person schaut nach oben, als erwarte sie von dort den vernich-

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tenden Schlag einer grausamen Schicksalsmacht. Diese Szene spielt an einem seltsamen Ort, der von Zwielicht und Finsternis erfüllt ist. Die dynamischen und unterschiedlich starken Schraffuren erzeugen den Eindruck eines wirbelnden Chaos, in dessen Strudel der Hilflose geraten ist. Man könnte den Schauplatz für einen felsigen Höhleneingang halten, doch im Strichgewirr zeichnen sich undeutliche Umrisse ab, die Augen, Mollusken oder die Flügel blutsaugender Nachtwesen sein könnten. Goya zeigt die Schrecken des kommenden Krieges, die erst als undeutliche, aber dafür umso grauenerregendere Schatten in den Phantasien des von Angst gepeinigten Subjektes auftauchen. Bei beiden Blättern wird durch diese Darstellung der Finsternis eine zusätzliche Dimension eingeführt. Psychische Gehalte werden materialisiert, die unsichtbare innere Welt wird zum sichtbaren, aber verwirrenden Schauplatz der Handlung. Eine weitere Gemeinsamkeit beider Bilder ist die ungewöhnliche Darstellung des Bodens. Bei Kubin wirkt das Pflaster des Hofes wie eine spiegelnde Wasserfläche. Dieser Eindruck wird noch durch die Architektur der Treppe verstärkt, die an den Bogen einer Brücke erinnert. Auch Goya spielt mit dieser Irritation. Vielleicht kniet der Mann nicht auf der Erde, sondern er steht bis zu den Knien im Wasser. Man erkennt nämlich erst nach längerem Hinsehen, dass er seinen linken Fuß aufgestützt hat. Auf keinem dieser Bilder hat man also festen Boden unter den Füßen.

Abbildung 2: Francisco de Goya, Die Schrecken des Krieges (Los desastres de la guerra), Blatt

I Traurige Vorahnungen kommender Ereignisse (Tristes presentimientos de lo que ha des acontecer), Radierung, Kaltnadel, Grabstichel und Polierstahl, 17,8 x 22 cm, um 1820

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Die Illustration Kubins kann heftige und verstörende Gefühle wecken. Sie zeigt eine undeutliche, unwirklich beleuchtete Szene, die aus einem dunklen inneren Bereich stammen muss. Eine bizarre Männergestalt läuft mit einem leblosen Frauenkörper unter dem Arm hastig eine Treppe hinunter, die in einen düsteren Hinterhof führt. Dem Betrachter drängt sich sofort die Frage nach dem Grund für diese geheimnisvolle Flucht auf. Es muss eine verbotene und gefährliche Handlung gewesen sein, die zu dieser Aktion geführt hat. Was läge näher als die Annahme, dass hier ein Mörder im Schutze der Dunkelheit die Leiche seines Opfers vom Tatort entfernt? Und auch das Verbrechen lässt sich benennen: es wurde eine Gewalttat an einer Frau begangen. Die Charakterisierung des Paares, die Darstellung des Schauplatzes, die Beleuchtung und die aggressive Wirkung des Bildes verweisen jedoch darauf, dass es sich hier nicht um einen gewöhnlichen Mord handeln kann. Das Bild zeigt den Bösewicht Coppelius, der nach einem wilden Streit mit seinem Kompagnon Spalanzani den weiblichen Automaten geraubt hat. Dies ist jedoch keine Szene, welche der Text Hoffmanns beschreibt, denn dort wird nur von dem unschönen Klappern der hölzernen Puppenglieder auf der Treppe berichtet. »Nun warf Coppola die Figur über die Schulter und rannte mit fürchterlich gellendem Gelächter rasch fort die Treppe herab, so daß die häßlich herunterhängenden Füße der Figur auf den Stufen hölzern klapperten und dröhnten.«9 Durch ein Geräusch, genauer die Lektüre eines Geräusches, wurde die dargestellte Szene hervorgerufen. Für den Leser hat das Motiv an dieser Stelle der Erzählung schon eine längere und bedeutsame Geschichte. Die dumpfen Schritte auf der Treppe sind nämlich das akustische Erkennungssignal des dämonischen Sandmanns, welches Nathanael jedes Mal in panische Angst versetzt, wenn er es hört. In seinem ersten Brief berichtet der Held nun von einer Kindheitserinnerung, in welcher er die Ursache seiner Angstzustände zu erkennen glaubt. Hoffmann beschreibt eine seltsame Szene. Das abendliche Beisammensein der Familie wird gestört. Die Eltern zeigen sich grundlos verstimmt, und die Kinder müssen früher als sonst zu Bett. Sie können nur noch die Schritte eines unsichtbaren Gastes auf der Treppe wahrnehmen. Als der kleine Junge daraufhin neugierig wird, bestraft man ihn mit der Horrorgeschichte vom Sandmann. Dieser ist ein böser Mann, der unartigen Kindern Sand in die Augen streut, so dass diese blutig aus ihren Höhlen springen. Nach dieser Aufklärung löst das dumpfe Poltern auf der Treppe bei Nathanael Angstanfälle aus. Die Illustration scheint über den Text hinauszugehen. Sie ist jedoch ein Bild, welches durch dessen Lektüre entstanden ist und auf bestimmte Motive hinweist. Eines davon ist das Geräusch auf der Treppe, das in der Erzählung eine wichtige Rolle spielt. Auf diese Weise wird durch das Bild auf eine Wiederholungsstruktur 9 E. T. A. Hoffmann, Sämtliche Werke, Band I Fantasie- und Nachtstücke, München 1960, S. 539.

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des Textes aufmerksam gemacht, denn es verbindet unterschiedliche Ereignisse durch die Hervorhebung eines bestimmten Elementes. So verweist die Illustration darauf, dass hier stets das altbekannte Stück aufgeführt wird. Der Ursprung dieser Inszenierungen ist der erste Besuch des Sandmannes. Warum sind die Eltern so komisch? Warum müssen die Kinder schnell zu Bett? Was geschieht dort in der Dunkelheit? Dieses von Hoffmann geschilderte Szenarium beschreibt die Situation, in welcher der Forschertrieb des Kindes erwacht. Freud berichtet davon in seinem Aufsatz Über infantile Sexualtheorien von 1908.10 Zuerst bemerkt das Kind, dass ein Neuankömmling die Aufmerksamkeit der Eltern beansprucht. »Die Furcht vor dem mit diesem Ereignis verbundenen Verlust an Fürsorge und Liebe machen das Kind nachdenklich und scharfsinnig. Das erste Problem, mit dem es sich beschäftigt, ist entsprechend dieser Erweckungsgeschichte auch nicht die Frage des Geschlechtsunterschiedes sondern das Rätsel: Woher kommen die Kinder?«11

Diese Frage beantworten die Erwachsenen mit Märchen, welchen die Kinder stets heftig misstrauen. »Die Sexualforschung dieser frühen Kinderjahre wird immer einsam betrieben; sie bedeutet einen ersten Schritt zur selbständigen Orientierung in der Welt und setzt eine starke Entfremdung des Kindes von den Personen seiner Umgebung, die vorher sein volles Vertrauen genossen hatten.«12

Auch Nathanael hatte nach den Dingen gefragt, die dort im Dunkeln geschehen, wenn die Kinder zu Bett müssen, weil die Eltern allein sein wollen. Die Amme unterbindet schließlich seine Forschungen mit der Geschichte vom augenraubenden Sandmann. Die Folge ist eine zunehmende Entfremdung des Kindes von seiner Umwelt, welche sein Scheitern in dieser Krisensituation bezeichnet. Dies zeigt sich in der Beeinträchtigung seiner Wahrnehmungsfähigkeit und in seiner Abwendung von der Realität. »Der Sandmann hatte mich auf die Bahn des Wunderbaren, Abenteuerlichen gebracht, das so schon leicht im kindlichen Gemüt sich einnistet.«13 Das Geräusch ist ein Element, das in diesem Kontext hartnäckig wiederkehrt. Es weckt das Kind in der Nacht, ängstigt es und bringt seine Phantasie in Gang. Es ist ein unverzichtbares Requisit der Urszene und fehlt bei keinem der Fälle, die Freud berichtet. Zum Beispiel findet sich in den Studien über Hysterie das Geräusch im Fall Katarina. In einer Fußnote erzählt Freud von einer jungen Frau, die ihm jenes Ereignis verrät, das ihre Anfälle auslöste.

10 11 12 13

Freud 1908c, G.W. VII, S. 174. Freud 1905d, G.W. V, S. 95. Ebd., S. 97. Hoffmann 1960 (wie Anm. 10), S. 333.

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»Ich habe damals in einem Zimmer neben dem meiner Eltern geschlafen, die Tür war offen und ein Nachtlicht brannte auf dem Tisch. Da habe ich denn einige Male gesehen, wie der Vater zur Mutter ins Bett gegangen ist und habe etwas gehört, was mich sehr aufgeregt hat. Darauf bekam ich Anfälle.«14

Auch der Held des Sandmannes regt sich immer dann auf, wenn er das Geräusch hört. Seine Reaktionen reichen vom Angstanfall und Halluzinationen bis hin zu wahnsinniger Raserei und Selbstmord. In der Traumdeutung berichtet ein Patient, er habe geträumt, dass ein Mann mit einer Hacke ihm nachsetzt. Bei der Deutung des Traumes assoziiert er »Gewalttat«. »Die Eltern waren spät nach Hause gekommen, gingen während er sich schlafend stellte zu Bette und er hörte dann ein Keuchen und andere Geräusche, die ihm unheimlich vorkamen. […] Er subsumierte, was bei den Eltern vorfiel unter dem Begriff: Gewalttat und Rauferei.«15

Zu den Geräuschen kommt nun ein weiteres Indiz hinzu: die Gewalttat. Dieses Missverständnis ist ein fester Bestandteil der Dramaturgie der Urszene, die Laplanche und Pontalis wie folgt definieren: »Szene der sexuellen Beziehung zwischen den Eltern, die beobachtet und aufgrund bestimmter Anzeichen vom Kind vermutet und phantasiert wird. Es deutet sie im allgemeinen als einen Akt der Gewalt von seiten des Vaters.«16 Die Kombination dieser Elemente, Geräusch und Gewalttat, findet sich an verschiedenen Stellen der Erzählung, von welchen ich nun zwei genauer betrachten werde. Ein prägendes Erlebnis ist für den Helden die erste Begegnung mit Coppelius. Als der unsichtbare Gast den Vater in der Nacht besucht, versteckt sich der inzwischen pubertierende Knabe, um endlich den geheimnisvollen Besucher zu erspähen. Und erneut kündigen Geräusche dessen Ankunft an. »Die Haustür knarrte, durch den Flur ging es, langsamen, schweren, dröhnenden Schrittes nach der Treppe.«17 In der folgenden Laborszene wird Nathanael nun selbst das Opfer der Gewalt. Er erkennt Coppelius und verrät sich durch eine Angstattacke. Der Bösewicht ergreift ihn. »Und damit faßte er mich gewaltig, daß die Gelenke knackten, und schrob mir die Hände ab und die Füße und setzte sie bald hier, bald dort wieder ein.«18 Der Knabe wird von dem grausamen Besucher wie ein lebloses Ding behandelt und gefoltert. Die zweite Episode steht in Verbindung mit jenem Moment, den Kubin illustriert. Nathanael betritt hochgestimmt das Haus Professor Spalanzanis, weil er ihn um die Hand seiner schönen Tochter Olimpia bitten will. »Schon auf der 14 Freud 1895d, G.W. I, S. 186. 15 Freud 1900a, G.W. II/III, S. 590. 16 Jean Laplanche, Jean-Bertrand Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt a. M. 1996 (zuerst: Vocabulaire de la psychanalyse, Paris 1967), S. 576. 17 Hoffmann 1960 (wie Anmerkung 10), S. 334. 18 Ebd., S. 336.

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Treppe, auf dem Flur, vernahm er ein wunderliches Getöse; es schien aus Spalanzanis Studierzimmer herauszuschallen.«19 Von namenloser Angst ergriffen stürzt der Held in das Zimmer und erblickt eine Gewalttat. »Der Professor hatte eine weibliche Figur bei den Schultern gepackt, der Italiener Coppola bei den Füßen, die zerrten und zogen sie hin und her, streitend in voller Wut um den Besitz.«20 Coppelius reißt den Automaten schließlich an sich und flieht. Die Zurückbleibenden hören nur noch sein schauriges Gelächter und das grässliche hölzerne Klappern und Dröhnen der Puppenfüße auf der Treppe. Auch bei der Beschreibung des akustischen Eindruckes der Schritte des Coppelius hatte Hoffmann das Wort »dröhnend« verwendet. Durch diese erneute Erwähnung verdeutlicht er dessen Erinnerungswert. Die beschriebenen Szenen weisen ein gemeinsames Muster auf: Nathanael wird zum Lauscher, er hört etwas, er bekommt Angst, eine Gewalttat geschieht. Anschließend verliert der Protagonist die Kontrolle, er wird ohnmächtig oder wahnsinnig. In dieser Abfolge lässt sich die Illustration genauer verorten. Sie entsteht unmittelbar nach der Aufnahme des akustischen Erkennungssignals und vor der daraufhin einsetzenden Angstentwicklung. In dieser Sekunde scheint sich etwas zu ereignen, das der Autor nicht ausspricht, das aber die Illustration zeigt. Das Geräusch evoziert ein Bild: Täter und Opfer auf der Treppe. Doch welche Funktion hat es in dem beschriebenen Prozess? Dargestellt ist eine Flucht, der eine gewaltsame Handlung vorausging. In der Urszene ist dieses Verbrechen sexueller Natur und wird vom Vater an der Mutter verübt. In den Neuinszenierungen Nathanaels waren diese Rollen stets unterschiedlich besetzt. Kubin wählte nun eine Version aus, in der Coppola-Coppelius Olimpia »tötet« und sie in seinen Besitz bringt. Die Identität dieses Opfers enthüllt Freud in seinem Aufsatz Das Unheimliche, in welchem er den Sandmanntext analysiert. Die Puppe ist die »Materialisation von Nathanaels femininer Einstellung zu seinem Vater in früher Kindheit«, ein Teil von ihm selbst, dem er in wahnsinniger narzisstischer Liebe anhängt.21 Und Freud verweist auch auf die entsprechende masochistische Phantasie. »In der Schreckensszene der Kinderzeit hatte Coppelius, nachdem er auf die Blendung des Kleinen verzichtet, ihm probeweise Arme und Beine abgeschraubt, also wie ein Mechaniker an einer Puppe an ihm gearbeitet.«22 Der gewalttätige Streit und der Raub symbolisieren für den Helden seine eigene Urszene, in der er den Platz der Mutter einnimmt. Es ist die Konstellation des negativen Ödipuskomplexes, den Freud in Aus der Geschichte einer infantilen Neurose und im Fall Schreber verhandelt. Sein Inhalt drückt sich in Phantasien aus, in welchen das Missverständnis der Urszene und der Wunsch, die weibliche Rolle zu spielen, zu 19 20 21 22

Ebd., S. 358. Ebd., S. 358. Freud 1919h, G.W. XII, S. 243. Ebd., S. 244.

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einem Lustmord verschmelzen. Nach den bisherigen Ausführungen ist es wahrscheinlich, dass die Illustration jenes innere Bild zeigen soll, welches durch das Geräusch in der Phantasie Nathanaels entsteht. Das Thema dieser Darstellung ist die Erfüllung homosexueller Wünsche des Protagonisten. Eine Funktion der Szene ist es daher, durch ihre Wechselwirkungen mit dem Text auf diesen irritierenden und provokanten Inhalt zu verweisen. Auch die Gestaltung des Blattes bestätigt diese These. Kubin hebt den Ort des Geschehens hervor, und diese Maßnahme ist in dem beschriebenen Kontext von großer Bedeutung. Um dies zu verstehen, ist es zunächst notwendig, noch einmal die Art des Geräusches näher zu betrachten. Es kann in der Belauschungssituation durch die Aktivitäten der Eltern entstehen oder durch das lauschende Kind selbst. In der Erzählung sind es die Schritte des bösen Vaters, der zur Mutter ins Schlafgemach geht. Ein Kennzeichen der Schritte auf der Treppe ist ihr gleichmäßiger Rhythmus. Diese Auffälligkeit verbindet sie mit den regelmäßigen, mechanischen Bewegungen während des Geschlechtsverkehrs. Kubin stellt dieses Gehen auf der Treppe dar, und hier führt der Täter sein entseeltes Opfer gleich mit sich. Wir sehen den aktiven und den passiven Teil des Paares. Die Herleitung des Laufens auf der Treppe als symbolische Szene für den Koitus lässt sich aus dem Text und der Illustration heraus begründen. Diese Bedeutungsverknüpfung ist charakteristisch für den Fall Nathanael. Doch zugleich ist dieses innere Bild eines der wichtigsten und sichersten typischen Traumsymbole, die Freud für den Koitus nennt. »Stiegen, Leitern, Treppen, respektive das Steigen auf ihnen, und zwar sowohl aufwärts als abwärts sind symbolische Darstellungen des Geschlechtsaktes. […] Die Grundlage der Vergleichung ist nicht schwer aufzufinden, in rhythmischen Absätzen, unter zunehmender Atemnot kommt man auf eine Höhe und kann dann in ein paar raschen Sprüngen wieder unten sein.«23

Es ist bezeichnend, dass Freud hier eine sehr einfache symbolische Szene beschreibt, die ein Subjekt, eine Handlung und einen Ort enthält. Nach seinem Verständnis sind demnach Symbole entweder selbst szenisch organisiert oder in einen Handlungsablauf eingebaut. Sie können nicht isoliert auftreten, da sie Bestandteile von Darstellungen, Aufführungen, Erzählungen sind, die auch eine kommunikative Funktion haben. Kannte Kubin die Bedeutung der Stiegenszene und hat er sie »bewusst« eingesetzt? Aus seinem Briefwechsel mit Fritz von Herzmanowsky-Orlando geht eindeutig hervor, dass der Künstler die Traumdeutung in der Ausgabe von 1911 gelesen hatte und davon auch recht angetan war.24 1911 entstanden auch die Illustrationen zu den Nachtstücken. Doch das Kapitel über 23 Freud 1900a, G.W. II/III, S. 244. 24 »Von Büchern empfehle ich Dir als neuere Sachen (neben den Dir schon geschriebenen) noch: 3 M. Alex Moskovsky: die Kunst in 1000 Jahren; 3,50 Pf. R. Garve die Sankhyaphilo-

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Die Darstellung durch Symbole, welches die Stiegenträume und die Symboltheorie Freuds enthält, wurde erst der Ausgabe von 1914 hinzugefügt. In Kubins Roman Die andere Seite von 1909 gibt es eine geheimnisvolle Illustration (Abb. 3), die in keinem eindeutigen Verhältnis zum Text zu stehen scheint. Sie befindet sich zwischen dem achten und neunten Abschnitt des dritten Kapitels, welches den Alltag in Perle behandelt. Die Szene stellt eine nächtliche Straßenszene dar. Das Bild ist dunkel bis auf einen hellen rechteckigen Fleck auf einer weißen Hauswand. Er ähnelt stark der hellen Zone auf der Sandmannillustration. Weder Art noch Herkunft dieses Lichtes sind zu bestimmen. Wir treffen wieder auf die belebte Dunkelheit, wenngleich hier der Zeichenstil Kubins noch nicht so frei und dynamisch war. Außerdem entsteht wieder der Eindruck, dass der Ort ein Innenraum ist, obwohl eine Außenansicht mit Hausfassaden und einer schmalen Gasse gezeigt wird. Dieser Weg verliert sich in einer hohen tiefschwarzen Öffnung, welche an die Tür auf dem anderen Blatt erinnert. Das interessanteste Motiv dieser Illustration ist jedoch die Treppe, die von rechts in das Bild führt. Die Stufen zeichnen sich vor dem Hintergrund des hellen Straßenpflasters ab. Haben die Augen des Betrachters sich an die Dunkelheit gewöhnt, kann er schemenhaft das Geländer der Stiege erkennen, und in der rechten unteren Ecke lässt sich sogar eine Öffnung vermuten, die dem Bogen der Treppe auf der Sandmannillustration ähnelt. Liest man nun die folgende Textpassage und verbindet sie mit den Informationen aus Der Sandmann und über die Motive der Urszene, ergeben sich erstaunliche Zusammenhänge. Kubin beschreibt die nervenzerfetzenden Geräusche der nächtlichen Traumstadt. »Nachts durch die Gassen Perles zu wandern war eine Qual. Hier taten sich schauerliche Abgründe für geschärfte Sinne auf. Aus den vergitterten Fenstern und Kellerlöchern klagte und stöhnte es in allen Tonarten. Hinter halb geöffneten Türen hörte man ein gepreßtes Ächzen, so daß man unwillkürlich an Erdrosselung und Verbrechen denken mußte.«25

Wieder treffen wir auf das Geräusch und die Gewalttat. Der Zeichner berichtet von Klagen, Stöhnen und Ächzen. Und wie das Kind die Laute der Eltern beim Geschlechtsverkehr als Anzeichen eines Mordes missdeutet, erzeugen sie auch 25 sophie; 10 Pf. Sigmund Freud die Traumdeutung; 2,50 Dr. Ludwig Klages (teilweise sehr gut) Prinzipien der Charakterologie, vier Werke die mir dieses Frühjahr und Sommer sehr viel Interesse abgewonnen haben.« Brief Alfred Kubins an Fritz von Herzmanowsky-Orlando vom 27. September 1911. »Freuds Entdeckungen sind mir äußerst wertvolles Material, originell und fruchtbar. – Ins Heiligtum führen sie aber nicht, wie niemals Gelehrtenarbeit.« Brief Alfred Kubins an Fritz von Herzmanowsky-Orlando vom 25. November 1914. Fritz von Herzmanowsky-Orlando, Der Briefwechsel mit Alfred Kubin, München, Salzburg 1983, S.65 u. 90. 25 Alfred Kubin, Die andere Seite. Ein phantastischer Roman. Mit 51 Abbildungen und einem Plan (1909), München 1975, S. 92.

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Abbildung 3: Alfred Kubin, Die Stiege, ganzseitige Illustration zu Die andere Seite, Strichätzung, 15,1 x 10,6 cm, 1909

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hier Phantasien von »Erdrosselung und Verbrechen«. Die Folgen dieses Phänomens beschreibt Kubin treffend. Die Frau des Zeichners beginnt Stimmen zu hören, die »furchtbare« Worte sagen und sieht lebende Schatten und Gespenster. Nathanael halluzinierte ebenfalls und fühlte sich ständig von dem unheimlichen Sandmann verfolgt. Beide Figuren werden schließlich wahnsinnig und sterben. In diesem Kontext taucht immer wieder die Stiege auf. Kubin muss eine Art Wissen von der Dramaturgie, den Requisiten und der Wirkung dieser Ausformung der Urszenenphantasie besessen haben, denn er verhandelt sie in dieser Passage seines Romans und der zugehörigen Illustration. Um diese These zu unterstützen, möchte ich noch eine weitere Stiegenszene aus dem Werk des Künstlers behandeln. 1911 erschien im Verlag Georg Müller das zweite Mappenwerk Kubins mit dem Titel Sansara. Eines der verwirrenden und handlungsreichen Panoramen dieser Sammlung ist die Federzeichnung Der Orgelmann (Abb. 4). Sie zeigt eine ungewöhnliche Stadtansicht. Auf einem Platz, der von Gebäuden in den unterschiedlichsten Baustilen umgeben ist, herrscht ein seltsames Treiben. Eine Prozession junger, teils schwangerer Frauen und lahmer Greise zieht über den Platz. Ringsherum werden Verbrechen verübt. Es finden Kämpfe, Morde und Selbstmorde statt. Vorne in der Mitte steht der Orgelmann, welcher die Begleitmusik zu all dem liefert. Er hält sich am Fuße einer Treppe auf, die von der linken Seite in das Bild hineinführt. Im Bereich dieser Stiege geschehen sehr merkwürdige Dinge. Auf ihr befinden sich eine Frau mit einem Säugling und ein Greis oder Krüppel mit einer viel zu kurzen Krücke. Vor der untersten Stufe scheint sich eine Sodomieszene abzuspielen. Eine hingekauerte Frau wird von einem dunklen Tier, vielleicht einem Hund, begattet. Das kompositorische Gegengewicht zu dieser Treppe bildet auf der rechten Bildseite eine Mordszene. Auf dem Boden liegt die blutbesudelte Leiche einer Frau, in deren Herz ein Messer steckt. Zu ihren Füßen steht ein Mann, wohl ihr Mörder, der auf seinem Kopf einen Kübel trägt. Es ist bemerkenswert, dass die Treppe der Illustration zu Der Sandmann und jene auf der Zeichnung Der Orgelmann das gleiche einseitige Geländer mit dem eingerollten Ende besitzen. Doch es erscheint auch aus anderen Gründen berechtigt, eine Verwandtschaft zwischen ihnen anzunehmen. So finden wir wieder die vertrauten Motive: die Gewalttat an einer Frau und das Geräusch, welches in diesem Fall der Orgelmann produziert. Das Bild erinnert auch deshalb stärker an die Sandmannillustration, da sich wieder ein Paar auf der Treppe bewegt. Jeder von ihnen verweist noch einmal darauf, dass es sich hier um eine symbolische Darstellung des Geschlechtsakts handelt. Die Frau trägt das Produkt jener Bemühung, das Kind, schon auf dem Arm. Der lahme Alte mit dem lächerlich kurzen Stöckchen ist lange vor ihr mit seinem Abstieg fertig. Dies ist eine bittere Anspielung auf die Größe seines Geschlechts und seine sexuelle Leistungsfähigkeit. So erinnert die Zeichnung an das erste Rätsel, an welchem sich der Forscherdrang entzündet: die Frage nach der Herkunft der Kinder.

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Abbildung 4: Alfred Kubin, Der Orgelmann, Lichtdruck nach einer Federzeichnung, 26,5 x

23,9 cm, aus dem Mappenwerk Sansara, ein Zyklus ohne Ende, 1911

Da sich auch Nathanael für dieses Thema interessiert hatte, könnte es ebenfalls in der Illustration zu Der Sandmann verhandelt werden. In diesem Zusammenhang fällt die Überschneidung der beiden Protagonisten auf, deren Körper sich auf den ersten Blick kaum unterscheiden lassen. Kopf und Oberkörper Olimpias kommen unter dem Arm des Coppelius hervor, und es entsteht der Eindruck, dass sie aus seinem Bauch austritt, wie ein Kind aus dem Leib der Mutter. Doch hier steigt ein merkwürdiges Paar die Treppe hinunter, denn hinter den Figuren Coppelius und Olimpia verbergen sich der böse Vater und Nathanael. Wenn die Illustration auch eine Geburtsszene zeigt, dann bringt hier der Vater seinen Sohn selbst zur Welt. Unter dieser Voraussetzung gewinnt die Darstellung des Bodens

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als Wasserfläche an Bedeutung. Die Treppe, die an eine Brücke erinnert, führt in das Wasser hinein, und die beiden Personen, die sich auf ihr abwärts bewegen, werden bald darin eintauchen. Eine Erklärung für diesen rätselhaften Vorgang gibt Freud in der Traumdeutung, wenn er den Sinn des typischen Wassertraumes mitteilt. »In den Träumen wie in der Mythologie wird die Entbindung eines Kindes aus dem Fruchtwasser gewöhnlich mittels Umkehrung als Eintritt des Kindes ins Wasser dargestellt.«26 Durch die Überschneidung der beiden Personen und den bevorstehenden Eintritt des Puppenkörpers in das Wasser wird so eine latente Botschaft vermittelt, nämlich der Wunsch des Helden, das alleinige Kind des Vaters zu sein. Mit Hilfe dieser Informationen finden sich in Der Sandmann verschiedene Episoden, in welchen die Vorstellung von einem gebärenden Vater verarbeitet wurde. Eine davon ist die Laborszene, in welcher Coppelius als Demiurg auftritt, der in Konkurrenz zu Gott Leben erschaffen will. Darauf deuten seine seltsamen Äußerungen bei der Inspektion von Nathanaels Körper hin, den er als Wesen des alten Gottes bezeichnet. Und schließlich bringt er zusammen mit einem zweiten Vater den lebensechten weiblichen Automaten Olimpia hervor. Diese Inszenierungen verweisen auf eine infantile Sexualtheorie, welche das Kind ausbildet, um sich die Vorgänge von Schwangerschaft und Geburt zu erklären. Es phantasiert, dass der Fötus im Verdauungstrakt heranwächst und den Körper durch die Darmöffnung verlässt.27 Diese Kloakentheorie ermöglicht auch dem männlichen Kind den Glauben, es selbst und seine Geschlechtsgenossen seien gebärfähig. Ein Beispiel für diese Überzeugung ist in Aus der Geschichte einer infantilen Neurose der berühmte »Wolfsmann«. Während der Behandlung berichtet er seinem Therapeuten, dass er sich als kleiner Junge für das alleinige Kind seines Vaters gehalten hatte.28 Doch die Illustration verrät einen weiteren heimlichen Wunsch Nathanaels, zu dessen Voraussetzungen ebenfalls die Kloakentheorie gehört. Er möchte in der Urszene, in der er den weiblichen Part übernimmt, auch ein Kind von seinem Vater empfangen. Diese verdrängten Wünsche führen beim »Wolfsmann« und bei Hoffmanns Helden zu einer Wahrnehmungsstörung, die beide als »Schleiergefühl« bezeichnen. Bevor Nathanael in seinem ersten Brief von den Schrecken der Laborszene berichtet, hat er eine Ahnung seines bevorstehenden Endes. »Nur noch den schrecklichsten Moment meiner Jugendjahre darf ich Dir erzählen; dann wirst Du überzeugt sein, daß es nicht meiner Augen Blödigkeit ist, wenn mir nun alles farblos erscheint, sondern, daß ein dunkles Verhängnis wirklich einen trüben Wolkenschleier über mein Leben gehängt hat, den ich vielleicht nur sterbend zerreiße.«29 26 27 28 29

Freud 1900a, G.W. II/III, S. 406. Freud 1908a, G.W. VII, S. 181. Freud 1918b, G.W. XII, S. 138. Hoffmann 1960 (wie Anm. 10), S. 337.

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Der Protagonist knüpft seinen Tod an eine bestimmte Bedingung: er wird den Schleier, der sein Leben verhüllt, zerreißen. Dies bedeutet, dass in jenem Moment etwas aus seinem Leben enthüllt wird, dessen Anblick so grauenvoll ist, dass er ihn nicht ertragen kann und davor in den Tod fliehen muss. Nathanaels Tragik ist, dass er sich gerade auf der Suche nach diesem Schrecklichsten befindet, wenn er seine Biographie nach Informationen durchforscht, die seine missliche Lage erklären könnten. Doch der nachfolgende Bericht von der schaurigen Laborszene, der dem Adressaten seinen Zustand erklären soll, ist nicht überzeugend, da der Held sich nur an düstere und unwirkliche Dinge erinnern kann. Auch der »Wolfsmann« beklagt sich darüber, dass für ihn die Welt von einem Schleier verhüllt sei. Freud bezieht diese Formulierung seines Patienten zunächst auf dessen Sehnsucht, in den schützenden Leib der Mutter zurückzukehren und dann zu einem neuen und glücklicheren Leben wiedergeboren zu werden. Doch er muss erkennen, dass die homosexuelle Disposition des jungen Mannes eine andere Interpretation notwendig macht. Die Wiedergeburtsphantasie ist in diesem Fall nämlich nur der Deckmantel für ein anderes rein männliches Zeugungs- und Geburtsszenarium. Zu dieser Deutung gelangt Freud, indem er den Moment analysiert, in welchem der Patient von seiner Wahrnehmungsstörung befreit wird. »Der Schleier zerriß – merkwürdigerweise – nur in einer Situation, nämlich wenn infolge eines Lavements der Stuhlgang den After passierte. Dann fühlte er sich wohl und sah die Welt für eine ganze Weile klar.«30 Die Voraussetzung für dieses Wohlbefinden ist, dass ihm ein anderer Mann das Klistier verabreicht. Diese Inszenierung entpuppt sich nun als Wiederholung eines anderen Ereignisses. »Sehen wir näher zu, so müssen wir eigentlich bemerken, daß der Kranke in dieser Bedingung seiner Heilung nur die Situation der sogenannten Urszene wiederholt: damals wollte er sich der Mutter unterschieben; das Kotkind hat er, wie wir längst vorher angenommen hatten, schon vorher selbst produziert.«31

Und auch die Schleiermetapher kann Freud nun deuten. »Er ist noch immer fixiert, wie gebannt an die Szene, die für sein Sexualleben entscheidend wurde. […] Das Zerreißen des Schleiers ist analog dem Öffnen der Augen. Die Urszene ist zur Heilbedingung umgebildet worden.«32 Nach diesen Ausführungen wird auch klar, was für Nathanael jenes Schrecklichste ist, das er erkennt, wenn für ihn der Schleier zerreißt. Es ist seine Urszene, in der er sich dem Vater hingibt, um von ihm ein Kind zu empfangen. So bewirkt die Wiederholung der Urszene in einem Fall eine temporäre Heilung, während sie im anderen Fall Wahnsinn und Tod bringt. In seiner Sandmannillustration verhandelt Kubin dieses Phänomen auf ver30 Freud 1918b, G.W. XII, S.134. 31 Ebd., S. 135. 32 Ebd.

G. Gehrig · »Stiegengeschichten«

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schiedene Arten. Als Auslöser für das Bild wählt er ein bestimmtes Geräusch aus und macht so den Rezipienten auf ein typisches Element der Urszenenwahrnehmung aufmerksam, welches auch im Text deren Neuinszenierungen markiert. Durch die Darstellung eines nächtlichen Frauenraubes bringt der Künstler ein weiteres Versatzstück dieses Szenariums ins Spiel. Es ist die Gewalttat an einer Frau, als welche das Kind den elterlichen Koitus missversteht. Eine besondere Bedeutung kommt in der Illustration der Gestaltung des Schauplatzes zu. Kubin zeigt eine Synthese aus Stiegenszene und Wassertraum und ruft so die Themen Vereinigung, Zeugung und Geburt auf. Doch der Künstler erreicht mit seiner Zeichnung noch mehr, denn er visualisiert auch das spezifische Wahrnehmungserlebnis des psychotischen Helden. Schon bei der Beschreibung der Schraffuren der Federzeichnung war deren textiler Charakter aufgefallen. Kubins nervöse und unregelmäßige Strichfolgen wirken wie ein grob gewebtes Tuch, das über der Szene ausgebreitet wurde. Diese Hülle ist an der Stelle über dem Kopf des Puppenräubers beinahe durchgescheuert und droht zu zerreißen. Die Darstellung ist in dieses engmaschige Gewebe eingebunden, und der Betrachter vermag sie nur mühevoll daraus zu lösen. Durch diesen Zeichenstil zwingt der Künstler den Rezipienten, die Wahrnehmungsstörung des Helden nachzuvollziehen. Doch diese beängstigende Identifizierung mit dem Hauptdarsteller wird wieder zurückgenommen. Kubin zeigt uns zwar das tödliche Bild, dessen Anblick Nathanael vernichten wird, doch er macht durch seine raffinierte Lichtregie zugleich deutlich, dass diese Szene im Inneren des Helden nur kurz auftaucht und wieder versinkt, bevor er sie erkennen kann. Der weiße Fleck auf der Hauswand zeigt, dass Nathanaels suchender Blick das Paar nicht gefunden hat. Der Rezipient sieht so das verhängnisvolle Bild, welches dem Protagonisten noch verborgen bleibt. Er hat nun die Möglichkeit dieses Scheitern des Helden zu beobachten und sich ein Stück weit von der Identifizierung mit ihn zu lösen, die durch das verwirrende Seherlebnis entstand. Aber der Prozess, den der Betrachter durchlebt hat, verhindert, dass er sich wieder gänzlich von Bild und Text distanzieren kann. Er hat die Gefühle von Entfremdung und Beeinträchtigung erfahren, die den Helden quälen, und er hat einen Blick auf dessen Innerstes riskiert. Kubins Illustration konnte diese Bewegung auslösen, und dies ist ein Beweis dafür, dass es ihm mit diesem Bild gelungen ist, verborgene verstörende Inhalte des Textes aufzuspüren, und sie sichtbar zu machen. Seine Zeichnung ist eine Antwort auf die latenten Botschaften der Erzählung Hoffmanns. Abbildungsnachweis: Abb. 1, 3 in: Alfred Marks, Der Illustrator Alfred Kubin, München 1977. Abb. 2 in: Ausst.-Kat. Francisco de Goya: Radierungen, hg. von Karl-Ludwig Hofmann, Höchst, Jahrhunderthalle 1997, Heidelberg 1996. Abb. 4 in: Ausst.-Kat. Alfred Kubin. Mappenwerke, Bücher, Einzelblätter aus der Sammlung Hedwig und Helmut Goedeckemeyer, Göttingen, Kunstsammlung der Universität 1980.

■ Margaret Iversen

Im blinden Feld: Hopper und das Unheimliche

In der zeitgenössischen Kunst dreht sich vieles um das Unheimliche, den Tod, die Abwesenheit, den Verlust. Die Ausstellung von Charles Saatchis Sammlung junger britischer Künstler mit dem Titel Sensation, die kürzlich an der Royal Academy in London gezeigt wurde, schien wie gemacht, um diese Tatsache zu bestätigen.1 Ich denke speziell an Damien Hirsts in Formaldehyd eingelegten Hai mit dem Titel The Physical Impossibility of Death in the Mind of Someone Living aus dem Jahr 1991, Mark Quinns blutgefüllte, gefrorene Maske mit dem Titel Self von 1991 oder Ron Muecks Miniaturreplik seines nackten Dead Dad aus dem Jahr 1996. Eine wirklich unheimliche Sensation bewirkte jedoch Rachel Whitereads umfangreiche Arbeit Ghost (Abb. 1) aus dem Jahr 1990. Es handelt sich dabei um den Gipsabguss eines ganz gewöhnlichen, im viktorianischen Stil eingerichteten Wohnzimmers. Wir sehen einen Raum, der gleichzeitig ausgefüllt und negiert wird und zu dem wir nicht zurückkehren können. Ghost beschwört mittels eines anderen Mediums das Pathos der Fotografie herauf, wie diese von Barthes in Die helle Kammer verstanden wird. Es handelt sich dabei um einen indexischen »Abdruck« des »Es-ist-so-gewesen«. Die Arbeit transportiert die Realität von etwas, das nicht mehr existiert.2 Selbstverständlich tragen das monumental wirkende und mausoleumsartige Weiß und die Schlichtheit der Arbeit zu dieser Bedeutung einer unwiederbringlich verlorenen Vergangenheit oder eines undurchdringlichen psychischen Raumes bei. All dies erklärt jedoch nicht genügend den tief ambivalenten Charakter der Arbeit. Ein Kritiker erfasste das Maß dieser Ambivalenz vollkommen. In seinem Artikel über Ghost schrieb er, dass die Arbeit

1 Ausst.-Kat. Sensation: young British artists from the Saatchi Collection, London, Royal Academy of Arts 1997, London 1998. [Wo dies möglich war, wurden die Literaturangaben ergänzt Anm. d. Hg.] 2 Roland Barthes, Die helle Kammer, Frankfurt a. M. 1985, S. 87; siehe auch meine Interpretation des Buches, die auf Lacans Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse beruht, »What is a photograph?«, in: Art History 17 (1994), S. 450-463. Ausst.- Kat. Rachel Whiteread: shedding life, hg. von Fiona Bradley, Liverpool, Tate Gallery 1996/97, London 1996. Briony Fer, »Postscript: vision and blindness«, in: dies., On abstract art, New Haven, London 1997, S. 155-168. Dies., »Treading blindly, or the excessive presence of the object«, in: Art History, 20 (1997), S. 268-287.

M. Iversen · Im blinden Feld

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»widersprüchliche emotionale Reaktionen auslöst, die den Betrachter dazu bringen, zwischen tröstlichen und düsteren Gedanken hin- und herzuschwanken. Dem nostalgischen Betrachter wird nur die Ausstattung eines gemütlichen, altmodischen Zimmers in Erinnerung gerufen, das dadurch als Bildschirm wirkt, auf den Erinnerungen alter häuslicher Rituale projiziert werden. Die Alternative, allerdings eine eher trostlose, dazu ist, dass Ghost bedrückend, stickig, schäbig und makaber erscheint.«3

Abbildung 1: Rachel Whiteread, Ghost, Gips auf Stahlrahmen, 1990

Anders ausgedrückt, wirkt die Arbeit, wie das unheimliche Objekt, auf ambivalente Art vertraut und unvertraut, intim und fremd. Ich möchte sogar noch weiter gehen und argumentieren, dass Whitereads Skulptur besonders unheimlich erscheint, weil sie durch einen bestimmten »Gegenstand« nicht nur einst vertraute, aber nun »unerinnerbare Erinnerungen«4 heraufbeschwört, sondern beim Betrachter auch eine Vorstellung dieser unaufgefordert wiederkehrenden Erinnerungen hervorruft. Indem solche Leerräume gefüllt werden, lässt die Skulptur das Gefühl einer erstickenden und überstarken Präsenz entstehen. Die Arbeit erinnert an vertraute häusliche Szenarien, besonders an jene, die von Kin3 Trevor Fairbrother, »Ghost«, in: Parkett, 42 (1994), S. 91; siehe auch David Batchelor, »A strange familiarity«, in: Ausst.-Kat. Rachel Whiteread: plaster sculpture, Karsten Schubert Gallery, Lodon 1993. 4 Ausst.-Kat. The uncanny, hg. von Mike Kelly, Arnhem, Gemeentemuseum 1993.

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dern bevölkert wurden. In einem Interview dazu befragt, weshalb sie Gipsabgüsse von Möbeln anfertigt, antwortete die Künstlerin: »Zuerst war es ein autobiografischer Impuls, bei dem ich etwas Vertrautes verwendete, etwas, das mit meiner Kindheit zu tun hatte. Der erste Gipsabguss eines Möbelstücks hieß Closet und wurde vom Innenraum eines Schranks gemacht.«5

Closet aus dem Jahr 1988 ist ein Gipsabguss, der mit schwarzem Filz bedeckt ist. Dies ist ein Material, welches die Künstlerin seither nicht wieder verwendet hat, möglicherweise weil von großer Bedeutung für das Gefühl einer erstickenden, übermäßig starken Präsenz ist, dass diese Räume mit einer erstarrten Flüssigkeit (Gips, Gummi, Harz) gefüllt erscheinen. Als sie im gleichen Interview auf Ghost angesprochen wurde, bemerkte Whiteread: »Ich beabsichtigte, das Gefühl von Stille im Raum festzuhalten – eine Stille, die absolut konkret ist, die vollkommen erstickend ist.« Mehrere Kritiker erwähnten, dass durch ihre Arbeit Erinnerungen an Gipsabgüsse der Hohlräume in Pompeji, die in der Vulkanasche von den aufgelösten Körpern hinterlassen wurden, evoziert werden, aber lediglich ein Kritiker knüpft eine Verbindung von dort zu Freuds Analyse der pompejanischen Phantasie über Gradiva, indem er eine höchst relevante Passage der Geschichte zitiert: »Was einst die Innenstadt von Pompeji gewesen war, nahm eine vollkommen andere Erscheinung an, jedoch keine lebende. Sie schien nun eher völlig erstarrt in toter Unbeweglichkeit. Und doch erwuchs daraus das Gefühl, dass der Tod anfing zu reden.«6

Ich möchte das von Freud entwickelte und von Whiteread gestaltete Konzept des Unheimlichen als Mittel verwenden, um einer, wie es mir erscheint, weit verbreiteten, aber falschen Lesart von Edward Hoppers Malerei als sentimental und nostalgisch zu widersprechen. Bei der Beschreibung seines berühmten Gemäldes einer viktorianischen Villa im neogotischen Baustil, House by the Railroad (Abb. 2) aus dem Jahr 1925, bemerkt Gail Levin beispielsweise: »Dieses einsame Haus scheint an unschuldigere, weniger komplizierte Zeiten in Amerikas Vergangenheit zu erinnern – ein einfacheres Moment, das vom modernen städtischen Leben und der damit verbundenen Vielschichtigkeit abgelöst wurde. Hopper hat uns einen Blick zurück in die Vergangenheit geschenkt – als ob er diesen auf der Durchreise zu einem anderen Ort zufällig erspäht hätte. House by the Railroad scheint den Charakter von Amerikas wurzelloser Gesellschaft genau zu verkörpern«. 5 »Rachel Whiteread in conversation with Iwona Blazwick«, in: Ausst.-Kat. Rachel Whiteread, hg. von Jan Debbaut, Eindhoven, Stedelijk Van Abbe-Museum 1992/93, Eindhoven 1993, S. 8 und 11. 6 Zitiert aus: Neville Wakefield, »Separation anxiety and the art of release«, in: Parkett, 42 (1994), S. 81. Zum Werk Hoppers vergleiche auch: Margaret Iversen, »Hoppers melancholischer Blick«, in: Ausst.Kat. Edward Hopper, hg. von Sheena Wagstaff, London, Tate Modern 2004, Ostfildern Ruit 2004, S. 52- 67.

M. Iversen · Im blinden Feld

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Abbildung 2: Edward Hopper, Haus am Bahndamm (House by the Railroad), Öl auf Leinwand, 60,7 x 73,7 cm, 1925, Museum of Modern Art, New York

Welche Art von Blick wird hier verwendet? Ich denke, es ist ein nostalgischer Blick, der in dem Haus ein malerisch verfallenes Monument sieht, das auf eine authentischere Vergangenheit inmitten einer entwerteten, entfremdeten, »wurzellosen« Gegenwart hindeutet. Der Reisende im Zug rast mit voller Geschwindigkeit in die Zukunft, während er einen wehmütigen Blick zurückwirft. Natürlich kann nur der Wurzellose nostalgisch sein. Oder, nachdrücklicher formuliert, ein Zustand solch nostalgischer Sehnsucht enthält, dass die Vergangenheit auf ungefährliche Art verloren gegangen ist. Dies legt nahe, warum Levins Sicht von Hoppers Gemälde falsch sein muss. Das Haus verliert sich nicht in nebliger Ferne. Im Gegenteil, es lauert uns zu nahe auf, seine Präsenz ist zu mächtig. Die Vergangenheit kehrt hier auf unheimliche Weise zurück. Der nostalgischen Sicht der Vergangenheit fehlt ein Gefühl für die Macht der Verdrängung, oder, in diesem speziellen Fall, der gewaltigen Kraft der schnell fortschreitenden Industrialisierung und Modernisierung, die diese Art von Architektur dem Untergang preisgab. Hal Fosters Darstellung des »unzeitgemäß« Surrealistischen und Benjamin’schen in seinem Buch Compulsive beauty könnte sich hier als relevant erweisen. Das Flair altmodischer Dinge, z. B. der Passagen in Paris, könnte darin bestehen, dass sie an die intime Beziehung zu bestimmten

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Gegenständen der Kindheit erinnern, letztendlich an die Nähe zum Körper der Mutter – dem ursprünglichen verlorenen Objekt. Jedoch, so Foster, »einst verdrängt, kann die Vergangenheit, obgleich heilig, nicht so mild, so charismatisch zurückkehren – und zwar genau deswegen, weil sie durch die Verdrängung Schaden genommen hat. Der dämonische Aspekt dieser wiedererstandenen Vergangenheit ist dann ein Zeichen dieser Verdrängung, dieser Entfremdung von dem geheiligten Status der Einheit.«7 Die unheimliche Wiederkehr der Vergangenheit ist eine Art ungenießbar gewordene Nostalgie. House by the Railroad kann dann als einst heimeliges, »heimliches« mütterliches Domizil betrachtet werden, das nun von der durch die Eisenbahnschienen repräsentierten Verdrängung durchschnitten wird. Der auf niedriger Höhe positionierte Zuschauer (in Augenhöhe eines Kindes?) richtet seinen Blick über die Schienen hinweg auf das seltsam veränderte Haus. Obgleich im hellen Tageslicht dargestellt, ist es trotzdem das düsterste mir bekannte Gemälde eines Hauses. Hopper war ein tief nachdenklicher, wortkarger Mann und fast unfähig zu einer direkten Aussage über seine Kunst. Jedoch betonte er die Wichtigkeit des Malens aus dem Gedächtnis.8 Seine Vorgehensweise war anscheinend streng akademisch, er fertigte Studien von Modellen sowie erste Skizzen an, aber arbeitete an den Gemälden selbst in seinem Studio. Noch immer soll die akademische Praxis dazu dienen, die mimetische Referenz zu Gunsten der Idealisierung abzumildern. Bei Hopper bedeutete das Malen aus dem Gedächtnis jedoch, dass das Motiv mit unbewusster Reverie durchdrungen war. Eine Aussage des Künstlers verdeutlicht dies: »Ein großer Teil jeder Form von Kunst ist Ausdruck des Unterbewusstseins, so dass es mir so vorkommt, als ob die meisten wichtigen Dinge unbewusst dargestellt werden und nur wenig von dem, was bedeutsam ist, vom bewussten Intellekt gesteuert wird. Es ist jedoch Sache der Psychologen, all das zu entschlüsseln.«9

Ich bin keine Psychologin, möchte aber die Herausforderung annehmen und Hoppers Aussage, dass seine Gemälde von unbewusster Reverie durchdrungen und an das Unbewusste eines Zuschauers adressiert sind, verdeutlichen. Ich möchte dies anhand von Freuds Essay über Das Unheimliche und dem eng damit verbundenen Text Jenseits des Lustprinzips versuchen. Indem ich beide Aufsätze berücksichtige, hoffe ich, eine zu eng gefasste Interpretation des Unheimlichen, die es zu stark mit der Kastrationsangst in Verbindung bringt, zu vermeiden. Stattdessen möchte ich dem Unheimlichen als Manifestation des Todestriebs im Leben mehr Raum geben. Hoppers Gemälde selbst legen die Logik eines solchen Ansatzes nahe, und die kritische Literatur erwähnt immerhin ein gewisses Maß 7 Hal Foster, Compulsive beauty, Cambridge, London 1995, S. 164. 8 Brian O’Doherty, Kunst in Amerika. Maler unserer Zeit, Stuttgart, Zürich 1988, S. 22. 9 Lloyd Goodrich, Edward Hopper, New York 1976, S. 164.

M. Iversen · Im blinden Feld

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an Negativität in seinem Werk. Dabei wird mit Beschreibungen wie Trostlosigkeit, Entfremdung, Einsamkeit, Trauer, Schweigen und Stille zwar versucht, die spezielle Stimmung seiner Bilder einzufangen, eine theoretische Auslegung seiner Arbeit gelingt jedoch nicht. Meist wird er als realistischer Maler der amerikanischen Szene in der Tradition von Thomas Eakins beschrieben; geprägt haben ihn jedoch frühe Aufenthalte in Paris und anderen europäischen Großstädten (1906, 1909 und 1910), wo er begierig von den Impressionisten, besonders Degas und Manet, lernte und Gefallen an der dekadenten Literatur entwickelte. Er galt Zeit seines Lebens als erbitterter Gegner der Abstraktion, was ihn jedoch nicht notwendig als Realisten oder gar Anti-Modernisten ausweist. In der Literatur existiert zudem eine Tendenz, seine Arbeit zu sentimentalisieren – und doch scheinen Begriffe wie Trauer und Einsamkeit seine Bilder, die zutiefst aufwühlend und manchmal sogar drohend wirken, nicht adäquat zu erfassen. Dieser Aspekt seiner Arbeit kann in den Vordergrund gestellt werden, indem man einige von Hoppers Gemälden mit Szenen aus Hitchcocks Psycho (1960) vergleicht (Abb. 3). Dies hat den zusätzlichen Vorteil, dass ein Gedanke vorgestellt werden kann, den ich später im Hinblick auf die filmische Qualität von Hoppers Gemälden weiter ausführen werde. Psycho beginnt, indem die Kamera langsam über die Skyline einer Großstadt fährt, um dann langsamer zu werden und in ein halb offenes Fenster einzutauchen. Dieses scheinbar willkürliche Eindringen charakterisiert auch Hoppers Großstadtlandschaften, wo die offenen Fenster von Miethäusern die ersten Keime von dahinter verborgenen Geschichten enthüllen. Im Hotelzimmer von Psycho sehen wir Marion und ihren Geliebten bei einem kurzen Schäferstündchen während der Mittagspause. Die Atmosphäre ist durchdrungen von schwelendem Verlangen und gleichzeitiger Frustration. Auch Hopper ist ein Meister der Darstellung von alltäglichen Szenen verkorkster Beziehungen und anonymen Hotelzimmern. Diese Szenen besitzen bei ihm eine Art bleierner Banalität, was auch so sein muss, wenn sie unheimlich wirken sollen. Als Filmtheoretiker schreibt Pascal Bonitzer, »die Hitchcock’sche Narration gehorcht dem Grundsatz, dass je mehr eine Situation […] vertraut oder konventionell wirkt, diese desto eher auch verstörend oder unheimlich werden kann«.10 Diese enge Nähe des Vertrauten mit dem Fremden kennzeichnet auch das Unheimliche bei Freud. Es enthält die Wiederkehr von etwas, das einst während der Kindheit sehr vertraut war, aber durch die Verdrängung und die Wiederkehr des Verdrängten entfremdet und verzerrt wurde. Wie Freud schrieb »[…] dies Unheimliche ist wirklich nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas

10 Pascal Bonitzer, »Hitchcockian suspense«, in: Slavoj Zizek (Hg.), Everything you always wanted to know about Lacan (but were afraid to ask Hitchcock), London 1992, S. 23.

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dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozess der Verdrängung entfremdet worden ist«.11

Abbildung 3: Alfred Hitchcock, Psycho, 1960

Diese Fremdheit kann mehr oder weniger übertrieben werden, aber, wie Laplanche und Pontalis betont haben, gibt es ein Kontinuum zwischen den Polen der Reverie und der Urphantasie – oder, um diesen Sachverhalt anders auszudrücken, zwischen Marions neurotischer und Normans psychotischer Welt.12 Hier kann Psycho erneut verwendet werden, um den verstörendsten Aspekt von Hoppers Arbeit zu beleuchten. Die Ähnlichkeit zwischen dem alten Haus der Bates und House by the Railroad ist auffallend und wurde schon von anderen Autoren bemerkt. Hitchcock bestätigte die Verwendung von Hoppers Gemälde; er erkannte die tief beunruhigende Art der Arbeit und benutzte sie für seinen Film. Der Einfluss blieb jedoch nicht ganz einseitig. Hopper war ein leidenschaftlicher Kinogänger und schien die klassische Film noir-Szenerie schon Jahrzehnte vor der Erfindung des Genres dargestellt zu haben. In der Radierung Night Shadows von 1921 wird ein hoher Blickpunkt verwendet, um steil von oben auf eine 11 Die Texte S. Freuds werden zitiert nach: Gesammelte Werke, Frankfurt. a. M. 1960-1987 (G.W., Band in röm. Ziffern) und Gerhard Fichtner, Ingeborg Meyer-Palmedo, Freud-Bibliographie und Werkkonkordanz, Frankfurt a. M. 1989. Freud 1919h, G.W. XII, S. 255. 12 Jean Laplanche und Jean-Baptiste Pontalis, »Fantasy and the origins of sexuality« (1964), in: Victor Burgin u. a. (Hg.), Formations of fantasy, London 1986, S. 22.

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nächtliche Szenerie mit einem einsamen Mann auf einer Straße zu schauen, die vom harten Licht der Straßenlaternen und langen Schatten durchbrochen wird. Im Jahr 1939 malte er zudem die Innenausstattung eines Filmtheaters: New York Movie, in dem die Betrachtung eines Films und die versunkene Verträumtheit der Platzanweiserin (sowie die Aufmerksamkeit, die wir dem Bild widmen) miteinander assoziiert scheinen. Während meine Gegenüberstellung von Hopper und Hitchcock nützlich ist, um der Interpretation Hoppers als sentimentalem Realisten zu widersprechen, liegt der Nachteil möglicherweise in der Versuchung, die Gemälde mit einer Geschichte zu überfrachten – einer Versuchung, der im Katalog der kürzlich stattgefundenen Retrospektive im Whitney-Museum, Edward Hopper and the American imagination, die fast gänzlich aus Geschichten und Gedichten über Hoppers Gemälde und »Hopper’sche« Fiktion13 bestand, in vollem Umfang nachgegeben wurde. Wie John Updike in seiner Kritik bemerkte, »geht die Verführung von Hopper selbst aus […], er scheint nahe daran, eine Geschichte zu erzählen«. Versuche, das Drama zu spezifizieren, »gleiten jedoch an den Gemälden ab«.14 Er könnte auch erwähnt haben, dass Hopper bis Mitte der 1920er Jahre, also bis zu seinem 42. Lebensjahr als Illustrator gearbeitet hatte, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Die Herausgeber der Zeitschriften mit ihrem Wunsch nach anekdotenhaften Szenarien mit »grimassierenden und posierenden«15 Menschen brachten ihn zur Verzweiflung. Hoppers Gemälde sind – wie Standbilder im Film – in die Länge gezogene Narrative, die den Wunsch, selbst zu erzählen, gleichzeitig anregen und frustrieren. Hoppers Arbeit gab Anlass zu einer weiteren Art reduktionistischer Interpretation, die genau das Gegenteil der Tendenz zur Erfindung von Geschichten über die Bildinhalte darstellt. Das beste Beispiel für diese Tendenz ist der Artikel des Dichters John Hollander Hopper and the figure of room aus dem Jahr 1981. Tatsächlich beginnt Hollander mit einem Angriff auf diese Tendenz zur Narrativisierung, indem er festhält, dass ein Gemälde, das Hoppers Studio einst mit dem simplen Titel Seventh Avenue Shops verließ, seitdem in Early Sunday Morning umbenannt wurde, wodurch das Gemälde in ein etwas sentimentales Genre-Bild verwandelt wurde. Hollander selbst gerät jedoch ins Fabulieren, wenn er über Hoppers Karriere in einem ausgesprochen erkennbaren modernistischen Genre schreibt. Hollander spricht von der »sukzessiven Entleerung von Hoppers Innenräumen über einen Zeitraum von dreißig Jahren hinweg« und von der »[…] Auflösung von Objekten und Details, die irgend eine erzählende Rolle spielen könnten«.16 Hoppers berühmte »Lichteinfälle« oder Lichtflächen, so Hollander, 13 Ausst.-Kat. Edward Hopper and the American imagination, hg. von Deborah Lyons, New York, Whitney Museum of American Art 1995. 14 John Updike, »Hopper’s polluted silence«, in: New York Review of Books, 10. August 1995. 15 Goodrich 1976 (wie Anm. 9), S. 31. 16 John Hollander, »Hopper and the figure of room«, in: Art Journal, 41 (1981), S. 158-159.

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schaffen »[…] aus einer umgrenzten Fläche einen meditativen Raum«. Als ein Beispiel könne Morning Sun aus dem Jahr 1952 dienen, wo »[…] das unterbrochene Parallelogramm eine bedrohliche Präsenz annimmt, ein Bild der Gedanken des meditativen Betrachters heraufbeschwört, während der auf dem Bett sichtbare Schatten von ihrem Körper [der Körper, der auf dem Bild dargestellten Frau, A.d.Ü.] stammt«. Hollander folgert daraus, dass Hopper trotz allem ein abstrakter Künstler war: »Die Lichteinfälle besetzen den von Hopper geschaffenen Raum, während der anekdotenhafte Abfall durch den Akt des Malens selbst beiseite geschoben wird.«17 Hollander zufolge repräsentieren Lichteinfälle den Geist der abgebildeten Figur – so werde die tiefe Verblüffung des Mannes auf Excursion into Philosophy durch das komplexe Muster des Lichteinfalles im Raum widergespiegelt. Der Aufsatz gipfelt in den Bemerkungen zu dem Gemälde Sun in an Empty Room aus dem Jahr 1963. Es wird als Hoppers letztes Gemälde angesehen, war aber keinesfalls – wie Hollander schreibt – »[…] die vollkommene Parabel des Verhältnisses zwischen dem Inneren und dem Äußeren mit der Vision des Sublimen.«18 Die Bedeutung von Hopper liege daher in einer spekulativen Meditation über die Natur des Bewusststeins, die mit der für den abstrakten Expressionismus typischen Reflexivität über den Akt des Malens kombiniert werde und – zur Krönung des Ganzen – eine triumphierende Aufhebung amerikanischer realistischer und abstrakter Traditionen darstelle. Es versteht sich eigentlich von selbst, dass der von Hollander postulierte meditative Raum das Unbewusste komplett ausschließt. Meine Auffassung von Hopper unterscheidet sich davon bedeutend. Während Hollanders Hopper ganz aus Licht, Bewusstsein und Reflexivität besteht, ist mein Hopper düster, voller Schatten und unheimlicher Szenen. Ich fühle mich an den von Freud in den einleitenden Paragrafen von Das Unheimliche ausgedrückten Ärger über die traditionelle Ästhetik erinnert. Er beklagt, dass Philosophen, die sich mit Kunst befassen, »[…] sich überhaupt lieber mit den schönen, großartigen, anziehenden, also mit den positiven Gefühlsarten, ihren Bedingungen und den Gegenständen, die sie hervorrufen, als mit den gegensätzlichen, abstoßenden, beunruhigenden beschäftigen.«19 Freud setzte sich mit dem Thema einer jenseits des Lustprinzips liegenden Ästhetik häufig auseinander, besonders in seinen Diskussionen unserer Reaktion auf tragische Ereignisse. Seine Lösung des Rätsels auf die Frage, welches Interesse wir an der Tragödie hegen, noch einmal aufgegriffen in Jenseits des Lustprinzips, ist jedoch enttäuschend. In der Tragödie wird eine Serie katastrophaler Ereignisse vom Publikum mit Entsetzen aufgenommen. Die Tragödie dient jedoch heimlich dem Lustprinzip, da das auf der Bühne Aufgeführte, z. B. im König Ödipus, in Wirklichkeit ein verdrängter infantiler Wunsch ist. Stellt das Unheim17 Ebd., S. 159. 18 Ebd., S. 160. 19 Freud 1919h, G.W. XII, S. 229.

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liche dann einfach eine Variante dieser wohlbekannten Formel dar, Missvergnügen gegenüber einem System und Vergnügen gegenüber einem anderen zu empfinden? Nicht, wenn man Das Unheimliche liest. In Jenseits des Lustprinzips bemerkt Freud weiterhin, dass solche Spekulationen über die Tragödie unsinnig sind: »[…] für unsere Absichten leisten sie nichts, denn sie setzen Existenz und Herrschaft des Lustprinzips voraus«.20 Darüber hinaus ist schwer zu begreifen, wie Hoffmanns Märchen Der Sandmann, die Geschichte einer dämonischen Besessenheit, von Kastration und Tod, die den Mittelpunkt von Freuds Essay über das Unheimliche darstellt, auf plausible Art als ähnlich verborgene Erfüllung eines verdrängten Wunsches wie im König Ödipus interpretiert werden kann. Leider bietet Freud keine alternative Erklärung für das Interesse, das wir tatsächlich für das Unheimliche entwickeln, wenn es schon nicht Vergnügen ist. Möglicherweise deutet er jedoch bei der Beschreibung des Typus einer Person, die völlig unsensibel auf unheimliche Phänomene reagiert, versehentlich doch eine Erklärung an. In solch einem Menschen sind infantile Überzeugungen effektiv überwunden: »[…] das merkwürdigste Zusammentreffen von Wunsch und Erfüllung, die rätselhafteste Wiederholung ähnlicher Erlebnisse […], die täuschendsten Gesichtswahrnehmungen und verdächtigsten Geräusche werden ihn nicht irremachen, keine Angst in ihm erwecken, die man als Angst vor dem ›Unheimlichen‹ bezeichnen kann. Es handelt sich hier also rein um eine Angelegenheit der Realitätsprüfung, um eine Frage der materiellen Realität.«21

Freud scheint nicht sehr viel Sympathie für einen solchen durch nichts zu erschütternden Zeitgenossen zu hegen, jedoch klagt er sich in den einleitenden Paragrafen des Aufsatzes »[…] einer besonderen Stumpfheit in dieser Sache […] [an], wo große Feinfühligkeit eher am Platze wäre«. Als Autor »[…] dieser neuen Unternehmung« gesteht Freud, dass er »[…] schon lange nichts erlebt oder kennen gelernt [hat], was ihm den Eindruck des Unheimlichen gemacht hätte, [er] muß sich erst in das Gefühl hineinversetzen, die Möglichkeit desselben in sich wachrufen«.22 In diesem Aufsatz begann Freud damit, die Bekanntschaft mit dem Unheimlichen zu machen, sich ihm auszusetzen und gleichzeitig kühne metapsychologische Spekulationen zu wagen. Laut Lacan wagte er dies in seinem Essay Jenseits des Lustprinzips, der schon damals verstörend wirkte und weiterhin das gesamte Gefüge der Psychoanalyse aus dem Gleichgewicht brachte, indem er »im Dunkeln verloren schien«.23 20 21 22 23

Freud 1920g, G.W. XIII, S. 15. Freud 1919h, G.W. XII, S. 262. Ebd., S. 244. Das Zitat lautet auf Deutsch: »[…] wenn er den Eindruck erwecken sollte, sich im Dunkel zu verlieren […]«. Jacques Lacan, Das Seminar. Buch II (1954-1955). Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse, Olten 1980, S. 93.

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■ Modalitäten des Unheimlichen Die aufschlussreichste Aussage, die Hopper jemals über die Malerei tätigte, handelte nicht von ihm selbst, sondern von einem anderen Maler, den er sehr bewunderte – nämlich Charles Burchfield. Diese Hommage, veröffentlicht im Jahr 1928, sagt viel darüber aus, was Hopper an der Kunst schätzte. Hopper betonte besonders Burchfields Aufmerksamkeit für das Beiläufige oder für das, was sonst übersehen wird. Er zitiert eine Passage von Emerson: »In jeder genialen Arbeit erkennen wir unsere eigenen zurückgewiesenen Gedanken, sie kehren mit einer gewissen entfremdeten Erhabenheit zu uns zurück.«24 Diese zurückgewiesenen Gedanken erinnern uns zwangsläufig an »verdrängte Gedanken«, die mit einer unheimlichen Aura wiederkehren. Die Aufmerksamkeit für die zunächst übersehene Macht erinnert uns an Freuds Bemerkung über den Psychoanalytiker, der »[…] gewöhnt [ist], aus gering geschätzten oder nicht beachteten Zügen, aus dem Abhub – dem »refuse« – der Beobachtung, Geheimes und Verborgenes zu erraten.«25 Hopper katalogisiert einige von Burchfields Motiven, von denen viele sich mit seinen eigenen decken: »Keine Stimmung ist zu armselig, um interpretiert zu werden. Die Ansicht einer asphaltierten Straße in der glühenden Sonne um die Mittagszeit, Autos und Lokomotiven in gottverlassenen Verschiebebahnhöfen, der dampfende Sommerregen, der uns mit solch hoffnungsloser Langeweile erfüllen kann, die nichtssagenden Betonwände und Stahlkonstruktionen der modernen Industrie, Straßen im Hochsommer mit dem ätzenden Grün kurzgeschorener Rasenflächen, die staubigen Fords und vergoldeten Filmtheater – all das glühend heiße, billige Leben der amerikanischen Kleinstadt und dahinter die traurige Verzweiflung unserer vorstädtischen Landschaft. Er zieht daraus jeden Tag einen anderen Reiz, wo andere flüchten oder gleichgültig vorübergehen.«26

In dieser Passage interessiert mich besonders die darin heraufbeschworene Melancholie. Szenen voller Leere werden darin beschrieben – eine asphaltierte Straße, eine Mauer aus Beton. Dabei wird eine Stimmung hoffnungsloser Langeweile und trauriger Verzweiflung hervorgerufen, die auf einen unaussprechlichen und traumatischen Verlust hinweist. Hopper verbindet eines von Burchfields Gemälden mit einer Kindheitserfahrung: »March ist ein Versuch, die intimen Sensationen der Kindheit zu rekonstruieren, ein Versuch, diese intensiven, formlosen, unzusammenhängenden Souvenirs der frühen Jugend konkret erscheinen zu lassen. Einer Jugend, an die alle Erinnerung längst verblasst ist, wenn die Kraft, etwas darüber auszudrücken, gekommen ist. Diese Erinnerungen sind

24 Edward Hopper, »Charles Burchfield: American«, in: The Arts, 14 (1928), S. 6. 25 Freud 1914b, G.W. X, S. 185 26 Hopper 1928 (wie Anm. 24), S. 6-7.

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Träumen so ähnlich, dass sie verschwinden sobald man versucht, ihre wechselnden Formen zu greifen.«27

Auch hier liegt die Betonung auf dem Formlosen und Flüchtigen, das der Symbolisierung widersteht. Darüber hinaus wird eine zeitliche Verzögerung nahe gelegt, die für das Trauma zwischen der nicht integrierbaren Erfahrung und der Möglichkeit ihrer Repräsentation charakteristisch ist. Hopper untersucht nicht, warum diese frühen Szenen und Träume so flüchtig sind. Der psychoanalytischen Theorie zufolge, ist es jedoch ihre Nähe zu verdrängtem Material, die diese flüchtigen Szenen sozusagen ins Unbewusste hinabzieht. Ein Gemälde einer Szene, die dieses Material berührt, wird vermutlich als unheimlich wahrgenommen. Freud beschreibt mehrere Modalitäten des Unheimlichen, die alle – entweder im Leben oder in der Literatur – das Wachrufen verdrängter Gedanken oder kindlicher Erfahrung betreffen. Zunächst möchte ich mich dem Phänomen der unbeabsichtigten Wiederkehr zuwenden; auf einige andere Modalitäten komme ich später noch zu sprechen. Freud nennt als Beispiel für den Wiederholungszwang eine Episode aus eigener Erfahrung: »Als ich einst an einem heißen Sommernachmittag die mir unbekannten, menschenleeren Straßen einer italienischen Kleinstadt durchstreifte, geriet ich in eine Gegend, über deren Charakter ich nicht lange in Zweifel bleiben konnte.«28 Er beeilt sich, dieses Rotlichtviertel zu verlassen, findet sich nach einem Umweg jedoch erneut dort wieder. Eine solche Erfahrung ist unheimlich, weil das sich wiederholende Verhalten schicksalhaft und unentrinnbar scheint. Der Psychoanalytiker erkennt in solchen Momenten »[…] die Herrschaft eines von den Triebregungen ausgehenden Wiederholungszwanges […], der wahrscheinlich von der innersten Natur der Triebe selbst abhängt, stark genug ist, sich über das Lustprinzip hinauszusetzen, gewissen Seiten des Seelenlebens den dämonischen Charakter verleiht, sich in den Strebungen des kleinen Kindes noch sehr deutlich äußert […]«.

Der Todestrieb setzt sich über das Lustprinzip hinweg. Freuds Formulierung des Triebes ist nach wie vor als unklar berüchtigt, wurde jedoch unterstützt durch 27 Ebd., S. 7. 28 Freud 1919h, G.W. XII, S. 250 f. Der Essay über das Unheimliche hat eine komplexe Geschichte. Über den Aufsatz, der im Herbst 1919 veröffentlicht wurde, schrieb Freud in einem Brief an Ferenczi im Mai des Jahres 1919, er habe eine alte Arbeit aus der Schublade ausgegraben und schreibe sie neu. Freud verweist in einer Fußnote in Das Unheimliche auf Jenseits des Lustprinzips, obwohl dieser Essay erst im darauf folgenden Jahr publiziert wurde. Die Passagen, die z. B. den Wiederholungszwang betreffen, müssen jedoch nach dem Entwurf von Jenseits des Lustprinzips verfasst worden sein. Jedenfalls können wir annehmen, dass die beiden Aufsätze zusammenhängen. Möglicherweise erkannte Freud die volle Bedeutung des Unheimlichen erst als er Jenseits des Lustprinzips verfasste.

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die Beobachtungen an unter einer Kriegsneurose leidenden Soldaten, die er während des Ersten Weltkriegs behandelte, und die wiederholt von ihren traumatischen Erfahrungen träumten, durch die Tatsache, dass sein Enkel ein Spiel erfand, das in der Phantasie die schmerzhafte Erfahrung der Trennung von seiner Mutter wiederholte, und der Beobachtung, dass die Menschen, die sich einer Analyse unterziehen, in ihren gegenwärtigen Erfahrungen Kindheitserlebnisse, wie die Konflikte des ödipalen Szenarios und dessen Auflösung, zu wiederholen versuchen. Durch diese und andere Beobachtungen kam Freud zu der Schlussfolgerung, dass libidinöse, nach dem Vergnügen strebende Triebe nur einen Teil der Instinkte, die nun mit dem Terminus Eros versehen wurden, ausmachen und allgemein mit der Etablierung von Einheit und Bindung zu tun haben, während mit Thanatos, bzw. dem Todestrieb, Verbindungen aufgelöst, auseinander gerissen und zerstört werden, um komplexe organische Gebilde letztendlich wieder ihrem ursprünglichen, molekularen und anorganischen Status zuzuführen.29 Falls sich ein solcher Sachverhalt hinter dem Wiederholungszwang verbirgt, eine Art instinktive Automatisierung des Verhaltens, die sozusagen halb anorganisch wirkt, dann können wir einwenden, dass Freuds erfolglose Flucht aus dem Rotlichtviertel eher nach dem klassischen Fall des über das Realitätsprinzip siegenden Lustprinzips klingt. Tatsächlich hielt Freud Eros und Thanatos jedoch für miteinander verwoben. Der Todestrieb tritt entweder als defensiv nach außen projizierte Aggression auf oder erscheint in seinen »mit Erotik legierten Äußerungen«.30 Es gibt ein Gemälde von Hopper, das möglicherweise etwas von Freuds Erfahrung des Unheimlichen heraufbeschwört – auf bezaubernde Weise manifestiert sich auf Summertime aus dem Jahr 1943 (Abb. 4) der Todestrieb als mit dem Eros legiert. Eine junge Frau in einem hauchzarten weißen Kleid steht einladend unter dem Portikus aus Granit eines großstädtischen Miethauses. Die Szene erinnert mich an Norbert Hanolds Auftritt der Gradiva zur Mittagszeit in den Straßen von Pompeji, wie sie von Jensen beschrieben und von Freud analysiert wurde.31 Das strahlende weiße Licht lässt das Innere des Hauses, durch die Tür gesehen, in schwärzestem Dunkel erscheinen und hinterlässt auf den Stufen hinter der Frau einen formlosen und verzerrten Schatten. Die zeitliche Dimension der Wiederholung kann nicht dargestellt werden, außer vielleicht in der Wie29 Ich komme an dieser Stelle nicht auf Leo Bersanis bedeutende Diskussion von Jenseits des Lustprinzips zu sprechen, da sie meiner Interpretation zuwider läuft. Ich stütze mich auf Lacans Auslegung der Art und Weise, wie Freud libidinöses Vergnügen bzw. den Eros mit Homöostase und Konstanz gleichsetzt, während der Todestrieb als mit der Ich-Zerstörung einhergehende befreiende Kraft konzipiert wird. Indem er die Möglichkeit eines selbstzerstörerischen, masochistischen sexuellen Vergnügen postuliert, entzieht Bersani dieser Dichotomie den Boden. Leo Bersani, The Freudian body: psychoanalysis and art, New York 1968. 30 Freud 1930a (1929), G.W. XIV, S. 478. 31 Freud 1907a (1906), G.W. VII, S. 29-125.

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derholung der architektonischen Elemente, es liegt jedoch ein Surrealismus in der Art Magrittes in der heißen Brise, welche die Vorhänge in einem der Fenster hin- und herbewegt und dabei ein schwarzes Loch enthüllt. Ich möchte zur Diskussion stellen, dass viele von Hoppers Gemälden im Hinblick auf diese unheimliche Manifestation des Todestriebs erhellt werden können.

Abbildung 4: Edward Hopper, Sommerzeit (Summertime), Öl auf Leinwand,

74 x 111,8 cm, 1943, Delaware Art Museum, Wilmington, Schenkung Dora Sexton Brown

Was ich Hoppers figürliche Darstellung des Todestriebes nenne, erscheint manchmal in Form einer Lücke oder Leere. So existieren mehrere Beispiele von Menschen auf Bildern, die den Blick auf eine leere Bühne richten. Der Kritiker David Anfam bemerkt dazu: »Es ist schwierig, die Bedeutung der Leere – vor der die Zuschauer endlos nachsinnen – als symbolisches Potenzial zu ignorieren. In seinem letzten Gemälde, Two Comedians, findet die lang erwartete Vorführung schließlich statt. Edward und seine Frau Jo verbeugen sich zum letzten Mal inmitten von künstlichem Deko-Laubwerk und völliger Dunkelheit.«32

Anfam erwähnt dabei das Motiv des Tunnels nicht, von dem mindestens zwei Beispiele existieren: Bridle Path aus dem Jahr 1939, auf dem ein weißes Pferd sich am Eingang zur Unterführung des Central Park erschreckt aufbäumt und Approaching a City aus dem Jahr 1946, auf dem der Zuschauer sich in einem Zug 32 David Anfan, »Edward Hopper – Recent studies«, in: Art History, 4 (1981), S. 459.

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wähnt, der am Stadtrand von New York gerade in einen Tunnel einfährt. Die auffälligste Leerstelle in Hoppers Werk ist jedoch die im übertragenen Sinn wahrnehmbare Leere, auf welche die junge Frau in Automat (Abb. 5) blickt, als sie eine Tasse Kaffee trinkt. Durch den Titel wird zwar die Umgebung ganz offensichtlich als Automatenrestaurant identifiziert, aber er bezieht sich auch auf die Figur der Frau. Der größte Teil des Bildes wird von einem dünn gemalten dunklen Fenster eingenommen, in dem die Deckenlichter des Interieurs reflektiert werden. Der Schnittpunkt dieser Reflexionen deutet einen verheißungsvollen Lockruf an. Auf ihrem Stuhl neben der Tür wird die Dame bald ihren anderen Handschuh überstreifen und in die Nacht eintauchen. Auf einem Gemälde aus dem vorangegangenen Jahr, 1926, mit dem Titel Sunday wird eine ähnliche Verwendung des Fenstermotivs gezeigt. Ein sitzender Mann in Hemdsärmeln scheint seinen freien Tag nicht zu genießen, hinter ihm ist in zwei schwarzen Fenstern die Leere in seinen Augen in vergrößerter Form zu sehen. Und wieder – auf dem Bild Hotel Window aus dem Jahr 1955 – starrt eine ältere Dame in einem anonymen Hotelfoyer in ein schwarzes Fenster.

Abbildung 5: Edward Hopper, Automat, Öl auf Leinwand, 71,4 x 91,4 cm, 1927, Des Moines Art Center, Des Moines, Iowa; James D. Edmundson Fund, 1958

Auch anderen Kritikern fiel das Vorherrschen des Todesthemas in Hoppers Arbeiten auf. Sogar Hollander verweist in einer Fußnote auf den düsteren Charakter einer späten Arbeit, Chair Car aus dem Jahr 1965, die das Innere eines

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Zugabteils darstellt: »Mit der abgeriegelten hinteren Wand, den seltsamen Lichteinfällen und dem seltsamen Arrangement der Figuren erschien mir diese Arbeit immer als Version der Fähre in die Unterwelt.«33 Der Dichter Mark Strand interpretiert Hoppers Gemälde durchgängig auf diese Art. Seine Interpretation von Gas von 1940 kann als typisch gelten. Die Wälder im Hintergrund sind »die dunkle Seite der Natur, bedrückend und lauernd« und »das beleuchtete Mobilgas-Schild mit dem darauf abgebildeten kleinen, roten, geflügelten Pferd unterstreicht nur – mit ironischer Distanz – unsere Unmöglichkeit, dem zu entkommen, was als unser tödliches Schicksal erscheint.«34 Mir geht es jedoch nicht um den Tod als Tatsache, sondern eher darum, dass ein verstörender Todestrieb in Hoppers Arbeiten heraufbeschworen wird, der zu einem Gefühl des Unheimlichen, das dadurch im Betrachter erweckt wird, beiträgt. Ich möchte mich nun einigen anderen Eigenschaften des Unheimlichen und ihrer Relevanz für Hoppers Malerei zuwenden. Eine davon wird durch die lebende Puppe Olimpia in Hoffmanns Märchen Der Sandmann verkörpert. Freud erklärte, dass Kinder zu der Annahme tendieren, ihre Puppen oder ausgestopften Tiere seien lebendig, da sie noch nicht streng zwischen dem Lebenden und Unbelebten unterscheiden. In Erwachsenen reaktiviert der Anblick eines lebensechten Automaten oder automatenhaften menschlichen Verhaltens dann diese infantilen Anschauungen, die wir überwunden zu haben glaubten. Hopper bietet ein sehr bemerkenswertes Beispiel für diesen unheimlichen Eindruck. Chop Suey aus dem Jahr 1929 (Abb. 6) stellt eine Porzellanpuppe mit starrem Blick, rigider Haltung, blasser Haut und geschminktem Mund in einem chinesischen Restaurant dar. Dies könnte auch eine Andeutung auf die Vermarktung und Verdinglichung des Körpers in dem mannequin-ähnlichen Reiz des modischen Mädchens der 1920er Jahre, des flappers, sein. Der Doppelgänger, eine weitere Modalität des Unheimlichen, erscheint hier ebenfalls. Eine fast identische Frau sitzt der ersten Frau am Tisch gegenüber. Freud erklärt die Unheimlichkeit des Doppelgängers damit, dass der primäre Narzissmus, Teil des Eros, in der frühen Kindheit einen Doppelgänger als Bollwerk gegen die Zerstörung des Ich schafft, der später, nachdem er verdrängt wurde, zurückkehrt und seinen ursprünglichen Aspekt ins Gegenteil verkehrt, indem er zu einem »[…] unheimlichen Vorboten des Todes«35 wird. Schatten, die durch Objekte oder Figuren geworfen werden und in Hoppers Werk allgegenwärtig sind, stellen natürlich eine andere Sorte von Doppelgängern dar. Da das deutsche Wort unheimlich zum Teil die Negation von »heimelig« oder »gemütlich« darstellt, ist ein naheliegendes Thema des Unheimlichen das Spukhaus. Obwohl sich Freud etwas verächtlich über diese Kategorie äußerte, da das 33 Hollander 1981 (wie Anm. 17), S. 160. 34 Mark Strand, Hopper, Hopewell 1994, S. 14-15. 35 Freud 1919h, G.W. XII, S. 247.

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Abbildung 6: Edward Hopper, Chop Suey, Öl auf Leinwand, 81,6 x 96,8 cm, 1929, Barney

A. Ebsworth, St. Louis

Spukhaus eher auf simple Art schaurig anstatt unheimlich wirkt, haben Geister, wie sich herausstellt, mit einem Doppelgänger vieles gemeinsam, da beide im primären Narzissmus wurzeln. Genau wie die Menschen unbewusst von ihrer eigenen Unsterblichkeit überzeugt sind, besteht die Idee fort, dass die Toten in irgend einer Form zurückkehren. Furchterregende Geister stellen wiederum die verdrängte, verzerrte und wieder aufgetauchte Form dieser Vorstellung dar. Hopper gab einem Aquarell eines verlassenen und verriegelten Hauses in Gloucester, Maine, den Titel Haunted House Dennoch bleibt eher die neogotische Monstrosität von House by the Railroad als beunruhigend unheimlich in Erinnerung. Dabei stellt die unheimlich anmutende viktorianische Gotik zwar ein häufiges Motiv in Hoppers Arbeiten dar, noch öfter wird vielleicht jedoch das neuenglische Cottage im Cape-Cod-Stil verwendet. Dafür existiert eine biografische Erklärung. Hopper und seine Frau verbrachten jeweils sechs Monate des Jahres in einem Apartment am Washington Square in New York City und sechs Monate in Truro, Massachusetts, am Cape Cod. Ausschlaggebend ist jedoch Hoppers Art, diese Cottages darzustellen, die normalerweise als die reine Verkörperung eines mit Rosen bewachsenen, häuslichen Glücks beschrieben werden. Man nehme beispielsweise Solitude #56 aus dem Jahr 1944 (Abb. 7). Es dauert ein wenig, bis

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man präzise sagen kann, warum dieses kleine Landhaus so beunruhigend wirkt. Ein Grund ist, dass es perspektivisch verzerrt ist – sowohl die Vorderseite des Hauses als auch die Seitenwand befinden sich parallel zur Bildebene. Außerdem sind die vorderen Fenster verriegelt und es gibt keinen erkennbaren Weg, der zur Tür führt. Die perspektivisch übertriebene Verengung der Straße führt zu der Vorstellung, dass ein imaginäres Auto mit hoher Geschwindigkeit an dem Haus vorbeifährt. Das Gemälde repräsentiert in diesem Fall den Eindruck, den ein schneller Blick auf ein unerklärlich seltsames, isoliertes Haus hinterlässt. Der Blickwinkel, welcher den Eindruck erzeugt, man würde aus einem vorbeifahrenden Fahrzeug schauen, und die daraus resultierende verzögerte zeitliche Wahrnehmung der Gemälde Hoppers sind wichtige Bestandteile des unheimlichen Eindrucks, den seine Arbeiten ganz generell hinterlassen.

Abbildung 7: Edward Hopper, Einsamkeit (Solitude), Öl auf Leinwand, 81,3 x 127 cm, 1944, Privatsammlung

■ Das blinde Feld Mir ist auf schmerzliche Art bewusst, dass ich – obwohl ich ursprünglich mit einer These über die Erfahrung des Unheimlichen in Hoppers Gemälden begonnen hatte – darauf verfallen bin, einen ganzen Katalog unheimlicher Motive aufzuzählen: das Aufscheinen des Todestriebs, unheimliche lebensechte Puppen, Doppelgänger, Spukhäuser. Dies ist vollkommen unbefriedigend, da somit ange-

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deutet wird, dass die Motive selbst mit dem ihnen innewohnenden narrativen Inhalt den unheimlichen Effekt hervorrufen, anstelle der tatsächlichen Erfahrung in der Begegnung mit bestimmten Gemälden. Es muss festgehalten werden, und einige Autoren haben dies bereits getan, dass Freud selbst das formal Unheimliche von Der Sandmann außer acht lässt. Dieser Präzedenzfall hat die weitere Entwicklung einer psychoanalytischen Kunstkritik bislang eingeschränkt.36 Ich erwähnte bereits – wenn auch eher beiläufig – zwei ungewöhnliche formale Charakteristika, welche die Art der Begegnung mit Hoppers Gemälden strukturieren, und die ich für eng miteinander verbunden halte: den Charakter eines Standfotos im Film und den Blickwinkel aus einem vorbeifahrenden Fahrzeug. Der Charakter des Standbildes hat teilweise mit dem plötzlichen Aussetzen des erzählenden Charakters eines Bildes zu tun, ist jedoch ebenso auf das Phänomen zurückzuführen, das man am besten als Hoppers speziellen »Kamerawinkel«, also Einblicke durch Fenster, die den Aufnahmen aus der Vogelperspektive im Kino gleichkommen, beschreibt. Natürlich haben schon viele Künstler formale Anteile aus der Fotografie in ihre Malerei integriert: Degas, den Hopper besonders bewunderte, ist dafür ein perfektes Beispiel. Der Effekt, Objekte im Vordergrund eines Bilds mit einem Rahmen abzuschneiden, ist im Wesentlichen eine fotografische Technik. Filmtheoretiker haben diese Idee weiterentwickelt, um sich auf ihr Medium einzustellen. André Bazin beschreibt, wie die Bildränder die Umgebung verdecken und somit nur einen Teil der Realität abbilden. »Was der Bildschirm uns zeigt, scheint Teil von etwas zu sein, das endlos in das Universum hineinreichen kann.«37 Das Gezeigte scheint abgerundet, obwohl es offen und unvollständig ist. Pascal Bonitzer geht diesem Effekt in seinem Buch Le champ aveugle nach, indem er ein psychoanalytisches Moment hineinwebt. Er beobachtet, dass »das Kino einfach das will, was außerhalb des Bildschirms stattfindet, um daraus ebenso viel – und manchmal sogar mehr – dramatische Relevanz zu ziehen wie von der Handlung innerhalb des frame.« Er fragt sich, was es auf sich hat mit einem Standbild, das einem sofort auffällt. Liegt es daran, dass »[…] die Wirkung des Bildes, die gebannten Bewegungen, die Blicke und die verschwindenden Linien des Settings von einem Schwerpunkt außerhalb des Rahmens angezogen zu werden scheinen?« Diese partielle Sicht, so seine Schlussfolgerung, ist, ähnlich einem verlorenen Partialobjekt, Ursache des Begehrens, und hält so dieses Begehren durch den Wunsch zu sehen, aufrecht.38 Dieser Effekt bleibt je36 Vgl. zur brillanten Komposition von Hoffmanns Erzählungen, Neil Hertz, The end of the line: essays on psychoanalysis and the sublime, New York 1983. 37 André Bazin, What is cinema?, Berkeley, London 1967, Bd. 1, S. 166. Die Referenz bezieht sich auf die Diskussion des »blinden Felds« – dieser spezielle Ausdruck wird jedoch von Bazin nicht verwendet. Barthes benutzt ihn in Die helle Kammer, S. 87, wo er sich auf Bazin bezieht und andeutet, dass es sich um einen Ausdruck Bazins handelt. 38 Pascal Bonitzer, Le champ aveugle: essais sur le cinéma, Paris 1982, S. 87-98. Bonitzer zitiert Barthes’ Die helle Kammer und Lacans Seminar II.

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doch nicht auf das Kino beschränkt: Meyer Schapiro stellt fest, dass dieses Phänomen auch in der Malerei vorkommt, wenn Objekte im Vordergrund scheinbar willkürlich angeschnitten werden. Er kommentiert: »Diese Technik[…] stellt das Partielle, das Fragmentarische und Abhängige des Bildes heraus […]. Das Bild scheint auf willkürliche Art von einem größeren Ganzen isoliert und gerät offenbar abrupt ins Blickfeld des Betrachters. Es entsteht der Eindruck, als würde das angeschnittene Bild nur für einen flüchtigen Augenblick existieren.«39

Schapiro zieht im Gegensatz zu Bonitzer nicht in Betracht, wie diese formale Erfindung – hier ja von besonderem Interesse – das Begehren des Betrachters stimuliert.

Abbildung 8: Edward Hopper, Nachts im Büro (Office at Night), Öl auf Leinwand,

56,2 x 63,5 cm, 1940, Walker Art Center, Minneapolis, Schenkung der T. B. Walker Foundation

39 Meyer Schapiro, »On some problems in the semiotics of visual art. Field and vehicle in image-signs«, in: ders., Theory and philosophy of art: style, artist and society, New York 1969, Bd. 4, S. 7.

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Hopper verwendete das blinde Feld in jedem seiner Bilder. Über Manhattan Bridge Loop aus dem Jahr 1928 bemerkte er, dass die darauf abgebildeten, langen horizontalen Linien dazu dienten »[…] uns den Raum und die Elemente jenseits der Begrenzungen der Szene selbst bewusst zu machen«.40 Das blinde Feld ist jedoch nicht einfach an der Peripherie eines Gemäldes zu finden, sondern wirkt sich auf die gesamte Komposition aus, wie Schapiros Bemerkungen verdeutlichen. Das berühmte Bild Office at Night (Abb. 8) aus dem Jahr 1940 kann in dieser Hinsicht als exemplarisch gelten. Es besitzt einen sehr hohen »Kamerawinkel« und die Art, in welcher die Objekte angeschnitten werden, erinnert an Degas. Früher angefertigte Skizzen zeigen, dass die Szene ursprünglich durch ein offenes Fenster eingerahmt und betrachtet werden sollte. In einem Brief erwies sich Hopper ungewöhnlich mitteilsam über dieses Bild: »Die Idee zu diesem Bild kam mir vermutlich zuerst während der vielen Fahrten in der S-Bahn durch New York City nach Einbruch der Dunkelheit; die schnell vorüberhuschenden Bildfetzen von Büroräumen hinterließen frische und lebendige Eindrücke in mir.«41 Hier scheint ein non sequitur vorzuliegen. Der flüchtige Blick aus einem vorbeifahrenden Fahrzeug und die willkürliche Begrenzung durch das Fenster, zeitliche und räumliche blinde Felder, vermischen sich auf irgend eine Art und Weise und lassen dadurch die Szenerie lebhafter wirken, anstatt, wie man erwarten könnte, undeutlich. Weshalb? Weil die Vorstellungskraft des Zuschauers, in Hoppers Fall durch die Bewegung des Zuges verstärkt, sich an dieser zufälligen Begegnung auf die gleiche Art und Weise festmacht wie Freuds unbewusste Phantasie durch die botanische Monografie, die er beim Vorüberschlendern in einem Buchladen bemerkte, oder Bretons Phantasie durch den großen Holzlöffel auf dem Flohmarkt stimuliert wird.42 Darin steckt natürlich ebenfalls ein Element unerlaubten Zuschauens; es scheint verlockend, dem Treiben der Erwachsenen in der Nacht nachzuspionieren. Hopper bemerkte über ein ähnliches Gemälde, in dem die Rahmung durch das offene Fenster beibehalten wurde, Room in New York, dass »[…] es durch kurze Blicke in hellerleuchtete Fenster beim Spazierengehen nachts auf der Straße inspiriert wurde.«43 Die feministische Kritik an Office at Night konzentriert sich auf das Geschlechter- und Machtverhältnis zwischen den beiden Figuren. Linda Nochlin deutet an, dass das Bild sich um »[…] die ungefragte und nicht zu beantwortende Frage [dreht], ob die Frau sich bücken wird, um das Blatt Papier aufzuheben, das halb versteckt hinter dem Schreibtisch liegt«. Die entfremdete und sterile Atmosphäre des Arbeitsplatzes könnte jedoch ebenso darauf hinweisen, dass die 40 Edward Hopper in einem Brief an Charles Charles H. Sawyer im Oktober 1939; abgedruckt in: Goodrich 1976 (wie Anm. 9), S. 152. 41 Edward Hopper in einem Brief an Norman A. Geske, Direktor des Walker Art Center, abgedruckt in: Robert Hobbs, Edward Hopper, New York 1987, S. 16. 42 Freud 1900a, G.W. Bd. II/III, S. 291 ff. und André Breton, Mad love, Nebraska 1987, S. 30. 43 Goodrich 1976 (wie Anm. 9), S. 129.

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beiden Figuren nicht miteinander in Kontakt treten werden.44 Victor Burgin bemerkte, dass die Haltung der Frau in Office at Night auf bizarre Art erotisch ansprechend und anatomisch unmöglich sei, da sie Brüste und Hinterteil gleichzeitig dem Auge des Betrachters darbietet. Er argumentiert, dass diese extrem aufreizende Sekretärin droht, »[…] die Organisation der Sexualität innerhalb und für den Kapitalismus« zu stürzen und von der produktiven Arbeit abzulenken. Die formale Strenge des Bildes und die Weigerung des Mannes von seiner Arbeit aufzusehen, stabilisieren jedoch die erotische Drohung und bieten eine »moralische Lösung« an, die patriarchalisch wirkt. Der männliche Betrachter, so Burgin, kann den Körper der Frau auf voyeuristische Art genießen, während er gleichzeitig mit der Integrität eines Vorgesetzten identifiziert bleibt.45 Ellen Willey Todd ist der Meinung, dass weder Nochlin noch Burgin der Sekretärin die ihr gebührende Macht und Dominanz innerhalb der Szene zugestehen, mir scheint sie auch der zur selben Zeit populären Femme fatale des Film noir ähnlich.46 Mein Anliegen ist hier jedoch eher, dass durch diese Konzentration auf die sexuelle Spannung zwischen den beiden Figuren oder das Verständniss irgend eines hypothetischen männlichen Rezipienten die individuelle Reaktion eines jeden auf diese Arbeit umgangen wird. Meiner Ansicht nach entzünden die räumlichen und zeitlichen blinden Felder des Gemäldes eine Art Spekulation und Phantasietätigkeit, die einer freien Assoziation gleichkommen, und die in jene andere Szenerie hinüber führen könnten – in die traumatische Urszene, auf die in der Kindheit ein Blick erhascht wurde oder welche in dieser Zeit in der Vorstellung stattfand. Dies würde einen Teil der seltsamen Lebendigkeit und geheimnisvollen Aura des Gemäldes erklären. Bei der Analyse von Office at Night erlebten wir zwei anscheinend miteinander im Widerstreit stehende Momente der Wahrnehmung: erstens einen lebhaften Eindruck tiefer Bedeutsamkeit und zweitens die Aufsplitterung in Fragen und phantasierte Verbindungen, die mit dem blinden Feld konnotiert sind. Momente der Dichte und Einheit wechseln sich mit Momenten der Auflösung und der Vielfalt möglicher Bedeutungen ab. In seinem Buch Cracking up weist der Psychoanalytiker Christopher Bollas darauf hin, dass die beiden grundlegenden Mechanismen des Traumes, Verdichtung und Verschiebung, als zwei basale Momente in der Dialektik des Unbewussten verstanden werden sollten. »Das unbewusste seelische Leben folgt einer Schwingung, die seine weitere Funktion sicherstellt. Diese Oszillation besteht darin, dass die Arbeit des Unbewussten zum einen 44 Linda Nochlin, »Edward Hopper and the imagery of alienation«, in: Art Journal, 41 (1981), S. 138. 45 Victor Burgin, Between, Oxford 1986, S. 183. 46 Ellen Wiley Todd, »›Will (s)he stoop to conquer?‹: preliminaries toward a reading of Edward Hopper’s Office at night«, in: Norman Bryson u. a. (Hg.), Visual theory, Oxford 1991, S. 4753.

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verschiedene Vorstellungen durch den Mechanismus der Verdichtung vereint, diese Verdichtung zum anderen jedoch dann durch den Prozess der freien Assoziation zunichte gemacht wird. Als Freud seine Analysanden darum bat, zu ihren Träumen frei zu assoziieren, wies er auf die häufige Tatsache hin, dass der manifeste Inhalt des Traums für die Patienten schließlich kaum noch eine Rolle spielte. Das, was durch den Vorgang der Verdichtung geschaffen wurde – das Traumgeschehen – wird durch die Wirkung der freien Assoziation zerstört. Jedoch kennzeichnen beide Prozesse – die Verdichtung und dessen Auflösung – das Unbewusste und machen seine Dialektik aus.«47

Die dichte Lebhaftigkeit der Erfahrung eines Gemäldes von Hopper ist nicht nur mit bestimmten manifesten visuellen Charakteristika, wie beiseite gelassene Details und gesättigte Farben, sondern auch mit einer Verdichtung der Bedeutung verknüpft. Genau diese verdichtete Bedeutung katapultiert den Zuschauer jedoch in eine Vielzahl von Richtungen, angetrieben durch eine frei-assoziative Aktivität, die Bollas, mit einem Hinweis auf Nietzsche, die »kreative Zerstörung«48 nennt. Diese Darstellung der Verschiebung als Zentrifugalkraft ist von Lacans Verständnis dieses Mechanismus als durch das Begehren evoziertes metonymisches glissement, einem Gleiten von Signifikant zu Signifikant, beeinflusst. Obwohl er auf diese Verbindung nicht hinweist, gleicht Bollas’ Dialektik des Unbewussten exakt Freuds Unterscheidung zwischen Eros und Thanatos. Die Konzeption des frei-assoziativen blinden Felds in der Kunst könnte dann einen Schritt hin zu einer psychoanalytisch verstandenen Ästhetik »jenseits des Lustprinzips« bedeuten. Das »frei-assoziative« blinde Feld scheint jedoch eher durch Hoppers plötzlich aussetzende Erzählweise hervorgerufen, die so typisch für seinen Stil ist, als durch formale Charakteristika. Ist die Komposition seiner Bilder unheimlich? Wie sprechen sie das Unbewusste des Betrachters an? Der Aufbau vieler Gemälde lässt auf eine subjektive Sicht schließen, die auf die implizite Präsenz von jemandem verweist, der den Platz vor der Szene einnimmt. Das bedeutet, dass einige Kunstwerke strukturell von der impliziten Präsenz eines Zuschauers oder eines »Akteurs« im Raum des Zuschauers abhängig sind. Der nach außen gerichtete Blick einer Figur ist ein Mittel, die Gegenwart eines scheinbar mit anwesenden Zuschauers im blinden Feld des Bildes herzustellen, die Vogelperspektive oder ein indirekter Blickwinkel erweisen sich jedoch als ebenso effektiv. Degas’ häufige Verwendung der indirekten Perspektive lässt auf die Absicht schließen, dass der Blickwinkel subjektiv erfahren werden soll. Diese Ansicht wird in L’Absinthe durch die Darstellung von Requisitien untermauert (Tisch und Zeitung in der linken unteren Ecke). Dieses Thema behandelte Alois Riegl in seinem Buch Das holländische Gruppenporträt aus dem Jahr 1902 ausführlich. Er argumentierte, dass die Kohärenz eines Gemäldes, zum Beispiel Rembrandts Die Staalmeesters, von der intensiven Aufmerksamkeit der Fi47 Christopher Bollas, Cracking up: the work of unconscious experience, London 1995, S. 53. 48 Ebd.

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guren für jemanden neben der Position des Betrachters abhängt.49 Der Szene wohnt somit etwas Dramatisches inne, ähnlich derjenigen auf Le bar aux FoliesBergère von Manet. Und doch lädt uns das Bild von Manet, so T. J. Clark, nicht zu einem wechselseitigen Blickkontakt ein. Das blasierte, modisch zurechtgemachte Gesicht der Bardame unterbindet diese Möglichkeit.50 Clarks Analyse spezifiziert jedoch nicht ganz, wie Manet es bewerkstelligt, den Betrachter, der zunächst ausdrücklich eingeladen, dann aber durch die impertinente Präsenz des Gentleman mit Zylinder im Spiegel abgefangen wird, auszulöschen. Um das Bild im Spiegel zu »sehen«, ist der Betrachter gezwungen, seine dominierende Position in der Szenerie zu räumen.51 Es handelt sich sozusagen um eine »naturalisiertere« Version des Effekts, den der anamorphotische Totenkopf in Holbeins Die Gesandten nach der Analyse von Lacan zeitigt. Manets Bild ist jedoch weder unheimlich noch besitzt die Dezentrierung des Zuschauers die gewaltige Macht, die Holbeins Totenkopf zum Ausdruck bringt, und so reicht die abgefangene, subjektive Sicht ganz klar nicht aus, um einen unheimlichen Eindruck zu erzeugen. Slavoj Zizeks Diskussion der Hitchcock’schen Montage in Looking awry spezifiziert das, was sonst noch dafür benötigt wird. Hitchcocks Strategie bestand ja darin, die subjektive Aufnahme einer Person, die sich einem Punkt nähert – zum Beispiel Lilahs Blickwinkel, als sie auf das seltsame Haus in Psycho zugeht – mit der objektiven Bestandsaufnahme des Charakters, also beispielsweise Lilah, wie sie die Treppe hochsteigt, abzuwechseln.52 Eine neutrale, objektive Filmaufnahme des Hauses in dieser Sequenz würde den unheimlichen Effekt zunichte machen, da wir uns in diesem Fall damit beruhigen könnten, dass sie sich mit ihrer subjektiven Sicht im Irrtum befindet. Ähnlich ungeeignet wäre eine subjektive Aufnahme aus dem Inneren des Hauses, sagen wir von Lilah, die aus der Perspektive eines sich bewegenden Vorhanges erspäht wird, da somit ein anderer Mensch personalisiert und positioniert würde, der zwar erschreckend wirken mag, aber nicht besonders unheimlich ist. Zizek deutet in Übereinstimmung mit Lacan, dass der Effekt der Szene mit der Vorstellung zu tun hat, dass Lilah bereits von dem Haus beobachtet wird. Und genau dieser unsichtbare, gewissermaßen tote Blick ruht nun auf Lilah und erfüllt sie (und uns) mit Entsetzen. Dieser nicht mehr menschliche Blick kann unsere Existenz 49 Alois Riegl, Das holländische Gruppenporträt (1902), Wien 1931, S. 210-214. Vgl. auch meine Diskussion in: Alois Riegl: art history and theory, Cambridge Mass., London 1993. 50 Timothy J. Clark, The painting of modern life, London 1984, S. 250-252. 51 Das Konzept der »Auslöschung« des Betrachters wurde von Briony Fer eingeführt, um die Erfahrung von Andres Bodenarbeiten aus Metall, den sog. floor pieces zu charakterisieren. Vgl. Ausst.-Kat. Carl Andre and the fall of sculpture, Oxford, Museum of Modern Art. Vgl. auch ihr Buch Dreaming in the abstract. 52 Slavoj Zizek, Looking awry: an introduction to Jacques Lacan through popular culture, Cambridge, London 1991, S. 117-118. Die Sequenz wurde ebenfalls von Stephen Rebello in Alfred Hitchcock and the making of Psycho, London 1990, analysiert.

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entweder bestätigen (falls er auf den Glanz in den Augen der Mutter zurückgeht) oder diese ebenso negieren (wie beispielsweise in der paranoiden Abhängigkeit vom verfolgenden Blick). Das alte Haus in Psycho und, meiner Ansicht nach, auch Hoppers House by the Railroad konfrontieren den Betrachter mit einem vernichtenden Blick. Ein weiterer Aspekt des blinden Felds liegt in der damit verknüpften zeitlichen Dimension. Die auf House by the Railroad und Office at Night dargestellten Szenen weisen auf einen impliziten, in einem Zug sitzenden Zuschauer hin, der rasend schnell durch die Zeit fährt. Was wir dann sorgfältig auf dem Gemälde erforschen, besitzt den Charakter einer Nachempfindung bzw. einer Erinnerung. Wie in der Szene, die den Keim für ein Trauma legt, ist die Repräsentation der Szene erst nach dem Geschehen, das selbst nicht mehr unmittelbar rekonstruiert werden kann, möglich. Aber warum bleiben lediglich diese Szenen »hängen«? Können Bilder die Struktur von – nach Freud so genannten – »Deckerinnerungen« aufweisen? Deckerinnerungen sind Erinnerungen, die Erwachsene an ihre Kindheit haben. Freud beobachtete, dass sich die frühesten Erinnerungen an unsere Kindheit häufig um alltägliche und unwichtige Ereignisse drehen, die nicht die geringste emotionale Wirkung bei Kindern hervorrufen – die jedoch mitunter bis ins kleinste Detail erinnert werden. Der Grund, weshalb man sich so lebhaft an relativ banale Geschehnisse erinnert, liegt darin, dass es sich um ein mnestisches Erinnerungsbild handelt, das nicht mit der relevanten Erfahrung selbst, sondern mit einem anderen Bild, das mit dem ersten in engem Zusammenhang steht, verknüpft ist. Freud zufolge handelt es sich um »[…] einen Fall von Verdrängung, der von dem Ersatz von etwas in der Umgebung [ob Zeit oder Raum] begleitet wird«.53 Freud kommt zu dem Schluss, dass es zweifelhaft sei, ob »[…] wir bewusste Erinnerungen aus der Kindheit haben oder nicht vielmehr bloß an die Kindheit.« Angesichts der scheinbaren Bedeutungslosigkeit der Szene wird das Banale dann unheimlich, wenn es »allzu offensichtlich« ist. Deshalb hat der merkwürdige Effekt, den Hoppers Bilder ausüben, mit deren Charakter einer indirekten Darstellung unerinnerbarer Erinnerungen zu tun, sie sind als banale Deckerinnerungen traumatischer Ereignisse zu verstehen.

■ Rachel Whitereads House Abschließend möchte ich ein weiteres Haus neben Hoppers House by the Railroad und das alte Haus der Bates in Psycho stellen. Über Whitereads berühmte temporäre Installation House (25. Oktober 1993 – 11. Januar 1994, Abb. 9) existiert eine große Anzahl an wohldurchdachter Literatur. Bei diesem Werk handelt 53 Freud 1899a, G.W. I, S. 537.

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es sich um den Betonabguss des Innenraums eines zum Abriss vorgesehenen viktorianischen Reihenhauses, das in situ in der Grove Road, im Viertel Bow im East End von London nahe des berüchtigten Industriegebiets der Londoner Docklands gezeigt wurde. Vorher wurde der Innenraum mit Stahlbeton ausgefüllt und die Fassade nachträglich entfernt. Das Thema Nostalgie spielte bei der Art und Weise, wie House rezipiert wurde, eine sensible Rolle. Einige waren versucht, House als Denkmal für eine längst verlorene, einträchtige Gemeinschaft der Arbeiterklasse zu interpretieren – eine Auslegung, welche die Debatte um die bittere Geschichte des Stadtgebiets voller rassistischer Ressentiments, die sich zunächst auf die dort ansässige jüdische Gemeinde und dann auf die Einwanderer aus dem indischen Subkontinent richteten, bedienen würde. Jedoch, wie auch von Doreen Massey und anderen Autoren vorgeschlagen, kommt der Nostalgie ebenfalls eine bedeutende Rolle zu. House ist als Symptom eines Gefühls zu verstehen, für das, was in unserer aufgeklärten modernen Gesellschaft verloren gegangen ist.54 Und doch verortet Mladen Dolar aus historischer Sicht das Unheimliche und nicht die Nostalgie als die Kehrseite der Aufklärung und des wissenschaftlichen rationalen Bewusstseins. Ihm zufolge kehrt Frankensteins Monster als die verdrängte andere Seite modernen Verhaltens zurück.55

Abbildung 9: Rachel Whiteread, House, Oktober bis Januar 1993-94 54 Doreen Massey, »Space-time and the politics of location«, in: James Lingwood (Hg.), Rachel Whiteread: house. London 1995, S. 34-49. 55 Mladen Dolar, »›I shall be with You on your wedding night‹: Lacan and the uncanny«, in: October, (1991), Nr. 58, S. 5-24.

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Nostalgie und das Unheimliche scheinen hier auf beunruhigende Art und Weise miteinander verknüpft, was uns zu unserem Ausgangspunkt und den diversen Reaktionen auf Hoppers House by the Railroad zurückbringt. Die Nostalgie geht unmerklich in das Unheimliche über. In dieser Verbindung wiederholt sich exakt die seltsame Beziehung des Wortes unheimlich zu seinem Gegenteil, heimlich.56 Wie Freud betonte, hat das ursprüngliche Wort eine Reihe verschiedener Bedeutungen, welche die ganze Spannbreite von heimelig, gemütlich oder intim bis zu heimlich, verborgen, versteckt umfassen. Somit ergibt sich, dass »[…] [sich] unter den mehrfachen Nuancen seiner Bedeutung auch eine zeigt, in der es mit seinem Gegensatz unheimlich zusammenfällt. Das Heimliche wird dann zum Unheimlichen.« Falls Nostalgie den Wunsch nach dem heimlichen Objekt ausdrückt, erweist sich dieses Objekt wahrscheinlich als höchst instabil. Ich habe bereits angedeutet, dass das Gefühl der Nostalgie für eine unbeschadet überstandene Vergangenheit steht, die dennoch als Ideal für die Zukunft dienen kann. Im Gegensatz dazu taucht das Unheimliche unaufgefordert auch in der Gegenwart auf. House repräsentiert dieses unheimliche Objekt in verschiedener Hinsicht. Erstens bestand es aus dem Abguss des Hausinneren, so dass nicht ein hübsches weißes Haus, sondern ein seltsam entfremdetes Objekt zu sehen war, das lediglich an ein Haus erinnerte. Die ganze Szenerie blieb auf dieselbe unbewegliche Masse reduziert. Die Vereinfachung der Formen grenzte ans Abstrakte. Whiteread gab sich Mühe, architektonische Details, einschließlich des gesamten Treppenhauses, zu entfernen, um House nicht zu klar, nicht zu intim erscheinen zu lassen. Das Dach wurde nicht zugemacht, das Resultat war ein flaches, »minimalistisches« Dach. Die Fenster waren »blind«. Zweitens nahm der weiße Beton die Farbe der Tapete, der Flecken an den Wänden und des Rußes der Feuerstellen an, wodurch etwas Morbides in der Geschichte des Hauses suggeriert wurde. Drittens trug die Skulptur Spuren feindseligen Vandalismus, beispielsweise rote Farbspritzer, einen aufgesprühten Totenkopf über gekreuzten Knochen – einem Symbol für die tragische Wiederholung rassistischer Übergriffe. Schließlich wurde House durch die örtlichen Behörden rücksichtslos dem Erdboden gleichgemacht – also eine Wiederholung des in der Gegend berüchtigten massenhaften Niederreißens von Gebäuden und der damit verknüpften Abwanderung von Menschen. Trotz dieser Besonderheiten und bedrohlichen Wiederholungen bleibt der ambivalente Charakter von House in Erinnerung. Offenbar ist kein Objekt nur eindeutig unheimlich oder nostalgisch. Möglicherweise ist diese Erkenntnis hilfreich, um eine Erklärung dafür zu finden, warum Hoppers House by the Railroad sowohl in Gail Levins nostalgischem Bericht über Amerikas einfachere, unschuldigere Vergangenheit als auch in Hitchcocks unheimlicher Erzählung in Psycho eine Rolle

56 Freud 1919h, G.W. XII, S. 235.

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spielt, wo eine Grauen erregende Vergangenheit inmitten der scheinbar banalen Ereignisse der Gegenwart urplötzlich explodiert. Ich möchte den Studierenden der Postgraduiertenkurse zum Magister und zur Dissertation, die an meinen Seminaren über das Unheimliche teilgenommen haben sowie Adrian Rifkin für seine Anregungen meinen Dank aussprechen.

Übersetzt von Gerlinde Göppel; ursprünglich »In the blind field: Hopper and the uncanny«, in: Art History (1998), Nr. 21, S. 409-429.

Abbildungsnachweis: Abb. 1: Archiv der Autorin, publiziert mit Erlaubnis der Künstlerin und der Anthony d’Offay Gallery. Abb. 2: BFI Stills, Posters and Designs. Abb. 3, 5, 6, 7, 8 in: Gail Levin, Edward Hopper: 1882-1967. Gemälde und Zeichnungen, München 1981. Abb. 4 in: Ausst.-Kat. Edward Hopper und die Fotografie, hg. von Goerg W. Költzsch, Heinz Liesbrock, Essen, Museum Folkwang 1992, Essen 1992. Abb. 9: Archiv der Autorin.

Die Autoren und Autorinnen

Dr. Julia Bernard, Kunsthistorikerin, Berlin. Prof. Dr. Hélène Cixous, Literaturwissenschaftlerin am Centre de Recherches en Etudes Féminines, Universität Paris. Dr. Mechthild Fend, Kunsthistorikerin, University of London. Dr. Gerlinde Gehrig, Kunsthistorikerin, Darmstadt. Prof. Dr. Stefan Germer (1958–1998), war Kunsthistoriker am Kunstgeschichtliches Institut, Universität Frankfurt am Main. Dr. Insa Härtel, Dip.-Psych., Wiss. Assistentin am Fachbereich Kulturwissenschaften und am Zentrum für feministische Studien, Universität Bremen. Prof. Dr. Dr. Rolf Haubl, Gruppenanalytiker, Direktor des Sigmund-Freud-Instituts Frankfurt am Main. Prof. Dr. Klaus Herding, Europäische Kunstgeschichte, Kunstgeschichtliches Institut, Universität Frankfurt am Main. Prof. Dr. Dagmar von Hoff, Literaturwissenschaftlerin, Fachbereich 05: Philosophie und Philologie, Deutsches Institut, Universität Mainz. Prof. Dr. Margaret Iversen, Kunsthistorikerin, Department of Art History and Theory, University of Essex, Colchester, GB. Prof. Dr. Marianne Leuzinger-Bohleber, Geschäftsführende Direktorin des Sigmund-Freud-Instituts, Frankfurt am Main, und Professorin für psychoanalytische Psychologie an der Universität Kassel. Prof. Dr. Burkhardt Lindner, Medien- und Literaturwissenschaftler, Institut für Theater-Filmund Medienwissenschaft, Universität Frankfurt am Main. Dr. Thomas Röske, Kunsthistoriker, Leiter der Sammlung Prinzhorn, Heidelberg.

Wenn Sie weiterlesen möchten ... Heidi Gidion Phantastische Nächte Traumerfahrungen in Poesie und Prosa Nachdem Jahrhunderte lang Träume einzig als göttliche Prophezeiungen beachtet wurden, begann etwa mit dem 18. Jahrhundert das Interesse am Traum als »Königsweg zum Unbewussten« (Freud). In der Moderne tritt ein drittes starkes Motiv für das Interesse am Traum hervor: die Nachahmung des Traumverfahrens mit seinen Sprüngen außerhalb der Grenzen von Raum und Zeit, außerhalb der herrschenden Logik, mit der Mischung aus Erinnerungen, Erlebnissen, phantastischen Einfällen. Dichter und Schriftsteller sind fasziniert gerade von der Vieldeutigkeit, der Aura des Rätselhaften, die um die Träume ist und die sie in ihren Traumdichtungen nachzuahmen suchen. Sie geben mit der Bestimmung eines Textes als Traumtext gleichsam eine Leseanweisung: Es gilt die Freiheit von Erzählkonventionen zu genießen, das ungegängelte Wirken der Phantasie, das auch die Grenzen von Tabus überschreiten kann. Heidi Gidion trifft eine kluge Auswahl aus der Fülle möglicher Beispiele vom Alten Testament und Homer über E.T.A. Hoffmann, Proust, Th. Mann, Kafka, Hilde Domin, Ingeborg Bachmann, Sylvia Plath bis Franz Fühmann. Der Nachvollzug der reflektierten Traumtexte kann auch zu achtsamerem Umgang mit dem eigenen Traumtheater im Kopf führen.

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