Zivilgesellschaft in Lateinamerika: Interessenvertretung und Regierbarkeit 9783968690094

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Zivilgesellschaft in Lateinamerika: Interessenvertretung und Regierbarkeit
 9783968690094

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Peter Hengstenberg, Karl Kohut, Günther Maihold (Hrsg.) Zivilgesellschaft in Lateinamerika

Ergebnisse der wissenschaftlichen Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft Deutsche Lateinamerika-Forschung (ADLAF) vom 29. - 31. Oktober 1997 in Bogensee/ Brandenburg in Zusammenarbeit mit der Friedrich-Ebert-Stiftung

Peter Hengstenberg, Karl Kohut, Günther Maihold (Hrsg.)

Zivilgesellschaft in Lateinamerika Interessenvertretung und Regierbarkeit

Vervuert- Frankfurt am Main 2000

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Zivilgesellschaft in Lateinamerika : Interessenvertretung und Regierbarkeit / Peter Hengstenberg ... (Hrsg.). Frankfurt am Main : Vervuert, 2000 Einheitssacht. : Sociedad civil en América Latina ISBN 3-89354-123-3

© Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 2000 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Michael Ackermann Gedruckt auf säure- und chlorfreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis

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INHALTSVERZEICHNIS Danksagungen Peter Hengstenberg/ Karl Kohut/ Günther Maihold Einleitung. Staat und Gesellschaft in Lateinamerika: Die Suche eines neuen Gleichgewichts

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ZWISCHEN HOFFNUNG UND A N G S T : D I E ZIVILGESELLSCHAFT IN LATEINAMERIKA

Luis Salazar Vom Gebrauch und Missbrauch des Begriffs Zivilgesellschaft

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Juan Carlos Portantiero Zivilgesellschaft in Lateinamerika: Zwischen Autonomie und Zentralisierung 33 Klaus Meschkat Zur Ideologie der „Zivilgesellschaft'

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Hilda Sabato Öffentlichkeit in Iberoamerika. Überlegungen zum Gebrauch einer Kategorie 53 DEMOKRATIE, ZIVILGESELLSCHAFT UND PARTIZIPATION

Manuel Antonio Garretón M. Zur aktuellen Situation und neuen Fragen der politischen Demokratisierung in Lateinamerika

67

Friedrich Welsch/ José Vicente Carrasquero Auflösungserscheinungen einer etablierten Demokratie? Politisch-kulturelle Analyse des Falles Venezuela

87

Julio Cotler Perus Gesellschaft nach dem politischen Zusammenbruch

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Petra Bendel Zivilgesellschaftliche Organisation und Partizipation jenseits des Anti-Parteien-Effekts? Zur Aufrechterhaltung und Konsolidierung der neuen Demokratien in Zentralamerika

127

Gabriel Murillo Castaño Kolumbien: Die Beziehung zwischen der Partizipation der Staatsbürger und der Vorherrschaft der Parteien

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Inhaltsverzeichnis

Juliana Ströbele-Gregor Das Gesetz zur Volksbeteiligung und indianische Bewegung in Bolivien 1994-1997

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PARTEIEN UND ZIVILGESELLSCHAFT

Rodrigo Arocena Blockade oder Kooperation? Parteien und Zivilgesellschait

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Marcelo Cavarozzi Parteienkonstellationen in Lateinamerika. Parteien und Politik im staatszentrierten Modell

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Carlota Jackisch Repräsentativitätskrise des politischen Systems Argentiniens

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DIE ZRVILGESELLSCHAFT UND DAS GEW ALTPROBLEM

Heidrun Zinecker Unvollendete Transitionen und violente Zivilgesellschaften

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Sabine Kurtenbach Zivilgesellschaft und zivile Konfliktregelung. Der Beitrag der Zivilgesellschaft zur Beendigung bewaffneter Konflikte

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BÜRGERBEWEGUNGEN UND ZIVILGESELLSCHAFT

Achim Wachendorfer Zwischen Erneuerung und Marginalität: Gewerkschaftliche Perspektiven in Lateinamerika

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Rainer Dombois Arbeitsbeziehungen und Gewerkschaften im Transformationsprozess Lateinamerikas

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Peter Birle Konvergenz zwischen Süden und Osten? Gewerkschaften und Arbeitsbeziehungen in Südamerika und Ostmitteleuropa

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DIE ZIVILGESELLSCHAFT VON INNEN: SOZIALE AKTEURE, INTERESSENGRUPPEN UND IHRE SPRECHER

Theodor Rathgeber Indigena-Bewegungen als Baustein zivilgesellschaftlicher Regelungsverfahren. Das Beispiel Kolumbien

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Marianne Braig Frauenangelegenheiten und Politik oder Politik als Angelegenheit der Frauen

3 21

Inhaltsverzeichnis

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Jutta liiert Akteure der Zivilgesellschaft im Transitionsprozess: Die Nichtregierungsorganisationen in Uruguay Natacha Molina G. Von der Klage zur Gleichheit: Neue Verbindungen zwischen Staatsbürgertum und Geschlecht Bert Hoffmann NGOs in Kuba: Die Zivilgesellschaft im Sozialismus und ihre Grenzen Juan Bolívar Díaz Journalisten als Sprachrohre der Bürgerinteressen. Die Rolle der Massenmedien angesichts der Krise der politischen Repräsentation Heidulf Schmidt Die lateinamerikanischen Intellektuellen: Krisis, Modernisierung und Wende

343

361 383

403

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ZIVILGESELLSCHAFT, POLITISCHE REFORMEN UND DEMOKRATISCHE REGIERBARKEIT

Christian von Haldenwang Dezentralisierung und lokale Demokratie

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Günther Maihold Nationale Konzertierungsprozesse und demokratische Regierbarkeit in Lateinamerika

441

Harald Fuhr Staatsreform und Verwaltungsmodernisierung - zur neuen Rolle des Staats in Lateinamerika'

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Dirk Messner Nicht-Regierungsorganisationen: Neue Hoffnungsträger oder überschätzte Akteure? Suchprozesse in Lateinamerika und Erfahrungen aus den Industrieländern

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M I T BLICK NACH VORN

Luiz lnäcio ,Lula' da Silva Ohne Zivilgesellschaft gibt es keinen politischen Fortschritt

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Rodrigo Arocena Welche Zukunft hat die Zivilgesellschaft in Lateinamerika?

529

Autoren

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Danksagungen

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DANKSAGUNGEN Der vorliegende Band enthält eine Auswahl der Arbeiten, die auf der Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft Deutsche Lateinamerika-Forschimg vom 29. bis 31. Oktober 1997 in Bogensee/ Brandenburg diskutiert wurden. Die Vorbereitung des Kongresses oblag einer Kommission, die sich unter Vorsitz von Peter Hengstenberg (Friedrich-Ebert-Stiftung) aus folgenden Mitgliedern zusammensetzte: Karl Kohut, zum Zeitpunkt der Jahrestagung Vorsitzender der ADLAF (Katholische Universität Eichstätt), Barbara Potthast-Jutkeit (Universität Bielefeld), Klaus Bodemer (Institut für Iberoamerika-Kunde Hamburg), Michael Riekenberg (Universität Leipzig), Günther Maihold (zum Zeitpunkt der Jahrestagung Friedrich-Ebert-Stiftung) und Peter Hünermann (Universität Tübingen). Die Berichte der Arbeitsgruppen wurden von Sonja Steckbauer (Katholische Universität Eichstätt), Barbara Potthast-Jutkeit, Andreas Brockmann (Münster), Michael Riekenberg und Rainer Dombois (Universität Bremen) redigiert. Ihre Kommentare lieferten wichtige Elemente für die Erarbeitung der Einfuhrung zu diesem Buch. Friedrich Welsch (Caracas) übersetzte die in Spanisch gehaltenen Vorträge ins Deutsche. Unser besonderer Dank gilt Andrea Schäfer vom Referat Lateinamerika und Karibik der Friedrich-Ebert-Stiftung für ihre sachkundige Unterstützung bei der Vorbereitung und Durchführung des Kongresses. Es ist unsere Hoffnung, dass aus dem gemeinsamen Bemühen deutscher und lateinamerikanischer Wissenschaftler ein besseres Verständnis für eine sich ständig verändernde und erneuernde Wirklichkeit entspringt. Die Herausgeber Bonn/Eichstätt, im September 1999

Einleitung

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EINLEITUNG

Staat und Gesellschaft in Lateinamerika: Die Suche eines neuen Gleichgewichts Peter Hengstenberg/ Karl Kohut/ Günther Maihold „Die Zivilgesellschaft macht mir Angst", so überschreibt die mexikanische Wissenschaftlerin Soledad Loaeza (1994) einen ihrer Artikel, in dem sie das zu behandelnde Thema personalisiert und vergleicht „mit einer Frau, die die Dinge sehr gut versteht, die weiß, was sie will und was sie zu tun hat, die gut, sehr gut und selbstverständlich die einzig mögliche Gegnerin staatlicher Perversität ist. Sie ist so tugendhaft und besitzt so viel Selbstsicherheit, dass einem angst wird." Obwohl diese Einschätzung der „Zivilgesellschaft" aus der mexikanischen Erfahrung der Autorin entspringt, steht sie nicht allein mit ihrer kritischen Ansicht über den sorglosen Umgang mit diesem neuen gesellschaftlichen Konglomerat, das man „Zivilgesellschaft" nennt. Néstor García Canclini (1995: 29) z.B. beschreibt die Zivilgesellschaft als „... eine neue Quelle von Gewissheiten in dieser Zeit der Zweifel, einer jener allumfassenden Begriffe, die die heterogene und desintegrierte Gesamtheit der in den Ländern vorhandenen Stimmen zu negieren trachtet." Was für die Mode gilt, trifft auch auf die Sozialwissenschaften und insbesondere die „Zivilgesellschaft" zu, denn „wer in der Zivilgesellschaft eine Zauberformel sieht, wird bald merken, dass es sich um eine Leerformel handelt" (Lechner 1995: 7). Das Wort Zivilgesellschaft erhielt seinen höchsten politischen Stellenwert mit der Öffnung der totalitären Systeme Osteuropas und wurde sehr schnell zu einem weithin anerkannten Begriff, vielleicht „der letzten Ideologie des 20. Jahrhunderts" (Beyme 1995: 233). Die Identifikationsformel, zu der die Zivilgesellschaft von der Neuen Linken als Ersatz für die gegen Ende des letzten Jahrzehnts verlorengegangenen Bezugspunkte erhoben wurde, unterstreicht die Möglichkeit, sie einfach mit ideologischen Inhalten zu füllen. Was rechtfertigt angesichts dieses Tatbestandes die Wahl dieses verschwommenen Begriffs als Thema der vorliegenden Veröffentlichung, welche die auf der Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft Deutsche Lateinamerika-Forschung (ADLAF) vom 29. bis 31. Oktober 1997 in Bogensee/Brandenburg diskutierten Arbeiten zusammenfasst? Eben das Interesse, alle diese hinter dem Begriff „Zivilgesellschaft" verborgenen Phänomene, Akteure und Beziehungen zu enthüllen und zu erläutern.

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Peter Hengstenberg/ Karl Kohut/ Günther Maihold

Die hier veröffentlichten Beiträge sind Zeugnis des Bemühens um ein besseres Verständnis jener lateinamerikanischen Wirklichkeit, die zwischen Staat, Markt und Gesellschaft hegt, ein Geflecht, das für die neuen lateinamerikanischen Demokratien und das politische Handeln immer größere Bedeutung gewinnt. Die Welt der NRO, die Bestrebungen zur Erweiterung der Öffentlichkeit in Lateinamerika, die neuen Formen der Wechselwirkung zwischen Unternehmern und Gewerkschaften, der Einfluss von Intellektuellen und Schriftstellern auf die Gesellschaften sowie das Wiederaufleben der ethnischen Identität als politischer Faktor, alle diese Phänomene beschreiben einen Bereich, der die Bedingungen des politischen Handelns in Lateinamerika verändert hat. Demokratie, Parteien und gesellschaftliche Akteure müssen neue Antworten auf diese Wirklichkeit finden, sei es durch bessere Verflechtung, Öffnung neuer Ausdruckskanäle oder Entwicklung neuer Institutionen in diesen sich wandelnden Gesellschaften.

Die „Zivilgesellschaft": Wie? Wo? Wann? Wer? Der Bezug auf die Zivilgesellschaft findet seine Berechtigung in dem gesellschaftlichen und politischen Bedingungsgeflecht, das heute für das politische Geschehen in Lateinamerika kennzeichnend ist. Obwohl noch immer schwache Demokratien zu verzeichnen sind, die zum Teil noch mitten in den Strukturanpassungsprozessen der ersten und zweiten Generation stehen, erscheint es uns wichtig hervorzuheben, dass die Gesellschaften Lateinamerikas den Schritt vom demokratischen Übergang zur Konsolidierung der Demokratie getan haben. So wie die Phase des Übergangs zur Demokratie als die Stunde der politischen Parteien angesehen wird, so ist der Prozess der Konsolidierung die Stunde der Zivilgesellschaft (Schmitter 1991: 165). Mit anderen Worten, was uns hier interessiert, ist der Schritt von der politischen zur gesellschaftlichen Demokratisierung, unter Betonung der sozialen Kohäsion der Gesellschaften und der Erweiterung der Bürgerrechte (Garreton 1996). Unter diesem Gesichtspunkt knüpfen wir an die ADLAF-Jahrestagung von 1992 an, die sich unter dem Thema „Der Staat in Lateinamerika" die Aufgabe gestellt hatte, neue Modelle politischen Handelns aufzuzeigen. Dieses Thema gilt noch heute. Es ist kein neues Entwicklungsmodell entstanden, das die Erfordernisse des Wirtschaftswachstums organischer als vorher mit einer neuen Rolle des Staates und der Bürgerbeteiligung verbindet. Gewiss kann man nicht über Zivilgesellschaft diskutieren, ohne ein grundlegendes Merkmal zu berücksichtigen: „Zivilgesellschaft" kann nur in der Beziehung zum Staat begriffen werden: ihre Kraft, ihre Erscheinungsform, ihre Handlungsspielräume, alle stehen im Verhältnis zum Staatshandeln. Wer über Zivilgesell-

Einleitung

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schalt spricht, muss auch über Staat sprechen (Schedler 1996: 238). Daraus leitet sich das Idealziel vieler ab, in der Gesellschaft gleichzeitig eine starke Zivilgesellschaft und einen starken Staat zu erreichen (und das bedeutet nicht unbedingt einen großen Staat). Unter diesem Gesichtspunkt lassen sich viele Stereotypen vermeiden, zum Beispiel dass die Zivilgesellschaft ihrem Wesen nach progressiv, tolerant, kosmopolitisch und auf das Gemeinwohl ausgerichtet ist. Wie wir alle wissen, erweist sich die Zivilgesellschaft nicht immer als zivilisiert, sondern sie ist auch den Leidenschaften ausgesetzt, die die Macht freisetzt, andererseits jedoch lässt sich in vielen Fällen ihre Funktion als Antrieb für demokratische Entwicklung feststellen. Solange man eine vernünftige Sicht der Vielfalt und Zersplitterung der Zivilgesellschaft bewahrt, erliegt man nicht der Gefahr einer einseitigen Bewertung dessen, was das Schlagwort „Zivilgesellschaft" beinhalten kann. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt weisen die Gestaltung neuer Politikkonzepte, einer neuen Staatsverwaltung und das Wiederaufgreifen der für „gutes Regieren" unumgänglichen politischen Reformen Wege zur größeren Bürgerverantwortlichkeit der Politik. Das Wiederaufleben der Zivilgesellschaft fugt sich mithin in das Dreieck aus der neu zu entwickelnden Rolle des Staates in Lateinamerika, des angemessenen Funktionierens der Parteien und der Verbreitung einer neuen politischen Kultur der Bürger ein. Im Rahmen dieses erneuten Dialogversuchs zwischen Forschern und Intellektuellen aus Lateinamerika und Deutschland - eine grundsätzliche Aufgabe der ADLAF-Jahrestagungen - wurde bei dieser Gelegenheit die „Zivilgesellschaft" aus verschiedenen Blickwinkeln behandelt, immer unter Beachtung der Mehrdeutigkeit des Begriffs und Berücksichtigung seiner Verwendung in unterschiedlichen politischen und ideologischen Zusammenhängen.

Begriffliche Erläuterungen zur Zivilgesellschaft in Lateinamerika - Der Rückgriff auf die Zivilgesellschaft in Lateinamerika wird mit der Auflösung des staatszentrierten Modells verknüpft, das die Gesellschaften in früheren Jahrzehnten geprägt hatte. Von hier ausgehend muss die Diskussion über die Rolle der Zivilgesellschaft in den demokratischen Übergangs- und Konsolidierungsprozessen gefuhrt werden. In Lateinamerika ist „Zivilgesellschaft" daher unter den historischen Bedingungen des Kampfes gegen die Militärregime und des Aufbaus der Demokratie zu konzeptualisieren. Mit der Vertiefung der Demokratie in Lateinamerika hat der Begriff „Zivilgesellschaft" andere Bedeutungen angenommen und dabei einerseits die den Diskussionen über soziale Bewegungen eigene, emanzipatorische Bedeutung ersetzt, wäh-

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Peter Hengstenberg/ Karl Kohut/ Günther Maihold

rend er andererseits von Einzelinteressen und Interessengruppen beansprucht wird, die sich das im Hinblick auf seinen demokratisch-partizipativen Inhalt homogenisierende Merkmal der „Zivilgesellschaft" zunutze machen. - Das „Wiederaufleben der Zivilgesellschaft" gewinnt in Lateinamerika nach den Jahren des Autoritarismus in der Phase der demokratischen Transition und Konsolidierung eine neue Dimension hinsichtlich der Art- und Qualitätsbestimmung von Demokratie. Für die einen ist sie gleichzusetzen mit der Kapitulation der lateinamerikanischen Gesellschaften vor den neu verankerten Formen eingeschränkter Demokratien, getragen von der Annahme beschränkter Partizipationsmöglichkeiten als Folge des auf dem Subkontinent gültigen neoliberalen Modells. Für andere bedeutet „Zivilgesellschaft" die Wiederaufnahme von Initiativen in Richtung auf eine partizipative Demokratie, also die Erweiterung der Beteiligungsspielräume der gesellschaftlichen Akteure bei sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Entscheidungen. So verstanden ist „Zivilgesellschaft" die politische Formel des Anspruchs auf eine neue Demokratie, die über das demokratische Institutionengefiige in Lateinamerika hinausgeht. - Die Gegenüberstellung von Staat und „Zivilgesellschaft", die das Entstehen des Begriffs in den osteuropäischen Gesellschaften begleitete, hat in Lateinamerika eine neue Facette erhalten: einerseits wurde die Stoßrichtung hin auf die Erweiterung der Bereiche freier gesellschaftlicher Entwicklung gegenüber Eingriffen des autoritären Staates übernommen; andererseits kam die Dimension hinzu, die NRO als Bollwerke des freien Bürgers gegen staatliches Handeln in bereits demokratisierten Gesellschaften anzusehen. Teilweise deckungsgleich mit Strömungen in der Diskussion über Staatsreform wird versucht, eine staatsfreie Sphäre zu fördern, die angestammter Raum der Zivilgesellschaft, also der NRO sei. Hier treten auch Verbindungen mit Positionen auf, in denen die Unzufriedenheit der Bürger mit den politischen Parteien in den meisten lateinamerikanischen Ländern und der Rückgriff auf die Zivilgesellschaft unterstrichen werden. In diesem Bereich finden sich die Gründe dafür, dass manche in Lateinamerika die Einbeziehung der Parteien in die sogenannte „Zivilgesellschaft" - wenigstens teilweise - ablehnen. Es stehen sich dann das staatliche Institutionengefiige samt Parteien einerseits - gleichbedeutend mit dem Verdorbenen und Veralteten - und die Zivilgesellschaft andererseits - gleichbedeutend mit dem Neuen und Sauberen - nahezu unversöhnlich gegenüber.

Einleitung

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Entwicklung, Demokratie und Staatsreform - Die Diskussion über solche Positionen lässt keine größeren Fortschritte zur Konzeptualisierung eines neuen Modells politischen Handelns in Lateinamerika erkennen, das nur aus dem fruchtbaren Zusammenwirken der genannten Komponenten wachsen kann. Die Zivilgesellschaft wird als kulturelles Phänomen aufgefasst, als Raum für die Ausbildung eines Gemeinschaftsbewusstseins, in dem Intellektuelle und Schriftsteller als Ideenlieferanten mit sehr verschwommener Beziehung zur Macht fungieren. Andererseits braucht sie aber immer Öffentlichkeit und einen „Resonanzboden" wie die Medien, um die ihre Rolle bestimmende gesellschaftliche Wirkung zu entfalten. - Die Verbreitung der Demokratie in Lateinamerika hat zu einer umfassenden Vielfalt und Vervielfältigung von Akteuren geführt, mit wachsenden Herausforderungen für die Legitimation der Macht und Interessenvertretung. Nahezu parallel zum Vordringen neuer Akteure in die Räume der politischen Vermittlung entstand eine Parteienkrise, aufgrund ihrer geringen Fähigkeit zur Mobilisierung von Unterstützung und ihrer schwachen Leistung bei der Verarbeitung von Interessen der Bürger. Es geht daher um die Entwicklung neuer Bindungen zwischen diesen Elementen des politischen Lebens, die ihrerseits eine umfassendere Einbeziehimg von Interessen aus der Zivilgesellschaft und eine wirksamere Vermittlungstätigkeit der Parteien auf den verschiedenen Entscheidimgsebenen sichern. Von der Gemeinde bis zur Zentralregierung sind neue Formen des Zusammenwirkens von gesellschaftlichen Akteuren, Parteien, öffentlichen Einrichtungen, Unternehmen und Trägern der öffentlichen Meinung zu entwickeln, um gemeinsam die zentrale Rolle des Politischen im Geschehen der lateinamerikanischen Gesellschaften wiederzugewinnen. - Gerade in diesem Punkt ist die Frage nach der Reichweite einer demokratischen Entwicklung in der „Zivilgesellschaft" und ihrer Fähigkeit zur Verallgemeinerung von Interessen in Prozessen der Entscheidungsfindung zu stellen. Das Thema der Repräsentativität der verschiedenen Akteure der „Zivilgesellschaft" und ihre Konsensfahigkeit über die jeweiligen Partikularinteressen hinaus ist umfassend diskutiert worden. Die Entwicklung von Mechanismen, die einen Brückenschlag vom „Einzelthema" zum „Gemeinwohl" gestatten, ist eine unmittelbare Notwendigkeit für die lateinamerikanischen Gesellschaften. Ohne diese Verknüpfung können Gefahren für die Stabilität und Vertiefung der demokratischen Qualität der lateinamerikanischen Gesellschaften, ihre stärkere politische Integration und eine Steigerung der Effizienz von Institutionen in der gesellschaftlichen und politischen Vermittlung der Bürger-

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Peter Hengstenberg/ Karl Kohut/ Günther Maihold interessen entstehen. Die Erfahrungen mit Konzertierung, Dezentralisierung und neuen Formen der Bürgerbeteiligung in Lateinamerika sind richtungsweisend für den einzuschlagenden Kurs.

- Die Strukturanpassungsprogramme der zweiten Generation sind auf die Umgestaltung der öffentlichen Institutionen gerichtet. Nach der Reduzierung des „Unternehmerstaats" geht es nunmehr um die Leistimgssteigerung der staatlichen Verwaltung und die Modernisierung des öffentlichen Sektors. Der reformierte Staat wird nicht nur über bessere Verwaltungsinstrumente verfügen, sondern zum Erbringen seiner Dienstleistungen auch auf wirksame und leistungsfähige Alternativen des Dienstleistungssektors und der Wirtschaft zurückgreifen müssen. Diese Öffnung der öffentlichen Verwaltung zur Gesellschaft hin muss auf der Mitverantwortung der Akteure und geeigneten Überwachungs- und Kontrollinstrumenten beruhen, um eine neue Qualität der Beziehungen zwischen den staatlichen Instanzen und der „Zivilgesellschaft" zu schaffen. Daher kann die Staatsreform - wenn sie ernstgenommen wird und über eine Privatisierungspolitik hinausgeht - sich nicht bloß auf die Modernisierung der öffentlichen Verwaltung beschränken (die jedoch sehr wichtig ist), sondern muss neue Bindungsformen zwischen Staat und zivilgesellschaftlichen Organisationen entwickeln. - Über die Diskussion des in Lateinamerika erreichten Niveaus demokratischer Konsolidierung hinaus ist die Besorgnis um die Lebensfähigkeit der neuen Demokratien angesichts der Anzeichen einer tiefgehenden Repräsentationsund Vermittlungskrise bei den Parteien und Interessengruppen des Subkontinents entstanden. Daraus nährt sich die Forderung nach einer demokratischen Regierbarkeit, die die lateinamerikanischen Gesellschaften angesichts der zukünftigen Herausforderungen legitim und wirksam zusammenzuhalten vermag. So verstanden ist „Regierbarkeit" ein Weg, bei dem es nicht nur um größere Leistungsfähigkeit der öffentlichen Verwaltung geht, sondern auch um die Erweiterung der Kanäle für die öffentliche Beteiligung an politischen Entscheidungen. Hier setzt die Diskussion über eine Qualitätssteigerung demokratischer Politik an, also neue Beziehungen zwischen Parteien und Zivilgesellschaft, nicht-parteigebundene Bürgerbeteiligung auf den verschiedenen Regierungsebenen und größere Rechenschaftspflicht der öffentlichen Verwaltung gegenüber den Bürgern (accountability).

Zivilgesellschaft als Handlungsraum: Akteure und Interaktion - Der beliebteste und üblichste Interaktionsort von Akteuren der Zivilgesellschaft sind die Arbeitsbeziehungen. Traditionell vom Staat reguliert und verwaltet, der die Beziehungen zwischen Unternehmern und Gewerkschaften be-

Einleitung

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schränkte und vermittelte, war deren kollektive Verhandlungsfahigkeit weithin eingeschränkt. Mit den Strukturanpassungsprogrammen hat sich das Beziehungsgeflecht von Unternehmern und Gewerkschaften gewandelt, weil die Regulierungsfunktion des Staates von Marktmechanismen übernommen wurde oder in Kollektiwerhandlungen der Tarifpartner ohne Beteiligung des Staates überging. Dieser Deregulierungshypothese zur Beschreibung der neuen Qualität der Entwicklung von Arbeitsmärkten steht die Hypothese der zivilen Selbstkontrolle gegenüber, die den zivilen Akteuren neue Spielräume für die Interessenvertretung öffnet. Auch wenn die Reichweite dieser sehr allgemeinen Hypothesen beschränkt ist, so können sie doch Kriterien für die Einzelbewertung der Veränderungen beisteuern, die sich in den lateinamerikanischen Gesellschaften empirisch ergeben haben. Für unser Thema ist der Hinweis wichtig, dass die Rückführung der staatlichen Regulierung die privilegierte Situation von Gewerkschaften und Unternehmern gegenüber den öffentlichen Institutionen verändert und damit größere Interaktions-, Bündnisund Koalitionsmöglichkeiten mit den übrigen Akteuren der Zivilgesellschaft eröffnet hat. - Die Zivilgesellschaft wird als Austragungsraum gesellschaftlicher Konflikte aufgefasst, in dem sich die Widersprüche einer Gesellschaft zeigen und auf die eine oder andere Weise Machtverhältnisse entstehen, auf die der Staat und die organisierten Interessen einwirken können oder nicht. Eine aus der Sicht der politischen Theorie offene Frage ist, ob man aus dem Attribut „zivil" der „Zivilgesellschaft" eine normative Position ableitet, die nur jene Akteure zulässt, die sich in ihren Aktionen auf nicht gewaltsame Instrumente stützen. - Die Zivilgesellschaft als Ort zum Aufbau von Identitätsprojektionen und zur Wiedergewinnung von Identität ist eine Dimension, die aus zwei Blickwinkeln heraus diskutiert wurde: der zentrale Kern des Themas „Zivilgesellschaft", also das Problem der Repräsentativität und gesellschaftlichen Vermittlung, wurde einerseits unter dem Eindruck der kontroversen Bewertung des mexikanischen Zapatismus als Indiobewegung oder gesellschaftliche Bewegung mit Indiobeteiligung behandelt und anderseits im Hinblick auf das Handeln der Indiobewegungen und ihren Kampf um Eigentumstitel sowie politische, gesellschaftliche und kulturelle Selbstbestimmung. Außerdem wurde auf der Tagung der Aufbau von Identität in einem von Männern dominierten kulturellen Umfeld diskutiert, also aus der gewifer-Perspektive heraus. Die Rolle der Frauenbewegungen in den demokratischen Transitionsprozessen spiegelt nur einen Teil ihres Kampfes um Anerkennung als politische Subjekte und die Überprüfung der vorgeblichen Geschlechterneutralität der For-

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Peter Hengstenberg/ Karl Kohut/ Günther Maihold

derung nach einer Ausweitung von Bürgerrechten wider. Die männergeprägte politische Kultur zu ändern, erfordert große Anstrengungen bei der Neubestimmung der Beziehungen zwischen den Geschlechtem; das eröffnet nicht nur der Frau neue Wege, sondern verändert auch die Männer in ihren verschiedenen Funktionen. Die Zivilgesellschaft - unbeschadet der Mehrdeutigkeit des Wortes - ist nicht nur zu einem Bezugspunkt der politischen Debatte geworden, sondern hat auch neue Spielräume fiir die Verwirklichung von Identitäten und Interessen eröffnet Angesichts des Übergangs zur Demokratie in Lateinamerika darf nicht überraschen, dass diese Spielräume konfliktiv, ideologisiert und politisiert sind; vielmehr sollte man das als Zeichen der Lebenskraft der Gesellschaften verstehen. Außerdem findet ein bedeutender Wandel statt: es gibt zahlreiche Anzeichen für bereits vorhandene Lösungen der Probleme der Regieibarkeit, Repräsentation und Vermittlung in verschiedenen Ländern. Das deutet darauf hin, dass die neuen lateinamerikanischen Demokratien auf der Suche nach neuen Achsen sind, mit denen die politische und gesellschaftliche Demokratisierung einerseits und die Verstetigung des Wirtschaftswachstums andererseits besser in Einklang zu bringen sind. Selbst internationale Organisationen wie die Weltbank und die Interamerikanische Entwicklungsbank haben ihre Überzeugung zum Ausdruck gebracht, dass man nicht auf einen wesentlichen Bestandteil dieser erstrebten Gleichung verzichten kann, nämlich die Erweiterung der Beteiligungsrechte der Bürger an den wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Prozessen, wenn man die in den vergangenen Jahrzehnten (wieder-)errichteten Demokratien in Zukunft aufrechterhalten will, sicher mit neuen Ausdrucksformen und Merkmalen, jedoch immer auf der Grundlage größerer Autonomie der zivilgesellschaftlichen Akteure und des Versuchs, ein immer höheres Niveau gesellschaftlicher Integration zu erreichen. Aus dieser Perspektive verliert vielleicht mancher seine Angst und es eröffnet sich ein Weg zur Schaffung neuer Beziehungen zwischen der Zivilgesellschaft, dem politischen und staatlichen Handeln.

Literatur Beyme, Klaus von (1995): Democratic Transition in Central Eastern Europe, in: Teló, Mario (Hg.): Démocratie et construction européenne. Brüssel. García Canclini, Néstor (1995): Consumidores y ciudadanos. Conflictos multiculturales de la globalización. Mexiko. Garretón, Manuel (1996): Democratización, desarrollo, modernidad, ¿nuevas dimensiones del análisis social?, in: Excerpta, Nr. 2, April.

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Einleitung

Lechner, Norbert (1995): La problemática invocación de la sociedad civil, in: Espacios, Nr. 4, April-Mai. Loaeza, Soledad (1994): La sociedad civil me da miedo, in: Cuadernos de Nexos, Nr. 69, März, V-VI. Schedler, Andreas (1996): Die zivile Gesellschaft und der wilde Staat. Versuch einer Zwischenbilanz, in: Kolland, Franz et al. (Hgg.): Staat und zivile Gesellschaft. Beiträge zur Entwicklungspolitik

in Afrika, Asien und

Lateinamerika.

Wien. Schmitter, Philippe C. (1991): Interest Systems and the Consolidation of Democracies, in: Diamond, Larry/ Marks, Garry (Hgg.): Reexamining Democracy: Essays on Honor of Seymour Martin Lipset. Newbury Park.

Vom Gebrauch und Missbrauch des Begriffs

Zivilgesellschaft

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Luis Salazar VOM GEBRAUCH ÜND MISSBRAUCH DES BEGRIFFS ZIVILGESELLSCHAFT 1. Die Kategorie Zivilgesellschaft hat sich in der letzten Zeit zum Thema der unterschiedlichsten theoretischen, journalistischen und politischen Diskurse entwickelt. Sowohl politische und gesellschaftliche Organisationen als auch die Medien und Beobachter haben einen Ausdruck, der früher nur in geschliffenen Akademikerdiskussionen gebraucht wurde, in ein unscharfes Identitätsmerkmal der verschiedensten gesellschaftlichen Bewegungen und Forderungen verwandelt (s. Bobbio 1987; Seligman 1993). Diese aus theoretischer Sicht zweifellos missbräuchliche und wenig systematische Anwendung scheint jedoch ein Ausdruck der Schwierigkeiten und des Unbehagens zu sein, die einen Gutteil der westlichen Welt im Gefolge der sogenannten dritten Demokratisierungswelle plagt. In der Tat scheint es, als solle die häufige Berufung auf die Zivilgesellschaft das Vakuum ausfüllen, das die überkommenen, durch das Ende des Kalten Krieges obsolet und hinfallig gewordenen, Interpretations- und Bewertungsvorlagen hinterlassen haben (s. Salazar 1993). Der heutige öffentliche Gebrauch des Begriffs Zivilgesellschaft scheint mithin eine Gemeinsamkeit der verschiedenen Demokratisierungserfahrungen auszudrücken, von den Erfahrungen der totalitären Systemen unterworfenen Gesellschaften bis hin zu denen, die unter Militär-, Personen- oder populistischen Diktaturen unterschiedlicher Art gelitten haben. Überall scheint die Wiedererstehung, Befreiung, Stärkung, Autonomie oder sogar das Entstehen der Zivilgesellschaft eine der Grundvoraussetzungen für die Ausgestaltung, Konsolidierung und sogar Vertiefung eines wirklich demokratischen politischen Systems gewesen zu sein (Cohen/Arato 1992). Überkommene politisierende Alternativen wie Kapitalismus oder Sozialismus, formale oder inhaltliche Demokratie, Reform oder Revolution hinter sich lassend, bereitete der Zugriff auf die Zivilgesellschaft als Voraussetzung und sogar Hauptakteurin des demokratischen Wandels den Weg für die praktisch universale Anerkennung der individuellen, bürgerlichen und politischen Rechte der Menschen als unverzichtbare Vorbedingungen einer Demokratie, die diesen Namen verdient. Die Hervorhebung der Zivilgesellschaft - dies lässt sich ohne Übertreibung feststellen - offenbart, dass die Art und Weise, auf die über viele Jahre hinweg Politik verstanden und gemacht wurde, sei es von rechts oder von links, sich radikal überlebt hat. Etwas überspitzt kann man sagen, dass sich diese Form der Politik

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Luis Solazar

vor allem auf der Annahme gründete, dass die politischen Institutionen - d.h. die Parteien und der Staat - die zentralen und zentralisierenden, praktisch ausschließlichen Instanzen des sozialen Wandels seien, denen sich die übrigen gesellschaftlichen Organisationen unterzuordnen hatten, um die gewünschte Veränderung (oder Bewahrung) der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung zu erreichen. Unter dieser machiavellistischen Annahme konnten die Gesellschaft und ihre Organisationen lediglich als mehr oder weniger rebellische Objekte bzw. Rohmaterial eines ausschließlich von oben, von organisierten politischen Avantgarden gelenkten Prozesses erscheinen, höchstens aber, wie bei Gramsci, als ein System von Schützengräben, in dem ein komplizierter Stellungskrieg zwischen den politischen Vertretern (den Fürsten) der grundlegenden Klassen stattfand. Aus dieser Sicht ist es leicht verständlich, dass die staatliche Macht sich als der große Hebel für einen Wandel verstand, der sich im gesellschaftlichen Gewebe vollziehen sollte; infolgedessen hielt man die Gesellschaft im Allgemeinen für den Ursprungsort der zu bekämpfenden Übel, während der Staat und die Parteien der Avantgarde als ausschließliche Instrumente zu deren Überwindung erschienen. Heute ist offensichtlich, dass es sich dabei um ein im Kern autoritäres und hegemonisches Politikverständnis handelte, selbst wenn es mit Vertretungsansprüchen der wahren Interessen der Massen oder der Nation als Ganzem garniert war. Ein Verständnis, in dem die „Bürger" und ihre Organisationen wenig mehr darstellen sollten, als Ressourcen und Transmissionsriemen für einen totalisierenden, allgemeinen politischen Willen zu sein, der die Aufgabe hatte, sie „zur Freiheit zu zwingen", d.h., sie einem allumfassenden und nicht hinterfragbaren Vorhaben zum Aufbau einer angeblich vollkommenen Gesellschaftsordnung zu unterwerfen. Nicht zufallig setzte sich diese Art und Weise, Politik zu verstehen und zu machen, vor allem in schwachen, rückständigen, zergliederten und zersplitterten Gesellschaften durch, Gesellschaften, die aus der Sicht ihrer Eliten erlöst, modernisiert, entwickelt und integriert werden mussten, koste es was es wolle und so schnell wie möglich, unter Nutzung des fiir diese Aufgaben einzig geeignet erscheinenden Instruments, nämlich der konzentrierten und zentralisierten Staatsmacht. Im Sinne dieses avantgardistischen Politikverständnisses musste die Gesellschaft von ihren Übeln befreit werden, indem man sie von oben her umwandelte und ihr revolutionäre oder modernisierende Pläne aufzwang, sie organisierte, die Wurzeln ihrer Rückständigkeit, Konflikte und Armut zerstörte. Oder man musste sie vor ihren Feinden retten, sie von den Agenten des Übels reinigen, welche Namen man diesen auch immer gab.

Vom Gebrauch und Missbrauch des Begriffs

Zivilgesellschaft

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Paradoxerweise sollte dieser avantgardistische Etatismus, der je nach den Umständen mehr oder weniger autoritäre oder gar totalitäre Züge annahm, den Weg für immer komplexere und differenziertere Gesellschaften bereiten, während er gleichzeitig einen häufig erstickenden und ineffizienten Bürokratismus hervorbrachte, der nicht nur zu immer schlimmeren Wirtschaftskrisen führte, sondern auch zu Ungerechtigkeiten gegenüber breiten Sektoren der Gesellschaft, in denen sich Unbehagen breit machte und die allmählich ihr Vertrauen in die staatlichen Institutionen und die politischen Parteien sowie ihre Loyalität diesen gegenüber verloren. Natürlich war der Ansehensverlust des Staates und der Parteien dort wesentlich geringer, wo die Gewaltenteilung, der Rechtsstaat und die pluralistische Demokratie die bürokratische und autoritäre Erstickung der Gesellschaft verhinderten oder abmilderten und eine gewisse Kontrolle der öffentlichen Einrichtungen durch die Bürger ermöglichten. Auch wenn der Wohlfahrtsstaat wegen seiner bürokratischen Exzesse zu kritisieren war, so ist er doch in keiner Weise mit den autoritären und totalitären Systemen vergleichbar, welche die Autonomie der gesellschaftlichen Organisationen - also der Zivilgesellschaft - abschaffen oder stark einschränken wollten, um sie zu befreien und/oder zu rationalisieren. So kann gesagt werden, dass die unerfüllten, paradoxerweise aber auch die relativ erfüllten Versprechen des Autoritarismus (z.B. Industrialisierung, Urbanisierung und Modernisierung der Gesellschaften) zur Forderung nach der Zivilgesellschaft und ihrer Autonomie als unverzichtbare Bedingung der modernen Demokratie geführt haben. Um es deutlicher zu sagen, zur Einforderung nicht nur der Freiheits- und Menschenrechte als Grundlage jeder Demokratie, die diesen Namen verdient, sondern auch der autonomen gesellschaftlichen Organisationen als legitimen Akteuren im öffentlichen Raum, gegenüber dem Anspruch von Regierungen und Parteien auf das Monopol für den Entwurf und die Umsetzimg von Politiken. Darin liegt die Kraft und Bedeutung der Forderung nach der Zivilgesellschaft: es geht um die Einsicht, dass die Demokratie sich nicht auf die Durchführung sauberer Wahlen mit echtem Wettbewerb und mit der effektiven Möglichkeit des Machtwechsels beschränken darf, sondern vielfältige staatsbürgerliche Organisations- und Beteiligungsformen erfordert, also die Bildung von Organisationen, die fähig sind, bei der Beratimg, Erarbeitung und Umsetzung der verschiedensten Politikmaßnahmen der Regierung mitzuwirken. So lebte der alte Gedanke Tocquevilles wieder auf, demzufolge die Demokratie, wenn sie nicht in paternalistischen Despotismus oder in die Tyrannei der Mehrheit ausarten soll, eine starke Selbstorganisations- und Partizipationsfähigkeit der Bürger erfordert, welche den Aufbau von gesellschaftlichen Netzwerken ermög-

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liehen, die als Vermittler zwischen dem Einzelnen und den politischen Institutionen auftreten. Es geht um die Bereicherung und Differenzierung eines gesellschaftlichen Korporativismus, der sich nicht mehr nur auf die Verhandlungen und Verpflichtungen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik erstreckt, sondern alle Politikbereiche erfasst (Bildungs-, Kultur-, Umwelt-, Regionalpolitik usw.). Aus dieser Sicht ist die Wiedergeburt der Zivilgesellschaft im Idealfall nur in dem Maße als bedeutender demokratischer Fortschritt anzusehen, in dem sie die Überwindung des oben beschriebenen, autoritären Politikverständnisses darstellt, mithin die Einsicht, dass die Demokratie die uneingeschränkte Achtung der Menschen-, Bürger- und politischen Rechte erfordert, ebenso wie die volle Übernahme des gesellschaftlichen und politischen Pluralismus und daher eine auf Mitwirkung, Toleranz, Rechenschaftslegung, auf öffentliche Verhandlungen und Vereinbarungen sowie auf Legalität gegründete Form des Politikverstehens und -machens voraussetzt.1 2. Wie es aber bei zur Mode werdenden Kategorien und Idealen gelegentlich ist, läuft der Gedanke der Zivilgesellschaft Gefahr, sich in einen politischen Mythos im Sinne Sorels zu verwandeln.2 Also in einen zweideutigen, verwaschenen Ausdruck, der gefühlsbetonte und gesellschaftliche Energien mobilisierende Bilder hervorruft, allerdings auf der Grundlage einer stark dichotomischen Trennung, einer moralisierenden Schwarzweißmalerei. Dergestalt mystifiziert, mausert sich die Zivilgesellschaft tatsächlich zu einem tugendhaften Wesen, als Identitätsmerkmal eines undifferenzierten und allgemeinen „Wir", das nur als Gegensatz zu den „Anderen" existiert, den Feinden, all jenen, die an sämtlichen vorhandenen Übeln schuld sind. In gewisser Hinsicht ist diese Mystifizierung verständlich, als Folge der von autoritären Regimen und despotischen Parteien ausgegangenen Polarisierungen, die als verschworene Gegner jeglicher Autonomie und Freiheit der gesellschaftlichen Organe und sogar der Bürger selbst auftraten. Angesichts des Fehlens von Oppositionsparteien, die effektiv in der Lage gewesen wären, um die politische Macht zu konkurrieren, angesichts der Abwesenheit elementarster Koalitionsfreiheiten und freier politischer Mitwirkung dürfte kaum überraschen, dass die „Zivilgesellschaft" als undifferenzierter, dem politischen System radikal entgegenstehender Block emporstieg, als einziger und vereinter Agent demokratischer Veränderungen. 1

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Es hat sich eher das mit den Gedanken Tocquevilles zur amerikanischen Demokratie verwandte Modell der Zivilgesellschaft durchgesetzt als das Hegeische Modell und seine marxistischen Ableitungen; s. Tocqueville 1978 und Vallespin 1996. „Die Mythen sind als Mittel zu beurteilen, die auf die Gegenwart einwirken: jede Diskussion über die Art ihrer Verwendung ist sinnlos. Das Einzige was zählt, ist der Mythos als Ganzes (...) Mythos [ist] eine Organisation von Bildern, die instinktiv Gefühle hervorzurufen vermögen...". Sorel 1976: 185-186.

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So verständlich diese Polarisierung in autoritären und totalitären Zusammenhängen auch sein mag, so ruft sie aber auch einige Missverständnisse und Manipulationen hervor, die sich schnell als gewaltige Hindernisse für den Aufbau einer konsolidierten demokratischen Ordnung erweisen können. Erstens lässt der Ansehensverlust von Staat und politischen Parteien häufig vergessen, dass die Demokratie starke öffentliche Institutionen braucht, die den Rechtsfrieden und die demokratische Regierbarkeit einer pluralistischen und konfliktiven Gesellschaft zu sichern vermögen, ebenso wie Parteien und Parteiensysteme, die diesen gesellschaftlichen Pluralismus in einen repräsentativen und verantwortlichen politischen Pluralismus umsetzen können (s. Salazar 1997). Das bloße Spektakel der demokratisierenden Bewegung führt ebenfalls zu der Befürchtung, die demokratische Normalisierung könne die Protagonistenrolle der Organisationen und Persönlichkeiten aus der Zivilgesellschaft auf eine kaum erneuerte politische Klasse überleiten oder sie mit der traditionellen autoritären politischen Routine anstecken. 3 Das Misstrauen gegenüber den Parteiformationen und Regierungsinstanzen dehnt sich auf die Politik selbst aus, als einer unmoralischen Tätigkeit, deren Motiv allein das Streben nach Macht ist. Der Antiautoritarismus mündet in den Widerstand gegen jede Art von Autorität (auch die legitim verfasste) und in die Absegnung eines unverantwortlichen, jeder öffentlichen Sicht der gesellschaftlichen Interessen entgegengesetzten Partikularismus. Die unvermeidliche Selbstbeschränkung der Fähigkeiten eines Staates und demokratischer Parteien verursacht ihrerseits Enttäuschungen über die Wahlen und die Politik, was angesichts der bestehenden wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten antiliberale oder gar antipolitische fundamentalistische Identitäten verbreiten hilft. Das alles fördert den Aufstieg „antipolitischer" Führungsgestalten. Persönlichkeiten, die den Vertrauensverlust der formalen politischen Institutionen ausnutzen, um personalistische Regime zu errichten, die sich nunmehr auf den Vertrauensverlust der Parteien und der Politiker berufen. Die zivilgesellschaftliche Bewegung verkommt zu einer paradoxen und manipulierenden Form des Politikmachens, indem sie versichert, keine Politik zu machen und damit der Willkür und Straflosigkeit Tür und Tor öffnet. Die „Bürgerkandidaturen" und „charismatischen Führer" haben Konjunktur, ebenso der Anspruch, dass die Unabhängigkeit von formalen Parteien die beste Garantie für Reinheit und bürgerliche Tugenden sei. So wird eine mehr als vorteilhafte Ausgangssituation dafür geschaffen, dass Machtfaktoren verschiedenster Art (religiöse, wirtschaftliche, mediengestützte, ethische usw.) versuchen, die Schwäche der formalen Politik zu nutzen, um ihre Interessen und Werte durchzusetzen. 3

Siehe dazu den interessanten Artikel von Arato 1996, in dem er den „Niedergang" des Begriffs der Zivilgesellschaft nach dem Zusammenbrach der autoritären Regime zusammenfasst.

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Das führt uns zu einem zweiten Missverständnis bzw. einer Manipulation im Hinblick auf die Kategorie der Zivilgesellschaft. Sicher gibt es gute Gründe dafür, sie analytisch von der Wirtschaftsgesellschaft (dem Markt) und der politischen Gesellschaft (dem legitimen Gewaltmonopol) zu trennen. Es ist aber mehr als fraglich, sie in einen auf Konsens orientierten Kommunikationsraum zu verwandeln, in dem die materiellen Interessen oder die Androhung von Zwang überhaupt nicht auftreten (Cohen/Arato 1992). Tatsächlich ist die Zivilgesellschaft eher der Ort der Formierung, des Wandels und des Konflikts einer Vielzahl von sowohl dem Markt als auch der Politik verbundenen Machtfaktoren. Religiöse, kulturelle, mediengestützte, wirtschaftliche Machtfaktoren, die ungeachtet der guten Absichten und des guten Gewissens ihrer Vertreter häufig ebenso autoritär und überheblich auftreten wie die offen politischen oder finanziellen. Dies umso mehr in unterentwickelten, zersplitterten und durch tiefgreifende materielle und kulturelle Ungleichheiten gespaltenen Gesellschaften.4 In dieser Hinsicht ist es unabweisbar, die Rolle der Kirche und der kirchlichen Organisationen ausgeglichen und objektiv zu untersuchen. Es ist unbestreitbar, dass diese Institutionen in Diktaturen unterschiedlicher Vorzeichen eine wichtige Rolle als Vorkämpfer für die Menschenrechte der Bevölkerung gespielt haben, die auf keine anderen Verteidigungs- und Widerstandsressourcen zurückgreifen konnte. Aber es ist auch belegbar, dass es sich keineswegs um selbstlose oder politisch harmlose Institutionen handelt, sondern um Machtfaktoren, deren Strategien sich auch auf die Verstärkung ihres ideologischen und politischen Einflusses richten, mit häufig negativen Folgen wegen der von ihnen geforderten Intoleranz und Unverantwortlichkeit. Der bekannte Widerstand der katholischen Kirche gegen die Geburtenkontrolle und den Kampf gegen die AIDS-Erkrankung oder ihre Deckung und Stützung intoleranter und gelegentlich auch fundamentalistischer Identitäten sind sicher hinreichende Elemente zur Erkenntnis der zwielichtigen Rolle der religiösen Machtfaktoren und der Notwendigkeit staatlicher Institutionen und Gesetze, die diese angemessen zu regeln vermögen. Ebenso sollte die Verbreitung von Nichtregierungsorganisationen verschiedenster Art - von den Menschenrechts- bis hin zu den Umweltorganisationen - nur als demokratie- und partizipationsfördernder Beitrag der Zivilgesellschaft angesehen werden. In vielen Fällen handelt es sich zweifellos um heroische Organisationen, die unter größten Schwierigkeiten und Widrigkeiten die öffentliche 4

„Die Zivilgesellschaft (verstanden als Gesamtheit gesellschaftlicher Organisationen) kann ebenso autoritär oder noch autoritärer sein als der Staat" versichert Carlos Pereyra. Ebenso: „Wo auf simple Art Lobpreisungen auf die Zivilgesellschaft gegen die politische Macht formuliert werden, sollte man sich vor Augen halten, in welchem Maße die Zivilgesellschaft von Interessen beherrscht sein kann, die dem Allgemeininteresse des Landes zuwiderlaufen." Pereyra 1990: 246247.

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Meinung zu entscheidenden Themen der heutigen gesellschaftlichen Problematik sensibilisieren und Staaten, Regierungen und Parteien zur Übernahme entsprechender Verpflichtungen zwingen. Aber wenn ausreichend entwickelte öffentliche Forderungskataloge fehlen oder die formalen Institutionen des Staates schwach sind, laufen die NRO allzu häufig Gefahr, sich in gewinnträchtige, auf laxe und undurchsichtige ausländische Netzwerke gestützte Unternehmen zu verwandeln oder auch in Organisationen, die sich gegen die Regierungen richten und die sich schlicht damit befassen, bestimmte gesellschaftliche Probleme zugunsten von Einzelinteressen auszuschlachten und sogar zu verschlimmern. Die modernen Medien haben bei der Demokratisierung und selbst bei der Entwicklung der Ideale der Zivilgesellschaft ebenfalls eine grundlegende Rolle gespielt. Durch Technologien gestärkt, die die überkommenen Kontrollmechanismen für Informationen, Presse, Radio und Fernsehen (und mittlerweile das Cyberspace gesprengt haben, konnten sie ihren Einfluss und ihre Reichweite enorm steigern und sich zu maßgeblichen Akteuren der entstehenden Zivilgesellschaft entwickeln. Mit ihrer Fähigkeit, die öffentliche Agenda zu steuern oder gar festzulegen und gesellschaftliches Unbehagen oder Animositäten zu modulieren oder anzuführen, treten die Medien und die mit ihnen verbundenen Wirtschaftsunternehmen als entscheidende Faktoren für die öffentliche Meinungsbildung und -Veränderung auf den Plan. Deshalb sollte man neben ihrer wichtigen Rolle als Stütze relativ gut informierter und miteinander kommunizierender Gesellschaften auch ihre Möglichkeiten berücksichtigen, die öffentliche Meinung zu manipulieren; diese benötigt die Medien, muss aber auch in der Lage sein, Anforderungen an die sie regelnden ethischen und rechtlichen Normen zu stellen. Die Intensität und Globalität der Informationsflüsse hat den derzeitigen Wandel unseres Planeten mitbewirkt, stellt aber auch eine ernste Herausforderung in Bezug auf die Qualität und Objektivität dieser Information dar. Das gilt umso mehr in Ländern, denen verwurzelte staatsbürgerliche Traditionen fehlen und die einen großen Nachholbedarf an Kultur und Bildung haben. Der Sensationsjournalismus, die vereinfachende Schwarzweißmalerei, die unersättliche Suche nach Sündenböcken für die Probleme, mangelnde Erinnerung und die Abwesenheit von Regeln, welche die Medien selbst zur Rechenschaft über ihre Handlungen verpflichten, das alles macht es unmöglich, sich mit einer idyllischen Version stark kommerzialisierter Machtfaktoren zu begnügen, die allzu leicht zu Urhebern einer Demokratie werden können, die auf das erniedrigende Spektakel eines gnadenlosen Kampfes zwischen drittklassigen Persönlichkeiten reduziert wurde. Die Gestaltung einer diesen Namen verdienenden Zivilgesellschaft scheint also einer hohen Dosis an staatsbürgerlicher Verantwortlichkeit der Mittlerorganisa-

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tionen zu bedürfen, ebenso wie eine Umgebung und Regeln nötig sind, die den Korruptions-, Manipulations- und politischen oder antipolitischen Pervertierungschancen der erwähnten intermediären Einrichtungen Paroli bieten. Deshalb bedeutet das Entstehen einer Vielfalt von sozialen Organisationen in Gesellschaften, in denen autoritäre Systeme eine Kultur der Missachtung des Rechtsstaats und der staatsbürgerlichen Verantwortung, eine Kultur der Willkür und Straflosigkeit gefordert haben, keineswegs immer einen Fortschritt in Richtung auf eine demokratische Zivilgesellschaft, sondern häufig die Ausbreitung von „Kriegsherren" und Mafia-Organisationen, die den Zerfall der alten staatlichen Institutionen für sich ausnutzen wollen.5 3. Aus den genannten Gründen erscheint es mir wichtig, die Ideale der Zivilgesellschaft (oder die Zivilgesellschaft als Ideal), die sich auf die Fähigkeit staatsbürgerlicher Selbstorganisation und Partizipation in vielfaltiger, pluraler und toleranter Art und Weise beziehen und auf die Schaffung eines staatsbürgerlichen und zivilisatorischen Forderungskontexts sowohl der Institutionen und der politischen Parteien als auch der wirtschaftlichen Machtfaktoren ebenso gerichtet sind wie auf den Aufbau vermittelnder Netzwerke für neuartige Formen der Diskussion, der Formulierung und Umsetzung öffentlicher Politik, in aller Deutlichkeit von den stets zweideutigen und prekären Formen zu unterscheiden, in denen diese Ideale bisher in verschiedenen Ländern Gestalt angenommen haben (s. Walzer 1996). Um polarisierende Dichotomien zu vermeiden, muss man erkennen, dass der Fortschritt solcher Ideale nicht einer Schwächung, sondern einer demokratischen Stärkung des Rechtsstaats, des Rechtsfriedens und der politischen Parteien als Mechanismen für die Konstituierung und den Schutz der bürgerlichen und politischen Rechte bedarf. Nötig ist deshalb nicht die Beseitigung der wirklich und ausdrücklich politischen Instanzen und Aktivitäten, sondern deren demokratische Neubestimmung durch die Neuformulierung der politischen Visionen und Traditionen. Darüber hinaus ist es notwendig, die ungerechten wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und sogar ethnischen Ungleichheiten zu überwinden, die in mehr als einer Hinsicht nicht nur den Rechtsfrieden und das angemessene Wirken der Institutionen, sondern auch die Herausbildung eines moralischen Sinnes für alle gesellschaftlichen Aktivitäten behindern. Die Festigung einer wahrhaften Zivilgesellschaft, eines wahrhaften Netzwerks gesellschaftlicher Organisationen, die den Wahldemokratien Inhalt und Kraft zu

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In mehr als einer Hinsicht scheint sich die zivilgesellschaftliche Bewegung mit der Entwicklung globaler Machtfaktoren der Wirtschaft, aber auch der Medien und des kulturell-religiösen Bereichs zu verbinden. Deshalb wird der Sieg der Demokratie paradoxerweise von einer gefährlichen Verminderung der inneren und äußeren Souveränität der Staaten zugunsten dieser Machtfaktoren begleitet; s. Salvador! 1997.

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vermitteln vermögen, kann nur schwer das Ergebnis der bloßen Abschaffung der autoritären politischen Systeme sein. Im Gegenteil, eine solche Zivilgesellschaft kann sich nur in dem Maße entwickeln und festigen, in dem die partikularistischen, ausgrenzenden und räuberischen Traditionen positiv überwunden werden, die ein Gutteil der bestehenden gesellschaftlichen Organisationen bedrücken, und andere, an öffentliche Mitverantwortung und Gegenseitigkeit geknüpfte Traditionen gestaltet werden. Erst dann werden wir die Missverständnisse und Manipulationen jener abschütteln können, die das Ideal der Zivilgesellschaft missbrauchen und sich als ihre „Vertreter" ausgeben, nur weil sie keiner politischen Partei oder Regierungsinstitution angehören. „Im Namen der Zivilgesellschaft" zu sprechen ist ebenso betrügerisch wie im Namen des Volkes oder der Massen zu sprechen, ohne sich darum zu kümmern, den Ursprung eines solchen Anspruchs anzugeben. Als Gandhi gefragt wurde, was er von der britischen Zivilisation halte, antwortete er ironisch: „es wäre eine gute Idee". In gleicher Weise müsste man angesichts der Distanz zwischen unseren ungerechten gesellschaftlichen Wirklichkeiten und den Idealen der Zivilgesellschaft sagen, dass in vielen Ländern Lateinamerikas die Zivilgesellschaft vor allem eine gute Idee ist, also eher Wunschvorstellung als Wirklichkeit.

Literatur Arato, Andrew (1996): Emergencia, declive y reconstrucción del concepto de sociedad civil, in: Isegoría, Nr. 13, Madrid, 5-18. Bobbio, Norberto (1987): Estado, gobierno, sociedad. Barcelona (Plaza & Janés). Cohen, Jean/ Arato, Andrew (1992): Civil Society and Politicai Theory. Massachusetts (MIT). Pereyra, Carlos (1990): Sobre la democracia. Mexiko (Cal y Arena). Salazar, Luis (1993): Sobre las ruinas. Mexiko (Cal y Arena). Salazar, Luis (1997): La mala fama de la política, in: Revista Internacional de Filosofia Política, Nr. 12. Madrid (UAM-UNED). Salvadori, Massimo (1997): Estado y democracia en la era de la globalización, in: Salazar, Luis (Hg.): Un estado para la democracia. Mexiko (IETD/ FES/ Porrúa). Seligman, Adam (1993): L'Idea di Società Civile. Mailand (Garzanti). Sorel, Georges (1976): Reflexiones sobre la violencia. Madrid (Alanza Editorial). Tocqueville, Alexis (1978): La democracia en América. Mexiko (Fondo de Cultura Económica).

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Vallespín, Fernando (1996): Sociedad civil y "crisis de la política", in: Isegoría. Nr. 13, Madrid. 39-58. Walzer, Michael (1996): La idea de sociedad civil (mimeo).

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A U T O N O M I E UND ZENTRALISIERUNG Wir leben zweifellos in einer Zeit der Wiederentdeckung der Zivilgesellschaft. Ralf Dahrendorf hatte schon in seinen Reflections on the Revolution in Europe die Aufwertung der offenen, aktiven und kreativen Gesellschaft als Impulsgeber gewertet, der von 1989 an die Veränderungen in den autoritären und bürokratischen Gesellschaften Osteuropas bewirkt hatte. Ähnliches sagt man - zumindest rhetorisch - den Demokratisierungsprozessen nach, die in Lateinamerika seit den 80er Jahren in Gang sind. Es ist jedoch eine erste Warnung erforderlich: die Generalisierung des Begriffs in der Demokratietheorie hat mehr dazu beigetragen, auf Probleme hinzudeuten, als Lösungen aufzuzeigen. Das Entstehen von Anforderungen an die Zivilgesellschaft, deren plötzlicher Vorrang im Diskurs von Gemeindevertretern, Sozialwissenschaftlem und sogar internationalen Kreditinstitutionen wird heute mit den Bemühungen in Verbindung gebracht, die die Umsetzung der sogenannten „Reformen der zweiten Generation" verursacht; Reformen, welche die neuen, Demokratie und Markt verbindenden sozio-politischen Prozesse festigen sollen, die unsere Zeit weltweit kennzeichnen. War der Ruf nach der Zivilgesellschaft in den siebziger Jahren noch ein allgemeines Plädoyer gegen den militärischen Autoritarismus - als destabilisierende, kollektive Mobilisierung - so wird das Thema heute spezifischer, weil es sich auf eine neue Etappe der Transformationen innerhalb der in Gang befindlichen Demokratisierungsprozesse bezieht. Eine neue Etappe, in der sich, nach Schaffung der Grundlagen füir die repräsentative Legitimität und für eine offene Wirtschaft, ein erweitertes Spektrum für institutionelle Reformen eröffnen sollte. Die Wiederentdeckung des alten Themas der Zivilgesellschaft geht deshalb mit der Diskussion um die Ausweitung der Demokratie unter den derzeitigen Bedingungen der Universalisierung der Wirtschaft bei Aufrechterhaltung der kulturellen Eigenheiten einher. Sie eröffnet erneut das Thema der Beziehungen zwischen Staat und Markt, zwischen privater und öffentlicher Sphäre, zwischen Mobilisierung und Institutionalisierung. Schließlich weist sie auf die Probleme der Konstitution eines politischen und gesellschaftlichen Staatsbürgertums in komplexen und heterogenen Gesellschaften hin, in denen das Selbtbewusstsein als Staatsbürger und das Bewusstsein der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft in einer widersprüchlichen Spannung zueinander stehen können.

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In diesem Rahmen ist es daher unerlässlich, den Begriff der Zivilgesellschaft analytisch von Begriffen wie Staat (Politik) und Markt (Wirtschaft), die zu ihm in einem Wechselverhältnis stehen, zu trennen, zugleich aber auch von dem vermutlich äquivalenten Begriff der Gesellschaft im allgemeinen Sinn. Es geht hier nicht darum, eine Genealogie des Begriffs von Hobbes bis Hegel nachzuzeichnen - zur Zeit Hegels kam die moderne Unterscheidung zwischen Zivilgesellschaft und Staat auf, die auch Gramsci übernahm - und mithin geht es auch nicht um die Geschichte einer terminologischen Zweideutigkeit, einer Abfolge von Bedeutungen, die nur in den jeweiligen Verwendungszusammenhängen zu verstehen sind.1 Im Rahmen dieser Diskussion wird die Zivilgesellschaft in ihrer Minimalbedeutung als organisierte Sphäre des gesellschaftlichen Lebens aufgefasst, in der Gruppen von Akteuren innerhalb eines rechtlichen Rahmens Interessen und Werte vertreten sowie Forderungen an den Staat richten, die als öffentliche Zwecke angesehen werden. Sie unterscheidet sich insofern von der Familie, dem Unternehmen und auch von der Gesellschaft allgemein, als sie sich aus selbstorganisierten Gruppen zusammensetzt. Ebenso unterscheidet sie sich von den politischen Parteien (mit denen sie sich im politischen Raum auseinandersetzt), da die Organisationen der Zivilgesellschaft nicht die Macht im Staate, sondern Veränderungen seines Handelns anstreben; hierfür wirken sie auf den Regierungsapparat ein. um für sie günstige Entscheidungen zu erreichen. Die beiden zentralen Dimensionen, auf die die Zivilgesellschaft einwirkt, sind der Staat und der Markt. Diese Beziehungen nehmen im heutigen lateinamerikanischen Kontext, der den Regeln der kapitalistischen Globalisierung und der Universalisierung der liberalen Demokratie unterworfen ist, besondere Gestalt an. Wie bereits erwähnt wurde, stehen die derzeitigen Tendenzen zur Stärkung der Zivilgesellschaft in direktem Zusammenhang mit dem Strukturwandel der Wirtschaft und der substantiellen Rollenveränderung des Staates in Bezug auf seine Dimension, seine Interventionsformen und sein Verhältnis zu den verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren. Tatsächlich tendiert der derzeit stattfindende Wandel der Beziehungen zwischen Staat und Wirtschaft dahin, der Zivilgesellschaft ein größeres Gewicht zu verleihen und ihr eine umfassendere Verantwortung sowohl in der Realität als auch in den Vorstellungen der Gesellschaft zu übertragen. Was angesichts einer neuen, von der Öffnung nach außen, der Verringerung der Macht der Nationalstaaten, der Protagonistenrolle des Marktes und der Entste1

John Keane (1992) fasst im 2. Kapitel seines Buches Democracia y Sociedad Civil die Schwierigkeiten des Begriffs der Zivilgesellschaft gut zusammen. Ebenso N. Bobbio: Gramsci y la concepción de la sociedad civil, in: Gramsci y las Ciencias Sociales, Cuadernos de Pasado y Presente, Buenos Aires 1974.

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hung von Polyarchien gekennzeichneten Realität neu bestimmt werden soll, ist eben die Qualität des Verhältnisses zwischen Staat, Zivilgesellschaft und politischem System. Es liegt auf der Hand, dass der Rahmen, in dem diese Prozesse stattfinden, sich aus der - wie ich sagen würde - neoliberalen Anpassung an die Globalisierung ableitet. Die Globalisierung ist das herausragende Zeichen dieser epochalen Krise: sie bedeutet die Erschöpfung eines Entwicklungs- und eines Hegemoniemodells, aber auch den Zerfall einer Weltsicht, weshalb sie sich auf Institutionen wie auf Akteure auswirkt. Rosanvallon und Fitoussi haben diese von der derzeit sich vollziehenden, umfassenden Transformation geschaffene Landschaft wie folgt beschrieben: „Es versagen zum gleichen Zeitpunkt die Institutionen, welche soziale Bindung und Solidarität bewirkten (Krise des Wohlfahrtsstaats); die Formen des Verhältnisses zwischen Wirtschaft und Gesellschaft (Arbeitskrise) und die Arten der Konstitution der individuellen und kollektiven Identitäten (Krise des Subjekts)" (Fitoussi/ Rosanvallon 1997: 14). Aus diesen Vorgaben erwächst ein festes System der sozialen Ausgrenzung, aber auch ein tiefes Gefühl individueller und kollektiver Unsicherheit, und so zeichnet sich ein wachsendes allgemeines Unbehagen am Horizont ab. Ungeachtet der Merkmale struktureller Heterogenität erlebten unsere Gesellschaften bis zum Ende der sechziger und Beginn der siebziger Jahre (dem Zeitpunkt des Eintritts in das Interregnum der Diktaturen) eine wachsende Integration, deren Impulsgeber eine aus den geschützten Industrien erwachsene Arbeitskultur war. Diese Industrien förderten die Schaffung von Identitäten und sozialen Bindungen, die sich auf die zentrale Rolle des Staates und der Nation sowie auf die von beiden errichteten Sicherheitsnetze gründeten. Es war ein auf Integration gerichtetes Gesellschaftsmodell, im Rahmen einer eher kommunitaristischen als liberalen Tradition der Bürgerbeteiligung und eines national-populären, patrimonialistischen Staatsmodells, das auf einem Netz sozialer Hilfen aufbaute, welches trotz seiner Unvollständigkeiten, klientelistischen Orientierung und korporativistischen Grundlage die Vorstellung der sozialen Schutzfunktion hervorbrachte. Der Zusammenbruch dieses Gesellschaftstyps kündigte sich im Aufstieg des militaristischen Autoritarismus an. der sich anschickte, eine Epoche für beendet zu erklären. Dessen plötzlicher Einfall provozierte dann - als antidiktatorische Reaktion - ein erstes Anzeichen für diesen modernen Prozess des Durchbruchs der Zivilgesellschaft, begriffen als ein auf Demokratisierung gerichtetes Spannungsverhältnis. In diesem Zusammenhang ist bereits darauf hingewiesen worden, dass der erste Widerhall auf das Thema Zivilgesellschaft in Lateinamerika eher als antiautoritä-

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re Kritik denn als gesellschaftliche Alternative auftrat (Flisfisch o.D.). Diese Forderung an das Durchsetzungsvermögen der Zivilgesellschaft erstreckte sich vor allem auf die politischen Rechte der Staatsbürger. Das Verhältnis zwischen Zivilgesellschaft und gesellschaftlichem Staatsbürger erschien wenig später, als jene politischen Rechte bereits zurückerobert worden waren und die Gesellschaften in eine Phase sogenannter struktureller Anpassungen eintraten. Die Anpassungsprogramme aus neoliberaler Perspektive vollendeten eine wirkungsvolle Zersetzungsarbeit in Wirtschaft, Staat und Zivilgesellschaft. Unsere Länder begannen, das Drama einer sich aus einer doppelten Bewegung ergebenden Spannung zu erleben, nämlich der Integration in die Welt nach außen und der Fragmentierung im Inneren der Gesellschaft. Globalisierung auf der einen Seite, auf der anderen Segmentierung zwischen den Koordinaten der Wiederherstellung der repräsentativen Demokratie und der Souveränität des Marktes. Das Ergebnis war für die Zivilgesellschaft verheerend; die kommunitären Netzwerke wurden zerstört, desgleichen die sozialen Bindungen und Sicherheitsmechanismen. In der Folge breiteten sich die Unbilden der Unsicherheit, der Anomie, der Privatisierung des Lebens, die Krise des öffentlichen Raums aus. Solcherart versucht man, von Gesellschaften, die sich - zugegebenermaßen auf prekäre Weise auf den Nationalstaat gründen, auf Marktgesellschaften überzugehen, in denen der Markt aufhört, ein bloßes Werkzeug zur Regelung des Wirtschaftslebens zu sein, und sich in eine moralische und kulturelle Einrichtung, in eine Gesellschaftsordnung, verwandelt. In diesem Rahmen gesellt sich zur Krise des Staats die Krise der Politik, der es nicht gelingt, die Segmentierung der Akteure und die Fragmentierung der gesellschaftlichen Subsysteme zu kitten. Wie kann man von diesem Ausgangspunkt aus zu stärker integrierten Gesellschaften kommen, ohne in die Nivellierung von gesellschaftlichen Akteuren, politischem System und Staat zurückzufallen, die wie Alain Touraine es in klassischer Weise hervorgehoben hat - eine bereits überwundene Etappe der gesellschaftspolitischen Entwicklung unseres Kontinents gekennzeichnet hat? Hier wird erneut die Notwendigkeit einer Stärkung der Zivilgesellschaft als möglichem Terrain für die demokratische Verknüpfung von Staat und Markt unterstrichen. Ausgehend von der Hypothese, dass eine derartige Stärkung tatsächlich den Grundstein für den Aufbau eines öffentlichen Raums, für eine Dimension der Polis, in unserem gesellschaftlichen Leben darstellt, sind verschiedene Verwendungsformen dieser Forderung zu unterscheiden. Die erste ist die bereits angedeutete, durch den in Mode gekommenen Neoliberalismus zur vollen Geltung gebrachte Verwendungsform, in der die Zivilgesell-

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Schaft im Widerspruch und in Opposition zum Staat gesehen wird. Diese Konzeption dichotomisiert die beiden Sphären in brutaler Weise und fordert die Notwendigkeit einer Vorherrschaft der Zivilgesellschaft, die, als Konstellation privater Interessen verstanden wird, deren Freiheits-, Kreativitäts- und Flexibilitätsmodell das kapitalistische Unternehmen darstellt. Gegenüber dem bürokratischen Monster des Staats wird die freie Zivilgesellschaft in dieser Konzeption zur Marktgesellschaft, d.h. eher zu einer Gesellschaft der Konsumenten als einer Gesellschaft selbstbewusster Bürger. Eine weitere Verwendungsform bzw. Vision der Stärkung der Zivilgesellschaft ist mit einer auf die Demokratie bezogenen Konzeption verbunden, die auf dem Kontinent eine größere Tradition hat und die ich der Einfachheit halber Populismus nenne. Während die erste Verwendungsform die Zivilgesellschaft dem Staat gegenüberstellt, setzt die zweite sie defensiv den Exzessen des Markts entgegen, weil diese die Gesellschaft fragmentieren und die kollektiven Identitäten auflösen. Beide Verwendungsformen sind miteinander durch die Schwierigkeit verbunden, die ihnen die Anerkennung der für die Demokratie unerlässlichen institutionellen Gliederungen und der notwendigen Rolle der politischen Sphäre als dem Ort für den Aufbau eines kollektiven Willens bereitet. Auf das in der lateinamerikanischen Tradition vorhandene, eher integrierende Gesellschaftsmodell, dessen Wurzeln eher kommunitär als liberal sind, wurde bereits hingewiesen, ein Modell. das sich in einem national-populären Staat patrimonialistischen Charakters ausdrückte. In diesem Schema ist die Zivilgesellschaft gleichbedeutend mit „Volk" und dieses mit Demokratie, in einer linearen Abfolge, welche die institutionellen Vermittlungsinstanzen im Rahmen der repräsentativen Demokratie minimiert; in dieser Vorstellung nimmt die Zivilgesellschaft den Charakter einer Bewegung an. Der Leitgedanke von der unmittelbaren „Protagonistenrolle des Volkes selbst" durchdringt die Werte der Partizipation, der Dezentralisierung, der Kommunikation auf gleicher Ebene, alles Bestandteile der substantiellen Demokratisierung in dieser der iberoamerikanischen Tradition verpflichteten, erweiterten Konzeption der Zivilgesellschaft, die sich als solche von den Bürgervereinigungen unterscheidet, auf welche sich nach Tocqueville das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Staat im Norden des Kontinents gründete. Ich will hier auf die kulturellen Wurzeln dieses Unterschieds nicht weiter eingehen, den Richard Morse (1982) in mehreren Arbeiten polemisch dargestellt hat, in denen er zwei Versionen von Demokratie in Amerika feststellt. Die eine, angelsächsischer Abstammung, in der der Liberalismus sich mit der Demokratie zu

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vereinen vermochte, und die andere, iberisch verwurzelte, in der sich eine auf die Spätscholastik zurückgehende, populistische Vorstellung mit einem verschwommenen „Rousseauismus" verband, der auf die Unabhängigkeitsbewegungen des 19. Jahrhunderts eingewirkt habe. Jede der beiden Versionen setzt unterschiedliche Sichtweisen von dem Verhältnis zwischen Zivilgesellschaft, politischem System und Staat voraus. Der bereits zitierte Morse hat darauf verwiesen, dass die tiefgründigsten Merkmale der lateinamerikanischen Staaten von der Weberschen Typologie des Patrimonialismus her erklärt werden können, „hybridisiert" - so kann man hinzufugen - durch spannungsgeladene Konzessionen an den liberalen Konstitutionalismus, Zugeständnisse, die in einigen Gesellschaften (z.B. in Chile und Uruguay) erfolgreicher waren als in den übrigen. In der patrimonialistischen Ausprägung und angesichts der Machtkonzentration bei der Exekutive neigen der öffentliche und private, der politische und der wirtschaftliche Bereich zu Überlagerungen und damit zur Verwässerung der Autonomie der Zivilgesellschaft. Das gesellschaftliche Gegenstück des Patrimonialismus, der als Begriff auf die Form anspielt, in der die Macht ausgeübt und verteilt wird, war der Korporativismus, verstanden als hierarchische Form der Partizipation, Organisation und Repräsentation der Interessen der Zivilgesellschaft. Bürokratischer Zentralismus und korporativistische Segmentierung haben in den Modernisierungsprozessen Lateinamerikas als Beziehungsform zwischen Staat und Zivilgesellschaft im Rahmen einer viel stärker staats- als gesellschaftszentrierten politischen Kultur koexistiert. Das patrimonial-korporativistische Modell, dem der horizontale Egalitarismus der klassischen Vereinigungen von Staatsbürgern fremd war, hatte jedoch trotz seiner vertikal und klientelistisch orientierten gesellschaftlichen Beziehungen integrierenden Charakter. Es war vor allem in einem kommunitaristischen Sinn integrativ, die politischen Identitäten äußerten sich als „Bewegungen", die sich von der dem liberal-republikanischen Modell eigenen Form der „Partei" unterschieden. Der mobilisierende Stil der kollektiven Aktion schwächte den institutionellen Rahmen, und die Demokratie nahm in dieser Tradition populistische Formen an, die die Bindungen zwischen Gesellschaft und Staat verwischten. Mit dem Wandel, den die dramatische Durchsetzung der Marktgesellschaft auslöste, ergibt sich heute eine andere Situation. Die Gesellschaftsordnung wird unter der Annahme einer von der Wirtschaft auferlegten Selbstregulierung entpolitisiert; damit werden die kollektiven Identitäten bedroht und Millionen Bürger gesellschaftlich ausgegrenzt, die vorher in den öffentlichen Raum, unter welchen historischen Beschränkungen auch immer, integriert waren.

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Es liegt auf der Hand, dass dieses Szenario sowohl die Grundlagen der Politik aushöhlt - deren Fähigkeit zum Zusammenhalt der materiell und kulturell fragmentierten Gemeinschaft beeinträchtigt wird - als auch die Problematik der Zivilgesellschaft als Dimension der Gestaltung von mündigen Staatsbürgern neu aufwirft. Wenn es dem Markt nicht gelingt, auf eine größere Integration hinzuwirken, kann der Staat es auch nicht mehr erreichen. Der Wiederaufbau und die Stärkung der Zivilgesellschaft steht an der Spitze der demokratischen Tagesordnung, als Möglichkeit zur Erlangung einer mündigen Staatsbürgerschaft, die sich nicht mit der Rolle des Wahlbürgers im heutigen Kontext einer Krise der politischen Repräsentation begnügt. Das Thema der Zivilgesellschaft wird so zum Herzstück des Problems der modernen Konstituierung der Staatsbürgerschaft. Seit T. H. Marshall wissen wir, dass die Entstehung von Staatsbürgern ein Prozess ist, in dem Mobilisierungsformen der Zivilgesellschaft mit der Konstituierung rechtsetzender Institutionen verbunden werden, die neue Rechte schaffen. Die Erweiterung der Staatsbürgerschaft verbindet also, vermittelt durch die Politik, die Mobilisierungen der Zivilgesellschaft mit rechtlichen Fortschritten. Dies ist ein wichtiger Punkt, der auf das im demokratischen Entwurf notwendige Verhältnis gegenseitiger Einbindung von Zivilgesellschaft und politisch-institutionellem Bereich verweist. Die Berufung auf die Zivilgesellschaft findet nicht immer in diesem Bezugsrahmen statt. Das gilt zweifellos für den neoliberalen Ansatz, der den Staatsbürger durch den Verbraucher ersetzt und der in der Erweiterung der Zivilgesellschaft lediglich ein Argument für eine Schwächung der Schutzfunktionen des Staates sieht. Es gilt aber auch für die von manchen Linken geteilten national-populären Traditionen, die unter völlig andersartigen Bedingungen auf einen spontanen Begriff von „Volk" als einer destabilisierenden Bewegung zurückgreifen, die gleichbedeutend sei mit der Demokratie als Handlungsakt. Beide Ansätze sind den Risiken des Antipolitischen als einer Sonderform des Anti-Institutionalismus ausgesetzt. Bei den Vordenkern des auf sich selbst bezogenen Marktes liegt dies auf der Hand, für sie beschränkt sich die Betrachtung der Zivilgesellschaft lediglich auf eine Umfragemanie, welche die „öffentliche Meinung" darstellen soll. Es gilt aber auch für die traditionelle, defensive Vorstellung, welche Zivilgesellschaft und Markt gegenüberstellt, ohne die veralteten Formen kollektiven Handelns zu kritisieren, oder die von der Entwicklung von Basis-Organisationen ausgehende Vorstellung, diese könnten das Parteiensystem als Hauptkanal der Interessenaggregation ersetzen. Es wird nicht in Frage gestellt, dass die Stärkung der Zivilgesellschaft als notwendige Bedingung für die

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Schaffung eines demokratischen öffentlichen Raums erscheint weil sie so wichtige Dimensionen wie die Partizipation. Dezentralisierung und Horizontalität der Kommunikation einbringt. Aber diese positiven Aspekte lassen das zentrale Thema offen, nämlich das Verhältnis zwischen Zivilgesellschaft und Institutionen. Mit einigen abschließenden Bemerkungen über dieses Verhältnis zwischen Zivilgesellschaft und Demokratie unter den derzeitigen Bedingungen möchte ich versuchen, eine dritte Alternative dieser problematischen und mitnichten magischen Neubildung der Zivilgesellschaft zu skizzieren. Der entscheidende Punkt scheint mir heute nicht mehr im Dilemma zwischen Autonomie und Zentralisierung, sondern zwischen Mobilisierung und Institutionalisierung zu liegen. Der Wert der Autonomie hat mit der Steuerungsfähigkeit der Gesellschaft in Bezug auf den Markt, die Politik und den Staat zu tun, die von der Zentralisierung und der Unterordnung geleugnet werden. Anders ausgedrückt, der Wert der Autonomie ist verknüpft mit der Möglichkeit, einen öffentlichen - weder privaten noch staatlichen - Raum zu schaffen. In diesem Sinne sollte die Autonomie weiter gefordert werden, aber sie reicht nicht aus, um einen erweiterten Begriff demokratischer Staatsbürgerschaft zu begründen. Demokratie ist nicht möglich, wenn Zivilgesellschaft und Staat eins sind, wenn beide Ebenen nicht hinreichend voneinander differenziert sind, wenn es keine selbstorganisierte, pluralistische und autonome Zivilgesellschaft gibt. Wie John Keane (1992: 35) gesagt hat. „müsste die Zivilgesellschaft sich in einen ständigen Dorn im Fleisch der politischen Macht verwandeln", und beide, Staat und Zivilgesellschaft, müssen sich im Sinne einer gegenseitigen Demokratisierung wandeln. Aber wie bereits erwähnt, weist der Begriff der Zivilgesellschaft eine doppelte Dimension auf: einerseits ist sie eine Sphäre des kollektiven Handelns, der bevorzugte Ort der Polis, an dem - Hannah Arendts Worte aufgreifend - jeder gesehen und gehört werden kann. Als solche ist die per Definition plurale Zivilgesellschaft ein natürlicher Nährboden der Demokratie. Darüber lünaus bezieht sich die moderne Zivilgesellschaft notwendigerweise auf Institutionen, die sie als autonome Struktur unterscheiden. In gegenseitiger Ergänzung ist die Zivilgesellschaft zugleich kollektive Handlung und Rechtssetzung. Mobilisierung und Institutionalisierung. Wie kann man kollektive Handlungen in rechtlich bindende Entscheidungen umwandeln? Die Zivilgesellschaft und ihre Erweiterung sollten kein politischer Raum sein, der sich auf die Antipolitik gründet. Es ist nicht möglich, die Institutionen durch Mobilisierung zu ersetzen, unter anderem weil die Entwicklung der

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Zivilgesellschaft selbst als Erweiterung des Staatsbürgertums die Konsolidierung von Rechten bedingt. Auf unserem Kontinent - und übereinstimmend mit dem Geschehen in der übrigen Welt - begann die moderne Saga der Stärkung der Zivilgesellschaft als antidiktatorischer Wille, als Raum für den Kampf gegen den Autoritarismus des Staats. Die marktwirtschaftlichen Reformen haben diesen besonderen Stellenwert rasch zu einer allgemeinen Haltung gegen den Staat umfunktioniert und die Schutzfiinktionen des Staates insgesamt entwertet, um das Private und den Individualismus des Marktes zu betonen. Die Stärkimg und Vervollkommnimg der Demokratie erfordert heute eine Verschränkung zwischen den autonomen Sphären der Zivilgesellschaft und denen der politischen Institutionen. Die Partizipation an der Zivilgesellschaft, die Entwicklung ihrer Organisationen, ihre Demokratisierung als horizontales Netzwerk der Interessenaggregation. die entscheidende Rolle, die ihre Entfaltung für die Einbringung neuer Interessen in die Tagesordnung der Gesellschaft spielen muss. wie auch ihr Potential, Gefühle kollektiver Zugehörigkeit und Identität zu generieren, könnte zum Scheitern der Demokratie fuhren, wenn sie nicht zu einem reiferen Verhältnis zum Staat und zum Parteiensystem als dem Kern des politischen Systems gelangt. Die Zivilgesellschaft kann nur im Rahmen der Schaffung und Stärkung der Institutionen wachsen. Es gibt in diesen postpopulistischen und postautoritären Gesellschaften Lateinamerikas möglicherweise keine wichtigere demokratische Aufgabe als die der Konsolidierung politischer Institutionen, die den neu erlangten Rechten eine juristische Form zu geben vermögen; auf diese Weise wird die Zivilgesellschaft, die die neuen Rechte einfordert, mit den Instrumenten der repräsentativen Demokratie verschränkt.

Literatur Bobbio. Norberto (1974): Gramsci y la concepción de sociedad civil, in: Gramsci y las Ciencias Sociales, Cuadernos de Pasado y Presente. Buenos Aires. Filoussi, Jean-Paul/ Pierre Rosanvallon (1997): La Nueva Era de las Desigualdades. Manantial, Buenos Aires, 14. Flisfisch, Angel (o.D ): Notas acerca de la idea del reforzamiento de la sociedad civil, in: La política como compromiso democrático, Flacso, Santiago de Chile. Keane. John (1992): Democracia y Sociedad Civil. Kap. 2, Madrid. Morse. Richard (1982): El Espejo de Próspero. Mexiko (Siglo XXI) sowie seine ältere Arbeit The Heritage of Latin America, in: Louis Hartz (Hg.) (1964): The Founding ofNew Societies. New York.

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Klaus Meschkat ZUR IDEOLOGIE DER „ZIVILGESELLSCHAFT" Heutzutage ist es fast unmöglich, einen Diskussionsbeitrag über politische Probleme zu hören, ohne mehrmals dem Begriff „Zivilgesellschaft" zu begegnen, gleich ob es sich um den wissenschaftlichen Vortrag eines gelehrten Politologen handelt oder um die eher schlichte Selbstdarstellung einer beliebigen NichtRegierungs-Organisation irgendwo auf der Welt - und unabhängig davon, dass die NRO, die hier auf ihrem Beitrag zur „Zivilgesellschaft" besteht, völlig von staatlichen Geldern abhängig ist. die sie entweder direkt oder auf dem Umweg über eine ausländische Stiftung erhält, die ihrerseits gänzlich aus staatlichen Mitteln finanziert wird... „Zivilgesellschaft" als erstrebenswertes Ziel taucht in den Veröffentlichungen der Weltbank ebenso auf wie in den Anklagen der USRegierung gegenüber Kuba, aber auch in den Aussagen einiger kubanischer Politiker, die von einer „sozialistischen Zivilgesellschaft" sprechen. Unter den Anhängern dieses Konzepts finden wir auch den Subcomandante Marcos, der häufig von „Zivilgesellschaft" spricht, wenn er die Unterstützung für die Zapatistenbewegung in ganz Mexiko in Anspruch nimmt. Es überrascht, dass Vertreter derart unterschiedlicher, ja gegensätzlicher politischer Positionen in ihren Beiträgen denselben Begriff verwenden und auch noch alle im positiven Sinne. Gewiss teilt die „Zivilgesellschaft" diese Vieldeutigkeit mit anderen grundlegenden Konzepten der Sozialwissenschaften, angeführt vom Wort „Demokratie", dessen Verwendung und Missbrauch auf eine lange Geschichte zurückblicken. Die Konjunktur der „Zivilgesellschaft" ist jünger. Es scheint angebracht, einmal an den Zusammenhang zu erinnern, innerhalb dessen dieser Begriff vor zwei Jahrzehnten Eingang in die politische und wissenschaftliche Debatte gefunden hat. wobei die philologischen Studien über Feinheiten der Bedeutung in verschiedenen Sprachen anderen Forschern vorbehalten bleiben sollen. Auch die politische Philosophie von Antonio Gramsci soll hier nicht behandelt werden. Wie die meisten Schlüsselbegriffe der Sozialwissenschaften, ist auch die „Zivilgesellschaft" zunächst aus der politischen Auseinandersetzung entstanden und diente politischen Kräften dazu, in den realen ebenso wie in den imaginären Kämpfen im Himmel der Ideen Terrain zu gewinnen. Unabhängig von seinem Ursprung hat das Konzept der „Zivilgesellschaft" seine konkrete Definition aus der Verwendung als Waffe gegen ganz konkrete Gegner erhalten. Im Falle der Länder unter sowjetischer Herrschaft diente es dazu, Einzelpersonen oder Grup-

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pen, die das Machtmonopol des alles beherrschenden Staates und seiner Einheitspartei zurückwiesen, einen Spielraum zum Denken und Handeln zu erstreiten. In dem langen und schwierigen Konstitutionsprozess einer Opposition gegen ein extrem zentralistisches Regime spielte die Parole von der „Zivilgesellschaft" eine Schlüsselrolle - und dabei war hilfreich, dass sie von einem angesehenen marxistischen Denker stammte. In Lateinamerika fand das Konzept der „Zivilgesellschaft" Verbreitung zu einer Zeit, als fast in allen Ländern des Subkontinents Militärdiktaturen herrschten. Ganz ohne Zweifel hatte der Begriff „zivil" hier unabhängig von den komplexen Dimensionen der in der Hegel'sehen Philosophie verankerten Idee Gramscis eine ganz einfache und konkrete Bedeutung: „zivil" hieß nicht-militärisch und bezeichnete alles, was sich der Willkür einer Beherrschung durch die Streitkräfte widersetzte (für Brasilien vgl. Costa 1997: 199). Diese Rahmenbedingungen unterschieden sich deutlich von denen in den Ländern des sogenannten „Realsozialismus".1 Es gehört ein großes Maß an Oberflächlichkeit dazu, für die Äußerungen des Widerstands gegen derart unterschiedliche Herrschaftsformen einen gemeinsamen Nenner zu finden, der angeblich darin besteht, dass es jedesmal um ein Zurückdrängen des Staates und die Gewinnung von Spielraum für die „Zivilgesellschaft" gehe. Eine solche Betrachtung unterschlägt das Besondere in den sozialen Auseinandersetzungen der letzten Jahrzehnte in Lateinamerika. Sie verschleiert die Tatsache, dass die Militärregimes, beispielsweise das Regime von Pinochet oder der argentinischen Generäle, niemals alle vom Staatsapparat unabhängigen gesellschaftlichen Organisationen zerschlagen haben, ebenso wenig wie die sogenannte „öffentliche Meinung", soweit sie in den Händen wirtschaftlich mächtiger Gruppen lag. Hier wie auch im weiteren Verlauf dieses Artikels ziehen wir Chile als Beispiel heran: nach Pinochets Putsch und während der ganzen Zeit der Diktatur konnten die Unternehmerverbände frei bestehen und ihre Meinung über die Wirtschaftspolitik des Regimes kundtun, niemals waren sie in ihrer Existenz bedroht. Das Beispiel der Tageszeitung El Mercurio zeigt, dass die Presse der Großbourgeoisie während der gesamten Militärdiktatur erscheinen konnte2 - und es bedurfte keines militärischen Eingreifens, um sie dazu zu bewegen, das Regime zu unterstützen, solange es die Ordnung garantierte.3 1 2 3

Diese Unterschiede wurden unlängst in einer Studie von Petra Bendel und Sabine Kropp herausgearbeitet. Bendel/ Kropp 1997. Zum öffentlichen Auftreten der chilenischen Unternehmerschaft vgl. die umfassende Studie von Peter Imbusch (Imbusch 1995). In diesem Zusammenhang erscheint es sinnvoll, sich noch einmal die vom (demokratischen) Staat unabhängigen Aktivitäten während der Unidad Populär vor Augen zu fuhren. Zweifellos konnte die Rechte „ihre" Zivilgesellschaft mobilisieren: in den Protestmärschen der Hausfrauen mit den

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Die militärische Intervention zerstörte den anderen Teil der Zivilgesellschaft: die Organisationen der unteren Bevölkerungsschicht, also die Gewerkschaften und die Verbände der Bauern, der Indianer, der Elendsviertelbewohner. Seit dem Putsch in Brasilien von 1964 bestand die vordringliche Funktion aller Militärinterventionen in Lateinamerika in der restlosen Vernichtimg aller autonomen Organisationsansätze des „Volkes" - wenn man mit diesem Begriff einmal alle Unterdrückten und Ausgebeuteten einer Gesellschaft zusammenfassen darf.4 Die Zerstörung dieser „Zivilgesellschaft" war das Ergebnis einer militärischen Niederlage - und nachdem jeder bewaffnete Widerstand gescheitert war, blieb den Besiegten nichts anderes übrig, als nach anderen Wegen zu suchen, um überleben zu können und einen zunächst sehr begrenzten gesellschaftlichen Raum zurück zu gewinnen, der nicht vom Militärstaat besetzt war. Es konnte sich nicht um die direkte Konfrontation handeln, und auch nicht um die Wiederbelebung sämtlicher traditioneller Organisationen, die vor der Diktatur bestanden hatten. Vielmehr vollzog sich ein langsamer Prozess der Herausbildung von neuartigen, unverdächtigen Organisationen, wie zum Beispiel den wirtschaftlichen Selbsthilfeorganisationen (Organisaciones Económicas Populares), die - gelegentlich mit Hilfe der katholischen Kirche oder ausländischer Nicht-Regierungs-Organisationen - in den Elendsvierteln von Santiago de Chile entstanden. Es bildeten sich Gruppen zur Verteidigung der Menschenrechte, und es entstand eine Frauenbewegung mit internationaler Einbindung und Unterstützung. Dieser vielfaltige und langsame Prozess wurde als Wiedergeburt einer Zivilgesellschaft unter den Bedingungen einer Militärdiktatur betrachtet. Gerade um diese Zeit, gegen Ende der siebziger Jahre, gelangte der Begriff „Zivilgesellschaft" nach Lateinamerika und wurde im Sinne dieser ganz spezifischen Konjunktur interpretiert: als Wiederherstellung gesellschaftlicher Beziehungen in nicht sehr stark politisierten Bereichen, um so der sozialen Atomisierung entgegenzuwirken, die die Unterdrückung durch den Militärapparat herbeigeführt hatte. Die Herstellung einer „Zivilgesellschaft" in diesem Sinne (neben derjenigen der herrschenden Klassen, die niemals zerstört worden war) war eine unverzichtbare Bedingung für die Überwindung des Militärregimes. Wenn wir wieder einmal Chile als Beispiel heranziehen: die neue Opposition trat Mitte der achtziger Jahre „leeren Töpfen" oder in den Streiks der Ärzte und Transportunternehmer. Auf der anderen Seite existierte ebenfalls eine unabhängig von der Führung der Unidad Popular agierende Zivilgesellschaft: in Form von Landbesetzungen oder von gewerkschaftlichen Bemühungen, in den Staatsbetrieben eine wirkliche Arbeiterselbstverwaltung zu schaffen, sowie in den Organisationen der Elendsviertelbewohner und der Arbeiter im Industriegürtel von Santiago. 4 Der Begriff „Volk", im Deutschen allerdings durch den Nazi-Sprachgebrauch belastet, ist trotz seiner Vieldeutigkeiten auch nicht weniger präzise als ,.Zivilgesellschaft" - aber seine Verwendung ist in der Sprache der Sozialwissenschaften heute verpönt, außer wenn es darum geht, sogenannte „populistische" Tendenzen zu geißeln.

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in den Massenmobilisierungen und Demonstrationen in Erscheinung und fand ihren Höhepunkt 1986 in der Schaffung der „Asamblea Nacional de la Civilidad". Zu diesem Zeitpunkt schien die Rückkehr zur Demokratie eng an die Erweiterung einer „Zivilgesellschaft" gebunden, die außerhalb der Kontrolle durch das Militärregime, aber auch ohne die übliche Bevormundung durch die traditionellen politischen Parteien entstanden war. Wir wissen, dass die Geschichte anders verlaufen ist: trotz der Kraft der breiten Mobilisierungen konnten die Berufspolitiker der Opposition ihr Monopol als einzige legitime Vertreter des Volkswillens wieder herstellen und eine Rückkehr zur Demokratie aushandeln, die den Bruch mit dem Regime vermied.5 Eine der wichtigsten Voraussetzungen, um mit dem Militär zu einer Absprache zu kommen, bestand darin, das demokratisierende Potential der sozialen Bewegungen zurückzunehmen. Auf diese Weise wurde eine eingeschränkte und elitäre Demokratie installiert, wie sie mit leichten Abweichungen auch in anderen lateinamerikanischen Ländern entstand. Der Begriff „Zivilgesellschaft" verlor den Bedeutungsgehalt, den er in den Kämpfen gegen die Diktatur erworben hatte: die enge Verknüpfung mit den sozialen Bewegungen; stattdessen verwandelte er sich in ein allgemeines und eher nichtssagendes Konzept. Bevor wir diese Verwandlung einer Idee weiter verfolgen, müssen wir einen kurzen Blick auf die realen Veränderungen der lateinamerikanischen Gesellschaften unter den Vorzeichen einer neoliberalen Wirtschaftspolitik werfen. Wie haben versucht, diese Veränderungen im Rahmen der Präsentation unserer Forschungsergebnisse über soziale Bewegungen in Chile und Mexiko zu dokumentieren (Bultmann et al. 1995). Der Ökonom Alvaro Diaz von dem chilenischen Forschungsinstitut SUR betont in seinem Beitrag die Umwälzungen, die große Teile der Arbeiterklasse, aber auch der herrschenden Klasse seines Landes erlebt haben. Im Bereich der Arbeitswelt ist sicherlich die wichtigste Verschiebung die enorme Ausdehnung ungesicherter Arbeitsverhältnisse als vorläufig letztes Wort der Globalisierungstendenzen des Kapitalismus: Immer deutlicher wird, dass prekäre Beschäftigung in Lateinamerika weder als eine „atypische" Form der Beschäftigung interpretiert werden kann, noch als eine Art Regelwidrigkeit oder Ausnahme im Marktgeschehen, als Konsequenz von Stagnation oder als Phänomen, das nur in traditionellen oder kleinen Betrieben auftritt. Die prekäre Beschäftigung stellt offensichtlich keine traditionelle Form unternehmerischen Verhaltens dar, sondern ist Resultat eines Typs

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Dieser Moment wird von James Petras als zweite Niederlage der chilenischen Linken (nach 1973) interpretiert (Petras/ Leiva 1994). Sein Buch über Demokratie und Armut in Chile enthält zwar sehr polemische Passagen, ist aber außerordentlich wertvoll, wenn es darum geht, den Demokratisierungsprozeß in Chile zu verstehen. In den Schriften der halboffiziellen Interpreten des neuen demokratischen Regimes wird es allerdings nicht zitiert.

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kapitalistischer Modernisierung, der sich sowohl in Mexiko als auch in Chile durchgesetzt hat. Er manifestiert sich in der mexikanischen MaquiladoraIndustrie ebenso wie in den Sektoren der chilenischen Industrie, in denen erneuerbare natürliche Ressourcen wie Obst, Fisch und Holz weiterverarbeitet werden, also in Sektoren, die in beiden Volkswirtschaften die „Speerspitze" bilden. (Díaz 1995: 60f.). Ebenso wichtig sind die Bemerkungen von Diaz über das neue Erscheinungsbild der Unternehmer: Oft wird angeführt, durch autoritäre Staaten und besonders durch neoliberale Politikmodelle würden die Zivilgesellschaften niedergewalzt oder zumindest fragmentiert. Im Fall Chiles stimmt das zwar, besonders für die wildeste Phase der Diktatur von 1973 bis 1981, ist aber nicht die ganze Wahrheit. Zunächst einmal beschränkte sich die chilenische Diktatur nicht darauf, die Zivilgesellschaft der unteren Mittel- und Unterschichten zu zerstören, sondern sie baute gleichzeitig mit der Geschäfts- und Untemehmerwelt die bürgerliche Zivilgesellschaft wieder auf. Während soziale Beziehungen im Bereich der unteren sozialen Schichten zerstört wurden, förderte die Diktatur einen neuen Unternehmertyp, eine neue Welt der Oberschichten, die sich im Gegensatz zur Vergangenheit und jenseits korporativistischer Schemata mehi und mehr gegenüber dem Staat verselbständigte, obwohl sie mit der technokratischen Elite und dem Militär immer eng verbunden blieb. Im Verlauf dieses Prozesses konnten sich nicht nur das Großkapital und die Konzerne wieder konstituieren, sondern die Bourgeoisie baute ihren sozialen Fvinfluss aus Der Gewinn im Sinne ökonomischen Kalküls etablierte sich in wichtigen Sektoren der Gesellschaft. Der Unternehmer, der Markt, der Wettbewerb, die Spekulation und der besitzorientierte Individualismus wurden vor der gesamten Gesellschaft legitimiert. (Diaz 1995: 50f.). Wenn wir uns wieder der Konstruktion von zwei Zivilgesellschaften zuwenden, wird deutlich, dass die objektive wirtschaftliche Entwicklung der vergangenen zwei Jahrzehnte ständig die Basis der Zivilgesellschaft der unteren Schichten aushöhlte, während sie zugleich die bürgerliche Zivilgesellschaft, wie Álvaro Diaz sie charakterisiert hat, ungeheuer gestärkt hat. In den meisten aktuellen Arbeiten zum Thema „Zivilgesellschaft" findet sich nur wenig von diesen Überlegungen. Das Konzept hat seine Herkunft aus sozialen Auseinandersetzungen abgestreift und sich in die Welt der intellektuellen Trockenübungen begeben, wo politische Prozesse angeblich getrennt vom Prozess der Produktion und Verteilung verlaufen. Die heute gängige Verwendung des Terminus „Zivilgesellschaft" tendiert stark dazu, die herrschende Ideologie zu bestätigen, und das in mehrfacher Hinsicht: 1. Mit der vereinfachten Gegenüberstellung von Staat und Zivilgesellschaft wird der Eindruck erweckt, die Stärkung von allem, was sich nicht unmittelbar in

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staatlicher Abhängigkeit befindet, sei ein Schritt in Richtung auf gesellschaftliche Emanzipation. Es liegt auf der Hand, dass diese Argumentation dem neoliberalen Denken sehr nahe kommen kann: So könnte man leicht zu dem Schluss gelangen, eine jede Privatisierung sei ein Schritt in Richtung auf eine weitere Entfaltung der Zivilgesellschaft. 2. In der Regel birgt die Verwendung des Begriffs „Zivilgesellschaft" die Gefahr, die Differenzen innerhalb der real existierenden Gesellschaft zu verschleiern: soziale Klassen, wirtschaftliche Machtgruppen, Monopole oder das transnationale Kapital verschwinden - stattdessen treten „Akteure" auf, die im Prinzip alle die gleichen Rechte und Möglichkeiten haben, am politischen Wettkampf teilzunehmen. 3. Die „Zivilgesellschaft" meint man vor allem in den Nicht-Regierungs-Organisationen zu erkennen, die aus einer gänzlich staatsfreien Sphäre zu stammen scheinen. Mittels des Konzepts der Zivilgesellschaft verwischt man die enormen Unterschiede zwischen NROs, die tatsächlich im Interesse von Basisorganisationen tätig sind, und solchen, die nur einigen gewandten Intellektuellen Beschäftigung bieten, bis hin zu denen, die direkt als Werkzeuge des großen Kapitals agieren (Meschkat 1997). Es wäre interessant, die Rolle der großen Untenehmensstiftungen in Lateinamerika zu betrachten und ihren Einfluss auf solche Bereiche zu untersuchen, die zuvor in staatliche Zuständigkeit fielen, wie die Berufsbildung oder die Sozialarbeit. Inzwischen gibt es neue Studien, die zunehmend Zweifel an der Nützlichkeit des Konzepts „Zivilgesellschaft" äußern. Trotzdem mag sich kaum ein Autor von einem derart unbestimmten Konzept trennen. Einige sind sich zwar im Klaren über die Vieldeutigkeit in der Verwendung des Begriffes, wollen die Idee aber für die Befreiungskämpfe der Unterschichten erhalten. So begründet Jenny Pearce in einem der besten Artikel zu diesem Thema, warum sie an dem Begriff festhält, obgleich es ohne Zweifel die Tendenz gibt, „Zivilgesellschaft" mit Marktwirtschaft gleichzusetzen: (...) wie der Liberalismus auf die Dauer nicht die ausschließliche Ideologie der Bourgeoisie bleiben konnte, so hat auch das Konzept der „Zivilgesellschaft" seine Bedeutung für die gesellschaftliche Organisation der Ausgeschlossenen und Marginalisierten in einer Region, in der der Reichtum heutzutage anerkanntermaßen extrem ungleich verteilt ist. Das Konzept legitimiert ihre Bemühungen, an den neuen oder wiederbelebten demokratischen Strukturen auf nationaler oder lokaler Ebene teilzuhaben, Parteiapparate zur Rechenschaft zu ziehen und in einer Region, die mehr an die Sprache der Gewehrläufe gewöhnt war, „zivile Umgangsformen" im politischen Leben einzufordern... Inwieweit die zivilen und militärischen Eliten Lateinamerikas eine erneute Zunahme der

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Organisation unter den sozial und wirtschaftlich Ausgeschlossenen dulden wird, wird abzuwarten sein. (Pearce 1997: 81). Hier dient „Zivilgesellschaft" als Parole, die die Unterprivilegierten in ihren Bemühungen unterstützen soll, sich zusammenzuschließen, ihre untergeordnete gesellschaftliche Position zu verlassen und volle Bürgerrechte zu erkämpfen. Aber dies ist keineswegs die am meisten verbreitete Verwendungsweise des Konzepts. Unter Berufung auf die Zivilgesellschaft versuchen viele Autoren, die Augen vor der Konfrontation zwischen gegensätzlichen sozialen Kräften zu verschließen und sich in die Welt der herrschaftsfreien Kommunikation zu flüchten (Lauth/ Merkel 1997: 16f.). In einer so konstruierten „Zivilgesellschaft" sind nicht alle sozialen Bewegungen legitime Akteure: Sie müssen jeglicher Neigung zur Gewalt abschwören (wie weit sind da Mobilisierungen noch zulässig?), um den Kriterien der neuen Demokratietheoretiker gerecht zu werden. Die Realität der lateinamerikanischen Länder lässt sich nicht leicht mit solchen Konstruktionen sozialer Harmonie in Einklang bringen. Daher fragen manche Autoren, die die grundsätzlichen Widersprüche innerhalb ihrer Gesellschaften nicht völlig ignorieren, weshalb sich der politische und wissenschaftliche Sprachgebrauch gewandelt hat: (...) der praktische Verzicht auf den Begriff des „Volkes" und seine Ersetzung durch den der „Zivilgesellschaft" bedeutet nach unserer Meinung mehr als nur eine veränderte Wortwahl. Es ist der Wechsel von einem integrativen Konzept zu einem anderen, das diese Eigenschaft nicht hat. In der politischen Sprache Venezuelas hatte der Begriff „Volk" eine besondere Bedeutung, die die unteren Schichten umfasste, die Marginalisierten, Hinz und Kunz gewissermaßen, als Subjekte zur Kenntnis nahm und sie als Bürger in die politische, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung einbezog. Unserer Ansicht nach sind solche Werte im Konzept der „Zivilgesellschaft" nicht enthalten, denn sie geht ihrer Definition nach von der Existenz einer Vielfalt von Gruppen aus, die sich im Hinblick auf Macht, Information, Fähigkeiten und Einfluss unterscheiden und die autonom ihre jeweils eigenen Interessen artikulieren. Bisher jedenfalls hat die „Zivilgesellschaft" noch keine Mechanismen vorgestellt, um Gruppen und Individuen, die hinsichtlich dieser Ressourcen benachteiligt sind, einzubeziehen oder gar ihre Bedürfnisse aufzunehmen. (Pérez Campos 1997: 150). So betrachtet scheint das Konzept „Zivilgesellschaft" wenig geeignet zu sein, um die Sehnsucht der unterdrückten Schichten nach gesellschaftlicher Befreiung auszudrücken. Diese Schichten oder die in ihnen verankerten sozialen Bewegungen nehmen in den verschiedenen Aufzählungen der Bestandteile einer „Zivilgesellschaft" keinen besonders hervorgehobenen Platz ein (Lauth/ Merkel 1997: 17; Costa 1997: 207). Von einer obligatorischen Erwähnung der NROs einmal abgesehen gibt es keine klaren Kriterien, die festlegen könnten, welche Organisationen zur „Zivilgesellschaft" gehören und welche nicht - dies ist ein weiterer

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Grund, um die analytische Brauchbarkeit dieses Konzepts für die Sozialwissenschaften in Zweifel zu ziehen. Als die Konjunktur der frontalen Auseinandersetzungen zwischen einem repressiven Staat und Gruppen, die sich von dieser Repression befreien wollten, zu Ende ging, verlor das Konzept seine klaren Umrisse - und nun kann es mit den verschiedensten Spielarten von Sozialphilosophie gefüllt werden. Es gibt gute Gründe, den analytischen Wert des Konzepts „Zivilgesellschaft" für die Sozialwissenschaften in Zweifel zu ziehen. Vielleicht wäre es wirklich empfehlenswert, den Begriff in wissenschaftlichen Debatten zu vermeiden, die über die übliche politische Phrasendrescherei hinaus gelangen wollen. In der Regel ist es durchaus möglich, auf konkrete soziale Tatsachen und Prozesse Bezug zu nehmen und ohne einen allgemeinen Begriff auszukommen, den jeder nach Geschmack interpretieren kann. Dennoch ist festzuhalten, dass die „Zivilgesellschaft" als Schlachtruf für die Kämpfe der Unterdrückten und Ausgebeuteten dienen kann, wie die Erklärungen der Zapatistenbewegung in Mexiko zeigen. Es geht also nicht darum, die Verwendung von Begriffen zu zensieren, die in konkreten Auseinandersetzungen ihre spezifische Bedeutung haben. Aber niemals kann auf die Anstrengung verzichtet werden, den Zusammenhang zu begreifen, in dem die Inhalte politischer Konzepte sich bilden und verändern. Nur auf der Grundlage solcher Überlegungen kann der Gefahr begegnet werden, dass ein Losungswort der Befreiung zu einem Bestandteil der herrschenden Ideologie wird.

Literatur Bendel, Petra/ Sabine Kropp (1997): Zivilgesellschaften und Transitionsprozesse im interregionalen

Vergleich Lateinamerika

- Osteuropa.

Em

empirisch-

analytischer Beitrag. Arbeitspapier Nr. 1 des Zentralinstituts für Regionalforschung, Universität Erlangen-Nürnberg. Bultmann, Ingo/ Hellman, Michaela/ Meschkat, Klaus/ Rojas, Jorge (Hgg.) (1995): Demokratie ohne soziale Bewegung? Gewerkschaften, Stadtteil- und Frauenbewegungen in Chile und Mexiko. Unkel/ Bad Honnef.

Costa, Sergio (1997): Die Attraktivität des Begriffs Civil Society. Zur Rezeption in Brasilien, in: Braig, Marianne (Hg.): Festschriftfür Renate Rott. Berlin. Diaz. Älvaro (1997): Strukturanpassung, sozialer Wandel und die Auswirkungen auf die sozialen Akteure, in Bultmann u.a. (Hg ): Demokratie ohne soziale Bewegung? Gewerkschaften, Stadtteil- und Frauenbewegungen

in Chile und

Mexiko. Unkel/Bad Honnef. Imbusch, Peter (1995): Unternehmer und Politik in Chile. Frankfurt a. Main.

Zur Ideologie der „ Zivilgesellschaft

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Lauth, Hans-Joachim/ Merkel, Wolfgang (1997): Zivilgesellschafi und Transformation. Ein Diskussionsbeitrag in revisionistischer Absicht, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, Jg. 10, Heft 1, 12-34. Meschkat, Klaus (1997): Apriorischer Altruismus. Nichtregierungsorganisationen in politischen Umbruchsituationen - Beispiele aus Zentralamerika, in: epd-Entwicklungspolitik 13/97 (Juli), 27-32. Oxhorn, Philip (1995): Organizing Civil Society. The Popular Sectors and the Struggle for Democracy in Chile. University Park, Pennsylvania. Oxhorn, Philip (1995a): From Controlled Inclusion to Coerced Marginalization: The Struggle for Civil Society in Latin America, in: Hall, John A. (Hg ): Civil Society. Theory, History, Comparison. Cambridge. Pearce, Jenny (1997): Civil Society, the Market and Democracy in Latin America, in: Democratization, Vol. 4. Nr. 2, 57-83. Pérez Campos, Magaly (1997): El discurso de la sociedad civil, in: Sic (Caracas) Año LX, Nr. 594, 151-154. Petras, James und Fernando Ignacio Leiva (1994): Democracy and Poverty in Chile. The Limits to Electoral Politics. Boulder/ San Francisco/ Oxford.

Öffentlichkeit

in

Iberoamerika

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Hilda Sabato ÖFFENTLICHKEIT IN IBEROAMERIKA.

ÜBERLEGUNGEN

ZUM GEBRAUCH EINER KATEGORIE 1. Im Kontext einer wiedererwachten Beschäftigung mit der Demokratie und einer Neubewertung der Rolle der Zivilgesellschaft bei ihrer Festigung ist das Verhältnis dieser Zivilgesellschaft zum Staat zu einem Schlüsselthema der politischen und akademischen Diskussion unserer Zeit geworden. Klassische Begriffe der politischen Philosophie wie Bürgertum und Repräsentation stehen ebenfalls im Mittelpunkt meiner Überlegungen. Ein neuerer Gedanke, jedoch ebenfalls von klassischen Problemen abgeleitet, hat dabei an Gewicht gewonnen, nämlich der Begriff der Öffentlichkeit, der sich mit unterschiedlichen theoretischen Färbungen im zeitgenössischen politischen Vokabular etablieren konnte. Es war vor allem die Begrifflichkeit von Jürgen Habermas, die auf das größte Interesse stieß und die hitzigsten Diskussionen entfachte. Sein Buch Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962), ursprünglich in deutscher Sprache Anfang der sechziger Jahre veröffentlicht und ein Jahrzehnt später in Italienisch und Französisch, wurde in den achtziger Jahren neu aufgelegt und ins Spanische sowie später ins Englische übersetzt; es erzielte damit eine viel größere Wirkung und Verbreitung als zum Zeitpunkt seiner Erstveröffentlichung. Der von Habermas entwickelte Begriff der Öffentlichkeit hat nicht nur die Theoriedebatte genährt, sondern zahllose soziologische, politikwissenschaftliche und historische Arbeiten angeregt, deren zentrale Fragestellung die des Aufbaus und der Konsolidierung der Demokratie in den zeitgenössischen Gesellschaften ist.1 Die jüngste Geschichtsschreibung über Lateinamerika hat sich dieser Problematik ebenfalls zugewandt und Themen wie den Staatsbürger, Repräsentation und Öffentlichkeit in erneuerter Form aufgegriffen, um einer keineswegs neuen Frage in der Geschichte der Region nachzugehen, nämlich wie die politischen Gemeinschaften aufgebaut wurden und wie die politische Macht in ihnen organisiert, erhalten und übertragen wurde (oder nicht). Im Folgenden gehe ich von diesen jüngsten Veröffentlichungen aus und komme dann zu einigen Überlegungen zur Erforschimg der Öffentlichkeit im iberoamerikanischen Kontext des 19. Jahrhunderts. 2. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts begann in Spanien und seinen amerikanischen Kolonien eine Periode umfassenden Wandels, der die politische Szene von 1

S. z.B. die ausfuhrliche Bibliographie in der Zeitschrift New German Critique, 1994 (Strum 1994).

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Grund auf veränderte. In kurzer Zeit stürzte das Gebäude der Monarchie ein, das die Herrschaft über die Reiche und Untertanen auf beiden Seiten des Atlantiks zusammengehalten hatte. Auf den Zerfall der königlichen Macht folgten verschiedene Versuche, neue Grundlagen für eine Ordnung zu schaffen. Diese Versuche scheiterten einer nach dem anderen, das alte Reich bröckelte und das koloniale Amerika zerfiel in zahlreiche Räume, von denen auch noch Kriege und Revolutionen ausgingen. So begann die konfliktreiche Geschichte der Bildung neuer politischer Gemeinschaften, der Neudefinition von Souveränitäten, der Errichtung neuer politischer Gewalten und Regime. Trotz der Unterschiedlichkeit der Gegebenheiten vom Rio de la Plata bis nach Neuspanien lieferte das liberale Gedankengut in seinen verschiedenen Ausprägungen ein Gutteil der normativen Grundlagen für die Aufbauphase. Die unabhängigen Regierungen gründeten sich auf das Prinzip der Volkssouveränität, und die repräsentative Republik setzte sich in der Mehrzahl der früheren Kolonien durch (Halperin Donghi 1985; Safford 1987: 50-51). Obwohl Brasilien ein Fall ist, der erheblich abweicht, weil seine Unabhängigkeit von Portugal auf „friedlichem Verhandlungsweg..." erreicht und „die Trennung unter Beibehaltung der Monarchie und des Hauses Braganza vollzogen" wurde, errichtete man dennoch eine konstitutionelle Regierung, „ebenfalls in Übereinstimmung mit den Prinzipien des herrschenden Liberalismus" (Murilo de Carvalho 1995: 21-23). In diesem zwar instabilen und in ständiger Erneuerung begriffenen, dennoch aber gültigen normativen Rahmen entwickelten sich die konkreten Gestaltungsprozesse der neuen politischen Gemeinschaften. Es handelte sich um komplexe gesellschaftliche Prozesse, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts in die Errichtung moderner Nationalstaaten mündeten, ein keineswegs im Vorhinein programmiertes Ergebnis, das in jeder Region und an jedem Ort seine eigene, unverwechselbare Geschichte hatte.2 Daher unterscheidet sich das Bild erheblich von der Situation Frankreichs, Englands oder Deutschlands im 18. Jahrhundert, den Fällen also, auf denen Habermas seinen Öffentlichkeitsbegriff genetisch aufbaute. Da es sich aber um einen theoretischen Begriff handelt, geht seine Fruchtbarkeit über den geschichtlichen Rahmen, aus dem heraus er begründet wurde, hinaus. Die Geschichtsschreibung wiederum hat ihn eklektisch verwendet, angepasst oder gar forciert, um konkrete historische Situationen zu erfassen. Es geht mir hier nicht um diesen anachronistischen Gebrauch, sondern ich möchte untersuchen, wie diese Kategorie bei der

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Das kürzlich veröffentlichte Buch Everyday Forms of State Formation, das sich insbesondere auf Mexiko bezieht, enthält sehr interessante allgemeine Überlegungen zu dieser Frage (Joseph/ Nugent 1994).

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Iberoamerika

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Erforschung der Beziehungen zwischen Zivilgesellschaft und Staat in den zentralen Prozessen der Nationalstaatsbildung in Lateinamerika verwendet wird. 3. Insgesamt weisen die Arbeiten, die sich mit der Öffentlichkeit in unserer Region beschäftigen, einen zweifachen Schwerpunkt auf. Einerseits behandeln sie - in Übereinstimmung mit der Habermas'schen Perspektive - die Zivilgesellschaft, den Ort also, an dem sich diese Mittlerinstanz zum Staat theoretisch entwickelt hätte. Andererseits aber zielen sie auf den Staat selbst ab, denn von dort aus wurde über ein Gutteil des 19. Jahrhunderts hinweg gefördert, was man damals „Publizität" nannte und das direkt auf unsere Öffentlichkeit verweist. Die Rede von der Zivilgesellschaft und dem Staat stellt uns zwar voll in die Moderne, aber hier nehmen wir als Ausgangspunkt einen historischen Abschnitt, der gemeinhin als Transitionsperiode angesehen wird, nämlich die Jahrzehnte von den Reformen der Bourbonen bis zur Unabhängigkeit der früheren amerikanischen Provinzen Spaniens. François-Xavier Guerra sieht in der „Gesamtheit der vielfältigen Mutationen im Bereich der Ideen, Vorstellungen, Werte, Verhaltensformen..." eine „alternative Moderne", die sich in Europa und Amerika im Verlauf des 18. Jahrhunderts parallel zur „absolutistischen Moderne" entwickelte und sich gegenüber der letzteren in einem großen Teil Hispanoamerikas durchsetzen sollte, während der Alte Kontinent in die Monarchie und sogar in den Absolutismus zurückfiel (Guerra 1992. Kap. 3). Es war jedoch eine paradoxe Moderne, denn sie koexistierte mit gesellschaftlichen und kulturellen Formen der alten Tradition der Pakte, die die Bourbonen-Reformen und den revolutionären Wandel überlebt hatten (Guerra 1992: 51-52). Zur Erforschung und Erklärung der Neuheiten, die sich im 19. Jahrhundert festigen sollten, legt Guerra den Akzent auf die Veränderung der Bindungen zwischen den Menschen auf der Ebene der Geselligkeit. Wie in Frankreich und Spanien entstanden auch in Amerika Kaffeehaus-Stammtische, Klubs, wissenschaftliche Gesellschaften und andere Vereinigungsformen neuen Typs, die „ihre Legitimität nicht aus Gewohnheit oder Gesetz (wie die Gruppen und Körperschaften des Ancien Régime) ableiteten, sondern aus der Vereinigung selbst, aus dem Willen der Mitglieder" (Guerra 1992: 89-90). Diese wurden als untereinander gleichberechtigte Individuen angesehen, die durch freiwillige und damit kündbare Bindungen vereint waren und deren Beziehungen sich nach den Gesetzen der Vernunft richteten. Für Guerra ging von der Verbreitung dieser Art „moderner" Geselligkeit ein entscheidender Einfluss auf die Transformation der hispanoamerikanischen Gesellschaften aus, in dem Maße, in dem diese begannen, die grundlegenden Werte und Formen jener Geselligkeit zu übernehmen. Es war ein Kulturwandel, der vom Wachstum der Privatsphäre und der Initiative der Bildungseliten ausging,

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die bis zur Etappe der Revolution den Kern dieser Vereinigungen bildeten. Erst später breiteten sich diese Praktiken nach unten aus und wurden schließlich durch die Schaffung erweiterter Freiräume und einer unabhängigen Presse öffentlich. Mit ihnen, so Guerra, „entsteht erst die moderne 'öffentliche Meinung' und das, was man mit Habermas als 'politische Öffentlichkeit' bezeichnen kann (...) als vom Staat unabhängige moralische Instanz, die im Namen der Vernunft nicht nur die Gültigkeit der Regierungsmaßnahmen beurteilt, sondern auch die allgemeinen Grundsätze, die in der Gesellschaft gelten sollen" (Guerra 1992: 227). Der gesamte Prozess der kulturellen Modernisierung erscheint hier als Vorbedingung der Unabhängigkeitsbewegung. Diese Interpretation entfernt sich wegen der Schlüsselrolle der Kultur entschieden vom theoretischen Ansatz Habermas', teilt aber mit ihm die Betonung der Entwicklung von Vereinigungs- und Geselligkeitsformen als Hauptmechanismus der Gestaltung einer zunächst literarischen und später politischen Öffentlichkeit. Obwohl Guerra die Rolle des absolutistischen Staats bei der Verbreitung der „Aufklärung" nicht verschweigt, geht in seinem Schema die bedeutendste Transformation vom Handeln der Bildungseliten aus, die sich der Monarchie entgegenstellten. 4. Das lange Jahrzehnt der Revolutionen und Kriege, die den amerikanischen Territorien Spaniens und Portugals die Unabhängigkeit brachten, läutete in großen Teilen dieser Territorien eine noch längere Periode von Konflikten über die Definition der neuen politischen Gemeinschaften ein. Die Unterschiedlichkeit der Situationen kann jedoch nicht verdecken, dass der Gestaltungsprozess einer politischen Öffentlichkeit, die Guerra in der späten Kolonialzeit entdeckt, keine geradlinige und stetige Entwicklung erfuhr. Im Verlauf der ersten Hälfte der 19. Jahrhunderts gab es Zeitpunkte und Orte, an denen sich die Formen moderner Geselligkeit ausweiteten, eine verhältnismäßig unabhängige Presse zirkulierte und aus der im Aufbau befindlichen Zivilgesellschaft heraus Handlungsinstanzen gegenüber dem Staat (Lokal-, Provinz-, Regional-, nationale Ebene) unbeschadet seiner Form und des Grades seiner Konsolidierung entstanden. Dies scheint in Buenos Aires von 1820 bis 1830 und in Lima bis Mitte der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts der Fall gewesen zu sein; die Zahl der Salons, Vereine und Klubs nahm zu, und die Druckerzeugnisse weiteten sich aus, insbesondere die Presse. Wenig später jedoch erlosch das öffentliche Leben in beiden Städten; erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts lebte es mit erneutem Schwung wieder auf (Gonzälez-Bernaldo 1992; Forment 1998). Zum Verständnis dieser Auf- und Abwärtsbewegung reicht die Betrachtimg der Zivilgesellschaft und die Erforschung des zu ihrer Organisation führenden kultu-

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rellen, wirtschaftlichen und politischen Wandels oder die Suche nach Modernisierung nicht aus. Jüngere Arbeiten machen auf die Rolle des Staats gegenüber der Öffentlichkeit aufmerksam, während letztere ihrerseits einen unübersehbaren Bezugspunkt für die Errichtung der politischen Regime Iberoamerikas darstellt. Wie bereits erwähnt, gründete sich die Ausübung der politischen Gewalt in ganz Iberoamerika auf die Prinzipien der Volkssouveränität und der modernen Repräsentation, die in den Verfassungen festgelegt und von den siegreichen Eliten nach der Unabhängigkeit in sämtlichen Parteien und Regionen 3 ideologisch aufrechterhalten wurden. Daher war angesichts der geltenden Nations- und Staatsbegriffe die Schaffung eines politischen Bürgertums ein Hauptaspekt des gesamten Prozesses; dies implizierte die Definition und Umsetzung moderner Repräsentationsmechanismen. Die aufgeklärten Eliten diagnostizierten in den Jahren nach der Unabhängigkeit beim größten Teil der Bevölkerung der neuen Republiken fehlende Voraussetzungen für die Anforderungen des repräsentativen Systems. Grundsätzlich spiegelte sich das aber im Wahlrecht nicht wider, das anfänglich in fast allen Fällen für die erwachsene männliche Bevölkerung praktisch umfassend war (Guerra 1993). Und obwohl dieser anfänglichen Breite später an mehreren Orten restriktive Vorschläge im Sinne des Modells der französischen Lehre oder Einschränkungen durch indirekte Wahlsysteme folgten, erschien dies nur als vorübergehende Milderung eines Problems, das tiefergreifende Lösungen verlangte. Für die Bildungseliten ging es vor allem darum, den Bürger zu „erfinden" (Myers 1997: Kap. 2), indem sie die Prinzipien und Werte der Aufklärung nach unten verbreiteten und Praktiken förderten, die zur Bildung von Staatsbürgern beitrugen. In einem Großteil Hispanoamerikas bedeutete das die Schaffung von Bildungs- und Kultureinrichtungen durch jene Regierungen, die solche Grundsätze vertraten, ebenso wie die Förderung ziviler Einrichtungen (Vereinigungen, Klubs usw.), die man als ideale Bereiche für die Entwicklung der Gebräuche und Haltungen des modernen Staatsbürgers ansah. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten diese Initiativen wechselnden Erfolg, aber im Allgemeinen erreichten sie ihre ehrgeizigen Ziele nicht, sei es wegen der Unfähigkeit oder 3 Obwohl im Verlauf des Jahrhunderts und an den verschiedenen Orten des amerikanischen Raums bei den hegemonischen, die politischen Gemeinschaften begründenden Vorschlägen bedeutende Unterschiede auftraten, vom Jakobinertum einiger anfanglicher Revolutionen bis hin zur konservativen Ausrichtung zwischen den 20er und 40er Jahren, hielten der republikanische und konstitutionelle Liberalismus um die Mitte des Jahrhunderts und die positivistische Welle des letzten Drittels in mehr oder weniger großem Ausmaß an den Grundprinzipien des liberalen Credos fest. Und obwohl in den Eliten selbst konservative Vorstellungen aufkamen, die schwerlich auf den Liberalismus zurückgeführt werden konnten und die mit ihm konkurrierten und sich zeitweilig durchsetzten, entstanden daraus jedoch niemals dauerhafte Alternativen (Halperin Donghi 1985; Safford 1987).

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Unbeständigkeit der Regierungen, die die Reformen in Gang setzten, sei es wegen der Widerstände in der Gesellschaft selbst oder aufgrund der Politik ihrer Nachfolger in der Regierungsgewalt. Die Schwäche, die der Prozess der Herausbildung der Zivilgesellschaft aufwies, schränkte die Rolle der Öffentlichkeit im politischen Leben der verschiedenen Staaten der Region ein. Das war jedoch kein Hindernis dafür, dass ein Großteil der Regierungen, aufgeklärt oder nicht, sich auf die „öffentliche Meinung" als Legitimitätsquelle beriefen. Schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hatte dieser Begriff in Europa begonnen, in den Diskussionen über die Grundlagen der politischen Autorität und Macht eine bedeutende Rolle zu spielen. Im vorrevolutionären Frankreich, so Keith Baker, „entwickelte sich der Begriff 'öffentlich' politisch zur Grundlage eines neuen Autoritätssystems, zur abstrakten Legitimationsquelle einer veränderten politischen Kultur" (Baker 1987: 231). Im liberalen Iberoamerika des beginnenden 19. Jahrhunderts sah man in der öffentlichen Meinung den Ausdruck des Bürgerwillens als ein grundlegendes Element des repräsentativen Systems, das man durchzusetzen gedachte. Natürlich kam es rasch zum Streit über Reichweite und Grenzen dieses Begriffs, ebenso wie über die Versuche, die Entstehungsquellen dieser „Meinung" soziologisch zu orten. Für die aufgeklärten Eliten, die in der ersten Hälfte des Jahrhunderts an der Macht beteiligt waren, konnte sie nur der rationale Ausdruck des in den modernen Instanzen der Geselligkeit entstandenen Bürgerwillens sein, unter denen die Presse einen zentralen Stellenwert einnahm. Neben dem Wahlrecht sollte sie die einzige Legitimitätsquelle politischer Macht sein und so die Gewalt der Waffen oder der traditionellen Institutionen ersetzen, auf die häufig zurückgegriffen wurde. Dies war mithin ein weiterer Grund dafiir, dass diese Eliten die moderne Geselligkeit und die Verbreitung der Presse forderten. Wenn allerdings die reale Öffentlichkeit ihrem rationalen und gebildeten Modell nicht entsprach oder ein Presseorgan die gepredigten Grandsätze oder die zu deren Festigung verkündeten Maßnahmen ernsthaft hinterfragte, so waren es die Regierungen selbst, welche schließlich die Freiheiten ignorierten oder einschränkten, die sie einst gefördert hatten (s. u.a. Myers 1997; Escalante 1992). Dieser Widerspruch war denen fremd, die regierten, ohne jene Freiheiten verteidigen zu wollen. Und in der Tat lernte Iberoamerika in dieser ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Regime kennen, die ihre Macht aus anderen Grundlagen ableiteten, und Regierungen, die ohne Umschweife die Presse zensieren, das Privatleben der Bewohner kontrollieren und die politische Opposition ausschalten ließen. In den Augen der Mehrheit der Regierten waren sie deshalb nicht unbedingt mehr oder weniger legitim und der Erfolg einiger dieser Regierungen beim

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Machterhalt über viele Jahre hinweg verdeutlicht die Schwäche der liberalen Werte, Gewohnheiten und Institutionen in einer Region, die sich doch schon früh für die liberale Welt entschieden hatte. In diesem Zusammenhang darf es daher nicht überraschen, dass es zwar Impulse aus der entstehenden Zivilgesellschaft zur Konstituierung einer Öffentlichkeit und gleichzeitig Bemühungen seitens ebenso prekärer Staaten zur Förderung dieses Vorhabens gegeben hat, die Ergebnisse jedoch kurzlebig, schwach und politisch gesehen nur teilweise von Bedeutung waren. 5. Das in den Arbeiten über die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgezeigte Panorama unterscheidet sich demgegenüber erheblich. Obwohl die Heterogenität der Situationen je nach Region die Regel blieb, setzten sich in einem Großteil Iberoamerikas Prozesse der Machtzentralisierung und Konsolidierung des Staates entschieden durch. Während gleichzeitig die Volkswirtschaft wuchs und sich mit Weltmarkt und Weltkapitalismus verknüpfte, diversifizierte sich die Gesellschaftsstruktur in den dynamischsten Bereichen und wurde komplexer. Dennoch bestand das Problem der Errichtimg einer stabilen politischen Ordnung weiter, und in mehreren der größten Länder der Region wurde dieser Konflikt erst im letzten Viertel des Jahrhunderts durch die Errichtung starker, autoritärer und hegemonischer Regime abgelöst. Eine Reihe neuerer Arbeiten weist auf die Entwicklung von Institutionen und Aktionsformen hin, die als Symptome der Stärkung der Zivilgesellschaft und ihrer Trennung vom Staat verstanden werden können. Um die Mitte des Jahrhunderts weitete sich im Zuge der Vermehrung moderner Städte das Vereinsleben aus. In Hauptstädten wie Bogotá, Buenos Aires, Lima, Mexiko, Rio de Janeiro oder Santiago verbreiteten sich rasch Vereinigungen der verschiedensten Art - Vereine für Hilfe auf Gegenseitigkeit, gesellschaftliche und kulturelle Klubs, literarische Zirkel, Freimaurerlogen, Standesorganisationen, Festkomitees, Solidaritätsvereine - die sich mit spezifischen Zielsetzungen organisierten, aber schnell zu öffentlichen Akteuren, zu Mittlern gegenüber dem Staat wurden. Außerdem gab es in einigen Sektoren der städtischen Bevölkerung damals eine besondere Wertschätzung der sogenannten Vereinsbewegung, die als Keimzelle einer freien und republikanischen Gesellschaft angesehen wurde, als Nährboden der Werte Gleichheit und Solidarität und als Brutstätte solidarischer Praxis. Diese Sicht entstammte mehreren der damals in Iberoamerika weitverbreiteten ideologischen Ansätze, von den verschiedenen Strömungen des Republikanismus im Allgemeinen bis hin zum utopischen Sozialismus oder bürgerlichen Katholizismus (s. zu diesem Abschnitt Escalante 1992; Forment 1998; Gazmuri

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1992; Gutiérrez 1995; McEvoy 1997; Murilo de Carvalho 1987 und 1990; Romero 1997; Sabato 1992 und 1998 a und b; Safford 1987). Es entwickelte sich damals auch eine verhältnismäßig unabhängige Presse, die nicht nur in den engen Kreisen der Intellektuellen zirkulierte. Die Erweiterung des Zeitungs- und Druckerzeugnisse verschiedenster Art lesenden Publikums war ein in allen wichtigen Städten gleichermaßen anzutreffendes Phänomen, das in einigen Fällen - z.B. Buenos Aires - beeindruckende Ausmaße erreichte: 1887 kam dort auf jeweils vier Einwohner eine Zeitung! Vereinigungen und Presse können aus der Sicht der Konstituierung einer politischen Öffentlichkeit als Symptome für die Stärkung der Zivilgesellschaft als einer vom Staat vergleichweise unabhängigen Handlungsinstanz verstanden werden, als entscheidende Bereiche in der Gestaltung eines Vermittlungsraums mit dem Staat und als Handlungsmedien in diesem Raum. Die Arbeiten, auf die ich mich hier beziehe, gehen folgendermaßen vor: sie stellen die Explosion im Vereinigungs- und Pressewesen fest, untersuchen deren Funktionieren, erforschen die öffentlichen Aktionsformen. In Bezug auf letztere wird in einigen Fällen deren Rolle in der Schaffung kollektiver Mobilisierungspraktiken herausgestellt, die obwohl häufig auf die Initiative von Vereinigungen oder der Presse zurückgehend, dennoch eigene Funktionssregeln hatten, eine Dynamik, die über die reguläre Institutionenpraxis hinausging. Zur Untersuchung dieser Phänomene reicht es auch in dieser Periode nicht aus, sich nur mit den Veränderungen in der Zivilgesellschaft zu beschäftigen, denn der Staat spielte dabei nach wie vor eine Hauptrolle. Die aufgeklärten Vorhaben waren zwar um die Mitte des Jahrhunderts zum Stillstand gekommen, aber in einigen Ländern vertieften sich unterschiedliche Formen republikanischen und bürgerlichen Gedankenguts bei den Eliten, die zu verschiedenen Zeitpunkten Zugang zur Macht hatten. Die unter solchem Einfluss stehenden Regierungen wollten die öffentliche Partizipation fördern und appellierten ebenfalls an die abstrakte Figur der öffentlichen Meinung, die sie in den Vereinigungen und der Presse verkörpert sahen. Diese Bemühungen fanden in der Zivilgesellschaft nicht immer Widerhall, und deren Äußerungsformen entsprachen auch nicht immer den Erwartungen der Regierungen. In jedem Fall stellte das Verhältnis zu dieser Gesellschaft via „Publizität" bzw. „Öffentlichkeit" ein Problem dar. Von „Öffentlichkeit" ist mithin in verschiedenen iberoamerikanischen Städten seit Mitte des 19. Jahrhunderts die Rede. Je nach Ort und Zeitpunkt sind die Unterschiede jedoch zahlreich und tiefgreifend. Es stellt sich zunächst die Frage, wo - in welchem Sektor oder Sektoren und wie diese zu definieren waren - die Organisation- und Vereinigungsinitiativen aufkamen, wer zur politischen Aktion

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aufrief und diese anführte, wer sich an ihr beteiligte. Gegenüber der allgemeinen Figur des Bürgertums bei Habermas tritt hier eine ganze Reihe gesellschaftlicher Akteure auf den Plan: die Gebildeten (oder einige von ihnen), die Freiberufler (oder einige von ihnen), die Handwerker (oder einige von ihnen), das Kleinbürgertum... Zweitens ist zu fragen, wie groß die Reichweite dieser Initiativen im Sinne der Konstitution einer über die Initiatoren hinausgehenden Öffentlichkeit war: in einigen Fällen erreichten sie die Hegemonie in der Urbanen Bevölkerung, in anderen vertraten sie kaum sich selbst. Es konnte auch zu einer Zersplitterung der Öffentlichkeit kommen; damit wird der Gedanke „einer" Öffentlichkeit selbst in Frage gestellt. Drittens war der Charakter der in der Zivilgesellschaft entstandenen Initiativen und Aktionen gelegentlich stark anti-staatlich und gegen die politische Gewalt gerichtet, während diese Ausrichtung in anderen Fällen nicht vorhanden war und Mäßigung sowie Konsens bezüglich der Grundlagen der politischen Gewalt vorherrschten. Schließlich konnte auch der Platz der Öffentlichkeit beim Aufbau der politischen Gemeinschaft stark variieren, ebenso wie die ihr vom Staat zugewiesene Rolle bei dessen Bemühen um die Errichtung einer stabilen Ordnung. 6. Alle diese regionalen und zeitlichen Unterschiede können die Zweckmäßigkeit oder gar Eignung des Öflfentlichkeitsbegriffs Habermas'scher Prägung in Frage stellen. Dieser Begriff hat es jedoch ermöglicht, eine Reihe konkreter geschichtlicher Phänomene zu benennen und ihnen historiographische Bedeutung zu verleihen. Phänomene, die mit den Beziehungen zwischen Zivilgesellschaft und Staat im Gestaltungsprozess der iberoamerikanischen Nationen zu tun haben. Indem sie auf ein theoretisches Problem aufmerksam gemacht hat, nämlich auf die als Folge der aus dem privaten Bereich stammenden Initiativen entstandene Vermittlung „zwischen dem Staat und den Bedürfnissen der Gesellschaft" (Habermas 1986: 68), hat diese Perspektive den Horizont der Untersuchungen zur Politik im 19. Jahrhundert erweitert. Bis vor wenigen Jahren waren solche Studien auf einen Blickwinkel beschränkt, der die staatliche Sphäre und die politische Gewalt gegenüber der Sphäre der Zivilgesellschaft privilegierte. Heute müssen wir uns jedoch vorsehen, nicht in eine umgekehrte Schieflage zu verfallen, und sollten dabei berücksichtigen, dass die Fruchtbarkeit dieser neuen Perspektive von unserer Fälligkeit abhängt, sie zu jedem Zeitpunkt und an jedem Ort flexibel und unter Abwägung ihrer Eignung einzusetzen.

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Manuel Antonio Garretón M. Z U R AKTUELLEN SITUATION UND NEUEN F R A G E N DER POLITISCHEN DEMOKRATISIERUNG IN LATEINAMERIKA Auf den folgenden Seiten will ich zunächst feststellen, worin die politischen Demokratisierungsprozesse der letzten Jahrzehnte in Lateinamerika bestanden haben. Zweitens gehe ich auf die vom Autoritarismus vererbten, offenen Probleme ein, insbesondere auf die Menschenrechte und die nationale Aussöhnung. Drittens werde ich die „nach vorne" gerichteteten Herausforderungen untersuchen, die sich den neuen demokratischen Regierungsformen stellen. Diese beziehen sich weniger auf ihre Konsolidierung als auf ihre Qualität und Bedeutung, d.h. auf die Wiederherstellung der politischen Gemeinschaft und des politischen Systems. Abschließend fuge ich einige Bemerkungen über die drei Aspekte an, welche die Zukunft der Demokratie in großem Maße bestimmen, nämlich Staat, politische Parteien und die Frage des Staatsbürgers.

1 Erfolge und Defizite der politischen Demokratisierung Zur Untersuchung der politischen Demokratisierungsprozesse, von denen die sogenannten „Transitionen" nur eine der möglichen Formen sind, muss man vom Grundbegriff der Demokratie als einer politischen Regierungsform ausgehen. Das politische System ist die institutionelle Vermittlung zwischen dem Staat und den Menschen, mit der Aufgabe, die Probleme des Regierens und der Staatsbürger zu lösen sowie die gesellschaftlichen Konflikte institutionell zu kanalisieren. Im engeren Sinne ist die Demokratie ein politisches Regime, d.h. ein institutionelles Vermittlungssystem zwischen Staat und Gesellschaft zur Lösung der Probleme des Regierens (wer regiert wie), der Staatsbürger (als Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft) und zur Regulierung der gesellschaftlichen Konflikte. Die Demokratie geht diese Probleme, die einem jeden politischen Regime zu Eigen sind, auf der Basis bestimmter Grundsätze bzw. eines Ethos und mit bestimmten ihr eigentümlichen Verfahren an. Zu diesen Grundsätzen und Mechanismen gehören die Gültigkeit der Menschenrechte, die staatsbürgerlichen Freiheiten und der Rechtsstaat, die Geltung der Volkssouveränität und die Wahl der Regierenden durch die Bürger in freien, allgemeinen und geheimen Wahlen, der Grundsatz des Machtwechsels und die Achtung von Mehrheiten und Minderhei-

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ten, der politische Pluralismus sowie die Repräsentation und Beteiligung an den öffentlichen Angelegenheiten. Die einzige zwingende, offenkundig aber nicht hinreichende Voraussetzung für eine Demokratie ist die Existenz einer historisch-sozialen Grundlage, die wir Gesellschaft oder Volk nennen, oder genauer gesagt, eine Polis. Der Begriff politische Demokratisierung bezieht sich auf diejenigen Prozesse, welche die Errichtung eines Kems demokratischer Institutionen zum Ziel haben, die - ausgehend von der historischen Situation eines politischen Systems mit nicht oder nur minimal bestehenden demokratischen Institutionen - als herrschende Regierungsform einer bestimmten Polis etabliert werden sollen. Die Aufbauprozesse demokratischer Institutionen in den letzten beiden Jahrzehnten, die im Mittelpunkt der Politik in Lateinamerika standen, also was wir als politische Demokratisierung bezeichnen, sind in drei Hauptrichtungen verlaufen, deren Merkmale sich je nach Land unterscheiden. Die erste war, bis auf einige Ausnahmen, die charakteristische Form der politischen Demokratisierung in Zentralamerika, nämlich die der Gründung. Es handelt sich hierbei um den erstmaligen Aufbau oder Wiederaufbau des politischen Systems von Grund auf, nach Konfrontationsphasen wie Bürgerkriegen und Revolutionen. In solchen Situationen fällt die politische Demokratisierung mit nationalen Wiederaufbau-, Befriedungs- und Verhandlungsprozessen wie nach einem Kriege zusammen, in denen die internationale Vermittlung und nicht primär politische Institutionen eine entscheidende Rolle spielen. In diesen Fällen geht die Transition zu demokratischen Formen außerordentlich langsam vonstatten, und die Regierungen schwanken zwischen einer konservativen Restauration der vorherigen Herrschaftsformen unter prekären demokratischen Bedingungen und einer wirklichen Demokratisierung. Die kämpfenden Gruppen müssen sich in einer schwierigen Metamorphose zur politischen Partei entwickeln, je nach Einzelfall mit Tendenzen zur Erhaltung paramilitärischer oder aufständischer Formen. Die zweite Hauptrichtung ist die Transition vom Typ eines formalen Militäroder autoritären Regimes, wie man ihn vor allem aus dem Süden des Kontinents kennt. In den Transitionsfallen gab es zwar keine interne militärische Niederlage, jedoch eine Art politische Niederlage der an der Macht befindlichen militärischen Führungsgruppe. Alle Transitionen zeichneten sich durch komplexe Verhandlungsprozesse und die Festlegung einer institutionellen Arena zur Beendigung der Diktatur aus, z.B. eine Verfassunggebende Versammlung, ein Plebiszit, Wahlen oder eine Kombination dieser Elemente. Die Schwere der politischen Niederlage des an der Macht befindlichen militärischen Führungskerns und die

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(Nicht)Existenz eines institutionellen Rahmens für das vom autoritären Regime angelegte, künftige demokratische System bestimmten die Manövrierfähigkeit und den Einfluss der Militärinstitution in der ersten Phase der Demokratie. Für das Militär steht die Erhaltung seiner Vorrechte auf dem Spiel, um sowohl als Machtfaktor, zumindest mit Vetogewalt, fungieren zu können, als auch um das zu verteidigen, was es als seine „Leistung" ansieht und um Straffreiheit für die während der Diktatur begangenen Verbrechen zu erreichen. In den Fällen, in denen weiterhin Guerrilla- oder aufständische Aktivitäten zu verzeichnen waren, hatten die Militärs einen Vorwand, um einen Teil des während der Transiüon verlorenen Einflusses bzw. Macht wiederzuerlangen. Der dritte Weg der politischen Demokratisierung war die auf die Transformation, Erweiterung oder den Ausbau der demokratischen Institutionen gerichtete Reform von formal nicht militärisch geführten oder autoritären Regimen, die unter primär autokratischen oder halbautoritären Formen bzw. als ausgrenzende Demokratien funktionierten, wie z.B. in Mexiko oder Kolumbien, oder wie in zerfallenden Systemen wie Venezuela. Diese politischen Reformprozesse beinhalten die institutionelle Transformation, sei es zur Einbeziehung der vom demokratischen Spiel ausgeschlossenen Sektoren, sei es zur Gestaltung einer wirklichen Polyarchie und eines Mehrparteiensystems, zur Beseitigung von Hindernissen für die Ausübung des Volkswillens, sei es zur Kontrolle faktischer Machtfaktoren außerhalb des Regierungssystems oder zur Kombination all dieser Dimensionen. Die vom herrschenden Regierungssystem oder der bzw. den Regierungsparteien durchgeführten demokratischen Reform-, Erweiterungs- und Ausbauprozesse setzen in dem Maße politisch-institutionelle Kontinuität voraus, in dem es zwar darum geht, die Regierungsform zu ändern, zugleich aber die Machtsituation aufrechtzuerhalten. In Wirklichkeit verbanden sich in nahezu allen Fällen zumindest Elemente der letzten beiden Prozesstypen, auch wenn einer davon überwog; außerdem gab es neben den als solchen erwähnten Gründungen noch einige Fälle mit Gründungselementen. Sowohl die Gründungen als auch die Transitionen von Militärdiktaturen oder autoritären Regimen zu demokratischen Regierungssystemen scheinen abgeschlossen bzw. nicht mehr die zentralen politischen Prozesse zu sein. Anders ausgedrückt, die großen Krisen der autoritären Regression oder Auflösung scheinen gebändigt. Ein Indikator dafür ist die Tatsache, dass es in allen Ländern, in denen es kritische Situationen bzw. die Möglichkeit der Regression gab, die Lösung nicht in der Wiedererrichtung von Militär- oder autoritären Regimen gesucht wurde. Anders verhält es sich mit den Fällen von Reformen und Erweite-

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rungen. in denen die demokratisierenden Tendenzen ständig von Teilrückfallen überlagert werden, weshalb der Prozess insgesamt langsam und wenig kohärent verläuft und man sich darüber streiten kann, ob sie als abgeschlossen anzusehen sind. Mit den aufgezeigten Einschränkungen scheinen die bestehenden, im formalen Sinn demokratischen Regierungssysteme jedenfalls konsolidiert zu sein. Man kann durchaus sagen, dass wir jenseits von Transition und Konsolidierung stehen. zumindest in dem Maße, in dem es falsch oder irreführend ist, die Vervollkommnung der Demokratie durch die Überwindung der ererbten autoritären Enklaven, welche mit dem vollen Funktionieren anderer demokratischer Institutionen koexistieren, weiterhin als Transition zu bezeichnen. Z.B. zu behaupten, die Transition sei in Chile nicht abgeschlossen, weil es noch autoritäre Enklaven gibt oder weil Pinochet immer noch als Chef des Heeres bzw. jetzt als Senator auf Lebenszeit fungiert, scheint analytisch und politisch weniger angebracht als zu akzeptieren, dass die sogenannte Transition zwar abgeschlossen ist, als Ergebnis allerdings eine unvollständige Demokratie gezeitigt hat. Anders gesagt: die Transitionen sind als besondere Prozesse in dem Sinne abgeschlossen, in dem sie aufgehört haben, die zentrale Dynamik darzustellen, die das gesamte Verhalten der beteiligten Akteure bestimmt. Dies bedeutet nicht, dass sie auf allen Ebenen erfolgreich waren. Die unerfüllten Aufgaben werden im Rahmen politischer und gesellschaftlicher Prozesse zu erledigen sein, welche als Transition zu definieren keinen Sinn macht. Das gleiche gilt für das Thema der Konsolidierung. Man kann unterscheiden zwischen einer Konsolidierung „nach hinten" oder gegenüber der Vergangenheit, d.h. der Absicherung gegen die Möglichkeit eines autoritären Rückfalls, und einer Konsolidierung „nach vorn" oder in Bezug auf die Zukunft, die darin besteht, die Bedingungen für demokratische Qualität zu sichern, um die Ursachen neuer Krisen oder Zusammenbrüche der Demokratie zu vermeiden. Auf diese Problematik werde ich später eingehen. Zu den Konsolidierungen „nach hinten" ist festzustellen, dass man im Allgemeinen konsolidierte postautoritäre Regierungssysteme vorfindet, dass aber das Konsolidierte, also was nicht anfällig für den Rückfall in frühere Gegebenheiten zu sein scheint, eben jene aus Transitionen hervorgegangenen, unvollständigen Demokratien mit ihren demokratischen und autoritären Elementen sind. Das Grundproblem ist also doppelter Natur. Erstens, welche Art von Demokratie wird in der Region und dem Kontinent sichtbar, um welche Art von Regierungssystemen handelt es sich? Zweitens, welche Transformationen benötigen diese Demokratien, um sich im Hinblick auf die Herausforderungen zu konsolidieren.

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die die lateinamerikanische Gesellschaft bzw. ihr aufkeimendes gesellschaftspolitisches Modell bestimmen? Zur ersten Frage: In fast allen Fällen haben wir es mit unvollständigen oder schwachen Demokratien zu tun. D.h. es handelt sich in einigen Fällen um Regierungssysteme, die zwar grundsätzlich demokratisch sind, jedoch noch manche Eigenarten des vorherigen Regimes aufweisen, die wir als autoritäre Enklaven bezeichnet haben. In anderen Fällen ist ein gewisser Zerfall des politischen Systems insgesamt zu beobachten, der die Regierung bedeutungslos macht bei der Erfüllung der Aufgaben, die jeder Regierung obliegen. Die autoritären Enklaven bedeuten nicht alle von den vorhergehenden Militäroder autokratischen Regimen ererbten Probleme, sondern jene Elemente, die per Definition zu solchen Regimen gehören, und die in dem nachfolgenden demokratischen System fortdauern und dessen Transition zu einer vollständigen politischen Demokratie verhindern. Es handelt sich um Einschränkungen des demokratischen Lebens oder des Ausdrucks der Volkssouveränität, die vom vorherigen Regime vererbt werden und fortbestehen, obwohl der Großteil der Transition abgeschlossen ist. Anders ausgedrückt, es handelt sich um ungelöste Probleme bzw. um ausstehende Aufgaben der Transition, die im postautoritären Regierungssystem angegangen werden müssen und die dessen Charakter als vollständige Demokratie begrenzen. Es gibt in diesen Ländern vier Arten autoritärer Enklaven, deren Existenz oder relative Stärke sowohl von der Natur des vorherigen Militärregimes als auch vom Typ der Transition abhängt. Erstens die institutionelle Enklave, d.h. die normativen, verfassungsmäßigen und gesetzgeberischen Elemente, die die Ausübung der Volkssouveränität, den Grundsatz der Repräsentation und das effektive Regieren der Mehrheit verhindern oder einschränken, oder die Prärrogativen der Streitkräfte gegenüber der politischen Gewalt aufrechterhalten, um einige Aspekte zu nennen. Zweitens die ethisch-symbolische Enklave, die in den Auswirkungen besteht, welche die Verletzungen der Menschenrechte unter Militärdiktaturen oder in Konfrontations- und Bürgerkriegssituationen auf die Gesellschaft haben. Hierbei gibt es auch eine institutionelle Dimension, z.B. die Amnestiegesetze oder die Unfähigkeit der Rechtsinstanzen, Gerechtigkeit walten zu lassen. Drittens die Enklave der Akteure, d.h. das Vorhandensein von Personen oder Gruppen, die sich als gesellschaftliche Akteure konstituieren und die weniger auf die demokratische Gegenwart und Zukunft abzielen, als vielmehr die Grundsätze und Orientierungen der vorangegangenen Diktatur auf die Umstände des demokratischen Regierungssystems zu projizieren oder an sie anzupassen trachten, indem sie auch die beginnenden demokratischen Mechanismen durch-

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zusetzen suchen, oder die den Kampf um die Macht durch Konfrontationen fortsetzen, die militärischer oder einfach außerinstitutioneller Art sein können. Viertens ist die kulturelle Enklave zu nennen. Dabei handelt es sich um jene Gewohnheiten und Stile der Eliten, aber auch der Mittel- und Unterschichten, die den Grundsätzen und Regeln des demokratischen Spiels zuwiderlaufen. Sie machen sich bemerkbar bei Gründungen oder als Folge von langjährigen autoritären Regimen oder nach Situationen außerinstitutioneller Konfrontationen bzw. bei den auf die Vorherrschaft von de facto-Gewalten folgenden Reformen zum Ausbau der Demokratie. Aus der historischen und auch kontrafaktischen Analyse aller politischen Demokratisierungserfahrungen lassen sich im Hinblick auf die ersten drei autoritären Enklaven zwei Hauptlehren ziehen; die kulturelle Enklave kann, wo es sie gibt, ohnehin nur langfristig angegangen werden. Die erste Lehre ist, dass solche Enklaven zu Beginn der Demokratie oder dem Zeitpunkt der Befriedung bekämpft werden müssen, wenn man die moralische Kraft und Legitimität der auf die Diktatur oder Konfrontation folgenden Regierung für eine nationale Vereinbarung zu diesem Thema nutzen kann. Lässt man die „Schonfrist" verstreichen und greift diese Themen verspätet auf, so werden sie Bestandteil des Spiels der unmittelbaren politischen Interessen - gemeinhin der Wahlinteressen - sämtlicher beteiligten Akteure. Die zweite, ungleich wichtigere Lehre ist, dass diese Enklaven schon aufgrund ihres Wesens miteinander verbunden sind und daher nicht völlig isoliert voneinander behandelt werden können, ihre Überwindung setzt eine Gesamtstrategie voraus. Jede Enklave hat schließlich ein ethisches oder demokratisches Minimum und ein politisch mögliches Maximum, und die Kombination beider Pole ist nur durch eine Gesamtbehandlung derselben zu überwinden. Eine optimale Lösung für jede einzelne ist unmöglich, und die beste bzw. ethisch akzeptable und gleichzeitig politisch mögliche Lösung besteht darin, die drei Enklaven auf die Waage zu legen, um sie zu überwinden. Nur so sind die überfälligen Aufgaben der Transition und des nationalen Wiederaufbaus und der Aussöhnung zu erfüllen. Aber wie bereits aufgezeigt, fuhrt nicht nur die Existenz autoritärer Enklaven zu unvollständigen Transitionen, Gründungen oder Reformen und zu schwachen Demokratien. Auch die Existenz von Situationen, in denen es nicht gelingt, die demokratische Macht zu institutionalisieren und legitimieren, und in denen die Gesellschaft weiterhin faktischen Gewalten ausgesetzt bleibt, die mit dem vorangegangenen Regime oder der früheren Situation zu tun haben können oder nicht, kann es besonders im Fall von Reformen und demokratischen Erweiterungen gelegentlich zu teilweisen Regressionen oder instabilen Formeln kommen.

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bei denen nicht ein demokratisches Regierungssystem stabilisiert wird, sondern eine Kombination autoritärer wie halbdemokratischer „Situationen" vorherrscht. Mit faktischen Gewalten, die in den Fällen des größten Zerfalls des politischen Systems eine entscheidende Rolle in der Region spielen, sind Organe oder Akteure gemeint, welche die einem politischen System eigentümlichen Entscheidungen - d.h. politische Gewalt, Staatsbürgertum, sowie Forderungen und Konflikte - außerhalb der Regeln des demokratischen Spiels behandeln. Das können außerinstitutionelle Organe und Akteure sein, z.B. nationale oder transnationale Konzerne, Korruption und Drogenhandel, aufständische und paramilitärische Gruppen, ausländische Mächte, korporative Organisationen, Massenmedien. Aber es gibt auch Akteure mit „de jure-" bzw. institutioneller Macht, die sich verselbstständigen und über ihre legitimen Funktionen hinausgehende politische Macht übernehmen und sich in de-facto-Gewalten verwandeln, z.B. die Staatspräsidenten (Hyperpräsidentialismus), die Justiz, die Verfassungsgerichte und, in vielen Fällen, die Streikräfte selbst. Sowohl die Merkmale der Prozesse, in denen Gradualität und Verhandlungskompromisse eine entscheidende Rolle spielen, als auch aus den autoritären Enklaven resultierende demokratische Beschränkungen, die fehlende Institutionalität und das Vorherrschen von de facto-Gewalten erklären zum Teil die Frustration einiger Sektoren und die verhältnismäßig weitverbreitete Enttäuschung. Es wird gesagt, die Demokratie habe trotz der Ausweitung der Freiheiten „im Leben der Menschen nichts geändert, für sie bleibt alles beim alten". Von einigen wenigen - allerdings bedeutenden - Ausnahmen abgesehen, hat die Wahlbeteiligung in der Region im letzten Jahrzehnt jedoch nicht abgenommen und liegt bei über zwei Dritteln, wenn man alle eingeschriebenen Wähler berücksichtigt, und mancherorts über der Hälfte der Bevölkerung im Wahlalter, ein im internationalen Vergleich durchaus akzeptables Niveau Ebenso hat die Akzeptanz der Demokratie als dem zum Leben am besten geeigneten politischen System nicht abgenommen und hält sich auf gleichfalls akzeptablem Niveau. Über das Fortbestehen einiger Probleme der demokratischen Transitionen hinaus und sich gelegentlich mit ihnen überschneidend lassen sich daher die Hauptherausforderungen der Demokratie in der Region heute besser bestimmen als Vertiefung (Ausweitung der ethischen Grundlagen und der Verfahrensweisen der Demokratie auf andere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens), Relevanz (Lösung der einem politischen System eigenen Probleme durch das System selbst statt durch de facto-Gewalten) und Qualität (Partizipation, Repräsentation und Zufriedenheit der Bürger bei Entscheidungen auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene).

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Es sind diese Phänomene, die die Stabilität der Regierungsformen, ihren eventuellen Zerfall und die Möglichkeit neuer Autoritarismuswellen bestimmen werden, d.h. die von mir so genannte Konsolidierung „nach vorn".

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Die Präsenz der Vergangenheit: Menschenrechte und Aussöhnung

Das von den Militärregimen oder den Konfrontationen und Bürgerkriegen, die den demokratischen Gründungen vorausgingen, ererbte große Thema war in beiden Fällen das der Verletzung der Menschenrechte. Die Frage der Menschenrechte ist damit, wie bereits erwähnt, eine der autoritären Enklaven in den entstehenden Demokratien. Betrachtet man diese Problematik ausschließlich mit Blick auf ihre Orientierungsgrundsätze Wahrheit und Gerechtigkeit, so konnten die Lösungen nur partiell und unzureichend sein, und in keinem Land wurde das Problem zufriedenstellend gelöst, weder aus ethischer Sicht, noch in Bezug auf die gesellschaftliche Legitimität oder als rein politische Lösung. Überall kam es zur Konfrontation zweier Logiken. Einerseits der ethisch-symbolischen Logik, die die ganze Wahrheit, ein Höchstmaß an Gerechtigkeit - was nichts anderes heißt als die Bestrafung aller Schuldigen - und die größtmögliche Wiedergutmachung verlangte. Andererseits die politisch-staatliche Logik, die das so verstandene Problem der Menschenrechte in den breiteren Zusammenhang des Demokratisierungs- oder Befriedungsprozesses stellte und daher bei Anerkennung des ethischen Prinzips, dieses mit dem politischen Kriterium der Vermeidung einer Destabilisierung durch die an den Menschenrechtsverletzungen Schuldigen verband. Den Spielraum zwischen diesen beiden Logiken versuchten militärische Organisationen und häufig auch die Justiz bewusst zu nutzen, um als Gegenleistung für demokratische Stabilität eine Amnestie oder Straflosigkeit zu erpressen. Wenn das Problem der Menschenrechtsverletzungen unter Diktaturen oder in verdeckten Bürgerkriegssituationen von den demokratischen Regierungen nicht gelöst werden konnte und m. E. auch nicht gelöst werden kann, so ist ihr Dilemma, das Thema Menschenrechte verstummen zu lassen oder beim jetzigen Stand einen Schlussstrich zu ziehen (Schlussstrichgesetze), oder es unter Anerkennung der Unvollkommenheit der durchgesetzten Lösungen wiederaufzunehmen. In vielen Fällen ist es sicher möglich, die bisher bestehenden Lösungen deutlich zu verbessern. In dieser Hinsicht ist an die Aufhebung der Selbstamnestien des Militärs, das explizite Eingeständnis ihrer Repression durch die Streitkräfte selbst usw. zu denken; dafür kann man sich auf Beispiele wie das Südafrikas berufen, das von der argentinischen Säbato- und der chilenischen Rettig-Kommission ge-

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lernt und deren Schwächen überwunden hat. Aber diese Wiederaufnahme muss in die Reform der beiden Institutionen münden, die die Menschenrechtsverletzungen unter den Diktaturen oder autoritären Systemen ermöglicht haben, nämlich Militär und Justiz; es geht also um eine grundlegende Revision und Neuformulierung des staatlichen Zwangs. Zwei zentrale Fragen stellen sich, wenn man zum Thema Menschenrechte in den politischen Demokratisierungsprozessen unserer Länder eine Bilanz ziehen will. Die erste, in die Vergangenheit weisende, zielt auf den Wiederaufbau der nationalen Gemeinschaft nach den tiefen Spaltungsprozessen - es ist das Thema der Versöhnung. Die zweite, der Zukunft zugewandt, bezieht sich auf die ethische Geltung und die Ausweitung der Menschenrechtsprinzipien. Für die erste Frage muss eine Bedeutung für den Begriff der Aussöhnung gefunden werden, welche die Verwirrung, Naivitäten und ideologischen Verwendungen vermeidet, mit denen man ihn bisher umgeben hat. Jenseits der religiösen und moralischen Sprache tritt das Thema der Aussöhnimg in Gesellschaften als Folge liefer nationaler Zerreißproben auf. Historisch betrachtet, werden Aussöhnungen implizit im Lauf der Zeit oder explizit durch einen Akt oder zu einem bestimmten Zeitpunkt erreicht, an dem die Menschen entscheiden, es sei besser zusammenzuleben als sich weiter gegenseitig zu töten, und sich als Mitglieder ein und derselben Gemeinschaft anerkennen, wie z.B. bei Befriedungen oder nationalen Wiedervereinigungen. Die Aussöhnung ist so ein Erkenntnisprozess im Bereich der Koexistenz, Verständigung und Zusammenarbeit und des zulässigen Konfliktes und Kampfes. Es handelt sich also um etwas immer Unfertiges, welches das Vorhandensein von Institutionen und Spielregeln voraussetzt, die für alle gelten. Aus nationaler Sicht zielt die Aussöhnung nach tiefen Zerreißproben daher auf die Wiedererrichtung der grundlegenden nationalen Einheit, ohne Kämpfe und Konflikte zu beseitigen. Diese nationale Einheit erfordert, soweit es ausschließlich die politische Demokratisierung angeht, die Überwindung zweier bedeutender Ausgrenzungen. Die erste hängt mit der historischen Einheit und Kontinuität zusammen, d.h. die Aussöhnung weist hier in die Vergangenheit, in die Geschichte und Lebensformen jenes Landes. Das beinhaltet die Abrechnung mit der Geschichte, bei der der Wert eines jeden Zeitabschnitts anzuerkennen ist, in dem es Versuche kollektiven kreativen Schaffens gab, und ebenso der gesellschaftlichen Gruppen, die sich daran beteiligt haben; hingegen sind die Epochen von Kriegen und massiver Repression negativ zu beurteilen. Ohne das kann es weder ein gemeinsames Land noch eine gemeinsame Geschichte geben. Die zweite zu überwindende Ausgrenzung ist die politische, in der der andere als Feind wahr-

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genommen wird. Diese Ausgrenzung oder Zersplitterung der Gesellschaft ist gewöhnlich tiefgreifender als andere, und zwar in dem Maße, in dem es keine Abstufungen gibt, sondern sie eher als total verstanden wird: man eliminiert den anderen (Krieg, Exekutionen, Exil, Verhaftung, Folter, Entführungen, Verschwundene) oder negiert ihn. Diese Ausgrenzung oder Fragmentierung entsteht aus einem Prozess, in dem es Sieger und Besiegte gegeben hat. Die zentrale Frage, um die es bei der Aussöhnung geht, ist die Schaffung von Institutionen, in denen sich die verschiedenen Personen, Sektoren oder Akteure als Teile ein und derselben Gesellschaft wiedererkennen. Das erfordert im Fall der Streikräfte (und anderer Kräfte, sofern es sie gibt, die zur Gewalt gegriffen haben) die grundsätzliche Anerkenntnis ihrer Verantwortung für die massive, brutale Repression. Ohne eine derartige Anerkenntnis wird die Gesellschaft geteilt bleiben. Andererseits werden ohne einen grundsätzlichen Akt der Anerkenntnis, Wahrheit, Gerechtigkeit und Entschädigung die Probleme der Vergangenheit immer die angemessene Behandlung der großen Herausforderungen der Zukunft vereiteln. So wird z.B. jede Diskussion über eine Verteidigungspolitik, über die Einschränkung der Militärausgaben oder über die Umgestaltung der Justiz mit Blick auf die Zukunft kontaminiert von der Rolle der Streitkräfte in der vergangenen Repression oder dem „schmutzigen Krieg" und von der Rolle der Justizinstanzen bei der Behandlung der Menschenrechtsverletzungen. Die zweite Frage im Zusammenhang mit den Menschenrechten bezieht sich auf deren Rolle in der Demokratie, über die Behandlung der in den vorangegangenen Regimen oder Situationen erfolgten Verletzungen hinaus. Hier sind drei Dimensionen anzusprechen. Erstens stellt sich die Frage des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit neu mit Blick auf die Forderung an den Staat nach Schutz gegen die aus der städtischen, kriminellen und familiären etc. Gewalt herrührende physische Bedrohung. Die zweite Frage berührt die Ausweitung der Menschenrechte auf die gesamte Bevölkerung, d.h. ihre praktische Universalisierung auf alle Menschen, die sie in ihrem wirklichen Leben nicht kennen, und die Überwindung der Hindernisse, die den Zugang zu ihnen verwehren (hier geht es vor allem um die Fragen der Bildung, Arbeit, Armut, Ungleichheiten, des Zugangs zur Justiz). Gleichzeitig gibt es in diesem Zusammenhang ein Problem der Qualitätsverbesserung dieses Zugangs. Schließlich ist über die Ausweitung und Qualitätsverbesserung hinaus ein Menschenrechtsproblem zu nennen, das die Menschen als Teil bestimmter sozialer Kategorien angeht (Alter, Geschlecht und Ethnie).

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Viele dieser Fragen haben mit der Neufassung der Rolle des Staatsbürgers und mit Problemen der Konsolidierung „nach vorn" zu tun, auf die ich noch zurückkommen werde.

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Zukunft und Wiedererrichtung der Polis

Die politischen Demokratisierungen sind zwar spezifische Prozesse, die sich auf den Bereich des politischen Systems beschränken und andere Probleme der Gesellschaft nicht lösen, sie sind aber auch der sichtbarste Teil eines tiefergreifenden gesellschaftlichen Wandels und ohne Bezug auf diesen nicht zu verstehen. Es wurde bereits erwähnt, dass die Demokratie eine Polis voraussetzt. Und dieser Begriff, der den Ort, den territorialen Raum, wo die Machtphänomene sich ereignen, bestimmt, erlebt zur Zeit eine Blüte, vor allem aufgrund der Probleme der Globalisierung und der Explosion der Identitäten. Der erwähnte Wandel hat auch mit dem Ende einer Epoche zu tun, deren Bruchmomente die Autoritarismen und später die wirtschaftlichen Anpassungsprozesse waren, ohne dass sie in der Lage gewesen wären, einen anderen Gesellschaftstyp an die Stelle der alten zu setzen. In der Tat, unter den Militärregimen der sechziger und siebziger Jahre oder unter dem politischen Zerfall in anderen Ländern scheint die von mir so bezeichnete klassische oder politikzentrierte gesellschaftspolitische Matrix, die von anderen national-populäre Epoche oder Populismus in seinen verschiedenen Strömungen genannt wird, an ihr Ende zu gelangen. Dieses gesellschaftspolitische Modell war gekennzeichnet durch den widersprüchlichen Zusammenfluss nationalistischer, entwicklungsorientierter und modernisierender Prozesse und zugleich durch eine auf den Binnenmarkt ausgerichtete Industrialisierung mit einer zentralen Rolle des Staates, durch die Präsenz einer Führung mit oligarchischen Komponenten und einer Mittelschicht sowie intensiven Mobilisierungsprozessen der Bevölkerung, und die Achse, um die sich alles drehte, war die Politik. Die lateinamerikanischen Gesellschaften gaben einer gesellschaftspolitischen Matrix den Vorzug, die - je nach Fall - eine Beziehung der Verschmelzung, Verknüpfung, Unterordnung oder Beseitigung von drei Elementen bestimmte: Staat, Repräsentationssystem und indidviduelle oder gesellschaftliche Akteure. In einigen Ländern ergab sich so die Verschmelzung dieser Elemente in der Figur des populistischen Führers, in anderen durch die Identifikation von Staat und politischer Partei oder durch die Verbindung von gesellschaftlicher Organisation und parteipolitischer Führung. Es traten auch Fälle auf, in denen das Parteiensystem alle gesellschaftlichen Splitter zusammenfügte oder wo korporativistische Organisationen die Gesamtheit des kollektiven Handelns umfassten, ohne einem un-

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abhängigen politischen Leben Spielraum zu lassen. In seinen verschiedenen Ausprägungen war es in diesen Ländern über lange Jahrzehnte hinweg das vorherrschende gesellschaftspolitische Modell. Den institutionalisierten Militärregimen und den wirtschaftlichen Reformprozessen gelang es, das national-populäre Modell brutal zu zerschlagen, sie vermochten jedoch keine alternative Matrix an seine Stelle zu setzen. Die Demokratisierungen haben daher nicht nur die Demokratie als unverzichtbares politisches System aufgewertet, sondern waren auch Bestandteil eines tiefergreifenden Wandels des lateinamerikanischen Gesellschaftstyps oder gesellschaftspolitischen Modells. Die Erfolge, Fehlschläge und Beschränkungen der demokratischen Transitionen, Reformen und Wiedergründungen sind besser zu verstehen, wenn man sie in diesen erweiterten historischen Zusammenhang des Epochenwandels und der Art der Verbindung zwischen Staat und Gesellschaft stellt. So wird die lateinamerikanische Problematik der nächsten Jahrzehnte neben der politischen Demokratisierung bzw. dem Aufbau demokratischer politischer Systeme, die die Befriedung und den Wiederaufbau der nationalen Gemeinschaft, ein nationales Zusammenleben und einen Nationalstaat bedingen, noch durch weitere große Prozesse neu bestimmt. Der erste Prozess ist die Transformation des alten, auf den Staat als Entwicklungsagenten gegründeten, „nach innen" gerichteten Entwicklungsmodells mit Blick auf die Einbeziehung der nationalen Wirtschaft in den Globalisierungsprozess der Weltwirtschaft. Dieses Erfordernis bedeutet keineswegs, dass sich diese Integration im Rahmen der neoliberalen Ideologie vollziehen muss. Im Gegenteil, die neoliberalen Formen haben lediglich eine partielle Integration und eine erneute Abhängigkeit verschiedener Sektoren bedeutet, womit man wieder auf einen dualen Gesellschaftstyp zusteuert. Im Sinne der mit der politischen Demokratisierung verbundenen Fragen - sie sind das, was uns hier interessiert - zeitigt das neue, weltweit sich durchsetzende Wirtschaftsmodell, das unbeschadet seiner mehr oder weniger konservativen Formen eher einen Bruch mit dem vorherigen als ein langfristig stabiles Entwicklungsmodell darstellt, verschiedene Folgen. In der Tat birgt das vorherrschende Wirtschaftsschema auf nationaler Ebene eine desintegrierende innerliche Tendenz in sich, während es auf supranationaler Ebene integrativ, allerdings offenkundig asymmetrisch wirkt. Das bedeutet die Zerschlagung der klassischen gesellschaftlichen Akteure (die der Arbeitswelt und dem Staat verbunden sind) und erschwert die Transformation der neuen Themen ungemein (Umwelt, Geschlechter, städtische Sicherheit, lokale und regionale Demokratie im Land usw.), ebenso wie die der neuen sozialen Kategori-

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en (altersmäßige, geschlechtsbezogene, ethnische, verschiedene, dem Konsum und der Kommunikation verbundene Gruppen der Öffentlichkeit) in politisch vertretungsfähige gesellschaftliche Akteure. Diese Zerschlagung von gesellschaftlichen Akteuren fällt mit der Schwächung der Handlungsfähigkeit des Staates zusammen, dem wichtigsten Bezugspunkt kollektiven Handelns in der lateinamerikanischen Gesellschaft. Das alles fuhrt zum Zerfall der Polis, der Hauptgrundlage eines jeden demokratischen Systems, dem seine Verwurzelung in der Gesellschaft entzogen wird. Soll die Demokratie nicht nur ein rein formaler Legitimationsritus der Marktmechanismen sein, welche die widersprüchliche Einheit Gesellschaft-Po/zs untergraben und zersetzen, so muss das vorherrschende Entwicklungsmodell umgehend korrigiert oder durch eine langfristige Alternative ersetzt werden, und zwar im Sinne der Stärkimg der strukturellen Grundlagen und der symbolischen Bezugspunkte kollektiven Handelns. Der zweite, vom derzeitigen Kontext der politischen Demokratisierung gestaltete Prozess ist die gesellschaftliche Demokratisierung. Der Begriff hat mehrere Bedeutungen, so die Neubestimmimg des Staatsbürgers jenseits der klassischen Rechte, die Überwindung der neuen Ausgrenzungsformen und die Neuformierung der gesellschaftlichen Akteure bzw. die Stärkung der Zivilgesellschaft. Auf diese Themen gehe ich später noch ein. Der dritte Prozess, mit dem sich jedes unserer Länder und ihre Gesamtheit konfrontiert sehen, ist die Bestimmung ihres jeweiligen Modells der Moderne, das die rationalisierende Dimension mit der Ausweitung der Subjektivität und der Verschiedenheit der Identitäten sowie dem Geschichtsgedächtnis eines jeden Volkes verbindet. Dabei geht es um die Erkenntnis, dass Moderne und Modernisierung nicht dasselbe sind, und dass jede Gesellschaft aus ihrem eigenen Geschichtsgedächtnis heraus ihre Art der Konstitution gesellschaftlicher Subjekte, also ihre eigene Moderne „erfindet". Es wurde bereits gesagt, dass es im Anschluss an die politischen Demokratisierungen um den Aufbau eines neuen gesellschaftspolitischen Modells geht. Das beinhaltet die Neubestimmung des Sinns der Politik in der Demokratie. Ein Großteil der Kritik an der Demokratie hängt mit den tiefen Zweifeln an den klassischen Formen der Politik zusammen. Diese hatte im gesellschaftlichen Leben unserer Länder einen doppelten Sinn. Einerseits wurde die Politik angesichts der Rolle des Staates als zentraler Motor der gesellschaftlichen Entwicklung und Integration als eine Form angesehen, an die Ressourcen des Staates heranzukommen. Andererseits spielte die Politik durch die Vorhaben und Ideologien des Wandels eine grundlegende Rolle bei der Sinngebung des gesellschaftlichen Le-

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bens. Daher stammt ihr im Vergleich mit anderen Kontexten stärker mobilisierender, umfassenderer, ideologischerer und konfrontierenderer Charakter. In dem neuen, durch die erwähnten gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Transformationen geschaffenen Szenarium, Transformationen, die die Einheit Gesellschaft-Po/zs zersetzen, verschwindet die ausschließliche Zentralität der Politik als Ausdruck kollektiven Handelns. Sie erhält jedoch eine neue, abstraktere Zentralität, denn sie muss die verschiedenen Sphären des gesellschaftlichen Lebens angehen und zusammenfügen, ohne deren Autonomie zu zerstören. So nimmt der Raum für hoch ideologisierte, voluntaristische oder globalisierende Politiken ab, aber es gibt eine Nachfrage an die Politik nach „Sinn", den die reinen Marktkräfte, das Medienuniversum, die Partikularismen und das bloße Kalkül individueller und koiporativistischer Interessen nicht vermitteln können. Hießen die Risiken der klassischen Politik Ideologismus, Polarisierung oder gar Fanatismus, so sind es heute Zynismus und Korruption. Da sich die klassische Politik ebenso erschöpft wie die Versuche ihrer radikalen Beseitigung und da die Unzulänglichkeit des derzeitigen Pragamatismus und Technokratismus offenkundig wird, besteht die große Zukunftsaufgabe darin, den institutionellen Raum, die Pohs, wiederaufzubauen, in der die Politik wieder Sinn gewinnt als Scharnier zwischen autonomen und starken gesellschaftlichen Akteuren und einem Staat, der seine Rolle als Entwicklungsagent in einer Welt wiedergewinnt, die die nationalen Gemeinschaften zu zerstören droht.

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Probleme des Staates, der Parteien und des Staatsbürgertums

Zunächst zur Erinnerung: als von der gesellschaftpolitischen Matrix oder dem gesellschaftspolitischen Modell die Rede war, bezog ich mich auf die Beziehungen zwischen Staat und Repräsentationssystem sowie auf die Gestaltungsgrundlage sozialer Akteure bzw. auf die Zivilgesellschaft, deren institutionelle Vermittlungs- und Verbindungsstruktur das politische System ist, in diesem Falle also die Demokratie. Zweitens sagte ich, dass wir uns in einem Wandel der klassischen lateinamerikanischen Matrix dieses Jahrhunderts befinden, der nationalpopulären, ohne dass sich ein neues und kohärentes gesellschaftspolitisches Modell klar abzeichnet. Wir beobachten eher widersprüchliche Prozesse; neben der Schwächung der drei genannten Komponenten und neuen Formen ihrer Verschmelzung und Unterordnung oder auch ihrem Zerfall gibt es auch Zeichen und Tendenzen eines Wiederaufbaus, der auf die keineswegs spannungsfreie Stärkung, Autonomie und Komplementarität des Staates, des Repräsentationssystems und der Grundlage der gesellschaftlichen Akteure gerichtet ist. Meine Hypothese

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ist, dass die Zukunft der politischen Demokratie in unseren Ländern in großem Umfang von der Konsolidierung dieser Stärkungs-, Autonomie- und Komplementationsprozesse abhängt. Was den Staat angeht, dem konstitutiven Element und, über die Politik, in Lateinamerika dem Bezugspunkt des kollektiven Handelns und der Zivilgesellschaft selbst, so hatten die wirtschaftlichen Transformationsprozesse, die Autoritarismen und die politischen Polarisierungen destrukturierende Wirkungen sowohl für ihn selbst, als auch für seine Beziehungen zur Gesellschaft. Zwar ist nicht mehr an einen Staat zu denken, der als ausschließlicher Vereinheitlicher des gesellschaftlichen Lebens auftritt, aber es kann auch nicht auf Staatseingriffe verzichtet werden, die sich gerade auf die Konstituierung von Räumen und Institutionen richten, welche das Aufkommen bedeutender und vom ihm unabhängiger Akteure ermöglichen, ebenso wie nicht auf den Schutz der Individuen verzichtet werden kann. Wenn der Staat und, in manchen Fällen, die Parteien und die politische Klasse diese Funktion der Wiederherstellung der Grundlagen für die Konstituierung gesellschaftlicher Akteure nicht erfüllen, wird das gesellschaftliche Vakuum und die Repräsentationskrise unbegrenzt anhalten. Es hat zwar nach dem Abbau und den Deregulierungen der sogenannten „Strukturanpassungen" Prozesse mit dem Ziel eines minimalen Wiederaufbaus des Staates gegeben, aber im Allgemeinen hat man eine umfassende Reform vertagt, welche die neuen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten aufgreift und seine Rolle in der Gesellschaft und für die Entwicklung neu bestimmt. Diese Reform muss darauf gerichtet sein, die Mitgestaltungsfähigkeit des Staates im Entwicklungsprozess zu stärken, im Verbund mit der Steigerung des gesellschaftlichen Gegengewichts, um Neuauflagen des alten Etatismus zu verhindern. Eine derartige Reform darf sich daher nicht auf die bloße Frage nach Größe und Ausdehnung oder die Modernisierung der öffentlichen Verwaltung beschränken, so wichtig diese auch sein mag, denn es sind die Funktionen des Staates, die sich ändern, und der Zugang von Individuen und Gruppen zum staatlichen Handeln bemisst sich nicht nur quantitativ, sondern auch in Bezug auf seine Qualität. Ein starker Staat setzt in einer Demokratie ein starkes politisches Kontrollsystem voraus, und das führt uns zur Frage der politischen Parteien. Die Situation der Parteien und Parteiensysteme war in Lateinamerika sehr unterschiedlich. In vielen Fällen waren die Parteien kaum vorhanden oder unbedeutend und wurden durch Korporativismus, Caudillismen, Basisaktionen usw. ersetzt. In anderen Fällen wiederum absorbierten sie praktisch das ganze gesellschaftliche Leben. Es gab Situationen gegenseitigen Ausgrenzens und Auffressens. Der zur Polarisierung führende Ideologismus einiger Fälle kontrastierte mit

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der pragmatischen Unterscheidungslosigkeit der Parteien in anderen. Zusammen führte das alles, mit wenigen Ausnahmen, zu schwachen und verwundbaren Parteiensystemen sowie einer bedeutenden Repräsentationskrise. Die Autoritarismen der Militärs versuchten, sämtliche politischen Aktionsformen zu zerstören, und richteten ihre Attacken vor allem gegen die politischen Parteien und Organisationen. Auch wenn sie keinen Erfolg hatten und die Parteien zu Eckpfeilern der Demokratisierungen wurden, so blieb doch der Aufbau starker Parteiensysteme eine ihrer ungelösten Aufgaben. In einigen Fällen, in denen das Parteiensystem zerstört wurde, geht es um den Aufbau von Parteien, in anderen um Parteiensysteme zur Beendigung des Monopols der hegemonischen Partei oder des traditionellen Zweiparteiensystems, und in anderen Fällen wiederum um den Wiederaufbau des Verhältnisses zwischen der Gesellschaft, ihren Akteuren und dem Parteiensystem. Allgemeiner gesehen gibt es zumindest drei Fragen, die es im Hinblick auf die Parteien zu untersuchen gilt, um ihnen ihre Vermittlungsaufgabe zwischen den Menschen, dem Staat und der politischen Führung zu sichern. Bei der ersten geht es darum, dass die verschiedenen Funktionen der Parteien (Repräsentation, öffentliche Debatten, staatsbürgerliche Bildung, Wahrnehmung der Regierungs- oder der Oppositionsfunktion, Kandidatenrekrutienmg für öffentliche Ämter) einer Gesetzgebung bedürfen, die sie würdigt, finanziert und gleichzeitig ihre angemessene öffentliche Kontrolle sicherstellt, aber auch eine Reform aller Parteien, die deren innere Demokratie und technische Fähigkeiten sichert. Das zweite Problem bezieht sich auf die Repräsentation der neuen Fragmentierungs- und Konfliktarten der Gesellschaft, die sich nicht auf solche beschränken, die schon immer recht oder schlecht von den Parteien vertreten worden sind. Damit die Parteiensysteme tatsächlich wieder Ausdruck der gesellschaftlichen Forderungen und ihrer Vielfalt werden können, müssen institutionelle Freiräume neu gestaltet werden, in denen sie sich mit anderen Ausdrucksformen des gesellschaftlichen Lebens treffen können, wie es z.B. die Gesetzgebung über Volksbeteiligung in Bolivien veranschaulicht, ohne dass sie die Partizipation der Staatsbürger absorbieren oder für diese irrelevant werden. Eine dritte Frage, die ebenfalls die Zukunft der politischen Parteien bestimmen wird, ist die Bildung regierungsfähiger Mehrheiten. In dem Maße, in dem Systeme miteinander konkurrierender Parteien entstehen, ist es unwahrscheinlich, dass eine Partei allein eine Mehrheit bilden und effektiv und repräsentativ regieren kann. Das ist bereits zentrales Thema der Parteipolitik in Lateinamerika und wird es in den nächsten Jahrzehnten auch bleiben. Aber eine Koalition zwischen

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Parteien zum Zweck der Regierungsbildung findet in den in Lateinamerika bestehenden Präsidialsystemen keine institutionellen Anreize; Anreize gibt es vielmehr für unverantwortliche Opposition und Minderheitsregierungen. Dies ist ein Grundproblem bei der Reform der derzeitigen politischen Institutionen, aber es muss auch in der politischen Kultur ein Wandel stattfinden, nicht nur bei den Führungspersönlichkeiten und Eliten, sondern auch bei den Mitgliedern und der Klientel, die daran gewöhnt sind, im anderen nur einen zu besiegenden oder zu absorbierenden Gegner bzw. einen Partner zur Unterzeichnung von Wahlabkommen ohne jede programmatische Bedeutung zu sehen. Das dritte Element einer neuen gesellschaftspolitischen Matrix bzw. eines neuen Modells, das es zu stärken und mit Autonomie für eine wirksame Kontrolle des Staates und der Parteien zu versehen gilt, ist die sogenannte Zivilgesellschaft, eine Bezeichnung, die diverse Fragestellungen umfasst, die teilweise bereits in anderen Abschnitten angesprochen wurden. Einerseits erleben wir die Ausweitimg des normativen Horizonts des Staatsbürgertums durch die Diversifizierung der Räume, in denen Macht entsteht und Rechte eingefordert werden (Beziehungen zwischen den Geschlechtern, Kommunikation, Kreativität, lokale Gemeinschaft und Regionalbereich, die Umweltproblematik, der supranationale Bereich und die weltweite Globalität). Aber von einigen Ausnahmen abgesehen gibt es noch keine Institutionen, welche die staatsbürgerlichen Rechte in diesen neuen Bereichen gewährleisten, d.h. sie zum Bestandteil der politischen Gemeinschaft machen. Das zweite Problem ist die Kehrseite des Staatsbürgertums und bezieht sich auf die Formen gesellschaftlicher Ausgrenzung durch das derzeitige sozio-ökonomische Modell. In der Periode vor den autoritären Militärregimen waren die Integrationsformen mit der Industrialisierung und Urbanisierung, der Ausweitung der staatlichen Dienstleistungen und der politischen Mobilisierung verknüpft. In jedem dieser Bereiche war eine Inklusions-Exklusions-Dialektik und ein Prozess der Organisierung der ausgegrenzten Sektoren, mit dem Ziel, ihre Integration zu erreichen, festzustellen. Heute nimmt die Ausgrenzung den Charakter von Ghettos an; diese sind von der Gesellschaft getrennt; es wird eine Art rein symbolischer Beziehung zu ihr aufrechterhalten, die Wirtschaft und Politik nicht zu berühren scheint. Die ausgegrenzten Sektoren sind ihrerseits zersplittert und untereinander nicht verknüpft, wodurch jedes kollektive Handeln außerordentlich erschwert wird und weshalb auch der Ghettobegriff nicht ganz zutreffend ist. Die Polis wird nicht nur von den in der vorliegenden Arbeit aufgezeigten Phänomenen zerrissen, sondern aus

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dem wenigen, was von jener politischen Gemeinschaft übriggeblieben ist, wird auch noch eine riesige Masse ausgestoßen. Es geht nicht nur um die Frage, welches Wirtschaftsmodell den ausgegrenzten Sektor im Zeitraum einer Generation zu integrieren vermag, sondern auch welche Art politisches System in der Lage ist, ihn effektiv als Mitgestaltenden zu beteiligen, ohne zu bersten oder in manipulierende und populistische Praktiken zu verfallen. Die dritte Frage bezieht sich auf die gesellschaftlichen Akteure. In der Periode der national-populären Matrix bestimmten sich die gesellschaftlichen Akteure mit Blick auf den Staat und auf die sozio-ökonomische Einbeziehung, und die Politik spielte durch ihre mobilisierende Funktion bei ihrer Konstitution eine Hauptrolle. Gegen diese Form kollektiven politischen Handelns des Volkes richteten sich die autoritären Militärregime. In den Diktaturen konzentrierte sich das Grundthema der gesellschaftlichen Akteure auf den Kampf gegen diese Herrschaftsform und die von ihr geforderten strukturellen Transformationen. In den Demokratisierungsprozessen kommt es zur Repolitisierung des gesellschaftlichen Lebens, und die im engeren Sinne politischen Akteure wie die Parteien übernehmen eine neue Protagonistenfunktion. Die sozio-ökonomischen Transformationen der letzten Jahrzehnte und der kulturelle und politische Wandel haben die Landschaft der gesellschaftlichen Akteure grundlegend verändert. Die klassischen Akteure haben einen Teil ihrer gesellschaftlichen Bedeutung verloren und tendieren zur Korporativisierung. Die aufgrund der neuen, postautoritären Thematik entstehenden Akteure vermögen nicht, sich als solche zu stabilisieren oder in Gruppen von Staatsbürgern zu konstituieren, sondern erscheinen eher als eine Art Gelegenheitspublikum. In derartigen Situationen werden die im engeren Sinn gesellschaftlichen Akteure tendenziell durch sporadische Mobilisierungen und zersplitterte, defensive Aktionen ersetzt, die manchmal bedeutende gesellschaftliche Netzwerke darstellen, aber einen niedrigen politischen Institutionalisierungs- und Repräsentationsgrad aufweisen, oder aber durch individuelle Reaktionen der Abwendung oder Hinwendung zu reinem Konsumverhalten. Daher wird die Bühne entweder von den Medien oder durch die Aggregation von Individuen - über das Phänomen der durch Meinungsumfragen gemessenen öffentlichen Meinung - eingenommen. Offensichtlich gibt es in den beschriebenen Prozessen Elemente, die die Qualität des demokratischen Lebens beschädigen, indem sie einerseits die Anreize für kollektives und politisches Handeln untergraben und andererseits das politische Spiel entweder dem Druck und den Verhandlungskomprommissen korporativistischer Akteure überlassen oder der Erpressung durch ein großes Publikum bzw. durch die Massenmedien. Aber ebenso gilt, dass es keine Rückkehr zum traditio-

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nellen kollektiven Handeln mehr gibt, auch wenn viele seiner Elemente erhalten bleiben können; in dieser Situation sind zudem zahlreiche potentielle Elemente vorhanden, die eine staatsbürgerliche Neubestimmung und eine neue Art kollektiven Handelns zu begreifen ermöglichen. Offen bleibt das Verhältnis dieser Ausdrucksformen zum politischen Leben, weshalb es unumgänglich erscheint, Räume zu institutionalisieren, in denen sich klassische und neu entstehende Formen auszudrücken vermögen, und das kann nur von der Politik und ihren Akteuren geleistet werden, so problematisch und gegen den Strom schwimmend dies auch erscheinen mag. Zusaminengefasst bedeutet heute politische Demokratisierung nicht nur die Vollendung der noch offenen Aufgaben der Gründungen, Transitionen und unvollständigen Reformen, sondern auch die Wiedererrichtung der Polis und der politischen Systeme sowie die Schaffung eines neuen Verhältnisses zwischen Staat, Politik und gesellschaftlichen Akteuren.

Auflösungserscheinungen

einer etablierten

Demokratie?

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Friedrich Welsch/ José Vicente Carrasquero* AUFLÖSUNGSERSCHEINUNGEN EINER ETABLIERTEN DEMOKRATIE? POLITISCH-KULTURELLE ANALYSE DES FALLES VENEZUELA

1 Demokratie und wirtschaftliche Anpassungsprogramme In den vergangenen 15 Jahren hat Lateinamerika eine „dritte Welle" der Demokratisierung (Huntington 1991) erlebt. Neben der Öffnung von monolithischen Systemen zu mehr Wettbewerb und der Festigung von demokratischen Regierungsfonnen gab es aber auch alarmierende Anzeichen für die Bedrohung von erst neu errichteten oder älteren, scheinbar gefestigten Demokratien (wie die beiden gescheiterten Militärputsche in Venezuela im Jahre 1992, die durch die Narkoguerilla hervorgerufene Verfassungskrise in Kolumbien oder im vergangenen Jahr den Quasi-Putsch in Paraguay), die Zweifel an der Legitimität des demokratischen Regierungssystems, d.h. mindestens an seiner Akzeptanz durch die Bevölkerung in diesen Ländern wecken. Komplizierter wird die Situation noch zusätzlich durch die Tendenz, Modelle zu übernehmen, die sich an einem Weltmarkt orientieren, der die gesellschaftlichen Grundlagen erschüttert hat: Die Regierungen geben die bisherigen, staatsorientierten Entwicklungsstrategien auf, öffnen die Märkte dem Wettbewerb von außen, verfolgen eine Politik der finanziellen Austerität, reduzieren die Sozialprogramme und privatisieren Staatsbetriebe. Obwohl die Mehrheit der Venezolaner von der Notwendigkeit überzeugt ist, die Wirtschaft des Landes durch marktorientierte Reformen umzustrukturieren, glaubt diese Mehrheit weder an die Notwendigkeit, noch hält sie es für gerecht, auch die Kosten des Anpassungsprogramms tragen zu müssen,1 letzteres gerade angesichts der günstigen Wirtschaftsaussichten wegen der unerwartet wachsen-

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Dr. Friedrich Welsch, Dr. José Vicente Carrasquero; Politikwissenschaftler; Universidad Simon Bolivar, Caracas/Venezuela. - Das aus dem Spanischen von Erwin Heigelmann übersetzte Original dieses Aufsatzes wurde in der Zeitschrift Lateinamerika. Analysen-Daten-Dokumentation, Jg. 15 (1998) Nr. 37 des Instituts für Iberoamerika-Kunde, Hamburg, veröffentlicht. 1 Nur 3 % stimmen der Auffassung zu, dass die Regierung selbst Unternehmer sein soll, zwei Drittel schätzen den Wettbewerb positiv ein, und mehr als die Hälfte befürwortet Reformen, aber vier von zehn Personen glauben, dass die Regierung mehr Verantwortung tragen sollte, um den Lebensunterhalt aller Bürger zu sichern; vgl. Estudio Mundial de Valores 1996: 87, 128, 124, 127.

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Friedrich Welsch/ José Vicente Carrasquero

den Erdöleinnahmen. 2 Da Ergebnisse des Austeritätsprogramms erst langfristig bemerkbar sind, wird seine Fortsetzung für die Regierung zunehmend schwieriger, vor allem, da sich die beträchtlichen sozialen und politischen Kosten in einer schnell sinkenden Popularität der Regierenden widerspiegeln. Wenn dieses Beben, das die Gesellschaft während des harten Anpassungsprozesses erschüttert, durch eine allgegenwärtige Korruption verstärkt wird, kann es soweit kommen, dass die Bevölkerung die Arbeit der Regierung und die Verteilungsmechanismen der Gesellschaft insgesamt in Frage stellt, wie es Templeton gezeigt hat (1995: 105). Dann besteht die Gefahr, dass die Leute das Vertrauen in die Demokratie als Regierungssystem verlieren, wenn die politische und wirtschaftliche Führung solche Anzeichen der Enttäuschung ignoriert. Die Daten aus zahlreichen empirischen Untersuchungen 3 zeigen jedoch, dass die Venezolaner den Glauben an das demokratische System nicht verloren haben, obwohl sie in zunehmendem Maße über die Art und Weise enttäuscht sind, wie die jeweiligen Regierungen das Land fuhren. 4 Mit anderen Worten: Die Venezolaner unterstützen die Grundwerte der Demokratie, tendieren jedoch bei einer Bewertung ihrer Funktionsweise zur Hinterfragung ihrer konkreten Form. Genauso wie die Mexikaner sind die Venezolaner trotz ihrer Unzufriedenheit mit der wirtschaftlichen Situation des Landes, der Korruption und der InefFizienz der Regierung weiterhin „dem System gegenüber loyal" (Cornelius 1996: 90). Die Schwächen werden den jeweiligen Regierungen zugeschrieben und nicht der Regierungsform an sich. Diese Trennung von demokratischem System und wirtschaftlichem Scheitern stimmt vollständig mit der Schlussfolgerung einer kürzlich veröffentlichten vergleichenden Studie in 139 Staaten überein: „(...) There is no trade-off between development and democracy (...) economic growth increases the chances that democracy would survive, while democracy does not impede economic growth" (Przeworski/ Limongi 1997: 178). Bhalla (1997: 227) ist noch überzeugender, wenn er feststellt, dass demokratische Verhältnisse - das Vorhandensein von politischen, bürgerlichen und wirtschaftlichen Freiheiten - die wirtschaftliche Entwicklung anstoßen. Aus dieser Perspektive setzen die Venezolaner auf ihr demokratisches System als den am besten geeigneten Rahmen, ihren Lebensstandard zu verbessern.

2

3 4

Der Anstieg des Erdölpreises wegen der ausbleibenden Rückkehr des Iraks in den Weltmarkt bewirkte 1996 zusätzliche Einnahmen des venezolanischen Staates von US$ 3 Mrd. und erschwerte einen gesellschaftlichen Konsens über die finanzielle Austerität. Latinobarömetro 1995 und 1996; Estudio Mundial de Valores 1996; Consultores 21, 1995. Der von Templeton (1995: 96) eingeführte „Frustrationsindex" steigt unablässig.

Auflösungserscheinungen

einer etablierten

Demokratie?

89

2 Quellen der normativen und leistungsbezogenen Legitimität Die Stabilität der Demokratie hängt von ihrer diffusen Unterstützung als Regierungsform und von der spezifischen Legitimität ab, die durch die Ergebnisse der Regierungspolitik erzeugt wird. In den Worten von Diamond (1994: 13) muss das Vertrauen in die Legitimität des demokratischen Systems idealerweise auf zwei Ebenen vorhanden sein, weil Demokratie die beste Regierungsform ist und weil ihre jeweilige Ausprägung in einem bestimmten Land durch die Bürger positiv bewertet wird. Wenn eine auf zwei Ebenen basierende Legitimität der ideale Zustand ist, dann stellt Venezuela einen subidealen Fall dar, da die Legitimität des demokratischen Systems auf der ersten, normativen Ebene beruht. Kann die normative Legitimität die Schwäche oder völlige Abwesenheit der Akzeptanz der leistungsbezogenen Legitimität ausgleichen? Welche Form nimmt dieser Ausgleich an? Die Antworten der verschiedenen Studien zu dieser Fragestellung fallen nicht eindeutig aus. Während Lipset in Bezug auf Lateinamerika beide Legitimitätsebenen für gleich wichtig hält (1993: 136), betonen Lamounier (1988), Putnam (1993), Levine/ Crisp (1995) oder Maravall (1997) in ihren Untersuchungen zu den Legitimitätsquellen die größere Bedeutung der kulturellen Aspekte (wie des Wertesystems). Lamounier (1988: 1) behauptet, dass die Festigung des demokratischen Systems ein Prozess ist „through which democratic forms come to be valid in themselves, even against adverse substantive outcomes". Maravall (1997: 202ff.) stellt fest, dass „the legitimacy of democracies is to some extent independent of the performance of their political and economic institutions. For an indefinite, but prolonged period, dissatisfaction with the performance of these institutions does not undermine citizens' loyalty to the existing regime". Ganz anders stellen Kornberg/ Clarke (1992) fest, dass die Effizienz der Regierungspolitik eine immer wichtigere Rolle als Quelle für die Legitimität des Systems spielt, da die politischen Parteien Anhänger verlieren. Nach Kelly (1995: 306) hängt die Legitimität direkt von der Effizienz der Regierungspolitik ab: „The legitimacy of government depends on providing the basic goods and services that individuals cannot obtain in the market (...)". Auch Diamond und Linz (1989: 44) betonen die leistungsbezogene Ebene, wenn sie schreiben: „(...) what accounts for the presence of this system support, and for its erosion or disappearance (...) is the performance of the regime over time in delivering what people want and expect from government". In der vorliegenden Arbeit untersuchen wir sowohl die normativen, also politisch-kulturellen, als auch die leistungsbezogenen Quellen der Legitimität des politischen Systems Venezuelas. Wir stützen uns dabei auf die im Estudio Mun-

90

Friedrich Welsch/José Vicente Carrasquero

dial de Valores (Capitulo Venezuela)5 im April 1996 erhobenen Daten. Die Untersuchimg umfasst dabei sowohl die Frage nach der Legitimität der Demokratie als Regierungssystem im Allgemeinen als auch die Analyse einiger spezieller Aspekte des demokratischen Systems: seine Rolle als verfassungsmäßiger Rahmen, der die Partizipation fördert, das Funktionieren der Wirtschaft sichert, die Entscheidungsfindung erleichtert und die öffentliche Ordnung garantiert. Darüber hinaus versuchen wir, den gesellschaftlichen Spielraum für Reformen und das damit verbundene Protestpotential abzuschätzen, indem wir die geschichtliche Entwicklung und die Zukunftsperspektiven der venezolanischen Demokratie untersuchen, und zwar unter normativen wie leistungsbezogenen Aspekten ebenso wie aus Sicht der gesellschaftlichen Organisation und der Einstellung zur Gewalt. Um einen Einblick in den sozio-politischen Kontext unserer Analyse der Quellen der Legitimität der venezolanischen Demokratie zu verschaffen, skizzieren wir im Folgenden einige der wesentlichen Merkmale ihrer politischen Kultur.

3 Wesentliche Merkmale der politischen Kultur Venezuelas Das zwischenmenschliche Vertrauen ist eine Grundvoraussetzung für die Entwicklung und Sicherung einer stabilen Demokratie. Inglehait (1990: 22) hält, neben dem Entstehen eines sich politisch artikulierenden Bürgertums, das zwischenmenschliche Vertrauen für eines der wichtigsten Faktoren in der Entwicklung der modernen Gesellschaft. Fukuyama (1995) ist der Auffassung, dass der Wohlstand eines Landes von diesem ganz besonderen gesellschaftlichen Verhalten abhängt; dort, wo das soziale Vertrauenskapital, „a capability that arises from the prevalence of trust in a society" (26) reichlich vorhanden ist, „both markets and democratic politics will thrive, and the market can in fact play a role as a school of sociability that reinforces democratic institutions" (356). So gesehen, scheinen die Venezolaner sicherlich nicht besonders gut für den Aufbau, die Erhaltung und die Weiterentwicklung einer Gesellschaft vorbereitet zu sein. Tabelle 1: Zwischenmenschliches Vertrauen Man kann den anderen Menschen vertrauen

13%

Man kann den anderen Menschen nicht vertrauen

84%

Quelle: Estudio Mundial de Valores (EMV) 1996.

5 Die empirische Basis unserer Analyse, der Estudio Mundial de Valores 1996, Capitulo Venezuela, beruht auf 1.200 persönlichen Interviews, die 99% der venezolanischen Bevölkerung repräsentieren.

91

Auflösungserscheinungen einer etablierten Demokratie?

Das Niveau des zwischenmenschlichen Vertrauens ist in Venezuela sehr niedrig, sogar im Vergleich zu Ländern wie Italien oder Frankreich, die Fukuyama als Gesellschaften mit einem schwachen Vertrauensniveau klassifiziert. Selbst diese geringen Werte stellen jedoch über die Jahre eine Verbesserung dar. Als Baloyra/ Martz (1979: 229) 1973, d.h. vor fast 25 Jahren, dieses gesellschaftliche Verhalten untersuchten, glaubten nur 6% der Befragten, dass sie ihren Mitmenschen vertrauen könnten. Das Fehlen eines zwischenmenschlichen Vertrauensverhältnisses kann somit nicht der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Krise der letzten Jahre angelastet werden. Das niedrige Niveau des zwischenmenschlichen Vertrauens kann jedoch erklären, warum eine demokratische Gesellschaft dazu neigt, eine Politik der „harten Hand" der Regierung zu tolerieren oder sogar vorzuziehen. Baloyra/ Martz (1979: 227) fanden 1973 nach vierzehn Jahren demokratischer Regierung und drei aufeinanderfolgenden Wahlen, dass die Hälfte der Venezolaner glaubten, es gäbe Situationen, die einen Militärputsch rechtfertigen. Einer von vier Befragten hielt den Putsch gegen Allende in Chile für richtig, während nur vier von zehn Befragten den Putsch verurteilten. In den Worten von Fukuyama (1995: 361): „the reduction of trust in a society will require more intrusive, rule-making government to regulate social relations (...)".

Tabelle 2: Zustimmung zu Zwangsmaßnahmen Zustimmung zu einer Regierung der ..harten Hand"

78%

Eine „harte Hand" ist nicht notwendig

18%

Quelle: Latinobarómetro 1995.

So wie sich die Venezolaner untereinander misstrauen, misstrauen sie ihren Institutionen und ihrer politischen Führung. Nach Mill fordert dieser „wachsame Skeptizismus" zwar die politische Beteiligung (Chan 1997: 293), man kann aber daraus ebenso schließen, dass er die politische Apathie fördert. Wir können dieses Problem zwar nicht abschließend lösen, doch kann festgehalten werden, dass die politischen Institutionen an einem starken Prestigeverlust leiden, während die katholische Kirche, die Streitkräfte, die Massenmedien und die großen Unternehmen von mehr als der Hälfte der Venezolaner für vertrauenswürdig befunden werden. Tabelle 3 zeigt, dass den politischen Parteien, dem Kongress, den Gewerkschaften, der Zentralregierung, der öffentlichen Verwaltung und der Polizei nicht einmal von einem Drittel der Venezolaner Vertrauen entgegengebracht wird. Noch besorgniserregender ist, dass der Justiz von fast zwei Dritteln misstraut wird.

Friedrich Welsch/ José Vicente Carrasquero

92

Tabelle 3: Vertrauen in die Institutionen Institution Katholische Kirche Streitkräfte Presse Fernsehen Großunternehmen Umweltbewegung Justiz Polizei Öffentliche Verwaltung Zentralregierung Gewerkschaften Kongress Politische Parteien

Vertrauen



74% 60% 58% 52% 52% 49% 37% 30% 30% 27% 26% 23% 15%

Quelle: EMV 1996. Auf der anderen Seite bevorzugen zwei Drittel der Venezolaner politische Führer, die bereit sind, mit anderen Gruppen zusammenzuarbeiten, auch wenn dies ein Nachgeben bei politischen Forderungen bedeutet; sie weisen Vertreter einer „harten Linie" zurück, die ihre Ideale auch gegen den Widerstand anderer hochhalten. Hier spiegeln sich demokratische Werte wie Toleranz, Kompromissbereitschaft und Verhandlungswille wider. Obwohl mehr als ein Viertel der Bürger

Tabelle 4: Grundwerte, Kommunikation und politisches Interesse Toleranz Politische Führer müssen an ihren Ideen festhalten Politische Führer müssen an ihren Ideen nicht festhalten

29% 64%

Ordnung gegen Grundrechte Die Aufrechterhaltung der Ordnung hat Vorrang Die Respektierung der Grundrechte hat Vorrang

45% 49%

Kommunikation und politisches Interesse Sprechen mit Freunden über Politik Haben Interesse an Politik

52% 19%

Quelle: EMV 1996. Zwangsmaßnahmen unterstützen würde, wird die Verpflichtung des Staates zur Respektierung der Grundrechte für wichtiger erachtet als seine Verantwortung

Auflösungserscheinungen

einer etablierten

93

Demokratie?

zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Obwohl den übrigen Mitmenschen misstraut wird, spricht mehr als die Hälfte der Venezolaner mit Freunden über politische Themen, aber nur einer von fünf Befragten interessiert sich für Politik, ein Anteil, der vor 25 Jahren mehr als 50% höher lag (Baloyra/ Martz 1979: 219). Das relativ hohe Niveau der Mitgliedschaft in sozialen Organisationen (Tabelle 5) scheint dem in derselben Umfrage festgestellten gesellschaftlichen Mangel an Vertrauen zu widersprechen. Der auf den ersten Blick vorliegende Widerspruch erklärt sich dadurch, dass die Kirche die am meisten respektierte Institution mit dem grollten Vertrauensgrad ist, und dass ein großer Teil der gesellschaftlichen Organisation sich im Umfeld der Religion abspielt. In einer allgemeinen gesellschaftlichen Atmosphäre des Misstrauens werden die Menschen von der Idee angezogen, sich im schützenden Schatten einer Vertrauen erweckenden Institution zu versammeln und zusammenzuarbeiten. Diese Interpretation wird zusätzlich von der Tatsache unterstützt, dass die Venezolaner in den letzten 25 Jahren in Sachen Religion aktiver geworden sind. Während 1973 nur 31% der Befragten angaben, mindestens einmal pro Woche einen Gottesdienst zu besuchen, hat sich dieser Anteil bis 1996 auf 37% erhöht. Der Anteil derjenigen, die mindestens einmal im Monat einen Gottesdienst besuchen, ist von 40% auf 58% gestiegen, während die Zahl deijenigen, die nie teilnehmen, von 29% auf 4% gesunken ist (Baloyra/ Martz 1979; EMV 1996). Tabelle 5: Mitgliedschaft in Organisationen Religiöse Organisation

45%

Sportliche Organisation

29%

Kulturelle Organisation

22%

Wohltätige Organisation

17%

Berufliche Organisation

16%

Umweltgruppe

15%

Politische Partei

14%

Gewerkschaft

15%

Andere Organisationen

15%

Quelle: E M V 1996.

Während die religiöse Aktivität stärker geworden ist, sank die Mitgliedschaft in den politischen Parteien um mehr als ein Viertel auf 14%, ein allerdings im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen oder westlichen Ländern immer noch recht hoher Anteil. Es lässt sich eine wachsende Orientierung zu „offenen Orga-

94

Friedrich Welsch/ José Vicente Carrasquero

nisationsformen" feststellen, deren Meinungsbildung diskursiv erfolgt. Nach Offe (1997: 104) lassen sich die vielversprechendsten, als Katalysatoren der gesellschaftlichen Meinungsbildung agierenden Gruppen, inklusive neuer politischer Bewegungen wie der (bereits gespaltenen) Causa Radical, unter diesen Begriff einordnen (Lopez/Maya 1997: 140). Auf die Bitte, jedes der vorgegebenen vier politischen Systeme mit „gut" oder „schlecht" zu beurteilen, bezeichnen acht von zehn Venezolanern eine demokratische Regierangsform als gut, verglichen mit 46% für eine technokratische Regierungsform, 28% für eine Regierung mit einem „starken Mann" und 25% für eine Militärdiktatur. Mit anderen Worten glauben die Venezolaner fest an die Demokratie als der besten Regierungsform, obwohl neun von zehn Befragten nicht mit der Art und Weise zufrieden sind, in der die Verwaltung ihre Arbeit erfüllt. Nur 15% glauben, dass das Land zum Wohle des Volkes regiert wird, während acht von zehn Personen der Ansicht sind, dass bestimmte mächtige Interessengruppen die Politik bestimmen (EMV 1996). Ebenso wie andere Bereiche der politischen Kultur Venezuelas ist der hohe Grad an politischem Zynismus - eine weder die öffentliche Meinung noch die eigenen politischen Programme beachtende Politik, der niedrige Grad an bürgernaher Politik - über die Jahre konstant geblieben, das heißt, die Erscheinungen sind nicht den derzeitigen Krisen zuzurechnen. Baloyra und Martz (1979: 210) stellten 1973 dieselben Fragen und fanden heraus, dass 80% der Befragten glaubten, dass das Land in den letzten 15 Jahren (seit der Wiedereinführung einer parlamentarischen Regierung) zum Wohle mächtiger Interessengruppen regiert worden sei. Die allgemeine Unzufriedenheit mit der Effizienz der Regierung und der weit verbreitete politische Zynismus scheinen die Unterstützung der Bevölkerung für die demokratische Regierungsform nicht geschwächt zu haben, obwohl sie den staatlichen Institutionen nicht vertraut. Wie es scheint, fuhrt das schwache zwischenmenschliche Vertrauen zu einer gesellschaftlichen Organisation unter dem Schutz von Institutionen, denen, wie etwa der Kirche, großes Vertrauen entgegengebracht wird, und die wenigstens den Raum bieten, um über politische Themen zu diskutieren, auch wenn das Interesse an diesem Bereich geringer geworden ist. Diese über die Jahre stabilen Entwicklungen entsprechen dem Begriff des Public Judgment im Sinne von Yankelovich (1991; 1996: 7ff.), das heißt dem Höhepunkt eines Meinungsbildungsprozesses, in dem die öffentliche Meinung sich soweit entwickelt hat, dass der Prozess zu einer festen Überzeugung gefuhrt hat, die die Leute kennen und deren Konsequenzen sie für richtig halten.

Auflösungserscheinungen

einer etablierten

Demokratie?

95

Gleichzeitig mit der Feststellung einer allgemeinen Vorliebe für den politischen Kompromiss, der eine gesellschaftlich unterstützte Plattform für die Diskussion und die transparente Entscheidung darstellt, ist eine beträchtliche Unterstützung für autoritärere Spielregeln feststellbar, insbesondere, wenn es sich darum handelt, zwischen den Werten Freiheit und Ordnung zu wählen. Heißt dies, dass Wiarda (1992: 20) recht hat, wenn er schreibt, dass Lateinamerika (und damit auch Venezuela) weiterhin hierarchisch und autoritär strukturiert ist? Oder befindet sich Venezuela an einem Wendepunkt und fällt in einen Dekadenzzyklus, wie ihn Haggard/ Kaufman (1992: 349) oder Przeworski (1991: 197) beschrieben haben, also in eine Atmosphäre des politischen Zynismus und der Apathie, einer Abnahme der tatsächlichen politischen Partizipation, der Unfähigkeit des politischen Systems, den Volkswillen widerspiegelnde Regierungsbündnisse hervorzubringen, und ist der Moment erreicht, an dem mit dem Erscheinen von Hexenmeistern mit Wunderformeln auf der politischen Bühne zu rechnen ist? Befindet sich Venezuelas Demokratie im Prozess der Selbstzerstörung aufgrund der Abnahme der „zivilen Kompetenz" (Offe 1997: 81) seiner Bürger? Ganz offensichtlich können auf der einen Seite einige Elemente eines Dekadenzzyklus bereits beobachtet werden: Die politische Apathie als Wahlenthaltung und die soziale Gewalt sind heute deutlicher sichtbar und Besorgnis erregender als vor fünfzehn oder zwanzig Jahren. Auf der anderen Seite haben mehr als zwanzig Jahre eines ausgeprägten politischen Zynismus und der geringen politischen Wirkungen der Forderungen der Bürger nicht den Glauben der Leute an die Demokratie erstickt. Wir müssen uns daher fragen, ob neben den alarmierenden Problemen auch stimulierende Faktoren, wie das Angehen von Reformen und die soziale Partizipation, sichtbar sind, welche die Basis für die Unterstützung der Demokratie darstellen. Die grundlegende Frage ist, ob die Wertesysteme, die die Entwicklung und Festigung der Demokratie und die Bewertung der Arbeit und Effizienz des demokratischen Regimes fördern, die demokratischen Verhaltensweisen der Staatsbürger und/ oder ihre Haltung zur Legitimität der Regierung beeinflussen.

4 Normative Legitimität Toleranz und Freiheitsrechte sind fundamentale Werte der Demokratie. In der vorliegenden Arbeit operationalisieren wir diese Grundwerte, indem wir die Haltung der Befragten zu den dichotomen Variablen Kompromiss/ Dogmatismus und Ordnung/ Freiheit als unabhängige Variablen nutzen. Wir untersuchen dabei die Auswirkungen auf das traditionelle partizipative Verhalten (operationalisiert als Wahlbeteiligung), die Legitimität der Demokratie als a) Entscheidungsfin-

96

Friedrich Welsch/ José Vicente Carrasquero

dungssystem sowie als b) adäquater institutioneller Rahmen für die Entwicklung der Wirtschaft und die Aufrechterhaltung der Ordnung sowie c) als systemisches Konzept. Wie in Tabelle 6 ersichtlich, hängt das Verhältnis der Befragten zur Teilnahme an Wahlen - als grundlegendem demokratischen Gestaltungsrecht - nicht von ihren Überzeugungen hinsichtlich Toleranz und Freiheitsrechten ab. Daraus folgt, dass die in den neunziger Jahren relativ geringe Beteiligung der Venezolaner an den nationalen, regionalen und lokalen Wahlen - im Durchschnitt etwa 50% - in erster Linie nicht als Zeichen der Erosion der normativen Legitimität der venezolanischen Demokratie interpretiert werden sollte. Linz (1997: 423) hat richtig bemerkt, dass eine außergewöhnlich hohe Wahlbeteiligung ebensogut ein Zeichen für die Krise der Demokratie sein kann wie eine hohe Wahlenthaltung. Das Ansteigen der Wahlenthaltung kann auch als bewusste Entscheidung der Staatsbürger interpretiert werden, welche auf die Teilnahme an Wahlen verzichten, wenn diese nicht die erhofften Ergebnisse zeigen (Franklin 1996: 232). Diese Deutung wird unterstützt durch die oben bereits erwähnte verstärkte Teilnahme der Venezolaner am organisierten gesellschaftlichen Leben. Allerdings muss man hervorheben, dass die statistisch kaum relevante Auswirkung der Werte Toleranz und Freiheit auf die Wahlbeteiligung bis zu einem gewissen Grad der Idee widerspricht, dass die Wahrnehmung dieser Rechte positiv zu bewerten sei. Diejenigen Staatsbürger mit dogmatischen Anschauungen neigen nämlich ebenso wie die strikten Befürworter von Recht und Ordnung in höherem Maße zur Beteiligung an Wahlen als diejenigen mit toleranten Einstellungen und einer allgemein höheren Bewertung der persönlichen Freiheitsrechte. Acht von zehn Venezolanern glauben, dass die Demokratie keinen adäquaten Rahmen für das effektive Funktionieren der Wirtschaft bietet, unabhängig von ihren Einstellungen zu demokratischen Werten. Daraus folgt, dass sie die Idee nicht akzeptieren, dass Demokratie und Marktwirtschaft eine Einheit seien. Im Falle Venezuelas scheint das politische Modell von jedem ökonomischen Paradigma, sei dieses nun liberal, zentral verwaltet oder eine Mischung von beidem, getrennt zu sein. Dieses Phänomen kann man als Folge der derzeitigen Phase der Ersetzung des traditionellen, durch starke staatliche Lenkungsmechanismen gekennzeichneten Wirtschaftssystems sehen, die, wie wir an anderer Stelle gezeigt haben (Welsch/ Carrasquero 1995), ein komplexes Gemisch klientelistischer und wettbewerbsorientierter Handlungsmuster entstehen lassen.

Auflösungserscheinungen einer etablierten Demokratie?

97

Tabelle 6: Normative Legitimität Wahlbeteiligung Operatiönalisierung Wahlbeteiligung

Grundwert Toleranz tau-b=.07 Freiheitsrechte

Keine Wahlbeteiligung

Kompromissbereit Dogmatisch

45% 53%

55% 47%

Freiheitsrechte Ordnung

44% 50%

56% 50%

tau-b=.01 Grundwert Toleranz

Legitimität der Demokratie als wirtschaftlicher Rahmen Operatiönalisierung Befürworter Keine Befürworter Kompromissbereit 16% 84% 80% Dogmatisch 20%

tau-b= 05 Freiheitsrechte

Freiheitsrechte Ordnung

18% 17%

82% 83%

tau-b=.01 Legitimität der Demokratie als System zur Entscheidungsfindung Grundwert Operatiönalisierung Befürworter Keine Befürworter Kompromissbereit Toleranz 25% 75% Dogmatisch 20% 80% tau-b=.06 Freiheitsrechte Freiheitsrechte 26% 74% 17% 83% Ordnung tau-b=.l 1 Grundwert Toleranz tau-b=.12 Freiheitsrechte

Legitimität der Demokratie als Ordnungsgarant Operatiönalisierung Befürworter Keine Befürworter Kompromissbereit 39% 61% Dogmatisch 51% 49% Freiheitsrechte Ordnung

43% 42%

57% 57%

tau-b=.01 Grundwert Toleranz tau-b=.07 Freiheitsrechte tau-b=.02 Quelle: EMV 1996.

Legitimität der Demokratie als Regierungsform Befürworter Operatiönalisierung Keine Befürworter Kompromissbereit 89% 11% Dogmatisch 84% 16% Freiheitsrechte Ordnung

86% 88%

14% 12%

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Friedrich Welsch/ José Vicente Carrasquero

Wenn auch die Mehrheit der Venezolaner die Demokratie nicht als System für eine effektive Entscheidungsfindung anerkennt, so zeigen sich doch Unterschiede in der Einschätzung der Werte Toleranz und Freiheitsrechte. Die Abweichung weist in die erwartete Richtung, denn die von der Bedeutung dieser Werte überzeugten Bürger sprechen der Demokratie eine Legitimität in geringerem Ausmaß ab als die Vertreter der Gegenposition. Im Falle der Option zwischen Ordnung und Freiheit ist die Abweichung bemerkenswert hoch. Als Garant der öffentlichen Ordnung schätzen die Venezolaner die Demokratie wesentlich höher ein als in ihrer Fähigkeit, einen adäquaten institutionellen Rahmen für ein Wirtschaftssystem oder für die Entscheidungsfindung zu setzen. In diesem Zusammenhang überrascht die Tatsache, dass die „toleranten Bürger" in ihrer Mehrheit die Demokratie unter diesem Aspekt eher ablehnen, während sie hier von den Bürgern mit autoritäreren Anschauungen eher befürwortet wird: Diese Verknüpfung ist statistisch bedeutsam. Es findet sich keine Abweichung in Bezug auf die Werte Freiheitsrechte und Ordnung: Beide Gruppen tendieren dazu, die Legitimität der Demokratie als Garant für die öffentliche Ordnung im gleichen Maße zu verneinen. Als Regierungsform hat die Demokratie keinen Rivalen, und zwar unabhängig von der normativen Position der Befragten. Die Abweichung der Ergebnisse ist statistisch nicht bedeutsam. Zwar haben sie im Falle der Toleranz die erwartete Tendenz, jedoch nicht in Bezug auf die Option zwischen Freiheitsrechten und Ordnung: Jene, die mehr an die Bedeutung der Freiheitsrechte als an die der Ordnung glauben, legitimieren die Demokratie als Regierungssystem in einem etwas geringeren Ausmaß als jene, die die Ordnung höher bewerten als die Freiheitswerte. Zusammengefasst lässt sich feststellen, dass die Stellung zu den analysierten demokratischen Werten - Toleranz und Freiheitsrechte - weder größere Auswirkungen auf die Haltung zur Legitimität einzelner Politikbereiche im Besonderen noch der demokratischen Regierungsform in Venezuela im Allgemeinen hat. Zu beobachten ist eine ebenso große wie diffuse positive Beurteilung der venezolanischen Demokratie, die von einem niedrigen Niveau der Zustimmung oder sogar der Ablehnung bei spezifischen Fragen begleitet wird, und zwar insbesondere in Bezug auf die wirtschaftlichen Fragen und auf die Entscheidungsfindungsprozesse. Die Ergebnisse des Estudio Mundial de Valores decken sich dabei mit den diskutierten theoretischen Problemstellungen, obwohl sie in einigen Fällen die üblichen Annahmen nicht unterstützen, so etwa die Idee, dass eine demokratische Grundhaltung die Wahlbeteiligung erhöht, dass Demokratie und Marktwirtschaft Hand in Hand gehen und dass die Toleranz auf positive Weise mit der

Auflösungserscheinungen

einer etablierten

99

Demokratie?

Wahrnehmung der demokratischen Institutionen als Garanten der öffentlichen Ordnung einhergeht.

5 Leistungsbezogene Legitimität Um die instrumentelle Basis der Legitimität der venezolanischen Demokratie zu untersuchen, haben wir zur Beurteilung der Leistung der Regierung vier Aspekte als unabhängige Variable ausgewählt und messen ihre Auswirkungen auf dieselben Größen, die wir aus der Perspektive der normativen Legitimität bereits untersucht haben: Wahlbeteiligung, Demokratie und Wirtschaftssystem, Demokratie und Entscheidungsfindung, Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Demokratie als Regierungsform. Die vier Aspekte zur Leistung der Regierung sind die Zufriedenheit mit der persönlichen wirtschaftlichen Situation, die Wahrnehmung der Regierungsaibeit, operationalisiert als Arbeit zum Wohle des ganzen Volkes oder großer Interessengruppen, und die Wahrnehmung der Effizienz der Sozialpolitik, operationalisiert als Abnahme oder Anstieg der Armut.

Tabelle 7: Effizienz der Regierungsarbeit und Wahlbeteiligung Bereich

Variable

Wahlbeteiligung

Keine Wahlbeteiligung

Wirtschaftliche Zufriedenheit

zufrieden unzufrieden

49% 47%

51% 53%

zufrieden unzufrieden

54% 46%

46% 54%

Partikularinteressen Bevölkerung

47% 49%

53% 51%

Armut vergrößert Armut verringert

46%

54%

48%

52%

tau-b=.02 Arbeit der Regierung tau-b=.06 Regierung im Interesse von tau-b=.06 Effizienz der Sozialpolitik

tau-b=.01 Quelle: EMV 1996.

Die Bewertung dieser Aspekte durch die Venezolaner hat keine statistisch bedeutsamen Auswirkungen auf die Wahlbeteiligung. Die Unterschiede in Tabelle

100

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7 deuten trotzdem in die erwartete Richtung: Personen, die die Arbeit der Regierung eher positiv bewerten, tendieren zu einer stärkeren Wahlbeteiligung. Dasselbe stellt sich in Bezug auf die Wahrnehmung der Demokratie als eines adäquaten Wirtschaftssystems heraus. Sie ist unabhängig von der Bewertung der Arbeit der Regierung. Die Umfrageergebnisse entsprechen den Erwartungen: Personen, welche der Regierungsarbeit gute Noten geben, tendieren dazu, die ökonomische Seite des demokratischen Systems in geringerem Maße in Frage zu stellen als Personen, welche die Leistung der Regierung negativ bewerten. Insgesamt qualifiziert sich die venezolanische Demokratie in den Augen der Befragten jedoch nicht als adäquater Rahmen für eine prosperierende Wirtschaft, und zwar weder aus der normativen noch aus der leistungsbezogenen Perspektive.

Tabelle 8: Effizienz der Regierungsarbeit und Demokratie als Rahmen für die Wirtschaft Bereich

Variable

bejahen

verneinen

Wirtschaftliche Zufriedenheit

zufrieden unzufrieden

21% 14%

79% 86%

zufrieden unzufrieden

22% 17%

78% 83%

Partikularinteressen Bevölkerung

17% 22%

83% 78%

Armut vergrößert Armut verringert

17% 37%

83% 63%

tau-b=.07 Arbeit der Regierung tau-b=.05 Regierung im Interesse von tau-b=.05 Effizienz der Sozialpolitik tau-b=.04 Quelle: EMV 1996.

Das demokratische System Venezuelas wird, unabhängig von der Bewertimg der Arbeit der Regierung, ebenfalls nicht als effizientes Entscheidungsfindungssystem wahrgenommen. Trotzdem sind statistisch relevante Unterschiede im Hinblick auf die Bewertung der Zielgruppe der Regierungsarbeit und auf die Wirksamkeit der Sozialpolitik zu beobachten. In beiden Fällen weisen die Ergebnisse in die erwartete Richtimg, da diejenigen Bürger der Demokratie als Entscheidungsfindungssystem erheblich weniger kritisch gegenüberstehen, die glauben, dass der Staat zum Wohle aller arbeitet und dass die Armut abgenommen hat.

A ußösungserscheinungen einer etablierten Demokratie?

101

Tabelle 9: Effizienz der Regierungsarbeit und Demokratie als Entscheidungsfindungssystem Bereich

Variable

bejahen

verneinen

Wirtschaftliche Zufriedenheit

zufrieden unzufrieden

23% 20%

77% 80%

zufrieden unzufrieden

16% 22%

84% 78%

Partikularinteressen Bevölkerung

19% 31%

81% 69%

Armut vergrößert Armut verringert

21% 33%

79% 67%

tau-b=.03 Arbeit der Regierung tau-b=.02 Regierung im Interesse von tau-b=04 Effizienz der Sozialpolitik tau-b= 11 Quelle: E M V ¡996.

In Bezug auf die negative Wahrnehmung der Demokratie als Hüterin der öffentlichen Ordnung entsprechen die Ergebnisse den Erwartungen. Je besser die Bewertung der Regierungsleistung, desto höher ist die Zufriedenheit der Befragten mit der Wahrung der öffentlichen Ordnung durch das demokratische Regime. Tabelle 10: Effizienz der Regierungsarbeit und Demokratie als Hüterin der öffentlichen Ordnung Bereich

Variable

bejahen

verneinen

Wirtschaftliche Zufriedenheit

zufrieden unzufrieden

40% 36%

60% 64%

zufrieden unzufrieden

44% 42%

56% 58%

Partikularinteressen Bevölkerung

43% 38%

57% 62%

Armut vergrößert Armut verringert

43% 48%

57% 52%

tau-b=.05 Arbeit der Regierung tau-b=.01 Regierung im Interesse von tau-b=.04 Effizienz der Sozialpolitik tau-b=.00 Quelle: EMV 1996.

Friedrich Welsch/ José Vicente Carrasquero

102

Als Regierungsform wird die Demokratie durch die große Mehrheit der Venezolaner bestätigt, unabhängig von der Bewertung der Leistungen der Regierung. Jedoch ist es interessant, dass einige Resultate die Erwartungen in Frage stellen. Vor allem ist auffällig, dass gerade die Venezolaner, die glauben, dass das Land im Interesse großer Gruppen regiert wird, das demokratische System in höherem Maße befürworten als diejenigen, die glauben, dass das Land zum Wohle aller regiert wird. Damit übereinstimmend sind die Befürworter der demokratischen Regierungsform eher der Auffassung, dass die Armut zugenommen hat, während die der Demokratie eher ablehnend gegenüber stehenden Befragten der Meinung sind, dass die Armut sich verringert habe.

Tabelle 11: Effizienz der Regierungsarbeit und Demokratie als Regierungsform Bereich

Variable

bejahen

verneinen

Wirtschaftliche Zufriedenheit

zufrieden unzufrieden

88% 85%

12%

zufrieden unzufrieden

85% 86%

15%

Partikularinteressen Bevölkerung

87% 83%

13%

Armut vergrößert Armut verringert

88% 63%

15%

tau-b=.03 Arbeit der Regierung

14%

tau-b=.02 Regierung im Interesse von

17%

tau-b=. 04 Effizienz der Sozialpolitik

12% 27%

tau-b=. 11 • Quelle: EMV 1996.

Zusammenfassend hat unsere Analyse der leistungsbezogenen Legitimität des demokratischen Regimes die bereits im vorhergehenden Teil dieser Studie dargelegte Tendenz bestätigt, dass weder die Legitimität der Demokratie in Bezug auf bestimmte Problemfelder allgemein noch die Bewertung der tatsächlichen Regierungspolitik bedeutsame Auswirkungen auf das Ausmaß der Unterstützung der Demokratie durch die Venezolaner haben. Festzustellen ist die fast unbegrenzte diffuse Unterstützung der Demokratie als Regierungsform, verbunden mit der Ablehnung einiger bestimmter Facetten der tatsächlichen Leistung dieses Systems.

Auflösungserscheinungen einer etablierten

Demokratie?

103

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob das demokratische System Venezuelas über die notwendigen Stabilitätsreserven verfugt, um eine längere Krise zu überstehen und sich an die zukünftigen Herausforderungen ohne solche krisenhaften Zuspitzungen wie in den Jahren 1992-93 anzupassen. In einer ersten Annäherung an die Abschätzung dieser Reserven analysieren wir das Verhältnis der in Kirchen, Verbänden und Parteien organisierten Venezolaner zu Gewaltakten als Mittel zur Durchsetzimg politischer Ziele.

6 Soziale Organisation und politische Gewalt Die Bereitschaft zur Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele ist ein Indikator für das Ausmaß der Gefahr für die Stabilität des Regierungssystems. In Venezuela weisen drei von vier Bürgern jede Form der Gewalt in der Politik zurück, während nur einer von vieren glaubt, dass bestimmte Situationen den Einsatz von Gewalt rechtfertigen. Diese Haltung ist unabhängig von den soziodemographischen Faktoren Alter und Geschlecht (EMV 1996). Das Thema Gewalt wird in Venezuela nicht als gesellschaftliches Problem gesehen (Latinobarömetro 1995 und 1996). In anderen Worten: Es ist trotz der relativ hohen Bereitschaft zum Einsatz von Gewalt nicht zu Aktionen gekommen, die die öffentliche Meinung (hier verstanden als Meinung, die aus dem öffentlichen Diskurs entsteht, Negrine 1996: 103) beunruhigen. Wichtiger noch als das Verhältnis zwischen der Wahrnehmung der politischen Gewalt als gesellschaftlichem Problem und der Bereitschaft zu ihrer Anwendung als politischem Mittel ist die Art und Weise, auf der diese Bereitschaft Zugang zur Gesellschaft findet. Wenn sich in Organisationen, die gegen das System gerichtet sind, ein hoher Grad an Gewaltbereitschaft findet, besteht unzweifelhaft ein hohes Risiko für die politische Stabilität. Das gilt ebenfalls, wenn die Gewalt in erster Linie unorganisiert auftritt, da jeder Streit die Gewalt explodieren und unkontrollierbar werden lassen kann. Genau dies geschah unmittelbar nach der Verkündung eines harten Anpassungsprogramms im Februar 1989. Bei dieser Gelegenheit rettete die unorganisierte Spontaneität der Volksgewalt die Regierung. Wenn die Gewaltbereitschaft über allgemein akzeptierte Organisationen Eingang in die Gesellschaft findet, die das politische System im Allgemeinen unterstützen, ist das Risiko für die Stabilität gering, weil die Gelegenheit zur Diskussion gewalttätige Handlungen verhindern hilft. Dies lässt sich in Venezuela beobachten: Wie man Tabelle 12 entnehmen kann, sind gewaltbereite Menschen eher Mitglied in Vereinen und gesellschaftlich anerkannten Organisationen, die das politische System wenigstens im Prinzip befürworten und/ oder für eine Reform

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eintreten. Dieses Verhältnis ist statistisch bemerkenswert, auch im Falle von berufsbezogenen und religiösen Vereinigungen und Organisationen. Tabelle 12: Gesellschaftliche Organisation und Rechtfertigung politischer Gewalt Organisation

tau-b

Rechtfertigung von Gewalt

Ablehnung von Gewalt 69% 79%

Religiöse Organisationen: Mitglied Kein Mitglied

.11

31% 21%

Politische Parteien: Mitglied Kein Mitglied

.12

30% 21%

70% 79%

Berufsbezogene Organisationen: Mitglied Kein Mitglied

.11

30% 21%

70% 79%

Kulturelle Organisationen: Mitglied Kein Mitglied

.10

30% 21%

70% 79%

UmWeltorganisationen: Mitglied Kein Mitglied

.13

33% 21%

67% 79%

Quelle: EMV 1996.

Zusammengefasst vermitteln unsere Daten zur Gewaltbereitschaft den Eindruck, dass der Demokratie in Venezuela aus dieser Richtung, jedenfalls kurzfristig, keine Gefahr droht. Ein zweiter Weg, die Stabilitätsreserven der venezolanischen Demokratie auszuloten, besteht im Vergleich der Wahlbeteiligung, der demokratischen Grundüberzeugungen, unter Heranziehung der Problemfelder zur Überprüfung der Effizienz des politischen Systems, verbunden mit der Wahrnehmung dieser Effizienz im Laufe der Zeit.

7 Legitimität und diachronische Effizienz des Systems Der Estudio Mundial de Valores enthält eine ganze Reihe von Fragen, die die Befragten dazu einladen, das politische System des Landes in Vergangenheit,

Auflösungserscheinungen einer etablierten Demokratie?

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Gegenwart und Zukunft auf einer Skala von 1 („ganz schlecht") bis 10 („sehr gut") zu bewerten. Auf der Basis dieser Fragen haben wir eine Tabelle zur diachronischen Effizienz des Systems erstellt, deren Daten wir anschließend zur normativen und leistungsbezogenen Legitimität als unabhängiger Variable in Beziehung setzen. In unserer Tabelle 13 unterscheiden wir jene Befragten, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft negativ bewerteten („Pessimisten") von jenen, die glauben, dass die Vergangenheit besser als heute gewesen ist und die keine Voraussagen über die Zukunft abgaben („Enttäuschte"), und von jenen, für welche die Vergangenheit so schlecht nicht gewesen ist und die sogar meinen, dass die Verhältnisse sich verbessern werden („Optimisten").

Tabelle 13: Diachronische Effizienz des Systems Pessimisten

36%

Enttäuschte

44%

Optimisten

20%

Quelle: E M V 1996.

Die Untersuchung zeigt, dass es kein deutlich erkennbares statistisches Verhältnis zwischen Wahlbeteiligung und Optimismus oder Pessimismus gibt. Die Ergebnisse entsprechen den Erwartungen: Diejenigen, die am ehesten zur Beteiligung an Wahlen neigen, sind die optimistischen Bürger. Tabelle 14: Wahlbeteiligung, Grundwerte und diachronische Effizienz Pessimisten

Enttäuschte

Optimisten

Werde zur Wahl gehen Werde nicht zur Wahl gehen tau-b=.02

46% 54%

44% 56%

50% 50%

Tolerante Dogmatiker tau-b=.05

71% 29%

68% 32%

65% 35%

Ordnung Freiheitsrechte tau-b=. 11

51% 49%

50% 50%

33% 68%

Quelle: EMV 1996.

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Friedrich

Welsch/ José Vicente

Carrasquero

Die demokratischen Werte von Toleranz und Kompromiss entscheiden ebenfalls statistisch nicht bedeutsam über die Wahrnehmung der Effizienz des politischen Systems im Laufe der Zeit: Wie in Bezug auf die Wahlbeteiligung tendieren die optimistischen Zeitgenossen eher zu einer toleranten Einstellung als die Pessimisten und Enttäuschten. Die Daten zum Wertepaar Freiheitsrechte/ Ordnung zeigen jedoch einen deutlichen (und erwarteten) Einfluss auf die Wahrnehmung der Effizienz des Systems, denn die Optimisten bevorzugen offensichtlich die Freiheitsrechte vor der Ordnung, während sich die Enttäuschten und die Pessimisten ziemlich gleichmäßig zwischen beiden Werten aufteilen. Die demokratischen Werte, die Wahlbeteiligung, die Bewertung bestimmter politischer Bereiche und die Effizienz des Regierungssystems üben über die Jahre einen beachtlichen (und in einigen Aspekten einen statistisch teilweise bedeutsamen) Einfluss auf die Bewertung der Leistung der Regierungen aus. Die Richtung dieses Einflusses entspricht den Erwartungen, da diejenigen, die an die demokratischen Werte glauben und an Wahlen teilnehmen, die Vorteile der Regierungsform über die unbestreitbaren und zahlreichen Fehler stellen. Gleichzeitig bewerten sie die Vergangenheit und Zukunft der venezolanischen Demokratie erheblich positiver als ihre Mitbürger, die autoritäreren Werten zuneigen, politisch apathisch sind und sich wegen der Unvollkommenheiten ihrer Regierungen und deren Politik eher ablehnend zeigen. Tabelle 15: Spezifische und diffuse Legitimität, diachronische Effizienz Bereich

Pessimisten

Enttäuschte

Optimisten

Wirtschaftlich adäquates System Inadäquat tau-b=.02

16% 84%

18% 82%

18% 82%

Effiziente Entscheidungsfindung Ineffizient tau-b=.41

13% 87%

23% 77%

39% 61%

Garant der öffentlichen Ordnung Kein Garant tau-b=. 11

35% 65%

47% 53%

49% 51%

Beste Regierungsform Andere Regierungsform ist besser tau-b=.05

86% 14%

84% 16%

92% 8%

Quelle: EMV 1996.

Auflösungserscheinungen einer etablierten Demokratie?

8

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Schlussfolgerungen

Die Legitimität des demokratischen Systems in Venezuela hängt statistisch nicht bedeutsam von den analysierten Haltungen ab, sondern ist ein Wert an sich, und zwar, vergleichbar dem von Lamounier (1988) untersuchten Fall Brasilien ohne Rücksicht auf spezifischere demokratische Werte. Dieser besondere Umstand ist vielleicht das stabilste Fundament für den Fortbestand des Systems gewesen, vor allem in schwierigen Zeiten. Dass die venezolanische Demokratie bisher nicht zusammengebrochen ist, ist nach unserer Meinung eher diesem tief verwurzelten Glauben zuzuschreiben als besonderen Umständen wie etwa Zeiten großen wirtschaftlichen Wachstums („Schönwetterdemokratie" in den Worten von Grabendorff). Regierungen mit fester parlamentarischer Mehrheit oder „außergewöhnlichen Führern" (Coppedge 1994: 178). Es lassen sich allerdings auch „Kunstgriffe" (im Sinne von Eckstein 1988: 793) als Stabilitätselemente feststellen, etwa Reformvorhaben wie die Dezentralisation, die erklären helfen, warum die diachronische Evaluierung des Systems sehr viel vorteilhafter ausfällt als die synchronische. Die Widerspräche zwischen den ideologischen und pragmatischen Ebenen der politischen Kultur Venezuelas (Welsch 1992) - die breite Unterstützung für die Demokratie als Regierungsform verbunden mit der Zurückweisung der politischen Institutionen und der Leistungsbilanz der Regierung - sind über die Zeit ohne wesentliche Änderungen gegenwärtig gewesen. Die Kanalisierung des Protestes über systemtragende Vereinigungen und Organisationen und die Lernfähigkeit des Systems können vielleicht erklären, warum das System diese Widersprüche ausgehalten hat. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die venezolanische Demokratie die Ebene der Festigung der Zivilgesellschaft (Merkel 1996: 39) erreicht hat: die Stabilisierung ihres soziopolitischen Fundaments.

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Perus Gesellschaft nach dem politischen Zusammenbruch

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Julio Cotler PERUS GESELLSCHAFT NACH DEM POLITISCHEN ZUSAMMENBRUCH Peru ist ein vortreffliches Beispiel für die Auflösung der Gesellschaft seit Mitte des vergangenen Jahrzehnts, die sich aus dem Zusammenbruch der in Lateinamerika vorherrschenden politischen und wirtschaftlichen Ordnung ergeben hat. Zugleich ist das Land auch ein unvergleichliches Muster für den Einfluss auf die Gestaltung der Wirtschaftsordnung und des politischen Regimes, den verschiedene internationale Akteure in den letzten Jahren gewonnen haben.

1

Die Krise der achtziger Jahre

Nach zwölf Jahren Militärregierung belebte die Transition zur Demokratie 1980 die traditionellen politischen Parteien, spornte die gesellschaftliche Mobilisierung der Unterschichten an und bewirkte die Entstehung politischer Organisationen der Linken; insgesamt entsprachen diese Kräfte äußerst polarisierten Ideologien und gesellschaftlichen Interessen, die sich ihrerseits aus den tiefgreifenden sozialen, kulturellen und regionalen Unterschieden und Gegensätzen des Landes ableiteten. Diese Umstände waren entscheidend für das Entstehen eines höchst konfliktreichen politischen Szenariums, das die Herausbildung eines Parteiensystems blockierte und die Möglichkeiten zur institutionellen Festigung des historisch schwachen Staatsapparats vereitelte. Während die verschiedenen Gruppierungen ihren Zugang zu den knappen öffentlichen Mitteln zu maximieren suchten, lähmten die 1982 explodierende Schuldenkrise und das Wetterphänomen El Niflo im Jahr 1983 die Regierung und bewirkten einen abrupten Rückgang der Produktion. Diese dramatische Situation verschlimmerte die seit Mitte der siebziger Jahre verschleppte Wirtschaftskrise und vertiefte die politischen und gesellschaftlichen Widersprüche. Deshalb erteilte das Volk den Mitte-Rechts-Parteien, welche die erste Übergangsregierung gebildet hatten (1980-1985), eine Absage und wandte sich der Linken zu. So ging die APRA nach einem halben Jahrhundert vergeblicher Versuche aus den Wahlen von 1985 als klarer Sieger hervor und bewirkte den ersten demokratischen Regierungswechsel in 40 Jahren; zweitstärkste Kraft wurde die Vereinigte Linke (Izquierda Unida), eine Gruppierung mehrerer marxistischer Organisationen. Zusammen erhielten beide etwa 80 Prozent der Stimmen.

112

Julio Cotler

Kurz nach der Regierungsübernahme erfreuten sich Präsident Garcia und seine populistische Organisation einhelliger Zustimmung, weil er eine „heterodoxe" und nationalistische Politik im Stile Argentiniens und Brasiliens verfolgte. Aber nach zwei Regierungsjahren war das Scheitern der heterodoxen Wirtschaftspolitik und des Importsubstitutionsmodells ebensowenig zu verbergen wie in anderen Ländern der Region. Gleichzeitig strichen die multilateralen Organisationen das Land von der Empfangerliste für Auslandskredite, solange es seine Wirtschaft nicht anpasste und öffnete. Um sich den intensiven Konflikten zu stellen, die sich aus dieser Situation ergaben, dekretierte Präsident Garcia auf der Grundlage einer umfassenden Ermächtigung durch den Kongress einseitig die Verstaatlichung des Finanzsystems Entgegen der Ewartung, dadurch das „Volk um sich zu scharen", bewirkte diese Entscheidung eine Protestwelle der Unternehmer und der Mittelklasse gegen die Regierung; eine Protestwelle, die vom politischen Durchbruch liberaler Kräfte begleitet war, während die Linke mit Unterstützung der dynamischen und radikalisierten Volksbewegung ihre Forderungen in die Höhe trieb. Das Zusammentreffen dieser Faktoren heizte die Inflation an und forderte die Entwicklung von Guerillabewegungen wie „Movimiento Revolucionario Túpac Amaru" und besonders der Kommunistischen Partei/Sendero Luminoso („Leuchtender Pfad"), einer der blutigsten Guerillabewegungen überhaupt. Zu all diesen Merkmalen kamen noch weitere, ebenso kritische Aspekte hinzu; das alles ergab zum Ende des vergangenen Jahrzehnts eine besonders schlimme Lage des Landes innerhalb der lateinamerikanischen Szenerie. Erstens verschärfte die in Peru ebenso wie in Bolivien und Kolumbien zu beobachtende Zunahme der Drogenproduktion und des Handels die wirtschaftlichen Verzerrungen und verpflichtete die Bevölkerung in den Anbaugebieten des Dschungels zu korrupten Handlungen, welche die schwachen Grundmauern des Staates untergruben. Gleichzeitg drohte die Gefahr, dass aus der Verbindung des Drogenhandels mit den Guerillabewegungen „befreite Gebiete" entstanden, ein Grund zur Besorgnis für die Außenministerien und Streitkräfte der Nachbarländer, aber auch der USA, wodurch Peru international in eine schwierige Situation geriet. Zweitens bewirkte die ausgedehnte Wirtschaftskrise des Landes, dass ein bedeutender Anteil der Stadtbevölkerung - hauptsächlich Zugewanderte aus den ländlichen Gebieten der Anden - ihren Lebensunterhalt nur durch „informelle" Tätigkeiten bestreiten konnte, unter Missachtung der geltenden Normen und der staatlichen Autorität. Während marxistische Intellektuelle und Freiberufler auf die „Andenutopie" aufgebaute, anti-moderne und „campesinistische" Vorschläge

Perus Gesellschaft

nach dem politischen

Zusammenbruch

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formulierten, inspirierte sich diese vom „Fortschrittsmythos" erfasste Bevölkerung in dem von Hernando de Soto vertretenen liberalen und anti-staatlichen Glauben, ihre Ziele dadurch zu erreichen, dass sie den gesetzlichen Bestimmungen alltaglich die Stirn bot. Der kritischen Lage des Landes zum Trotz verhinderten die zunehmende Polarisierung und politisches Sektierertum Vereinbarungen zwischen den politischen und gesellschaftlichen Kräften, die dem Staat eine Kontrolle der Situation ermöglicht und besonders die Streikräfte mit den Zuständigkeiten und Mitteln ausgestattet hätten, um die Guerilla im Rahmen der Verfassung zu bekämpfen. Im Ergebnis führte dieses unverantwortliche Verhalten dazu, dass das Zusammenwirken der außergesetzlichen und anti-staatlichen, in dem Phänomen des „überschäumenden Volks" erfassten Aktionen ein Gefühl von Chaos und die Vorstellung verbreiteten, das Land befinde sich in einer vorrevolutionären Situation oder stehe am Rande des Zusammenbruchs seiner schwachen Institutionen. In der Tat: die sich verschärfenden Verteilungskonflikte endeten in einer Hyperinflation, die 1990 7000 Prozent erreichte, und im Verbund mit den zunehmenden Terroraktionen kam es so zur Lähmung der Regierung und der Gesellschaft; man hatte das Gefühl eines bevorstehenden Zusammenbruchs des Staates. Diese Phänomene führten zu akuten Spaltungen in den Parteien, die APRA und die Linke gerieten vollends in Misskredit - in einem Augenblick, in dem der Marxismus in die Krise und der reale Sozialismus in den Bankrott stürzten - , was mit der Auflösung und Zerrüttung der ursprünglich starken Volksbewegung endete. Die informelle Schattenwirtschaft kümmerte sich dabei immer weniger um staatliche Regelungen, und der mit der Guerillabewegung verknüpfte Drogenhandel trug zur weiteren Schwächung der ohnehin ohnmächtigen Institutionen von Gesellschaft, Politik und Staat bei. In Verbindimg mit dem Ansehensverlust der Parteien der vorherigen Regierung führte das zu verschiedenen Bekundungen der Abneigung gegnüber den populistisch und marxistisch orientierten politischen und gesellschaftlichen Organisationen, die über Jahrzehnte hinweg die sozialen Interessen artikuliert hatten und feste Bezugspunkte für Akteure und Identitäten aus dem Volk waren; solche Äußerungen waren z.B. Korruptionsvorwürfe und Klagen über antidemokratisches Verhalten ihrer Führer. Schlimmer noch war, dass diese Entwicklung in breiten Kreisen der Gesellschaft eine Reaktion gegen die Politik und gegen kollektives Handeln allgemein hervorrief. Unter diesen Bedingungen fanden die antipolitischen Aufrufe von „Unabhängigen" und Technokraten Widerhall in verschiedenen Gesellschaftsschichten, besonders bei Militärs und Unternehmern, während das von Hernando de Soto formulierte und von Vargas Llosa verkündete liberale Programm als die einzig

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Julio

Cotler

mögliche Alternative erschien, weil Staat und Parteien für die akute Krise verantwortlich gemacht wurden, die das Land durchlief. Hatten bis vor kurzem die Parteien die Gunst der Wähler auf sich konzentriert, so traten nunmehr bei den Wahlen von 1990 die beiden unabhängigen Kandidaten Vargas Llosa und Fujimori in den Vordergrund, und der Sieg des letzteren in der Stichwahl war nach 1985 eine weitere Überraschung. Peru wies in den achtziger Jahren die höchste Zahl von Wechselwählern in Lateinamerika auf, ein Beleg für die Intensität des Meinungswandels und der politischen Präferenzen einer desorientierten Wählerschaft.

2

Autoritärer Liberalismus

Im Verlauf der Endphase der Krise des wirtschaftlichen und politischen Ordnungsmodells ermöglichte der Sieg des Außenseiters Fujimori dessen Verbindung mit der von den Militärs, den internationalen Organismen und dem nationalen Unternehmertum repräsentierten „faktischen Gewalt", und seine wegen der gesellschaftlichen Auflösung verhältnismäßig große Freiheit erlaubte es Fujimori, deren Forderungen nachzukommen und sich der Krise des Landes zu stellen. In der Tat, diese Bündnisse ebneten ihm den Weg zur Änderung der Wirtschaftsordnung und zur Gründung eines politischen Regimes mit technokratischen und autoritären Zügen, die zur Überwindung der schwierigen Situation Perus beitrugen. Anders ausgedrückt, die vorausgegangene Auflösung der politischen und gesellschaftlichen Organisationen brachte es mit sich, dass das Land „von oben her" und mit einem großen Ausmaß an Autonomie wirtschaftliche und politische Reformen auf autoritäre Weise durchführte; dies vertiefte wiederum die gesellschaftliche Zersplitterung und Segmentation. Im Laufe der Zeit belegten die Fakten, dass die Inhalte von Fujimoris Abkommen mit den Militärs dem „nationalen Projekt" entstammten, das deren Führung erarbeitet hatte, um das verlorengegangene „Autoritätsprinzip" wiederherzustellen, das in Akademiker- und Technokratenkreisen mit der Wiederherstellung der „Regierbarkeit" gleichgesetzt wurde. Diesem Projekt zufolge sollten die Scharnier- und Repräsentationsfunktionen der Parteien und gesellschaftlichen Organisationen gegenüber dem Staat aufgrund ihrer angeblichen Verantwortung für die chronische politische und wirtschaftliche Instabilität des Landes ausgeschaltet werden. Die Streitkräfte sollten die Guerilla ihren eigenen Vorstellungen gemäß bekämpfen, also ohne rechtliche Hindemisse, und der militärische Apparat sollte offen oder verdeckt an der Ver-

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wirklichung dieser Ziele mitarbeiten, um die Stärkung des Staates zu sichern und die endgültige Demobilisierung der Gesellschaft zu erreichen. In diesem Sinne säuberte die militärische Führung die Kommandostrukturen von allen, die den Parteien verpflichtet waren oder diese Ziele nicht vorbehaltlos unterstützten, während andererseits Offiziere befördert wurden, die bereit waren, den Befehlen der Obrigkeit zur Erreichung dieser Ziele bedingungslos zu gehorchen. Gleichzeitig bemühte sich Fujimori zur Überwindung der katastrophalen Wirtschaftslage um die Hilfe Japans, der Vereinigten Staaten und der multilateralen Organisationen. Zu diesem Zweck gab der Präsident seine verschwommenen heterodoxen Vorhaben auf und akzeptierte die klassischen internationalen Konditionierungen; so konnten diese Organisationen und die Technokraten die bekannte Anpassungs- und Stabilisierungspolitik ausführen und „neoliberale" Wirtschaftsreformen durchsetzen Die Unterstützung der Regierung durch diese faktischen Gewalten führte zu deren Einflussnahme auf die offiziellen Entscheidungen, die ihrerseits die begonnene Destrukturierung der Unter- und Mittelschichten beschleunigten und deren Beteiligung an den Regierungsentscheidungen einschränkten. Anfangs stieß die Anpassung beim Volk auf Bestürzung und Ablehnung, aber diese Reaktionen konnten aufgrund des erwähnten Ansehensverlusts der politischen und gesellschaftlichen Organisationen nicht kanalisiert werden. Die Impotenz der Unterschicht wurde noch verstärkt, weil der Nationale Sicherheitsdienst - zum Hauptwerkzeug des Regimes geworden - eine erfolgreiche „psychosoziale" Kampagne gegen diese Organisationen und ihre Stellungnahmen führte, ebenso wie gegen die in Misskredit geratenen staatlichen Organe, die die Aktionen der Exekutive kontrollieren wollten. Diese Maßnahmen trugen zusammen mit dem steten Rückgang der Inflation wie auch in anderen Fällen wirtschaftlicher Erholung - dazu bei, dass die ihrer Artikulationsfähigkeit beraubte Mehrheit ihre Meinung änderte und gemeinsam mit den Unternehmern die von Fujimori verkörperte Regierungspolitik stützte und ihn sogar ermächtigte, ohne jede Vermittlung die plebiszitäre Vertretung ihrer Interessen zu übernehmen. So gelang es Fujimori nach der anfänglichen Isolierung schon nach kurzer Regierungszeit mit den faktischen Gewalten militärischer, technokratischer und unternehmerischer Natur, nationaler wie internationaler Herkunft, Allianzen einzugehen und dabei auf einen wachsenden, wenn auch unorganischen öffentlichen Zuspruch zu setzen, wie sich angesichts des „Staatsstreichs von oben" vom April 1992 erwies.

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Die Entscheidung hierzu ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass die Regierung zwar mit gesellschaftlichem Rückhalt rechnen konnte, aber dennoch die Pläne des Regierungsbündnisses durch fortdauernden Widerstand aus der Gesellschaft und der Staatsverwaltung behindert sah. Die Regierung musste sich mit den ständigen Protesten der geschrumpften politischen und gesellschaftlichen Kräfte auseinandersetzen, die sich gegen Verletzungen der Menschenrechte im Kampf gegen die Subversion, gegen die Dekrete zur Militarisierung der Gesellschaft und die autoritäre Durchsetzung der Wirtschaftsreformen richteten und auch Korruptionsvorwürfe enthielten. Andererseits sah sich die Regierung auch durch die traditionellen Nonnen und Strukturen des Staatsapparats an der Umsetzung ihrer Vorhaben gehindert, insbesondere vonseiten einer Gruppe hoher Offiziere in Schlüsselpositionen, die sich nicht mit den Zielen des „nationalen Projekts" identifizierten. Unter diesen Umständen hatte die Exekutive keine Bedenken, den Staatsstreich von oben zu dekretieren: Aufhebung der Verfassung, Konzentration der staatlichen Gewalten, Verfolgung der Oppositionsführer und Einführung der Zensur. Gleichzeitig wurde der militärischen Führung freie Hand gelassen zur Säuberung der eigenen Reihen und zum autonomen Kampf gegen die Guerilla, während die Technokraten ihre Wirtschaftsreformen durchführen durften. So ergab sich das Paradoxon, dass die regierungsnahen liberalen Ideologen die „Staatsräson" anführten, um den Verfassungsbruch zu rechtfertigen, während die Technokraten und die internationalen Organisationen argumentierten, die „Stärkung der Exekutive" sei eine notwendige Bedingung für die ungehinderte Durchsetzung der Wirtschaftsreformen. Fujimoris Staatsstreich-Entscheidung zur Beseitigung der Fehler und Hindernisse. die seiner „Regierung des nationalen Wiederaufbaus" die Umsetzung ihrer Vorhaben erschwerten, hatte zwar den Rückhalt der Mehrheit, traf aber auch auf den überraschenden Widerstand der Menschenrechtsorganisationen und supranationaler Institutionen sowie einiger Regierungen, die ihre weitere Unterstützung der Regierung an die Aufrechterhaltung der Demokratie knüpften. Diese Bedingungen zwangen Fujimori, von seinen ursprünglichen Plänen abzusehen und halfen nebenbei auch, weitere „Fujimori-Staatsstreiche" in anderen Ländern der Region zu verhindern. So sollte mit der Intervention von außen die Gültigkeit der vielzitierten Verbindung der wirtschaftlichen mit der politischen Globalisierung, des freien Markts mit der demokratischen Regierungsform unterstrichen werden. Präsident Fujimori wich jedoch dem internationalen Druck aus, indem er sich verpflichtete, Wahlen zur Einberufung des „Demokratischen (sie) Verfassungs-

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gebenden Kongresses" auszuschreiben, dem dann eine Volksbefragung folgen würde, in der die Wähler ihre Meinung zu der neuen Verfassung äußern könnten. Die Ergebnisse der Befragungen waren fiir die Regierung günstig und berechtigten sie somit, die Gestaltung der „Demokratur" im Stile Fujimoris voranzutreiben; fiir die internationalen Organisationen und die öffentliche Meinung im Lande galt die Regierung dank der Durchführung von Wahlen als demokratisch. Die Kandidaten der Regierung für den Verfassungsgebenden Kongress wurden von der Umgebung des Präsidenten sorgfältig ausgewählt und vom Geheimdienst durchleuchtet; sie gewannen die Wahl unter dem Eindruck der erfolgreichen „Managementleistung" Fujimoris. Tatsächlich hatten die Anpassungsmaßnahmen zwischen 1990 und 1992 das Chaos der Staatsfinanzen bereinigt, und nach dem Staatsstreich setzten die Technokraten noch kühnere Maßnahmen durch, welche die Inflation systematisch verminderten, die Repatriierung nationalen Kapitals und den Zustrom von Auslandskapital förderten und insgesamt dazu beitrugen, das Wirtschaftswachstum nachhaltig zu beschleunigen. Andererseits wurden kurz vor den Wahlen die Führer der Guerillabewegungen verhaftet und damit deren Zerschlagung eingeleitet, allerdings unter systematischer Verletzung der Menschenrechte. Das wiederum führte dazu, dass die Regierung auf Druck der nordamerikanischen Regierung den Drogenhandel bekämpfte und verminderte, der nun nicht mehr mit dem Schutz der Untergrundbewegungen rechnen konnte. Nach nur wenigen Jahren im Amt konnte die Regierung so dank Fujimoris „Dezisionismus ' Erfolge bei der Lösung der schwierigsten Probleme des Landes vorweisen: der Hyperinflation, der Subversion und dem Drogenhandel, und mit der wiederhergestellten Ordnung kam auch wieder Hoffnung im Land auf. Fujimoris Kandidaten für den Verfassungsgebenden Kongress setzten sich aber auch durch, weil von den dramatischen Veränderungen überraschte Intellektuelle nicht erkannten, dass die Hauptursache der allgemeinen Unterstützung der HalbDiktatur den Erfolgen der Regierung zuzuschreiben war, sondern sie auf die in Peru seit der prähispanischen Epoche präsenten autoritären Tendenzen zurückführten. Die Kandidaten setzten sich auch durch, weil die politischen Parteien sich nicht an der Wahl beteiligten; sie erkannten entweder die Rechtmäßigkeit der Einberufung nicht an oder sahen für den Fall einer Beteiligung ihre sichere Niederlage voraus. Dieses Verhalten war entscheidend dafür, dass die Intellektuellen, die bis dahin als Exponenten der Probleme des Landes gegolten hatten, im Gleichschritt mit den Veränderungen durch liberale Ideologen und Technokraten verdrängt wurden, und das Fehlen der politischen Organisationen in der politischen Debatte

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schwächte sie in der Gesellschaft noch weiter, mit der Folge einer verstärkten gesellschaftlichen Fragmentierung und Entstrukturierung. Aber nur ein Jahr später strafte das Ergebnis des Referendums zur Verfassung wenigstens teilweise die Sicherheit Lügen, mit der die Leistung der Regierung oder das autoritäre Element in der Kultur für den gesellschaftlichen Rückhalt des Regimes verantwortlich gemacht wurden. Ohne einen organisierten Wahlkampf oder Opposition versagte fast die Hälfte der Wählerschaft, in der die in Armut und extremer Armut lebenden Schichten dominierten, der Regierung ihre Unterstützung. Daher fiel die Annahme der neuen Verfassung sehr knapp aus, wenn angesichts der offenen Intervention der Regierung und des Militärs überhaupt von Annahme die Rede sein kann. Augenscheinlich war dieses Ergebnis auf mehrere Faktoren zurückzuführen, z.B. die Opposition gegen den Staatsstreich, die Unzufriedenheit der unteren Bevölkenmgsschichten mit dem Mangel an Arbeitsplätzen und den nach wie vor niedrigen Einkommen, die Vernachlässigung der ärmsten Regionen des Landes und die gegen die kommunalen Instanzen gerichteten Bestimmungen der neuen Verfassung. Schließlich ist auch die von der Regierung geäußerte Absicht zu nennen, Gesundheit und Bildung zu privatisieren. Die Hoffnungen der Regierung auf einen überwältigenden Sieg - Fujimori hatte die Befragimg deshalb in ein Plebiszit verwandelt - zerstoben also, und das Ergebnis überraschte sowohl die Regierungsallianz als auch ihre Gegner. Immerhin ermöglichte das knappe Ergebnis der Volksbefragung es der Regierung, die neue Verfassung in Kraft zu setzen, die - wie vorauszusehen war - eine offensichtliche hyperpräsidentialistische Komponente aufweist und die Wiederwahl einführt. Die neue Verfassung brachte die Proteste in In- und Ausland aufgrund des Putsches von 1992 mehr oder weniger zum Schweigen und begründete die Erkenntnis, die Machtkonzentration und -personalisierung seien entscheidende Faktoren gewesen, um Peru vor dem Desaster zu retten, und stellten darüber hinaus die einzig mögliche Entwicklungsalternative für das Land dar. Von diesem politischen Wiederaufbau ausgehend besaß die Exekutive eine außergewöhnliche Fähigkeit, den untergeordneten Gewalten die Gesetze und Urteile - im wörtlichen Sinne - zu diktieren, die sie brauchte, um die von den internationalen Instanzen entworfenen und von einer kleinen Gruppe Technokraten in völliger Freiheit umgesetzten Wirtschaftsreformen zu beschleunigen, aber auch, um die Zuständigkeiten des Militärs sogar über den von der Regierung selbst in die Verfassung von 1993 eingebrachten Rahmen hinaus erheblich zu erweitem. Insgesamt brachten die Wiederbelebung der Wirtschaft und die Befriedung des Landes Fujimori erstaunlich hohe Popularitätswerte ein, allerdings auf Kosten

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der demokratischen Institutionen. Grund genug für die Militärs, Technokraten und Unternehmer, darauf zu verweisen, wie gut dieser Handel sei, denn schließlich habe er eine der schnellsten und tiefgreifendsten Reformen Lateinamerikas oder gar der Welt ermöglicht, wie auch ranghohe Vertreter der multilateralen Instanzen nicht müde wurden zu verkünden, ebenso wie dadurch die Niederschlagung der Subversion, die noch bis vor kurzem die politische Stabilität des Landes und der Region bedroht hatte, ermöglicht wurde.

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Neopopulismus

Die Notwendigkeit einer Legitimierung durch Wahlen und das überraschende Ergebnis des Referendums zur Verfassung hatten entscheidenden Einfluss auf die langfristigen Pläne der Regierungskoalition. Es wurde deutlich, dass man eine Politik brauchte, mit deren Hilfe man die „psychosoziale" Schlacht gewinnen und das schwankende Gemüt der Unterschichten stabilisieren konnte, um die Wiederwahl des Präsidenten im Jahr 1995 zu sichern, die unverzichtbare Voraussetzung für die Konsolidierung des Wirtschaftsliberalismus und politischmilitärischen Autoritarismus Fujimoris. Aufgrund dieser Erkenntnis entwarf die Regierung mit der finanziellen und technischen Unterstützung der multilateralen Instanzen eine auf die Linderung der Armut gerichtete Politik, die sie dann umsetzte. Die dafür von diesen Institutionen und den Regierungen anderer Länder zur Verfügung gestellten Mittel wurden zulasten der Gemeinde- und Provinzbehörden im Präsidialamt konzentriert und für öffentliche Baumaßnahmen im ganzen Land verwendet, insbesondere in den Gemeinden der armen Regionen, deren Einweihung zu Fujimoris Alltagsgeschäft wurde. Ebenso wurden verschiedene öffentliche Instanzen geschaffen und gestärkt, die sich Frauen und Kindern, den Schülern und den Bewohnern der städtischen Armenviertel widmeten. Zu dieser mit der Figur des Präsidenten identifizierten Politik der sozialen Fürsorge kam die Steigerung der staatlichen Ausgaben, die mit Billigung der internationalen Kontrollorgane der Wirtschafitskonkunktur eine unerhörte Steigerung des Wachstums hervorrief und sich auch relativ vorteilhaft auf die Beschäftigung in städtischen Gebieten auswirkte. Paradoxerweise setzte die Regierung mit ausdrücklicher externer Billigung auf eine Politik, die den verschmähten „populistischen" Maßnahmen glich und auf Seiten der orthodoxen Liberalen Kritik hervorrief. Schließlich führte die Regierung in dem Maße, in dem der Zusammenbruch der politischen und gesellschaftlichen Organisationen die elektronischen Medien zum bevorzugten Vehikel der Forderungen des Volkes und der öffentlichen

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Meinungsbildung erhob, eine systematische Marketing-Kampagne in den regierungs-, militar- und vor allem geheimdienstnahen Fernsehanstalten durch, um die „traditionelle" Opposition zu diskreditieren und gleichzeitig die Erfolge der Regierung sowie den persönlichen Einsatz des Präsidenten für das Volk zu preisen. Über die Sabotage des Militärs und anderer Behörden gegenüber der Opposition hinaus zeigten diese Maßnahmen insgesamt Wirkung. Der Präsident gewann die Sympathie des Volkes, und die verarmten, unorganisierten und traditionell vom Staat übergangenen Massen sahen ihn als Vertreter ihrer Interessen und als Garanten für die Abhilfe ihrer Sorgen an. Diese Bindung der Unterschichten an Fujimori gesellte sich zu der bereits mit den Unternehmern bestehenden hinzu. Damit wurden sowohl die oberste als auch die unterste Schicht der Gesellschaft zu Bastionen des Präsidenten bei Wahlen. Die Beziehung mit den unteren Volksschichten auf der Grundlage eines Diskurses, der den „Pragmatismus" des Regimes zur Erreichung seiner Ziele herausstrich, trug zur Wiederwahl des Präsidenten mit einer satten Mehrheit im Jahr 1995 bei. Die Umkehr des Ergebnisses der Volksbefragung schien den Erfolg der Regierung und der Militärs in der psychosozialen Schlacht zu bestätigen. Aber der Wahlerfolg Fujimoris war auch der Aufstellung zahlreicher Kandidaten zu verdanken, die untereinander konkurrierten und dabei die gegen die Parteien gerichtete Kampagne Fujimoris aus dem Jahr 1990 nachahmten, obwohl die geschwächten Partei strukturen bereits von der politischen Bühne abgetreten waren. Dazu kam, dass Javier Pérez de Cuéllar, ehemaliger Generalsekretär der Vereinten Nationen und aussichtsreichster Kandidat der Opposition, sich mit diskreditierten politischen Figuren umgab, die den Wählern keine überzeugende und vertrauenerweckende Alternative zu bieten vermochten. Nach erfolgter Wiederwahl musste die Regierung die überhitzte Wirtschaft „abkühlen", die nach dem Tequila-Effekt den öffentlichen Haushalt aus dem Gleichgewicht zu bringen drohte. Sie war sich darüber im Klaren, dass sie damit soziale Unruhen schüren und den Rückhalt des Volkes riskieren könnte. Die Regierung setzte jedoch auf die versprochenen Auslandsinvestitionen, welche die Wirtschaft dynamisieren und ab 1997 hohe Wachstumsraten in allen Sektoren sichern sollten. Die optimistische Prognose rief bei den Militärs und Technokraten die Vorstellung hervor, die Bevölkerung werde Fujimori auf unbegrenzte Zeit unterstützen, eine Voraussetzung für die Konsolidierung der Marktwirtschaft in den ersten Jahrzehnten des kommenden Jahrhunderts.

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Legaler Wahlbetrug und ermüdende Anpassung

In der Zwischenzeit entwickelte die Regierung vorsichtshalber eine Reihe politischer Initiativen zur weiteren Unterhöhlung der geschwächten demokratischen Institutionen des Landes, um die für den Fujimorismus kennzeichnenden Regeln, Apparate und den autoritären Stil „legal" zu stärken. Dabei erzielte sie widersprüchliche Ergebnisse. Zunächst übertrug Fujimori seine Popularität auf seinen Thronfolger, um dessen Sieg bei den Kommunalwahlen in Lima zu sichern, dem wichtigsten Wahlgebiet des Landes. Aber zur allgemeinen Überraschung wurde jener von einem unabhängigen Kandidaten geschlagen, der aus den Reihen einer der traditionellen Parteien stammte und der paradoxerweise den politischen Stil und die liberalen Wirtschaftsvorstellungen Fujimoris nachvollzieht. Die unerhörte Reaktion der Wähler Limas zeigte erneut, dass der Rückhalt Fujimoris entgegen den Vorstellungen der Regierung wie der Opposition sich danach richtete, wie die Wähler und die öffentliche Meinung die von der Regierung geschaffene, allgemeine wirtschaftliche und soziale Lage und die Geltung bestimmter demokratischer Institutionen beurteilte; das sollte sich in der Folge mehrfach bestätigen. Das Wahlergebnis veranlasste den erbosten Präsidenten, mit Hilfe seiner disziplinierten und gehorsamen Parlamentsmehrheit dem frischgebackenen Bürgermeister Andrade die Mittel und Kompetenzen zu beschneiden, während seine Sprecher dessen Amtsführung kritisierten und herunterspielten, wie sie es bereits vorher mit anderen Persönlichkeiten und Institutionen getan hatten, die sich erdreisteten, den Herrn Präsidenten herauszufordern. Die überhebliche Haltung der Regierung traf jedoch auf die Ablehnung der Bevölkerung, auch weil die Stadtverwaltung verhältnismäßig effizient war, verhalf Andrade zu hoher Popularität, die zuweilen die des Präsidenten übertrifft, und liess ihn zu einem starken Kandidaten für die Wahlen des Jahres 2000 werden. Gerade zu dem Zeitpunkt, als die wirtschaftlichen Forderungen der städtischen Unterschichten in den Vordergrund rückten, trugen auch eine Reihe skandalöser Gesetzesinitiativen und Klagen über ungesetzliches Vorgehen der Militärs und des Geheimdienstes, insbesondere des Dienstes, in dem der unsägliche Vladimire Montesinos - mit dem Spitznamen „Rasputin" des Regimes - als „Berater" tätig ist, die die öffentliche Meinung erschütterten, zum Popularitätsverlust des Präsidenten bei. In der Tat beschloss die handverlesene Parlamentsmehrheit kurz nach Beginn der zweiten Amtsperiode überraschend, wie sie es immer zu tun pflegt, wenn sie sich

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über geltende Normen hinwegsetzen will, ein Gesetz über die „authentische Auslegung" der Verfassung, das die Wiederwahl Fujimoris im Jahr 2000 ermöglicht. Die Ablehnung der Mehrheit der befragten Bevölkerung gegenüber dieser fragwürdigen Auslegung und die Proteste der geschwächten politischen und gesellschaftlichen Organisationen führten schließlich zur Initiative des Demokratischen Forums für ein Referendum, dem sich Bürger verschiedener ideologischer Richtungen anschlössen, um den beeinträchtigten Rechtsstaat zu verteidigen. Darüber hinaus erklärte das Verfassungsgericht auf Gesuch der Anwaltskammer von Lima diese Interpretation für nichtig, und die Wahlaufsichtsbehörde erklärte, sie füge sich diesem Spruch. Daraufhin entschied sich die Regierung zu einer Reform des Justizwesens und der Staatsanwaltschaft mit dem expliziten Ziel, auf ihre Zusammensetzung und Kompetenzen Einfluss zu nehmen, und solche Ergebnisse künftig zu unterbinden; ein Vorgehen, das weiterhin Diskussionen und Vorwürfe auslöst. Zum selben Zeitpunkt bestätigte die Festnahme eines wichtigen Drogenhändlers den Verdacht, dass dieser enge Beziehungen zu ranghohen Militärs und besonders zum Berater des Geheimdienstes Vladimire Montesinos, unterhalte, der sich schon seit Jahren solchen Vorwürfen ausgesetzt sieht. Außer der Bekanntgabe seiner unerklärlich hohen Einkünfte wurde mitgeteilt, dass Montesinos über seinen Geheimdienst skrupellos über die Ernennung von Richtern entscheide, und es wurde unwiderlegbar bewiesen, dass die Streitkräfte die Telefone von Unternehmern, Journalisten, Politikern und sogar ranghohen Regierungsvertretern abhören ließen. Obwohl die Regierungssprecher die Vorwürfe zurückwiesen und jene Person bedingungslos verteidigten, zwang die öffentliche Meinung den Kongress zu einer Untersuchung, deren Ergebnis jedoch wie zu erwarten inakzeptabel war, um es höflich auszudrücken. Aber die Nachricht über die Folterung und Ermordung zweier Agenten des Geheimdienstes durch Kollegen, angeblich weil sie Informationen über den einige Jahre zurückliegenden, von eben jenem Geheimdienst verübten, Mord an zehn Studenten an die Presse hatten durchsickern lassen, musste wegen der erdrückenden Beweislast seitens der Presse bestätigt werden. Wie im Falle der Ermordung der Studenten wurden die Verantwortlichen nicht belangt. Insgesamt führten diese Vorwürfe zu nationalen und internationalen Protesten, die sich in Umfragen niederschlugen und die Kritik an Fujimori verstärkten, vor allem aber auch an seinen unmittelbaren Verbündeten, dem Oberbefehlshaber der Streikräfte und dem Berater des Geheimdienstes. Um die Proteste zum Schweigen zu bringen und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit abzulenken,

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bedrohten die Wortführer der Regierung und führende Militärs die Medien, die solche Nachrichten verbreiteten und überzogen sie mit einer Kampagne, in der ihnen vorgeworfen wurde, sie würden den seit 1994 in einen Grenzkonflikt mit Ecuador verwickelten Streitkräften in den Rücken fallen. Aber die steigenden, seit dem zweiten Halbjahr 1996 aufgestauten politischen Spannungen lösten sich im Dezember mit der Besetzung der japanischen Botschaft durch ein Kommando der Revolutionären Bewegung Tupac Amaru, die international großes Aufsehen erregte. Nach vierwöchiger Ungewissheit wurden die Botschaft und die Geiseln durch eine erfolgreiche militärische Operation befreit; damit stieg das beschädigte Ansehen Fujimoris, Montesinos' und des Oberbefehlshabers der Streitkräfte schlagartig. Die Regierung nutzte diese Situation und hob, gestützt auf eine Reihe rechtlicher Kunstgriffe, die peruanische Staatsangehörigkeit und die Eigentümerrechte des Direktors der Fernsehanstalt auf, die die erwähnten Nachrichten verbreitet hatte, und schüchterte gleichzeitig die Medien insgesamt ein. Darüber hinaus entfernte der Kongress mit ebensolchen Kunstgriffen die Richter des Verfassungsgerichts, die die Entscheidung gegen eine zweite Wiederwahl Fujimoris unterzeichnet hatten, aus ihrem Amt. Diese willkürliche Machtausübung weckte erneuten Protest im In- und Ausland, sogar seitens der Organisationen der Arbeitgeber; nach langer Zeit kam es zu öffentlichen Aktionen gegen diese Maßnahmen und die Folgen der Wirtschaftspolitik. Die Umfragen verzeichneten einen spektakulären Abfall der hohen Popularität, die der Präsident durch die Räumung der Japanischen Botschaft erreicht hatte. Die Regierung setzte sich jedoch erneut über diese Reaktionen hinweg, denn sie hoffte darauf, dass die Wirkung verschiedener Hilfsprogramme und eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik sie mit der Zeit verblassen lassen würden, zumal keine politischen und gesellschaftlichen Kräfte sichtbar waren, die die Opposition gegen das Regime zu kanalisieren in der Lage gewesen wären. Die widerrechtlichen Maßnahmen zur vorweggenommenen Sicherung der Wiederwahl im Jahr 2000, die ihrerseits die Kontinuität des liberalen und autoritären Projekts sichern sollte, machten erneut deutlich, dass sie selbst für die andauernde Schwäche der staatlichen Institutionen und dementsprechend auch für die andauernde politische und gesellschaftliche Destrukturierung verantwortlich waren. Paradoxerweise riefen die Schwäche des Staates und damit der Gesellschaft kritische Bemerkungen seitens der internationalen Organisationen, die Fujimori unterstützen, hervor, denn schließlich werden sie ja nicht müde, die Notwendigkeit einer Stärkung der Institutionen und der „Zivilgesellschaft" zu betonen, um

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auf dem Weg zur Konsolidierung des neuen Wirtschaftsmodells und der Demokratie Fortschritte machen zu können. Die gesellschaftlichen Kontrollmechanismen der staatlichen Macht beschränken sich hauptsächlich auf einige Medien sowie auf Organisationen zur Verteidigung des Rechtsstaats und der Menschenrechte, die auf die Herausbildung der öffentlichen Meinung Einfluss ausüben und die von anerkannten privaten Instituten durchgeführten Meinungsumfragen durchführen. Ihr Überleben verdanken sie ihren internationalen Partnern bzw. Dachorganisationen sowie Agenturen einiger ausländischer Regierungen und gelegentlich auch supranationalen Organisationen. Diese Unterstützung wird jedoch durch die Verbindungen aufgewogen, die die Regierung mit anderen ausländischen Akteuren zu knüpfen verstanden hat, so z.B. mit den intellektuellen Wortführern des liberalen Gedankenguts und mit den multilateralen Organisationen aufgrund der rigorosen Umsetzung ihrer Lehren; wie auch mit dem Auslandskapital und den ausländischen Regierungsagenturen, die dessen Interessen vertreten, wegen der günstigen Bedingungen für Investoren in Peru sowie aufgrund der Regelung der Auslandsschulden und ihrer pünktlichen Bezahlung. Zur Unterstützung der Regierung seitens dieser Akteure kommt der augenscheinliche Rückhalt beim Militär, bei den Geheimdiensten und bei den Anti-Drogen-Agenturen der USA, möglicherweise durch die persönliche Vermittlung von Montesinos. So treffen und verschränken sich auf der öffentlichen Bühne Perus im neuen Rahmen der Globalisierung verschiedene, sowohl inländische wie ausländische gesellschaftliche Akteure („inter-mestic"). Von 1997 ab, als Ordnung und Stabilität der Bevölkerung keinen Anlass zur Sorge mehr boten, verknüpften sich die ungelösten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fragen mit den politischen Problemen, die sich aus der unverhüllten Absicht des zivil-militärischen Bündnisses, unbegrenzt an der Regierung zu bleiben, ergaben. Die Abkühlung der Wirtschaft im Jahr 1996 brachte die erwünschten Ergebnisse, und die Technokraten sagten hohe Wachstumsraten für die kommenden Jahre voraus. Vielleicht stiegen gerade deshalb in einem Umfeld, in dem nur etwa 15% der Erwerbsbevölkerung akzeptable Einkommen hat, die Forderungen nach Beschäftigung und Lohnsteigerungen der Unter- und Mittelschichten. Die Unternehmer wiederum unterstrichen ihre Bereitschaft, sich direkt an der Formulierung der Wirtschaftspolitik zu beteiligen und so die Autonomie der Technokraten zu beschneiden; diese Forderung ist angesichts der Auswirkungen des Klimaphänomens EI Nino und der Asienkrise noch lauter geworden.

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Der Präsident übernahm jedoch wieder die politische Initiative und brachte die verschiedenen Fronten der Opposition vorübergehend zur Ruhe, indem er persönlich die Leitung verschiedener Baumaßnahmen zur Linderung der NifioAuswirkungen übernahm, wie er auch die Gespräche mit Ecuador über die endgültige Grenzregelung führte Diese Aktionen bewirkten den Aufschub der Diskussion über die Forderungen der Arbeitnehmer und Unternehmer, und der Präsident legte in den Umfragen einige Punkte zu, ein Umstand, der von der Regierung und ihrer skrupellosen Parlamentsmehrheit genutzt wurde, um den Geheimdienst und die Streitkräfte von den Vorwürfen wegen illegalen Vorgehens reinzuwaschen und einige Bestimmungen durchzusetzen, die bei den nächsten Wahlen endgültig den im Volksmund so genannten „legalen Betrug" absichern sollen. Gleichzeitig versuchte die Regierung - getreu ihrer bekannten Taktik des Aufwerfens neuer Probleme zur Eindämmung der öffentlichen Debatte - die von den Medien verbreiteten Proteste gegen die Vorbereitung dieses Wahlbetrugs durch drakonische Maßnahmen gegen die Welle der Alltagskriminalität zu ersticken, Maßnahmen, die die öffentliche Meinung schon seit langem gefordert hatte. Doch die weit über die Verfassung hinausgehenden und internationale Verträge verletzenden Sonderbefugnisse des Geheimdienstes und der Militärgerichte haben berechtigte Sorgen hinsichtlich ihrer möglichen Folgen entstehen lassen, sogar bei den Unternehmern, und Warnungen vonseiten internationaler Organisationen hervorgerufen. Das erklärt den erneuten Popularitätsverlust des Präsidenten. Im Vorfeld der Kommunalwahlen von November 1998 wurde der zersplitterten politischen und gesellschaftlichen Opposition gegen das Regime klar, dass sie sich einigen und versuchen musste, die Übergriffe der Regierung mit einer Volksbefragung zu stoppen; das Demokratische Forum sammelte 1,2 Millionen Unterschriften, das entspricht 10% der eingetragenen Wähler, und schlug auf dieser Grundlage die Beendigung der offenen Einschränkungen des Rechtsstaats vor. Aber wie sich bereits bei früheren Gelegenheiten gezeigt hatte, vereiteln die unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Interessen der breitgefächerten Opposition ihre Einigung und damit auch ihre Chancen, die Unterstützung der öffentlichen Meinung zu gewinnen, die trotz steigender Kritik an der Regierung nicht bereit ist. die erreichte Stabilität aufs Spiel zu setzen. Die Regierung wiederum verfügt über die wirtschaftlichen und organisatorischen Mittel, um ihre Fürsorge-Politik nach Gutdünken voranzutreiben und große Kreise der Bevölkerung hinter sich zu bringen. Außerdem kann sie durch die Intervention der Militärs die Opposition bedrohen, einschüchtern und spalten, während sie neue lokale Führungspersönlichkeiten und sektorale Vertretungen kooptiert.

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Schließlich ist die relative Integration des Regierungsbündnisses um den freien Markt angesichts der Widersprüche in der Opposition bezüglich der durchgeführten Politik und der Wirtschaftsreformen ein entscheidender Faktor dafür, dass die strategischen Akteure im In- und Ausland aufgrund fehlender Alternativen weiterhin die Regierung stützen. Zusammenfassend kann man sagen, dass heute in Peru die Marktwirtschaft eng mit dem Autoritarismus Fujimoris verknüpft ist, denn der ist einerseits die Vorbedingung für die wachsende Autonomie der Technokraten und Militärs und andererseits für die stetige Auflösung der Gesellschaft, besonders in den Mittelund Unterschichten. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass sich die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Forderungen der Arbeitnehmer und Unternehmer in steigendem Maße mit politischen Forderungen verbinden, die sich auf die Wiedergewinnung der staatsbürgerlichen Rechte und die Geltung der Demokratie richten. Damit diese Alternative jedoch Erfolg hat, muss erst eine einheitliche Opposition entstehen, die diese Forderungen zu organisieren und kanalisieren vermag, sonst wird der von der Regierung vorbereitete Betrug den Fujimorismus stärken und damit die Gesellschaft schwächen und in die Abhängigkeit vom Staat treiben. Die Folgen wären unabsehbar.

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Petra Bendel ZIVILGESELLSCHAFTLICHE ORGANISATION UND PARTIZIPATION JENSEITS DES ANTI-PARTEIEN-EFFEKTS?

Zur Aufrechterhaltung und Konsolidierung der neuen Demokratien in Zentralamerika In einer jüngeren Publikation über politische Parteien und Zivilgesellschaft schlägt das Zentralamerikanische Institut für politische Studien (Instituto Centroamericano de Estudios Políticos) vor, Funktion und Bedeutung von „Zivilgesellschaft" in Zentralamerika im Kontext der Demokratisierungsprozesse zu analysieren (INCEP 1996a: 13). Auch vonseiten der deutschen Politikwissenschaft (vgl. Lauth/ Merkel 1997: 12) wird zu Recht eingefordert, bei der Untersuchung der Transitionsprozesse stärker auch die Entwicklung der Zivilgesellschaft zu berücksichtigen, nachdem das Hauptaugenmerk bislang auf der Analyse der Institutionenbildungsprozesse lag. Im Folgenden werden verschiedene Konzepte von „Zivilgesellschaft" diskutiert, wie sie in den Diskursen Zentralamerikas erscheinen. Wir setzen diese in Bezug zur Empirie der sozialen Organisationen, die in der Region im Verlauf der 80er- und 90er-Jahre (wieder-)entstanden. Davon ausgehend, fragen wir nach der konkreten Funktion der so genannten Zivilgesellschaft für die Demokratisierungsprozesse: Tragen die normativen Implikationen des Konzeptes „Zivilgesellschaft" in der Tat den Konsolidierungsbedürfnissen der jungen Demokratien Rechnung? Der Beitrag gliedert sich in vier Abschnitte, die folgende Fragen beantworten: 1. Was verbirgt sich in den zentralamerikanischen Diskursen hinter dem Konzept der Zivilgesellschaft? Was bedeutet dies jeweils für die Demokratisierung? 2. Welche Probleme wirft die Etablierung der repräsentativen Demokratie in Zentralamerika auf, insbesondere mit Blick auf die politischen Parteien? 3. Welche Charakteristika weist die Zivilgesellschaft auf, wie entwickelt sich diese im Verlauf der Demokratisierung, und welche Funktionen übernimmt sie mit Blick auf die Defizite der jungen Demokratien, wie wir sie unter Punkt 2 herausgestellt haben? 4. Welche Folgen haben die Eigenschaften der Organisationen für das Konzept der Zivilgesellschaft, wie wir es unter Punkt 1 untersuchen?

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Zur Verwendung des Konzepts „Zivilgesellschaft" in Zentralamerika 1

1.1 Antiautoritarismus Es ist hinlänglich bekannt, dass das Konzept „Zivilgesellschaft", dessen Klarheit in umgekehrtem Verhältnis zu der Häufigkeit seiner Verwendung steht (Naumann 1991: 58), verschiedenen Theorien entspringt. Für unseren Zusammenhang sei lediglich daran erinnert, dass im westeuropäischen Diskurs meist die Idee vorherrscht, die Gruppen und Organisationen der Zivilgesellschaft seien im vorstaatlichen Raum organisiert, autonom und mit der staatlichen Sphäre bzw. der politischen Willensbildung nicht verbunden. Somit stellten sie ein Gegengewicht und zuweilen gar einen Gegensatz zum Staat und seinen Institutionen dar. In Zentralamerika ist diese Vorstellung in den antiautoritären Wurzeln des Konzepts präsent. Hier setzte die gegen den autoritären Staat organisierte Linke das „Zivile" dem „Militärischen", der autoritären Repression und Unterdrückung sozialer Bewegungen, entgegen (Salomón 1992a, Foley 1995: 14). Gerade in Zentralamerika, wo der autoritäre Staat den Interessenorganisationen und sozialen Bewegungen enge Handlungsgrenzen zog, agierten zivilgesellschaftliche Gruppen am Rande der Legalität oder gar in der Illegalität und griffen zu unkonventionellen Formen des Protests. Das Repressionsniveau schwankte dabei nach Ländern und Phasen erheblich. Ab Mitte der siebziger Jahre setzte in den meisten zentralamerikanischen Staaten jedoch infolge staatlicher Unterdrückung ein Politisierungs- und Radikalisierungsprozess der meisten sozialen Bewegungen ein, der dazu führte, dass sich viele soziale und soziopolitische Organisationen zu so genannten Volksfronten (frentes oder organizaciones populares) zusammenschlössen. Die Verwendung des Begriffs der „Zivilgesellschaft" als einer gegen die staatliche Kontrolle und Repression - oftmals gar gegen den Staat als solchen und seine Institutionen - gerichteten Gruppe von Organisationen rührt von dem Misstrauen gegenüber dem erlittenen staatlichen Missbrauch unter den autoritären Regimen her. Davon zeugen - oft in sich widersprüchliche - Begriffsverwendungen, die zwischen „der Macht unterworfenen organisierten zivilgesellschaftlichen Gruppen" und „dominierenden zivilgesellschaftlichen Gruppen" unterscheiden - eine Unterscheidung, die sich zum Teil noch bis weit in die Transitionsphase hineinzog (INCEP 1996a: 35). Gemeint sind im ersten Falle Gewerkschaften, „Volksorganisationen", Menschenrechtsgruppen, die den Gruppierungen der „dominanten Zivilgesellschaft" - Unternehmerverbänden und selbst Militärs (die aus unserer Sicht nicht zur Zivilgesellschaft zählen) - diame1

Für einen Vergleich zwischen Lateinamerika und Osteuropa siehe: Bendel/ Kropp 1997.

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tral gegenübergestellt werden. Dies verweist auf eine lange Tradition des Bruches zwischen Herrschaftsträgern und Herrschaftsunterworfenen, aber auch auf organisierte Interessen, die oft als „autoritäre Enklaven" bezeichnet werden. Auch Begrifflichkeiten wie die der sociedad populär (wörtlich: „Volksgesellschaft") anstelle der sociedad civil (Zivil- oder Bürgergesellschaft), die zwischen „formaler" und „tatsächlicher Macht" unterscheidet {poder formal versus poder real) wurzeln darin, dass in der Vergangenheit die formalen, verfassungsmäßig verankerten Rechte und Institutionen in der Praxis systematisch unterlaufen oder gänzlich ausgehebelt wurden. Der „formalen", über Institutionen verankerten Macht wird die „wirkliche" Macht „des Volkes" entgegengesetzt, das sich als - einheitlich gedachter - „Block" dem „Block der Herrschaftstiäger" (bloque en el poder), einer unter den autoritären Regimen verankerten Allianz von wirtschaftlicher Oligarchie und politischer Elite entgegenstemmt. Die Tatsache, dass sich verschiedene staatliche oder parastaatliche Repressionsmechanismen vor allem in Guatemala und El Salvador, zum Teil aber auch in Honduras, bis weit in die Transition hineinzogen sowie die extreme politische Polarisierung, die durch die noch während der Demokratisierungsphase anhaltenden Bürgerkriege ständig neu entfacht wurde, bedingten eine anhaltende Skepsis linker Gruppierungen gegenüber dem „formalen", zunächst über Wahlen und der Wiedererrichtung demokratischer Institutionen verankerten Demokratisierungsprozess. Somit zog sich die Unterscheidung zwischen institutioneller und „wirklicher" Macht noch bis in die neunziger Jahre hinein. Erst nach und nach wurde die „Volks-" von der „Zivilgesellschaft", wurden die „Volksorganisationen" von den „Organisationen der Zivilgesellschaft" abgelöst (INCEP 1996a). In dieser zweiten Phase der Demokratisierung, die mit einem profunden Wandel des wirtschaftspolitischen Paradigmas einherging, wurde die Zivilgesellschaft nunmehr dem Markt gegenübergestellt. Stärkung der Zivilgesellschaft bedeutet dann, den zum Teil drastischen Auswirkungen der Stabilisierungs- und Strukturanpassungsprogramme traditionelle (freilich oft auch überkommene) Formen sozialer, häufig kommunal-indigener Organisation und kollektiver Identität entgegenzuhalten (vgl. Lechner 1996). Wo dies nicht unter Rückgriff auf tradierte Lebensformen geschieht, wird die Re- oder Neuorganisation kollektiver (Widerstands-) Aktion gegen die neoliberalen Wirtschaftsreformen wie NGOs und sozialer gras-sroote-Organisationen unter den Begriff der Zivilgesellschaft gefasst. Gegenüberstellungen wie „Neoliberalismus versus Zivilgesellschaft" oder „Neoliberalismus, Zivilgesellschaft und Staat", welche die drei Sphären Markt, Staat und Gesellschaft als voneinander getrennte Sphären betrachten, sind an der Tagesordnung (etwa: Salomön 1992a). Die Idee einer

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sich spontan selbstorganisierenden und -regulierenden Gesellschaft, quasi unvermittelt von politischen Institutionen, ist hier präsent. Unter den Vertretern neoliberaler Denkfiguren, die zum Teil aus Zentralamerika selbst stammen, zum Teil aber etwa über Repräsentanten der internationalen Finanzorganisationen in die Region hereingetragen werden, erfuhr der Begriff der Zivilgesellschaft schließlich eine antietatistische Stoßrichtung. Der neoliberale Antietatismus, wie er mit dem Umbruch der politischen und wirtschaftlichen Systeme Konjunktur erhielt, witterte „in staatlichem Handeln eine unmäßige Verzerrung und Politisierung des sozialen Lebens. In der liberalen Tradition der gesellschaftlichen Selbstregulierung entdeckte er die bürgerliche Gesellschaft gewissermaßen neu" (vgl. Lechner 1996). Unterstützt wurde diese Haltung zum einen durch die negativen Erfahrungen mit klientelistischen und ineffizienten Staatsapparaten, zum anderen aber auch durch die Rechtfertigung der Strukturanpassungsprogramme. Erst der Rückzug des „paternalistischen Gefälligkeitsstaates" erlaube es den Individuen, so das Argument, sich auf ihre (wirtschaftlichen und sozialen) Kräfte zurückzubesinnen, sich zu engagieren und zu organisieren (Sautter 1994). Wo die sozialen Kosten der Anpassungsprogramme zutage traten, diente die Zivilgesellschaft dann zur „sozialen Abfederung": Die wirtschaftliche Öffnung, so der Tenor der internationalen Finanzorganisationen, aber auch vieler nationaler Politiker seit Ende der achtziger Jahre, erfordere auch eine soziale und politische Partizipation der Bevölkerung. Dort, wo der Staat sich aus traditionellen Aktivitäten zurückziehe, Bildungs- und Gesundheitsprogramme umstrukturiere, öffneten sich neue Arbeitsfelder für zivilgesellschaftliche Organisationen im gesellschaftlichen Feld - nicht aber zugleich auch im politischen Bereich. Zivilgesellschaftliche und kommunitaristische Zielvorstellungen finden sich zuweilen miteinander verknüpft. Im Gegensatz zum Neoliberalismus, der auf das freie Spiel individueller Kräfte setzt, betont der Kommunitarismus, dass das freie Individuum seine Identität erst durch die Einbindung in verschiedene Gemeinschaften erfährt. Der Einzelne wird als eingebunden in - im Idealfall unterschiedliche - mehr oder weniger verfestigte Organisationen bzw. Gemeinschaften gesehen, die allenfalls auf staatliche Institutionen Einfluss zu nehmen versuchen. Politische Entscheidungen sind im Idealfall an die Vielfalt dieser Gemeinschaften rückgekoppelt (Zimmer 1995: 560). Grundlegende Denkfiguren sind zuweilen die auch der Pluralismustheorie eigenen overlapping memberships, mit deren Hilfe soziale cleavages überbrückt werden können (Foley/ Edwards 1996: 41). Solche Versatzstücke kommunitaristischen Gedankenguts finden sich in Zentralamerika vor allem dort, wo sich die neoliberale Wiederentdeckung der Bürgergesellschaft mit Vorstellungen von einer subsidiären Gesellschafitsord-

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nung (Sautter 1994, Roggenbuck 1995: 3, 8, Parteiprogramme der christdemokratischen Parteien), ja, verschiedentlich mit kommunitaristischen Zielen überkreuzt. In der gesellschaftlichen Selbstorganisation wird dann nicht zuletzt eine Entlastung der politischen Arena gesehen.

1.2 Intermediäre Funktion der Zivilgesellschaft In neueren Texten zum Thema (etwa: INCEP 1996a und INCEP 1996b) wird fiir Zentralamerika mit Nachdruck auf die intermediäre Funktion zivilgesellschaftlicher Organisationen verwiesen. Der Hinweis auf und die Forderung nach dieser Rolle rührt aus der weitverbreiteten Parteienkritik, aus der Enttäuschung über die hinter den hohen Erwartungen zurückbleibende Regierungsieistimg, die mangelnde demokratische Binnenstruktur und die erst embryonale soziale Anbindung der politischen Parteien an gesellschaftliche Organisationen (vgl. u.a. Cerdas 1993). Als Instanzen der Intermediation, so die Diagnose (INCEP 1996b: 12), hätten die Parteien versagt. Daher suche die Zivilgesellschaft ihre eigenen Mechanismen und Instanzen, um die politische Sphäre zu beeinflussen (ebda.). Sie konsolidiere sich als parallele oder alternative Struktur zu den traditionellen Institutionen. An dieser Stelle wird deutlich, dass in Zentralamerika die politischen Parteien im Konzept von „Zivilgesellschaft" nicht enthalten sind, dass sogar eine klare Gegenüber - ja, verschiedentlich gar eine Frontstellung zivilgesellschaftlicher Organisationen und politischer Parteien gesucht wird, die sich oft auch im Gegensatz von sociedad politica und sociedad civil - unter mehr oder minder deutlicher Rezeption von Gramsci - spiegelt (Dada Hirezi 1996: 63ff.). Erst jüngst setzt sich die Erkenntnis durch, dass sich beide Formen von Intermediation nicht notwendigerweise gegenseitig ausschließen müssen, dass sich vielmehr beide Ebenen gesellschaftlicher und politischer Organisation ergänzen können und sollen (Torres Rivas 1994, INCEP 1996b: 17).

2 Defizite der jungen Demokratien und Anti-Parteien-Eflekt Es ist nicht zu bestreiten, dass die zentralamerikanischen Parteien eine ganze Reihe von Defiziten aufweisen. Die von der Kritik am häufigsten benannten Kritikpunkte lauten: mangelnde Repräsentativität, unzureichende Anbindung an ihre soziale Basis und mangelnde Effizienz bei den tatsächlich durchgeführten policies, gerade im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik (vgl. Cerdas 1994). Der Vorrang von Partikularinteressen einzelner Politiker und ein häufig mangelnder Wille unter den politischen Eliten, auch Kompromisse einzugehen und Lösungen selbst für die gravierendsten und drängendsten Probleme zu suchen, geben in der Öffentlichkeit ein Bild der politischen Parteien ab, das gerade für Länder, in denen die demokratische Legitimität noch auf schwachen Füßen

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steht, zweifellos alarmierend ist. Viele zentralamerikanische Bürger entscheiden sich für populistische Optionen wie in Guatemala für den ehemaligen Diktator Rios Montt. In El Salvador sind 76% der Bürger der Meinung, das Land benötige einen „starken Mann, der fähig sei, Ordnung ins Land zu bringen" (Coleman 1996: 423), wohingegen die Indentifikation mit den politischen Parteien kontinuierlich sinkt. In Nicaragua meinen 75% der Befragten, die politischen Parteien kümmerten sich nicht um ihre Probleme, und acht von zehn Nicaraguanern haben kein Vertrauen in die Parteien (I.E.N. 1993; Cördova Macias/ Maihold 1995). Daher ist es nicht erstaunlich, dass von der „Zivilgesellschaft" aus die „politische Gesellschaft" kritisiert wird, dass man versucht, „parallele" oder gar „alternative Institutionen" zu schaffen, um auf die Politik Einfluss zu nehmen. Aber wo ist diese Zivilgesellschaft, aus welchen Gruppen besteht sie, welches sind ihre „parallelen Instanzen" oder wie können diese aussehen? Und schließlich: Dienen diese tatsächlich dazu, politische Legitimität zu schaffen?

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Schwäche der „Zivilgesellschaft" und ihre Beziehung zu den politischen Institutionen

Ohne an dieser Stelle in die Analyse eines jeden Typus deijenigen sozialen und soziopolitischen Organisationen einzusteigen, welche die Zivilgesellschaft formieren, lässt sich doch mit Fug und Recht behaupten, dass die zentralamerikanische Zivilgesellschaft im Vergleich zu denen anderer Länder und Ländergruppen vergleichsweise schwach ist (vgl. dazu Bendel/ Kropp 1997 und Bendel/ Krennerich 2000). Der besondere Typus der autoritären Systeme, höchst ausschließend und repressiv, der Mangel an partizipativer und friedlicher Erfahrung in der Bevölkerung - mit Ausnahme der höchst mobilisierungsstarken sandinistischen Phase in Nicaragua - , die anhaltenden Menschenrechtsverletzungen noch während der Transition, während derer die Bürgerkriege in drei von vier Staaten andauerten sowie einige Elemente der politischen Kultur der Gewalt auf der einen und einer parrochialen politischen Kultur auf der anderen Seite (Almond/Verba 1963: 18ff.) haben dazu beigetragen, dass sich soziale Bewegungen, NGOs und Verbände nur allmählich wieder an die Oberfläche wagten. Während der Liberalisierung ließen sich in Zentralamerika erste zivilgesellschaftliche Aktivitäten verfolgen, die jedoch über die Kooperation mit dem autoritären Regime uneins waren und kein regelrechtes „Aufblühen" (O'Donnell/ Schmitter 1986, Lauth/ Merkel 1997), sondern allenfalls ein „Aufkeimen" der sogenannten civil society zur Folge hatten. Während der 80er-Jahre verharrten noch viele Gruppierungen im bewaffneten Kampf. Skeptisch gegenüber einem Demokratisierungsprozess, der „von oben", von der Militärfiihrung, und „von

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außen", vonseiten der USA und Europas, eingeleitet wurde, nahmen Teile der ganz oder teilweise im Untergrund wirkenden Organisationen die Transition als „Manöver der Aufstandsbekämpfung" wahr und argwöhnten - zum Teil zu Recht - , es handele sich um einen Schachzug, welcher der Guerilla den Boden entziehen sollte. Erst als die Transition weiter vorangeschritten war, gründeten sich je nach Fortschritt - und häufig auch entsprechend den Rückschritten - im Demokratisierungsprozess, sprich: der faktischen Geltung der Menschen- und Bürgerrechte, langsam und vorsichtig verschiedene Generationen von NGOs, indigena- und Frauenorganisationen, Gewerkschaften, und Basisgruppen. Wenn ich noch immer von einer relativen Schwäche der zentralamerikanischen Zivilgesellschaft spreche, so sind damit folgende Charakteristika angesprochen (vgl. ausfuhrlich Bendel/ Kropp 1997): - Mit Ausnahme der sandinistischen Massenorganisationen entbehren die meisten Organisationen einer starken Mitgliedschaft. - Ihre Organisationsstrukturen sind häufig höchst hierarchisch und personalistisch geprägt. - Viele Gruppen entbehren einer kollektiven Identität, welche sich auf Inhalte oder Programme stützen könnte, oder aber sie haben diese im Verlauf ihres Rollenwechsels während des Transitionsprozesses verloren. So hielten etwa die Gewerkschaften in Zentralamerika während der autoritären Regime unmittelbar politische Funktionen inne, welche sie jedoch im Verlauf der Demokratisierungsprozesse verloren, da ihnen die allmählich wiedererstehenden politischen Parteien diese Funktion streitig machten. - Der Aufbau von Netzwerken oder die Planung gemeinsamer Aktionen zwischen den einzelnen Organisationen selbst innerhalb eines Handlungsfeldes fallt noch schwer. Dies ist nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass im Verlauf der Transition die Heterogenität der Interessen selbst in ein und demselben Handlungsfeld deutlich zutage trat - eine Tatsache, die durch den gemeinsamen Kampf gegen die autoritären Regime der Vergangenheit in den frentes populäres zeitweise überdeckt worden war. Zum Teil erschwert auch die direkte Konkurrenz der einzelnen Organisationen, etwa der NGOs um externe Finanzierung, die Zusammenarbeit. - Viele Organisationen sind auch lokal nur sehr begrenzt präsent; sie konzentrieren sich meist allein auf die Hauptstädte ohne jegliche Verbindung zum Landesinnern. Nur wenigen Gruppen gelingt es, eine landesweite Struktur zu schaffen.

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- Schließlich ist die mangelnde Anbindung an die politischen Parteien von besonders hoher Bedeutung. Viele Organisationen bleiben so von der politischen Willensbildung und Entscheidungsfindung ausgeschlossen, auch wenn sie diese explizit anstreben. In Bezug auf die Beziehung zwischen der sogenannten Zivilgesellschaft und den politischen Parteien sehe ich zwei Hauptprobleme: Erstens fragt sich, welche direkten Beziehungen die zivilen Organisationen zum Parteiensystem unterhalten. Zweitens lässt sich beobachten, dass soziale Gruppierungen versuchen, direkt auf „das Politische" einzuwirken, sei es über die Bildung eigener politischer Parteien, sei es über ihre Beteiligung an sogenannten Konzertationsforen. In Bezug auf die direkten Beziehungen zwischen sozialen Organisationen und politischen Parteien lassen sich zwei Ländergruppen unterscheiden: In Honduras und Guatemala sind diese Beziehungen sporadisch und instabil, von einzelnen Persönlichkeiten und, insbesondere in Honduras, von traditionell klientelistischen Beziehungen geprägt. Traditionelle Interessen setzen sich gegenüber den noch immer starken Unternehmerverbänden durch. Der Mangel an stabilen Beziehungen zwischen beiden Organisationstypen und die Vorherrschaft der traditionell starken, meist rechtslastigen Interessenverbände sind dafür verantwortlich, dass neue oder erst wiederbelebte Gruppierungen der Zivilgesellschaft nur in sehr geringem Maße Einfluss auf politische Programme und Entscheidungsprozesse nehmen können. Das Problem liegt daher in mangelnder Repräsentation und Intermediation eines Großteils der sozialen Interessen, die in der politischen Arena schlicht nicht vorhanden sind. In der zweiten Ländergruppe, El Salvador und Nicaragua, wurzeln die Verknüpfungen zwischen sozialen bzw. „populären" Organisationen und den politischen Parteien in der Guerilla-Vergangenheit von FMLN bzw. FSLN. Selbst als sich diese zu politischen Parteien wandelten, blieben die Verbindungen zu den Massenorganisationen vergleichsweise eng. Die sozialen Bewegungen, die in den Bürgerkriegen der Vergangenheit zu frentes zusammengeschlossen waren, lernen heute nach und nach, friedliche Formen des Konfliktaustrags zu akzeptieren. Zum Teil spiegeln sie aber auch noch die Konflikte der Vergangenheit wider oder reproduzieren sie sogar. Vor allem in Nicaragua bestehen soziale Organisationen entlang der Hauptkonfliktachse „Sandinismus versus Antisandinismus". so etwa Gewerkschaftsorganisationen, die den Sandinisten oder aber der Alianza Liberal nahestehen, die parteipolitische Polarisierung mithin also reproduzieren und zum Teil perpetuieren. Dennoch zeigen Umfragen, dass beide „Blöcke" sich dort aufzulösen beginnen, wo die Vertreter der Organisationen zumindest auf lokaler Ebene gemeinsam konkrete Projekte angehen. Damit zeigen sich wichti-

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ge, demokratieförderliche Lerneffekte: Der „Feind" von ehemals wird neu eingeschätzt (Fox 1994). In Bezug auf die Gründung politischer Parteien durch die sozialen Organisationen selbst zeigt sich, dass die Konfrontation zwischen „dem zivilen" und „dem politischen Bereich", zwischen Gesellschaft und Staat, wie sie sich in den oben erwähnten Diskursen beharrlich zu halten scheint, sich längst aufzulösen begonnen hat. Die Tatsache, dass viele Gruppen der organisierten Zivilgesellschaft aktiv an den Friedensverhandlungen oder den ihnen vorgelagerten Konzertierungsgremien beteiligt waren - wie beispielsweise an der Asamblea de la Sociedad Civil (ASC) in Guatemala - stellte eine bedeutende politische Erfahrung dar. Letztlich diente diese als Sprungbrett für den direkten Sprung in die politische Arena: Gruppierungen aus der ASC, darunter indigena-, Frauen- und Menschenrechtsvereinigungen, gründeten 1995 ihre eigene Partei, den Frente Democrätico Nueva Guatemala (FDNG) und beteiligten sich an den Wahlen. Dieses Beispiel mag ferner verdeutlichen, dass Definitionsansätze, welche die Zivilgesellschaft klar und eindeutig von den politischen Parteien unterscheiden, im Einzelfall zu kurz greifen (vgl. Lauth/ Merkel 1997, dazu Kößler 1997). Auch aus normativer, nämlich demokratietheoretischer Hinsicht ist dieser Sprung zu begrüßen. Denn wenn, wie oben festgestellt, die Problematik gerade des guatemaltekischen Parteiensystems darin besteht, dass die zwar zahlreichen guatemaltekischen Parteien kaum an ihre Wählerschaft angebunden sind, dass die wichtigsten cleavages der guatemaltekischen Gesellschaft kaum Niederschlag in der politischen Arena gefunden haben, so trägt der Sprung des FDNG ins nationale Parlament exakt dem konstatierten Demokratiedefizit und dem angestrebten liberal-repräsentativen Charakter des politischen Systems Rechnung. Erstmals hat sich damit ein breites Segment der Gesellschaft auch politisch organisiert. Nicht die Distanz der Gesellschaft von staatlichen Institutionen, sondern ihre Integration in diese trägt den Konsolidierungsbedürfnissen der neuen Demokratien Rechnung. Ein Vergleich intermediärer Organisationen in Guatemala und El Salvador zeigt, wie wichtig es für die Demokratisierung ist, auch die Unternehmerschaft mit Parteien zu verzahnen: Die im Unternehmerverband CACIF organisierten Gruppen verfügen in Guatemala im strengen Sinne über keine politische Organisation und suchen nur begrenzt Anschluss an die politischen Akteure und Institutionen. Eine Einbindung der Unternehmerinteressen in das liberal-repräsentative System ist der Demokratisierung durchaus forderlich. In El Salvador ist es mit der Unternehmer- und Militärpartei ARENA gelungen, diese Interessen in ein demokratisches politisches System einzubinden und sie gerade dadurch daran zu hindern, über die demokratischen Institutionen „hinweg" Entscheidungen zu treffen bzw. die Entscheidungen demokratisch legitimierter

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Amtsträger systematisch zu untergraben. ARENA zumindest hat sich von einer rechtsextremen, prinzipiell antidemokratischen Partei binnen einer Dekade zu einer prinzipiell innerhalb der Systemgrenzen handelnden Unternehmerpartei gewandelt. Sie vertritt offen die Interessen der Unternehmerschaft innerhalb des liberal-repräsentativen Systems. Ob es der derzeitigen guatemaltekischen Regierungspartei PAN in Guatemala gelingen kann, einen solchen Schritt hin zur Integration von Gruppen zu vollziehen, die dem Demokratisierungsprozess zumindest skeptisch gegenüberstehen, muss sich noch zeigen.

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Ist das Konzept der Zivilgesellschaft geeignet, die zentralamerikanische Realität zu fassen?

Die dem Konzept von „Zivilgesellschaft" implizit innewohnende Trennung der Sphären von Staat und Gesellschaft ist empirisch nicht haltbar, denn sie erfasst die organisatorische Wirklichkeit der Gruppen nicht, die sich hinter dem Konzept verbergen. Diese zeigen sich flexibler, als die herkömmlichen Definitionen nahelegen. Die empirischen Befunde sprechen eher dafür, sich die „intermediäre" Auslegung von „Zivilgesellschaft" als empirisch-analytisches Konzept zu Eigen zu machen - wie dies im übrigen auch viele Organisationen selbst tun. Auch in normativer Hinsicht ist die intermediäre Funktion der Zivilgesellschaft von Bedeutung: Denn um die fragilen Demokratien Zentralamerikas konsolidieren zu können, muss der Integrations- und Intermediationsgedanke für gesellschaftliche Gruppen stärker in den Vordergrund gerückt werden als die Idee einer autonomen und oppositionellen Selbstabgrenzung, wie sie unter Umständen noch für die Phase des Opponierens gegen die autoritären Systeme hat Gültigkeit beanspruchen können. Aber nur wenn es den zentralamerikanischen Staaten gelingt, die sozialpolitischen Belange und Konflikte in die politischen Institutionen hineinzutragen, werden diejenigen Gruppen an die Demokratie herangeführt, die ihr bislang abwartend, skeptisch oder gar ablehnend gegenüberstehen. Nur so kann es gelingen, populistische Lösungsangebote abzuwehren (personalistische Tradition), traditionell klientelistische Muster zu schwächen (patrimoniale Tradition), Interessen durch demokratisch legitimierte Institutionen anstatt über sie hinweg durchzusetzen und die Tradition der Gewalt aufzubrechen. Erst durch die Teilhabe an institutionell neu gefasster. oder mit demokratischem Gehalt gefüllter staatlicher Macht lernen auch „alte" Eliten, demokratische Spielregeln anzuerkennen. Wenn es nicht gelingt, den neugeschaffenen oder wiederbelebten repräsentativen Institutionen durch gesellschaftliche Organisation Legitimität zuzuführen und sozialen Protest in die weiterhin polarisierten Gesellschaften einzu-

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binden, so droht die Gefahr, dass sich die Enttäuschung über die mangelnde Funktions- und Leistungsfähigkeit der Demokratie nicht an einzelnen Institutionen, sondern an der Demokratie als solcher niederschlägt. Versuche, „Zivilgesellschaft" von vornherein eine konsolidierende Wirkung zuzuschreiben, übersehen allzu oft, dass ihre Organisationen mitunter oligarchisch strukturiert sind, ihre Mitglieder zumeist der akademischen Schicht angehören und sie .S7wg/e-/.ww