Stadtentwicklung, Zivilgesellschaft und bürgerschaftliches Engagement 9783828205024, 9783110507867

Diese Publikation ist der abschließende Bericht des von Januar 2009 bis Januar 2010 durchgeführten Forschungsprojekts St

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German Pages 308 [320] Year 2010

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Stadtentwicklung, Zivilgesellschaft und bürgerschaftliches Engagement
 9783828205024, 9783110507867

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
I. Einführung
Zivilgesellschaftliches Handeln und bürgerschaftliches Engagement aus stadtentwicklungspolitischer Perspektive: kritische Überlegungen zur Thematik
II. Theoretische Reflexionen
Planende Verwaltung und zivile Gesellschaft
Selbst- und Fremdsteuerung in der Zivilgesellschaft
Zivilgesellschaft, Governance und Raum. Ein Beitrag aus Sicht der Geographie
III. Kontexte in Beispielen
Zivilgesellschaft unter Schrumpfungsbedingungen
Zivilgesellschaft in dörflichen Kontexten - eine ostdeutsche Perspektive
Zivilgesellschaft konkret: Bürgerstiftungen als Akteure der Stadtentwicklung
IV. Empirische Befunde
Zivilgesellschaft in räumlichen Arenen
V. Handlungskontexte
Zivilgesellschaft, Kulturpolitik und Stadtentwicklung
Der Traum vom glücklichen Miteinander - oder Bildung als Nagelprobe für eine integrative Kommunalentwicklung
VI. Handlungsansätze
Bürgerbeteiligung und konzeptionelle Planung
Förderung des bürgerschaftlichen Engagements - Strategien und Methoden für die kommunale Praxis
Kommunikation und Stadtentwicklung. Für eine Wunschkultur in der Kommunikation
VII. Fazit
Zivilgesellschaft und Stadtentwicklung
VIII. Anhang
Autorinnen und Autoren
Interviewpartnerinnen und Interviewpartner

Citation preview

Elke Becker Enrico Gualini Carolin Runkel Rupert Graf Strachwitz (Hrsg.) Stadtentwicklung, Zivilgesellschaft und bürgerschaftliches Engagement

Maecenata Schriften Bd. 6

Elke Becker, Enrico Gualini, Carolin Runkel, Rupert Graf Strachwitz (Hrsg.)

Stadtentwicklung, Zivilgesellschaft und bürgerschaftliches Engagement

®

Lucius ft Lucius · Stuttgart · 2010

Diese Publikation beinhaltet Ergebnisse des von Januar 2009 bis Januar 2010 durchgeführten Forschungsprojekts Stadtentwicklung, Zivilgesellschaft und bürgerschaftliches Engagement des Maecenata Instituts für Philanthropie und Zivilgesellschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin und des Fachgebiets Planungstheorie am Institut für Stadt- und Regionalplanung der Technischen Universität Berlin. Das Projekt wurde im Rahmen des Programms Nationale Stadtentwicklungspolitik durch das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS), vertreten durch das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR), gefordert.

NATIONALE STADT ENTWICKLUNGS POLITIK

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

ISBN 978-3-8282-0502-4 © Lucius ft Lucius Verlagsgesellschaft mbH Stuttgart 2010 Gerokstraße 51 · D-70184 Stuttgart www.luciusverlag.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Satz: Claudia Rupp, Stuttgart Umschlaggestaltung: I. Devaux, Stuttgart Druck und Bindung: Rosch-Buch, Scheßlitz

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Vorwort Im Rahmen der Nationalen Stadtentwicklungspolitik fördert das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) Pilotvorhaben in sechs Handlungsbereichen, um auf der Grundlage der Leipzig-Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt in Deutschland eine Diskussion über die Zukunft der Städte und den Wert von Urbanität anzustoßen. Der Handlungsbereich „Bürger für ihre Stadt aktivieren - Zivilgesellschaft" weist auf die Bedeutung hin, die das BMVBS der Zivilgesellschaft und dem bürgerschaftlichen Engagement beimisst. Aus diesem Grund werden beispielgebende Initiativen gefördert, die im wesentlichen durch die Zivilgesellschaft getragen und umgesetzt werden. Eines dieser Projekte ist das Forschungsprojekt Stadtentwicklung, Zivilgesellschaft und bürgerschaftliches Engagement, das von Januar 2009 bis Januar 2010 durchgeführt wurde. Es unterscheidet sich dadurch von den anderen, zumeist praktisch orientierten Pilotvorhaben, dass es die bisher kaum miteinander diskutierten Themen Stadtentwicklung und Zivilgesellschaft auf wissenschaftlicher Ebene interdisziplinär verbindet und damit einen kritischen und projektübergreifenden Blick anstrebt. Das Maecenata Institut für Philanthropie und Zivilgesellschaft an der HumboldtUniversität zu Berlin und das Fachgebiet Planungstheorie am Institut für Stadt- und Regionalplanung der Technischen Universität Berlin haben das Projekt gemeinsam durchgeführt. Dem BMVBS sowie dem Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR), die das Projekt gefordert und begleitet haben, danken wir für die Unterstützung. Unser Dank gilt außerdem allen, die in den Interviews, einer Expertenrunde und einem Autorenworkshop ihre Gedanken und Erfahrungen mit uns geteilt haben. In dem vorliegenden Sammelband bringen die Herausgeber sowohl die Erkenntnisse von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen als auch die Erfahrungen von Vertreterinnen und Vertretern aus Zivilgesellschaft, Politik, Verwaltung und Planung vor. Zusätzlich zu diesem Sammelband erscheint eine praxisorientierte Handreichung, die den Umgang miteinander erleichtern soll. Berlin, im Januar 2010 Elke Becker Enrico Gualini Carolin Runkel Rupert Graf Strachwitz

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Inhaltsverzeichnis Elke Becker, Enrico Gualini, Carolin Runkel und Rupert Graf Strachwitz Vorwort

I.

Einführung Enrico Gualini Zivilgesellschaftliches Handeln und bürgerschaftliches Engagement in stadtentwicklungspolitischer Perspektive: kritische Überlegungen zur Thematik

II.

III.

V

3

Theoretische Reflexionen Walter Siebel Planende Verwaltung und zivile Gesellschaft

25

Frank Adloff Selbst- und Fremdsteuerung in der Zivilgesellschaft

39

Tobias Federwisch Zivilgesellschaft, Governance und Raum. Ein Beitrag aus Sicht der Geographie

51

Kontexte in Beispielen Heike Liebmann Zivilgesellschaft unter Schrumpfungsbedingungen

71

Dierk Borstel Zivilgesellschaft in dörflichen Kontexten: eine ostdeutsche Perspektive

85

Andre Christian Wolf Zivilgesellschaft konkret: Bürgerstiftungen als Akteure der Stadtentwicklung

99

IV. Empirische Befunde Elke Becker und Carolin Runkel Zivilgesellschaft in räumlichen Arenen

121

Inhaltsverzeichnis

V.

ΥΠ

Handlungskontexte Bernd Wagner

Zivilgesellschaft, Kulturpolitik und Stadtentwicklung

207

Heike Kahl

Der Traum vom glücklichen Miteinander - oder Bildung als Nagelprobe für eine integrative Kommunalentwicklung 222 VI.

Handlungsansätze Detlev Ipsen

Bürgerbeteiligung und konzeptionelle Planung

237

Alfred Reichwein und Martina Trauth-Koschnick

Förderung des bürgerschaftlichen Engagements - Strategien und Methoden für die kommunale Praxis

250

Ludovica Scarpa

Kommunikation und Stadtentwicklung. Für eine Wunschkultur in der Kommunikation

265

VII. Fazit Rupert Graf Strachwitz

Zivilgesellschaft und Stadtentwicklung

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VIII. Anhang Autorinnen und Autoren Interviewpartnerinnen und Interviewpartner

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I. Einführung

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Zivilgesellschaftliches Handeln und bürgerschaftliches Engagement aus stadtentwicklungspolitischer Perspektive: kritische Überlegungen zur Thematik von Enrico Gualini

.Bürger für ihre Stadt aktivieren1: zu den Hintergründen eines emergenten Politikdiskurses In der Stadtentwicklung wird die Zivilgesellschaft zunehmend sowohl als Effektivitätsfaktor als auch als legitimierende Instanz gesehen. Als Beispiel hierfür werden in erster Linie die zahlreichen Erfahrungen angeführt, die im Rahmen des BundLänder-Programms .Soziale Stadt' gesammelt wurden. In der Tat partizipiert und engagiert sich eine zunehmende Zahl von Bürgerinnen und Bürgern in sogenannten Stadtteilen mit besonderem Entwicklungs- bzw. Erneuerungsbedarf. Diese Form der durch staatliche Programme aktivierten Bürgerbeteiligung hat sich während der laufenden Förderung bewährt und in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen. Sie ist in gewisser Hinsicht aber auch an ihre Grenzen gestoßen, da sie an den Anforderungen bestimmter Förderkulissen, den daran gebundenen Akteuren, Problemfeldem und Themen sowie an Bürgerbeteiligungsstrategien und -methoden gebunden ist. Langfristig haben sich diese häufig als zu schwach oder schlicht als ungeeignet erwiesen, um selbstorganisiertes Bürgerengagement über Förderperioden hinaus nachhaltig zu generieren und zu organisieren. Dies mag auch - zumindest teilweise - damit zusammenhängen, dass die entworfenen Strukturen und Arrangements vornehmlich von Behörden sowie Planern und Planerinnen entwickelt und vorgegeben wurden und somit einer gewissen politisch-administrativen Logik und einem grundsätzlichen top-down Charakter verschuldet bleiben. Gleichzeitig ist die Übertragbarkeit der hier gemachten Erfahrungen auf Räume mit anderen Eigenschaften fraglich. Dadurch bleiben Potentiale und Spielräume für Bürgerengagement in anderen räumlichen Arenen unberücksichtigt. Daraus ergibt sich auch in der fachlichen Diskussion die Frage, welche Arenen oder Arrangements der Stadtentwicklung - über die vielfach betrachteten Quartiersmanagement-Kulissen hinaus - nachhaltige zivilgesellschaftliche Initiativen, Handlungsformen und eventuell Strukturen mit integrativer Wirkung entstehen lassen, und welche Beiträge oder Bausteine diese in der Stadtentwicklung darstellen können. Insoweit definiert sich die Frage zu zivilgesellschaftlichem Handeln und Bürgerengagement in der Stadtentwicklung nicht als Gegensatz, sondern als Erweiterung und teilweise als Revision traditioneller Bürgerbeteiligungsstrategien.

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Die Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Zivilgesellschaft in Zeiten politischen Wandels ist natürlich nicht neu, und somit ordnet sich diese Fragestellung in den größeren Zusammenhang der Wellen und Phasen der Demokratieentwicklung ein. Erst in den letzten ca. 20 Jahren hat sich das Konzept einer Zivilgesellschaft als drittes gesellschaftliches Aktionsfeld neben Markt und Staat so weit entwickelt, dass es politisch handlungsleitend und praktisch anwendbar erscheint. Allerdings haben sich Funktion und Selbstverständnis der so definierten Zivilgesellschaft in den letzten Jahrzehnten stark verändert - und das selbstverständlich auch in Zusammenhang mit unterschiedlichen institutionellen Systemen. Stand früher z.B. in Deutschland die Erbringung von Dienstleistungen im Daseinsvorsorge- und Wohlfahrtsbereich im Vordergrund, so gewannen seit den 1960er Jahren die sogenannten advocacy organizations zunehmend an Bedeutung. In den letzten Jahren hat vor allem der tatsächliche und potentielle Beitrag der Zivilgesellschaft zur Identifikation, Integration, Inklusion, Partizipation mit gesellschaftlichen Zielen und Prioritäten die ordnungspolitische Diskussion beherrscht. Dies wird oft als eine Kehrseite einerseits der Krise der Leitvorstellung eines .aktiven Staates', wie sie die Aufbauphase moderner Wohlfahrtsgesellschaften geprägt hat, und andererseits der Kritik an der Zurechnungsfähigkeit der Institutionen der repräsentativen Demokratie, angesehen. Der an Bedeutung gewinnenden, wenn auch oft ideologisch-normativ geprägten Thematisierung der Interdependenzen zwischen Staat, Markt und Zivilgesellschaft z.B. in Zusammenhang mit Governance-Theorien und der zunehmenden Popularität der Theorie des Sozialkapitals - entsprechen in der Tat relevante Veränderung der Formen des politischen und sozialen Engagements. Während das Engagement im staatlichen und kommunalen Bereich massiv zurückgeht, nimmt das bürgerschaftliche Engagement in der Zivilgesellschaft in zunehmend differenzierten Formen zu. Angesichts kritischer Argumente zur Effektivitätskrise staatlichen Handelns und zu den damit verbunden Legitimationsproblemen gewinnt das Potential an sozialer Dynamik und Kreativität eine überragende Bedeutung. Die integrierende Funktion von Zivilgesellschaft, als .sozialer Kitt', wird somit in der wissenschaftlichen Diskussion heute als erheblich wichtiger angesehen als ihre dienstleistende oder gar finanziell entlastende Funktion, und das zunehmend in Abgrenzung zu den mehr institutionalisierten Formen im Rahmen staatlicher Politiken. Die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags .Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements' hat hierauf in ihrem Abschlussbericht von 2002 eindringlich hingewiesen und zugleich den Grundsatz des .ermöglichenden Staates' geprägt. Aufgabe des Staates ist aus dieser Perspektive gerade nicht die ständige Aktivierung mehr oder weniger freiwilliger Leistungen seiner Bürger, sondern die Schaffung von Rahmenbedingungen, Arenen, Arrangements usw., in denen sich bürgerschaftliches Engagement bilden und selbst ermächtigen kann. Damit geht ein Paradigmenwechsel im Selbstverständnis der Zivilgesellschaft selbst einher, weg von der Ersatz- oder Ergänzungsfunktion zum Staat, hin zur Erstellung und Umsetzung eigener Agenden. Dies wirft jedoch Fragen sowohl zum Wandel des Staates und des Verständnisses seiner Aufgaben und Politikansätze ge-

Zivilgesellschaftliches Handeln und bürgerschaftliches Engagement

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genüber der Gesellschaft, als auch zur politischen Rezeption ihrer theoretischen und pragmatischen Selbstdarstellung auf. Die Diskussion um Begrifflichkeit, ideengeschichtliche Herleitung und demokratietheoretische Bedeutung der Zivilgesellschaft bleibt nach wie vor wissenschaftlich vielschichtig und differenziert und ist keineswegs auf einen gemeinsamen Nenner zu reduzieren (vgl. Adloff und Strachwitz in diesem Band). Umso komplexer und zweideutiger sind ihre möglichen Konsequenzen im Sinne der Übertragung auf konkrete politische Aktionsfelder. Aber spätestens seitdem Bundesfinanzminister Peer Steinbrück im November 2006 die jüngste Reform der steuerlichen Rahmenbedingungen für gemeinnützige Körperschaften unter die Überschrift ,Der Staat braucht die Zivilgesellschaft' gestellt hat, ist der Handlungsbedarf für Politik und Verwaltung markiert. Auch das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) nähert sich dem Thema Zivilgesellschaft seit 2008 mit einem eigenständigen Handlungsfeld an - unter den Titel .Bürger für ihre Stadt aktivieren - Zivilgesellschaft' - im Rahmen der Nationalen Stadtentwicklungspolitik. EU, Bund, Länder und Gemeinden sind somit erkennbar dabei, Zivilgesellschaftspolitik erstmals oder zumindest neu zu bestimmen. Für all diese Entwicklungen stellen Städte, die Entwicklung des Stadtraums und die Stadtpolitik ein privilegiertes Betrachtungs- und Untersuchungsfeld dar. Bisher gibt es jedoch kaum Forschungsansätze, in denen die beiden Themenkomplexe Stadtentwicklung und Zivilgesellschaft interdisziplinär in ihren Zusammenhängen behandelt werden. Bestehende Forschungstraditionen und -ansätze fokussieren vielmehr auf bedeutende Teilaspekte gesellschaftlichen Engagements im städtischen Kontext, ohne jedoch dabei ein grundlegendes Bild des Umfangs und der Bedeutung zivilgesellschaftlichen Handelns für die Stadtentwicklungspolitik zu bieten. Gerade das deutet jedoch auf eine schwerwiegende Wissenslücke angesichts der Bedeutung eines auf Stadtentwicklung bezogenen Zivilgesellschaftsdiskurses. Eine Annäherung an die Thematik stellt das Forschungs- und Publikationsprojekts ,Stadtentwicklung, Zivilgesellschaft und bürgerschaftliches Engagement' dar, aus dem die Beiträge in diesem Band stammen. Das Projekt wurde von Januar 2009 bis Januar 2010 in Kooperation zwischen dem Maecenata Institut für Philanthropie und Zivilgesellschaft an der HU Berlin und dem Fachgebiet Planungstheorie am Institut fur Stadt- und Regionalplanung der TU Berlin durchgeführt. Die Förderung des Projekts erfolgte im Rahmen des Programms .Nationaler Strategieplan für eine integrierte Stadtentwicklungspolitik - Pilotprojekte der Nationalen Stadtentwicklungspolitik' vom BMVBS, in dem das Thema .Zivilgesellschaft' wie erwähnt eines von sechs strategischen Handlungsfelder ist. Durch die Einführung dieses Handlungsfeldes in das Programm erfahrt die Thematik der Beziehung zwischen zivilgesellschaftlichem Handeln und Stadtentwicklungspolitik eine wesentliche politisch-institutionelle Anerkennung. Das lässt einerseits auf mögliche konkrete Konsequenzen auf der Ebene der Fachpolitiken schließen - woraus sich auch eine erhöhte Nachfrage nach angewandter Forschung ergibt -, verdeutlicht aber andererseits auch die interdisziplinäre

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Vielschichtigkeit und die Komplexität der Thematik - woraus sich ein entsprechender Bedarf an Grundlagenforschung erkennen lässt. Umso bedeutender ist es, dass trotzt des vorwiegend anwendungsorientierten Charakters des Programms .Nationale Stadtentwicklungspolitik' der Bund diesen Bedarf als solchen anerkannt hat: Mit unserem Projekt ist im Rahmen des Programms nämlich ein Vorhaben gefördert worden, dass ausdrücklich das Ziel verfolgt, sowohl die grundlegenden sozialräumlichen Dimensionen der Thematik interdisziplinär zu erörtern als auch weiterführende Forschungen zur Schließung des bestehenden Erkenntnisbedarfs zu initiieren. Aus all diesen Gründen hat sich während der Arbeit an diesem Projekt unsere Überzeugung verfestigt, dass sowohl eine bedeutende gesellschaftliche und politische als auch eine erkennbare wissenschaftliche Legitimation für gezielte Forschungsansätze in einem Themenbereich besteht, der sich mit den Grundlagen und Bedingungen für eine zivilgesellschaftsorientierte und -gerechte Stadtentwicklungspolitik beschäftigt. Ein erstes wichtiges Ziel, das Forschung in dieser Hinsicht anstreben sollte, ist sicherlich die Schließung beträchtlicher Wissenslücken durch eine umfassende und bislang fehlende empirische Erfassung der Ansätze und Bereiche zivilgesellschaftlicher Aktivitäten in räumlichen Kontexten und eine Bewertung ihrer aktuellen oder potentiellen Relevanz für die Stadtentwicklungspolitik. Als wichtige Voraussetzung dafür erscheint uns jedoch das Bewusstsein, dass im Zentrum der Thematik emergente und koevolutiv definierte sozialräumliche Phänomene stehen. Daraus resultiert unsere Überzeugung, dass ein solcher Forschungsansatz nicht nur unterkomplexe Definitionen, sondern auch einen unvermittelt deduktiven Umgang mit der Thematik vermeiden sollte. Eine Herangehensweise, die sich an einem solchen Bewusstsein orientiert, steht also vor der Herausforderung, induktive und interdisziplinär untermauerte Formen der Erfassung für eine Thematik zu definieren, die sich nicht leicht in lineare Erklärungsmuster und eine Logik abhängiger-unabhängiger Variablen fügen lässt. Im Rahmen dieses Projektes konnte ein erster bescheidener, aber nicht unwesentlicher Anstoß in diese Richtung gegeben werden. Dabei haben wir nicht nur die Einbindung interdisziplinärer Beiträge angestrebt, sondern auch eine Vielstimmigkeit, die von Erfahrungen sowohl aus der Praxis als auch aus der Wissenschaft sowie aus unterschiedlichen thematischen und sozialräumlichen Handlungskontexten geprägt ist. Daraus ist ein erstes Stimmungsbild von an der Thematik interessierten und beteiligten Akteuren entstanden, aus dem man vor allem Anregungen für eine breitere Diskussion und Hinweise auf ein bedeutendes und facettenreiches Forschungsfeld ableiten kann.

Zivilgesellschaftliches Handeln und bürgerschaftliches Engagement

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Zivilgesellschaft und Stadtentwicklung: konzeptuelle Fragen und heuristische Herausforderungen Die Erforschung der Beziehungen zwischen Zivilgesellschaft und Stadtentwicklung birgt eine Reihe konzeptueller Herausforderungen, die relevante heuristische sowie methodologische Konsequenzen nach sich ziehen. Das Forschungsvorhaben, aus dem die hier vorgestellten Überlegungen resultieren, war fur uns eine Gelegenheit, uns mit einigen dieser Herausforderungen kritisch auseinanderzusetzen. Zwei dieser Herausforderungen, die mit der problematischen Definition beider Begriffe zusammenhängen, sollen hier als erstes eingeführt werden. Neben den noch beträchtlichen Wissenslücken bezüglich zivilgesellschaftlichen Handelns und bürgerschaftlichen Engagements - insbesondere wenn die Betonung auf konkreten Praktiken oder überhaupt auf dem Bezug zur Stadtentwicklung liegt stellt die Tatsache, dass jegliche Wissensbasis bestimmte Klassifizierungen und Darstellungsmuster der Thematik reproduziert und somit auch damit verbundene definitorische Dilemmata in sich trägt, ein besonderes Problem dar. Ein Forschungsansatz, der auf verfügbare Erhebungen oder Definitionen beruht, ist somit anfallig für die Reproduktion fragwürdiger, wenn nicht sogar instrumenteller Auffassungen des Forschungsobjektes. Ein ähnliches Problem ergibt sich angesichts der Strittigkeit räumlicher Definitionen, insbesondere in Bezug auf Auffassungen davon, was heute .Urbanität' ist, wodurch das .Städtische' definiert ist und was .Stadtentwicklungsfragen' ausmacht. Diese Fragen sind in der wissenschaftlichen Stadtforschung aktueller denn je, angesichts der Allgegenwärtigkeit und zugleich enormen Differenzierung urbaner Strukturen und Lebensweisen. Sie sind aber auch für die Führung eines öffentlichen Diskurses über konkrete politische Fragen nicht ohne Bedeutung. Während zum Beispiel seit einigen Jahren ein relativ deutlich erkennbarer Diskurs über .integrierte Stadtentwicklung' in Politik- und Planungsfachkreisen kursiert, der sich aus unterschiedlichen, aber konvergierenden Quellen speist, ist damit nicht unbedingt dessen breite öffentliche Verbreitung oder Teilung verbunden. Wenn also der Bezug zu .integrierter Stadtentwicklung' im Rahmen einer Diskussion zur Rolle der Zivilgesellschaft in der Stadtentwicklung einen wichtigen Schritt hin zur Sozialisierung dieses Begriffes darstellen kann, so sollte dies nicht die ebenso relevanten Herausforderungen verschleiern, die mit einer Aushandlung der damit verknüpften Bedeutungen und Inhalte und mit der möglicherweise damit verbundenen Spaltung zwischen Fach- und Allgemeinwissen zusammenhängen. Vielmehr wird damit gerade diese Dimension mit ins Spiel gebracht, und sollte daher als solche thematisiert werden. Somit verwandelt sich aber eine vermeintlich definitorische oder gar methodologische Fragestellung in eine heuristische Herausforderung. Im Vorfeld unseres Vorhabens ist uns zudem klar geworden, dass bestimmte konzeptuelle Fragen selbst wichtige heuristische Implikationen mit sich bringen. Der politisch-institutionelle Kontext, in dem unser Vorhaben eingebettet ist, macht dies deut-

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lieh. Im Sinne des Bundesprogramms, in dessen Rahmen unser Projekt gefördert wurde, kann der Verweis auf .integrierte Stadtentwicklung' als Ausdruck des Anspruchs verstanden werden, eine kulturelle Wende in der Stadtpolitik zu fordern - wobei die sich seit einigen Jahren durchsetzende Vorstellung eines ,integrierten' Politikansatzes durch die Nationale Stadtentwicklungspolitik eine wichtige paradigmatische Anerkennung erlangt. Einen wichtigen Aspekt stellt dabei das Ziel dar, auf innovative Praktiken zu setzen, die dieser Leitvorstellung entsprechen, um Erfahrungsaustausch und Lerneffekte zu fördern. Demnach sollte diesem Anspruch zur kritischen Generalisierung von Erfahrungen in der .integrierten Stadtentwicklung' unserer Ansicht nach auch eine Bereitschaft zur Überschreitung konsolidierter Politikkontexte und -praktiken und somit zu politischen Experimenten entsprechen. Wenn wir diese Überlegungen auf unsere Thematik übertragen, bedeutet die Betonung auf Zivilgesellschaft als eines der Handlungsfelder der Nationalen Stadtentwicklungspolitik also mehr als die Bewertung und Übertragung von Erfahrungen mit zivilgesellschaftlichen Initiativen aus bestehenden staatlich geförderten Stadtentwicklungs- und -erneuerungsprogrammen, sondern die Eröffnung einer erweiterten Perspektive zu ihren Potentialen in der Stadtentwicklungspolitik. Daraus ergeben sich einige Grundsatzfragen. Die erste ist, ob .Stadtentwicklung' in dieser Perspektive als ein Komplex von Themen, Fragen und Aufgaben verstanden werden sollte, der durch institutionalisierte Praktiken und ihre Aneignung in Politikund Planungsroutinen und -diskurse definiert wird - mit anderen Worten, als ein institutionalisiertes und auf disziplinäres Fachwissen basiertes Politikfeld - oder vielmehr als ein emergenter Komplex sozialer Fragen, die zum Teil ergänzend, zum Teil aber auch widersprüchlich zu diesen Praktiken stehen. Was damit auf dem Spiel steht ist, ob Stadtentwicklungsfragen und stadtpolitische Prioritäten primär als eine Definitions- und Deutungsdomäne von Institutionen der öffentlichen Hand angesehen werden sollten. Eine solche Perspektive birgt nämlich die Gefahr einer Instrumentalisierung der Zivilgesellschaft in Hinsicht auf vorbestimmte Zielsetzungen, wie sie aus dem politischen System heraus artikuliert werden. Potentiale zur sozialen Innovation, zur kreativen sozialen Mobilisierung, zu neuen Formen kollektiven Handelns wären somit in einem solchen Rahmen deutlich eingeschränkt. Die zweite Grundsatzfrage ist, ob .Zivilgesellschaft und bürgerschaftliches Engagement' als Politikobjekt vorausgesetzt werden sollte - und zwar so, wie immer man sie auch definieren möge: z.B. als Komplex von organisatorischen Vermögen und Ressourcen, als .soziale Netzwerke', als ein bestimmtes System der Staat-GesellschaftBeziehungen, oder als Träger .sozialen Kapitals' - oder vielmehr als Komplex emergenter, kontextgebundener und situativ definierter Phänomene verstanden werden sollte. Was in diesem Fall auf dem Spiel steht, ist, ob eine effektive Einbindung zivilgesellschaftlichen Handelns und bürgerschaftlichen Engagements in Stadtentwicklungspraktiken in etwa einer Übertragung von Aufgaben an oder einer Befähigung von bestehenden (ausgewählten) zivilgesellschaftlichen Praktiken und Strukturen gleichkommt. Das Risiko dieser Perspektive ist nämlich das einer Form politischer

Zivilgesellschaftliches Handeln und bürgerschaftliches Engagement

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Kooptation, einer selektiven Vereinnahmung .anerkannter' zivilgesellschaftlicher Praktiken und Strukturen durch das politische System. Eine solche Perspektive steht nicht nur in Widerspruch zu einem .liberalen' theoretischen Verständnis von Zivilgesellschaft sowie zum Selbstverständnis der Zivilgesellschaft: Sie stellt sich darüber hinaus der Gefahr, im Wesentlichen private Interessen mit privilegiertem Zugang zum politischen System aber mit dürftiger demokratischer Legitimation zu fördern. Das Ergebnis kann dementsprechend eine nicht weniger problematische - wenn auch wechselseitige - Form der Instrumentalisierung sein. Diese zwei Fragen sind sowohl spezifisch als auch auf kritische Weise als miteinander verknüpft zu betrachten, da von ihrer Deutung im Wesentlichen die tatsächliche Bereitschaft zur Entdeckung sowie das Potential zur Innovation aktueller politischer Diskurse zur Zivilgesellschaft und Stadtentwicklung abhängen. Ihre wechselseitige Bedeutung wird im Folgenden ansatzweise aus drei weiteren Perspektiven erörtert. Zivilgesellschaft und Stadtentwicklung in staatstheoretischer Perspektive

Der aktuelle Diskurs zur Rolle der Zivilgesellschaft in der öffentlichen Politik ist Teil eines umfassenderen Diskurses zu den Grenzen und dem Versagen des .aktiven Staates' und dessen institutioneller Infrastruktur - die Institutionen der repräsentativen Demokratie, die Apparate der öffentlichen Verwaltung, sowie neue Formen .delegierter Regierungen' - in der Gewährleistung effektiver Antworten auf soziale Bedürfnisse. Dieses anzuerkennen ist insofern wichtig, als es, zum ersten, die politische Dimension dieses Diskurses offen legt und, zum zweiten, dessen Einbettung in eine Neuorientierung der public policy sowie die Suche nach neuen Legitimationsrahmen für öffentliches Handeln hervorhebt. Im Bereich der Stadtpolitik kann dieser Diskurs nicht von Tendenzen der selektiven Neuausrichtung der Formen staatlichen Handelns getrennt werden. In diesem Sinne ist eine kritische Auseinandersetzung mit der Thematik nur vor dem Hintergrund einer Revision städtischer Sozialpolitiken und einer .Neoliberalisierung' der Stadtentwicklung möglich. Dies fragt natürlich nach der Fähigkeit eines solchen Diskurses, zu einer offenen Debatte bezüglich der Folgen und Auswirkungen dieser Entwicklungen auf konkrete soziale Praktiken und Lebensverhältnisse beizutragen. Andernfalls besteht das große Risiko einer nicht reflektierten Instrumentalisierung zivilgesellschaftlichen Handelns für politische Zwecke: insbesondere für ein Entwicklungsleitbild, zum Beispiel, das von der Auffassung der .unternehmerischen Stadt' dominiert wird, und in dem die Verfolgung sozialer Ziele als residual konzipiert und zunehmend aus der Domäne staatlichen Handelns relegiert wird. Zutreffend wird in der aktuellen politikwissenschaftlichen Diskussion eine Perspektive, in der die Logik staatlichen Handelns zunehmend auf die Mobilisierung ziviler Ressourcen zum Zwecke einer instrumentellen Neudefinition politischer Prioritäten setzt, als ,post-politisch' oder ,post-demokratisch' bezeichnet.

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Welche Konsequenzen eine solche Perspektive konkret hat, kann durch eine spekulative Auseinandersetzung mit den möglichen Auswirkungen dessen erläutert werden, was ein .aktivierender Staat' im Verhältnis zum komplexen Feld zivilgesellschaftlichem Handeln bedeutet. Wenn auch mit einem .liberalen' Selbstverständnis der Zivilgesellschaft ideell schlecht vereinbar, ist es kaum zu leugnen, dass der politische Diskurs zur Zivilgesellschaft faktisch ein aktives Bestreben der Politik darstellt, Staat-Gesellschafts-Beziehungen neu zu definieren und dabei Umfang und Potential .freier' ziviler Initiativen mit zu gestalten. Obwohl die Politik nicht danach trachtet, das Ideal oder die Realität zivilgesellschaftlicher Autonomie und Eigenverantwortung zu negieren oder zu vereinnahmen, liegt es nahe anzunehmen, dass ihre Ausdrucksmöglichkeiten und -formen dadurch .strukturiert', d.h. auf sowohl beschränkende als auch befähigende Weise beträchtlich konditioniert werden. Was aber kann .Aktivierung' bedeuten? Es scheint heutzutage unvermeidlich, darunter die Erscheinungen zweier Hauptmechanismen zu verstehen, auch wenn diese in vielfältigen Ausdrucksformen auftreten: die Delegation - die anvertrauende Übertragung von öffentlich anerkannten Aufgaben - und/oder die Befähigung zur Aufnahme öffentlich anerkannter Aufgaben. Beide Mechanismen sind natürlich vereinbar mit autonomen und selbstbestimmten zivilgesellschaftlichen Praktiken - und haben in diesem Sinne eine lange Tradition. Nichtsdestotrotz tragen sie wesentliche Widersprüche in sich. Dem Mechanismus der Delegation liegt es nahe, starke Effekte im Sinne eine Fremdbestimmung der Zivilgesellschaft auszuüben, indem dadurch nicht nur Art und Ziel der Aufgaben, sondern auch deren Kontext weitgehend von außen bestimmt werden. Delegation wirkt damit inhärent selektiv in der Definition der Verhältnisse zwischen öffentlicher Hand und Zivilgesellschaft und tendiert dadurch zu einer Instrumentalisierung hin zu selektiv vordefinierten Zielsetzungen. Befähigung kann hingegen als weitgehend vereinbar mit einem selbstbestimmten und autonomen Selbstverständnis von Zivilgesellschaft in Abgrenzung zum Staat erscheinen: Nichtsdestotrotz impliziert eine Politik der Befähigung jedoch auch die Schaffung einer Abhängigkeit von selektiv definierten politischen Prioritäten, und somit einen selektiven Einfluss auf die Zivilgesellschaft selbst. In beiden Fällen erscheint es deutlich, dass sich zivilgesellschaftliches Handeln und bürgerschaftliches Engagement einer Abhängigkeit von staatlichen Steuerungslogiken - wenn auch weniger hierarchischer und mehr inkrementeller und ausgehandelter Art - schwer entziehen können. Damit liegt aber die Gefahr nahe, dass eine staatliche Politik nicht unbedingt Vielfalt und Pluralismus der Zivilgesellschaft, sondern eher ihr .eingebettetes' und eventuell sogar ihr .elitäres' Profil fördert. Somit wäre die Frage zu stellen, ob eine solche Politik gegenüber der Zivilgesellschaft überhaupt soziale Kreativität fordern kann, oder ob sie vornehmlich der Reproduktion bestehender Staat-Gesellschafts-Verhältnisse dient.

Zivilgesellschaftliches Handeln und bürgerschaftliches Engagement

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Es kann aus zivilgesellschaftlicher Sicht hingegen keine adäquate Antwort auf diese Herausforderungen sein, eine unrealistische und letztlich ideologische .Autonomie' vom Politischen für sich zu beanspruchen (vgl. auch Adloff und Strachwitz in diesem Band). Vielmehr definiert sich die politische Identität der Zivilgesellschaft gerade dadurch, wie sie ihre Handlungsformen, Praktiken und Initiativen gegenüber den Bedingungen staatlicher Politik positioniert. In diesem Sinn stellt die zunehmende Beschwörung der Idee eines .ermöglichenden' oder .zutrauenden Staates' eine bedeutende, aber nicht widerspruchslose Wendung im öffentlichen Diskurs über Zivilgesellschaft dar. Der mögliche Widerspruch liegt darin, das damit eine neue Betonung des Unpolitischen zum Ausdruck kommt, anstelle einer konstruktiven Auseinandersetzung mit Formen und Inhalten des Politischen, und somit der Beziehungen zwischen Staat, Markt und Zivilgesellschaft. Was erforderlich zu sein scheint, ist nicht so sehr die Verwerfung einer .aktivierenden' Politik im Namen einer abstrakt-idealen Abgrenzung zwischen Zivilgesellschaft und Staat, die die realen Bedingungen ihrer Interdependenzen letztlich verschleiert und entpolitisiert, sondern ein Fokus auf die Beziehungsformen, die sozial- und politikrelevante Innovationen fördern können. Daher ist es eher anzuraten, ein .integrales' Verständnis von Staat zu pflegen als ein relativ stabilisiertes und institutionalisiertes System von Machtverhältnissen, in denen die Regulierung der Beziehungen zu Markt und Gesellschaft ein konstitutives Element darstellt. In dieser, wenn wir so wollen, post-ideologischen Perspektive wird somit deutlich, dass die Spielräume zivilgesellschaftlicher Autonomie und Selbstbestimmung immer von einer umkämpften Dynamik der institutionell vermittelten Regulierung dieser Beziehungen mitbestimmt wird. Damit wird aber wiederum auch deutlich, dass zivilgesellschaftliches Handeln und bürgerschaftliches Engagement eben auch zu den Orten gehören, in denen in einer modernen Gesellschaft soziale Kämpfe ausgetragen werden und somit ihre .politische' Dimension beleuchtet wird. Man kann also zusammenfassend behaupten, dass eine staatstheoretisch fundierte Auffassung der politisch-institutionellen Einbettungsbedingungen der Zivilgesellschaft gerade auch aus ihrer eigenen Perspektive heraus notwendig ist. Nur durch eine kritische, nicht-ideologische Betrachtung dieser Bedingungen kann zivilgesellschaftliches Handeln in der Auseinandersetzung mit Politik die symmetrischen Gefahren der Fremdbestimmung und der Residualisierung vermeiden. Zivilgesellschaft und Stadtentwicklung aus policy-analytischer Perspektive

Eine weitere wichtige Perspektive ergibt sich aus der Politikfeldanalyse sowie ihrer Fokussierung auf die Bedeutung der Eigenschaften des Politikumfeldes, der Politikarenen und der Politikansätze selbst für die Konstituierung der Akteure. In der Tradition der policy analysis steht seit langem die Erkenntnis im Vordergrund, dass die Merkmale des policy-making nicht rein aus formalen Entscheidungsprozessen abgeleitet werden können, sondern auch eine wichtige Komponente des framing des Politikumfeldes, d. h. der Prägung der Bedingungen selbst, unter denen eine Poli-

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tik stattfindet, beinhalten. Auf ähnliche Weise kann die Natur und die Rolle der Akteure einer policy nicht auf rein strukturelle oder positionelle Merkmale reduziert werden, sondern diese stehen in einer wechselseitig konstitutiven Beziehung zu den Eigenschaften eines Politikansatzes und zur Prägung der dazugehörenden Politikarenen. Policies konstituieren somit in gewissen Maße ihre eigenen Akteure - ihre Präferenzen und ihre Handlungsoptionen - indem sie dazu beitragen, die relationalen Bedingungen sowie die symbolisch-kognitiven Rahmen mit zu definieren, die in einer bestimmten Situation auf selektive Weise Individuen und Gruppen den Zugang zu wichtigen politischen Ressourcen ermöglichen. Aus dieser Perspektive heraus betrachtet sind Akteure also nicht als solche gegeben, sondern sie konstituieren sich im policy-Prozess selbst. Daher sollte die Zivilgesellschaft nicht als eine gegebene soziale Ressource betrachtet werden, sondern als eine fortwährend produzierte und reproduzierte Form sozialer Mobilisierung und Initiative. Dies verweist jedoch auf die Bedeutung der Bedingungen, unter denen dies stattfindet. Dabei spielen Faktoren der institutionellen Einbettung eine wichtige Rolle. Wenn relationale Bedingungen und symbolisch-kognitive Rahmen dazu tendieren, zunehmend institutionalisiert zu werden, bewirken sie damit auch eine tendenzielle Stabilisierung der Beziehung zwischen gouvemementalen und nicht-gouvernementalen Akteuren. Das betrifft die Zivilgesellschaft in dem Maße, als sie z.B. im Rahmen staatlich unterstützter Wohlfahrtssysteme eine institutionalisierte Anerkennung erlangt hat, die mitunter eine gewisse, je nach nationalstaatlichem Kontext unterschiedlich geprägte Teilhabe an der staatlich geregelten Arbeitsteilung im Bereich sozialer Dienstleistungen umfasst. Unter den Bedingungen institutioneller Einbettung, die typisch sind für diese nachkriegszeitlichen Formen von embedded liberalism, spiegelt zivilgesellschaftliches Handeln in seiner politischen Dimension - selbst wenn es sich als eine Form des Widerstands oder als Alternative zum Staat versteht - diese Muster der Institutionalisierung wider. Es besteht in dieser Hinsicht eine inhärente und notwendige, wenn auch nicht-deterministische Beziehung zwischen der Zivilgesellschaft als sozialer Ausdruck und politische Ressource einerseits, und andererseits der Weise, in der das institutionelle Umfeld ihre Domäne von Opportunitäten umreißt. Im aktuellen Diskursstand zur Rolle der Zivilgesellschaft in der öffentlichen Politik erscheint es deshalb naheliegend, dass weder die Negierung dieser Realität noch ihre Wendung zum Instrumentellen, sondern eher das Überdenken aktueller Formen der institutionellen Einbettung von Zivilgesellschaft auf dem Spiel stehen sollte. In dieser Hinsicht könnte man sich zum Beispiel die Frage stellen, inwiefern der Beitrag zivilgesellschaftlichen Handelns zu öffentlichen Politikansätzen - wie zur Stadtentwicklungspolitik - als .reaktiv', d.h. als Ausdruck ihrer Einbettung in ein institutionalisiertes System von Politikagenden und -maßnahmen, oder aber als .aktiv', d. h. als Ausdruck autonomer Präferenzen und Handlungsfähigkeiten, verstanden werden sollte (vgl. Siebel und Ipsen in diesem Band). Wenn man die Voraussetzung

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akzeptiert, dass eine Wechselbeziehung zwischen Zivilgesellschaft und Staat nicht zu negieren ist, dann stellt sich somit die Frage, ob es eine adäquate Antwort dazu sein kann, entweder an Formen der Aktivierung' durch den Staat zu denken oder diese schlichtweg zu verwerfen. Vielmehr scheint eine Erneuerung der Formen, die diese Beziehung annimmt, einen zentralen kritischen Punkt darzustellen. Die zentrale Frage wäre in dieser Hinsicht, wie eine Politik des konstruktiven Einbezugs der Zivilgesellschaft anders konzipiert werden kann als entweder in Form der .strukturellen Einbettung' oder in Form einer .residualen' Bestimmung ihres Handlungs- und Initiativspielraumes: als ein Beitrag zum Aufdecken neuer Opportunitätsstrukturen für autonome, aber politikrelevante Formen zivilgesellschaftlicher Mobilisierung. Eine solche Politik würde möglicherweise eine Dimension der .Aktivierung' beinhalten, aber eben eine, die sich primär auf die Einführung von Opportunitäten für die Innovation - anstatt für die reine Reproduktion - der Bedingungen für zivilgesellschaftliche Initiativen richtet. Eine Reflektion bezüglich des Begriffs .(politische) Opportunitätsstruktur' kann hierzu nützlich sein. Es besteht zweifellos eine Spannung zwischen den endogenen und den exogenen Bedingungen für zivilgesellschaftliche Mobilisierung in einem bestimmten Politikumfeld. Individuen und Gruppen konstituieren sich als Akteure einer Politik in Zusammenhang mit ihrer Wahrnehmung sozialer Fragen, und diese ist abhängig von ihren Präferenzen, die ihrerseits kodeterminiert werden durch die Wahrnehmung der strategisch-relational bedingten Potentiale - der .(politischen) Opportunitätsstruktur' - für ihre konkrete Verfolgung in einer bestimmten Situation. Eine .(politische) Opportunitätsstruktur' weist somit zwei Dimensionen auf. Einerseits kommt sie zur Geltung, indem sie .aktiviert', d. h. indem sie als Gelegenheit und Anreiz zur Mobilisierung wahrgenommen und in kollektive Handlungen umgesetzt wird. Damit deutet der Begriff auf die Fähigkeit von Akteuren hin, sich für die Beteiligung an einem Politikfeld zu mobilisieren. Andererseits wird diese Fähigkeit natürlich auch .konditioniert', d.h. sie ist abhängig von den Ressourcen - materieller, relationaler und symbolisch-kognitiver Art - über die Akteure verfügen. Diese Fähigkeit ist somit wiederum durch die mehr oder weniger institutionalisierte Weise kodeterminiert, in der diese Ressourcen in einem bestimmten Politikfeld verteilt sind. In dieser Hinsicht kann man die konkrete Verteilung von .(politischen) Opportunitätsstrukturen' als Ausdruck einer ungleichen und selektiven Verteilung politisch relevanter Ressourcen ansehen. Diese wird stark durch sowohl die formelle institutionelle Struktur des policy-making als auch durch die informellen Prozeduren, Strategien und Routinen, die bestimmte Politikansätze einrahmen, bestimmt. Beide Aspekte üben entscheidende Auswirkungen auf die Eigenschaften der Beziehungen zwischen gouvernementalen und nicht-gouvemementalen Akteuren aus. Formen zivilgesellschaftlicher Mobilisierung können sich also im Rahmen einer Politik grundsätzlich dann entwickeln, wenn das entsprechende Politikumfeld Opportunitätsstrukturen für die Identifizierung mit politischen Fragen bietet. Dies erfordert

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die Fähigkeit zur Erarbeitung und Aneignung gemeinsamer policy frames. Das kann aber nur einen effektiven und nachhaltig Einfluss auf entsprechende Politikansätze ausüben, wenn das institutionelle Umfeld dieser Politik Reflexivität, evolutionäre Adaptation und Lernen - oder, in anderen Worten, Prozesse des reframing - ermöglicht. In dieser Perspektive erscheint der effektive Einbezug der Zivilgesellschaft in die öffentliche Politik nicht so sehr eine Frage der Verwertung einer gegeben sozialen Ressource zu sein, sondern eine Frage der sozialen Kreativität: Und diese erfordert die Schaffung von Bedingungen für soziale Innovation und institutionelle Reflexivität. Zivilgesellschaft und Stadtentwicklung in sozialräumlicher Perspektive

Eine dritte, notwendige Perspektive befasst sich mit einer weiteren Implikation der vorausgegangenen Überlegungen: die räumliche Dimension zivilgesellschaftlichen Handelns und bürgerschaftlichen Engagements. Zivilgesellschaft und bürgerschaftliches Engagement sollten als räumlich definiert und bedingt betrachtet werden, aber nicht in einem rein kontingenten Sinn - indem sie in Bezug zu einem räumlichen Kontext oder zu einer räumlich relevanten Politik gesetzt werden - sondern in einem inhärenten, konstitutiven Sinn. Aus dieser Perspektive heraus lässt sich feststellen, dass Stadtentwicklungsfragen für ein Verständnis der räumlichen Dimension zivilgesellschaftlichen Handelns sicherlich einen wichtigen test case, aber keineswegs einen Sonderfall darstellen, wie die Neubewertung des Raumes in den Sozialwissenschaften deutlich macht (vgl. Federwisch in diesem Band). Die inhärente, konstitutive räumliche Dimension zivilgesellschaftlichen Handelns kann an mehreren Aspekten festgemacht werden. Erstens bringt jede Form sozialen Handelns sozialräumliche Beziehungsmuster zum Vorschein. Zweitens ist zivilgesellschaftliches Handeln abhängig von räumlich bedingten Ressourcen, sowohl materieller als auch immaterieller Art. Dazu gehören Formen der Identifikation und der gemeinsamen Ausprägung von Präferenzen, die von kollektiven Formen der Wahrnehmung und Aneignung sozialer Fragen abhängig sind, die an sich räumlichsensitiv und in sozial-konstruierten, räumlich bedingten Geflechten sozialer Beziehungen eingebetteten sind. Dieser Aspekt unterstreicht insbesondere die inhärente Raumsensitivität von Dynamiken sozialer Mobilisierung. Weit davon entfernt, von institutionalisierten .territorialen' Raumeinteilungen auf eine deterministische Weise bedingt zu sein, stellen Formen zivilgesellschaftlichen Handelns und bürgerschaftlichen Engagements - zumindest potentiell - eine entscheidende Kraft für die Produktion sozialräumlicher Beziehungen und die soziale Konstruktion eines Gemeinsinns räumlicher Verortung dar. Drittens besteht aber auch eine prinzipielle Abhängigkeit sozialer Bewegungen von den räumlichen Bedingungen ihrer institutionellen Einbettung. Institutionelle Rahmen verteilen Ressourcen für kollektives Handeln und

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definieren Opportunitäten für ihre Wahrnehmung, Aneignung und Anwendung auf selektive Weise - wobei die anhaltende territoriale Logik staatlichen Handelns sich wiederum als hemmender Faktor erweisen kann. Insgesamt bieten diese Bemerkungen Grund genug, um eine ent-räumlichte - oder .räumliche blinde' - Referenz an die Zivilgesellschaft zu vermeiden, in der die realen Selektivitätseffekte sozialräumlicher Einbettungsmuster verschleiert werden. Hinzu kommt aber auch, dass das Feld öffentlichen Handelns einem sich zunehmend auskristallisierenden Wandel in der Logik sozialräumlicher Regulation unterliegt, der wiederum bedeutende Verschiebungen in der strategisch-relationalen Selektivität öffentlicher Politiken mit sich bringt. So erweisen sich Definition und Verständnis von Fragen der räumlichen Politik selbst - inklusive .städtische' Fragen - zunehmend als problematisch, wenn sie im Rahmen einer traditionellen Auffassung .verschachtelter' territorialer Räume und ontologisch konzipierter und hierarchisch geordneter räumlicher Skalen gefasst werden. Daraus ergeben sich einige wichtige theoretische und heuristische Implikationen. Es ist erstens notwendig, Fragen zur Zivilgesellschaft vor dem Hintergrund einer staatstheoretisch fundierten Analyse des Wandels in den Formen staatlichen Handelns, in ihrer räumlichen Ausrichtung und insbesondere in ihren Auswirkungen im Sinne einer .Relativierung räumlicher Skalen' zu stellen. Zweitens sollten solche Tendenzen auf die daraus entstehende Notwendigkeit neuer Logiken sozialräumlicher Regulation und auf deren Auswirkungen auf die Definition von Politikfragen, -agenden und -arenen überprüft werden. Die Bedeutung dessen wird gerade im Bereich der Sozialpolitik durch die allmähliche Verschiebung von territorialen Prinzipien der Daseinsfürsorge hin zu selektiveren, gebietsbezogeneren und .unternehmerischen' politischen Einsatzformen verdeutlicht. Wir befinden uns somit vermutlich in einer epochalen Situation, in der Territorialität als Grundprinzip der Institutionalisierung sozialräumlicher Verhältnisse in unterschiedlichen Formen einer Revision unterliegt, von der bedeutende Effekte im Sinne der Konditionierung von Wahmehmungsformen und der effektiven politischen Behandlung sozialer Bedarfe zu erwarten sind. Drittens können zivilgesellschaftliches Handeln und bürgerschaftliches Engagement als einer der eigentümlichen Bereiche sozialer Praktiken betrachtet werden, in denen Spannungen aus sich verändernden und teilweise kontrastierenden Auffassungen des Raumes entstehen. Eine .verstehende' Auseinandersetzung mit Zivilgesellschaft und bürgerschaftlichem Engagement unter gegenwärtigen sozial-politischen und institutionellen Verhältnissen stellt deshalb einen paradigmatischen Fall für eine relationale Auffassung von Raum dar, und dementsprechend für Forschungsansätze, die eine methodologischterritorialistische Auffassung ihres Objektes vermeiden und die sozialräumliche Dimension sozialen Handelns dagegen ausdrücklich in den Mittelpunkt der Analyse stellen.

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Welche Auswirkungen können diese Überlegungen für einen sozialräumlich bewussten Umgang mit unserer Thematik haben? Die wohl bedeutendste davon stellt, in gewisser Hinsicht, die .räumliche Kehrseite' unserer Überlegungen zu den Akteuren und Arenen einer policy dar. Wenn die Akteure einer policy, wie vorhin argumentiert, durch die Eigenschaften der policy selbst und der entsprechenden Arena ko-konstitutiert werden, bedeutet dies auch, dass die hoheitliche, top-down-Ausrichtung einer Politik der Einbindung von Zivilgesellschaft in die Stadtentwicklung die Gefahr birgt, der Realität eine vorausgesetzte oder voreingenommene Auffassung von Zivilgesellschaft aufzudrängen, anstatt einen autonomen Ausdruck von Zivilgesellschaft aus ihr selbst heraus zu fördern. Wenn auf ähnliche Weise eine Politik der Einbindung der Zivilgesellschaft in die Stadtentwicklung auf einem vorausgesetzten oder voreingenommenen Verständnis davon, was .Stadtentwicklung' ist, basiert, liegt die Gefahr nahe, dass zivilgesellschaftlichen Initiativen eine fachlich definierte und operationalisierbare Auffassung von Stadtentwicklungsfragen aufgedrängt wird. In beiden Fällen kann sich daraus - bestenfalls - eine erschwerte oder verzerrte Kommunikation oder - schlimmstenfalls - eine selektive Instrumentalisierung zugunsten einer vorgegebenen politischen Agenda ergeben. Daraus entsteht die Überzeugung, dass die Frage, was in diesem Zusammenhang unter .Stadtentwicklung' zu verstehen ist, zwar unvermeidlich ist, aber entschieden nicht in einem grundlegend definitorischen, fachlich kategorischen Sinn beantwortet werden sollte. Im Gegenteil: Sich zu fragen, wie zivilgesellschaftliche Akteure und Initiativen stadtentwicklungsrelevante Fragen auffassen, sich aneignen, in Handlung umsetzen, und somit zu einer inklusiv und kooperativ ausgerichteten Stadtentwicklungspolitik beitragen können, erfordert ein Verständnis davon, wie die Bedeutung des .Urbanen' selbst durch Formen sozialer Identifikation und aktiver Auseinandersetzung mit einem sozialkonstruierten Raum, mit der sozialräumlichen Konstruktion des .Lokalen', konstituiert wird. Mit anderen Worten: Die Frage nach einer möglichen konstruktiven Beziehung zwischen Zivilgesellschaft und Stadtentwicklung impliziert die damit verbundene Frage nach der Schaffang einer räumlich konstituierten öffentlichen Sphäre, in der ,Stadtentwicklung' jeweils situativ und relational als ein Prozess der sozialen Konstruktion des .Lokalen' als gesellschaftlicher Identifikationsraum verstanden wird, und in der die Zivilgesellschaft eine politisch relevante Repräsentation - im dualen Sinne von Darstellung und Vertretung - erlangen kann.

Methodologischer Ansatz Die Herangehensweise an die Thematik, die wir im Rahmen dieses Forschungsvorhabens gewählt haben, spiegelt unsere Überzeugung wider, dass es in dieser Phase der Debatte heuristisch von Vorteil sein kann, die aus den vorgestellten Überlegungen entstandenen Fragen programmatisch offen zu halten. Charakteristisch dafür ist vor allem ein induktiver Ansatz, der eine Definition der angesprochenen Aspekte aus den

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Praktiken sowie aus den Vor- und Darstellungen der Akteure selbst ableitet. Unser besonderes Anliegen ist es dabei, einen systematischen Zusammenhang zwischen der räumlichen Dimension und der thematisch-problematischen Dimension des Verhältnisses Zivilgesellschaft-Stadtentwicklung herzustellen. Ein bedeutender Anspruch unseres Projektes liegt somit darin, eine empirisch fundierte räumliche Differenzierung in der Betrachtung der Beziehungen zwischen Stadtentwicklung und zivilgesellschaftlichem Handeln einzuführen. Die räumliche Dimension wird durch den Bezug auf .räumliche Arenen' als sozialräumliches Analyseprinzip, d.h. als Prinzip einer verräumlichten Analyse der Formen zivilgesellschaftlichen Handelns und bürgerschaftlichen Engagements, hergestellt. Wir verstehen den Begriff .räumliche Arenen' - im Sinne einer relationalen Geographie - als Ausdruck der sozialräumlichen Bedingungen für die Einbindung zivilgesellschaftlichen Handelns in einen policy process: In diesem Sinn stellt eine .räumliche Arena' eine Konstellation von Akteuren, Organisationen und Initiativen der Zivilgesellschaft dar, die sich relational und situativ in Zusammenhang mit einem definierten räumlichen Kontext konstituiert - und diesem räumlichen Kontext damit wiederum eine charakteristische sozialgeographische Prägung verleiht. Der damit gelegte Schwerpunkt auf die sozialräumliche Dimension der Thematik stellt an sich erhebliche Herausforderangen an die Forschung. Dies wird umso deutlicher angesichts der damit verbunden Ablehnung vordefinierter räumlicher .Orte', .Ebenen' oder .Skalen' als bestimmender Rahmen oder .Container' sozialen Handelns, und der sich daraus ergebenden Notwendigkeit einer alternativen Herangehensweise an räumliche Kategorisierungen. Die damit verbundenen methodologischen Fragen können nur im Rahmen einer grundlegenden Forschungsprogrammatik befriedigend angegangen werden. In diesem Untersuchungsrahmen gilt es daher, vor allem durch eine exploratorische Annäherang erste Eindrücke zu gewinnen, die zu verfeinerten Fragestellungen und zu entsprechenden methodischen Ansätzen führen können. Im Sinne einer ersten Annäherung haben wir uns in diesem Zusammenhang auf eine tentative und provisorische Definition von .räumlichen Arenen' bezogen, die ein proxy für die spezifischen sozialräumlichen Kontexte bestimmter Akteure darstellen, und somit auch eine Auswahl der Interviewpartner ermöglicht haben. Die thematisch-problematische Dimension wird ihrerseits definiert durch die Art und Weise, in der stadtentwicklungsrelevante Themen in den jeweiligen sozialräumlichen Kontexten in Form von Bedarf an Problemlösungsansätzen und/oder von Handlungsoptionen wahrgenommen und dargestellt werden. Die hierfür gewonnenen Autoren sind sowohl unter Praktikern als auch unter Forschern im Bereich zivilgesellschaftlichen Handelns ausgewählt worden. Darüber hinaus wurden in Zusammenhang mit unterschiedlichen .räumlichen Arenen' 35 Interviews mit Akteuren aus der Zivilgesellschaft sowie mit Akteuren aus Politik und Institutionen, aus der Planungspraxis und aus der Politikberatung geführt.

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Dieser duale Fokus ermöglicht es, eine erste Erkundung der konstitutiv räumlich bedingten Problem- und Optionswahmehmung aus der Perspektive zivilgesellschaftlichen Engagements in der Stadtentwicklung durchzuführen. Damit dient dieser Ansatz zwei heuristischen Zielen. Indem die Voraussetzung bestimmter räumlicher Themen oder Probleme als vermeintlich relevant für zivilgesellschaftliches Handeln und bürgerschaftliches Engagement in der Stadtentwicklung vermieden wird, wird zum einen deren Wahrnehmung, Darstellung und Ausdruck aus der Perspektive zivilgesellschaftlicher Akteure und Praktiken bevorzugt. Durch das Vermeiden einer räumlich neutralen oder gar .räumlich blinden' Vorstellung zivilgesellschaftlichen Handelns und bürgerschaftlichen Engagements wird zum anderen ein Verständnis von jjoiicy-Problemen und -issues gepflegt, das in Verhältnis steht zu räumlich bedingten Mustern der Interaktion, Kommunikation und Mobilisation sowohl innerhalb der Domäne der Zivilgesellschaft als auch in den variablen und ungleichen Beziehungen mit der öffentlichen Hand und dem Markt in unterschiedlichen sozialräumlichen Kontexten. Dieser Ansatz kommt in diesem Band in zwei Formen zum Ausdruck: in Form von thematischen Beiträgen, die unterschiedliche Facetten der Thematik jeweils aus einer vorwiegend theoretischen (vgl. Adloff, Federwisch, Siebel), kontextspezifischen (vgl. Borstel, Liebmann) oder praxis- und erfahrungsbezogenen Perspektive (vgl. Ipsen, Wolf, Kahl, Wagner, Reichwein/Traut-Koschnik und Scarpa) erörtern; sowie in Form interviewbasierter Essays, in denen die wesentlichen Befunde aus unserer proxygeleiteten Untersuchung unterschiedlicher räumlichen Arenen zivilgesellschaftlichen Handelns und bürgerschaftlichen Engagements wiedergegeben werden (vgl. Becker und Runkel). Letztere werden in der Form eines .virtuellen Dialog' zwischen den Interviewpartnem präsentiert. Damit wird der Versuch gemacht, aufgrund der Erfahrungen und Wahrnehmungen der Autoren und Interviewpartner eine soweit wie möglich komplexe und vielschichtige Darstellung der Bedingungen für zivilgesellschaftliches Handeln und bürgerschaftliches Engagement in den jeweiligen sozialräumlichen Kontexten anzubieten.

Vorläufige Schlussfolgerungen und weiterführende Forschungsrichtungen Die in diesem Sammelband vorgestellten Beiträge sollten unserer Auffassung nach nicht als .Ergebnisse' eines Forschungsvorhabens, sondern vielmehr als eine erste exploratorische Annäherung an eine komplexe Thematik angesehen werden. Was wir uns davon versprachen und mit dieser Veröffentlichung einer breiteren Diskussion zur Verfügung stellen, ist eine vielschichtige und vielstimmige Darstellung und darüber hinausgehend eine kritisch orientierte Sondierung der Thematik, die uns auch dazu verhelfen kann, den Bedarf an Forschung im Bereich der Verhältnisse zwischen Zivilgesellschaft und Stadtentwicklung näher zu definieren. Dabei ist uns - in Hin-

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sieht auf weitere Untersuchungen - ein exploratorisches Vorgehen mit diesem Themenkomplex genauso wichtig gewesen wie die dialogische Erörterung und Ansammlung von Gesichtspunkten. Trotz des ausdrücklichen tentativ geprägten Charakters des gewählten Ansatzes sind wir aber davon überzeugt, dass aus unserer Initiative Aspekte von sowohl heuristischer als empirischer Relevanz hervortreten. Jenseits der Ebene der begrifflich-definitorischen Dilemmata und ihrer zum Teil kontrastierenden theoretischen Voraussetzungen, mit denen jeder Versuch, die Themenkomplexe Zivilgesellschaft und Stadtentwicklung zusammen zu bringen, unvermeidlicherweise konfrontiert wird, resultiert aus unserer Untersuchung mit einer gewissen Deutlichkeit die Wahrnehmung, dass eine konstruktive Verbindung von Fragen der Stadtentwicklung(-spolitik) und von Fragen der Zivilgesellschaft(-spolitik) zuallererst ein kognitives Unterfangen darstellt. Ungeachtet der unterschiedlichen Ausgangsposition - wie z.B. des Grades von Abhängigkeit von Ressourcen materieller sowie relationaler und organisatorischer Art, die den Zugang zu Politikarenen und die effektive Einbindung von Formen zivilgesellschaftlichen Handelns und bürgerschaftlichen Engagements in die Stadtentwicklungspolitik bedingen - besteht eine bemerkenswerte Übereinstimmung seitens der Akteure - insbesondere, wenn auch nicht nur, seitens der zivilgesellschaftlichen - zu dieser Wahrnehmung. Zwei Dimensionen sind dabei hervorzuheben. Die eine bezieht sich, im engeren Sinn, auf die Schwierigkeit, eine kognitive Verbindung zwischen den Komplexen Zivilgesellschaft und Stadtentwicklung herzustellen. In der Tat erscheint es zuweilen so, als ob hier zwei Welten miteinander kollidieren. Im Allgemeinen herrscht bei den Akteuren - selbst bei den angesichts ihrer Rolle und Funktion .Bewussteren' unter ihnen - eine eher gering ausgeprägte Wahrnehmung der Relevanz von Formen sozialen Handelns und mitunter auch zivilgesellschaftlichen Initiativen für die Stadtentwicklung. Dies zeugt von einem anscheinend eher 'sektoralem' Verständnis von Fragen der Stadtentwicklung, und führt - von wenigen Ausnahmen abgesehen - dazu, entsprechende Politiken und Maßnahmen vornehmlich im Sinne administrativer Kompetenzen und fachlichen Wissens zu konzipieren. Dies scheint kein geringer Grund zur Reproduktion von Barrieren für die bürgerliche Identifikation zu sein. Dies wird noch deutlicher, wenn von .Planung' - als paradigmatisch wahrgenommener Ausdruck dieses Kompetenz- und Fachdenkens - die Rede ist. Andererseits scheint auf einer spezifischeren Ebene aber auch ein Mangel an kognitiver Kopplung zwischen der räumlichen und der soziale Dimension zivilgesellschaftlichen Handelns zu bestehen, d.h. sowohl eine mangelhafte konzeptuelle Verarbeitung als auch ein geringes soziales Bewusstsein für räumliche Implikationen - im Sinne von Bedingungen sowie von Potentialen - zivilgesellschaftlichen Handelns und bürgerschaftlichen Engagements. Zusammen betrachtet deuten diese zwei Aspekte auf eine .kognitive Lücke' hin, die aber wiederum einige wichtige Annahmen unseres Ansatzes bekräftigen: Dass - von wenigen Ausnahmen abgesehen - einerseits kein definierter Raum eine eindeutige Re-

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ferenz für zivilgesellschaftliches Handeln darstellt, und dass andererseits keine Form von zivilgesellschaftlichem Handeln und bürgerschaftlichem Engagement als soziale Realität in Zusammenhang mit einem bestimmten Raum vorausgesetzt werden kann. Gerade in sozialen Kontexten, die von den widersprüchlichen Erscheinungen diffuser Prozesse der Urbanisierung und Metropolitanisierung geprägt sind, deutet dies auf die Notwendigkeit eines offenen, differenzierten und pluralistischen Verständnisses von Urbanität und Stadtentwicklung hin, das einer Realität Rechnung tragen kann, in der die eigentümliche räumliche Verknüpfung sozialer, wirtschaftlicher und politischer Praktiken, die jeweils städtische .Verortungen' prägen, auf unterschiedlichen Maßstabsebenen und aufgrund unterschiedlicher Topologien des Urbanen definiert wird. Dies führt zu zwei weiteren Konsequenzen, die mit einer gewissen Deutlichkeit aus den Interviews herauszulesen sind: Erstens ist, unter solchen Bedingungen, der Umgang mit dem .Urbanen' alles andere als eine kognitive Selbstverständlichkeit. Das kann gewiss Anlass zu sehr unterschiedlichen Haltungen gegenüber der .Stadtentwicklung' geben: So können daraus Missverständnisse und Unverständnis entstehen, sogar Ablehnung eines im Vergleich zum alltäglichen konkreten Engagement eher als abstrakt-allgemein angesehenen Begriffs, sowie ein mangelndes Bewusstsein des eigenen (potentiellen) Beitrages entstehen. Letztlich aber deuten all diese Aspekte, noch einmal, auf das Fehlen von adäquaten Formen kognitiver Intermediation in diesem Politik- und Handlungsfeld hin. Zweitens scheint eine besondere Form von Inkommensurabilität zwischen der sozialräumlichen Logik zivilgesellschaftlichen Handelns und der räumlichen Logik der Territorialisierung, die noch weitgehend staatliches Handeln dominiert, zu herrschen. Es geht hier, so könnte man es ausdrücken, um eine gewisse Andersartigkeit der Raum-Zeit-Koordinaten zivilgesellschaftlicher Praktiken im Vergleich zu denen staatlicher Bürokratien und administrativer Strukturen. Wobei aber zu betonen ist, dass die aktuellen Erscheinungen des Wandels in der Logik staatlichen Handelns sowie ihre Auswirkungen im Sinne einer Verschiebung der räumlichen Selektivität staatlicher Regulierungsformen paradoxerweise auch in den Beziehungen zu territorialen Instanzen des Staates neue Unsicherheiten entstehen lassen. Die dramatischsten Zeugnisse dessen zeigen sich in räumlichen Arenen, in denen der Rückzug staatlicher Institutionen von einer territorialen Logik zunehmend in Form eines institutionellen Vakuums in der Wahrnehmung und Behandlung sozialer Probleme zum Ausdruck kommt, und in denen räumliche Bündnisse auf angespannten und zunehmend residualen sozialen Strukturen beruhen müssen. Auch in diesem Fall sind wir weit davon entfernt, aus unserer exploratorischen Analyse empirisch fundierte Schlussfolgerungen ziehen zu können oder zu wollen. Dafür ist die Rolle umso bedeutender, die diese Überlegungen in der Einleitung einer wissenschaftlich informierten öffentlichen Debatte und in der Erarbeitung einer Forschungsheuristik übernehmen können. Ebenso können daraus einige hypothetische Ansätze für eine Politik der Schaffung eines konstruktiven Verhältnisses zwischen Zivilgesellschaft und Stadtentwicklung abgeleitet werden.

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In dieser Hinsicht ist es wichtig anzumerken, dass die Bedeutung der kognitiven Dimension in diesem Verhältnis deutlich über eine reine Problemlösungs-Perspektive hinausweist, die an sich nur etablierte bzw. institutionalisierte Deutungs- und Problemaneignungsmuster reproduzieren würde. Im Gegenteil, eine gemeinschaftlich hergestellte Definition von Problem-Lösungs-Kombinationen - die, als solche, eine offene Auseinandersetzung mit der politischen Agenda notwendigerweise voraussetzt - erscheint als eine erforderliche Bedingung für ein solches konstruktives Verhältnis. Zweitens ist festzuhalten, dass dies ebenso eine relational sensitive Verräumlichung von Politikentwicklung erfordert. Eine dritte, daraus abzuleitende Feststellung ist aber auch, dass die unterschiedlichen Formen von Räumlichkeit, die in den Praktiken zum Ausdruck kommen, in denen zivilgesellschaftliche Potentiale und Initiativen aktiviert werden, eventuell nicht konsistent mit den Formen der Territorialisierung sind, die der Stadtpolitik und -planung eigen sind. Das macht es problematisch, auf der Suche nach einer effektiven Beziehung mit zivilgesellschaftlichem Handeln auf territorialisierte politisch-administrative Praktiken und Strukturen der Stadtentwicklung zu beruhen, die voraussichtlich bestehende Disparitäten in den Wahrnehmungs-, Mobilisierungs- und Organisationskapazitäten der Akteure reproduzieren würden. Mit anderen Worten ausgedrückt bedeutet dies, dass die Räume für eine effektive Einbindung zivilgesellschaftlichen Handelns in stadtentwicklungsrelevante Politiken nicht per se gegeben sind, sondern sich - in Form räumlicher Politikarenen - als konstruktiver Bestandteil und zugleich als Ergebnis dieses Prozesses ergeben. Unsere Grundthese ist also folgende: Wenn ein relationales Verständnis von Raum in der Definition sowohl der Orte von Urbanität als auch der Orte zivilgesellschaftlichen Handelns und bürgerschaftlichen Engagements ernst zu nehmen ist, dann muss eine Strategie zur integrativen Verknüpfung von Zivilgesellschaft und Stadtentwicklung vorgegebene Annahmen zu beiden vermeiden und dafür eine gleichzeitige Sozialisierung und Verräumlichung von Praktiken der Stadtentwicklung anstreben. In der Perspektive der Entwicklung neuer Politikansätze würde dies - unter anderem - die Notwendigkeit bedeuten, das Entstehen von Situationen zu fördern, in denen im Zuge der Erarbeitung einer Leitvorstellung .lokaler Entwicklung' eine Vermittlung von Interessen und Rollen zwischen Zivilgesellschaft einerseits und öffentlicher Hand anderseits ermöglicht wird. Dies führt zu einer letzen Bemerkung: Um eine seriöse Debatte zur Rolle zivilgesellschaftlichen Handelns und bürgerschaftlichen Engagements in der Stadtentwicklung führen zu können, ist es notwendig, nicht in falschen pragmatischen Argumenten gefangen zu bleiben - wie im Falle der Alternative zwischen Delegation und Befähigung - und hingegen die experimentelle Herausforderung emst zu nehmen, wie in spezifischen sozialräumlichen Kontexten jeweils eine räumlich konstituierte öffentliche Sphäre definiert werden kann.

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Dies muss nicht unbedingt ein abstraktes Ideal sein - wie mehrere Experimente in der .lokalen Entwicklungspolitik' in Europa seit den 1990er Jahren zeigen. Es ist aber in jedem Fall eine weitgehend experimentelle Perspektive, in der der Förderung deliberativer Praktiken eine große Bedeutung zukommt, in denen erweiterte Prozesse der relationalen Identifizierung mit Raumentwicklungsfragen und der sozialen Konstruktion und Aushandlung einer .lokalen' geteilten Deutung von Urbanität ermöglicht werden. Zu vermuten ist, dass eine solche Perspektive auf deliberativem Wege nicht nur politischen Praktiken und Ansätzen der Stadtentwicklung eine oft notwendige neue Quelle der Legitimation verleihen kann, sondern auch gesellschaftliche Ressourcen und Potentiale zur Geltung bringen und zu synergetischen Effekten verhelfen kann. Dementsprechend sollte diese aber auch nicht auf routinehafte Problemlösung, sondern auf kreative Problemdefinitionen aus sein: nicht eine Institutionalisierung der Ziele, sondern innovative Ansätze zu ihrer gesellschaftlichen Konstruktion und Aushandlung anstreben, und dabei eine Erneuerung der dafür einzusetzenden sozialen Mittel einleiten.

II. Theoretische Reflexionen

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Gesellschaft und Staat haben sich im Laufe der Geschichte gegenseitig zivilisiert. Es waren Revolutionen und lange Auseinandersetzungen nötig, bis die bürgerliche Gesellschaft die staatliche Willkür zum Verfassungs- und Rechtsstaat zivilisiert hatte, und es hat noch länger gedauert, bis Faust- und Federechte abgeschafft waren und jemanden im Duell umzubringen als krimineller Akt galt, nicht als Ehrenhändel. Erst mit der Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols und mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch ist die Gesellschaft zivil geworden. Derart befriedet wollte die bürgerliche Gesellschaft nur noch in Ruhe gelassen werden. Nach dem liberalen Modell funktioniert die zivilisierte Gesellschaft umso besser, je weniger der Staat interveniert. Soweit Staat überhaupt noch notwendig ist, formulieren Öffentlichkeit und Parlament die Maximen staatlicher Tätigkeit und wachen darüber, dass die Exekutive sich an diese hält. Dieses Modell hat seine gesellschaftlichen Voraussetzungen verloren. Die theoretische Konstruktion der liberalen Demokratie fußte auf der Vorstellung, dass autonome Bürger die öffentlichen Angelegenheiten diskutieren und entscheiden. Ihre privaten Angelegenheiten, insbesondere ihre Geschäfte, sollten Privatsache bleiben. Der Bürger (damals wirklich nur männlich und wirklich nur der Bürger!) verfügte über ein Privatvermögen, das ihm eine unabhängige Existenz sicherte und ihm zugleich das Selbstbewusstsein verlieh, mehr als einen staatlichen Nachtwächter auch nicht nötig zu haben. Heute sind selbst Bürger nur noch in Ausnahmefallen ökonomisch so unabhängig, dass sie ohne gesellschaftliche Sicherungssysteme ihre Existenz dauerhaft und selbständig organisieren könnten. Neben dem allgemeinen Wahlrecht, das den Besitzlosen und damit den Interessen an mehr sozialstaatlichen Interventionen mehr Einfluss verschaffte, verdankt sich die Ausweitung staatlicher Tätigkeit also auch der Tatsache, dass die Voraussetzungen einer autonomen Zivilgesellschaft abhanden gekommen sind. Die Staatstätigkeit ist nicht zuletzt ausgeweitet worden, um die Defizite der zivilen Gesellschaft zu kompensieren. Heute ist die Verflechtung von Staat und Gesellschaft so weit fortgeschritten, dass der Staat nahezu omnipräsent erscheint. In der Diskussion über die Ausgestaltung einer bürgernahen Demokratie geht es nicht mehr darum, einen Freiraum für die ungestörten Aktivitäten vermögender Bürger zu erkämpfen, sondern darum, mehr Einfluss auf die Ausgestaltung der staatlichen Aktivitäten zu gewinnen und Wege zu finden, wie Bürger und Staat besser kooperieren können. In den unüberschaubar gewordenen Verflechtungen zwischen Staat und Gesellschaft genügt es nicht mehr, Vertreter in Parlamente zu wählen, die über die Gesetzgebung die Exekutive steuern. Manche Maßnahmen der Exekutive greifen in so differenzierte soziale und lokale Verhältnisse ein, dass sie einer direkteren Kontrolle unterworfen

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werden müssen, wenn die Bürger sie tatsächlich kontrollieren sollen, und die Bürger müssen an ihrer Ausgestaltung mitwirken, wenn sie ohne unverhältnismäßigen Aufwand (effizient) und zielgenau (effektiv) durchführbar sein sollen. Die Diskrepanz zwischen dem relativ schwachen Einfluss, den die Bürger über Wahlen in vierjährigem Abstand auf staatliches Handeln haben, und dem gewachsenen Einfluss, den der Staat in sämtlichen Lebensbereichen im Laufe des 20. Jahrhunderts gewonnen hat, ist von Claus Offe als „strukturelles Legitimationsproblem" (1972a: 125) der planenden Verwaltung bezeichnet worden. Es ist eine der wesentlichen Ursachen für die Suche nach neuen Wegen der Verbindung von Staat und ziviler Gesellschaft jenseits der Institutionen einer repräsentativen Demokratie. Diese Frage hat die kritische Diskussion über Planung von ihren Anfängen Ende der 1960iger Jahre bis heute bestimmt. Dabei mischen sich normative und funktionalistische Argumente. Sie sollen im nächsten Abschnitt auseinander gehalten werden (I). Nach dem Referat der planungskritischen Diskussion wechselt die Perspektive: Im zweiten Abschnitt werden die Gründe erörtert, die aus Sicht der planenden Verwaltung für eine Öffnung gegenüber der Zivilgesellschaft sprechen. Sie sind in erster Linie im Wandel des Gegenstands der Planung zu finden. Dabei wird vornehmlich auf Beispiele aus der Stadtpolitik Bezug genommen (II). Am Schluss wird die planungskritische Perspektive mit einigen grundsätzlichen Überlegungen zu den blinden Stellen einer rein funktionalistischen Begründung bürgerschaftlicher Beteiligung (III) wieder aufgenommen.

I Für direktere Formen der Beteiligung der Bürger bei der Formulierung und Durchführung staatlicher Maßnahmen lassen sich normative und funktionale Argumente vorbringen (vgl. zum Folgenden: Scharpf 1970; Offe 1971, 1972b; Naschold 1971). Normativ wird argumentiert, die Inputstrukturen der repräsentativen Demokratie seien keineswegs gleichermaßen für alle Interessen durchlässig. Wer nicht über ausreichende Bildung, einen deutschen Pass und Zugang zu den Medien verfügt, zu individualisierten Zeiten arbeitet und keine systemrelevanten Ressourcen kontrolliert, der habe kaum Chancen, sich in Parteien und Parlament Gehör zu verschaffen. Die repräsentative Demokratie setze artikulations-, organisations- und konfliktfähige Bürger voraus. Systematisch vernachlässigt würden deshalb die latenten und die zukünftigen Interessen gegenüber den artikulierten und den gegenwärtigen, die allgemeinen gegenüber denen kleiner, eindeutig definierter Gruppen, die nicht organisierten und schwachen gegenüber den konfliktfähigen weil organisierbaren und über politische und ökonomische Macht verfügenden. Kurz, die Interessen der Unterschicht, der Arbeitslosen, der Bewohner ohne Staatsbürgerrechte und der noch nicht geborenen Generationen werden im System der repräsentativen Demokratie systematisch benachteiligt.

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Neben dieser „strukturellen Selektivität" (Offe) des repräsentativen Systems wird zweitens darauf verwiesen, dass eine zunehmend planende Verwaltung sich den Kontrollen durch Parlament und Parteien mehr und mehr entzieht. Der Funktionswandel des Staates mache das liberale Modell, wonach die Legislative Normen formuliert, die von der Exekutive nur noch vollzogen werden, obsolet. Die erweiterten Funktionen des Wohlfahrts- und Interventionsstaates überforderten die Kompetenz der Parlamentarier wie der Parteibasis. Die parlamentarisch nicht kontrollierten Entscheidungsspielräume der planenden Verwaltung dehnen sich aus, da im Gegensatz zum reinen Vollzug von Ordnungsnormen Planungsziele prozeßhaft definiert werden. Je mehr Entscheidungen in die Verhandlungsprozesse zwischen öffentlichen und privaten Akteuren verlagert und im Verlaufe der Planung ständig modifiziert werden, desto mehr fungiere die Verwaltung und nicht mehr das Parlament und die Parteien als Clearingstelle gesellschaftlicher Interessenkonflikte. Umso größer die Bedeutung von Verhandlungsprozessen wird, desto mehr Flexibilität, also eigene Entscheidungsspielräume, benötigt die planende Verwaltung. Das Parlament werde so darauf reduziert, zu Beginn einer begeisternden Vision zuzustimmen und am Ende dem Resultat zu applaudieren. Das Versagen der Input- und Kontrollstrukturen der repräsentativen Demokratie ist aber nicht nur aus demokratietheoretischer Perspektive problematisch. Es stellt auch die Funktionsfähigkeit einer planenden Verwaltung infrage, denn dadurch erhöhen sich die Risiken einer politisch nun nicht mehr ausreichend informierten und legitimierten Planung. Die ersten Forderungen nach Planungsbeteiligung entstanden in den 1960iger Jahren aus dem Widerstand gegen Maßnahmen einer technokratischen Planung, welche die Bindungen der Bürger an historische Bausubstanzen ebenso wenig ins Kalkül nahm wie die Interessen ökonomisch schwacher, aber artikulationsstarker Studenten an billigem Wohnraum. Die Erfolge dieses Widerstands boten handfeste Belege für die funktionalistischen Argumente zugunsten einer Öffnung der planenden Verwaltung für mehr Partizipation von Planungsbetroffenen. Je differenzierter, langfristiger und interventionistischer die Eingriffe der planenden Verwaltung werden, desto empfindlicher wird sie gegenüber Widerständen. Das Versagen der demokratischen Input- und Kontrollinstanzen ist nicht ohne Folgen gerade für eine planende Verwaltung: Einmal erhöht sich ihr Legitimationsbedarf, je längerfristiger sie angelegt ist und je intensiver sie in alltägliche Lebensverhältnisse eingreift. Planung benötigt gewissermaßen einen pauschalen Vertrauensvorschuss, denn ihre positiven Wirkungen werden oft erst spät im Vollzug staatlicher Aktivitäten oder gar erst lange nach ihrem Abschluss sichtbar, ihre negativen aber müssen schon früh ertragen werden. Ohne politischen Kredit wären strukturändernde Eingriffe kaum durchzuhalten. Zum andern geraten im Zuge des Funktionswandels des Staates immer mehr gesellschaftliche Bereiche in den Handlungshorizont öffentlicher Planungen, deren Erfolg von der Bereitschaft gesellschaftlicher Akteure zu aktiver Kooperation oder zumindest passiver Duldung abhängt. Wesentliche Bedingung für eine entsprechende

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Anpassungs- und Mitwirkungsbereitschaft ist die Überzeugung von der Legitimität des Verwaltungshandelns. Das erklärt, weshalb das Versagen des liberalen Modells einer demokratischen Kontrolle der Exekutive durch die Instanzen der repräsentativen Demokratie zugleich als Verlust an Demokratie sowie an Effizienz und Effektivität angesehen wird.

II Steigender Legitimationsbedarf, das Versagen der demokratischen Inputinstanzen und die Hoffnung auf mehr Effizienz und Effektivität haben dazu geführt, dass die planende Verwaltung begonnen hat, direktere Wege zu suchen, um sich Legitimation zu verschaffen, Konflikte zu bereinigen und die nötige Kooperation der Akteure zu sichern. Dazu stehen drei Wege offen: Erstens, Stadtforschung: Es werden differenzierte Informationen über Problemlagen, Interessen und Bedürfnisse von Betroffenen und Akteuren benötigt, Stadtentwicklungsprozesse müssen laufend und zeitnah beobachtet werden (Monitoring) und es soll möglichst aus den eigenen Erfahrungen gelernt werden (Evaluation). Zweitens, Planung als Aushandlungssprozess: Planungen müssen in dauernder und enger Abstimmung mit relevanten gesellschaftliche Akteuren formuliert und durchgeführt werden. Drittens, Demokratisierung der Planung: Informations- und Beteiligungsangebote, Advokatenplanung und Planungsforen müssen eingerichtet werden, um auch weniger artikulations-, organisations- und konfliktfähige Planungsbetroffene rechtzeitig einbeziehen zu können. Verwissenschaftlichung, Verhandlungssysteme und Demokratisierungsbemühungen sind sehr früh insbesondere im Bereich der Stadtpolitik vorangetrieben worden, weil hier die ab Mitte der 1960iger Jahre veränderten Aufgabenstellungen solche Reaktionen erzwangen. Nach dem Krieg, beim Wiederaufbau zerstörter Strukturen, ging es zunächst darum, die unmittelbare Not zu beheben und gewohnte Verhältnisse wiederherzustellen. Später, beim Neubau außerhalb der Stadt auf der „grünen Wiese", spielten ökologische Fragen noch keine Rolle; die Grundstückseigentümer konnten gewöhnlich hohe Gewinne erwarten und es gab außer Maulwürfen und anderem Getier niemanden, der hätte betroffen sein können. Also stießen diese Planungen kaum auf Widerstände. Das änderte sich, als Mitte der 1960iger Jahre die Aufgabe der Sanierung der gebauten Stadt an Bedeutung gewann. Anders als bei den Stadterweiterungen auf der „grünen Wiese" greift Stadtpolitik mittels Sanierung unmittelbar in die Lebensverhältnisse der Stadtbewohner ein. Deshalb wurden mit dem Städtebauforderungsgesetz zum ersten Mal eine systematische Informationsbeschaffung über mögliche Nebenfolgen (Stadtforschung), eine Abstimmung mit den öffentlichen und privaten Akteuren (Aushandlung) und Beteiligungsangebote für Betroffene (De-

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mokratisierung) gesetzlich vorgeschrieben. Allerdings wurde dabei noch an einem vorwiegend ingenieurwissenschaftlichen Verständnis von Stadtplanung festgehalten. „Soziales" geriet nur als unbeabsichtigter Nebeneffekt bautechnischer Eingriffe in die physische Struktur der Städte ins Gesichtsfeld der Planer, gleichsam als Klotz am Bein einer räumlich-technischen Planung. Heute ist Soziales unmittelbarer Gegenstand planenden Handelns. Damit hat sich die Rolle der Bürger in der Planung erneut gewandelt. Demokratietheoretische Überlegungen sind in der Diskussion über Planungspartizipation in den Hintergrund getreten. Die Rolle zivilgesellschaftlicher Akteure geht über Beteiligung bei der Formulierung von Planungszielen hinaus. Zivilgesellschaftliche Akteure sind von passiven Planungsbetroffenen, deren Benachteiligung und deren Widerstand es zu vermeiden und deren Zustimmung es zu gewinnen gilt, zu positiven Adressaten geworden, deren alltägliches Verhalten geändert werden soll. Der Bürger soll nicht mehr länger nur Kunde staatlicher Einrichtungen oder Empfänger staatlicher Fürsorge sein, sondern selbst an der Produktion von Dienstleistungen mitarbeiten. Es geht nicht mehr nur um die Partizipation des Bürgers an der Planung, sondern um den Bürger als (Ko-) Produzenten der Planung. Dieser erneute Wandel im Aufgabenspektrum der Stadtpolitik lässt sich mit den Schlagworten Kulturalisierung, Pädagogisierung und Veralten der traditionellen Instrumente physischer Planung charakterisieren.

Stadtentwicklung durch Milieupolitik: Die Kulturalisierung der Planung

Die sogenannten harten Standortfaktoren wie Autobahnen, Flughäfen, Schienenwege und Gewerbeflächen sind mittlerweile in allen Großstadtregionen verfügbar. Außerdem scheinen Betriebe der Wissensökonomie eine hohe Affinität zu Wissensformen zu haben, die in Urbanen Milieus produziert und vermittelt werden. Aus beiden Gründen gewinnt das Milieu an Erklärungskraft für Entwicklungsunterschiede zwischen Regionen und Städten und damit weiche, kulturelle und soziale Faktoren. Mit Milieu ist mehr gemeint als die bloße Summe aus harten Standortfaktoren, Humankapital und protestantischer Ethik, nämlich ein Zusammenwirken von Denkweisen, Mentalitäten, Rollenbildem, Politikstilen und Verhaltensweisen, also die dichte Vermittlung eines komplexen Sets ökonomischer, sozialer, kultureller und physischer Faktoren innerhalb einer räumlichen Einheit. Das regionale Milieu (Camagni 1991) ist ein Netzwerk, das Akteure, materielle und finanzielle Ressourcen umfasst und als wichtigstes Element eine soziokulturelle Qualität beinhaltet, ein Savoir Faire, eine Kultur der Kooperation und Kommunikation, d. h. Kompetenzen im Sinne des Verfügens über produktionsrelevantes Wissen, Regeln der Interaktion und gegenseitiges Vertrauen. Das kann Innovation hemmen, wenn es sich beispielsweise wie in Gestalt des berüchtigten Filzes im Ruhrgebiet nach außen gegen Neues und gegen Konkurrenz abschottet; es kann Innovation bewirken, wenn es die prekäre Balance hält zwischen Konkurrenz und Kooperation, interner Verflechtung und Offenheit nach außen, Vertrauen und Fremdheit, Tradition und Neuem.

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Milieu spielt auch in der Standorttheorie Richard Floridas (2004) die zentrale Rolle, allerdings nicht als Produzent von Innovation, sondern als Chiffre für anspruchsvolle Konsumstile. Danach sind hochqualifizierte Arbeitskräfte die entscheidenden Produktivkräfte in der Wissensökonomie. Die Angehörigen der „kreativen Klasse", wie Florida sie nennt, hätten hohe Ansprüche an ihre Lebensumwelt. In einem Urbanen Milieu zu leben sei ihnen wichtiger als ein höheres Gehalt. Weil moderne Betriebe auf diese innovativen Arbeitskräfte angewiesen seien, müssten sie sich dort ansiedeln, wo diese Arbeitskräfte leben wollen: ,jobs to people" statt „people to jobs". Auf diese indirekte Weise würden nach Florida urbane Milieus, also kulturelle Faktoren, zu den entscheidenden Standortbedingungen in der Wissensökonomie werden. Mit dieser Kulturalisierung der Erklärung der Entwicklungsunterschiede zwischen Städten und Regionen korrespondiert ein Wandel in Gegenstand, Mitteln und Zielen der Stadt- und Regionalpolitik. Statt um Autobahnanschlüsse und neue Gewerbeflächen bemühen sich Stadtpolitiker um urbanes Flair, um Jazzkeller und Toleranz gegenüber Homosexuellen, es werden spektakuläre Kunstaktionen in den ehemals verbotenen Zonen aufgelassener Zechengelände veranstaltet, Existenzgründer beraten, mittels Stadtteilmanagement die Bewohner eines sozialen Brennpunktes aus ihrer Lethargie erweckt. Soweit überhaupt noch gebaut wird, ist das Gebaute nicht Selbstzweck, sondern Vehikel zum Erreichen des eigentlichen Ziels, nämlich Denkweisen zu ändern, Engagement zu wecken und Verhaltensweisen zu beeinflussen. Stadtentwicklung durch Verhaltensänderung: die Pädagogisierung der Planung

Indem Planung die Lebensqualität, die Kommunikationsnetze und die Kooperationsstrukturen in einer Stadtregion fordert und normative Orientierungen und Verhaltensweisen zu ändern versucht, übernimmt sie pädagogische Aufgaben. Architekten und Planer haben sich schon immer gerne als Erzieher verstanden. Schon die Wohnungsreformer des 19. Jahrhunderts hatten neben Armee, Schule und Fabrik auch die Wohnung zur Erziehungsanstalt erklärt. Wohnungsbau war Erziehung zur Sittlichkeit und zum Familienleben, später dann, im Neuen Bauen der Zwanziger Jahre, ging es um gesunde Lebensführung, Schönheitssinn und Askese. Noch später kleidete sich der pädagogische Eros von Architekten und Planem vornehmlich ökologisch. Eine ökologisch nachhaltige Stadt verlangt nicht nur eine neue Stadt- und Haustechnik, sondern auch andere Konsum- und Lebensstile. Die Verkehrsplaner befassen sich heute nicht nur mit der Planung der Hardware von Autobahnen und Bahntrassen, sondern immer mehr mit Änderungen des Mobilitätsverhaltens und des Managements der vorhandenen Verkehrsinfrastruktur. Die Stadt- und Regionalplanung heute aber geht noch einen Schritt weiter: Es sollen z.B. nicht nur bestimmte Maximen ökologischen Verhaltens durchgesetzt werden, sondern viel allgemeiner Engagement für die Zukunft einer Region, einer Stadt oder eines Stadtteils geweckt werden. Bei der IBA-Emscher-Park war die Rede davon, dass die entscheidenden Veränderungen nicht mehr physisch-räumlicher Art seien, sondern solche der Denk- und Verhaltens-

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weisen, der Art, wie Probleme definiert werden und wie mit bestehenden Strukturen umgegangen wird. Baulich-physische Eingriffe erscheinen dann nicht mehr als Endzweck, sondern als mögliches Mittel, um pädagogische Ziele zu erreichen. Der Communicative Turn in der Planung, die Betonung von Verhandlung, Moderation und Kooperation, hat hier eine zusätzliche Ursache, denn Lernprozesse lassen sich nicht hierarchisch organisieren. Man kann schließlich den Akteuren einer Stadtregion nicht befehlen, sich als endogene Potentiale zu definieren, ihr Verhalten und Denken zu ändern und umgehend innovativ zu werden. Dazu braucht es einerseits Projekte, die zum Mitmachen begeistern, und andererseits Verfahren, in denen die Akteure die Chance erhalten, ihre Interessen einzubringen, also Verhandlung, Beteiligung, Kooperation. Motive, Werthaltungen und Einstellungen sind damit zugleich Gegenstände wie Instrumente der Planung, und diese Planung will nicht nur die Bewohner sondern weit mehr noch die wichtigen Akteure, also die Investoren, die Wohnungsbaugesellschaften, die Kommunalverwaltungen und die Politiker einer Region beeinflussen. Der Stadtplaner wird zum Pädagogen der Gesellschaft.

Das Veralten der physischen Planung

In einzelnen Regionen, insbesondere in den Neuen Bundesländern (NBL) und im Ruhrgebiet, aber auch in bestimmten Quartieren der großen Städte, kumulieren negative Entwicklungen in einer Weise, dass dadurch Teufelskreise ausgelöst werden können. Für strukturschwache, ländliche Regionen in den NBL kann das heißen, dass das Verfassungsgebot gleichwertiger Lebensverhältnisse nicht mehr gewährleistet ist. Die Abwanderung kann an den Punkt fuhren, an dem der Betrieb von Infrastruktureinrichtungen wie Schulen, Kitas, Krankenhäusern etc. unwirtschaftlich wird, weil die fur einen ökonomischen Betrieb vorausgesetzte Mantelbevölkerung verschwunden ist. Aufgrund der „Kostenremanenz" von Infrastrukturen - man kann den Querschnitt eines Kanalsystems nicht parallel zum Rückgang des Abwasservolumens reduzieren - steigen die Kosten pro Kopf für den Unterhalt entsprechender Einrichtungen. Noch problematischer als der zahlenmäßige Rückgang der Bevölkerung können sich die sozialstrukturellen Veränderungen auswirken. Wanderungen sind immer sozial selektiv. Aus den NBL wandern vor allem die Jungen, die Qualifizierten und die Frauen fort. Das hat zur Folge, dass der regionale Arbeitsmarkt unattraktiv für Investoren wird, und dass die künftigen Mütter fehlen. Beides beschleunigt den ökonomischen und demographischen Niedergang der Region. Zurück bleiben Männer mit niedriger Qualifikation und ohne Frauen, also mit beschränkter Aussicht auf die Normalität von Beruf und Familie, ein mögliches Motiv für politische Radikalisierung. Ähnliche Teufelskreiseffekte können sich auf der Ebene städtischer Quartiere ergeben. Wenn, etwa durch die Abwanderung von Haushalten der Mittelschicht, die Zahl der Menschen in einem städtischen Quartier zurückgeht, sinkt die Kaufkraft in diesem Quartier. Daraufhin wird das privat organisierte Angebot an Gütern und Dienstleistungen eingeschränkt, die Banken werden zurückhaltend bei der Vergabe von Kre-

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diten, was Immobilieneigentümer eventuell dazu veranlasst, nicht mehr ausreichend in den Erhalt und die Modernisierung ihrer Bestände zu investieren: Das Gebiet verkommt auch äußerlich. Wenn dann noch in den Schulen der Anteil von Kindern aus sogenannten bildungsfemen Schichten steigt, so veranlasst das weitere Haushalte fortzuziehen. Zurück bleibt eine problembelastete Bevölkerung, die sich Mobilität nicht leisten kann. Durch eine Art passiver Segregation ist ein sozialer Brennpunkt entstanden. Solche Prozesse verlaufen unter Bedingungen entspannter Wohnungsmärkte, auf denen zahlungsfähige Haushalte die gewünschte Wohnung auch in der ihnen genehmen Nachbarschaft finden, sehr schnell, und sie sind kaum steuerbar, da sie auf freiwilligen Entscheidungen privater Haushalte beruhen. Am Ende solcher Teufelskreise passiver Segregation lebt eine benachteiligte Bevölkerung in einem heruntergekommenen Gebiet, das zusätzlich benachteiligende Effekte entwickelt. Die abgewerteten Quartiere der Armen, Arbeitslosen und Migranten entwickeln sich vornehmlich in Beständen des sozialen Wohnungsbaus an der städtischen Peripherie, an umweltbelasteten Standorten und in nicht modernisierten Altbauquartieren. Daneben entstehen Inseln der Aufwertung, in denen sich die Angehörigen von Floridas kreativer Klasse breitmachen. Diese teilweise neue Nachfrage nach Stadt betrifft innerstädtische Standorte mit hohen sozialen und physischen Umweltqualitäten, beispielsweise modernisierte, ehemals bürgerliche Wohnviertel der Gründerzeit. An die Stelle der großräumigen Segregation zwischen Kernstadt und Umland tritt eine kleinräumige Verinselung von armen und wohlhabenden Quartieren. Und diese Verinselung wird noch befördert, wenn die Städte den Stadtumbau einsetzen, um sich für die Ansprüche der hochqualifizierten und einkommensstarken Arbeitskräfte herzurichten. Solch eine Verinselung aber ist für die Integration der Stadtgesellschaft doppelt gefährlich: Einmal wird in den Städten die zunehmend ungerechte Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums auf provozierende Weise sichtbar. Zum andern werden in den Gebieten der Ausgrenzung die deutschen Verlierer und die Zuwanderer in eine hoch konfliktträchtige Nachbarschaft gezwungen. Stadtpolitik, die solchen Entwicklungen entgegensteuern will, muss sich qualitativ verändern: weg von der klassischen physisch-technischen Planung, hin zu direkten, sozialpolitischen Eingriffen und einer umfassenden Gemeinwesenarbeit. Die gewohnte Erscheinungsform sozialer Ungleichheit war als Hierarchie von Oben und Unten zu beschreiben. Heute handelt es sich auch um eine Spaltung zwischen Drinnen und Draußen, die sich in der sozialräumlichen Struktur der Stadt als Verinselung niederschlägt. Damit haben sich die Aufgaben der Stadtpolitik grundlegend geändert. Die klassische soziale Frage drehte sich um ein Mehr oder Weniger: bessere Wohnungen, mehr Geld, zusätzliche Arbeitsplätze. Dazu genügten eine Politik der Umverteilung und bauliche Maßnahmen: sozialer Wohnungsbau, technische Sanierung, Modernisierung, Transferzahlungen und im Übrigen konnte man abwarten, bis das ökonomische Wachstum die Probleme aus der Welt schafft.

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Heute genügen Bauen und Transferzahlungen nicht mehr. Konflikte müssen moderiert, soziale Netze aufgebaut, Menschen aktiviert werden. Die Art und Weise des Umgangs mit dem Vorhandenen, die Problemdefinitionen, die Mentalitäten und Verhaltensweisen der Akteure sollen geändert werden. Solche Ziele lassen sich mit Bauen und Geld allein nicht erreichen. Im Rahmen des Programms „Soziale Stadt" wird immer noch zu viel Geld für Bauen und Abriss, nämlich 90°/o der insgesamt verfügbaren Mittel, aufgewendet und zuwenig für Interventionen durch den Einsatz von Menschen. Das Programm „Soziale Stadt" gilt immer noch als ein Sonderprogramm. Es muss aber als Daueraufgabe begriffen werden. Die Aufgabe der sozialen Stadtpolitik ist schließlich mit der Erneuerung eines gerade besonders problematischen Gebiets nicht beendet. Solange es soziale Ungleichheit, Zuwanderung und Ausgrenzung gibt, solange werden immer wieder sogenannte soziale Brennpunkte entstehen, und solange ist auch eine soziale Stadtpolitik vonnöten. Das Programm „Soziale Stadt" ist ein Vorgriff auf den Typus von Stadtpolitik, der unter Bedingungen des Schrumpfens, der Zuwanderung und einer sich verschärfenden sozialen Ungleichheit in Zukunft dominieren wird. Der demographische Wandel, insbesondere die Alterung der Bevölkerung, wird zu ähnlichen Veränderungen einer sozial verantwortlichen Stadtpolitik beitragen. Alter ist in unserer Gesellschaft sozial definiert als die Zeit nach dem Ende der Berufstätigkeit. Diese Lebensphase ist immer länger geworden. Im Durchschnitt geht man heute in Deutschland mit 62,4 Jahren in Rente und hat dann noch 2 0 - 3 0 Jahre vor sich. Diese historisch einmalig lange Zeit des Alters wird zu drei Viertel der wachen Zeit in der Wohnung und dem näheren Wohnumfeld verbracht. Damit gewinnt das Wohnquartier allein aufgrund der demographischen Entwicklung enorm an Bedeutung. Das sozial definierte Alter unterteilt man in das autonome Alter - durchschnittlich bleibt man bis zum Alter von 72 Jahren ohne nennenswerte gesundheitliche Einschränkungen -, das unterstützungsbedürftige Alter und schließlich das abhängige Alter. Mit diesen Phasen ändern sich die Ansprüche an die architektonischen, technischen und vor allem an die sozialen Qualitäten des Wohnens. Der demographische Wandel wird dazu zwingen, die Dimensionen zu erweitern, in denen Wohnqualität definiert ist: räumlich über die Wohnung hinaus in das Wohnumfeld und inhaltlich über technisch-architektonische Qualitäten hinaus in einen weiten und differenzierten Bereich sozialer Dienstleistungen, die sich den mit fortschreitendem Alter ändernden Anforderungen ihrer Klientel flexibel anpassen können. Menschen hilft man mit Menschen, nicht mit Backsteinen. Ähnliches gilt fur den Wandel der Aufgaben von Stadtpolitik generell: Die Förderung urbaner Milieus ist nicht so sehr eine Frage der Architektur, als eine der Kulturpolitik. Die Steuerung des Schrumpfens hat weniger mit Bauen und Abriss zu tun als mit der Stabilisierung gefährdeter Lebenssituationen. Die Integration von Zuwanderem erreicht man nicht mit Bebauungsplänen, ebenso wenig wie die soziale Spaltung der Stadtgesellschaft mit dem Flächennutzungsplan bekämpft werden kann. Die Aufgaben der Stadtpolitik werden mehr und mehr zu kultur- und sozialpolitischen Aufgaben. Es sollen Konflik-

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te vermieden, urbane Qualitäten geschaffen und Schrumpfen gesteuert werden, Zuwanderer und ausgegrenzte Deutsche sollen integriert und alten Menschen ein würdiges Leben in der gewohnten Umgebung ermöglicht werden. All das sind Aufgaben, die sich der traditionellen Wohnungspolitik wie dem Instrumentarium des Städtebaus entziehen. Physische Planung ist allenfalls von indirekter Relevanz. Angesichts der genannten Entwicklungen sind die klassischen Instrumente raumbezogener Planung veraltet.

III Zivilgesellschaftliche Akteure sind zu unverzichtbaren Koproduzenten staatlicher Maßnahmen geworden. Das lässt sich zunächst recht handfest erklären: Eine durch neoliberale Ideologie, Privatisierung ehemals kommunal beeinflussbarer Akteure und strukturelle Finanzschwäche in ihren Handlungsspielräumen zunehmend eingeengte planende Verwaltung sucht sich durch Förderung von Ehrenamt und Eigeninitiative neue Ressourcen zu erschließen. Aber jenseits solcher Bemühungen um eine Mobilisierung der Bevölkerung für die Stadtentwicklung gibt es objektive Gründe für die Öffnung der planenden Verwaltung gegenüber zivilgesellschaftlichem Engagement. Wenn soziale Verhältnisse und urbane Milieus direkt Gegenstand von Stadtpolitik geworden sind, wenn Denk- und Verhaltensweisen von Menschen geändert werden sollen, und wenn die aktive Mitwirkung zivilgesellschaftlicher Akteure bei staatlichen Maßnahmen gefordert ist, dann versagen die klassischen Steuerungsmechanismen Recht und Geld. Es geht nicht mehr nur darum, ökonomischen Aktivitäten, die in die Stadt drängen, geeignete Orte zuzuweisen und diese mit der notwendigen Infrastruktur zu versehen. Es geht auch darum, wie leere Gebäude oder Brachflächen wieder neu genutzt, wie für anscheinend überflüssig gewordene Bevölkerungsteile Beschäftigung geschaffen, wie Bildungspotentiale in den abgehängten Stadtvierteln gefördert und wie die wachsende Zahl von Migranten integriert werden können. Das alles lässt sich nicht befehlen und auch nicht allein über Geld regeln - selbst wenn es in ausreichendem Maße vorhanden wäre. All diese Argumente für eine Mobilisierung zivilgesellschaftlichen Engagements im Rahmen öffentlicher Planung sind effizienz- und effektivitätsorientierte Argumente und aus der Perspektive der planenden Verwaltung formuliert. Aber eine rein funktionalistische Argumentation für die Notwendigkeit zivilgesellschaftlichen Handelns und bürgerschaftlicher Selbstorganisation verkennt die möglichen Ambivalenzen der Mobilisierung zivilgesellschaftlicher Ressourcen im Rahmen staatlicher Planung. Neuere städtische Strategien ζ. B. im Rahmen des Programms „Soziale Stadt" zielen darauf ab, in benachteiligten Quartieren nachbarschaftliche Hilfsnetze aufzubauen. Aber was dort mit Unterstützung von Stadtteilmanagem und Gemeinwesenarbeitern wiederbelebt werden soll, ist nicht ohne Grund aus der Stadt verschwunden, und die sozialen Sicherungssysteme können gerade als rein öffentlich organisierte

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Systeme über ihre materielle Funktion hinaus auch Emanzipationsprozesse unterstützen. Die vom Staat gespannten Hilfsnetze sind auch Hilfen zur Emanzipation aus den Netzen der Verwandtschaft, in denen ζ. B. manche zugewanderte Frau gefangen ist. Ähnlich wie allzu enge Verwandtschaftsnetze birgt auch die Förderung von Nachbarschaftshilfe immer die Gefahr, soziale Kontrollsysteme zu verschärfen, vor denen die Zuwanderer vom Land in die Stadt geflohen sind. Städter haben eine nicht unbegründete Scheu vor allzu engen nachbarschaftlichen Kontakten, vor allem wenn sie verbindlichen Charakter annehmen sollen, wie es funktionierende Hilfsnetze verlangen. Die Attraktivität der Stadt beruht nicht zuletzt darauf, dass hier die dichten sozialen Kontrollen dörflicher Nachbarschaft und der Verwandtschaft eben nicht greifen. Schließlich funktionieren nachbarschaftliche Hilfsnetze umso besser, je sozial und kulturell homogener eine Nachbarschaft ist. Gerade in den benachteiligten Quartieren, in denen diese aktivierenden Politiken eingesetzt werden, finden sich aber erzwungene Nachbarschaften zwischen deutschen Verlierern des Strukturwandels und Zugewanderten, welche eher Potential für Konflikte und aggressive gegenseitige Abgrenzung in sich tragen als für solidarisches Handeln und Nachbarschaftshilfe. Jede Politik der Aktivierung informeller Hilfsnetze muss sich dieser Ambivalenzen bewusst sein, sonst wird sie wenig Erfolg haben. Zu den unbeabsichtigten Nebenwirkungen einer Politik, die auf die Potentiale der Zivilgesellschaft setzt, gehören ferner ihre möglichen negativen Verteilungswirkungen. Eine Politik der Mobilisierung der Zivilgesellschaft läuft Gefahr, schärfere selektive Wirkungen zu entfalten als sie der repräsentativen Demokratie unter den Bedingungen sozialer Ungleichheit inhärent sind (zum Folgenden: Häußermann et. al. 2008: 270ff.). Diese Selektivität ist zum einen bedingt durch die unterschiedliche Bereitschaft, kommunale Angebote zum Mitmachen und Mitbestimmen überhaupt anzunehmen. Die Bereitschaft, sich im Rahmen kommunalpolitischer Aktionen zu engagieren, setzt Vertrauen in die Politik voraus. Das Vertrauen in die Politik ist im Allgemeinen höher, je stärker die soziale Position einer Person ist. Wer bereit ist, sich zu beteiligen, tut dies in der Regel aufgrund der Erfahrung, durch eigene Anstrengung etwas erreichen zu können. Wer nie etwas erreicht hat, wird auch in kommunale Beteiligungsangebote keine großen Hoffnungen setzen. Wer auf dem Arbeitsmarkt oder im Umgang mit Behörden schlechte Erfahrungen gemacht hat, lässt sich nicht so ohne weiteres .aktivieren'. Misstrauen und Enttäuschung, die aus sozialem Misserfolg oder Abstieg resultieren, sitzen tief und begründen eine Einstellung, die nur schwer durch Angebote zum Mitmachen zu durchbrechen ist. Aus all diesen Gründen ist die Bereitschaft zum Engagement in den privilegierten Quartieren in der Regel sehr viel höher als in den marginalisierten. Zum anderen sind die Fähigkeiten zu tätiger Beteiligung ungleich verteilt. Selbsthilfe setzt Fähigkeiten zur Selbsthilfe voraus: Qualifikationen, organisatorisches Geschick, Kontaktbereitschaft, Zeit und Geld, alles Ressourcen, die gerade dort - etwa in den sogenannten sozialen Brennpunkten - besonders knapp sind, wo Selbsthilfe und Beteiligung mobilisiert werden sollen. Die Forderung nach Mitbestimmung über die

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Planungsziele und Beteiligung an der Durchführung einer Maßnahme wird vorwiegend von Gruppen mit höherer Bildung und höherem sozialen Status erhoben. Dagegen sind gerade diejenigen, die am meisten auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, am wenigsten in der Lage, diese einzufordern und inhaltlich zu bestimmen. Angebote für Beteiligung und Mitwirkung werden von Sozialarbeitern, Quartiersplanern und engagierten Planern gerade in jene Quartiere hineingetragen, in denen es in der Regel besonders schwer ist, Menschen zu finden, die diese Angebote wahrnehmen wollen und können, weil die Mehrheit der Bewohner keinen höheren Schulabschluss hat, zum Teil weder lesen noch schreiben kann oder die deutsche Sprache nicht beherrscht sowie nicht über das notwendige Selbstvertrauen und über die notwendigen Fähigkeiten zur Selbstorganisation und Selbsthilfe verfügt. Eine aktivierende Politik muss sich dieser soziostrukturellen Grenzen zivilgesellschaftlicher Potentiale bewusst sein, sonst produziert sie im besten Fall Enttäuschung bei jenen, die sich dafür engagiert haben; im schlimmsten Fall würde sie dazu beitragen, die bestehenden Ungleichheiten unter dem schönen Mantel von Beteiligung und Demokratisierung noch zu vertiefen. Die Ambivalenzen informeller Hilfsnetze und die selektiven Wirkungen, die mit der Mobilisierung zivilgesellschaftlichen Engagements verbunden sein können, widerlegen nicht die Notwendigkeit einer solchen Politik. Eine integrierte Wirtschafts-, Sozial-, Bildungs- und Stadterneuerungspolitik, die den aktuellen Problemen der Städte gerecht werden soll, wird nicht ohne eine engere Verflechtung von Staat und Zivilgesellschaft auskommen. Sie muss sich nur dieser Gefahren bewusst sein. Aber selbst eine solche, sich selbst kritisch reflektierende Stadtpolitik würde an Grenzen stoßen, denn sie liefe auf eine zumindest partielle Vergesellschaftung von Funktionen der Zivilgesellschaft hinaus, welche durch ihre marktförmige oder staatsförmige Organisation - eben durch Vergesellschaftung - in ihrer innersten Qualität berührt würden. Das soll zum Schluss erläutert werden. Die Stadtpolitik hat ihre Eingriffe bis auf die Intimbereiche der Gesellschaft ausgeweitet: Informelle soziale Netze, urbane Milieus, Lebens-, Denk- und Verhaltensweisen sind zum Gegenstand öffentlicher Steuerungsbemühungen geworden. Dies geschah parallel zum Prozess der Urbanisierung, in dessen Verlauf immer weitere Bereiche der Reproduktion vergesellschaftet wurden. Die Betreuung der Alten und Kranken, die Erziehung der Kinder sind mehr und mehr über Markt und Staat organisiert worden. Die moderne Dienstleistungsstadt ist eine riesige Maschine, die jeden, sofern er über Geld verfügt, von allen außerberuflichen Verpflichtungen entlastet, indem sie ihn mit all dem versorgt, wofür man früher einen gut funktionierenden Haushalt und mindestens eine Hausfrau benötigte. Die marktförmige oder infrastrukturelle Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen, die vorher informell in den privaten Haushalten produziert wurden, hat einen doppelt positiven Effekt: Einerseits führt sie zu Produktivitäts- und damit Wohlstandssteigerung, andererseits zu Emanzipationsgewinnen. Die Dienstleistungsmaschine Stadt ist eine entscheidende Voraussetzung für die Emanzipation der Frau aus der Hausfrauenrolle, weil sie auch

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denjenigen ein berufsorientiertes Leben ermöglicht, die nicht über einen privaten Haushalt verfügen. Dieser Prozess der Vergesellschaftung ist nicht allein durch den mit ihm verbundenen Wohlstandszuwachs und individuellen Optionen insbesondere für die Frauen vorangetrieben worden. Eine Rolle spielt auch, dass die zivilgesellschaftlichen Strukturen wichtige Funktionen wie die Kindererziehung oder die Betreuung alter Menschen nicht mehr ausreichend erfüllen. Das hat z.B. dazu geführt, dass Schulen neben der Vermittlung von Wissen „Familienersatzfunktionen" übernehmen müssen. Ähnlich werden es die Veränderungen in den Lebensstilen zusammen mit dem demographischen Wandel unumgänglich machen, die sozialen Dienstleistungen zur Betreuung alter Menschen auszubauen. Doch eine Vergesellschaftung von Leistungen, die ehemals in den informellen Netzen von Freundschaft, Nachbarschaft und vor allem Verwandtschaft erbracht wurden, lässt deren Qualität nicht unberührt. Vieles von dem, was alte Menschen benötigen, ist professionalisierbar und mittels Geld verfügbar. Eines aber nicht, und dabei handelt es sich um das, was alte Menschen ebenso wie Kranke und auch Kinder am dringendsten benötigen: Achtung, Vertrauen und Liebe. Diese Qualitäten menschlicher Beziehungen sind nicht markt- oder staatsförmig organisierbar. Sie bleiben gebunden an die informellen Systeme von Nachbarschaft, Freundschaft und Verwandtschaft. Das leistungsfähigste dieser drei Systeme aber, das Verwandtschaftssystem, wird durch den Wandel der Lebensweisen und die demographischen Veränderungen geschwächt: Das Einzelkind zweier Einzelkinder hat nach dem Tod seiner Eltern keine direkten Verwandte mehr. Und Ähnliches gilt für den lebenslangen Single oder die kinderlose Witwe. Eine humane Betreuung alter Menschen, eine menschenwürdige Pflege der Kranken und die Erziehung von Kindern zu autonomen und gesunden Individuen sind ohne Vertrauen, Achtung und Liebe nicht denkbar. Aber das System, das dies bisher geleistet hat, steht für immer mehr Menschen im Alter nicht mehr oder nicht ausreichend zu Verfügung. Und gerade seine Leistungen sind nicht durch Geld und Professionalität zu ersetzen, im Gegenteil: der Versuch, alle Leistungen informeller Netze formell über Markt und Staat zu organisieren, würde gerade jene Facetten menschlicher Beziehungen zum Verschwinden bringen, durch die sich Freundschaft von Geschäftsbeziehung und Familie von Betrieb unterscheiden. So mag die Tatsache, dass der Staat eine intakte Zivilgesellschaft um so mehr benötigt, je mehr er in sie eindringt, zugleich ein Grund für die Hoffnung sein, dass die informellen Strukturen einer zivilen Gesellschaft nicht gänzlich kolonialisiert werden und damit auch jene Qualitäten bewahrt werden, die niemals durch Markt und Staat gewährleistet werden können. Dazu müssen der Vergesellschaftung aber auch normativ Grenzen gesetzt werden. Das heißt: Selbst wenn es finanziell und gleichsam technisch möglich wäre, alles, wofür bisher die informellen Strukturen einer zivilen Gesellschaft bereit standen, über Markt und Staat zu organisieren, wäre zu fragen, ob dies überhaupt wünschenswert ist. Und sprechen nicht normativ zu begründende Vorstellungen von der Qualität des Lebens sehr viel mehr als die oben angeführten

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funktionalistischen Argumenten dafür, zivilgesellschaftliche Strukturen zu stärken? Nur dürfte eine solche Stärkung gerade nicht auf eine immer engere Verflechtung von Staat und ziviler Gesellschaft hinauslaufen. Notwendig wäre eine Diskussion über die normativ zu setzenden Grenzen der Vergesellschaftung und über die Wege, diese Grenzen einzuhalten. Zu erinnern ist an das Subsidiaritätsprinzip, dessen normativer Kern auf eben solche Grenzen abzielt. Es wäre eine Diskussion, die nicht zuletzt dadurch erschwert wird, dass ein Plädoyer für den Verbleib bestimmter Leistungen in den informellen Systemen des Privathaushalts, der Verwandtschaft, Freundschaft und Nachbarschaft missverstanden werden kann als Plädoyer für die traditionelle Frauenrolle und für unproduktive Organisationsformen. Ohne die Aufhebung der traditionellen Arbeitsteilung der Geschlechter und ohne die Reorganisation der Berufswelt zu thematisieren, wird sich eine solche normative Diskussion darüber, was formell, was informell organisiert sein soll, in idealistischen Höhen bewegen, ohne materiellen Boden zu finden.

Literatur Camagni, Roberto (Hrsg.) (1991): Innovation Networks. Spatial Perspectives. London, New York: Belhaven Press. Florida, Richard (2004): The Rise of the Creative Class. New York: Basic Books. Häußermann, Hartmut/Läpple, Dieter/Siebel, Walter (2008): Stadtpolitik. Frankfurt a.M.: Edition Suhrkamp. Naschold, Frieder (1971): Anpassungsplanung oder politische Gestaltungsplanung? In: Steffani, W. (Hrsg.): Parlamentarismus ohne Transparenz. Köln, Opladen. Offe, Claus (1971): Politische Herrschaft und Klassenstrukturen. In: Kress, Gisela/Senghaas, Dieter (Hrsg.): Politikwissenschaft - Eine Einführung in ihre Probleme. Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt, S. 155 - 1 8 9 . Ders. (1972a): Demokratische Legitimation der Planung. In: Ders.: Strukturprobleme des kapitalistischen Staates. Frankfurt a.M.: Edition Suhrkamp, S. 123-151. Ders. (1972b): Klassenherrschaft und politisches System. Zur Selektivität politischer Institutionen. In: Ders. a.a.O. S. 6 5 - 105. Scharpf, Fritz (1970): Demokratietheorie zwischen Utopie und Anpassung. Konstanzer Universitätsreden, hrsg. von Gerhard Hess. Konstanz.

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Selbst- und Fremdsteuerung in der Zivilgesellschaft von Frank Adloff

Stadtentwicklung bezeichnet einen Prozess, der weit über das Konzept der Stadtplanung hinausgeht. Vernetzungen zwischen Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft, Aktivierungen, Bürgerbeteilungen, Kooperationen, wechselseitige Information und Engagementpolitik werden hierbei anvisiert. Dabei ist die leitende Fragestellung, wie die Zivilgesellschaft stärker in Prozesse und Strukturen der Stadtentwicklung einbezogen werden kann. Im Folgenden soll jedoch eine Perspektive im Vordergrund stehen, die ich in Anschluss an Michel Foucault entfalten möchte. In der Stadtsoziologie wird betont (siehe bspw. Walter Siebel in diesem Band), dass sich die planende Verwaltung zunehmend zivilgesellschaftlichen Akteuren öffnen muss, ist sie doch auf Informationen und eine erhöhte Legitimierung ihres Handelns angewiesen. Den Wandel der Stadtpolitik in den letzten Jahren beschreibt Siebel etwa mit den Stichworten der Kulturalisierung im Zuge der Wissensökonomisierung, der Pädagogisierung im Sinne der Beeinflussung von Verhaltensweisen und dem Veralten der physischen Planung. Verwaltung ist nicht nur auf gesellschaftliche Kooperation angewiesen, sondern zielt vor allem auf Verhaltensänderungen ab. Auf diese Weise wird eine ganz spezielle Form von „Regierung" betrieben: Die Kooperation zwischen Verwaltung und Zivilgesellschaft kann nämlich meines Erachtens mit dem Foucault'schen Begriff der Gouvernementalität belegt werden, der auf ein spezifisches Verhältnis von Selbst- und Fremdsteuerung abzielt (vgl. Foucault 2000; Lemke 2003). Folgt man dieser These, wird deutlich, dass die Gegenüberstellung bzw. Dichotomisierung von staatlicher und zivilgesellschaftlicher Handlungssphäre bestimmte soziale Prozesse verdeckt: Denn wenn die wechselseitige Steuerung von Mentalitäten und Verhaltensweisen über solche staatlich-privaten Kooperationen läuft, kann man den zivilgesellschaftlichen Bereich nicht länger als liberalen Schutzraum vor staatlichen Interventionen deuten. Vielmehr arbeitet die Zivilgesellschaft mit daran, diesen Raum der liberalen Freiheitsrechte zu unterminieren. Zu dieser These des Formenwandels des Politischen ist es jedoch ein längerer Argumentationsweg, der im Folgenden entfaltet werden soll.

Das Politische in der Zivilgesellschaft Die moderne Gesellschaft ist im charakteristischen Sinne eine politische Gesellschaft (Greven 2000), da es in ihr keinen Bereich gibt, der prinzipiell der Politisierung entzogen wäre. Beschäftigt man sich mit dem „Begriff des Politischen", muss es darum gehen, das Politische nicht allein auf das Staatliche festzulegen, allerdings auch nicht darum, Gesellschaft überhaupt mit Politik gleichzusetzen. Beim Politischen geht es

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nicht nur um kollektiv bindende Entscheidungen, die von staatlichen Instanzen getroffen werden, sondern auch um zivilgesellschaftliche Akteure, zumeist Assoziationen, die kollektiv bindende Regelungen herbeiführen wollen: Die Anmeldung des Regelungsbedarfs kann einerseits an den Staat adressiert werden, andererseits können soziale Regelungen bei strittigen Sachverhalten getroffen werden, die ohne Zuhilfenahme staatlicher Instanzen, sprich: in Selbstorganisation zustande kommen. Warum jedoch Zivilgesellschaft? Welchen Nutzen könnte dieser unscharfe, normativ aufgeladene und historisch überholte Begriff haben? Historisch überholt scheint er zu sein, da er entweder eine zu umfassende und normativ aufgeladene aristotelische Bedeutung besitzt oder aber lediglich, im Sinne von bürgerlicher Gesellschaft, die sozioökonomischen Faktoren des gesellschaftlichen Zusammenlebens ins Zentrum rückt. Einer modernen differenzierungstheoretischen Theoriebildung scheint er jedoch nicht zu genügen. In solch einer Situation erscheint es sinnvoll, an die Klassiker und ihre Grundlegung soziologischer Fragestellungen zu erinnern. Zunächst sei Alexis de Tocqueville genannt, dessen politisch-soziologische Fragestellung - daran hat Claus Offe (2004: 21) erinnert - lautete: „Unter welchen Bedingungen kann die assoziative, nicht-hierarchische Selbstkoordination einer komplexen Gesellschaft gelingen, und woran kann diese Selbstkoordination scheitern?" Wie hinreichend bekannt ist, identifizierte Tocqueville die amerikanischen Sitten, die sich in Assoziationsverhältnissen niederschlagen, als die entscheidenden Bedingungen. Tocqueville selbst legte großen Wert darauf, zwischen politischen und sozialen Assoziationen zu unterscheiden und schrieb den künftigen Sozialwissenschaften ins Stammbuch (Tocqueville 1985: 253): „In den demokratischen Ländern ist die Lehre von den Vereinigungen die Grundwissenschaft; von deren Fortschritten hängt der Fortschritt aller anderen ab. Unter den Gesetzen, denen die menschlichen Gesellschaften unterstehen, gibt es eines, das genauer und klarer erscheint als alle andern. Damit die Menschen gesittet bleiben oder es werden, muss sich unter ihnen die Kunst des Zusammenschlusses in dem Grade entwickeln und vervollkommnen, wie die Gleichheit der Bedingungen wächst." 70 Jahre später, im Jahr 1910, führte Max Weber in seinem Geschäftsbericht auf dem Frankfurter Soziologentag aus, dass sich die Soziologie mit zwei Themen befassen sollte, nämlich mit dem Zeitungswesen bzw. der Presse und mit dem Vereinswesen: „Das zweite Thema muss ich zunächst notgedrungen sehr weit dahin formulieren, dass es eine fundamentale Aufgabe einer jeden Gesellschaft für Soziologie ist, diejenigen Gebilde zum Gegenstand ihrer Arbeiten zu machen, welche man konventionell als .gesellschaftliche' bezeichnet, d.h. alles das, was zwischen den politisch organisierten oder anerkannten Gewalten - Staat, Gemeinde und offizielle Kirche - auf der einen Seite und der naturgewachsenen Gemeinschaft der Familie auf der anderen Seite in der Mitte liegt. Also vor allem: eine Soziologie des Vereinswesens im weitesten Sinne des Wortes, vom Kegelklub (...) angefangen bis zur politischen Partei und zur religiösen oder künstlerischen oder literarischen Sekte."

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Was hat dies aber mit Politik zu tun? Zunächst stellte Weber auf der inhaltlichen Ebene heraus, dass „fast jeder Verein, auch ein solcher, der das prinzipiell vermeiden will, in irgendeiner Weise .weltanschauungsmäßige' Inhalte" transportiert. Das Politische hatte für Weber aber bekanntlich keinen bestimmten Inhalt, sondern war durch das Mittel definiert, „welches nicht ihm allein eigen, aber allerdings spezifisch und für sein Wesen unentbehrlich ist: die Gewaltsamkeit." Spricht man vom genuin Politischen - im Unterschied zum Wirtschaftlichen, Religiösen oder Kulturellen - meint man damit all das, was mit den Herrschaftsverhältnissen innerhalb eines politischen Verbandes zu tun hat. „Politische Verbände", z.B. Parteien und Klubs, betreiben also zum einen Politik im Innern, indem sie Herrschaft ausüben, zum anderen bezwecken sie die Beeinflussung des Staates. Letzteres nennt Weber „politisch orientiertes" Handeln (Weber 1972: 29f.). Was ich mit diesen Zitaten zunächst plausibilisieren möchte, ist die soziologische Untersuchung des politischen Handelns im Innern von Assoziationen sowie des politisch orientierten Handelns in Bezug auf den Staat.

Zur Begriffsgeschichte von Zivilgesellschaft Das erste moderne Konzept von Zivilgesellschaft, das sowohl die mittelalterlich-aristotelische als auch die Hobbes'sche Perspektive hinter sich lässt, findet sich bei John Locke, schottischen Aufklärern wie Adam Ferguson und Adam Smith und schließlich bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Alexis de Tocqueville. Der Unterschied zum traditionalen Begriff der societas civilis besteht darin, eine Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft einzuführen. Societas civilis meinte zuvor im umfassenden Sinne die politische Form der Vergesellschaftung, die Bürgergemeinde. Reinhart Koselleck (1991) hat daraufhingewiesen, dass der Begriff Zivilgesellschaft trotz der enormen Bedeutungsverschiebungen jedoch nie diese inhaltliche Bestimmung verloren hat, nämlich dass die Bürger sich selbst bestimmen, dass sie sich frei und politisch selbst organisieren sollen. Die frühaufklärerischen Theoretiker der Zivilgesellschaft hatten alle ein umfassendes und positives Verständnis von Zivilgesellschaft, das den Staat ausschloss, alle anderen Institutionen aber weitgehend einschloss: auch Unternehmen und kapitalistische Märkte. Denn jene wurden in dieser frühen Traditionslinie als zivilisierende Güter geschätzt. Diese positive Einschätzung wurde jedoch angesichts der sozialen Folgewirkungen des Kapitalismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts massiv in Frage gestellt, sodass Zivil- mit Marktgesellschaft gleichgesetzt wurde und zum Negativbegriff verkam. Der schlechten, Egoismus fordernden Markt- oder Klassengesellschaft wurde zum einen eine moralische Gesellschaft gegenübergestellt, die sich einen Sinn für das Verbindende und Solidarische erhalten hatte - so zum Beispiel besonders sichtbar bei Emile Dürkheim - oder diesen im Sozialismus, utopisch gewendet, erst erhalten wird. Zum anderen durchlebte die wissenschaftliche Fokussierung auf den Staat eine lang andauernde Hochphase. Diese fand jedoch in den 1970er Jahren ihr Ende (vgl. Klein 2001): Die Suche nach einer

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zivilgesellschaftlichen Alternative in den osteuropäischen und lateinamerikanischen Ländern, die Krise der wohlfahrtsstaatlichen Regulierung und die Frage nach gesellschaftlichem Zusammenhalt trugen dazu bei, sich praktisch und konzeptionell auf die Suche nach einer Alternative zu begeben. „Zivilgesellschaft" war eine solche, die nun regelmäßig sowohl vom Staat als auch vom Markt unterschieden wurde. Der Begriff der Zivil- bzw. bürgerlichen Gesellschaft verkam also seit Karl Marx bzw. seit Mitte des 19. Jahrhunderts insbesondere in Deutschland zur Sphäre der zweckrationalen Verfolgung des Eigennutzes, zum reinen „System der Bedürfnisse" (damit halbierte man auch Hegels Begriff der bürgerlichen Gesellschaft) und wurde nicht mehr als politisch konstituierte und vermittelnde Sphäre gedacht. Die frühe deutsche Soziologie konzentrierte sich sodann in ihrer Wahrnehmung der Gesellschaft auf sozioökonomische Deutungsschemata. Zudem operierte man, so Paul Nolte (2000), mit Polarisierungen: Zwischen Staat und Gesellschaft, Staat und Volk, Gesellschaft und Gemeinschaft schien man sich entscheiden zu müssen. Damit hing das speziellere Problem der Vermittlung von Staat und Gesellschaft zusammen. Es fehlte ein Konzept von Zivil- oder politischer Gesellschaft, deren Mitglieder dem Staat nicht entpolitisiert gegenüberstehen, sondern das politische Gemeinwesen konstituieren. Die politische Soziologie krankt seit ihren Anfängen daran, kein klar herausgearbeitetes Verständnis für die politische Dimension von Gesellschaft zu haben, sodass wir es hier häufig weiterhin mit falschen Dichotomisierungen und fehlenden Verbindungsstücken zu tun haben. Societas civilis kann natürlich nicht mehr im umfassenden Sinne „politische Gesellschaft" bedeuten. Nimmt man allerdings die Bedeutung von societas im Sinne von „Geselligkeit" ernst und führt dies mit dem Adjektiv civilis zusammen, dann kann societas civilis heute die ausdifferenzierte Form der Geselligkeit sein, die politisch orientiert ist, also die politische Assoziation bzw. Bürgervereinigung (vgl. Adloff 2005).

Aktuelle Konzeptionen von Zivilgesellschaft In der gegenwärtigen Renaissance der Zivilgesellschaftsdiskussion lassen sich eher diskurstheoretische von „realistischen" Zivilgesellschaftskonzeptionen unterscheiden; beide haben meines Erachtens ihre wissenschaftlichen Stärken und Anrechte. So hat Jeffrey Alexander (1998a, 1998b) in den letzten Jahren dem Zivilgesellschaftskonzept eine originelle Wendung gegeben, indem er seinen Analysen eine „duale" Perspektive zugrunde legt. Zum einen bezeichnet er mit „Zivilgesellschaft" etwas sehr Reales, nämlich eine ausdifferenzierte Handlungs- und institutionelle Sphäre moderner Gesellschaften. Er greift dabei auf Talcott Parsons' Konzept der societal community zurück, die man auch das gesellschaftliche Teilsystem der Zivilgesellschaft nennen könnte. Die wesentliche Leistung der gesellschaftlichen Gemeinschaft ist für Parsons, dass sie die Loyalität der Gesellschaftsmitglieder aus den Fesseln nur partikularer Bindungen befreit und auf übergeordnete, gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge

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ausdehnt (Münch 2002: 446). Das Organisationsprinzip der societal community ist die Vereinigung (association), die durch drei Merkmale gekennzeichnet ist: Vereinigungen beruhen erstens auf dem Prinzip der Gleichheit der Individuen. Zweitens ist das Prinzip der Freiwilligkeit zentral: Die Menschen entscheiden selbst, ob sie einer Vereinigung beitreten oder diese verlassen. Das dritte Merkmal schließlich ist die Entscheidungsfindung durch Diskussion und Abstimmung. Zum anderen ist Zivilgesellschaft für Alexander eine Art Selbstbeschreibungssymbolik modemer Gesellschaften: Sie zeichnen damit bestimmte Institutionen und Handlungsweisen als normativ wünschenswert und „zivil" aus und werten dagegen andere ab; sie definieren, wer zur Zivilgesellschaft gehört und wer ausgeschlossen bleibt. Diese kulturell-symbolische Sphäre ist entlang der Dichotomie rein/unrein bzw. heilig/profan strukturiert. Eine Gesellschaft klassifiziert mithin entlang dichotomer Codes, was für sie politisch als „gute" Zivilgesellschaft gilt und was als „unrein", „verschmutzt" und „unzivil" ausgegrenzt wird. Die erstere, „realistische" Untersuchungsstrategie, die sich ebenso wie diskurstheoretische Rekonstruktionen weitgehend aus normativen Debatten heraushält, nimmt eine bereichsbezogene Definition von Zivilgesellschaft vor. Hier wird Zivilgesellschaft als eine eigenständige gesellschaftliche Sphäre verstanden, die sich von der Familie, dem Staat und der Wirtschaft abgrenzen lässt. Häufig werden freiwillige Assoziationen als die typische Organisationsform dieser Sphäre angesehen - so etwa von Parsons, Tocqueville, Ralf Dahrendorf, Jean Cohen/Andrew Arato, Robert D. Putnam oder auch von Dritte Sektor-Forschem. Eine dritte Definition ist interaktionsbezogen und selbst hochgradig normativ: Es wird weniger auf eine ausdifferenzierte zivilgesellschaftliche Sphäre rekurriert als darauf verwiesen, dass aus einer republikanischen Perspektive heraus bestimmte Motive und Handlungsweisen als normativ wünschenswert erscheinen. Zivilität, Gemein- oder Bürgersinn werden hier als „tugendhaft" normativ ausgezeichnet und zum Inbegriff zivilgesellschaftlichen Handelns, das mithin nicht auf eine bestimmte gesellschaftliche Sphäre festgelegt ist (so bei Edward Shils, kommunitaristischen Autoren wie Robert Bellah oder bei Herfried Münkler). Ziviles Handeln, das sich auch mit diskursethischen und partizipatorischen Ansprüchen verbinden lässt, kann im Prinzip überall stattfinden. Aufgabe der politischen Soziologie wäre es nach dieser Lesart, einem solchen Handlungstyp in modernen Gesellschaften analysierend nachzuspüren. Am häufigsten findet sich in der aktuellen Literatur jedoch eine Kombination aus bereichs- und interaktionsbezogenen Definitionen von Zivilgesellschaft. Jürgen Kocka etwa meint mit Zivilgesellschaft erstens einen Interaktionstyp, der auf Kompromiss und Verständigung in der Öffentlichkeit ausgerichtet ist, der durch Gewaltfreiheit gekennzeichnet ist, der Pluralität und Differenzen anerkennt und zumindest auch am Gemeinwohl orientiert ist. Zweitens findet diese Interaktionsweise hauptsächlich in einem bestimmten sozialen Raum statt, „der in modernen ausdifferenzierten Gesellschaften .zwischen' Staat, Wirtschaft und Privatsphäre zu lokalisieren ist" (Kocka

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2003: 32f.). Drittens bedeutet Zivilgesellschaft für Kocka die Bezeichnung eines demokratischen Projekts der Selbstregierung, das bis heute uneingelöste utopische Züge trägt. Zivilgesellschaft in „Reinform" ist somit niemals identisch mit real existierenden Gesellschaften. Zivilgesellschaft ist - fasst man die verschiedenen widersprüchlichen Ansätze zusammen - erstens eine Sphäre gesellschaftlicher Selbstorganisation in Form von Assoziationen, die bindende und integrative Funktionen haben können, wenn in ihr zweitens Konflikte zivil ausgetragen und Solidaritäten hergestellt werden. Zivilgesellschaft beinhaltet drittens die Einflussnahme auf politische Diskurse, Entscheidungen und Herrschaftsbeziehungen, viertens einen kulturellen und konflikthaften Raum der Definition von Inklusion und Zivilität und fünftens schließlich das politisch-utopische Moment einer selbstregierenden Bürgerschaft. Erlauben diese sozialen, politischen und kulturellen Dimensionen zusammengenommen eine differenziertere Analyse der Verbindungselemente von Staat und Gesellschaft?

Gouvernementalität in der und durch die Zivilgesellschaft? Angesichts neuer Verschränkungen von Verwaltung und Zivilgesellschaft stellt sich die Frage, ob letztere die oben genannten fünf Rollen überhaupt erfüllen kann oder ob sie nicht vielmehr zum Ziel von Regierungshandeln wird, sich also die Richtung der Einflussnahme ändert. In den letzten Jahren ist vielfach von der Zusammenarbeit zwischen staatlichen Einheiten und zivilgesellschaftlichen bzw. Dritte-Sektor-Organisationen die Rede. Neue Formen von sektorenübergreifendem „local governance" bilden sich heraus, die auf Beteiligungsmodellen im Bereich der Stadt- und Regionalentwicklung beruhen (vgl. Sack 2005). Governance bezeichnet dabei unterschiedliche Steuerungsprinzipien wie Hierarchie, Kooperation oder Wettbewerb, die im Zuge der Interaktion zwischen staatlichen, wirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren zum Tragen kommen (vgl. Stoker 1998). Die Prominenz des Governance-Konzepts „reflektiert den Umstand, dass Entscheidungs- und Leistungserbringungsprozesse in einer komplexen, dynamischen und ausdifferenzierten Gesellschaft nicht mehr allein innerhalb staatlicher Instanzen zu verorten sind. Stattdessen münden Ressourceninterdependenzen darin, dass Government im Sinne einer unilateralen Regulierung durch interaktive Normenformulierungen und -durchsetzungen abgelöst wird, welche die bisherigen Grenzen zwischen Staat, Gesellschaft und Markt überschreiten" (Sack 2005: 179). Entsprechende Netzwerke werden mittlerweile regelmäßig aus der Govemance-Perspektive analysiert, die davon ausgeht, dass der Staat seine Kapazität zur hierarchischen Steuerung verloren hat und Macht häufig nicht mehr zentralisiert ausgeübt wird. Das gewachsene Interesse an diesem Konzept spiegelt auch die „Verschiebung der Grenzen zwischen privaten und öffentlichen Verantwortlichkeiten" wider (ebd.: 180).

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Die Restrukturierung des Staates führt jedoch nicht zur Auflösung von Machtprozessen, sondern nur zu einer Veränderung der Kräfteverhältnisse und zur Veränderung der Steuerungsmedien. Man nutzt nicht mehr einseitig Hierarchie, Zwang oder Repression, sondern setzt die Eigenständigkeit von Subjekten und ihre Kooperation bei Steuerungsprozessen voraus. Regierung vollzieht sich nunmehr im Modus der Kooperation und freien Entscheidung. Damit ist eine Grundperspektive gekennzeichnet, die Michel Foucault (2000) mit dem Begriff der Gouvemementalität belegt hat. Dieser Begriff setzt sich zusammen aus Regierung (gouvernement) und Denkweise bzw. Mentalität (mentalite) und vermittelt als Scharnierbegriff zwischen Macht und Subjektivität, zwischen Herrschaftstechniken und „Technologien des Selbst" (s. Lemke/Krasmann/ Bröckling 2000). Macht darf nicht allein als Unterdrückung von Subjektivität (miss) verstanden werden, sondern muss auch im Hinblick auf Selbsttechnologien analysiert werden, die mit Zielen des Regierens verbunden werden können (ebd.: 29). In den letzten Jahren sind zunächst die „Selbsttechnologien" des Neo-Liberalismus in den Fokus genommen worden, also die freie Entscheidung von Subjekten, zum Unternehmer ihrer selbst zu werden. Das auf Taylor und Ford basierende Modell der Massenproduktion ist spätestens seit den 1980er Jahren unternehmerischen Umstrukturierungen unterworfen, die einerseits als Rückkehr des Marktes in die Unternehmen gedeutet werden können und die andererseits die Sozialfigur des Arbeitskraftunternehmers propagieren. Damit geht eine verstärkte Nutzung der Fähigkeiten, Qualifikationen sowie des Engagements und der normativen Erwartungen der Mitarbeiter an die Arbeit einher - mit der Konsequenz, dass Elemente der Lebensführung in der gegenwärtigen Ökonomie, gemeinhin auch als Subjektivierung von Arbeit bezeichnet, aufgewertet werden. Als Marktsubjekt, Unternehmer seiner selbst und als Konsument hat das post-fordistische Subjekt permanent eigenverantwortliche Entscheidungen zu treffen, eine aktive Steuerung seines Lebensverlaufs vorzunehmen und das eigene Humankapital mit maximalem Gewinn einzusetzen (vgl. Fräser 2003). Dieser Perspektive liegt die Annahme zugrunde, dass ein Denken in einfachen Sektorenmodellen (Markt, Staat, Zivilgesellschaft) nicht weiter führt. Insbesondere Nullsummenspielannahmen (bspw. weniger Staat führt zu mehr Zivilgesellschaft und umgekehrt) sind zu verwerfen, da sie die Trennung dieser Sektoren voraussetzen. 1 So lässt sich der Abbau wohlfahrtsstaatlicher Institutionen nicht einfach als Verlust 1

Zunächst unterstellte bspw. die in den USA beginnende Forschung, dass der Nonprofit-Sektor ein amerikanisches Phänomen sei. Was man bis in die 1980er Jahre kaum bemerkte, war, dass man den Sektor in allen modernen Gesellschaften vorfinden kann - zwar in verschiedenen Ausprägungen und in unterschiedlichem Umfang, aber durchaus deutlich sichtbar. Damit ging eine zweite Fehleinschätzung einher: Eine weit verbreitete Vorstellung in der öffentlichen und wissenschaftlichen Diskussion war - und ist teilweise immer noch - , dass der Sektor am besten in Unabhängigkeit vom Staat gedeiht und dass die Expansion wohlfahrtspolitischer Programme Nonprofit-Organisationen ersetzt bzw. ihren Niedergang herbeigeführt habe (vgl. Salamon 1995). Man stellte sich das ganze als ein Nullsummenspiel vor: Je weniger Staat, umso mehr Nonprofit-Organisationen und umgekehrt. Das Gegenteil ist jedoch richtig: Der Nonprofit-Sektor hat eine zunehmende Bedeutung innerhalb des amerikanischen Wohlfahrtsstaats erlangt, weil der Staat Nonprofit-Organisationen damit beauftragte, öffentlich finanzierte Dienstleistungen anzubieten. Dadurch entstand ein weit verzweigtes Netzwerk kooperativer Arrangements zwischen Staat und Nonprofit-Organisationen.

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staatlicher Steuerungs- und Interventionskompetenz deuten, sondern muss als Umorganisation von Regierungstechniken verstanden werden (Lemke 2003: 271).2 Hierarchische Steuerung bzw. Regierung wird vom Staat auf die Selbststeuerungskapazitäten des Individuums verlagert. Macht darf man dabei nicht nur in einem souveränen Zentrum lokalisieren, sie findet sich in der „Vielfältigkeit von Kraftverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren" (Foucault 1999: 113). Diese Gouvernementalitätsperspektive ist für die Analyse der Umstrukturierungen im Verhältnis von Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft, bei denen Aspekte der Fremdund Selbststeuerung verschmelzen, bislang allerdings kaum genutzt worden (als Ausnahme vgl. Sack 2005). Die Erwartungen an das zivilgesellschaftliche Selbst, im Unterschied zum rein unternehmerischen, gehen über ökonomische Flexibilität und Zweckrationalität hinaus und beziehen sich auf die Dimension des Engagements für eine übergeordnete Einheit, die Gemeinschaft, Kommune, das Gemeinwohl usw. Ein Selbstentwurf wird verlangt, der mit Aktivität und gesellschaftlicher Verantwortung verknüpft ist und damit ökonomische Engführungen überschreitet. Diese Techniken des Selbst ermöglichen gleichsam ein Regieren durch die Zivilgesellschaft: „Hier herrscht die Vorstellung, dass neue Formen von Mitbestimmung im Wohnquartier, die Stärkung lokaler Mitwirkungsrechte, und die Einbeziehung der Anwohner in Entscheidungen, die ihr eigenes Leben betreffen, Eigeninitiative, Eigenverantwortung und Selbstvertrauen in Gestalt aktiven Bürgersinns in einer selbstverwalteten Bürgergemeinde reaktivieren. Regieren durch Aktivierung des Engagements, der Kräfte und der Entscheidungsbereitschaft des Einzelnen, durch Förderung des Gemeinsinns, wird so zum Gegenbild einer zentralistischen und bevormundenden Regierung des Sozialen, die den Einzelnen lähmt." (Rose 2000: 86) Momentan wird der gesellschaftspolitische Diskurs auf die Sozialfigur dieses aktiven, eigenverantwortlichen und gemeinsinnigen Bürgers eingeschworen - das Gegenbild dazu ist der passive, sich auf den Sozialstaat verlassende und egoistische Besitzstandswahrer. Liberal-demokratische Staatlichkeit und kapitalistische Wirtschaftsweise sollen ergänzt werden durch zivilgesellschaftliche Assoziationen und starke, handlungsfähige Akteure. Ann Vogel (2006: 645) spricht in diesem Zusammenhang von einer „missionaiy pedagogy", die auf „civil society citizenship" und „economic citizenship education" abzielt.

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Ein weites Untersuchungsfeld eröffnet sich, wenn man den Begriff der Zivilgesellschaft mit dem der Sozialpolitik in Zusammenhang bringt. Wie Franz-Xaver Kaufmann (2003: 38f.) zeigt, hatte „Sozialpolitik" in Deutschland vor der nationalen Einigung und den Bismarckschen Reformen begrifflich und praktisch die Funktion, zwischen Staat und Gesellschaft zu vermitteln. Unter dem Impetus der nationalen Einigung trat dieses Differenzierungsdenken in den Hintergrund; bis zum Ende des Ersten Weltkriegs geriet der Begriff vollends unter staatlich-politische Führung. Dies hatte den Effekt, dass die Eigenständigkeit des Gesellschaftlichen, des Selbstorganisierten, in Vergessenheit geriet. Heute, so könnte man sagen, erleben wir eine Renaissance der Vorstellung von zivilgesellschaftlich verankerter oder gar organisierter Sozialpolitik.

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Schluss: Auf dem Weg zum aktiven „Gemeinwohlmitproduzenten"? Greift man Charles Taylors Unterscheidung zwischen einem Locke- und einem Montesquieu-Strang 3 im Denken über Zivilgesellschaft auf, zeigt sich, dass trotz der Renaissance republikanischer Ideen momentan das Zivilgesellschaftsverständnis des Locke-Strangs die Debatten in Politik und Feuilleton dominiert. Die Soziologin Margaret Somers (2001) hat gezeigt, wie das angloamerikanische kulturelle Selbstverständnis auf der Locke'schen Vorstellung einer „natürlichen" Gesellschaftsordnung beruht, die vornehmlich auf rationaler und autonomer Interessenverfolgung basiert und stets schon vor dem Staat existiert. Dieser Gesellschaftsordnung wird ein Staat gegenübergestellt, der auf dem „negativen Code" von Zwang, Bürokratie, Überregulierung und Willkür gründet. Die schroffe Gegenüberstellung übersieht zweierlei: erstens, dass die Gesellschaft sich nur durch das politische Gespräch und den öffentlichen Diskurs konstituiert, ermächtigt und zur Zivilgesellschaft wird, und zweitens, dass erst die „politisch-fiktionale Anrufung" des rationalen und autonomen Individuums dieses kreiert. Das Individuum soll zum engagierten und verantwortungsvollen Selbst werden: „Und man kann es nur werden, weil man immer schon als solches angesprochen ist." (Bröckling 2007: 47). Die Trennung zwischen einer Sphäre der Politik und einem vorpolitischen Schutzraum ist also als durchaus paradox und selbstwidersprüchlich anzusehen. Hier zeigt sich deutlich eine gewisse Ähnlichkeit und Affinität des zivilgesellschaftlichen zum unternehmerischen Selbst, insbesondere bezüglich des aktiven und verantwortlichen Handelns. Nun sind Aktivität und Verantwortlichkeit sicherlich keine Eigenschaften von Personen, die man normativ kritisieren wollte. Der kritische Punkt der normativen Positivaufladung dieser Eigenschaften von Subjekten liegt woanders, denn mit ihnen sind zugleich spezifische Ausgrenzungen verbunden: Sich antago3

Der kanadische Sozialphilosoph Charles Taylor hat vor einigen Jahren (1991) herausgestellt, dass man die Geschichte des Zivilgesellschaftskonzeptes als die Geschichte zweier Stränge des politischen Denkens rekonstruieren kann: den auf Locke zurückgehenden „L-Strang" und den auf Montesquieu zurückgehenden „M-Strang". Locke bereitet Taylor (ebd.: 65) zufolge der Auffassung den Boden, dass die Gesellschaft ein vorpolitisch konstituierter Raum mit eigenen, von der Politik unabhängigen Rechten ist. Die (Zivil-)Gesellschaft ist einerseits eine Wirtschaftsgesellschaft, die sich in Akten der Produktion, des Tauschs und der Konsumtion konstituiert, andererseits eine eigenständige Sphäre der Öffentlichkeit und der öffentlichen Meinung, die sich durch Assoziationen von Bürgern und die Verbreitung von Zeitungen und Büchern konstituiert. Das politische Credo des „L-Strangs" lautet daher, dass die Politik die Autonomie der Zivilgesellschaft in diesen zwar öffentlichen, aber nicht politisch strukturierten Bereichen zu respektieren hat. Für Montesquieu ist nicht das Recht einer vorpolitischen Gesellschaft der Ausgangspunkt, sondern eine monarchische Regierung, die durch Recht begrenzt werden soll. Eine Begrenzung kann jedoch nur gelingen, wenn unabhängige Körperschaften - corps intermediates - vorhanden sind, die vom Recht garantiert werden, dieses schützen und verteidigen. Zivilgesellschaft im „M-Strang" ist also definiert durch ihre genuin politische Organisation sowie dadurch, dass sie Trägerin einer unabhängigen politischen Macht ist. Natürlich gibt es auch unpolitische Vereinigungsformen - private Vereine etwa -, doch ihre demokratietheoretische Bedeutung liegt nicht darin, dass sie eine unpolitische Sphäre konstituieren, sondern „dass sie die Grundlage für die Fragmentierung und Diversifizierung der Macht innerhalb des politischen Systems darstellen" (ebd.: 77). Diese Linie des politischen und zivilgesellschaftlichen Denkens wurde später von Tocqueville aufgenommen, dem größten Schüler Montesquieus im 19. Jahrhunderts - so Charles Taylor (vgl. auch Adloff 2005).

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nistisch verhaltende Akteure sind im Rahmen solcher Kooperationsregime delegitimiert, ebenso Subjekte, die sich bspw. unselbständig zeigen, abhängig, inaktiv, von der Fürsorge anderer zehrend. Dazu nochmals Nikolas Rose (2000: 89): „Unter dem Gesichtspunkt einer Ethik des Handelns wird eine neue Trennlinie gezogen zwischen jenen, die man für verständige Bürger hält, und jenen, denen man diese Eigenschaft abspricht" - also jenen Marginalisierten, denen man die Zugehörigkeit zum zivilisierten Gruppenstandard der Aktiven und Verantwortlichen abspricht und die im Zuge von Engagementpolitik „aktiviert" werden müssen. Diese Beispiele verdeutlichen zweierlei: dass die Trennung von Zivilgesellschaft und Politik im Rahmen kooperativer Arrangements porös wird und dass ein spezifischer Code des guten, aktiv-zivilgesellschaftlichen Bürgers eingeführt wird, der eine Kehrseite kultureller und sozialer Exklusion in sich trägt. Wer beim Projekt einer aktiven Zivilgesellschaft, bei der geforderten Kooperation zwischen Verwaltung und Zivilgesellschaft nicht mitmacht, gerät schnell in den Verdacht, sich nicht gemeinsinnig zu verhalten und sich der Arbeit am Gemeinwohl entziehen zu wollen. Staatlich induzierte Politik in der, durch die und mit der Zivilgesellschaft ist eine Politik der Formung von Mentalitäten, zwar nicht länger eine der Formung von obrigkeitsstaatlichen Mentalitäten, sondern eine von „Gemeinwohlmitproduzenten" - aber als selbst organisierter Schutzraum vor staatlichen Regierungstechniken taugt eine gouvemementalisierte Zivilgesellschaft wahrscheinlich eben deshalb nicht mehr viel.

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Zivilgesellschaft, Governance und Raum. Ein Beitrag aus Sicht der Geographie. von Tobias Federwisch

1.

Einführung

Die von Max Weber auf dem ersten deutschen Soziologentag (1910) geforderte Arbeitsteilung zwischen der bereits etablierten Anthropogeographie und der aufstrebenden Soziologie hatte eine jahrzehntelange Abstinenz des „Raumes" in den Sozial- und Kulturwissenschaften zur Folge. Die Entledigung des „Raumes" wurde von Max Weber vor allem damit begründet, dass die „sinnfremden Vorgänge und Gegenstände" - zu denen ein großer Teil der erdräumlichen Manifestationen zu zählen ist - lediglich zu den Daten gehören, „mit denen zu rechnen ist" (Weber 1980: 3). In der Konsequenz sollte „Raum" nicht Gegenstand einer sozialwissenschaftlichen, sondern der geographischen Forschung sein (vgl. Werlen 2009a). Für die Soziologie proklamierte Weber indes den Forschungsgegenstand der „Gesellschaft", die in der Folge nur selten in einen raumbezogenen Zusammenhang gebracht worden ist (bspw. durch Georg Simmel oder die Chicago School of Sociology). Im Zuge der Globalisierung der Lebensbedingungen lässt sich die disziplinstrategische Trennung von „Gesellschaft" und „Raum" nicht mehr aufrechterhalten. Wir beobachten tief greifende Veränderungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens, die mit grundlegenden Wandlungen der räumlichen Bezüge einhergehen. In einer Art „raumzeitlichen Schrumpfung" (Giddens 1995) erfahren die vergesellschafteten Subjekte eine beschleunigte Verstrickung des Globalen mit dem Lokalen. Die sozial- und kulturwissenschaftliche Forschung reagiert auf diese Entwicklungen, indem sie ihr Programm um raumbezogene Fragestellungen erweitert und damit einen paradigmatischen Spatial Turn (Soja 1989, 2008) vollzieht. Auch die sozialwissenschaftlichen Forschungen zur Zivilgesellschaft interessieren sich im verstärkten Maße für raumbezogene Fragestellungen (siehe Beiträge in diesem Band). Der dabei vollzogene Spatial Tum hat einen Blick in Richtung der Geographie zur Folge - der traditionell raumorientierten Disziplin par exellence, die im Zuge der Globalisierung der Lebensbedingungen einen hohen Aufmerksamkeitsschub erfahren hat (vgl. Werlen 2009a). Von ihr erwartet man neue Erkenntnisse hinsichtlich des übergroßen Begriffes des „Raumes". Von ihr verspricht man sich neue Einsichten hinsichtlich des Verhältnisses von „(Zivil)Gesellsehafl" und „Raum" (vgl. Werlen 2008a). Vor diesem Hintergrund hat der vorliegende Beitrag zum Ziel, die neuesten geographischen Überlegungen zum Raumbegriff für die Forschungen zur Zivilgesellschaft fruchtbar zu machen. Zu diesem Zweck erfolgen zunächst einige disziplingeschichtliche Bemerkungen, die den aktuellen Stand der geographischen Forschung reflektie-

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ren und ein Verständnis für den fundamentalen Perspektivenwechsel der vergangenen Jahre ermöglichen sollen (Abschnitt 2). In einem zweiten Schritt wird der gegenwärtige Spatial Tum in der zivilgesellschaftlich relevanten Govemanc^Forschung reflektiert und hinsichtlich seiner geringen Sensibilität für die Realität verschiedenartiger Raumsemantiken kritisiert (Abschnitt 3). Abschließend wird für eine raumsensitivere Denkweise geworben, welche die geographischen Überlegungen unmittelbar mit den Forschungen zur Zivilgesellschaft verbindet. Im Ergebnis werden raumbezogene Forschungsfragen vorgestellt, welche bei der systematischen Erschließung zivilgesellschaftlicher Aktivitäten behilflich sein können (Abschnitt 4).

2.

Cultural Turn in der Geographie

Im Zuge der fachgeschichtlichen Vergewisserung lassen sich drei Paradigmen herausarbeiten, welche die geographische Forschung im 20. Jahrhundert maßgeblich bestimmten: Dies sind die traditionelle Geographie, die raumwissenschaftliche Geographie und die tätigkeits- bzw. handlungszentrierte Geographie. Für jede dieser Forschungstraditionen lassen sich spezifische Raumverständnisse anführen, die beachtliche epistemologische Konsequenzen nach sich ziehen. So sind die Erkenntnismöglichkeiten, wissenschaftlichen Ergebnisse und Selbstverständnisse der Geographie bzw. der Geographen maßgeblich an die unterschiedliche Beantwortung der Raumfrage gebunden. Die Vertreter der traditionellen Geographie verstanden den „Raum" als einen Container, den es - in Form von Landschaften und Ländern - zu erkunden galt. Dabei wurden Landschaften und Länder als einmalige und in sich geschlossene Konfigurationen der natürlichen Geofaktoren sowie der anthropogenen Einflüsse begriffen. Konkret: Das Erscheinungsbild einer bestimmten Landschaft wird durch ihre natürlichen Grundlagen bestimmt; der menschliche Faktor führt zu unverwechselbaren Kulturlandschaften. Ein Land setzt sich wiederum aus einer Vielzahl von (Kultur) Landschaften zusammen, die zu einem homogenen Ganzen verschmelzen. Die Aufgabe der Geographen lag nach diesem Verständnis nun darin, den individuellen Charakter einer Landschaft bzw. eines Landes zu beschreiben. Mit Hilfe von geographischen Methoden (bspw. der Kartographie) sollten diese Natur-Kultur-Symbiosen als containerhafte Raumeinheiten dargestellt werden (vgl. Werlen 2008a: 83-95). Dieses geographische Grundverständnis der Erkundung von in sich geschlossenen Landschaften und Ländern hat das politische und wirtschaftliche Denken bis weit in das 20. Jahrhundert hinein bestimmt. Es vermochte nicht nur - wie es in der klassischen Bildung formuliert wurde - den „gesunden Menschenverstand [...] aufzuhellen" (Immanuel Kant), sondern auch zu konkreten Geopolitiken anzustiften. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde das landschafts- und länderkundliche Grundverständnis sowohl für seinen vorwissenschaftlichen, da beschreibenden Charakter, als auch für seine politische, da legitimierende Verwendung kritisiert. Im Zuge

Zivilgesellschaft, Governance und Raum. Ein Beitrag aus Sicht der Geographie.

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dessen wurde ein relationales Raumverständnis etabliert, welches die distanzabhängigen sozialen und räumlichen Beziehungen in den Blick nahm. Mit der Etablierung der raumwissenschaftlichen Geographie stand nicht mehr die Beschreibung von Landschaften und Ländern im Vordergrund. Vielmehr galt es, die erdoberflächlichen Verbreitungs- und Verknüpfungsmuster wissenschaftlich zu erforschen sowie Kausalerklärungen des erdräumlichen Gesamtmusters aufzudecken („spatial approach"; vgl. Fußnote 1). Die durch neue Mess- und Verarbeitungsmethoden begünstigte Erarbeitung raumbezogener Daten bildete wiederum die Grundvoraussetzung für die sach- und raumbezogene Klassenbildung (Sedlacek 1978, 1998). Die Aufgabe der raumwissenschaftlichen Geographie bestand somit darin, Erkenntnisse über die gesetzmäßigen sozialen und räumlichen Beziehungsmuster zur Begründung und Konstruktion unterschiedlicher Raumeinheiten zur Verfügung zu stellen (vgl. Werlen 2008a: 183-214). Da man terminologisch inzwischen von Landschaften und Ländern zu Regionen übergegangen war, wurde die wissenschaftliche Produktion von Raumeinheiten als „Regionalisierung" bezeichnet. In der Folge wurden nun beispielsweise Industrieund Erholungsregionen, aber auch strukturstarke und strukturschwache Regionen identifiziert. Damit konnte die raumwissenschaftliche Geographie einen zunehmend fundierten Beitrag zur Raumplanung leisten sowie Prognosen zur Raumentwicklung ermöglichen. Sie begann, wichtiges „technisches Verfiigungswissen" (Blotevogel 2003: 30) bereit zu stellen, dessen beständige Generierung durch (außer)universitäre Forschungsinstitute gewährleistet wird. An der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Praxis (Anthony Giddens: „doppelte Hermeneutik") konnte sich die Geographie als wichtige beratende Disziplin etablieren. Im Vergleich zur Raumwissenschaft vertritt die handlungstheoretische Geographie den Anspruch, „kritisches Reflexionswissen" (vgl. Blotevogel 2003: 30) zur Verfügung zu stellen. In diesem Sinne stellt sie ihre Ergebnisse nicht notwendigerweise in einen Nutzen bringenden Zusammenhang. Im Gegenteil: Sie fragt ganz allgemein danach, wie „Räume" oder „Regionen" in alltäglicher politischer, wirtschaftlicher, wissenschaftlicher, medialer und/oder religiöser Praxis konstruiert und reproduziert werden.1 Für die handlungstheoretische Geographie ist eine Region demnach nicht 1

Wichtige Impulsgeber für diese Forschungstradition sind die im angelsächsischen Kontext entstandenen Arbeiten der Humanistic Geography (Anne Buttimer, Yi-Fu Tuan, David Ley oder Nicolas Entrikin), der Critical Geography (David Harvey, Doreen Massey, Edward Soja, John Pickles oder Theodore Schatzki) sowie der Critical Human Geography (Derek Gregory, Alan Pred oder Nigel Thrift). Diese Arbeiten eint die Kritik am sogenannten „spatial approach", welcher sich vordergründig mit der Darstellung der räumlichen Ordnung mit Hilfe von statistischen Methoden, der Suche nach räumlichen Erklärungen sowie der Ableitung von räumlichen Gesetzmäßigkeiten beschäftigt. Dabei wird - so die Kritik - der sozialen Konstruiertheit von „Räumen" nur eine marginale Bedeutung zugewiesen und die Geographie auf ihre Rolle der Bereitstellung von Verfahren und Techniken zur Untersuchung von räumlichen Phänomenen reduziert. Diese Kritik teilen auch die in der Tradition der Critical Geography stehenden Vertreter der Scale-Debatte (Peter Taylor, Neil Smith, Bob Jessop, Neil Brenner, Eric Swyngedouw, Gordon MacLeod oder Martin Jones). In ihren Arbeiten setzen sie sich ebenfalls mit der alltäglichen Konstitution und Veränderung von „Raum" auseinander und fragen nach dem Gebrauch von „Raum" zur Durchsetzung bestimmter politischer Absichten (Politics of Scale).

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mehr nur das Ergebnis eines wissenschaftlichen Klassifizierungsverfahrens und somit die wissenschaftliche Regionalisierung nur noch eine Praxis neben der erwähnten Vielzahl anderer Praktiken. Aus diesem Grund können die durch wissenschaftliche Erkenntnisse konstituierten Regionen einen ganz anderen Charakter haben, als die in politischen, ökonomischen, medialen oder religiösen Handlungszusammenhängen konstruierten Regionen. Damit vertritt die handlungstheoretische Geographie ein sozial-konstruktivistisches Raumverständnis, welches fundamentale Auswirkungen auf die Erkenntnismöglichkeiten, wissenschaftlichen Ergebnisse und das Selbstverständnis der Geographie besitzt. Das Ziel der Forschung besteht nun darin, die alltäglichen Praktiken der Regionalisierung sowie - ganz im strukturationstheoretischen Sinne - ihre institutionellen Rahmenbedingungen zu untersuchen (vgl. Giddens 1984). Hierzu bietet Benno Werlen (2007a) ein subjektzentriertes Handlungsmodell an, um die Analyse des alltäglichen Geographie-Machens zu ermöglichen (Abbildung 1). Gemäß seiner Auffassung resultieren aus den unterschiedlichsten Praktiken verschiedene Alltagsgeographien. Benno Werlen gliedert sie in Geographien der Produktion und Konsumtion, der politischen Kontrolle und normativen Aneignung sowie der Information und Signifikation (Werlen 2007a, 2007b).

Abbildung 1: Modell des Handels (Quelle: Werlen 2008a: 284)

Mit der Verschiebung des Forschungsinteresses in Richtung der alltäglichen Praktiken erlangte die Geographie - nach rund einhundertjähriger Abwesenheit - wieder Anschluss an die sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskussionen (vgl. Gebhardt et

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al. 2003). Der in diesem Zusammenhang vollzogene paradigmatische Cultural Turn besagt im Kem, dass sich die geographische Forschung in theoretischer, methodologischer und methodischer Hinsicht neu orientiert hat. Konkret: In den zurückliegenden Jahren lässt sich für die Geographie erstens ein umfänglicher Theorieimport aus den Geistes-, Wirtschafts-, Sozial- und Kulturwissenschaften beobachten (bspw. Phänomenologie, Strukturationstheorie, Systemtheorie, Poststrukturalistische Theorie). Des Weiteren profitiert der methodologische Strang der Hermeneutik von der Verschiebung des geographischen Forschungsinteresses. Es geht nicht mehr so sehr um das erklärungsbedürftige Abgrenzen von Regionen, sondern vielmehr um das Verstehen ihrer alltäglichen und multidimensionalen Konstitution. Dies hat drittens eine methodische Neuorientierung zur Folge: So leistet der Cultural Turn vor allem den re- und dekonstruktiven Techniken wie der teilnehmenden Beobachtung, der Bild- und Textanalyse oder der qualitativen Inhaltsanalyse Vorschub (vgl. Weichhart 2008). Zwischenfazit: Eine fachgeschichtliche Auseinandersetzung besitzt den Charme, sich des kontinuierlich ändernden Selbstverständnisses einer Disziplin bewusst zu werden. Für die Geographie lässt sich konstatieren, dass sich deren traditionelle Vertreter zunächst als „Weltenkenner und -deuter" (Harendt/Sprunk 2009) profiliert und die politisch-ökonomische Weltordnung des 20. Jahrhunderts maßgeblich (aber nicht immer zum Guten) beeinflusst haben. Im Gegensatz dazu verfolgten die Vertreter der raumwissenschaftlichen Phase von Beginn an den Anspruch, die bundesrepublikanische Politik und Verwaltung mit ihren sach- und raumbezogenen Klassifizierungen zu beraten. Für die handlungstheoretische Geographie lässt sich indes feststellen, dass sie „kritisches Reflexionswissen" für die vielfältigen Meinungsfindungs- und Entscheidungsprozesse bereitstellt. Insofern kann festgehalten werden, dass die Wissenschaft im Allgemeinen und die Geographie im Besonderen sich als eine bedeutende (zivil)gesellsehaflliehe Beratungsinstanz etabliert hat. Sie verfügt über die nötigen Ressourcen (Informationen, Wissen, Deutungshoheit), um gesellschaftliche Diskurse zu beeinflussen. Darüber hinaus kann eine Beschäftigung mit der Fachgeschichte dabei helfen, sich der Rolle der eigenen Wissenschaft im Kanon der anderen Disziplinen zu vergewissern. So sollte man für die Geographie nach dem Cultural Turn nicht nur erwarten können, dass sie die Theorien und Methoden der Sozial- und Kulturwissenschaft zu importieren weiß. Vielmehr sollte die traditionell raumorientierte Disziplin auch einen erkenntnisreichen Beitrag für die Nachbardisziplinen bereithalten können. Demgemäß sollen in den nachfolgenden Ausführungen die disziplineigenen Erfahrungen mit der unterschiedlichen Beantwortung der Raumfrage implizit mitschwingen, um den gegenwärtigen Spatial Tum der Nachbardisziplinen kritisch zu reflektieren. Damit wird das Ziel verfolgt, den argumentativen Boden für eine raumsensitivere Denkweise zu bereiten, die auch die Forschungen zur Zivilgesellschaft positiv beeinflussen kann.

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3.

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Spatial Turn in der GovernanceForschung

Akzeptiert man die handlungszentrierte These, dass wir alle alltäglich regionalisieren und somit „Geographien des Alltags" konstruieren, so nimmt man eine raumsensitive Grundhaltung ein. Diese scheint in Zeiten der Globalisierung der Lebensbedingungen - also in Zeiten, in denen sich Globales und Lokales miteinander verstricken - durchaus angebracht. Denn ein mehr oder minder raumblindes Denken, wie es den Klassikern der Sozialwissenschaften (Karl Marx, Max Weber, Emile Dürkheim, Vilfredo Pareto, Talcott Parsons oder Jürgen Habermas) vielfach unterstellt wurde, vernachlässigt beispielsweise Fragen nach der Durchsetzung und Sicherung von Macht durch die Produktion und Veränderung von „Raum".2 Daher wundert es auch nicht, dass der Soziologe Zygmunt Bauman folgendermaßen für ein neues Interesse an raumbezogenen Themen wirbt: „A bizarre adventure happened to space on the road to globalisation: it lost its importance while gaining in significance." (Bauman 2000: 110). In der Konsequenz profitiert die Geographie vom wachsenden Interesse der Nachbardisziplinen. Da die Sozial- und Kulturwissenschaften immer häufiger ihre Forschungsgegenstände in einen räumlichen Bezug bringen, erlebt die Geographie aktuell eine Renaissance. Diese Entwicklung hat Edward Soja (1989, 2008) dazu veranlasst, von einem Spatial Turn in den Sozial- und Kulturwissenschaften zu sprechen. Was er beobachtete, war nichts anderes als die systematische Integration der Raumkomponente in die zeitgenössische Sozialtheorie durch Henri Lefebvre, Michel Foucault, Vilem Flusser, Pierre Bourdieu oder Anthony Giddens. Diesen Eindruck von einem Spatial Tum kann man aber auch von der zeitgenössischen Politik-, Planungs- und Verwaltungswissenschaft gewinnen, die sich traditionell mit der gesellschaftlichen (Selbst) Steuerung auseinandersetzt (vgl. Mayntz/Scharpf 1995; Müller et al. 2004; Blanke et al. 2005; Schuppert 2005). Zwar sind deren Vertreter - zum Erstaunen des Autors - in den einschlägigen deutschsprachigen Publikationen zum Spatial Turn unterrepräsentiert (vgl. Bachmann-Medick 2007: 284-328; Döring/Thielmann 2008; Günzel 2009). Doch dies

2

In der sozialwissenschaftlichen Literatur zum Spatial Turn wird vielfach auf die vermeintliche „Raumblindheit" der soziologischen Klassiker hingewiesen. Völlig zu Recht gibt der Soziologe Markus Schroer (2008: 141; vgl. auch Schroer 2006: 17-28) zu bedenken, „dass die marginale Thematisierung des Raumthemas nicht mit einem völligen Fehlen räumlicher Kategorien im sozialwissenschaftlichen Denken zu verwechseln ist." So bieten schon die Arbeiten von Maurice Halbwachs, Georg Simmel, Walter Benjamin, der Chicago School of Sociology, Alfred Schütz, Siegfried Krakauer, Leopold von Wiese, Pitirim A. Sorokin oder Erving Goffrnan genügend Anlass zur Behauptung, dass „allem Reden und Verständnis des Sozialen eine Raum-Vorstellung inhärent" ist (Pries 1997: 18). Er gibt jedoch ebenso zu bedenken, dass auch die genannten Autoren den Raumbegriff eher subkutan behandelten: Einer der zentralen Gründe liegt darin, dass sich die Sozialwissenschaften parallel zur Etablierung der modernen Nationalstaaten entwickelten und somit Gesellschaftliches geradezu selbstverständlich mit Territorialem verhandelt wurde. In der Konsequenz legten die Sozialwissenschaftler ihren Studien nicht selten eine Vorstellung vom „Raum als Container" zugrunde, der soziale Beziehungen mit Stadtoder Landesgrenzen zusammenfallen ließ (vgl. Schroer 2006: 19-21, 2008, 2009). Sie waren somit allzu häufig von der Annahme geleitet, „dass soziale mit politischen und ökonomischen Räumen zusammenfallen und an den jeweiligen territorialen Grenzen der Staaten enden" (Schroer 2009: 141).

Zivilgesellschaft, Governance und Raum. Ein Beitrag aus Sicht der Geographie.

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ändert nichts an der Tatsache, dass viele steuerungstheoretische Fragen längst in einen raumbezogenen, oder besser: maßstabsbezogenen Zusammenhang gebracht worden sind. Gegen die Rede vom Spatial Turn mag eingewendet werden, dass in der politik-, planungs- und verwaltungswissenschaftlichen Forschung schon immer raumbezogen geforscht wurde: So stellt der moderne Nationalstaat qua Definition ein Konglomerat aus Staat, Nation und Territorium dar. Doch mit den gesellschaftlichen Transformationen der vergangenen Jahre geschehen Politik, Planung und Verwaltung zunehmend jenseits des nationalstaatlichen Territoriums - Regieren, Steuern und Lenken wird immer mehr zu einer Angelegenheit auf supra- und substaatlicher Ebene (vgl. Benz 2004a; Benz et. al. 2007). Vor diesem Hintergrund geht es der raumsensitiven politik-, planungs- und verwaltungswissenschaftlichen Forschung zunehmend um die Realität und Transformation des Regierens, Steuems und Lenkens auf unterschiedlichen räumlichen Maßstabsebenen. Es geht also um die gesellschaftliche Koordination auf lokaler, regionaler, nationaler oder internationaler Ebene. Dabei ist die Koordination durch eine Dezentralisierung der staatlichen Aktivitäten gekennzeichnet, da der Staat nach Mayntz (1997: 187) „aufgrund inhärenter Schranken seines traditionellen Interventionsinstrumentariums nicht (mehr) in der Lage [ist], die von ihm identifizierten ökonomischen und sozialen Probleme zu lösen und die gesellschaftliche Entwicklung in die gewünschte Richtung zu steuern." Die staatlichen Akteure werden somit Teil weit verzweigter Akteurskonstellationen und komplexer Interaktionsgefüge (Primus inter Pares); das Regieren im Sinne von Government in Richtung der Koordination im Sinne von Governance verschoben (vgl. Benz 2004a; Benz et al. 2007).3 Kritik am Spatial Turn: Es ist nicht Gegenstand dieses Beitrags, den komplexen und vielschichtigen Governanceße^nfl F näher zu erläutern (vgl. hierzu die Überblicksdarstellung von Benz et al. 2007). Vielmehr steht dessen raumbezogene Verwendungsweise zur Diskussion, welche in der Rede von Local-, Regional- oder Global-Governance ihre terminologische Variation gefunden hat. Im Zuge der Beschäftigung mit der Literatur drängt sich nämlich ein Eindruck auf, den viele Geographen auch für andere Disziplinen gewonnen haben (vgl. Hard 2008, Redepenning 2008, Werlen 2008b, Lippuner 2008, Lossau/Lippuner 2004): Dies ist die unnötige Engfiihrung der Analysekategorie des „Raumes" auf ihre Maßstäblichkeit, durch die wichtiges epistemologisches Potenzial verloren geht.

3

Der GovemanceBegriff bezieht sich auf die Realität des „komplexen Regierens" (Benz 2004a) und des sogenannten „kollektiven Handelns" in Gesellschaften, in denen sich der national definierte Gesellschaft-Raum-Nexus aufgelöst hat. Das zugrunde gelegte Verständnis von Governance verweist auf neue Modi gesellschaftlicher Steuerung und Koordination in verzweigten Akteurskonstellationen und Interorganisationsgefiigen. Mit ihm werden netzwerkartige Strukturen des Zusammenwirkens öffentlicher und privater Akteure bezeichnet und somit ausdrücklich spezifische Steuerungsformen zwischen Staat und Gesellschaft angesprochen.

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Mit anderen Worten: Der in der gegenwärtigen sozialwissenschaftlichen GovernanceForschung vollzogene Spatial Tum neigt zur horizontalen und flächigen „Verräumlichung des Gesellschaftlichen" (vgl. Werlen 2009a). Gemäß dieser Lesart findet Governance „im Räume" statt bzw. lassen sich Governanc^Strukturen, GovernanceProzesse und Governancei?efifi'me (vgl. Schimank 2007) auf einer lokalen, regionalen, nationalen oder gar globalen Maßstabsebene beobachten. In der Konsequenz tritt die Idee von der alltäglichen Konstruktion von „Raum" hinter die Idee der unhinterfragten Existenz des Raumes zurück. Da diese Interpretation aber nicht mehr mit der sozial-konstruktivistisch angelegten, handlungszentrierten Geographie einhergeht, hat sich in der Geographie die Metapher von der „Raumfalle" etabliert (vgl. Abschnitt 2; Lossau/Lippuner 2004). Ein Hauptanliegen dieses Beitrages besteht nun darin, die Gefahr eines Rückfalls in die „Raumfalle" zu minimieren. Dies ist aber nur möglich, wenn man den Begriff des „Raumes" nicht nur maßstabsbezogen zu interpretieren weiß, sondern der Verschiedenartigkeit der Raumsemantiken konsequent Rechnung trägt. Einer sozialtheoretisch informierten Geographie geht es also darum, das Feld möglicher „Rauminterpretationen" zu weiten und nach der (Re-)Produktion von verschiedenartigen „gesellschaftlichen Räumlichkeiten" zu fragen (vgl. Werlen 2009b, 2010; Belina/Michel 2007). Dabei geht sie raumsensitiver vor, als dies für die gegenwärtige sozialwissenschaftliche Governanc ^Forschung zu beobachten ist. Im Folgenden wird die raumsensitivere Denkweise exemplarisch entfaltet und ein Vorschlag hinsichtlich der analytischen Trennung verschiedenartiger Raumsemantiken vorgestellt (vgl. Redepenning 2006, 2008; Dünne/Günzel 2006). Im Zuge dessen wird gezeigt, dass „Raum" mehr umfasst als bspw. eine Gebietskörperschaft des öffentlichen Rechts, in der Strukturen und Prozesse der (Selbst) Steuerung zu beobachten sind bzw. stattfinden. Vielmehr geht es darum, „Raum" neu zu denken und zu zeigen, dass die intersubjektiven Bezugnahmen auf verschiedene Raumsemantiken konstitutiv für die soziale Ordnung(sbildung) sind. Da davon ausgegangen wird, dass auch zivilgesellschaftliche Akteure maßgeblich an der sozialen Ordnungsbildung beteiligt sind, sollen erste Hinweise auf deren (Re-)Produktion und Nutzung verschiedenartiger Raumsemantiken gegeben werden. Vor allem geht es aber darum zu zeigen, welche Konsequenzen eine raumsensitivere Denkweise für die Forschungen zur Zivilgesellschafl aufweist.

4.

Zivilgesellschaft, Governance und Raum

Wie wir gesehen haben, lässt sich Governance nicht nur auf einer bestimmten Maßstabsebene oder in spezifischen Territorien beobachten. Vielmehr kann man Governance auch als eine strategische Praxis verstehen, über die ganz verschiedene „gesellschaftliche Räumlichkeiten" (vgl. Werlen 2008b, 2009b, 2010) zur Etablierung und Sicherung einer signifikanten sozialen Ordnung produziert und transformiert wer-

Zivilgesellschaft, Governance und Raum. Ein Beitrag aus Sicht der Geographie.

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den. So verstanden ist Governance eine raumkonstitutive Praxis, die allen politischen und ökonomischen, aber auch medialen oder religiösen Handlungszusammenhängen inhärent ist. Dabei werden nicht nur Räume im Sinne politisch-administrativer Einheiten hergestellt und transformiert. Vielmehr werden in GovemanceProzessen auch Räume sozialer Beziehungen oder imaginierte Räume (re-)produziert. Territoriale Muster: Zweifelsohne werden die meisten politisch-administrativen Einheiten noch immer von denjenigen Akteuren hergestellt und aufrechterhalten, die aufgrund ihrer Mitgliedschaft im parlamentarischen System oder der Planungsebene hierfür legitimiert bzw. autorisiert sind (Government). Sie sind es, die gebietskörperschaftliche Territorien etablieren und transformieren (können), um eine spezifische soziale Ordnung zu kontrollieren und zu überwachen (vgl. Giddens 1995). In jüngerer Zeit werden jedoch auch Regionen geschaffen, die quer zu den bestehenden politischadministrativen Einheiten stehen. An ihrer Konstitution sind nicht nur Akteure des politisch-administrativen, sondern auch des wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Systems sowie des zivilgesellschaftlichen Bereichs beteiligt.

Abbildung 2: Metropolregionen in Deutschland (Quelle: MRN GmbH)

Abbildung 3: Szenarien zur Erweiterung der Metropolregion Sachsendreieck (Quelle: Kons et al. 2008)

Die Europäischen Metropolregionen in Deutschland repräsentieren diese neuen territorialen Einheiten, die in alltäglicher intermediärer Praxis konstituiert, etabliert und transformiert werden (Abbildung 2; vgl. Blotevogel 2001; Adam/Göddecke-Stellmann 2002; Adam et al. 2005; Ludwig et al. 2008). Dabei muss in aufwendigen Kommunikations- und Verhandlungsprozessen auch immer die Frage nach der „territorialen Form" geklärt werden (vgl. Paasi 1986). Wie das Beispiel der Erweiterung der Metropolregion Sachsendreieck zeigt (Abbildung 3) besteht hierüber keineswegs immer Ei-

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nigkeit: Da institutionelle und organisatorische Regelungen sowie Machtbeziehungen eng an die territoriale Form geknüpft sind, lassen sich gerade hier stark ausgeprägte Begrenzungskonflikte identifizieren (Schneider 2008; Federwisch 2009a). Institutionelle Spielräume: Mit der Einigung auf eine spezifische territoriale Form wird die Entwicklung bzw. Anpassung der steuerungsrelevanten Institutionen und Organisationen nötig. Im Falle der Strukturierung von Metropolregionen lässt sich vielfach beobachten, dass der Realität pluralistischer Kooperationen Rechnung getragen wird (vgl. Ludwig et al. 2008). In diesem Sinne werden „Spielräume" geschaffen, die eine Beteiligung an regionalen Planungs- und Entwicklungsprozessen auch für Unternehmen, Hochschulen, Medienanstalten oder bürgerschaftliche Gruppierungen ermöglichen (vgl. Knieling 2003). Hiervon verspricht man sich beispielsweise Synergieeffekte durch gemeinsame Leistungserbringung, Lernprozesse durch das Benchlearning von Best-Practices oder Konfliktlösungen durch ein vergleichsweise hohes Reflexionsniveau bezüglich bestehender Problemlagen und -konstellationen (vgl. Federwisch 2008). Insofern geschieht die gegenwärtige „Institutionalisierung von (Metropol)Regionen" (vgl. Paasi 1986) unter bewusster Einbeziehung nichtstaatlicher Akteure. Dabei entwickelt sich vielfach ein „Multi-Actor-Level-Play" (Federwisch 2009b), welches die bereits etablierten Akteurskonstellationen in ein neues Verhältnis zueinander rückt und neue Verbindungen entstehen lässt. Für die Forschungen zur Zivilgesellschaft könnte es daher von Interesse sein, zu fragen, a) ob und auf welche Weise die bürgerschaftlichen Akteure an den Prozessen der Territorialisierung sowie der Institutions- und Organisationsentwicklung beteiligt sind, b) welche Funktionen sie in den steuerungsrelevanten organisatorischen Arrangements einnehmen (können) bzw. welche ihnen zugewiesen werden oder c) zu welchem Zweck sie (nachträglich) in die Kooperationen einbezogen werden. Gerade die Frage nach der (nachträglichen) Einbindung bürgerschaftlicher Akteure stellt sich deshalb, weil ihre Berücksichtigung in der intersystemischen Kooperation nicht notwendigerweise ihre Effizienz und Effektivität erhöht. In der Literatur wird dieses Phänomen häufig im Zusammenhang mit der Erhöhung der Transaktionskosten, der Mehrebenenproblematik oder der Politikverflechtungsfalle thematisiert (vgl. Benz 2004b; Benz et al. 2007). Demgemäß kann also auch danach gefragt werden, wie die „Zivilgesellschaft" zum Zwecke der Legitimation intersystemischer und vorparlamentarischer Strukturen instrumentalisiert wird. Oder anders formuliert: Welche (finanziellen und personellen) Ressourcen werden aufgewendet, um zivilgesellschaftliche Akteure zum Zwecke der Legitimation von Governance auch ohne unmittelbare Effizienz- und Effektivitätsgewinne zu integrieren? Sozialräumliche Konstellationen: Mit der Integration zivilgesellschaftlicher Akteure in die intersystemischen Kooperationen wird eine weitere Raumsemantik angesprochen, welche die zwischenmenschlichen Beziehungen in den Blick nimmt: der Sozialraum. Der durch die sozialtheoretischen Arbeiten Pierre Bourdieus (1982, 1991a, b,

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1997) maßgeblich geprägte Begriff bezeichnet im Kern die sozialen Strukturen und die in ihnen existierenden individuellen Positionen. Für Pierre Bourdieu stellt sich der Sozialraum als ein „Kräftefeld" dar (Dünne 2006: 301), welches sich aus dem individuellen Streben nach ökonomischen, sozialen, kulturellen und symbolischen Kapitalien zum Zwecke der „Eroberung" und Sicherung individueller Positionen ergibt. In diesem Sinne verweist der „Sozialraum" auf die (ungleichen) Verteilungsstrukturen individueller Vermögensgrade sowie auf die Kämpfe, die um diese geführt werden. Gemäß dieser Lesart weisen die in alltäglichen GovernanceProzessen konstituierten Geographien sozialer Beziehungen eine ganz andere Charakteristik auf, als sie noch für die territorialen Konstellationen diskutiert wurde. In dieser Interpretation löst sich das raumbezogene Denken endgültig von der Maßstabsebene und sperrt sich gegen jede Vergegenständlichung sozialer Verhältnisse im Sinne eines Container-Raums (Werlen 2005: 64). Aus diesem Grund kann es auch nicht Forschungsziel sein, die zwischenmenschlichen Beziehungen auf einer räumlichen Maßstabsebene zu erforschen oder gar abzubilden (bspw. mittels der Kartographie). Vielmehr muss - ganz im Sinne eines sozial-konstruktivistischen Raumverständnisses - nach der machtgeladenen Konstitution sowie nach den Praktiken der Etablierung und Veränderung von „Sozialraum" Ausschau gehalten werden. Für die Forschungen zur Zivilgesellschaft bedeutet dies ganz allgemein, nach den in GovernanceProzessen vollzogenen Verschiebungen im sozialen „Kräftefeld" zu fragen. Es kann also danach gefragt werden, wie sich das etablierte Arrangement sozialer Positionen verändert, wenn Akteure aus dem zivilgesellschaftlichen Bereich in die intermediären Kooperationen einbezogenen werden (sollen). Ebenso stellt sich die Frage, welche Akteure welche Kapitalien zum Einsatz bringen, um Veränderungen in den sozialen Positionierungen zuzulassen oder gar zu verhindern? Da zudem davon ausgegangen wird, dass zivilgesellschaftliche Akteure ganz unterschiedliche Potenziale zur Positionierung in den sozialräumlichen GovernanceSirwfeiuren besitzen, können mithilfe der Beantwortung dieser Fragen Wege durch das soziale (netzwerkartige) Gefüge nachgezeichnet werden. Geographische Weltbilder: Interessanterweise werden auf diesen Pfaden durch die sozialräumlichen Governanc^Strukturen auch eine Vielzahl verschiedener geographischer Weltbilder transportiert, die bei der „Eroberung" und Sicherung individueller Positionen durchaus hilfreich sein können. Diese Vielfalt der geographischen Weltbilder begründet sich aus den ganz unterschiedlichen Herkünften der Akteure (Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Medien etc.), die spezifische Sozialisationen erfahren und somit unterschiedliche raumbezogene Deutungsmuster und Sinnvorstellungen ausgebildet haben. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welche konkreten geographischen Weltbilder beim Steuerungshandeln wieder zu finden sind. Es stellt sich zudem die Frage, welche dieser geographischen Weltbilder auch intersubjektiv anerkannt werden und zu kollektivem Handeln motivieren können.

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Bedauerlicherweise spielen diese Fragestellungen in der gegenwärtigen sozialwissenschaftlichen Governanc^Forschung nur eine untergeordnete Rolle (vgl. Benz et al. 2007). Obwohl die Konstitution und der Gebrauch von geographischen Weltbildern nachgewiesenermaßen einen erheblichen Einfluss auf GovemanceProzesse ausüben können (vgl. Fürst 2003), steht eine systematische Auseinandersetzung mit ihnen noch immer aus. Dabei kann mittlerweile auf eine lange geographische Forschungstradition zurückgegriffen werden, die Anregungen hinsichtlich des Verhältnisses von geographischen Weltbildern und gesellschaftlicher Ordnung(sbildung) geben können (vgl. Soja 1996; Gregory 1994). Exemplarisch stehen hierfür die Arbeiten von Tilo Felgenhauer (2007a, 2007b), der sich mit der Herstellung und dem Gebrauch von geographischen Weltbildern in der kommunikativen Praxis beschäftigt hat: Im Zentrum von Felgenhauers Arbeit „Geographie als Argument" stehen die alltägliche Produktion konsistenter geographischer Weltbilder sowie die praktische Bedeutung von symbolischen Raumbezügen („imaginierte Geographien"). Als ein zentrales Ergebnis kann festgehalten werden, dass geographische Weltbilder nicht nur als ein begründungsbedürftiges, sondern auch als ein begründungslieferndes Argument in der kommunikativen Praxis eingesetzt werden. Demnach wird nicht nur für, sondern auch mit „Raum" im Sinne von geographischen Weltbildern argumentiert. Gerade in Situationen, in denen Akteure kontroverse thematische Standpunkte vertreten, avanciert „Geographie" (als Bezugsrahmen) zu einem motivierenden und legitimierenden .Argument". Demgemäß ist zu erwarten, dass auch zivilgesellschaftliche Akteure mehr oder weniger bewusst geographische Weltbilder anführen, um ihre Ziele und Positionen zu erreichen. So wird hypothetisch angenommen, dass sie sich unter Rückgriff auf geographische Weltbilder soziale Positionen in den (vorparlamentarischen) Governanc^Strukturen „erkämpfen" und legitimieren sowie Prozesse thematisch in die gewünschte Richtung steuern. Für die Forschungen zur Zivilgesellschaft bedeutet dies ganz allgemein, die Welt der raumbezogenen Deutungsmuster und Sinnvorstellungen nicht unberücksichtigt zu lassen. Es gilt danach zu fragen, welche geographischen Weltbilder als begründungsliefernde Argumente für individuelle Positionen und Themenfelder eingespannt werden. Es gilt danach zu fragen, wie sie unter Rückgriff auf geographische Weltbilder auch andere Akteure sowie deren Handlungsressourcen für sich gewinnen können.

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5.

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Abschluss

Der vorliegende Beitrag hatte zum Ziel, das sozial-konstruktivistische Raumverständnis der Geographie für die zivilgesellschaftlich relevante GovernanceForsc/iung fruchtbar zu machen. Dieses Vorhaben wurde mit einigen disziplingeschichtlichen Bemerkungen zur Geographie eingeleitet (vgl. Abschnitt 2) und durch kritische Bemerkungen hinsichtlich der vordergründig maßstabsbezogenen Governanc^Forschung ergänzt (vgl. Abschnitt 3). Im Zentrum der Argumentation wurde für eine stärkere Berücksichtigung verschiedener Raumsemantiken geworben. Hierfür standen insbesondere die sozialräumlichen Konstellationen sowie die geographischen Weltbilder Pate (vgl. Abschnitt 4), die sich gegen die Engführung einer maßstabsbezogenen Interpretation sperren. Der sozialwissenschaftlichen Governanc^Forschung kann es demnach nicht nur darum gehen, Governanc^Strukturen (polity), Governanc tProgramme (policy) und GovernanceProzesse (politics) maßstabsbezogen zu untersuchen oder GovemanceRegime im „Räume" aufzudecken. Es bedarf vielmehr der Analyse verschiedenartiger Raumsemantiken, um die Produktion, Etablierung, Konsolidierung und Transformation der sozialen Ordnung sowie der Orientierung in derselben umfassend zu durchdringen. In diesem Beitrag wurden verschiedene Raumsemantiken vorgestellt, die auch im Rahmen der geographischen Scale-Debatte zunehmend diskutiert werden (Brenner 2007; Wissen et al. 2004; Jessop et al. 2008). Diese Liste ließe sich um weitere Raumsemantiken ergänzen, indem man beispielsweise „moralische Räume" (vgl. Taylor 1994; Rosa 2001) oder „virtuelle Räume" (Kitchin 1998) thematisiert. Ein wichtiger Vorteil der konsequenten Berücksichtigung unterschiedlicher Raumsemantiken liegt nicht zuletzt darin, die Grenzen von Governance besser analytisch durchdringen zu können. So sind Fragen zum sogenannten GovernanceFailure auch Fragen zur gescheiterten Koordination der verschiedenen Raumsemantiken. Wenn man also nach erfolglosen Integrationsbemühungen Ausschau hält, dann sollte man gezielt nach der Ausdifferenzierung, Besetzung und Verteidigung sozialer Positionen fragen oder Lock-In Effekte in Netzwerken analysieren. Ebenso bietet es sich an, die in konfliktbehafteten Politikfeldern argumentativ zum Einsatz gebrachten geographischen Weltbilder zu untersuchen. Sie können - wenn sie denn mit gesellschaftlichen Diskursen in Zusammenhang gebracht werden - einen Hinweis darauf geben, warum sich bestimmte Interessen(Konstellationen) durchsetzen können. Sie können einen Hinweis darauf geben, warum andere unberücksichtigt bleiben oder gar demonstrativ übergangen werden.

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III. Kontexte in Beispielen

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Zivilgesellschaft unter Schrumpfungsbedingungen von Heike Liebmann

1. Einführung Eine zunehmende Zahl von Städten in Deutschland ist von demografischen und ökonomischen Schrumpfungsprozessen gekennzeichnet. Ausdruck dessen sind Bevölkerungsrückgänge, sinkende Beschäftigtenzahlen, interregionale Abwanderung, Wohnungsleerstände, Probleme der Unterauslastung von technischen und sozialen Infrastrukturen sowie eine zunehmende Fragmentierung und Polarisierung der städtischen Gesellschaft(en). Diese Prozesse haben zwangsläufig Auswirkungen auf Formen und Ausprägungen bürgerschaftlichen Engagements in den betroffenen Städten und Regionen. Die Forschung konzentrierte sich in ihrer Auseinandersetzung mit Schrumpfungsphänomenen bisher allerdings vorrangig auf steuerungsbezogene (Untersuchung von Regenerierungsstrategien) sowie städtebaulich-planerische und wohnungswirtschaftliche (Stadtumbaudebatte) Fragestellungen. Eine Verknüpfung von Forschungen zur Schrumpfungsdebatte mit solchen zur Zivilgesellschaft findet bisher ansatzweise im Rahmen praxisnaher Förderprogramme (insb. des Programms Soziale Stadt) statt, ist aber stark programmabhängig konzipiert. Der vorliegende Beitrag kann diese Lücke nur punktuell schließen, da das Thema einige methodische Probleme in sich birgt. Schrumpfungsprozesse vollziehen sich derzeit nahezu flächendeckend und in besonderer Intensität in Ostdeutschland. Die alleinige Betrachtung der Ausprägung und Entwicklung des bürgerschaftlichen Engagements in Ostdeutschland - als Referenzfall für Schrumpfungsbedingungen - würde jedoch die unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontextbedingungen, welche die Zivilgesellschaft in Ost- und Westdeutschland prägen, klar vernachlässigen. So wird für Ostdeutschland oft pauschal eine fehlende bzw. schwach ausgeprägte zivilgesellschaftliche Kultur konstatiert. Die westdeutsche Zivilgesellschaft hingegen besitzt davon abweichende Traditionen und Strukturen, für sie sind folglich auch andere Themen zentral.1 Stellt man Analysen zur Ausprägung von Schrumpfungsprozessen einerseits und zum Anteil bürgerschaftlich Engagierter andererseits gegenüber, zeigen sich jedenfalls keine einheitlichen Muster, die schnelle Rückschlüsse auf einen Zusammenhang von Schrumpfung und Zivilgesellschaft erkennen ließen (vgl. Prognos 2009: 19; BBSR o.J.) 1

Es existieren unterschiedliche Definitionen des Begriffs Zivilgesellschaft (vgl. z.B. Geißel 2006). Ich schließe mich einer bereichsbezogenen Definition an. Danach meint Zivilgesellschaft den Bereich zwischen Staat, Markt und Privatsphäre. Seine Akteure sind selbstorganisierte Initiativen, Netzwerke und Vereine. Ich spreche im Zusammenhang mit den Aktivitäten der Zivilgesellschaft dann auch von bürgerschaftlichem Engagement.

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Heike Liebmann

Sehr viel deutlicher treten Unterschiede zwischen den östlichen und westlichen Bundesländern bzw. - bezogen auf das Engagement - zwischen nördlichen und südlichen Bundesländern hervor. Diese Erkenntnis fuhrt im Weiteren zu folgendem Vorgehen: In einem ersten Schritt werden die besonderen Charakteristika von Schrumpfungsprozessen in ihren Auswirkungen auf die Zivilgesellschaft dargestellt. Daran schließt sich eine kurze Betrachtung der unterschiedlichen Ausprägungen der Zivilgesellschaft in Ost- und Westdeutschland an. In einer Zusammenfuhrung beider Ebenen steht schließlich die Frage im Vordergrund, welche Einflussfaktoren die Entfaltung bürgerschaftlichen Engagements besonders fördern oder hemmen und welche Folgerungen daraus für die Zivilgesellschaft unter Schrumpfungsbedingungen gezogen werden können. Da aber entsprechend holzschnittartige Betrachtungen immer die Gefahr von zu starken Verallgemeinerungen in sich tragen, folgen am Ende des Beitrags einige Beispiele, die für den abschließenden Ausblick Anregungen zur Stärkung der Zivilgesellschaft unter den schwierigen Bedingungen der Schrumpfung liefern.

2.

Schrumpfungsprozesse und ihre Folgen für die Zivilgesellschaft

Schrumpfungsprozesse haben ihre Ursache im demographischen und wirtschaftlichen Strukturwandel. Insbesondere der Verlust von Arbeitsplätzen sowie die überregionale Abwanderung der Bevölkerung sind - wie oben beschrieben - ursächlich für Folgeprozesse in vielen weiteren Bereichen der Stadtentwicklung: Infrastrukturen, Flächennutzung, Kommunalfinanzen, Wohnungswirtschaft, Umwelt, Stadtgesellschaft usw. In Ostdeutschland haben Schrumpfungsprobleme aufgrund der Spezifik des Strukturbruchs im Zuge der Wende von 1989 eine nahezu flächendeckende und in ihrer Dimension einmalige Ausprägung erreicht. Transformations- und Globalisierungsprozesse fanden dort im Zeitraum von wenigen Jahren statt und nahmen daher einen zugespitzten Verlauf. Doch auch in den alten Bundesländern sind - ebenso wie in vielen west- und osteuropäischen Regionen - in einzelnen Teilräumen zunehmende Schrumpfungsprozesse und daraus resultierende Folgeprobleme zu beobachten. Von besonderem Interesse für den vorliegenden Beitrag ist die Frage, welche Auswirkungen Schrumpfung auf die Stadtgesellschaft und die Ausprägung bürgerschaftlichen Engagements hat. Schrumpfungsprozesse gehen mit sinkenden Bevölkerungszahlen einher, die meist sowohl auf hohe Wegzugsraten als auch auf geringe Geburtenraten zurückzuführen sind. Da die Abwanderung selektiv verläuft, ist mit ihr eine Veränderung des vorhandenen regionalen Humankapitals verbunden. Konkret bedeutet dies, dass vor allem junge und gut ausgebildete Personen abwandern; hingegen bleiben die weniger mobilen, weniger gut ausgebildeten und älteren Menschen in den schrumpfen-

Zivilgesellschaft unter Schrumpfungsbedingungen

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den Regionen. Seinen Niederschlag findet dies bspw. in einem hohen Anteil älterer Langzeitarbeitsloser bzw. von Transferzahlungen abhängiger Personen. Sarkastisch werden diese Prozesse des brain drain als „Verödung" und „Verblödung" ganzer Regionen beschrieben (Die Welt, 12.7.2003). Zusätzlich steigt zugleich - verstärkt durch geringe Geburtenraten (bei einer immer kleiner werdenden Gruppe junger Frauen im familienbildenden Alter) - der Anteil älter Bewohner in den Regionen. Angesichts oft überdurchschnittlich hoher Arbeitslosenquoten in den schrumpfenden Regionen führt die Ausgrenzung aus der „Integrationsmaschine Arbeit" für viele verbliebene Bewohner zu zusätzlichen Hemmnissen, sich an der Gestaltung der sozialen und räumlichen Entwicklung zu beteiligen. Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass sich Menschen, die ihre Lebensperspektive als unsicher einschätzen, weniger engagieren als solche in gesicherten Verhältnissen und mit höherer Bildung. In schrumpfenden Regionen mit meist überdurchschnittlich hohen Arbeitslosenraten besteht somit die Gefahr, dass angesichts der ökonomischen Realitäten und ihrer sozialen und physischen Auswirkungen die Entwicklung eigener Aktivitäten abnimmt (Knorr-Siedow 2005: 479). An die Stelle von bürgerschaftlichem Engagement kann so schnell Resignation und Rückzug ins Private treten. Dieter Rink (2005: 105) spricht in diesem Zusammenhang von der „abnehmenden Fähigkeit einer schrumpfenden und alternden Bevölkerung zu Partizipation". Verstärkt werden die beschriebenen Prozesse möglicherweise noch dadurch, dass insbesondere in strukturschwachen Regionen sowohl die öffentliche als auch die kommerzielle Infrastruktur oft nur gering ausgebaut ist bzw. in Folge der Schrumpfung der Einwohnerzahlen zunehmend weiter ausgedünnt wird. So können in einigen schrumpfenden Städten und Regionen bestimmte, bisher selbstverständliche Leistungen der Daseinvorsorge bereits heute nicht mehr in der bisher gewohnten Qualität und Quantität garantiert werden. Dies betrifft die Versorgung von Hochbetagten oder die Aufrechterhaltung von Mobilitätsangeboten ebenso wie den Bildungs- und Betreuungsbereich von Kindern. Stephan Dorgerloh (2009: 6) nennt es die „Schwindsucht auch der einfachsten öffentlichen Grundstruktur", die ebenso Engagementstrukturen wie Vereine, Organisationen, Initiativen und Projekte betrifft. Dementsprechend folgert er: „Wir bemerken das Fehlen von Persönlichkeiten in Synoden und Kirchenvorständen ebenso wie in Parteien, Vereinen und Stiftungen. Die Schwindsucht öffentlicher Strukturen hat ihre Ursache im Verschwinden der weltoffenen wie engagierten Bürgerinnen." (ebd.: 6) Auf einen weiteren Aspekt weißt Ulf Matthiesen (2003: 13) hin: „Unter dem durch brain drain verschärften Krisendruck neigen lokale Netze dazu, sich abzuschütten. Auf diese Weise kommt es zur Innovationsschwäche starker, filzartig verbundener lokaler Milieus. Das Resultat sind Netze die für die Innovationsdynamik längerfristig lokal nicht viel bringen, sondern hauptsächlich für die eigene Interessenmaximierung."

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3.

Heike Liebmann

Besonderheiten in der Prägung der Zivilgesellschaft in Ost- und Westdeutschland

Repräsentative Untersuchungen zur Freiwilligenarbeit und zum bürgerschaftlichen Engagement zeigen regelmäßig deutliche Unterschiede in den Formen und Ausprägungen des Engagements in Ost- und Westdeutschland (vgl. u.a. BMFSFJ 2004; Prognos 2009). Die Zahlen weisen im Ost-/Westvergleich deutlich geringere Werte für die östlichen Bundesländer aus. Gleichzeitig wird aber ein Anstieg des freiwilligen Engagements in fast allen ostdeutschen Bundesländern festgestellt. Die westdeutsche Zivilgesellschaft hat sich in den 1970er und 1980er Jahren vor dem Hintergrund von Wohlstandswachstum, der Öffnung von sozialen Räumen und des Wertewandels entfaltet (Rink o.J.: 7). Neue soziale Bewegungen und ihre lokalen Ableger boten verlässliche und weithin sichtbare Anlaufstellen für diejenigen, die in ihrer Kommune oder ihrem Quartier etwas verändern wollten. Gerade im Bereich der Stadtentwicklung zeigt sich, wie sich daraus zunehmend kooperative Beteiligungsformen und Verhandlungskulturen entwickelten. Runde Tische, moderierte Quartiersforen und kommunikative Instrumente des Quartiersmanagements gehören heute zum alltäglichen Instrumentenkasten, sind Bestandteil ausgebauter und stabiler demokratischer Institutionen (Bürkner 2004: 1). Für Ostdeutschland wird demgegenüber konstatiert: „Die bürgerschaftlichen Träger der Zivilgesellschaft befinden sich in Ostdeutschland auch fast 15 Jahre nach dem Systembruch nicht da, wo sie den gängigen Lehrmeinungen nach stehen sollten. Sie sind kaum in Bürgerinitiativen oder Vereinen organisiert, intervenieren selten in Planungsprozesse, mischen sich auch nicht in die lokalen Debatten um Schrumpfung und kommunale Sparopfer ein." (Bürkner 2004: 2f.) Im Wesentlichen sind es zwei Besonderheiten, die die Engagementstrukturen in Ostdeutschland nach wie vor beeinflussen: Zum einen wirken Engagementtraditionen aus der Zeit der DDR, zum andern die Folgen des gesellschaftlichen Umbruchs und der Transformationsprozesse nach. So waren zu DDR-Zeiten ehrenamtliche Tätigkeiten sehr eng mit dem politischen System sowie den Betrieben verbunden. Ein eigenständiger und unabhängiger „Dritter Sektor", der mit dem in Westdeutschland vergleichbar gewesen wäre, existierte nicht. Folglich gab es weniger (positive) Erfahrungen mit Demokratie und Selbstverwaltung. Allerdings prägten sich weit verzweigte Strukturen des informellen Engagements („man hilft sich gegenseitig") aus. Diese Netzwerke und Aktivitäten werden aufgrund der „westdeutschen Perspektive" bei der Bewertung von Engagement jedoch oft übersehen, „weil Begriffe, Verhaltensweisen und Werte dieser Perspektive auf westdeutsche urbane Lebensräume bezogen sind, die in ostdeutschen ländlichen Räumen keine Entsprechung haben" (Nexus 2007: 7). Bürgerschaftliches Engagement ist demzufolge in Ostdeutschland bis heute anders organisiert und hat eigene Wege und Inhalte (Backhaus-Maul et al. 2003). Eine Studie aus dem Jahr 2007 (Nexus 2007: 78) weist daraufhin, dass „die Bürger in den neuen Bundesländern freiwilliges Engagement eher mit einer selbstverständlichen Praxis des Helfens im Alltag und mit

Zivilgesellschaft unter S c h r u m p f u n g s b e d i n g u n g e n

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Verpflichtung assoziieren, als dass sie sich als aktives Mitglied eines politischen Gemeinwesens verstehen." Hier zeigt sich, dass das gesellschaftspolitische Leitbild der Bürgergesellschaft und des freiwilligen bzw. bürgerschaftlichen Engagements in Ostdeutschland weder kulturell tief verankert noch klar profiliert ist (vgl. auch Gensicke u. a. 2009). Dies spiegelt sich auch darin wieder, dass die Strukturen der Wirtschaft, der Verwaltung und des Dritten Sektors bisher meist nur schwach vernetzt sind und sich kaum gegenseitig stärken können. Die Kommunen halten sich mit der Übertragung sozialer Aufgaben an nichtstaatliche Organisationen und Bürgergruppen teilweise noch zurück. Die Vorstellung eines starken Staates, der für die allumfassende Versorgung der Bevölkerung mit öffentlichen Dienstleistungen zuständig ist, ist in der Gesellschaft nach wie vor verankert. Ein anderer Aspekt ist, dass der Aufbau zivilgesellschaftlicher Institutionen und einer entsprechenden Infrastruktur in Ostdeutschland inzwischen zwar weit vorangeschritten ist, sich die Einrichtungen aber nach wie vor unter im Vergleich zu Westdeutschland prekären finanziellen Rahmenbedingungen behaupten müssen (vgl. Gensicke u. a. 2009). Noch fehlt jenes wohlhabende Bürgertum, das für Bürgerstiftungen, Fördervereine und soziale Einrichtungen in nennenswerterWeise Zuwendungen aufbringen könnte. Kaum ein großer deutscher Konzern hat seinen Sitz in Ostdeutschland. Mittelständische Unternehmen sind zunächst darum bemüht, die eigene Eigenkapitalquote zu erhöhen, um auch Durststrecken überstehen zu können. „So hängen sich also alle Projekte und Stiftungen an die Sparkassen, an Lotto Toto und umschmeicheln die öffentliche Hand." (Dorgerloh 2009: 7) Doch auch die Folgen der Transformationsprozesse wirken nach wie vor nach. Nicht nur, dass demokratische Institutionen erst einmal transferiert und an ostdeutsche Kontexte angedockt werden mussten, was schon einen Großteil des vorhandenen zivilgesellschaftlichen Potenzials absorbierte. Hinzu kommt, dass auch zivilgesellschaftliche Akteure mit den Symptomen und Auswirkungen sowie den Folgen des Strukturbruchs in Ostdeutschland konfrontiert sind (Rink o.J.: 7). Wenn ganze Regionen durch Deindustrialisierung, Verfall, Leerstand und den Abriss von Bausubstanz geprägt sind und Menschen zudem damit konfrontiert werden, dass spezifische ostdeutsche Kompetenzen und Engagementformen scheinbar wenig Anerkennung erfahren, so können diese Erfahrungen demotivieren und in Resignation und Distanz gegenüber der Politik sowie in einer geringeren Beteiligung münden. Rolf Reißig (2002: 5) sieht dies als Folge eines „subjektiven Entwertungssyndroms". Deutlich kritischer fällt in diesem Zusammenhang allerdings die Einschätzung von Rudolf Woderich und Michael Thomas (2003: 9; Hervorhebungen im Original) aus, die darauf hinweisen, dass in den letzten Jahren scheinbar „insbesondere historische Langzeitprägungen stabilisiert wurden, die weniger soziale Aktivität als möglicherweise eine Art paternalistische Eingewöhnung und Duldsamkeit befördern und das Humankapital in gewisser Hinsicht blockieren."2 2

Keim (2003: 15) spricht im selben Zusammenhang (unter Bezugnahme auf Lepsius 1965) von einem „System der sozialen Stagnation".

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Diese holzschnittartige Beschreibung der Besonderheiten zivilgesellschaftlichen Engagements in Ost- und Westdeutschland müsste an dieser Stelle durch länderspezifische Ansatzpunkte, Förderwege, Strategien und Maßnahmen der Engagementförderung unterfiüttert werden, die ihrerseits selbstverständlich Auswirkungen auf die Entfaltung von bürgerschaftlicher Initiative haben. Aus Platzgründen muss hier allerdings darauf verzichtet werden.3

4.

Regionale Einflussfaktoren auf die Entfaltung bürgerschaftlichen Engagements

In einer Studie der Prognos AG zum freiwilligen Engagement in Deutschland wurden erstmals regionale Einflussfaktoren auf das bürgerschaftliche Engagement untersucht (vgl. Prognos 2009). Basierend auf einer im Sommer 2008 durchgeführten, breit angelegten Telefonbefragung mit bundesweit 44.000 Interviews erfolgte eine Bewertung des bürgerschaftlichen Engagements in den Regionen und Städten. Dabei gingen die Forscher davon aus, dass regionale Traditionen der politischen Mitwirkung und eine rege Vereinskultur für bürgerschaftliches Engagement ebenso eine Rolle spielen wie politisch-institutionelle Rahmenbedingungen. Daneben wurden jedoch eine Reihe weiterer Faktoren untersucht, die unterschiedliche regionale Ausprägungen des Engagements begründen können. So wurden die unterschiedlichen demographischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Indikatoren aller kreisfreien Städte und Landkreise in Deutschland auf ihren Zusammenhang mit bürgerschaftlichem Engagement geprüft und ihre Auswirkungen bestimmt. (Prognos 2009: 23) Im Ergebnis wurden die Faktoren, für die ein positiver bzw. negativer Einfluss auf die Engagementwerte einer Region festgestellt werden konnte, in einem Engagementatlas zusammengefasst (Prognos 2009). In ihren zentralen inhaltlichen Aussagen bestätigen die Ergebnisse der Prognos-Studie die Aussagen der Freiwilligensurveys von 1999 und 2004, ergänzen diese jedoch durch einen regionalen Raumbezug.4 Die wesentlichen Aussagen des Engagementatlas zu den regionalen Einflussfaktoren auf die Entfaltung bürgerschaftlichen Engagements lassen sich in den folgenden sieben Punkten zusammenfassen (vgl. Prognos 2009: 24f.):

3

4

Verwiesen wird auf das Intemetangebot www.buergergesellschaft.de der Stiftung Mitarbeit, das einen breiten Überblick über Unterstützungsstrukturen von Engagement auf Bundes- und Länderebene ermöglicht. Verwiesen sei beispielsweise auf die Aussagen des Freiwilligensurveys zum Zusammenhang von Kirchenbindung oder Erwerbsarbeit und freiwilligem Engagement. Auch im Hinblick auf Alters- und Haushaltsstrukturen kommen die Studien zu vergleichbaren Ergebnissen (vgl. BMFSFJ 2004 sowie Gensicke 2006).

Zivilgesellschaft unter Schrumpfungsbedingungen

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1. Je ungünstiger die soziale Lage, desto niedriger das Engagement Eine schwierige soziale Lage mit hoher Arbeitslosigkeit, einer hohen Sozialhilfequote und einer vergleichsweise hohen Kriminalitätsrate in einer Region geht mit einem niedrigen Engagement der Bevölkerung einher. Vereinfacht gesagt, je höher die Arbeitslosenquote, desto niedriger das Engagement. 2. Je kleiner die Gemeinde, desto größer das Engagement Während in Kommunen mit weniger als 5.000 Einwohnern mehr als 40% der Bürger über 16 Jahren engagiert sind, geht dieser Wert mit zunehmender Einwohnerzahl fast linear zurück. In Städten mit 20.000 bis 50.000 Einwohnern liegt die Engagementquote noch bei 32%, in Großstädten mit mehr als 500.000 Einwohnern nur noch bei 25%. Bestätigt wird damit, dass sich bürgerschaftliches Engagement wesentlich auf die Integration in das lokale Umfeld stützt. Überschaubare und dichte Sozialbeziehungen bieten günstige Voraussetzungen für bürgerschaftliche Aktivitäten. 3. Je wohlhabender eine Region, desto höher ihre Engagementquote Individuelles Einkommen und die Engagementbereitschaft des Einzelnen stehen in Zusammenhang. Wesentliche Indikatoren dafür sind der Kaufkraft- und Wohlstandsindex. 4. Je höher die Zahl der Kirchenmitglieder, desto größer das Engagement Als ursächlich für den positiven Zusammenhang von Kirchenzugehörigkeit und dem Anteil engagierter Bürger wird u. a. die Tatsache gesehen, dass Religiosität als Indikator für ein bestimmtes Milieu verstanden werden kann, für das eine Orientierung an Gemeinschaftswerten charakteristisch ist. 5. Familienstrukturen und Alter beeinflussen die Engagementquote In geburtenstarken Regionen mit vielen Kindern sowie in Regionen mit Familienzuwanderung werden erhöhte Engagementquoten verzeichnet. Insgesamt sind viele Familien- und Mehrpersonen-Haushalte und wenige Single-Haushalte ein Indiz für tendenziell stärkeres bürgerschaftliches Engagement. Zugleich ist die Engagementquote in Regionen mit einem hohen Anteil 18- bis 30-jähriger Menschen an der Gesamtbevölkerung besonders niedrig, da in dieser Altersgruppe vermutlich häufig die Ausbildung und erste berufliche Schritte im Vordergrund stehen. Ein hoher Anteil an 35- bis 55-Jährigen in einer Region wirkt sich hingegen positiv auf die Engagementquote aus. Ein hoher Anteil der Generation 55+ wiederum steht tendenziell eher für geringere Engagementwerte. 6. Je schlechter die Betreuungsangebote, desto größer das Engagement Die Betreuungssituation von Kindern und Jugendlichen im Kleinkind- und KitaAlter sowie im Bereich der schulischen Bildung hat deutlichen Einfluss auf das bürgerschaftliche Engagement. Defizite im Bereich der Betreuungsinfrastruktur einer Region fordern offensichtlich die Engagementbereitschaft der jeweiligen Bevölkerung.

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7. Je engagierter das Umfeld, desto höher die Engagementquote Neben persönlichen Merkmalen liefern gemeinschafitsbezogene Faktoren eine zusätzliche Erklärung dafür, ob sich eine Person engagiert oder nicht. Die Forscher nennen es den „Mitmach-Effekt", nach dem Motto: .Wenn sich viele Personen im persönlichen Umkreis bürgerschaftlich engagieren, dann ist der Einzelne eher geneigt, sich ebenfalls einzubringen.' Die Aufzählung macht deutlich, dass eine ganze Reihe von Faktoren, denen eher ein negativer Einfluss auf die Engagementausprägung zugeschrieben wird, sich mit den Entwicklungsprozessen in schrumpfenden Regionen decken: In schrumpfenden Regionen ist der Anteil an Haushalten, die von Transferzahlungen abhängig sind, zumeist überdurchschnittlich hoch. Zudem sind die Regionen gekennzeichnet durch eine alternde Bevölkerung und einen Rückgang von Haushalten mit Kindern. Wohlstands- und Kaufkraftindex liegen meist deutlich unterhalb des Durchschnitts. Andererseits vollziehen sich die massivsten Schrumpfungsprozesse in der Regel außerhalb der Großstadtregionen. Zwar haben in den vergangenen Jahren in Ostdeutschland auch die meisten Großstädte deutlich an Bevölkerung verloren, doch können sich diese Regionen heute am ehesten stabilisieren. Sehr viel lang anhaltender und mit besonderer Intensität vollziehen sich Schrumpfungsprozesse in Deutschland in Klein- und insbesondere in kleinen Mittelstädten in peripher gelegenen ländlichen Regionen. Gerade für kleinere Städte und Gemeinden werden jedoch höhere Engagementquoten festgestellt. Die Aspekte Kirchenzugehörigkeit und Betreuungssituation unterscheiden sich in Ost- und Westdeutschland sowie auf der regionalen Ebene deutlich voneinander. Die in den westdeutschen Bundesländern stärker ausgeprägte Kirchenbindung und eine zugleich meist quantitativ ungünstigere Betreuungssituation im vorschulischen Bereich könnten demnach positive Effekte auf das Engagement in den dortigen schrumpfenden Regionen haben. In Ostdeutschland hingegen verstärken beide Faktoren wahrscheinlich nicht unbedingt das Engagement. Wobei auch dort in vielen ländlichen Regionen ein beachtliches Engagement kleinerer Elterngruppen bezüglich der Etablierung einer breiteren Schullandschaft (Neugründung von Schulen in freier Trägerschaft) sowie zur Aufrechterhaltung von Schulstandorten zu beobachten ist. Was auf den letzten Punkt hinweist: Engagement im eigenen Umfeld motiviert zum mitmachen. So ist dann auch zu erklären, dass zu den Landkreisen mit besonders hohen Engagementquoten (mehr als 50% Engagiertenanteil) auch solche in schrumpfenden Regionen bzw. Regionen mit großen Strukturproblemen gehören, wie der Landkreis Schwarzenberg in Sachsen, der Schwalm-Eder-Kreis in Nordhessen, die kreisfreie Stadt Hof in Nordbayern oder die Landkreise Celle und Gifhorn im östlichen Niedersachsen. (Prognos 2009: 20)

Zivilgesellschaft unter Schrumpfungsbedingungen

5.

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Herausforderungen für die Zivilgesellschaft in schrumpfenden Regionen

An dieser Stelle kann ein erstes Zwischenfazit gezogen werden. So lässt sich sagen, dass Schrumpfungsprozesse mit Faktoren verbunden sind, die bürgerschaftliches Engagement hemmen (insb. Arbeitslosigkeit, unsichere Lebensperspektive etc.). Zugleich gibt es keinen linearen Zusammenhang, der da lauten könnte: Schrumpfung ist gleichzusetzen mit geringem bürgerschaftlichen Engagement. Die Ausprägung bürgerschaftlichen Engagements wird vielmehr durch eine ganze Reihe von Faktoren beeinflusst, die Engagement in schrumpfenden Regionen durchaus auch stärken können. Im Osten Deutschlands überlagern sich besonders gravierende Schrumpfungsprozesse mit spezifischen Engagementtraditionen und Transformationsbedingungen. Hinzu kommen insbesondere in peripheren ländlichen Regionen zunehmend perforierte Infrastrukturen und ein Rückzug zivilgesellschaftlicher Institutionen, da Vereinen, Parteien, Freiwilligen Feuerwehren usw. einfach der Nachwuchs fehlt (vgl. Kap. 2). Dies erschwert bzw. behindert die Entfaltung bürgerschaftlichen Engagements. Vor diesem Hintergrund besteht die Gefahr, dass durch den Rückzug zivilgesellschaftlicher Institutionen aus besonders stark schrumpfenden peripheren Regionen ein gesellschaftliches Vakuum entsteht, das einen Nährboden bildet, der gezielt von rechtspopulistischen bzw. rechtsextremen Gruppen besetzt wird. Die Strategien entsprechender Gruppen zielen darauf ab, Funktionen gesellschaftlichen Engagements dort zu übernehmen, wo die demokratische Zivilgesellschaft zu schwach ist, um in bürgerschaftliche Prozesse einzudrängen. Sie „organisieren die Bürgerinitiativen, lassen sich zu Eltemsprechem wählen, übernehmen das Sagen in Vereinen oder der Freiwilligen Feuerwehr und bieten Jugendarbeit und Hausaufgabenhilfe an" (Bause/ Reinfrank 2009: 3). Die Folge ist ein „regionaler Normalisierungs- und Gewöhnungsprozess". Ausdruck dessen sind regional hohe Stimmenanteile für rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien bei Kommunal- und Landtagswahlen in einigen ostdeutschen Bundesländern. Nach wie vor werden die kommunalpolitischen Strategien der rechtsextremen Szene jedoch nur vereinzelt zur Kenntnis genommen und thematisiert. Entsprechend konstatieren Maria Bause und Timo Reinfrank (2009: 4): „Die demokratischen Akteure und Akteurinnen vor Ort sehen sich trotz Unterstützung von außen mit einer eskalierenden Entwicklung konfrontiert, da sich ihre Möglichkeiten nicht proportional mitentwickeln konnten." Dieter Rink (o.J.: 10) stellt in diesem Zusammenhang fest, dass die Auseinandersetzung mit den Nazis in Ostdeutschland derzeit die größte Herausforderung bzw. Bewährungsprobe für die Zivilgesellschaft ist. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass sich gerade in den am stärksten von Schrumpfung betroffenen Regionen eine Diskrepanz zwischen der Notwendigkeit zivilen Engagements und dem sukzessiven Rückzug des Staates und zivilgesellschaftlicher Institutionen herausbildet. Die Bevölkerung ist in verstärktem Maße zur Mitwirkung aufgefordert - verfügt aber zugleich über die ungünstigsten individuellen und

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institutionellen Voraussetzungen für ein stärkeres Engagement. Diese Konstellation könnte in vielen Regionen zu einem Problem für die künftige Entwicklung werden.

6.

Beispiele bürgerschaftlichen Engagements

Der vorangehende Abschnitt geht auf besonders extreme Schrumpfungssituationen ein, die künftig besondere Aufmerksamkeit benötigen und für die Instrumente zur Aufrechterhaltung zivilgesellschaftlicher Strukturen gefunden werden müssen. Zugleich verlaufen Schrumpfungsprozesse höchst unterschiedlich und in sehr differenzierten Ausprägungen. Trotzdem werden sie zumeist vordergründig als Problem wahrgenommen. Dabei haben sie das Potenzial, neue Spielräume für eine aktivere Beteiligung und ein engeres Zusammenwirken von Bürgerinnen und Bürgern, Wirtschaft und öffentlichem Sektor zu schaffen. Denn der Strukturwandel hinterlässt gerade in schrumpfenden Regionen Freiräume, in denen zuvor nicht umsetzbare Ideen Wurzeln schlagen können bzw. traditionelle Denk- und Lösungsmuster (nach dem Motto: „Das haben wir schon immer so gemacht.") in Frage gestellt werden können. Gerade krisenhafte Problemzuspitzungen erleichtern es möglicherweise, neue Wege zu beschreiten. Sie bieten Anlass, herkömmliche Handlungswege und altbewährte Routinen zu verlassen. Dies ist auch eine Chance für die Zivilgesellschaft. Am ehesten erkannt werden diese Potenziale oft von Zugezogenen. Ulf Matthiesen und Bastian Lange (2005) sprechen deshalb von Raumpionieren, die sich - ganz gleich ob Unternehmer, Aussteiger oder Kulturproduzent - in schrumpfenden Räumen ansiedeln, um mit großer Motivation und oft nicht unerheblichen Investitionen eigene Ideen und Lebensentwürfe zu realisieren. Die vorhanden Freiräume sowie preiswerter, verfügbarer physischer Raum in interessanten Gebäuden bzw. Landschaften sind für sie Anreize für eigenes Engagement, auch wenn die unterschiedlichen Erfahrungswelten von .Einheimischen' und .Zugezogenen' nicht immer konfliktfrei aufeinander treffen. Viele nicht nur kulturelle Initiativen und Projekte, auf die man heute in schrumpfenden Städten und Dörfern gerade in Ostdeutschland trifft, gehen auf das Engagement solcher Raumpioniere zurück.5 Bastian Lange und Ulf Matthiesen (2005: 377) sprechen den Raumpionieren dabei eine wichtige Innovationsfunktion zu, auch weil eine gewisse „kulturelle Heterogenität" als notwendige Basis angesehen wird, damit Debatten über Handlungsaltemativen überhaupt entstehen können.6 Ein anderes Instrument zur Förderung innovativer Ideen im Umgang mit Schrumpfungsprozessen sind Projekte. In Projekten können neue Arbeitsweisen erprobt und Akteursnetzwerke aufgebaut werden. Sie erzeugen Aufmerksamkeit und lösen Mo5

6

Einige Beispiele für ein entsprechendes Engagement aus dem Land Brandenburg sind der Theatersommer in Netzeband, der Verein LandKunstLeben in Steinhövel oder auch die freie Schule in Roddahn (vgl. dazu Tagesspiegel vom 5.9.09, S. 3). Vgl. auch Matthiesen (2005: 53), der milieutheoretisch argumentierend auf die Herausbildung „Creativer Governance Arrangements" abhebt.

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bilisierungseffekte aus. So wirkte bspw. die Bewerbung der Stadt Görlitz als Kulturhauptstadt Europas 2010 für viele Bewohner nicht nur als Impuls, der Stolz auf die eigene Stadt auslöste, sondern zugleich als ein Ideengenerator für vielfältige Initiativen von Vereinen, Bürgergruppen und Einzelpersonen. Sie fanden mit der Bewerbung nicht nur einen Anlass für Engagement sowie ein Ziel, auf das sich ihr Engagement richten konnte, sondern auch einen Ort, dessen Strukturen halfen, Initiativen zu stärken und zu unterstützen. Als wesentliche Erfahrung aus dem trotz eines Achtungserfolges letztlich doch gescheiterten Bewerbungsprozess nannten Bürger „das Gefühl, dass man etwas machen kann, was ja über Jahre hinweg nie vorhanden war" (zitiert in Liebmann/Fröhlich 2009: 258)7 Doch auch in der bewussten Auseinandersetzung mit den Prozessen, die das demokratische Gemeinwesen zu unterlaufen drohen, entstehen Bürgerinitiativen und Bürgerstiftungen. Sie werden initiativ, um bürgerschaftliches Engagement zu fördern oder engagieren sich gegen Rechtsextremismus. Beispielhaft hierfür ist z.B. die Parchimer Bürgerstiftung, die ihre Einwohner aktivieren will, sich für ein lebenswertes Parchim einzusetzen, um so den sozialen Zusammenhalt nachhaltig zu stärken. Die Bürgerstiftung Weimar erhielt 2008 den Förderpreis Aktive Bürgerschaft, da sie Jugendliche dabei unterstützt, ihre Ideen für Weimar selbst umzusetzen (Bause/Reinfrank 2009: 5). Ebenso bietet der Stadtumbau in Ostdeutschland Ansatzpunkte für Engagement; Initiativen zielen dabei sowohl auf eine kritische Auseinandersetzung mit Stadtumbauprozessen als auch darauf, Schrumpfungspotenziale in Form von freien Räumen und Freiflächen zu nutzen. Zu nennen sind hier bspw. Stadtforen in Leipzig, Freiberg oder Görlitz, die eine Vernetzungs- und Diskussionsplattform für bürgerschaftliche Initiativen zur Begleitung des Stadtumbaus in innerstädtischen Altbauquartieren bilden. Zum anderen gibt es gerade in größeren Städten Initiativen, die Gebäude und Freiflächen für eine Zwischennutzung durch Vereine, Bürgergruppen oder Künstler zur Verfügung stellen. Die oft geradezu im Überfluss vorhandenen „physischen Freiräume" können so zu immateriellen Freiräumen der Ideengenerierung und -umsetzung werden.

7

Die Stadt Görlitz hatte sich um den Titel der Kulturhauptstadt Europas 2010 beworben und unterlag erst in der letzten Runde des nationalen Ausscheides der Stadt Essen (vgl. dazu Liebmann/Fröhlich 2009).

82

7.

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Fazit

Schrumpfung, soziale Umbrüche und demographischer Wandel haben Auswirkungen auf die Zivilgesellschaft in Deutschland. Jedoch zeigen die angeführten Beispiele, dass auch in schrumpfenden Regionen bürgerschaftliches Engagement vorhanden und möglich ist. 8 Entscheidend dafür ist allerdings, ob sich stadtpolitische und zivilgesellschaftliche Akteure durch Schrumpfungsprozesse eher lähmen lassen und Selbstzweifel überwiegen, oder ob die Akteure in der Lage sind, neue Perspektiven zu entwickeln und aufzuzeigen. Engagement ist unter den Bedingungen von Strukturwandel und Schrumpfung folglich durchaus ein Indikator für Kreativität sowie Innovations- und Lernfähigkeit in den Regionen und damit ein Schlüsselfaktor für künftige Entwicklung, der auch von Unternehmen als wichtiger Standortfaktor wahrgenommen wird. Engagement und auch Kreativität und Innovation sind jedoch nicht planerisch herstellbar, sondern benötigen eine Kontextpolitik, die mit geeigneten flankierenden Maßnahmen ihre Entfaltung im stadtpolitischen, unternehmerischen und sozialen Bereich anregt und adäquat auf die jeweiligen spezifischen Situationen reagiert. Dazu gehört allerdings auch die Einsicht, dass zivilgesellschaftliches Engagement Strukturen braucht. Diese müssen auch in schrumpfenden Regionen aufrechterhalten werden. Das erfordert flexible Lösungen unter Nutzung aller vor Ort vorhandenen Ressourcen. Bereits eine engere Vernetzung unabhängig voneinander entstandener Institutionen sowie vorhandener Infrastrukturen (Schulen, Senioreneinrichtungen etc.) kann die Sichtbarkeit vorhandener Angebote erhöhen. Dort, wo das Engagement von unten zu versiegen droht, müssen Unterstützungsstrukturen für ehrenamtliches Engagement von hauptamtlich arbeitenden, qualifizierten Fachkräften langfristig aufrechterhalten werden. Notwendig ist deshalb der Aufbau einer finanziell gesicherten, flächendeckenden und dauerhaften Infrastruktur mit Beratungs- und Kontaktstellen für bürgerschaftliche Initiativen. Wichtig ist ein Wechsel von der individuellen Engagement- zur Strukturförderung, damit nicht „bürgerliches, sondern bürgerschaftliches Engagement" unterstützt wird (Gensicke et. al 2009). Der Beitrag macht aber auch deutlich, dass in einigen peripheren schrumpfenden Regionen neue Engagementformen zu beobachten sind, die durch antidemokratische, rechtsextrem eingestellte Kräfte gesteuert werden. Diese Prozesse benötigen in der Fachöffentlichkeit eine sehr viel größere Beachtung. Auf der anderen Seite ist eine Auseinandersetzung mit den bisher zumeist ausschließlich positiv besetzten Begriffen Engagement und Zivilgesellschaft notwendig.

8

Die Freiwilligensurveys von 1999 und 2004 belegen zudem, dass sich Menschen auch in sozial schwierigen Situationen zunehmend engagieren. So ist unter den Arbeitslosen der Anteil der freiwillig Engagierten von 1999 bis 2004 von 23 auf 27% gestiegen. Auch bei den Rentnern ist eine Steigerung von 24 auf 28°/o festzustellen (wobei hier für Ostdeutschland allerdings nur ein sehr leichter Anstieg von 20 auf 21 % festzustellen war). Zum Vergleich: In der Gesamtbevölkerung ist der Anteil freiwillig Engagierter von 1999 bis 2004 von 34 auf 36% gestiegen (Gensicke 2006).

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Zivilgesellschaft in dörflichen Kontexten - eine ostdeutsche Perspektive von Dierk Borstel

Die Forschung zur Zivilgesellschaft konzentriert sich zumeist auf den städtischen Kontext. Städte bieten in ihrer Größe, inneren Differenzierung, Pluralität und Struktur die Voraussetzungen für einen öffentlichen Raum als notwendige Basis der Zivilgesellschaft. Wie verhält es sich jedoch mit den kleinen Räumen des Zusammenlebens, den Dörfern? Gibt es auch dort Ansätze einer Zivilgesellschaft und wenn ja: Wie unterscheiden sich diese von den städtischen Räumen? Welche Stärken und Schwächen lassen sich identifizieren? Um diese Fragen beantworten zu können, gilt es nach einer kurzen Erläuterung des Begriffs Zivilgesellschaft zunächst den Blick auf das Dorf an sich zu richten. Entgegen landläufiger Annahmen unterscheiden sich Dörfer sehr in ihrer inneren Struktur und in ihrer Geschichte. Entsprechende Typen von Dörfern haben wiederum Auswirkungen auf die jeweilige Ausprägung der zivilen Gesellschaft. Gleiches gilt auch für einige Sonderprobleme des ländlichen Raums. Beispielsweise gibt es in Ostdeutschland eine oft unbemerkte Paradoxie: Zählt der ländliche Raum dort zu den deutlichen Verlierern der Transformation, gehören die dort ansässigen landwirtschaftlichen Betriebe oft zu den größten Gewinnern der Wende. Auch das hat Auswirkungen auf die Fragestellungen dieses Textes, die anschließend diskutiert werden sollen.

1.

Funktionen der Zivilgesellschaft

In der politischen Theorie gehört der Begriff der Zivilgesellschaft zu den schillerndsten überhaupt. Er verfügt über eine jahrhundertlange Tradition, ist zwischenzeitlich eine Weile im Diskurs verschwunden und erlebte seine Renaissance mit dem Fall der kommunistischen Systeme in Osteuropa (vgl. einführend Kocka 2000). Danach wurde er wesentlich von Bürgerrechtlern wie Vaclav Havel geprägt, die aus der Zivilgesellschaft heraus Potenziale zur Neugestaltung des als verkrustet empfundenen politischen und gesellschaftlichen Systems entwickeln wollten. Bis heute gibt es keine Konsensdefinition dieses Begriffs. Weitgehende Akzeptanz findet jedoch das Verständnis von Jürgen Habermas. Den institutionellen Kern der Zivilgesellschaft bilden für ihn .jene nicht-staatlichen und nicht-ökonomischen Zusammenschlüsse und Assoziationen auf freiwilliger Basis, die die Kommunikationsstrukturen der Öffentlichkeit in der Gesellschaftskomponente der Lebenswelt verankern. (...) Den Kern der Zivilgesellschaft bildet ein Assoziationswesen, das pro-

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Dierk Borstel

blemlösende Diskurse zu Fragen allgemeinen Interesses im Rahmen veranstalteter Öffentlichkeiten institutionalisiert." (Habermas 1998: 443-444). Kleinster gemeinsamer Nenner im Diskurs dürfte sein, dass es sich bei der Zivilgesellschaft um eine gesellschaftliche Sphäre handelt, die • • •

zwischen Staat und Privatsphäre angesiedelt ist, von einer Vielzahl staatlich unabhängiger Akteure besiedelt ist und vom Staat geschützte Organisations- und Meinungsfreiheit genießt.

Dabei werden mit der Zivilgesellschaft verschiedene Hoffnungen und Funktionen verbunden (vgl. zur Einteilung Schulz von Wiesch 2002): •





Subversive Funktion: Zivilgesellschaft soll staatlicher Gewalt widerstehen, Missstände aufgreifen und Widerstand gegen Unrecht leisten. Dieses Verständnis findet sich vor allem bei der politischen Linken (vgl. z.B. Kebir 1991). Stabilisierende Funktion: Zivilgesellschaft in diesem Verständnis soll den Staat entlasten, indem Bürger Aufgaben des Staates übernehmen. Solche Denkmuster finden sich z.B. im sogenannten Konzept des dritten Weges von Anthony Giddens (vgl. Giddens 1999). Integrierende Funktion: Bürger sollen durch konkretes Handeln den sozialen Zusammenhalt fordern. Dieser Grundgedanke ist besonders in der Idee des Kommunitarismus ausgeprägt (vgl. einführend Etzioni 1996. Eine Übersicht über die Debatte liefert Reese Schäfer 1996.)

Umstritten ist vor allem der normative Gehalt des Begriffs „zivil", denn nicht alle Akteure in der Sphäre der Zivilgesellschaft verfugen über einen zivilen Charakter. Rechtsextreme Kameradschaften, linksextreme Autonome und islamistische Terrornetzwerke bevölkern diese Sphäre, teilen jedoch nicht die Idee einer humanitären und zivilen Gesellschaft. Das Zivile der Zivilgesellschaft kann somit nicht vorausgesetzt werden, sondern ist im Idealfall Ausdruck einer kulturellen und strukturellen Hegemonie deijenigen Akteure, die sich den Menschen- und Freiheitsrechten des Individuums verpflichtet fühlen. Das gilt in besonderer Weise für soziale Räume, die zur Homogenität neigen, wie ζ. B. Dörfer.

2.

Dörfliche Räume

Dörfer sind zunächst kleine Siedlungen im zumeist ländlichen Raum. Dorf ist dabei eine Sammelbezeichnung für sehr unterschiedliche Typologien von dörflichen Strukturen. Bekannte Beispiele sind z.B. Fischerdörfer, Straßendörfer, Eisenbahndörfer, Bauemdörfer, Industriedörfer, Ökodörfer. Alle diese Beispiele bringen in Bezug auf Fragen der Organisation und der Hegemonie in der Zivilgesellschaft unterschiedliche Voraussetzungen mit. In Fischerdörfern waren beispielsweise eben die Namensgeber, die Fischer, für das Wohl der Gemeinde von besonderer Bedeutung. Sie gaben Arbeit, Nahrung und (bescheidenen) Wohlstand. Organisierten sich diese Fischer, waren sie

Zivilgesellschaft in dörflichen Kontexten - eine ostdeutsche Perspektive

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eine besondere und gestandene Macht im Dorf. In einem Straßendorf ist das anders. Hier gibt es keine soziale Gruppe, die bereits per Geschichte und kultureller Prägung mächtig ist. Bereits an diesen beiden Beispielen lässt sich eine Unterscheidung festmachen: Es gibt natürlich gewachsene Dörfer (ζ. B. Bauerndörfer, Fischerdörfer) und es gibt künstlich angelegte Dörfer (z.B. Industriedorf, Ökodorf). In den natürlichen Dörfern existieren gewachsene Strukturen und ein historisches Gedächtnis, das den künstlichen Dörfern fehlt oder noch in Entwicklung befindlich ist. Für die Hegemonie in der Zivilgesellschaft ist diese Entscheidung wichtig. In den künstlichen Dörfern ist der Kampf um Hegemonie offener, in den natürlichen Dörfern ist sie historisch vorgeprägt. So besitzen Fischer in einem Fischerdorf ebenso wie ζ. B. Arbeiter in einem Arbeiter- und Industriedorf ein geerbtes Standing. Sie können auf historische Grundlagen zurückgreifen und spielen daher für die Dorfgeschichte und damit auch für die Entwicklung zur heutigen Dorfgesellschaft eine bedeutende Rolle. Dies gilt es im Einzelfall bei der Analyse der Zivilgesellschaft zu beachten. Jenseits dieser Unterscheidung dominieren die großen Gemeinsamkeiten der Dörfer. Ihre Gesellschaft ist geprägt durch eine große Nähe der Bewohner zueinander und durch innere Transparenz. Dorfgesellschaften haben dabei eine Tendenz zur Homogenisierung von Meinungen. Dies ist bedingt durch die große innere Kontrolldichte. Nahezu jeder kennt jeden. Die gegenseitige Kontrolle ist ausgeprägter als in den Städten mit ihrer Anonymität und der Möglichkeit, in der Masse untereutauchen. Konflikte in der dörflichen Öffentlichkeit entwickeln sich deshalb schnell zu Konflikten im engsten sozialen Umfeld. Sie finden nicht medial gesteuert, sondern unmittelbar und „face to face" statt. Um entsprechende Konflikte zu vermeiden, werden diese häufig nicht offen ausgetragen, sondern zur Privatsache deklariert, die die „Streithähne" unter sich ausmachen sollen. Für die Zivilgesellschaft hat dies Folgen. Weder kann per se von einem Pluralismus der offen artikulierten und organisierten Meinungen und Positionen ausgegangen werden, noch darf eine Bereitschaft zur öffentlichen Austragung von Konflikten vorausgesetzt werden.

3.

Transformation dörflicher Räume

Dörfliche Räume stehen im Ruf, konservative Gesellschaften hervorzubringen. Dies mag in vielen westdeutschen Gebieten so sein. Für den ostdeutschen ländlichen Raum gilt dies hingegen nur noch sehr eingeschränkt. Jenseits einer breiteren Öffentlichkeit befindet sich der ländliche Raum dort in einem dramatischen Transformationsprozess, dessen Auswirkungen noch nicht abzusehen sind und der unmittelbare Konsequenzen für die dörfliche Zivilgesellschaft hat. Zur Beschreibung dieses Prozesses ist ein knapper historischer Rückblick nötig. Winkler spricht in Bezug auf die Weimarer Republik von einer „hingenommenen Verfassung" (vgl. Winkler 1993: 99). In besonderer Weise trifft dies auf traditionell

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konservative und von Gutsherrschaft geprägte Regionen z.B. in Vorpommern zu. Der Gutshof ist strikt autoritär organisiert. Eine Demokratie, auch verstanden als Alltagskultur mit Elementen der Partizipation, Teilhabe und des Minderheitenschutzes, konnte sich dort in der Zeit vor dem Nationalsozialismus nicht entwickeln. Zu stark waren die aus dem Kaiserreich fortdauernden Traditionen, zu starr die alltäglichen Regeln auf dem Hof und im Dorf und zu schwach mögliche demokratiefördemde Akteure. Zwar erfolgte eine allmähliche Modernisierung vor allem der Landwirtschaft sowie der Ausbau der Infrastruktur besonders durch bessere Bahnanbindungen und Straßenbauprojekte, die Alltagskultur jedoch blieb davon weitgehend unberührt. Die Weimarer Verfassung war in weiten Teilen des Landes niemals fest verankert. Sie wurde leidlich toleriert, vor Ort im Zweifelsfall jedoch unterlaufen und niemals mit Leben gefüllt. Sie wurde „hingenommen", Protest gegen sie, wie im Falle des KappPutsches, von Teilen der Bevölkerung offen unterstützt (vgl. Copius 2002: 58) und in der Dauerkrise nach 1929 zugunsten des Nationalsozialismus fallengelassen. In der Erinnerung der Bevölkerung im ländlichen Raum wird weder die Weimarer Republik noch der Nationalsozialismus bis 1943/44 als zentraler Bruch der Alltagsgeschichte wahrgenommen. Die örtlichen dörflichen Strukturen blieben von den politischen Veränderungen weitgehend unberührt, so stark war der Einfluss der Gutshöfe auf Dorf und Bevölkerung. Das änderte sich rapide zwischen 1945 und 1952/53. Der erste Bruch erfolgte mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und den Wirrungen der Vertreibung. Einige Gutsbesitzer flohen aus Angst vor den Sowjets gen Westen und verließen damit ihre Höfe. Dadurch entstand ein Vakuum in der Dorfgemeinschaft. Die bisherige Autorität war nicht mehr da, eine neue konnte so schnell oft nicht aufgebaut werden und die Agrararbeiter hatten keine Erfahrungen mit der Selbstorganisation. Hinzu kam der starke Zuzug bzw. Durchzug von Flüchtlingen aus dem Osten. Die Dorfgesellschaften standen vor enormen Herausforderungen bezüglich der Unterbringung und des Umgangs mit den Flüchtlingen bei einer sich gleichzeitig zuspitzenden ökonomischen Lage. Der zweite und wohl entscheidende Bruch war die Bodenreform im Spätsommer 1945. Die verbliebenen Großgrundbesitzer wurden enteignet, viele flohen. Die Gutshöfe wurden aufgeteilt und die Flächen an Kleinbauern, Arbeiter und Flüchtlinge verteilt. Dieser Schritt zerstörte die bestehenden Dorfstrukturen und -kulturen. 1 Der bisherige Dreh- und Angelpunkt der Dorfgemeinschaft, der Gutsherr, wurde entfernt und somit eine Situation geschaffen, in der sich die Dörfer in sich und aus sich heraus neu organisieren mussten. Interessant ist dabei, dass sich viele Dörfer gegen die Enteignung und Vertreibung „ihrer" Gutsherren zur Wehr setzten (vgl. Bauerkämper 2005: 105),2 was zeigt, dass viele Dorfgesellschaften mir ihrer bisherigen Struktur nicht unzufrieden waren.

1 2

Zu diesem Aspekt sei unbedingt die großartige Feldstudie zu Merxleben empfohlen, die die Konsequenzen der LPG-Gründung für die Dorfgemeinschaft detailliert nachzeichnet (siehe: Schier 2001). Vgl. ausführlicher auch Bauerkämper 2002.

Zivilgesellschaft in dörflichen Kontexten - eine ostdeutsche Perspektive

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Den vorläufigen Endpunkt dieser zunächst zögerlich durchgesetzten Maßnahmen setzte der Beschluss der 2. Parteikonferenz von 1952, der den Zusammenschluss der Neubauern zu sozialistischen landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften mit Nachdruck forcierte. Vereinzelt hatten sich Bauern bereits von sich aus zusammengeschlossen. Andernorts lebte die Idee des bäuerlichen Kleinbetriebs auf, der im Widerspruch zur kollektivistischen Agrarpolitik der SED stand. Zunächst gebremst durch die Unruhen von 1953 verstärkte die SED den Druck auf die Bauern ab 1958 massiv. Arnd Bauerkämper schreibt dazu: .Anfang 1960 entschied die SED-Führung offenbar, die Kollektivierung (...) in wenigen Wochen abzuschließen. Die Bezirks- und Kreisleitungen der SED bildeten daraufhin Agitationstrupps, die im sozialistischem Frühling von März bis Mai 1960 nahezu 500.000 Bauern in die LPGn drängten." (Bauerkämper 2005: 111) Ideologischer Hintergrund waren die innerparteilichen Diskussionen in der SEDSpitze zum Umgang mit dem Erbe Stalins. Die Vertreter eines harten Kurses um Walter Ulbricht sahen in der weiteren Kollektivierung der Landwirtschaft eine weitere Möglichkeit, die Verbundenheit der DDR mit der UdSSR zu zeigen. Gleichzeitig versprachen sie sich von dieser Maßnahme die Integration eines möglicherweise oppositionellen Potentials in die neue politische Ordnung. Deshalb schrecke die SED-Spitze auch vor den Druckmitteln der Nötigung und Erpressung ebenso wenig zurück wie vor der Verhaftung sich widersetzender Bauern durch Mitarbeiter der Staatssicherheit (vgl. Weber 1991c: 86-88). Seit 1961 galt die Kollektivierung der Bauern als weitgehend abgeschlossen, auch wenn sich einige Bauern dieser noch entziehen konnten. Für die den ländlichen Raum prägenden Dörfer hatte die Kollektivierung entscheidende Folgen. Neuer Dreh- und Angelpunkt wurde der Kollektivbetrieb, der Arbeit mit Freizeit und Kultur verband. Die Arbeit selbst wurde neu geregelt und nach den Erfahrungen aus der Welt der Industriearbeiter organisiert. Die Identifizierung vieler Bauern mit dem Hof schwand dadurch: Es war nicht mehr ihr Hof, sondern lediglich ihr Arbeitsplatz. An Stelle der traditionellen Bindung an den Hof trat die Arbeit in der Agrarfabrik mit geregelten Arbeits- und Urlaubszeiten. Noch wichtiger war jedoch die Entkoppelung des Wohnraums von der Arbeitsstätte. Lebten Bauern früher selbstverständlich auf dem Hof, bezogen sie nun häufiger Wohnungen abseits des Agrarbetriebes. Die Landwirtschaft behielt zwar so eine dominante und prägende Stellung in der Dorfgesellschaft, war jedoch nicht mehr unmittelbar mit dem Dorf verbunden. Dorf und Landwirtschaft bildeten noch immer einen Verbund, aber keine zwangsläufige Einheit mehr. Die Produktion diente fortan dem ganzen Land und nicht mehr lediglich der Region; dennoch blieben die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) in die regionalen Wirtschaftsläufe integriert. Die Einbindung der LPGs in die Region änderte sich kurz nach der Wende von 1989/90. Der ostdeutschen Landwirtschaft gelang durch eine strikte Politik der Privatisierung innerhalb kurzer Zeit die Modernisierung der Betriebsstrukturen (vgl. Thiele

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1998). Aus den LPGs wurden hoch moderne und leistungsfähige Agrarfabriken, deren Produktivität den westdeutschen Schnitt deutlich übertraf und die sich ideal an die Vorgaben und Bedürfnisse des Weltmarktes anpassten. Damit verbunden war der Abbau von knapp 80°/o der Arbeitsplätze, was die Arbeitslosigkeit im ländlichen Raum innerhalb kurzer Zeit erheblich ansteigen ließ (zur Bilanz der ostdeutschen Landwirtschaft vgl. Busse 2005). In der DDR war im ländlichen Raum die Landwirtschaft zumeist der größte Arbeitgeber gewesen. Diese Funktion erfüllte sie nun nicht mehr. Der Betrieb entkoppelte sich aber auch aus den regionalen Wirtschaftskreisläufen. Die Produktion ist auf den Weltmarkt ausgerichtet und nicht auf die kleineren, finanziell weniger interessanten regionalen Wirtschaftskreisläufe. Rainer Land spricht diesbezüglich von einer „Entbettung des Kerns der Agrarproduktion aus den lokalen und regionalen Produktionskreisläufen und Wertschöpfungsketten" (Land 2005: 133), was zur Folge habe, „dass die Synergie- und Folgeeffekte für die lokale Wirtschaft in dem Maße zurückgehen, wie die Produktivität der Agrarbetriebe mit der Einbettung in neue überregionale Produktionskomplexe voranschreitet." (Land 2005: 133) Konzepten der Regionalentwicklung fehlen dadurch - sofern es keine gewerblichen oder touristischen Alternativen gibt - wirtschaftlich potente Zugpferde, die regionale Wirtschaftskreisläufe aktivieren könnten. 3 Die Situation scheint dabei paradox. Die Landwirtschaft gehört zu den großen Gewinnern der Wende von 1989/90, der ländliche Raum jedoch zu den Verlierern. Während die landwirtschaftlichen Betriebe, zu Agarfabriken transformiert, weltmarktkompatibel geworden sind, verloren die Dörfer im ländlichen Raum ihre ursprünglich „konstitutive Funktion" (Land 2005: 135). Land schreibt zu den Dörfern: „Sie waren nicht einfach nur der Standort der Agrarbetriebe (...), sie waren Knoten im Netzwerk der lokalen Cluster der Agrarwirtschaft. (...) Der enge Zusammenhang von Dorf und Landwirtschaft blieb in der engen lokalen Vernetzung erhalten." (Land 2005: 136) Dieser Zusammenhang hat sich bis auf wenige Ausnahmen aufgelöst. Der Großteil, nämlich knapp 80°/o der früheren LPG-Beschäftigten, wurde freigesetzt. Andrea Willisch stellt dazu die These auf, „dass diese Arbeitsgesellschaft nach der Wende nirgends so gründlich zerstört worden ist wie im ländlichen Raum der DDR jenseits der Großstädte. Eine Beschreibung dessen, was wir dort beobachten können, gleicht in vielen Punkten Berichten und Studien aus amerikanischen Gettos oder französischen Vorstädten." (Willisch 2008: 55) Während der Generation der (Früh-)Rentner gerade noch rechtzeitig der Sprung in eine neue Sicherheit gelang, bedeutet dieser Bruch für die Generation der zur Wendezeit Dreißig- bis Fünfzigjährigen, dass ihre sicher geglaubte berufliche Perspektive 3

Natürlich gibt es Beispiele dafür, dass die neuen Agrarfirmen ökonomisches Zugpferd regionaler Entwicklung geblieben sind. So ist dann auch die Analyse von Plieninger/Bens/Hüttl 2006 etwas optimistischer als die Darstellung von Land 2005.

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nicht mehr existiert, sie nie wieder in ihrem erlernten Bereich arbeiten werden und sich vielerorts keine neuen beruflichen Alternativen für sie auftun. Generationsübergreifend wird die Nachwendezeit als biographische Herausforderung und als Zeit des Wandels beschrieben (siehe die eindrucksvolle Sammlung und Analyse von Zoll 1999). Bude schreibt zu dieser Gruppe: „Von der einstmals hochgehaltenen Sozialschicht einer neuen Modernität des Landlebens ist nichts übrig geblieben. Weil wesentliche Kapitel ihrer Biographie entwertet worden sind, fühlen sie sich wie die Ungestorbenen einer untergegangenen Gesellschaft. Was sie können und was sie wollen, was sie erreicht haben und worauf sie stolz sind, spielt keine Rolle mehr. Der historisch-soziale Raum, aus dem ihre sozialmoralischen Orientierungen stammen und auf den sie ihre politisch-praktischen Vergleiche beziehen, ist von der gesellschaftlichen Landkarte verschwunden." (Bude 2008: 56f.) Wenn man die Heftigkeit der sozioökonomischen Brüche betrachtet, erstaunt es, dass das Thema ländlicher Raum, trotz der Breite und des Umfangs der Studien zur Transformationsgesellschaft, in den Sozialwissenschaften nur ein Nischenthema ist (vgl. Kollmorgen 2005).4 Mit diesem ökonomischen, sozialen und biographischen Wandel verbunden ist die politische Transformation. Erstmals gewinnen viele Dörfer die reale Option der demokratischen Selbstverwaltung. Dieser Vorgang ist jedoch weniger selbst erkämpft als fremdbestimmt. Sie wird aber durchaus willkommen geheißen und mit großen Hoffhungen verbunden. Die politische Opposition der DDR konzentriert sich auf die Metropolen. Wendeaktivitäten gibt es im ländlichen Raum nur wenig. Die neue Verfassung wird wieder „hingenommen". Auf eine aktive Beteiligung der Bevölkerung an der Arbeit der Verfassung wird nach dem Vereinigungsprozess verzichtet.5 Das neue politische System führt in politischen Milieus zu starken Veränderungen. Die Honecker-Elite muss die politische Arena räumen. An ihre Stelle tritt jedoch im Gegensatz zu den anderen osteuropäischen Ländern ein „Elite-Import aus Westdeutschland" (Derlien 2001: 68). und nicht der eigene politische Nachwuchs. Dabei galt nach Derlien die Regel: Je höher die Position, desto größer der Anteil an Westdeutschen. Das gilt eingeschränkt für die kommunale Ebene und gänzlich für die Landesebene (vgl. Derlien 2001: 69). In Ostdeutschland, dies betont Pollack zu Recht, hatten 1990 die Ideen der westlichen Demokratie und der sozialen Marktwirtschaft sehr hohe Akzeptanzwerte (vgl. Pollack 1997: 6), die erst im Laufe des Transformationsprozesses drastisch zurückgegangen sind. Er schließt daraus, dass die von ihm aufgezeigten Vorbehalte gegenüber dem übernommenen westlichen politischen System vornehm-

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In Bilanzartikeln wird der ländliche Raum gar nicht erst erwähnt. Vgl. Kaase/Lepsius 2001 und Lutz 2003. Aufschlussreich ist hingegen eine qualitative Studie zum mecklenburgischem Dorf Tranlin, in der die sozialen Folgen der Kollektivierung und Dekollektivierung nach der Wende für die Landbevölkerung eindringlich nachgezeichnet werden (vgl. Brauer 1998). So kann Artikel 146 GG durchaus als Möglichkeit interpretiert werden, das Grandgesetz auch durch einen Volksentscheid zusätzlich legitimieren zu lassen. Darauf wird jedoch verzichtet.

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lieh ökonomisch begründet seien und sich nicht mit dem DDR-Erbe erklären ließen (vgl. Pollack 1997: 8). Damit verbunden sei oft auch ein Gefühl der individuellen Abwertung und Nichtanerkennung der Biographie und des Lebensentwurfes (vgl. Walz/ Brunner 1997; Pollack/Pickel 1998; Pollack 2003). Für den ländlichen Raum lassen sich die gedanklichen Stränge möglicherweise noch zuspitzen. Er ist zumeist eine Region ohne Demokratieerfahrung und Tradition. Es gibt keine Freiheits-, sondern nur eine Autoritarismustradition. Das Grundgesetz wird im Gegensatz zur Weimarer Verfassung willkommen geheißen, jedoch weder erkämpft noch in seiner inneren Werthaltigkeit tatsächlich auch alltagskulturell verankert. In der Verfassung ist die Unterstützung eines solchen Prozesses auch nicht explizit vorgesehen. Stattdessen wird die Hoffnung betont, dass der westdeutsche Weg nach 1949 wiederholt werde, indem die Demokratie mit dem ökonomischen Aufschwung zunehmend Akzeptanz gewinnt. Dieser Weg bleibt jedoch dem peripheren ländlichen Raum weitgehend verwehrt. In der Zeit, in der das politische System erlernt, erprobt und entwickelt werden könnte, bricht die dörfliche Gesellschaft - wie beschrieben - weitgehend in sich zusammen. Die biographischen Brüche sind dramatisch und die personellen Ressourcen zur Pflege und zum Aufbau des politischen Systems und der Zivilgesellschaft daher stark begrenzt. Es zeigt sich zudem, dass das politische System angesichts des Fortdauerns der Globalisierung zusehends an ökonomischer Steuerungskapazität verliert, da die globalisierte Ökonomie die nationalstaatlichen Regulierungsmechanismen zusehends bricht. In Ostdeutschland fuhrt dies zu der Erfahrung, dass der Start in die Demokratie nicht durch den erhofften und versprochenen Wirtschaftsaufschwung begleitet wird.6 Auch der individuelle Aufstieg innerhalb des politischen Systems bleibt angesichts der Westimporte vielen verwehrt. An die Stelle der von Jürgen Habermas formulierten „nachholenden Revolution" (Habermas 1990a und ausführlich 1999b), die westliche Ökonomie- und Freiheitsstandards in die ostdeutsche Gesellschaft integrieren soll, tritt die ostdeutsche Gesellschaft unmittelbar in eine Phase der zunehmenden Globalisierung nach dem Zusammenbruch der dualen Welt ein. Hinzu kommt die ostdeutsche Erfahrung, dass lediglich individuelles Handeln Möglichkeiten der sozialen Stabilisierung verspricht, indem nach Westdeutschland umgezogen wird, kleine Betriebe gegründet oder auch Ausstiegsmodelle aus der Gesellschaft erprobt werden. Dieses individuelle Handeln hat keine historisch-kulturelle Verankerung und entspricht nicht dem Modell des Kollektivismus der DDR-Gesellschaft (vgl. Engler 2000: 211-232). Für die Aneignung und Gestaltung der politischen Kultur bleibt in diesen Umbruchzeiten und angesichts der Brüche der Biographien wenig Zeit. Die formellen staatlichen Strukturen werden zwar erstaunlich schnell etabliert und erreichen auch zügig eine hohe Leistungsfähigkeit (vgl. Wollmann 2001). In der politischen Kultur jedoch sind Defizite noch immer offenkundig. So hat sich z.B. bis heute nur rudimentär eine aktive, unabhängige und eindeutig demokratische Zivilgesellschaft in 6

In verschiedenen Studien wird wiederholt darauf hingewiesen, dass in Ostdeutschland die Bewertung der Demokratie eng mit der Einschätzung der individuellen sowie gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Situation zusammenhängt (vgl. Pickel/Walz 1998; Nauenburg/Hinrichs 2005; Gabriel 1999).

Zivilgesellschaft in dörflichen K o n t e x t e n - eine o s t d e u t s c h e Perspektive

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Ostdeutschland etabliert (vgl. Roth 2003; Benzler 1995).7 Ansätze existieren oft nur in den Großstädten (vgl. beispielhaft Probst 2003 und Krämer-Badoni/Söftler 1998). Im ländlichen Raum sind sie bis heute eine Seltenheit, was nicht bedeutet, dass dort keine engagierten Menschen leben (vgl. die empirische Analyse von Gensicke 2003). Deren Engagement konzentriert sich jedoch zumeist auf soziale und kulturelle und nicht auf explizit politische Belange. Dieser Mangel an Struktur und Verankerung betrifft auch traditionelle Akteure wie z.B. die Gewerkschaften und Kirchen.

4.

Unterschiede zwischen städtischer und dörflicher Zivilgesellschaft

Blickt man noch einmal auf die erhofften Funktionen der Zivilgesellschaft, dann werden im dörflichen Kontext zumeist lediglich die integrierende und stabilisierende Funktion realisiert. Oft ist die Zivilgesellschaft im dörflichen Raum geprägt durch das Engagement einzelner Menschen und nicht durch das Engagement ganzer Gruppen. Einen guten Stand haben wahlweise „Kümmerer" um das Gemeinwesen oder je nach Art des Dorfes Bewohner, die für die Fortführung der Tradition des jeweiligen Dorfes einstehen. Für die Integration der Dorfgesellschaften haben erfahrungsgemäß Vereine in den Bereichen Sport, Kultur oder Fasching sowie Akteure mit hoher Akzeptanz wie die Freiwillige Feuerwehr eine besondere Bedeutung. In ihnen sammeln sich Menschen. Sie sorgen durch ihre Veranstaltungen und Feste für ein „Dorfleben". Sie bieten Möglichkeiten zur Kommunikation und damit zur Integration. Primär politische Akteure wie Vereine oder Initiativen sind im Vergleich dazu eher schwach entwickelt. Einzige Ausnahme sind Bürgerinitiativen, deren Themen dann jedoch weite Teile des Dorfes ansprechen, wie ζ. B. Initiativen gegen Schulschließungen, Verkehrsbauprojekte oder Initiativen für die Ansiedlung von Unternehmen. Sie sind Konsensuntemehmungen eines Dorfes und nur selten Ausdruck eines innerdörflichen Pluralismus. Dies unterscheidet Dörfer von Städten zentral. In Städten bildet die Zivilgesellschaft oft die innerstädtischen Konfliktlinien ab. Im Dorf ist die Zivilgesellschaft eher Ausdruck einer konsensualen Meinung. Sie zielt nicht ins Dorf hinein, sondern soll mittels zivilgesellschaftlicher Organisationsform den Dorfwillen nach außen tragen. Die alltägliche, dörfliche Zivilgesellschaft ist dabei - auf den ersten Blick - oft unpolitischer als die städtische Zivilgesellschaft. Dies erklärt sich mit den geringeren Optionen der Vielfalt und Pluralität sowie mit dem eingangs beschriebenen sozialen Folgen öffentlicher Stellungnahmen.

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Berechtigt ist dabei der Verweis von Großbölting auf die Versuche der SED, eine Entbürgerlichungsstrategie umzusetzen, die er jedoch nicht fur vollständig erfolgreich erklärt. Besonders in Kirchenkreisen seien Elemente bürgerlichen Engagements erhalten geblieben. Auch sei es nicht gelungen, den Alltag der Menschen vollständig zu entbürgerlichen (vgl. Großbölting 2008).

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Bei genauerer Betrachtung spielt jedoch ein weiterer Unterschied eine noch größere Rolle. In städtischen Kontexten benötigt die Zivilgesellschaft die politische Öffentlichkeit zur Artikulation ihrer Interessen. Im Dorf wird die Öffentlichkeit hingegen gemieden. Es existiert oft nur eine interne Öffentlichkeit, in der Argumente für und wider ein Thema ausgetauscht werden. Es fehlen auch die Medien, die solche Debatten transportieren könnten. Selbst die Lokalpresse konzentriert sich in ihrer Berichterstattung zumeist auf die kleinstädtischen Strukturen im ländlichen Raum und weniger auf die Dörfer. Im Sinne ihrer Zielgruppe ist eine solche Konzentration auch konsequent. Dörfliche Themen betreffen oft nur das eigene Dorf und damit wenige Leser, weil schon das Nachbardorf wieder eigene Themen hervorbringt. Ein weiterer Unterschied besteht oft im Grad der Beteiligung. Im Dorf ist die Teilnahme an Veranstaltungen der Zivilgesellschaft oft die einzige Möglichkeit, Akzeptanz und Anerkennung zu gewinnen. Werden die Angebote gemieden, findet häufig ein unterschwelliger Ausschluss aus der Dorfgesellschaft statt. Die Zivilgesellschaft trägt somit entscheidend zum Zusammenhalt von Dorfgesellschaften bei. Sie sind oft stärker und anerkannter als die offiziellen politischen und/ oder Verwaltungsstrukturen. Vielerorts fallt es schwer, Kandidaten für das Amt des Bürgermeisters zu finden, während wichtige Posten in der Zivilgesellschaft, wie der Vorsitz von Vereinen, im Vorfeld umkämpft und damit begehrt sind. Die Zivilgesellschaft wirkt somit integrierend und stabilisierend. Kritikfähig ist sie hingegen nur selten. Dazu fehlen die Voraussetzungen wie der Mut zum Pluralismus, eine politische Kultur der Konfliktfähigkeit und die Etablierung einer neutralen Öffentlichkeit.

5.

Gemeinwohl und Zivilgesellschaft

Die dörfliche Zivilgesellschaft verfügt über eine große Stärke: Sie kann schnell und bürokratiearm agieren. Immer dann, wenn Menschen sich einig sind, lassen sich kurze Kommunikationswege nutzen. An Stelle unzähliger Arbeitstreffen in der Stadt tritt das schnelle Gespräch am Gartenzaun oder die Verständigung im direkten Gespräch. Damit kann die Zivilgesellschaft schnell auf neue Herausforderungen im positiven wie im negativen Sinne reagieren. Diese Stärke ist jedoch nur dort gegeben, wo es Menschen gibt, die sich noch für „ihr" Dorf einsetzen. In vielen peripheren ländlichen Regionen besonders in Ostdeutschland sind die Dorfgesellschaften jedoch zerfallen und die Menschen ernüchtert, irritiert und individuell desintegriert. Ihnen fehlen oft noch die Voraussetzungen für ein Engagement. Besonders Tendenzen der politischen und sozialen Anomie hemmen das Engagement (vgl. Hüpping 2006; Hüpping/Reinicke 2007 und Legge/Reinicke/ Klein 2009). Die Menschen sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um sich für das Gemeinwohl einzusetzen. Wenn solche Dorfgesellschaften dann noch in Folge des demographischen Wandels Infrastruktureinrichtungen wie Schulen, Jugendclubs oder Einkaufsmöglichkeiten verlieren, zerfallen diese Gesellschaften noch weiter. Sie

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werden dann zu sterbenden Dörfer. Zivilgesellschaft im Dorf ist somit nur denkbar in Zusammenhang mit einem positiven Gemeinwesenbezug. Ist dieser gegeben, entwickelt sie oft einen besonderen Charakter und eine individuelle Note.

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Zivilgesellschaft konkret: Bürgerstiftungen als Akteure der Stadtentwicklung von Andre Christian Wolf

In aktuellen planungspolitischen Programmen von Bund, Ländern und Gemeinden wird die Mitwirkung von Bürgerinnen und Bürgern immer wieder als wichtiger Schlüssel für die zukünftige Entwicklung von Stadt und Region bezeichnet. So erklärt etwa der Städtebauliche Bericht der Bundesregierung, dass Städte und Gemeinden ihre Aufgaben und Herausforderungen nur dann bewältigen werden, „wenn sie die Lebensinteressen aller Beteiligten unmittelbar berücksichtigen, wenn Mitgestaltung und Mitbestimmung zunehmen. Das Engagement der Bürgerinnen und Bürger ist daher unverzichtbare Voraussetzung für den Weg zur Stadt der Zukunft" (BMVBW 2005: I). Auch im Memorandum zur nationalen Stadtentwicklungspolitik heißt es: „Stadtentwicklungspolitik kann nur erfolgreich sein, wenn Bürgerinnen und Bürger durch Aktionen, Ereignisse und Information erreicht und zur Mitwirkung motiviert werden" (BMVBS 2007: 21). Ähnliche Aussagen finden sich zum Beispiel im Bericht der nordrhein-westfälischen Enquete-Kommission zur Zukunft der Städte (2004:403) oder in einzelnen Stadtentwicklungskonzepten (vgl. Wolf 2009: 24). Allgemein ist in Programmen und Konzepten sowie an anderen Stellen bereits viel über Bürgerengagement und zivilgesellschaftliche Potenziale sowie über Bürgermitwirkung und Bürgerorientierung in den Kommunen geschrieben worden. Wenn Zivilgesellschaft und Bürgerengagement jedoch handlungsrelevant werden sollen, müssen sowohl Begriffe geschärft als auch Realitäten und Potenziale sichtbar gemacht werden. Denn: So sehr die Einbindung und das Engagement nicht-staatlicher Akteure immer wieder aufs Neue gefordert werden, so diffus sind meist die Vorstellungen darüber, welche Beiträge diese Akteure überhaupt leisten können und wollen. Von besonderem Interesse ist daher, wie konkret zivilgesellschaftliche und bürgerschaftliche Organisationen an der Entwicklung von Stadt und Region mitwirken können. Dies aufzudecken und zu veranschaulichen ist Ziel des folgenden Beitrags. Ausgangspunkte sind sowohl das Begriffsverständnis und aktuelle Handlungsfelder der Stadtentwicklung als auch ein Abriss über den Wandel im Planungsverständnis und die damit verbundene Entdeckung der Bürgerinnen und Bürger als Akteure der Stadtentwicklung. Darauf aufbauend werden Bürgerstiftungen als neuartiger Organisationstyp für bürgerschaftliches Engagement in den Mittelpunkt gestellt. Hierbei interessieren vor allem die Fragen, über welche Leistungsfähigkeit Bürgerstiftungen verfügen, was Themen und Inhalte ihrer Aktivitäten sind und auf welche Art und Weise Bürgerstiftungen an der Entwicklung von Stadt und Region mitwirken können. Abschließend werden Anregungen für eine fortgesetzte Diskussion zum Thema Zivil-

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gesellschaft, Bürgerengagement und Stadtentwicklung gegeben. Die Ausführungen basieren dabei in weiten Teilen auf den Ergebnissen eines Dissertationsvorhabens, das der Autor im Frühjahr 2009 an der Fakultät für Architektur der RWTH Aachen abgeschlossen hat (vgl. Wolf 2009).

1.

Begriffsverständnis und Handlungsfelder der Stadtentwicklung

Wer sich anschickt, über Zivilgesellschaft, Bürgerengagement und Stadtentwicklung zu reden, muss vorweg zur Kenntnis nehmen, dass für alle drei Begriffe - und somit auch für Stadtentwicklung - ein sehr breites Begriffsverständnis vorliegt. Auf den ersten Blick erscheint Stadtentwicklung ein recht eindeutig und positiv besetzter Begriff zu sein. Assoziiert man mit Entwicklung in erster Linie Wachstum und Fortschritt, so liegt es nahe, unter Stadtentwicklung vor allem räumliches Wachstum und flächenhafte Ausdehnung zu verstehen, beispielsweise durch das Ausweisen neuer Wohnbauflächen oder das Entwickeln neuer Gewerbestandorte. Sehr vereinfachend könnte man also davon ausgehen, dass es bei Stadtentwicklung vor allem um die Frage geht, wie das Wachstum der Städte zu gestalten ist, und dass dies über Pläne beeinflussbar und steuerbar ist. Auf den zweiten Blick zeigt sich jedoch die Vielschichtigkeit des Begriffs. Stadtentwicklung wird zum Beispiel in Verbindung gebracht mit Zielen einer „nachhaltigen" Entwicklung, Fragen der Innenstadtbelebung, Belangen des Denkmalschutzes, Möglichkeiten des Stadtmarketings, Forderungen nach Umwelt- und Klimaschutz, Vorhaben der Kulturpolitik, der Schaffung und Erhaltung von Bildungsangeboten, Problemen des Stadtverkehrs oder mit Fragen der Zuwanderung und Integration von Migranten. Welche Handlungs- und Aufgabenfelder in der Praxis formuliert werden, zeigt ein Blick auf aktuelle Stadtentwicklungskonzepte. Diese sind nicht zu verstehen als fest umrissene Pläne, die sich „an abstrakten Modellen oder eindimensionalen Ideologien von „Wachstum" oder Schrumpfung [orientieren]", sondern als Strategie, die entsprechend „den konkreten, häufig auch widersprüchlichen Herausforderungen und Entwicklungstrends, denen Städte gegenwärtig ausgesetzt sind," entwickelt wird (Heinz 2004: 14).

Zivilgesellschaft konkret: Bürgerstiftungen als Akteure der Stadtentwicklung

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Perspektive Mönchen 1998

INSEK Dresden 2002

SteK Stuttgart 2 0 0 6

Beschäftigung und wirtschaftliche Prosperität sichern und fördern

Die Wirtschaftsentwicklung als Basis der Stadtentwicklung fördern

Wirtschaftliche Standortfaktoren ausbauen

Kooperation in der Region verbessern

Die Ausstrahlung der Stadt nach innen und nach auBen fördern

Kooperation innerhalb der Region stärken

Sozialen Frieden durch soziale Kommunalpolitik sichern

Dresden - „Europäische Stadt"

Nachhaltigkeit als Leitprinzip der Stadtentwicklung

Kultur stärken

Das Kulturangebot erhalten

Kulturelle Vielfalt intensiv fördern

Zukunftsfähige Siedlungsstrukturen durch qualifizierte Innenentwicklung

Vorrangig die Innenstadt entwickeln und fördern

Innenentwicklung hat Vorrang

Münchener Stadtgestalt bewahren - Neue Architektur fördern

Die Wohnungsangebote qualitativ und quantitativ an den Bedarf anpassen

Vielfältige Wohnqualitäten sichern

Mobilität für alle erhalten und verbessern

Eine leistungsfähige Stadtverkehrsstruktur gewährleisten

Mobilität stadtverträglich gestalten

Inneren Frieden durch Sicherheits-, Bildungs-, Kultur-, Sozialpolitik sichern

Die Sozialstruktur in den Stadtteilen stabilisieren

Sozialen Frieden und Zusammenhalt fördern

Chancen der Neuen Medien nutzen

Das Bildungs-, Sozial- und Sportangebot qualifizieren

Hochwertige Bildungsmöglichkeiten erhalten und weiterentwickeln

Ökologische Qualitäten entwickeln - natürliche Ressourcen sichern

Die Einheit von Stadt und Landschaft erhalten und fortentwickeln

Natur und Landschaftsräume sichern und gestalten

Stadtteile durch Stadtteilentwicklung stärken Freizeitwert Münchens sichern Abbildung 1: Handlungsfelder der Stadtentwicklung in den Stadtentwicklungskonzepten München, Dresden und Stuttgart (Quelle: Wolf 2009: 25)

Betrachtet man beispielhaft die Stadtentwicklungskonzepte für München, Dresden und Stuttgart, so wird in allen drei Konzepten eine große Fülle an zu bewältigenden Herausforderungen und Aufgaben beschrieben. Das Spektrum der Aufgaben umfasst die Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung, die Stabilisierung von Sozialstrukturen durch die Bildungs-, Kultur- und Sozialpolitik, die Sicherung der Wohnqualität und die Entwicklung von Bildungsmöglichkeiten. Darüber hinaus werden Themen wie Nachhaltigkeit bzw. Umwelt- und Naturschutz als aktuelle Handlungsfelder benannt sowie ein regionaler, überregionaler oder, wie das Beispiel Dresden zeigt, internationaler Aufgabenbezug hergestellt. Die Aufgaben können insgesamt als höchst umfangreich und komplex bezeichnet werden (vgl. Berding 2006: 172).

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Stadtentwicklung bezieht sich also nicht nur auf die räumlichen Veränderungen einer Stadt, sondern besitzt darüber hinaus eine strukturelle Dimension. Möchte man die Entwicklung bzw. den Wandel einer Stadt erfassen, so können verschiedene Dimensionen unterschieden werden, die die Entwicklung einer Stadt prägen (vgl. Friedrichs 2005: 1059f.; Hall/Pfeiffer 2000: 65). Dazu zählen: • • • • • •

eine demographische Dimension, die Bezug nimmt auf die natürliche Bevölkerungsentwicklung und Migration, eine ökonomische Dimension, die sich unter anderem auf den Wandel der Beschäftigten- und Wirtschaftsstruktur bezieht, eine soziale Dimension, die zum Beispiel Fragen zu Bildung, Kultur oder sozialen Konflikten beinhaltet, eine ökologische Dimension, die unter anderem die Entwicklung von Klima, Boden und Wasserhaushalt umfasst, eine fiskalische Dimension, die sich auf die Bilanz von städtischen Einnahmen und Ausgaben bezieht sowie eine politische Dimension, die zum Beispiel Maßnahmen der Wirtschaftsförderung oder die Einbeziehung anderer Akteure in Prozesse der Stadtentwicklung beinhaltet.

Mit diesen Dimensionen lassen sich die Veränderungen in den Strukturen einer Stadt beschreiben, sie sind zugleich aber auch Determinanten, die Einfluss auf die Entwicklung von Stadt und Region haben. Bezogen auf den Begriff Entwicklung ergeben sich aus den vorgenannten Dimensionen drei wichtige Aspekte: Erstens legt die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Dimensionen nahe, dass Stadtentwicklung ein dynamischer, nie abgeschlossener oder „fertiger" Prozess ist (vgl. Stratmann 1999: 27). Zweitens ist angesichts der demographischen und ökonomischen Entwicklungen mittlerweile unumstritten, dass vielerorts in Zukunft nicht „Wachstum" im Sinne von Stadterweiterung im Mittelpunkt der Stadtentwicklung stehen wird, sondern eine Schrumpfung aufgrund eines Weniger an Menschen, an Wirtschaftskraft, an Arbeitsplätzen, an Nachfrage usw. (vgl. z.B. Hannemann 2002 sowie den Beitrag von Liebmann in diesem Band). Drittens liegt es schließlich in Anbetracht abnehmender finanzieller Steuerungsressourcen nahe, dass Stadtentwicklung kaum über Pläne allein und nur durch einen Akteur, der diese Pläne macht, beeinflussbar ist.

2.

Der „Wandel im Planungsverständnis" und die „Entdeckung der Akteure"

Die Erkenntnis, dass an der Entwicklung von Stadt und Region viele Akteure mitwirken, ergibt sich nicht nur aus externen und aktuellen ökonomischen Zwängen, sondern ist vor allem das Resultat eines gewandelten Planungsverständnisses. Gerd Albers (1969, 1993) hat hierzu wesentliche Grundlagen geschaffen, die von Klaus Seile (1996, 2005) modifiziert und fortgeschrieben wurden. Es ist wichtig, dies in

Zivilgesellschaft konkret: Bürgerstiftungen als Akteure der Stadtentwicklung

103

Erinnerung zu rufen, denn es ist ein wesentlicher Erklärungsansatz dafür, warum Planerinnen und Planer überhaupt auf Bürgerinnen und Bürger und deren Engagement aufmerksam geworden sind. Im Rückblick lässt sich stark verkürzt festhalten, dass Planung und Politik in den frühen Phasen der Planungsentwicklung in vielen Handlungsfeldern von einem sehr einfachen „Weltbild" ausgingen: Hier die Planer - dort die zu beplanenden Gebiete bzw. die .Adressaten" oder „Zielgruppen" ihrer Planungen (vgl. Seile 1996: 62). Dieses Bild wurde komplexer, als sich Planerinnen und Planer zunehmend der Tatsache bewusst wurden, dass zum Beispiel auch der Immobilien- und Kapitalmarkt und die Baubranche maßgeblich mitbestimmen, was in Stadt und Region geschieht. „Der Ausgangspunkt wurde bi-polar: Staat und Markt. Räumliche Entwicklung ist danach Resultierende der Aktivitäten in beiden Feldern" (Seile 1996: 62). So gerieten Public-Private-Partnerships ins Blickfeld: Durch die Einbindung privater Investitionsinteressen sollten und sollen öffentliche Aufgaben effektiver bewältigt werden. Öffentlich-private Partnerschaften galten als Hoffnungsträger von Stadtemeuerungsvorhaben oder Strategien zur Wirtschaftsentwicklung und Imageverbesserung der Städte und sie gelten auch heute noch „vielen als Allheilmittel', wenn es um die Realisierung und/oder den Betrieb umfangreicher baulich-infrastruktureller Vorhaben geht" (Heinz 2006: 146). „Die Stadtentwicklung, die seit den 60er und frühen 70er Jahren das vorherrschende Metier von Planungsabteilungen der öffentlichen Verwaltung war, unterliegt somit zumindest rhetorisch einem privatwirtschaftlich geprägten Strukturbruch" (Heibrecht 1994: 2). Darüber hinaus erweiterte sich durch die Aktivitäten der verschiedenen alternativen und sozialen Bewegungen, die sich im Laufe der 1980er Jahre von Protestgruppen zu Selbsthilfegemeinschaften wandelten, das Planungsverständnis zusätzlich. Das Aktivitätsspektrum dieser Gruppen und Bürgerinitiativen „reichte vom gemeinsam erneuerten Hof über den Selbsthilfebeitrag bei der Erneuerung einer Siedlung bis hin zum Engagement für eine andere Quartiersentwicklung" (Seile 1996: 62, vgl. z.B. auch Froessler 1994). Damit erweiterte sich das Bild um einen dritten „Pol", nämlich die (zivile) Gesellschaft, verstanden als die Summe der privaten Haushalte bzw. ihre Zusammenschlüsse zum Beispiel in Nachbarschaften, Bürgerinitiativen oder Vereinen. Damit wird deutlich: Stadt und Landschaft verändern sich im Spannungsfeld von privaten Haushalten, Märkten und zahlreichen kommunalen bzw. öffentlichen Akteuren. Wer sich also mit räumlichen Entwicklungen auseinandersetzt, „muss in sein Denken und Handeln stets auch die Überlegungen und Aktivitäten der anderen Beteiligten einbeziehen" (Seile 1996: 62).

104

3.

Andre Christian Wolf

Bürgerinnen und Bürger als Akteure der Stadtentwicklung

Bürgerinnen und Bürger bzw. die Bewohnerinnen und Bewohner eines Quartiers, einer Stadt oder einer Region können, stark vereinfacht gesagt, auf zwei Wegen an der Stadtentwicklung mitwirken: Über die Bürgerbeteiligung an Vorhaben der Stadtentwicklung, welche in der Regel von öffentlichen bzw. kommunalen Akteuren initiiert und betreut werden, sowie mit eigenständigen Beiträgen, die beispielsweise durch freiwilliges Engagement in Vereinen oder Initiativen auf die Verbesserung des Wohnumfeldes, das Schaffen oder Erhalten kultureller oder sozialer Einrichtungen oder den Schutz von Natur und Landschaft hinwirken sollen. Bei der „klassischen" Bürgerbeteiligung geht es vor allem darum, Planungsbetroffene zu Beteiligten zu machen und ihr Alltagswissen zu nutzen. Bürger werden dabei als „Kunden" städtebaulicher Maßnahmen, als „Experten" für ihren Lebens- und Arbeitsraum sowie als Kooperationspartner für mögliche gemeinsame Vorhaben angesehen (vgl. BBR 2005: 20). Bürgerbeteiligung und Beteiligungsverfahren gehören seit vielen Jahren in zahlreichen Städten und Gemeinden und für viele Handlungsfelder der Stadtentwicklung zum planerischen Alltag, beispielsweise im Rahmen von Stadterneuerungsvorhaben, Wohnumfeldkonzepten oder Projekten der Verkehrsplanung. Gleichwohl: Trotz vieler Positivbeispiele und eines mittlerweile umfangreichen Repertoires an Beteiligungsmethoden (vgl. z.B. Bischoff/Selle/Sinning 2005) sei angemerkt, dass die Praxis der Bürgerbeteiligung vor Ort in vielen Fällen alles andere als befriedigend verläuft, da die zeitliche, sachliche und räumliche Reichweite der Beteiligung oftmals begrenzt bleibt. Zudem ist klar, dass sich Betroffene im Rahmen von Beteiligungsprozessen sowohl „gegen" etwas wenden („verhindern") als auch „für" etwas sein können („verändern", „verbessern", „erreichen"). Dabei ist die Unterscheidung, ob es sich um „Verhindern" oder „Erreichen" handelt, natürlich perspektivenabhängig. Das kann zu vielen Missverständnissen, wechselseitigen Enttäuschungen oder gar Vorurteilen führen, etwa über „die Politik", „die Verwaltung", „die Investoren" oder „die Bürger". Solche Vorurteile können sich in der Folge tendenziell verfestigen, womit eine „Abwärtsspirale" in Gang gesetzt wird, die in letzter Konsequenz auch Auswirkungen auf den Umgang mit freiwilligem Engagement von Bürgerinnen und Bürgern im Rahmen der Stadtentwicklung hat (vgl. Selle/Hüttinger 2008). Bei den eigenständigen Beiträgen von Bürgerinnen und Bürgern geht es um deren bürgerschaftliche Partizipation als Akteure der Stadtentwicklung. Hierbei geht es nicht um die Beteiligung und Mitwirkung an „öffentlichen" Planungsvorhaben, sondern um die Eigenaktivitäten von Bürgerinnen und Bürgern. Für dieses Engagement werden sowohl traditionelle Begriffe wie das „Ehrenamt" als auch neuere wie „freiwilliges Engagement" verwendet. Auch wenn sich eine einheitliche und eindeutige Verwendung und Abgrenzung der Begriffe „bürgerschaftliches Engagement", „ehrenamtliches Engagement" und „freiwilliges Engagement" in der Literatur nicht finden lässt, ist allen Begriffen gemein, dass es sich um Tätigkeiten handelt, die

Zivilgesellschaft konkret: Bürgerstiftungen als Akteure der Stadtentwicklung

• • • • •

105

freiwillig, nicht auf materiellen Gewinn gerichtet sowie am Gemeinwohl orientiert sind, dabei öffentlich bzw. im öffentlichen Raum stattfinden und in der Regel gemeinschaftlich bzw. kooperativ ausgeübt werden (vgl. Kösters 2002: 19; vgl. zum bürgerschaftlichen Engagement im kommunalen Kontext auch den Beitrag von Reichwein und Trauth-Koschnick in diesem Band).

Bürgerschaftliches Engagement schließt die politische, soziale sowie gesellschaftliche Ebene mit ein und umfasst ein breites Spektrum an Aktivitäten und Formen des Engagements. Dabei handelt es sich zum Beispiel um • • •



die Mitgliedschaft sowie die aktive Mitarbeit in Leitungs- und Führungsaufgaben in Vereinen, Verbänden, Gewerkschaften und politischen Gremien, die freiwillige, unbezahlte Mitarbeit in karitativen oder gemeinwohlorientierten Einrichtungen, wie etwa Schulen, Museen oder Bibliotheken, die Beteiligung an Protestaktionen im Rahmen der Bürgerinitiativbewegung oder der neuen sozialen Bewegungen, wie etwa der Anti-Atomkraft- oder der Frauenbewegung, sowie das finanzielle Engagement von Bürgerinnen und Bürgern sowie Unternehmen in Form von Spenden und (Zu-)Stiftungen (vgl. Zimmer/Vilain 2005: 9).

Orte und Infrastruktur für bürgerschaftliches Engagement sind die zahlreichen Bürgerinitiativen, Selbsthilfegruppen, Stiftungen und Vereine in Deutschland. Diese haben im Zuge der Ausweitung des Akteursspektrums sowie in Zusammenhang mit der Diskussion über Bürgerengagement und Bürgerorientierung seit Anfang der 1990er Jahre zunehmend an Bedeutung und Aufmerksamkeit gewonnen. Sie werden als intermediäre Organisationen, Dritte-Sektor-Organisationen oder Nonprofit-Organisationen bezeichnet. Dabei wird beobachtet, dass das Engagement in „klassischen" Betätigungsformen wie Parteien, Kirchen, Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbänden seit einigen Jahren rückläufig ist, während neue Formen der Selbstorganisation in Bürgerinitiativen, Selbsthilfegruppen oder anderen Netzwerken wachsenden Zulauf verzeichnen (vgl. Reinert 2000: 59). Einrichtuncjstypus Freiwilligenagenturen/-zentren Seniorenbüros

Art?ah! Ί

ca. 360 ca. 250

Bürgerstiftungen

237

Selbsthilfekontaktstellen

212

Abbildung 2: Anzahl engagementfördernder Einrichtungen in Deutschland (Quelle: Darstellung nach Jakob 2009)

106

Andre Christian Wolf

In den letzten 20 Jahren sind daher vermehrt Einrichtungen und Zusammenschlüsse entstanden, die sich der Aktivierung bürgerschaftlichen Engagements und der Modernisierung der Engagementförderung widmen. Ziele sind die Gewinnung und Aktivierung engagierter Bürgerinnen und Bürger, der Aufbau neuer Kooperationsstrukturen zu anderen lokalen Akteuren wie Vereinen, Verbänden und Unternehmen, die Anerkennung bürgerschaftlichen Engagements sowie die Entwicklung eigener, innovativer Projekte, mit denen drängende Probleme im Gemeinwesen bewältigt werden sollen (vgl. Jakob 2009). Der Aufbau dieser Einrichtungen und Anlaufstellen zur lokalen Engagementförderung begann Ende der 1980er Jahre mit den Selbsthilfekontaktstellen. Angestoßen durch ein Bundesmodellprojekt kamen in den 1990er Jahren zunächst Seniorenbüros, später die ersten Freiwilligenagenturen und Freiwilligenzentren hinzu. Mittlerweile hat sich die „Landschaft" engagementfördernder Einrichtungen zunehmend ausdifferenziert. Ebenfalls Ende der 1990er Jahre wurden, angeregt durch das Vorbild der amerikanischen Community Foundations, die ersten Bürgerstiftungen in Deutschland gegründet, für die seitdem ein regelrechter Gründungsboom verzeichnet werden kann: Bundesweit gibt es seit Gründung der Stadt Stiftung Gütersloh im Jahr 1996 mittlerweile über 200 Bürgerstiftungen. Diese gehören gegenwärtig zu den am schnellsten wachsenden Segmenten des deutschen Stiftungswesens.

4.

Bürgerstiftungen als neue Akteure im kommunalen Umfeld

Bürgerstiftungen werden als „neuartiger Organisationstypus für bürgerschaftliches Engagement" (Kaper 2006: 21) und als „Motor der Zivilgesellschaft" (Reinfrank 2007) bezeichnet. Bürgerstiftungen seien angesichts der Notwendigkeit, neben Staat und Markt auch einen handlungsfähigen Dritten Sektor zu entwickeln, „genau die richtigen Organisationen zur richtigen Zeit" (Nährlich 2002: 21), und sie seien „wie kaum eine andere Institution in der Lage, eine große Vielfalt gemeinnütziger Aktivitäten zu fördern, drängende soziale Probleme in einem Gemeinwesen zu bekämpfen oder ganz einfach die Lebensqualität vor Ort zu erhöhen" (Walkenhorst 2005: 109). Bürgerstiftungen scheinen also so etwas wie der „Deus ex machina" für Zivilgesellschaft und Stadtentwicklung zu sein. Grundsätzlich verstehen sich Bürgerstiftungen als unabhängige und gemeinnützige Organisationen zur Förderung sozialer, kultureller oder ökologischer Belange in einem bestimmten, lokal oder regional abgegrenzten Tätigkeitsbereich. Erklärtes Anliegen von Bürgerstiftungen ist es, bürgerschaftliches Engagement in Form von finanziellem und persönlichem Engagement für das örtliche Gemeinwesen zu mobilisieren. Das Stiftungskapital wird in der Regel von mehreren Stiftern und Zustiftem aufgebracht, wobei mit den Erträgen nicht nur externe Vorhaben, sondern auch eigene Projekte gefördert und umgesetzt werden (vgl. Wolf 2009: 83ff.).

Zivilgesellschaft konkret: Bürgerstiftungen als Akteure der Stadtentwicklung

107

Bürgerstiftungen gibt es in Klein-, Mittel- und Großstädten und sie existieren - wie zum Beispiel in Köln, Berlin und Bergisch-Gladbach - auch in Form von Stadtbezirks- oder Stadtteilstiftungen oder als regional tätige Bürgerstiftungen, wie zum Beispiel im Westmünsterland oder in der Region Jena-Saale-Holzland. Die „Einwohnerreichweite" von Bürgerstiftungen reicht von gut 1.800 Einwohnern in der Gemeinde Schwalenberg bis hin zu einer Bürgerschaft von rund 3,5 Millionen Menschen in Berlin. Abgesehen vom grundsätzlichen Reiz des Neuen sind die Gründe, warum Bürgerstiftungen unter der Vielzahl bürgerschaftlicher Organisationen besondere Neugier hervorrufen, sehr vielfältig. Einige der positiven Assoziationen mit Bürgerstiftungen seien nachfolgend genannt: •





Bürgerstiflungen beflügeln Hoffnungen, dass sie für „neues" Geld sorgen. Die Popularität von Bürgerstiftungen ist mitunter Ausdruck der Hoffnung, durch das Vehikel Bürgerstiftung zusätzliche, „neue" Mittel für soziale, kulturelle oder Umweltprojekte einwerben zu können, die aus anderen - meist staatlichen - Quellen nicht oder nicht mehr finanziert werden können. Ein Vorteil wird darin gesehen, dass sie ein dauerhaftes Stiftungskapital besitzen und nicht auf jährliche Zuwendungen angewiesen sind (vgl. Feldstein 1999: 222). Dies ist vor allem deshalb interessant, weil es wichtig erscheint, bürgerschaftliches Eigenkapital aufzubauen, um in vielen Bereichen unabhängiger von öffentlichen Fördermitteln zu werden. Dies gilt zum Beispiel besonders für Maßnahmen des Quartiersmanagements oder für Projekte aus dem Programm „Soziale Stadt". Bürgerstiflungen beflügeln Hoffnungen, dass sie für „neues" Engagement sorgen. Viele Bürgerstiftungen haben zum Ziel, neben der Vergabe von Fördermitteln auch eigene Projekte zu initiieren und die Bürgerinnen und Bürger zu einer aktiven Mitgestaltung ihrer Städte zu mobilisieren. Dieses Bemühen um Formen der Beteiligung und demokratische Willensbildungsprozesse erzeugt Spannung, weil sie der klassischen Stiftung eigentlich fremd sind, hier aber neu und wesentlich erscheinen (vgl. Strachwitz 1999b: 28). Bürgerstiftungen beflügeln Hoffnungen, dass sie für „neue" Projekte sorgen und als „neue" Träger von sozialen und kulturellen Einrichtungen fungieren können. Während kommunale Einrichtungen in der Regel als verlässlich, aber zumeist recht unflexibel gelten, wenn es um rasche Veränderungen oder die Wünsche spezieller Gruppen geht (vgl. Evers 2006: 50), sind Bürgerstiftungen als zivilgesellschaftliche Akteure offenbar in der Lage, „innovative Projekte zu fördern, die der Staat oder Markt beispielsweise aufgrund ihrer Neuartigkeit nicht unterstützen kann bzw. will" (Hinterhuber 2005: 185).

Darüber hinaus zeigt sich in der Praxis, dass es immer mehr Bürgerstiftungen gelingt, ihr Startkapital über Zustiftungen zu erhöhen: Gut zwei Dutzend Bürgerstiftungen verfügen bereits über ein Vermögen von mehr als 1 Million Euro. Das Gesamtvermögen aller Bürgerstiftungen wird derzeit auf über 130 Millionen Euro geschätzt (vgl. Aktive Bürgerschaft 2009). Angesichts der andauernden Dynamik bei den Stiftungs-

108

Andre Christian Wolf

neugründungen und beim Vermögenszuwachs werden Bürgerstiftungen - zumindest quantitativ - zu einem zusehends interessanten Akteur und Partner in Quartier, Stadt und Region.

5.

Tätigkeitsfelder von Bürgerstiftungen

Was machen Bürgerstiftungen nun genau? Die Erfassung und Analyse der Stiftungszwecke stellt die zentrale Kategorie dar, um Aussagen über die Tätigkeiten von Stiftungen treffen zu können (vgl. Sprengel 2001: 54). Die Analyse der Satzungszwecke von Bürgerstiftungen zeigt folgendes Bild: Die große Mehrheit der Bürgerstiftungen hat sich - in dieser Reihenfolge - den Themen Kinder und Jugend (90,3 °/o), Kunst und Kultur (89,7 °/o) sowie Bildung und Erziehung (86,5 °/o) verschrieben. Fast drei Viertel aller Bürgerstiftungen benennen darüber hinaus die Altenhilfe sowie den Natur- und Umweltschutz als Stiftungszwecke. Auch der Landschafts- und Denkmalschutz wird von mehr als jeder zweiten Bürgerstiftung gefördert. Die Ergebnisse einer Befragung von Bürgerstiftungen hinsichtlich ihrer tatsächlichen Tätigkeiten im Jahr 2006 zeigen einige Abweichungen von der Verteilung der Stiftungszwecke, wie sie sich aus den Stiftungssatzungen ergeben. Die Stiftungswirklichkeit sieht also anders aus als die beabsichtigten Ziele und Zwecke. Zwar ist dies nicht weiter überraschend, weil die Zweckvielfalt eines der wesentlichen Merkmale von Bürgerstiftungen ist und es nahe liegt, dass Bürgerstiftungen nicht alle Stiftungszwecke gleichzeitig und gleichgewichtig verfolgen und daher thematische Schwerpunkte setzen. Wenn es aber um die Erfassung der Realitäten und Potenziale von bürgerschaftlichen Organisationen geht, ist es trotz allem ein wenn auch bescheidener Hinweis darauf, dass eben diese Erfassung nicht einfach ist und genaues Hinsehen erforderlich macht.

Zivilgesellschaft konkret: Bürgerstiftungen als Akteure der Stadtentwicklung

109

Jugend

90,3 89,7

Kunst + Kultur Bildung + Erziehung

81 .,5 374,

Altenhilfe Natur + Umwelt

13 73,

60

Landschafts- + Denkmalschutz Sport • 4

Wissenschaft + Forschung

J 43,2

Internationales, Völkerverständigung Brauchtum- + Heimatpflege

3 41,9

Gesundheitswesen

i8,7

allg. mildtätige Zwecke

• 23,

Soziale Dienste/ Zwecke allg.

D 1 7,4

Integration Flüchtl., Aussiedl., Behinderte

D14

Tierschutz

10,3

Religion + Kirche

I7

Kriminalprävention

I s.

Verbraucherschutz

4.5

Gleichberechtigung

]i,3

10

20

30

40

50

60

70

80

90

100

Abbildung 3: Stiftungszwecke nach Satzungen der Bürgerstiftungen im Jahr 2006, Angaben in Prozent (Quelle: Wolf 2009: 139; n=155, Mehrfachnennungen möglich)

Bezieht man die Ausgaben auf die jeweilige Anzahl der Projekte, die gefördert oder von Bürgerstiftungen selbst durchgeführt wurden, so zeigt sich, dass bei einer solchen Betrachtung insbesondere der Tätigkeitsbereich Kinder und Jugend zurückfällt: Die durchschnittlichen Ausgaben für Jugendprojekte sind mit 2.548 Euro für geforderte Projekte bzw. 10.391 Euro für operative Projekte geringer als zum Beispiel die Ausgaben für Projekte im Bereich Gesundheitswesen. Gerade offensichtlich kostenintensive Vorhaben im Bereich des Gesundheitswesens sowie im Bereich des Landschafts- und Denkmalschutzes rücken bei dieser Betrachtung sehr weit nach vome. Für diese Themenbereiche gilt, dass derartige Projekte zwar vergleichsweise selten gefördert werden, jedoch relativ hohe Projektsummen von Bürgerstiftungen beziehen.

110

Andre Christian Wolf

Durchschnittliche Ausgaben für Förderprojekte ( n = 5 4 )

Durchschnittliche Ausgaben für operative Projekte ( n = 4 0 )

Gesundheitswesen

10.289 Euro

1

Landschafts- und Denkmalschutz

59.934 Euro

2

Kriminalprävention

6.042 Euro

2

Gesundheitswesen

15.375 Euro

3

Bildung und Erziehung

5.033 Euro

3

Natur und Umwelt

11.450 Euro

3

Landschafts- und Denkmalschutz

5.033 Euro

4

Kinder und Jugend

10.391 Euro

5

Kunst und Kultur

4.799 Euro

5

Kunst und Kultur

6

Altenhilfe

4.712 Euro

6

Altenhilfe

7.079 Euro

7

Soziale Dienste

3.610 Euro

7

Bildung und Erziehung

6.362 Euro

8

Kinder und Jugend

2.548 Euro

8

Integration

4.117 Euro

9

Sport

2.275 Euro

9

Brauchtum- und Heimatpflege

1.410 Euro

Brauchtum- und Heimatpflege

2.202 Euro

10

Allgemein mildtätige Zwecke

426 Euro

11

Internationales

300 Euro

1

10

7.356 Euro

11

Natur und Umwelt

1.845 Euro

12

Integration

1.553 Euro

Sport

-

13

Wissenschaft und Forschung

1.250 Euro

Soziale Dienste

-

14

Internationales

1.130 Euro

Religion und Kirche

-

15

Religion und Kirche

775 Euro

Kriminalprävention

-

16

Allgemein mildtätige Zwecke

338 Euro

Wissenschaft und Forschung

-

-

Tierschutz

-

Tierschutz

Verbraucherschutz

-

Verbraucherschutz

-

Gleichberechtigung

-

Gleichberechtigung

-

Abbildung 4: Durchschnittliche Ausgaben von Bürgerstiftungen nach Themenbereichen im Jahr 2006 (Quelle: Wolf 2009: 145) In der Gesamtschau zeigt sich: Bürgerstiftungen verfolgen unabhängig von ihrer finanziellen Ausstattung eine breite Palette an Zwecken. Die Themen Kinder und Jugend, Kunst und Kultur sowie Bildung und Erziehung bildeten im Jahr 2006 sowohl bei den geforderten als auch bei den operativen Projekten die Tätigkeitsschweipunkte von Bürgerstiftungen. Darüber hinaus verfolgen sie ein großes Spektrum an weiteren Zwecken und Projekten, die deutliche Bezüge zu Themenfeldern der Stadtentwicklung erkennen lassen. Beispielhaft können hier genannt werden: der Umbau eines alten Fabrikgebäudes in ein Kultur- und Veranstaltungszentrum, Projekte zu Quartiersmanagement und Integration oder die Renaturierung eines Flussbettes und damit verbundene Vorhaben zur Umweltbildung und Umweltkommunikation. Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Entwicklung von Stadt und Region als ein Grundanliegen von Bürgerstiftungen auszumachen ist, was nicht zuletzt darin seinen Ausdruck findet, dass dies bei einem Teil der Bürgerstiftungen sogar den Weg bis in

Zivilgesellschaft konkret: Bürgerstiftungen als Akteure der S t a d t e n t w i c k l u n g

111

die Stiftungszwecke hinein gefunden hat. Eine Vielzahl von Bürgerstiftungen will Stadt und Region „bewahren", „fördern", „mitgestalten" oder „weiter entwickeln". Ihr inhaltliches Potenzial ist dabei groß und dynamisch zugleich.

6. Leistungsfähigkeit von Bürgerstiftungen Stiftungen werden in der öffentlichen Wahrnehmung vor allem mit Vermögen, dem Einwerben von Zustiftungen sowie der Vergabe von Fördermitteln verbunden. Die wachsende Zahl an Bürgerstiftungen, das dynamische Vermögenswachstum und die bisher verwirklichten Projekte klingen zunächst verheißungsvoll und können der Finanzierung von Vorhaben der Stadtentwicklung und der Finanzierung von Bürgerengagement neue Perspektiven eröffnen. Doch die Hoffnungen müssen relativiert werden. Die nähere Analyse der Bürgerstiftungsvermögen zeigt, dass sowohl die Stiftungsvermögen als auch die Spendeneinnahmen und die Ausgaben zum Teil stark konzentriert sind. So verfügen allein die zehn kapitalstärksten Bürgerstiftungen über rund 41,8 °/o des Gesamtvermögens aller Bürgerstiftungen. Dagegen betrug das Vermögen im Jahr 2006 bei mehr als der Hälfte der Stiftungen weniger als 250.000 Euro. Dementsprechend beliefen sich die Ausgaben der meisten Stiftungen auf weniger als 15.000 Euro im Jahr, und jede vierte Stiftung konnte sogar nur kleine Summen von maximal 5.000 Euro für ihre Projekte aufwenden.

Fördereusgaben

2005 (n = 7 3 )

2006 (n = 104)

bis 5.000 Euro

21,9%

27,9%

5.001 bis 10.000 Euro

20,6%

13,4%

10.001 bis 20.000

Euro

13,7%

21,2%

20.001 bis 50.000

Euro

26,0%

15,4%

50.001 bis 100.000

Euro

11,0%

12,50/o

4,1%

6,7%

2,7 %

2,9%

100.001 bis 200.000 über 200.001

durchschnittliche

Euro

Euro

Förderausgaben

Median Spannweite

32.754 Euro

37.070 Euro

17.900 Euro

14.077 Euro

5 0 0 bis 251.000 Euro

700 bis 361.000 Euro

A b b i l d u n g 5: Förderausgaben v o n Bürgerstiftungen in d e n Jahren 2 0 0 5 u n d 2 0 0 6 n a c h Größ e n k l a s s e n (Quelle: W o l f 2 0 0 9 : 130)

112

Andre Christian Wolf

Die finanzielle Leistungsfähigkeit von Bürgerstiftungen ist oft deutlich niedriger als die von Stiftungen insgesamt. Sie liegt hinsichtlich des Ausgabenvolumens näherungsweise bei der Leistungsfähigkeit von lokal tätigen Vereinen. Hinzu kommt, dass sowohl die Stiftungsvermögen als auch die Spendeneinnahmen und Ausgaben von Bürgerstiftungen in Ostdeutschland in der Regel deutlich niedriger sind als die von Stiftungen in Westdeutschland - selbst wenn ostdeutsche Bürgerstiftungen diesbezüglich allmählich aufholen (vgl. Hellmann/Nährlich 2008). Was lässt sich nun mit Blick auf das Potenzial und die Leistungsfähigkeit von Bürgerstiftungen festhalten? Ausgehend von der Analyse der aktuellen Stiftungsvermögen lässt die starke Ballung sowohl der Vermögen als auch des Vermögenswachstums auf eine starke Konzentration der Leistungsfähigkeit von Bürgerstiftungen schließen. Es gibt einige wenige „potente" Bürgerstiftungen, die über eine vergleichsweise „gute" Leistungsfähigkeit verfugen; die meisten Bürgerstiftungen sind hinsichtlich ihrer Vermögens· und Ausgabenstruktur jedoch eher als klein zu bezeichnen. Für die Mehrheit der Bürgerstiftungen ist es daher voraussichtlich noch ein langer Weg zu einem Eigenkapital, dessen Höhe sicherstellt, dass daraus sowohl Projekte als auch personelle Ressourcen finanziert werden können. Bürgerstiftungen können demnach eher als eine langfristige Investition in die Zukunft von Städten und Regionen verstanden werden, die erst noch weiter ausgebaut werden müssen und deren Erträge vor allem künftigen Generationen zugute kommen werden. Bisher jedenfalls lassen die meisten Bürgerstiftungsvermögen nur geringe Förder- und Projektsummen erwarten, was sich auch in der starken Konzentration der Förderausgaben widerspiegelt. Daher muss bei den mit Bürgerstiftungen verbundenen Hoffnungen und bei allem Optimismus im Hinblick auf deren zukünftige Entwicklung vor überzogenen Erwartungen gewarnt werden. Positiv gewendet kann vor dem Hintergrund der Entwicklung des Stiftungssektors generell sowie durch die Erwartung von großen Vermögenswerten, die durch Erbschaften weitergereicht werden, die Leistungsfähigkeit von Bürgerstiftungen eigentlich nur größer werden. Außerdem verfügen Bürgerstiftungen nicht nur über finanzielle Ressourcen, mit denen sie zum Gemeinwesen beitragen können: Sie wollen und können auch personelle Kapazitäten und deren zeitlichen Einsatz für das Gemeinwesen mobilisieren. Wie sieht es nun mit dem „neuen" Engagement aus, das mit Bürgerstiftungen in Verbindung gebracht wird? Im Hinblick auf die „ehrenamtliche Potenzialdimension" zeigt sich, dass im Jahr 2006 pro Bürgerstiftung im Durchschnitt etwa 23 Personen ohne bezahltes Beschäftigungsverhältnis tätig waren. Dabei lassen sich sowohl Bürgerstiftungen mit kleinen ehrenamtlichen Teams von bis zu fünf Freiwilligen identifizieren als auch solche, die über einen Mitarbeiterstab von 10, 20 oder sogar über 50 Ehrenamtlichen verfugen. Freiwilliges Engagement in Bürgerstiftungen erschöpft sich also keinesfalls in Gremienarbeit, sondern Bürgerstiftungen bieten Möglichkeiten für ganz unterschiedliche Formen der Mitarbeit.

Zivilgesellschaft: konkret: Bürgerstiftungen als Akteure der Stadtentwicklung

113

Allerdings zeichnet sich Folgendes ab: Es sind viele, aber nicht viele „neue" Bürger, die sich in Bürgerstiftungen engagieren. Über 80°/o der Gremienmitglieder sind auch in weiteren Stiftungen, Vereinen oder Initiativen ehrenamtlich tätig und somit erfahrene Funktionsträger. Knapp drei Viertel der Vorstände und Beiräte sind Männer mit einem Universitätsabschluss. Ein Großteil der Personen verfügt über ein gesichertes Einkommen und teilt zahlreiche Ansichten und Werte, so dass sich eine äußerst homogene Gruppe an Engagierten herauskristallisiert, die womöglich eher eine „elitäre" und institutionalisierte Zivilgesellschaft repräsentiert. Insofern darf die Mobilisierung und Förderung von „neuem" Bürgerengagement durch Bürgerstiftungen nicht überschätzt werden. Dies bestätigt auch eine Untersuchung von Eva Maria Hinterhuber und Philipp Hoelscher (2005: 8): .Außerdem ist es den Bürgerstiftungen bisher kaum gelungen, breite Kreise der Bevölkerung in die Arbeit der Stiftungen einzubinden und damit ihren Charakter einer „Stiftung von Bürgern für Bürger" zu stärken. (...) Entsprechend schwer fällt es den meisten Bürgerstiftungen bisher, eine führende Rolle im Gemeinwesen einzunehmen." Dies soll das Engagement in Bürgerstiftungen nicht schmälern, zeigt aber, dass die Hoffnungen auf ein „neues" Engagement relativiert werden müssen.

7.

Beiträge von Bürgerstiftungen über das „Scheckausfüllen" hinaus

Die Beiträge von Bürgerstiftungen zur Entwicklung von Stadt und Region erschöpfen sich jedoch nicht in der Finanzierung und Förderung gemeinnütziger Projekte und dem damit verbundenen bürgerschaftlichen Engagement. Im Zentrum des jeweiligen Stiftungshandelns stehen neben dem Vermögensaufbau und der Vergabe von Fördermitteln an Dritte insbesondere die Stiftungsidee und die damit verbundenen geförderten oder operativen, also selbst durchgeführten Projekte. Betrachtet man einzelne Projekte und Aktivitäten genauer (vgl. Wolf 2009: 187ff.), so können Bürgerstiftungen über das reine Geldgeben und das damit verbundene Fördern von Projekten hinaus zum Beispiel Beiträge leisten als •





Stimmungsmesser und Sprachrohr, indem sie sich entwickelnde oder neu entstehende Bedürfnisse lokaler Akteure aufspüren, deren Interessen bündeln und diese in Projekte übersetzen; Arrangeur, indem sie sich als neutrale, unverbrauchte und nicht (partei-)politisch festgelegte Plattform für die Realisierung von Projektideen verschiedener lokaler Akteure anbieten und dabei als Katalysator die Reaktionsgeschwindigkeiten zugunsten der Projektrealisierung begünstigen; Träger sozialer oder kultureller Einrichtungen, indem sie über ihre Rolle als Arrangeur hinaus nicht nur ein Projekt zum Laufen bringen, sondern auch längerfristig Ressourcen für Infrastruktureinrichtungen zur Verfügung stellen;

114



• •

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Vermittler und Moderator, indem sie ihre unabhängige und unverbrauchte Struktur nutzen, um unterschiedliche Akteure miteinander in Verbindung und ins Gespräch zu bringen sowie zum gemeinsamen Handeln zu bewegen; Ermöglicher für Bürgerengagement, indem sie Projekte so zuschneiden, dass sie viele Bürger und Zielgruppen ansprechen und zu freiwilligem Engagement bewegen; Geldsammler, indem sie die Organisation Stiftung gezielt einsetzen, um private Spenden für Projekte zur Entwicklung von Stadt und Region zu sammeln und um dadurch auch eine Identifikation der Spender mit dem Projekt zu erreichen. Überdies können sie die Organisation Stiftung auch dahingehend einsetzen, um an Fördermittel von Organisationen zu kommen, die für öffentliche oder private Akteure nicht erreichbar sind.

Projekte und Beiträge von Bürgerstiftungen, wie etwa den Umbau eines Wasserturms zu einem Jugendcafe, die Renaturierung eines Flussbetts oder das Pflanzen von Bürgerbäumen (vgl. Wolf 2009: 187ff.) als „Innovationen" zu bezeichnen, erscheint dabei als etwas zu hoch gegriffen. „Originalität" wäre wohl eher der Begriff, der dem Anspruch und der Realität der Projekte und Bürgerstiftungen nahe kommt. In der Praxis von Bürgerstiftungen steht nicht unmittelbar Innovation im Vordergrund, sondern die Entwicklung und Erprobung neuer Projekte, Verfahren und Konzepte. In diesem Sinne übernehmen Bürgerstiftungen die Funktion von Begleitern von Veränderungsprozessen bzw. sind sie selbst Akteure der Veränderung. Erkennbar wird darüber hinaus, dass mit dem von Bürgerstiftungen beabsichtigten „Bewahren", „Fördern" und „Mitgestalten" von Stadt und Region nicht nur ein einmaliges Anschieben von Projekten, sondern zuweilen auch eine dauerhafte Finanzierung und Begleitung verbunden ist. Im Unterschied zu der in der Stiftungspraxis sonst üblichen Anschubfinanzierung haben Bürgerstiftungen ganz offensichtlich eines erkannt: Wer Motor in einer Stadt sein will, muss nicht nur anschieben, sondern auch beim Trampeln helfen oder den Sprit zur Verfügung stellen, denn sonst kann der Motor nicht dauerhaft laufen.

8.

Folgerungen

Es liegt nahe, dass aufgrund der gebotenen Kürze und anhand eines einzelnen Beispiels kein vollständiges Bild der Beiträge von Zivilgesellschaft und bürgerschaftlichen Organisationen zur Entwicklung von Stadt und Region entstehen kann. Gleichwohl ergeben sich aus der Betrachtung von Bürgerstiftungen einige Anregungen für eine weitergehende Diskussion zum Thema Zivilgesellschaft, Bürgerengagement und Stadtentwicklung. Zunächst einmal zeigt sich, dass die Erfahrungen mit Bürgerbeteiligung bei Planerinnen und Planern, aber auch bei anderen Akteuren der Stadtentwicklung zur Folge haben, dass eine gewisse Vorsicht und Zurückhaltung gegenüber den Interessen, dem Engagement und den Aktivitäten von Bürgerinnen und Bürgern bestehen. Gerade vor

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diesem Hintergrund ist es umso wichtiger, die Beiträge von bürgerschaftlichen Organisationen aufzudecken und für die Praxis der Stadtentwicklung sichtbar zu machen. Nur so ist es möglich, bei aller Sympathie für das Thema Zivilgesellschaft, Bürgerengagement und Stadtentwicklung, Überschätzungen und Überforderungen zu vermeiden, die dazu führen, dass Erwartungen auf beiden Seiten enttäuscht werden. Die konkrete Betrachtung von Bürgerstiftungen verdeutlicht, dass viele Hoffnungen, die mit diesem neuen Organisationstyp für bürgerschaftliches Engagement verbunden werden, relativiert werden müssen. Doch obwohl - oder vielleicht muss man vielmehr sagen: gerade eben weil - die finanzielle und meist auch personelle Leistungsfähigkeit der meisten Bürgerstiftungen begrenzt ist, können Bürgerstiftungen auf verschiedene Weise Beiträge zur Entwicklung von Stadt und Region leisten. Ihre Beiträge erschöpfen sich nicht im „Scheckausfüllen" bzw. in der Finanzierung und Förderung gemeinnütziger Projekte, sondern sie sind auf unterschiedliche Weise, zum Beispiel als Arrangeur, Moderator, Interessenanwalt oder Geldsammler, für vielfältige Vorhaben der Stadtentwicklung tätig. Dies zeigt, dass es beim Aufdecken der Beiträge bürgerschaftlicher Organisationen geboten ist, genau hinzusehen und jenseits typischer Such- und Denkmuster tätig zu werden. Beim Aufdecken der Beiträge zeigen sich die Defizite der wissenschaftlichen Forschung, die zur Folge haben, dass die Beiträge und die Leistungsfähigkeit bürgerschaftlichen Engagements oft im Unklaren bleiben. Es fehlen - nicht nur für Bürgerstiftungen, sondern allgemein für zivilgesellschaftliche Organisationen - systematische Daten und Informationen, die sowohl die gegenwärtige Situation als auch zukünftige Veränderungen und Entwicklungen ausreichend differenziert abbilden. Dies betrifft unter anderem die Erhebungen zur Anzahl der Organisationen, zu räumlichen Kontexten, zu Tätigkeitsbereichen, zur Finanzierung, zu Leistungen oder zur Dynamik von ehrenamtlichen und hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Die Diskussion über die Beiträge und Leistungsfähigkeit bürgerschaftlichen Engagements darf aber nicht nur ein Thema der Wissenschaft bleiben, sondern muss insbesondere auch die Praxis vor Ort betreffen, damit die Akteure der Stadtentwicklung Potenziale und Grenzen abschätzen können, wenn es zu einem sinnvollen Miteinander von öffentlichen und zivilgesellschaftlichen Aktivitäten für die Entwicklung von Stadt und Region kommen soll. In jedem Fall wird klar: Der Kontext von Zivilgesellschaft, Bürgerengagement und Stadtentwicklung bleibt zunächst ein Suchprozess. Dabei muss es weiterhin um das Erforschen und Ermitteln von Begrifflichkeiten, Verständnissen, Kommunikationsebenen, Beispielen, Erfahrungen und anderem mehr gehen. Besonders dringlich sind daher Überlegungen, wie ein solcher Such- und Sammelprozess fortgesetzt werden könnte nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der Praxis und im wechselseitigen Austausch. Es wäre daher sehr zu begrüßen, wenn über die Publikationsform Buch hinaus künftig weitere Formen und Foren gefunden würden, um einen auf Kontinuität angelegten Diskussions- und Meinungsbildungsprozess fortzusetzen und zu verstetigen.

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IV. Empirische Befunde

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Zivilgesellschaft in räumlichen Arenen von Elke Becker und Carolin Runkel

1.

Einleitung

Um neben dem Blick der in diesem Sammelband vertretenen wissenschaftlichen Autorinnen und Autoren empirische Befunde in die Projekterkenntnisse einfließen zu lassen, wurden im Rahmen des Projekts 35 Personen in qualitativen Interviews zu den Schnittstellen von Zivilgesellschaft und Stadt- bzw. Raumentwicklung befragt. Bei der Auswahl der Interviewpartnerinnen und -partner wurde darauf geachtet, eine ausgewogene Mischung von Vertretern der öffentlichen Hand und kommunaler Netzwerke, Planern und Beratern auf der einen Seite und Vertretern der Zivilgesellschaft sowie zusätzlichen Experten aus der Zivilgesellschaftsforschung auf der anderen Seite zu konsultieren. Gleichzeitig wurden die Gesprächspartner, soweit diese eindeutig zuzuordnen waren, gezielt nach den durch das Projekt zuvor formulierten räumlichen Arenen ländlicher Raum, Quartier, Stadt, strukturschwacher Raum und Metropolregion befragt. 1 Es wurden Gespräche in acht Bundesländern geführt (BadenWürttemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Hessen, Niedersachsen, NordrheinWestfalen (NRW) und Sachsen), um eine regionale Ausgewogenheit zu erzielen. Eine Übersicht der befragten Personen und ihrer Funktionen findet sich im Anhang. 2 Die Interviews wurden offen und auf der Grundlage eines einheitlichen Gesprächsleitfadens entlang von acht Leitthemen, die sich im Fazit wiederfinden, geführt. 3 Abgefragt wurden persönliche Einschätzungen u. a. zur möglichen und gewünschten Rolle der Zivilgesellschaft in der Stadtentwicklung, zum Handeln von Verwaltung und Politik, auch im Umgang mit bürgerschaftlichem Engagement, und zu notwendigen Rahmenbedingungen für eine stärkere Einbindung der Zivilgesellschaft. In den Gesprächen wurde auch das individuelle Verständnis der Begriffe Zivilgesellschaft, bürgerschaftliches Engagement und Stadtentwicklung deutlich, ohne dass das Projektteam eine Definition vorgab. Die Interviews waren nicht dazu gedacht, empirisch valide Fallstudien und allgemeingültige Aussagen zu erheben. Vielmehr kommen bei diesem induktiven Vorgehen einzelne Stimmen aus den unterschiedlichen Disziplinen zur Wort, werden 1 2

3

Weitere Ausführungen zu den Arenen finden sich im Einleitungsbeitrag von Gualini und in den Einführungen zu den jeweiligen Arenen auf den folgenden Seiten. Im weiteren Text werden die Interviewpartner bei erstmaliger Erwähnung mit Vor- und Nachnahmen genannt, um sich dann im weiteren Verlauf auf den Nachnamen zu beschränken. Lediglich wenn Nachnamen doppelt vorkommen, werden die Personen durchgehend mit Vor- und Nachnamen genannt. Die Interviews haben eine Länge von einer Stunde bis eine Stunde und 45 Minuten und wurden zur Gegenüberstellung in den Arenen transkribiert.

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in einem virtuellen Dialog gegenüber gestellt und dienen der Erstellung eines Stimmungsbildes, auf dessen Grundlage weitere Forschungs- und Vertiefungsansprüche ermittelt werden können. Bei der Auswahl der befragten Personen wurde auf ein bereits vorhandenes Bewusstsein bzw. eine Sensibilität für die Thematik geachtet. Bevor in den folgenden Kapiteln die einzelnen räumlichen Arenen dargestellt, in einem anknüpfenden Kapitel allgemeine Aussagen gegenübergestellt und schließlich im letzten Kapitel übergreifende Annahmen und Vertiefungsfragen abgeleitet werden, sollen zunächst die Akteure der Zivilgesellschaft und deren grundlegende Handlungslogiken beschrieben und erste Bezüge zu raumrelevantem Engagement hergestellt werden (vgl. Adloff und Strachwitz in diesem Band). Hierbei handelt es sich um Aussagen, die nicht auf den Interviewergebnissen basieren. Gleichwohl bestätigen einzelne Aussagen in den Interviews die beschriebenen Grundlagen und werden vereinzelt in die Ausführungen eingebunden. Außerdem wird erläutert, an welchen Schnittstellen der Interaktion die Zivilgesellschaft sich in Stadt- bzw. Raumentwicklung einbringt und dabei auf die öffentliche Hand, also auf Verwaltung und/oder Politik, trifft. 1.1 Begriffsbestimmungen

Der Begriff Zivilgesellschaft ist in der weiteren Ausführung in seinen vielfältigen Facetten zu verstehen. Die Autorinnen bemühen sich um einen deskriptiven Zugang zur Zivilgesellschaft. Dies bedeutet hier: Im Fokus liegen eher die Bereiche, in denen Zivilgesellschaft zum Tragen kommt, und weniger die normativ geprägte Wahrnehmung dieser. Da die Ausprägungen und Eigenschaften der Zivilgesellschaft in der Wissenschaft nicht einheitlich definiert sind, soll an dieser Stelle auf eine präzise Definition verzichtet werden. Es seien aber die allgemein im internationalen Kontext anerkannten Kriterien zivilgesellschaftlicher Akteure genannt und weiter unten näher erläutert. Danach handelt die Zivilgesellschaft selbstermächtigt und freiwillig, ist selbstorganisiert und weitestgehend unabhängig. Sie handelt nach dem Non-ProfitPrinzip und folgt einem zumindest subjektiven Gemeinwohlanliegen. Der Zivilgesellschaft wird das Attribut des Geschenks zugeordnet. Sie steht neben Staat (Gewalt) und Markt (Tausch) als drittes Aktionsfeld, in dem sich Individuen jenseits ihres familiären Umfeldes in der Gesellschaft bewegen (vgl. Strachwitz in diesem Band). Der Dritte Sektor ist empirisch deutlich untersetzter als die oft normativ betrachtete Zivilgesellschaft. Dies liegt daran, dass der Dritte Sektor gemeinhin als der institutionalisierte Teil der Zivilgesellschaft verstanden wird und damit besser mit Zahlen erfass-, eruier- und vergleichbar ist. Bürgerschaftliches Engagement löst begrifflich zunehmend das Ehrenamt ab. Bürgerschaftlich engagiert ist, „wer der Gesellschaft Zeit oder Ideen oder Empathie oder Vermögenswerte oder sein persönliches Ansehen schenkt" (vgl. Strachwitz in diesem Band). Dieses Engagement vollzieht sich in erster Linie in den Organisationen der Zivilgesellschaft und ist daher eng mit ihr verbunden.

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Akteure Vereine und Stiftungen sind die bekanntesten zivilgesellschaftlichen Organisationen. Die Spannweite reicht von losen Vereinigungen von Individuen mit einem gemeinsamen, den oben genannten Kriterien entsprechenden Ziel, aber ohne konkrete Organisationsform, bis hin zu hoch professionalisierten Wohlfahrtsverbänden. Mit dem Grad der Institutionalisierung unterscheiden sich die Teile der Zivilgesellschaft bezüglich ihrer Finanzausstattung, ihrer sozialen und politischen Einflussmöglichkeit, ihrer Professionalisierung und nicht zuletzt durch die Möglichkeit, bezahlte Mitarbeiter anzustellen. An den Schnittstellen zu Staat und Markt finden sich daher auch Akteure, deren Zuordnung zur Zivilgesellschaft umstritten ist. Dies sind beispielsweise sozialwirtschaftliche Unternehmen des Dritten Sektors, das gemeinwohlorientierte Handeln von Unternehmen unter dem Stichwort Corporate Social Responsibility (CRS) oder ehrenamtlich tätige Mandatsträger in der Politik. Auch Einzelpersonen können sich als Teil der Zivilgesellschaft engagieren, ohne dabei Teil einer Organisation und damit institutionalisiert zu sein. Von besonderer Bedeutung sind hier die eher informellen Teile der Zivilgesellschaft, d.h. Basisgruppen, Bürgerinitiativen, Aktionsbündnisse und dergleichen, die sich einzelne entwicklungsrelevante Themen zu eigen machen und sie teilweise streitbar vertreten. Handlungslogik Die wichtigsten Prinzipien, die der Zivilgesellschaft zugeordnet werden, wurden bereits erwähnt. In der Begegnung mit zivilgesellschaftlichen Akteuren werden diese Kriterien zu wichtigen Handlungsvoraussetzungen, die nicht unbeachtet bleiben dürfen. Freiwilligkeit des Handelns bedeutet, dass stadtentwicklungsrelevantes Engagement niemals verpflichtend sein kann. „Das Privileg der Freiwilligen ist zu sagen: ,Mir reicht's. Ich will jetzt nicht mehr'", meint Ralf Vandamme. Engagement setzt meist ein gewisses Maß an Betroffenheit voraus, das nicht notwendigerweise von Dauer sein muss. Dabei handelt es sich in vielen Fällen um eine direkte Betroffenheit, aber auch eine indirekte Betroffenheit und Solidarität mit Mensch und Umwelt können zu Engagement führen. Es zeichnet sich ab, dass es bestimmte Aufgaben gibt, an denen die nicht professionalisierte Zivilgesellschaft an ihre Grenzen stößt. Denn wer sich engagiert, tut dies über seine beruflichen und familiären Pflichten hinaus in seiner Freizeit. Dabei ist das traditionelle, auf Langfristigkeit ausgerichtete Ehrenamt vielfach einem temporären und projektbezogenen Engagement gewichen. Einige Gesprächspartner weisen auf das Problem hin, dass viele Menschen mitmachen, aber wenige Menschen Verantwortung übernehmen möchten. Eng mit der Freiwilligkeit verbunden ist die Selbstermächtigung. Die Zivilgesellschaft lässt sich nicht vorschreiben, ob, wo und wie sie sich engagiert. Dies muss insbesondere nicht dort sein, wo von anderen ein Bedarf wahrgenommen wird. Die Zivilgesellschaft möchte ferner aktiv mitgestalten und dies nicht nur in der Umsetzung,

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sondern gerade in der Generierung von Ideen. Dabei ist die Aussicht auf Erfolg auch ein motivierender Faktor: „Bevor ich mich jetzt in etwas wirklich reinknie und richtig was beeinflusse, da muss es schon ein hoher Leidens- oder Hoffnungsdruck sein. Wenn ich abwäge: .Bringt das jetzt was?' Dann muss es für mich schon sehr wichtig sein", so Adrian Reinert. Vielfach wird die Zivilgesellschaft als rein positiv handelnder Akteur bezeichnet. Doch ein subjektives Gemeinwohlanliegen impliziert auch, dass Zivilgesellschaft nicht inhärent gut ist. Offensichtlich wird dies bei Organisationen und Initiativen, die ihr Handeln nicht an demokratischen Grundwerten ausrichten. Aber auch gut gemeint ist nicht immer gut gemacht. So spricht Reiner Staubach von einer Überforderung bürgerschaftlichen Engagements, wo die Problemlage professioneller Lösungsansätze bedarf. Die Selbstorganisation der Zivilgesellschaft erlaubt es ihr, ihre Organisationsform den Zielen entsprechend anzupassen. Denn, so beschreibt Birgit Weber, „manchmal ist es gut, die Rollen wechseln zu können, je nachdem, mit wem man agiert. Das sind dann aber gewiefte Leute, die für alle möglichen Auftritte die richtige Form haben, mal als Aktiengesellschaft, mal als Freiwilligenagentur oder als Bürgerstiftung, dann wieder als eine Kirchengemeinde. Das funktioniert über Kooperationen und Arbeitsteilung, da wird mit den Rollen gespielt." Durch eine Rechenschaftspflicht in erster Linie gegenüber den eigenen Mitgliedern und Vorständen besitzen insbesondere kleinere zivilgesellschaftliche Organisationen eine gewisse Flexibilität, um ihr Handeln situationsbedingt anzupassen. Weber weist jedoch auf einen teils sehr hohen Grad an Verwaltungshierarchien in größeren Institutionen hin: „Manchmal fehlt einfach die Phantasie und dann gibt es irgendwelche Regeln, die man sich selbst aufstellt und damit bürokratischer wird als selbst die Verwaltung." Unabhängigkeit ist ein hohes Gut, das es der Zivilgesellschaft erlaubt, „z.B. lauter zu denken. Sie kann auch per se krumme oder direktere Wege gehen", meint Birgit Weber. Damit unterscheidet sich die Zivilgesellschaft von der Verwaltung. Dies gilt insbesondere für jene Engagierten, die nicht aufgrund eines bestimmten Postens oder Mandats eine bestimmte Meinung vertreten müssen. Der Verzicht auf die Teilhabe an eventuellen wirtschaftlichen Erfolgen lässt allzu schnell auf die finanzielle Stärke der Zivilgesellschaft schließen. Die Zivilgesellschaft ist jedoch zumeist abhängig von Spenden und öffentlichen Zuwendungen. Die Stiftungen, oft als neue, geldgebende Hoffnungsträger gehandelt, besitzen überwiegend ein zu kleines Stiftungsvermögen, um umfassend operativ oder fördernd tätig zu werden. Darauf weist auch die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags .Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements' hin: „Ihr Beitrag zum Finanzvolumen des Dritten Sektors lässt sich auf allenfalls 0,3 °/o schätzen; der Beitrag zur Gesamtfinanzierung des Gemeinwohls liegt im nicht mehr messbaren Bereich. Die tatsächliche Bedeutung von Stiftungsarbeit liegt daher weniger in ihrem quantitativen als vielmehr in ihrem qualitativen Gemeinwohlbeitrag." (Enquete-Kommission 2002: 246)

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Raumbezogenes Engagement Inwieweit bürgerschaftliches Engagement und die Aktivitäten der Zivilgesellschaft stadtentwicklungsrelevante Auswirkungen haben, hängt stark von der Definition dessen ab, was unter Stadt- bzw. Raumentwicklung verstanden wird. Diese unterliegt einem Wandel, der auch einen Wandel der Rolle der Zivilgesellschaft mit sich bringt (vgl. Siebel und Gualini in diesem Band). Im Gegenzug zur Stadtplanung, die sich hauptsächlich auf baulich-räumliche Komponenten beschränkt und den Bürger lediglich als Betroffenen einbezieht, umfasst Stadtentwicklung heute zunehmend die Steuerung der Gesamtentwicklung der Stadt. Wesentliche aktuelle Herausforderungen in der Stadtentwicklung sind u. a. •









die Globalisierung: Die Globalisierung stellt Städte und Regionen mit ihren jeweiligen Akteuren vor neue Herausforderungen, um im globalen Wettbewerb konkurrenzfähig zu bleiben. der demographische Wandel: Der demographische Wandel ist hinsichtlich der Bevölkerungsabnahme, sei es durch sinkende Geburtenraten oder durch Abwanderung, regional unterschiedlich ausgeprägt. die Nachhaltigkeit: Seit der Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung im Jahre 1992 in Rio de Janeiro hat der Nachhaltigkeitsbegriff zusehends Einzug in die Stadtentwicklung gehalten. Nach dem Motto „global denken, lokal handeln" basiert er auf dem Prinzip, im Sinne nachfolgender Generationen nicht mehr Ressourcen zu verbrauchen, als nachwachsen können. der Stadtumbau: Der Stadtumbau Ost und der Stadtumbau West sind Förderprogramme, die neben Aufwertungsmaßnahmen die Probleme, die durch zunehmenden Leerstand entstehen, in den Mittelpunkt rücken. Der Stadtumbau steht damit vor der - für Planung und Stadtentwicklung historisch erstmaligen - Aufgabe, nicht auf Wachstum ausgerichtet zu sein, sondern vielmehr mit der Schrumpfung von Städten und Regionen mit all ihren Facetten umzugehen. der integrierte Ansatz: Der integrierte Ansatz entstand in den 1990er Jahren und findet sich sowohl in EU-, als auch in Bundesförderprogrammen. Ziel ist es, Probleme ressortübergreifend und mit möglichst vielen betroffenen Akteuren anzugehen. Erneut festgeschrieben wurde dieser Ansatz in der Leipzig Charta, die unter der EU-Ratspräsidentschaft im Mai 2007 von den für Raum- und Stadtentwicklung zuständigen Ministern der EU-Länder unterzeichnet wurde.

Mit diesen Herausforderungen geht die Schaffung neuer Mitwirkungs- und Beteiligungsstrukturen sowie die Einbeziehung gesellschaftlicher, wirtschaftlicher, kultureller und ökologischer Entwicklungen einher. Stadtentwicklung beschreibt somit einen Ansatz, der viele Akteure aus unterschiedlichen Disziplinen einbezieht und zukunftsgerichtet ist. Insoweit ist ein Bildungsprojekt im Rahmen des Förderprogramms Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf - Soziale Stadfi, in dem Kindern un4

Das Programm des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) und der Länder wurde im Jahr 1999 mit dem Ziel gestartet, die .Abwärtsspirale" in benachteiligten Stadtteilen aufzuhalten und die Lebensbedingungen vor Ort umfassend zu verbessern (www.sozialestadt.de).

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terschiedliche Obstsorten erklärt werden (wie von einem Mitarbeiter in einem Landesministerium berichtet wurde) nur dann als Stadtentwicklungsprojekt zu akzeptieren, wenn dadurch weitergehende Ziele erprobt oder eingeübt werden. Die Interviews spiegeln hier unterschiedliche Auffassungen und große Unsicherheiten wider. Für Konrad Hummel gehören niedrigschwellige Projekte nur bedingt zur Stadtentwicklung, sie sind vielmehr Mittel zum Zweck. Aus seiner Sicht ist es Aufgabe der Stadtentwicklung, tiefergehende gesellschafts- und sozialpolitische Diskussionen zu führen, die nicht lediglich an der Oberfläche von Problemen kratzen, und die weit über die Aufgaben eines Bauministeriums hinausgehen. Von der Definition der Stadtentwicklung hängt auch die Frage ab, ob sie ein geeignetes Aktionsfeld für die Zivilgesellschaft darstellt. Während konkrete, raumfördemde Projekte in jedem Fall der Zivilgesellschaft zugeordnet werden können, bedarf die Behandlung abstrakterer und großflächiger Themen zunehmend einer Professionalisierung der Akteure oder doch zumindest einer Anleitung durch Experten - auch um Instrumentalisierungen der Zivilgesellschaft zu vermeiden (vgl. Gualini in diesem Band). Das Gros der Interviewpartnerinnen und Interviewpartner hat eine wesentliche Annahme der Interviewerinnen bestätigt: Es wird deutlich, dass vielen Engagierten die Stadtentwicklungsrelevanz ihrer Tätigkeiten nicht bewusst ist. Sie begreifen sich nicht als Stadtentwickler, denn Stadtentwicklung gilt für viele als nicht greifbares Thema und wird vielfach mit hoheitlicher Stadtplanung assoziiert. Dies gilt im Übrigen nicht für die zivilgesellschaftlichen Akteure allein: Auch die öffentliche Hand zeigt Schwächen bei der Erfassung ihrer tatsächlich möglichen Rolle sowie den Schnittmengen von Zivilgesellschaft und Raumentwicklung. 1.2 Schnittmengen der Interaktion

Die Beschäftigung mit Stadtentwicklung einerseits sowie Zivilgesellschaft und bürgerschaftlichem Engagement andererseits wirft die Frage auf, wo sich die Akteure dieser Sphären überhaupt begegnen. In welchen Kontexten haben sie miteinander zu tun? Wo gibt es Konflikte, wo Kooperation, von wem wird das Miteinander angestoßen? Die folgende Typisierung der Schnittmengen basieren auf einer Publikation von Bekker 2009. Deutlich wird, dass die Schnittmengen über die vielfach assoziierten Beteiligungsprozesse hinausgehen. Sechs Typen sind demnach zu unterscheiden.

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Einbeziehung von Bürgerinnen und Bürgern in Beteiligungsprozesse Beteiligungsprozesse sind zumeist im Alltag der Stadtplaner angekommen und Gegenstand stadtplanerischer Ausbildung geworden. Zahlreiche zivilgesellschaftliche Akteure haben mit Beteiligungsverfahren bereits Erfahrungen gemacht. Diese Prozesse werden von der Zivilgesellschaft und der öffentlichen Hand bzw. Planerinnen und Planern oft unterschiedlich wahrgenommen. Es wird hier festgehalten, dass Beteiligungsverfahren • • • • •

durch die öffentliche Hand initiiert werden, sich in der Regel auf ein konkretes, vordefiniertes Anliegen bzw. Problem beziehen oder ein Projekt - oftmals ein bauliches - zum Gegenstand haben und sich im Falle der formellen Beteiligung auf hoheitliche Planungen beziehen bzw. im Falle der informellen Beteiligung in erster Linie in öffentlich geforderten Gebieten und somit in Stadtteilen mit besonderer Struktur- oder Funktionsschwäche angewendet werden, zumindest dort das Gros der bisherigen Erfahrungen gesammelt wurde.

Eine Beteiligung der Öffentlichkeit ist inzwischen im Baugesetzbuch (BauGB) vorgeschrieben. §3 gibt die Möglichkeit, eine Stellungnahme zu öffentlich ausgelegten Plänen zu verfassen und damit Einfluss auf die Planung zu nehmen. Auch ein Bürger, der sich im Rahmen einer solchen Stellungnahme einbringt, stellt Zeit und Wissen zur Verfügung und leistet damit einen bürgerschaftlichen Beitrag. Erfahrungsgemäß haben es die Belange einzelner Personen im ebenfalls nach BauGB vorgegebenen Abwägungsprozess schwer, sich gegen die Einwände von Fachbehörden oder Trägern öffentlicher Belange zu behaupten. Sie laufen Gefahr, „weg gewogen" zu werden. Gesonderte Regelungen fur die Mitwirkungsstrukturen in bestimmten Fördergebieten finden sich in §171 BauGB. Das Einbeziehen von Bürgerinnen und Bürgern wird konkreter in gezielten Beteiligungsverfahren. Paradoxerweise handelt es sich dabei in der Regel um informelle Beteiligungsformen: Sie sind nicht rechtsverbindlich, doch indem sie zu gezielten Fragestellungen durchgeführt werden, spiegeln sie sich zumeist auch in den Planungen wider. Beispielhaft zu nennen sind Bürgerforen, Zukunftswerkstätten, Malwettbewerbe, Planerzellen, Open-Space-Verfahren und Stadtteilspaziergänge bis hin zu der Einrichtung von Stadtteilbüros. Auch wenn diese Methoden in der Planung oftmals berücksichtigt werden, ist zu vergegenwärtigen, dass sie zwar das Ziel haben, die Menschen „bottom up" abzuholen und Planung verständlich zu machen, aber dennoch durch die öffentliche Hand „top down" angestoßen werden. Das heißt, im Vorfeld der Beteiligung wurde entschieden, zu welchem Thema und in welcher Form eine Beteiligung stattfinden soll. Informelle Beteiligung bezieht sich zunehmend nicht nur auf bauliche Planungen, sondern auch auf stadtentwicklungsrelevante Projekte, um durch Patenschaften, Netzwerkbildung oder aufsuchende Strukturen auch ökologische, soziale oder ökonomische Themen anzugehen.

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„Klassisches" Engagement von Bürgerinnen und Bürgern - das Ehrenamt Zwar lässt das dauerhafte Engagement in Gremien oder langfristigen Projekten nach (vgl. Klages 1999, 5f.), aber selbstverständlich engagieren sich weiterhin Menschen in dieser eher traditionellen Form. Als Kennzeichen dieses Engagements können genannt werden: • • • •

Entstehung aus der Zivilgesellschaft, in bestehenden Institutionen, in Gremien und Kuratorien, mit langfristiger Bindung an diese Institutionen/Gremien oder als punktuelles (ernanntes) Engagement in bestehenden Strukturen.

Zu dieser Gruppe engagierter Menschen zählt der sachkundige Bürger im Bauausschuss ebenso wie der Kassenwart im Sportverein oder die Vorsitzende im Kirchbauverein. Bei letzteren finden sich die Schnittstellen eher indirekt und sind den Akteuren oftmals nicht bewusst. Dass der Ehrenamtliche im Sportverein zum gesellschaftlichen Zusammenhalt und damit zur Identifikation mit dem Umfeld beiträgt, ist in der Regel ein - gesellschaftlich höchst erwünschter - Nebeneffekt. Allerdings sind Inklusion, Integration oder gesellschaftliches Ansehen als Primärmotive des Engagements durchaus zu beobachten. Das Kirchengebäude trägt in nicht unerheblicher Weise zum Stadtbild und zur Identifikation mit der Stadt bei, entsprechend ist der Beitrag des Kirchbauvereins relevant. Stehen Sanierungen am Kirchengebäude an, treffen selbstverständlich die Denkmalschutzbehörde, das Planungsamt und der Kirchbauverein aufeinander und gestalten den Prozess gemeinsam. Traditionell geben Menschen auch ihren Namen oder guten Ruf und ihre Kontakte, indem sie sich in einem Kuratorium für eine Sache stark machen und Pate stehen oder in einer Jurysitzung ihr Fachwissen zur Verfügung stellen. Womöglich leisten sie damit auch einen Beitrag zur Seriosität der Institution oder des Projektes, für das sie sich einsetzen. Auch das politische Ehrenamt ist dieser Schnittmenge zuzuordnen. Schließlich rückt die Erinnerung daran, dass ein Großteil der Politiker und Politikerinnen ihre Tätigkeit ehrenamtlich ausführen und damit einen Teil der Zivilgesellschaft darstellen, oftmals in den Hintergrund. Als letzte Veranschaulichung seien die Freiwilligen Feuerwehren genannt, die ein Beispiel dafür sind, dass eine öffentliche Aufgabe von sehr viel Ehrenamt getragen wird. Gezielte Einbeziehung der institutionalisierten Zivilgesellschaft Zu bestimmten Themen oder Problemen wird zuweilen gezielt der institutionalisierte Teil der Zivilgesellschaft - auch Dritter Sektor genannt - angesprochen und einbezogen (vgl. z.B. Reimer 2006, 32f.). Hierzu zählen eben solche Initiativen, die sich

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stark verfestigt haben, dauerhaft angelegt sind und über einen entsprechenden Erfahrungsschatz verfügen. Die Interaktion ist dadurch gekennzeichnet, dass • • • •

sie durch die öffentliche Hand initiiert wird, sie sich entlang konkreter Themen-, Frage- oder Problemstellungen bzw. Projekte orientiert, die Form und Struktur der Mitwirkung durch die öffentliche Hand vorgegeben wird und die zivilgesellschaftlichen Partner einen entsprechenden Professionalisierungsgrad haben.

Im Rahmen der freien Wohlfahrtspflege ist ein solches Vorgehen üblich. Die Träger übernehmen auf der Grundlage des verfassungsmäßigen Subsidiaritätsprinzips einen Teil der öffentlichen Aufgaben, als Auftrag und gegen Bezahlung. In der Stadt- oder Raumentwicklung sind so klare Auftragserteilungen allerdings weniger üblich. Ausgenommen sind einzelne Quartiersmanagements, die von sozialen Trägern betrieben werden. Es finden sich aber auch Beispiele, bei denen der zivilgesellschaftliche Erfahrungsschatz genutzt wird, ohne eine entsprechende Gegenleistung zu erbringen. So werden Vertreter größerer zivilgesellschaftlicher Zusammenschlüsse auch für beratende Tätigkeiten zu Rate gezogen oder in Arbeitskreisen etabliert. Ein konkretes Beispiel stellen die Bürgerbäder dar (vgl. Kapitel 4.3), wie sie beispielsweise von der beratenden Einrichtung StädteNetzWerk NRW schon häufig initiiert wurden. Im ersten Moment erscheint die Idee, ein zuvor öffentliches Freibad in die Trägerschaft eines Vereins zu übergeben, abwegig. Zahlreiche Beispiele zeigen aber, dass solche Bäder - zumindest auf Zeit - funktionieren. Die Aufteilung von Mitsprache, Mitwirkung und Verantwortung braucht jedoch eine Moderation und Prozessbegleitung durch einen neutralen Dritten, wie sie mancherorts bereits erprobt wurde. Institutionalisierte Zivilgesellschaft, die sich einmischt Teile des Dritten Sektors verfugen über den Einfluss, die Weitsicht, die Professionalität und das Geld, nicht nur auf Angebote für ein Zusammenwirken seitens der öffentlichen Hand zu reagieren, sondern aktiv Mitsprache, notwendige Handlungsschritte oder Entscheidungen einzufordern. Wesentlich für solche Entwicklungen sind, dass sie • • • •

aus der Zivilgesellschaft heraus entstehen, auf Mitsprache und Mitwirkung bestehen, Strukturen der Zusammenarbeit vorschlagen und eigene Ideen, Anregungen, Vorschläge und Projekte entwickeln und durchführen.

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Bei den Kirchen findet sich ein solches Mitmischen auf unterschiedlichen Ebenen: In den Regionen Frankfurt am Main und Stuttgart haben die Kirchen beispielsweise stark auf einen notwendigen Sozial(struktur)bericht hingewirkt. Bei der Erarbeitung und teilweise auch bei der Finanzierung haben sie eine wesentliche Rolle gespielt. Ein Ansatz, der den eher wirtschaftsnahen Metropolregionen sicherlich neue Einblicke gewährt und hilfreich ist (vgl. Kapitel 6). Aber auch auf anderen räumlichen Ebenen zeichnet sich sowohl bei den kirchlichen Verbänden als auch bezüglich der Arbeit der Kirchengemeinden eine Umorientierung ab. So erläutert Reinhard Thies, dass sich nicht nur die Verbände, sondern auch die Kirchen zusehends über die eigentliche Gemeindearbeit hinaus ihrem Stadtteil öffnen. Nur beispielhaft werden hier Projekte wie Schülerhilfe, Tafelrunden oder Beratungsangebote genannt. Eine Zivilgesellschaft, die mitmischt, zeigt sich da, wo es starke Strukturen gibt. Als weitere Beispiele hierfür können Landjugend oder Landfrauen genannt werden (vgl. Kapitel 2). Die vor Ort rein ehrenamtlich agierenden Akteure werden von den Landesund Bundesstrukturen mit hauptamtlichem Personal unterstützt und vertreten. Gibt es einen Schulungs-, Bildungs- oder Mitsprachebedarf, wird dieser von der ehrenamtlichen Basis „nach oben" kommuniziert, ebenso aktuelle Themen, Probleme oder Erkenntnisse. Zum Teil gibt es auch thematische Arbeitskreise, wie die AG Impuls der Landjugend in Niedersachsen, die sich zu Themen wie der EU- oder Bildungspolitik austauscht und sich damit auch politisch positioniert. Sowohl Claudia Raß und Niklas Ahrens als auch Annemarie Biechl betonen, dass sie sowohl nah an den Akteuren in den Dörfern sind als auch gleichzeitig über die Landesstrukturen die Möglichkeit und die Lobby haben, politisch mitzureden und Einfluss zu nehmen. Bürgerinnen und Bürger, auch im Zusammenschluss Von der Politik und Verwaltung nicht immer gerne gesehen sind Einzelpersonen oder Gruppen, die konkret auf eine Veränderung reagieren, bzw. eine Veränderung einfordern. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie • • • •

aus der Zivilgesellschaft heraus entstehen, Mitsprache oder Veränderung einfordern, potenziell Protestcharakter haben und aus Bürgerinnen und Bürgern bestehen, die sich ggf. für ihre Interessen zusammenschließen.

Je nach Anliegen und Akteurskonstellation können auch sehr klein gestartete Initiativen sehr groß und zu einem relevanten zivilgesellschaftlichen Partner werden. Auch Initiativen wie Greenpeace oder Ärzte ohne Grenzen haben einmal klein angefangen. Die Übergänge zu einem professionellen Akteur sind sicherlich schleichend und nicht an bestimmten Kriterien festzumachen. Während die genannten Einrichtungen eher Beispiele für sogenannte Themenanwälte sind, richten sich andere Initiativen oft gegen konkrete Vorhaben, Projekte oder Situationen vor Ort.

Zivilgesellschaft: in räumlichen Arenen

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Beispiele hierfür sind zahlreiche Bürgerinitiativen oder sogenannte Raumpioniere, die durch ihr zumeist ehrenamtliches Engagement versuchen, eine Entwicklung zu verhindern oder durch ein Projekt eine Veränderung herbeizufuhren (vgl. Kapitel 5.4). Zusammenschlüsse in Arenen, Foren und Dialogformen Diese Form betrifft in erster Linie den institutionalisierten Teil der Zivilgesellschaft und wird weniger einzelne Bürger tangieren. Im Mittelpunkt stehen seltener konkrete Projekte als vielmehr der Erfahrungsaustausch und die Bildung von Netzwerken entlang bestimmter Themen, die sich nicht auf administrative Grenzen und Lösungen beziehen müssen. Das Besondere an ihnen ist, dass sie • • • •

aus der Zivilgesellschaft, durch die öffentliche Hand oder gemeinsam initiiert werden, eine Mitwirkung ermöglichen und nicht von der öffentlichen Hand aktiviert werden, sich entlang von Themen, Problemen und Interessen anordnen und vielfach unabhängig sind von administrativen Strukturen, Räumen und Grenzen.

Solche Formen der Interaktion sind beispielsweise Runde Tische, wie sie von der Bürgerstiftung Stuttgart bereits mehrfach durchgeführt wurden. Wesentlicher Anlass sind meist bestimmte Themen und nicht Projekte. Als weitere Kriterien sind Netzwerkstrukturen zu nennen, die einen sehr freiwilligen Charakter haben. Beispiele finden sich in der Metropolregion Rhein-Neckar, die in drei Bundesländer hineinragt (vgl. Kapitel 6). Dort bilden sich Netzwerke zwar unter dem Dach oder Label der Metropolregion, aber mit eigenen Themen und Schwerpunktsetzungen. Wie sich dies inhaltlich und strukturell gestaltet, ist offen, ebenso ist die Mitwirkung völlig freiwillig. Dies haben beispielsweise die Freiwilligenagenturen oder Kirchen wahrgenommen. Sie nutzen diese Plattform zum Erfahrungsaustausch und für gemeinsame Projekte und tragen damit zu einer erhöhten Qualität ihrer Arbeit und damit der Region bei. Diese Schnittmengen der Interaktion sind in unterschiedlichen räumlichen Arenen unterschiedlich stark ausgeprägt. So findet beispielsweise Beteiligung eher in kleinräumlichen Kontexten statt als in der Metropolregion. Ebenso wird es schwierig sein, klassisches Engagement für die Metropolregion zu generieren. Übergeordnete Dachverbände hingegen werden sich seltener im Quartier engagieren. Es bedarf weiterer Forschungen, um das vorhandene Engagement in den räumlichen Arenen systematisch zu erfassen und den unterschiedlichen Schnittstellen zuzuordnen.

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2.

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Der ländliche Raum

Die bis in die 1930er Jahre vorherrschende Lebensform auf dem Land hat im Zuge der Urbanisierung an Bedeutung verloren.5 Dabei wird allzu schnell übersehen, was Biechl von den Landfrauen in Bayern vehement betont: Auch wenn die Landwirte nur noch einen kleinen Teil der Bevölkerung ausmachen, besitzen sie dennoch einen großen Teil der Flächen. Nicht zuletzt um eine Verdichtung durch Zuwanderung und damit eine Überforderung der Zentren zu vermeiden, müssten die Städte ein großes Interesse an einem „gesunden, aktiven und lebendigen ländlichen Raum" haben. Auch die Landjugend tritt für attraktive Lebensbedingungen auf dem Land ein. Denn der Mangel an Arbeits- und Ausbildungsplätzen - nur noch 20°/o der Mitglieder sind aktiv in der Landwirtschaft tätig (bdl.landjugend.info) - ist für die Landjugend ein großes Problem. Neben der Abnahme der Bevölkerung geht es aber auch um die Veränderung sozialer Strukturen, um Individualisierung und um das Zusammenleben der Generationen. Im ländlichen Raum wird ein größerer Bedarf an sozialen Projekten wahrgenommen, die auffangen müssen, was vormals im familiären Rahmen geleistet wurde.

2.1 E n g a g e m e n t im ländlichen R a u m

Auf dem Land, da sind sich die entsprechenden Gesprächspartner einig, gibt es im Vergleich zur Stadt noch eine starke dörfliche und nachbarschaftliche Gemeinschaft (vgl. Borstel in diesem Band). Eine direkte Betroffenheit und ein hohes Verantwortungsgefühl führen zu einer hohen Engagementbereitschaft: Wer etwas anpacken will, tut dies auch, meint Gudrun Lang. Biechl unterstreicht dies durch ihre Feststellung, dass „ohne den einzelnen Bürger im ländlichen Raum überhaupt nichts passieren würde". Bezüglich der Form und des Inhalts von Engagement beobachtet Silke Stöber, dass die Zivilgesellschaft im ländlichen Raum weniger durch medienwirksames, politisches Engagement in Form von Demonstrationen oder Protestaktionen als vielmehr durch Nachbarschaftshilfe, Daseinsvorsorge und Aktivitäten in dörflichen Vereinen geprägt ist. Dieses Engagement reicht bis zur Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs, ζ. B. durch Dorfläden. Ohne bürgerschaftliches Engagement würde es viele Angebote in den Bereichen Konsum, Kultur, Freizeit, Sport u.a. nicht geben, weil sich aufgrund der dünnen Besiedlung professionelle Angebote nicht rentieren. „[...] Landschaft und Berg sind ein Geschenk des Himmels, aber alles andere ist harte Arbeit", fasst Biechl die Bedeutung des bürgerschaftlichen Engagements im ländlichen Raum zusammen.

5

Das BBSR zählte in Deutschland Ende 2007 etwa 24 Millionen Menschen (29,2% der Gesamtbevölkerung) in 3091 ländlichen Gemeinden (www.bbsr.hund.de).

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Zu den Aktivitäten der Landfrauen gehören Kindertage und Chöre. Auch haben die Frauen Teile der schulischen Ernährungsberatung übernommen, nachdem diese öffentlichen Kürzungen zum Opfer gefallen war. Die Landjugend Niedersachsen führt alle vier Jahre eine 72-Stunden-Aktion durch, in der sich Ortsgruppen beim Landesverband anmelden und über einen geheimen Agenten vor Ort eine Aufgabe gestellt bekommen, die mit der Verwaltung abgestimmt ist. Auch bei der bundesweiten Jahresaktion „Wir fürs Land" werden u.a. Schulhöfe, Spielplätze und Bushaltestellen saniert, Grillhütten errichtet, Feste und Ausflüge organisiert, Wettkämpfe, Fahrradrallyes und Müllsammelaktion durchgeführt. Dennoch ist das Engagement für das Gemeinwesen kein primäres Ziel. „Hauptsächlich ist es für die Mitglieder an sich. Dass wir aus der Gruppe heraus gehen und für die Gemeinschaft etwas machen oder für das Dorf, kommt vor, ist aber nicht so zentraler Punkt unserer Arbeit", beschreibt Ahrens seine Erfahrungen mit dem Engagement. Obwohl durch die Landjugend viel für die Dorfentwicklung geleistet wird, stehen die Gemeinschaft der Jugendlichen und der Team-Gedanke im Vordergrund, meint Raß. Bewohnerinnen und Bewohner engagieren sich, weil es in gewisser Weise selbstverständlich ist. Familie, Freunde und Bekannte leben das Engagement vor und können die noch nicht Engagierten auf einfache und direkte Art ansprechen. Erleichtert wird dies zusätzlich durch gesellschaftliche Events wie dem jährlich stattfindenden Landjugendball, zu dem auch Nicht-Mitglieder kommen. Als Gründe für das Engagement werden der Erwerb von Sozialkompetenzen, die Einbindung in Netzwerke sowie die Hilfestellung für Ausbildung und Beruf genannt - und manche finden auf diesem Wege auch den Partner fürs Leben. Nicht zuletzt wird gesagt, dass insbesondere die jungen Menschen durch das Engagement eine Stärkung ihres Selbstvertrauens erfahren. Trotz des scheinbar grundsätzlich gegebenen hohen Engagements wird von Holger Magel auch im ländlichen Raum ein Wandel des Engagements hin zu projektbezogenen und temporären Aktivitäten festgestellt. Biechl resümiert, dass es immer die Gleichen seien, die sich engagieren, und dass wenige dabei auch Verantwortung übernehmen wollen. Einen Grund sieht sie darin, dass ein Engagement, das über Familie und Hof hinausgeht, immer schwieriger zu leisten ist. Raß und Ahrens von der Landjugend sehen in der Umstellung der Studiengänge auf die zeitintensiveren Bachelor und Master einen Grund für den Rückgang der Engagementmöglichkeiten, und auch die Ganztagsschulen grenzen das Potenzial, Zeit zur Verfügung zu stellen, stark ein. „Das heißt auch, das ist nicht selbstverständlich, dass wir diese Angebote, diese Art von Lebensqualität in zehn Jahren noch so haben wie jetzt, wenn wir es nicht bewusst fördern", betont Alois Glück. Lang sieht die Notwendigkeit, neben der Förderung des traditionellen Ehrenamts auch Solidarität und Engagement im ganz Kleinen ins Bewusstsein der Menschen zu rufen und zu fördern.

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2.2 Kommunikation und Kooperation

In der seit 20 Jahren in Bayern geforderten Dorfentwicklung ist die Bürgerbeteiligung von Beginn an Pflicht. Dies war keineswegs eine Selbstverständlichkeit, weiß Magel zu berichten, der zu dieser Zeit im Bayrischen Landwirtschaftsministerium tätig war. Mit seiner Überzeugung, die Bürgerschaft mehr als bisher üblich in die Dorfentwicklung einzubeziehen, ist er sowohl im eigenen Haus als auch „draußen im Dorf' nicht nur auf Zustimmung gestoßen. Im Vergleich zu anderen Bereichen wird hier heute eine überdurchschnittlich gute Kooperation von Bürgern, Politik und Verwaltung konstatiert (Glück/Magel). Dies mag auf die von den Gesprächspartnern oft betonte Nähe zwischen öffentlicher Hand und Bürgerinnen und Bürgern im ländlichen Raum zurückgehen. Die Verwaltungen sind durch die geringe Anzahl der Mitarbeiter übersichtlicher und die Bürgermeister oder Ortsvorsteher persönlich bekannt: „Der Bürgermeister ist der Vater unserer ersten Vorsitzenden", freut sich beispielsweise Ahrens über den direkten Kontakt ins Rathaus. Durch diese Nähe sind Wünsche und Anregungen in der Regel einfacher an die Zuständigen zu vermitteln und unbürokratische Hilfe besser zu gewähren. Andersherum können eigene Ideen und Aktivitäten unkompliziert mit der Gemeinde abgestimmt werden, um Überschneidungen zu vermeiden. Auch von Lang wird ein bürgerorientiertes Arbeiten der öffentlichen Hand wahrgenommen, das im Zweifel auch aus der Bevölkerung eingefordert wird. Diese Bürgemähe bleibt jedoch stark personenabhängig. So gibt es in der Landjugend neben den sehr aktiven, in das öffentliche Geschehen eingebundenen Gruppen auch solche, die aufgrund einer mangelnden öffentlichen Unterstützung Schwierigkeiten haben, z.B. einen geeigneten Gruppenraum zu bekommen (Raß). Und obwohl in Bayern in den letzen Jahren verstärkt die bürgemahen Bürgermeister die Wahlen für sich entschieden haben (Glück), wird auch hier weiterhin beobachtet, dass an vielen Stellen die Einbeziehung der Bürgerschaft an der Veränderungsresistenz der öffentlichen Hand scheitert: „[Der] Bürger ist gut, solange er keinen Ärger macht und nicht mit seiner eigenen Meinung kommt", merkt Glück ironisch an. Die Einbeziehung der Bürger in Entscheidungs- und Verwaltungsprozesse ist auch im ländlichen Raum nicht einfacher als anderswo und auch hier mühsam und zeitaufwändig (Glück). Stöber empfindet das Thema „Bürgerbeteiligung" allgemein eher als ein städtisch geprägtes, denn die Aufmerksamkeit ist durch Projekte, Studien etc. in erster Linie auf die Stadt gerichtet, wodurch es weniger auf den ländlichen Raum übertragbare Erfahrungen gibt. Die für den ländlichen Raum zu „sperrige" Lokale Agenda 21 hat dies ihrer Ansicht nach deutlich gemacht: Obwohl der Nachhaltigkeitsgedanke auch in kleineren Ortschaften eine Rolle spielt, finden die Diskussionen auf einer anderen Ebene statt, in der es vielmehr auf persönliche Kontakte als auf Gesamtstrategien ankommt. Dem widersprechen Magel und Glück, die der Erstellung eines gemeinsamen Leitbildes und der Lokalen Agenda eine große Rolle beimessen. Doch auch in Bayern hat eine Untersuchung der Lokalen Agenda einen Mangel an klaren Verfahrensab-

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läufen und klarer Aufgabenverteilung festgestellt. Resümierend bezeichnet Magel die Lokale Agenda im ländlichen Raum in Bayern als „erfolgreiche Auslaufgeschichte". 2.3 Engagementförderung durch Netzwerke

Die Förderung der Zivilgesellschaft und des bürgerschaftlichen Engagements muss nach Angaben der Gesprächspartner nicht unbedingt in Form von finanzieller Hilfe erfolgen. Es geht vielmehr um das Angebot an struktureller Hilfe. Netzwerke und übergeordnete Dachstrukturen für die selbstständigen und rein ehrenamtlich agierenden Ortsgruppen werden von den Landfrauen und der Landjugend als besonders effektiv hervorgehoben, um die finanzielle und zeitliche Mehrbelastung der lokal bürgerschaftlich Engagierten zu mindern. Beide Organisationen basieren auf dem bürgerschaftlichen Engagement der Menschen vor Ort. In ihren autonomen Ortsgruppen sind sie eingebunden in Netzwerke auf Kreis-, Bezirks-, Landes- und Bundesebene. Diese Struktur ist wichtig, um gerade im dünn besiedelten Raum Synergien zu schaffen. Übergeordnete Dachstrukturen, insbesondere auf Landes- und Bundesebene, haben auch den Vorteil, dass sie die Interessen ihrer Mitglieder nach außen hin vertreten können. Zum Teil sehr enge Verbindungen in die Politik und eine Zusammenarbeit mit Landes- und Bundesministerien machen eine wirksame Öffentlichkeitsarbeit und Themenanwaltschaft für die Gruppe möglich. Von besonderem Vorteil sind auch die hauptamtlichen Mitarbeiter, die auf Landesoder Bundesebene angestellt sind, um die Arbeit vor Ort zu unterstützen und Mitarbeiter zu qualifizieren. Ehrenamt braucht nicht zwangsläufig ein Hauptamt, aber durch professionelle Unterstützung kann ehrenamtlich weitaus mehr geleistet werden, ist Ahrens überzeugt. Durch einen wechselseitigen Informationsfluss zwischen den Ebenen können die Hauptamtlichen auf Ansprüche, Bedürfnisse und Schulungsbedarfe der Ortsgruppen eingehen. Raß unterstreicht die Qualitäten, die die gemischten Strukturen von Ehrenamt und Hauptamt mit sich bringen: „Wir bieten eine Reihe von Seminaren: Gruppenleiterschulungen, Rhetorikseminare, Motivationsförderung. Alles, was die Landjugend vor Ort haben will. Das wird gesehen." Die Hauptamtlichen organisieren Großveranstaltungen und erarbeiten Jahresthemen. Schulungen werden in einem sehr breiten Spektrum angeboten, das von Gesundheit über digitale Medien bis hin zur politischen Bildung viele Themen umfasst. Dabei können die Hauptamtlichen durch ihre Professionalität auch mit sensiblen Themen, wie ζ. B. Gewaltprävention, umgehen. „Das kann nicht jeder machen", betont Ahrens. Oftmals werden die Schulungen auch von Personen aus den eigenen Reihen, bzw. Ehemaligen angeboten. Dies wird von der Landjugend auch unter dem Aspekt geschätzt, dass das Lernen von Gleichaltrigen effektiver und kostengünstiger ist als das kommunale Angebot. Biechl betont die Möglichkeiten der Landfrauen, an den Stellen positiv auf ihre Mitglieder einzuwirken, an denen der Staat an seine Grenzen stößt, wenn es darum geht, bestimmte Verhaltensweisen zu verordnen. Als Beispiel hierfür nennen sie die gentechnikfreie Landwirtschaft.

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Bei der Vernetzung ist es wichtig eine Balance zu finden, in der die autonomen Gruppen zum einen in den Gesamtverband eingebunden werden und dieser gestärkt wird, zum anderen die Freiheiten der Ortsgruppen nicht eingeschränkt und Ideen von unten nicht gebremst werden. Vielmehr sollen die lokal Engagierten zur Eigeninitiative motiviert werden (Biechl). Dies bestätigt auch die Landjugend, die hauptamtliche Unterstützung als Effektivitätssteigerung ansieht, gerade aber auch die Selbstorganisation als Lernfeld schätzt. Beispielsweise werden Termine mit Politikern grundsätzlich durch die Ehrenamtlichen im Vorstand übernommen (Raß). Auf die Frage nach der Konkurrenz unter den zivilgesellschaftlichen Akteuren wird von der Landjugend zwar bestätigt, mit dem Schützenverein oder der Freiwilligen Feuerwehr um Mitglieder zu konkurrieren. Dies hindere sie jedoch nicht daran, auch gemeinsame Aktionen durchzuführen und sich gegenseitig zu unterstützen. Ebenso findet eine Förderung von lokalen Gewerbetreibenden statt. Corporate Social Responsibility wird hier oft ganz selbstverständlich im Kleinen betrieben, indem einem Verein ein nicht mehr gebrauchter Kühlschrank geschenkt oder ein Transporter zur Verfügung gestellt wird. Stöber beobachtet aber auch „[...] Vereine, die denken nur für sich. Da backen die Frauen abends Kuchen und es wird ein Vereinsfest gemacht oder der selbstgebackene Kuchen wird auf dem Dorffest verkauft und der Bäcker wird nicht eingeladen. Das ist dann natürlich nicht dorfentwicklungstechnisch gedacht, sondern nur für die eigene Vereinskasse." Dies ist nicht unbedingt böse gemeint, vielmehr muss das Zusammenarbeiten erlernt und der Blick für Schnittstellen geschult werden. Auch hier kann eine Dachorganisation hilfreich sein. Der Aufbau von lokalen Netzwerken, die gemeinsam an den komplexen Themen und Problemen in den Dorfgemeinschaften arbeiten, muss nach Meinung von Glück viel mehr als bisher als kommunale Aufgabe und als Teil der Dorfentwicklung verstanden werden. Dabei sollen bestehende Gruppen gezielt durch Verantwortungsträger angesprochen werden (Raß). 2.4 Legitimation

Im Zuge der kommunalen Gebietsreform hat sich durch die Eingliederung und Zusammenlegung einzelner Dörfer und Städte die Anzahl der Gemeinden verringert, während die Anzahl der zu einer Einheitsgemeinde gehörenden Ortsteile zugenommen hat. Diese auf Effizienz angelegte Reform fand nicht immer den Zuspruch der Gemeinden und hat bis heute Identifikationsprobleme und einen Mangel an „WirGefühl" zur Folge, wie Stöber beobachtet. Und sie hat dazu geführt, dass die Entfernungen vom Bürger oder der Bürgerin und auch von den vielerorts ehrenamtlich tätigen Ortsvorstehem zur eigenen Verwaltung teilweise so groß geworden sind, dass das System der kommunalen Selbstverwaltung als absurd empfunden wird. Wenn sich keine ehrenamtlichen Ortsvorsteher finden und die nächste Verwaltung Kilometer entfernt ist, kann unter Umständen der DorfVerein die Führung übernehmen (Stöber). Und wo die örtlichen Parteien aufgrund einer niedrigen Wahlbeteiligung

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kaum repräsentativ sind, liegt das Vertrauen nicht immer bei den gewählten Mandatsträgern. Häufig sind es vielmehr die stärksten Integrationsfiguren, die im Dorf die größte Autorität haben. In Bayern, wo von einer „Trinität aus Kirche, Wirtshaus und Rathaus", also aus Religion, Gesellschaft und Politik, gesprochen wird (Glück), ist es nicht verwunderlich, wenn bei Entscheidungen die Grenzen zwischen Zivilgesellschaft und gewählten Mandatsträgern verschwimmen und Politik am Stammtisch gemacht wird. Darf man das? Diese Frage wird nach Ansicht von Stöber häufig zu theoretisch behandelt. Denn in der Praxis sind es nicht unbedingt die Ortsvorsteher, die das größte Interesse am Dorfgeschehen zeigen, sondern die Vereinsmitglieder. Insbesondere ehrenamtliche Ortsvorsteher können ohne Zivilgesellschaft und bürgerschaftliches Engagement nicht operieren. Die starke Integrationsfigur oder der dominierende Verein mit dorfübergreifenden Interessen sind allemal besser als ein politisches Machtvakuum, das womöglich durch rechtsradikale oder andere demokratiefeindliche Gruppen gefüllt wird. Solange sich die Zivilgesellschaft an demokratische Grundrechte hält und nicht eine kleine, nicht-repräsentative Elite-Gruppe die Macht übernimmt, können durch die Zivilgesellschaft getroffene Entscheidungen für die Dorfgemeinschaft angemessen und konstruktiv sein. „Diejenigen, die aktiv werden, müssen demokratische Grundrechte vertreten, müssen sich also möglichst legitimieren: in ihrer Form des Wesens, der Kommunikation, der Zusammenarbeit." (Stöber) Jedoch gibt sie zu bedenken, dass es Entscheidungen gibt, die mehr Akzeptanz und Legitimation benötigen, als andere: „Es ist doch gut, wenn sich etwas von unten entwickelt, wenn dabei gewisse Grundregeln eingehalten werden. So ein Dorfladen tut ja niemandem weh. Aber es gibt Bereiche, die tun weh. Und da muss man mehr Akzeptanz finden." Hier bedarf es eines Ortsvorstehers, der Macht und Entscheidungskompetenzen hat, um bei zwei entgegengesetzten Meinungen entscheiden zu können und der auch die „leisen Stimmen" im Dorf hört, fährt sie fort. Der ländliche Raum braucht keine Großprojekte, sondern kleinteiliges Denken, kleine Initiativen und eine dezentrale Verwaltung. Noch einmal Stöber: „Das Optimale ist, dass der Ortsvorsteher oder die Ortsvorsteherin den Hut auf hat, aber ab und zu auch alle Vereine an einen Tisch einlädt um zu besprechen, was wichtig ist und was man machen kann."

2.5 Daseinsvorsorge

Noch bei einem anderen Thema taucht die Frage nach der Legitimität auf: in der Daseinsvorsorge. Aufgrund der bereits dünnen Besiedlung, die sich durch die Auswirkungen des demographischen Wandels weiter ausdünnt, können vielerorts Infrastrukturen nicht mehr aufrecht erhalten werden oder werden gar nicht erst angeboten. Obwohl die Grundversorgung und die Bereitstellung von öffentlichen Einrichtungen originäre Aufgabe der öffentlichen Hand ist, berichten die Interviewpartner von Aktivitäten der Zivilgesellschaft, die genau diesen Aufgaben entsprechen. Beispiele dafür sind die Bildung und Qualifizierung von Kindern und Jugendlichen, der Bau von

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Spielplätzen oder die Kinderbetreuung. Auch wenn die Unterhaltung von Dorfläden nicht originäre Staatsaufgabe ist, so zeigt sich anhand der durch die Bürger geführten Läden doch, dass wichtige, unentbehrliche Funktionen - insbesondere für die ältere Generation, aber auch für einen lebendigen Dorfkern - häufig nur auf private Initiative hin erhalten bzw. wiederbelebt werden können. Vieles wird aufgefangen von den Menschen vor Ort und dennoch bleiben Lücken bestehen. Es ist unumstritten, dass diese gefüllt werden müssen. So berichtet Stöber von dörflichen Initiativen, die sich gemeinsam über die eigenhändige Verlegung von Leitungen oder via Funk einen Internet-Zugang ermöglicht haben. Raß sieht hier ganz klare Grenzen: Sie sieht das Internet als ein wichtiges Medium, um sich untereinander zu vernetzen und beruflich wettbewerbsfähig zu bleiben (beispielsweise durch Online-Bewerbungen). Entsprechend sollte die Gewährleistung eines schnellen Internetanschlusses durch die öffentliche Hand und nicht durch bürgerschaftliches Engagement erfolgen. Sowohl die Landjugend als auch die Landesbäuerinnen wehren sich stark gegen die Ansicht, bürgerschaftliches Engagement könne, solle oder würde tatsächlich Defizite im öffentlichen Handeln ausgleichen, obwohl sie dies selbst an vielen Stellen - teilweise auch auf Anfrage durch die Verwaltung - tun. Die Grenzen zwischen den kommunalen Pflichtaufgaben und der als selbstverständlich angesehenen Nachbarschaftshilfe sind dabei nicht immer eindeutig. Das Beispiel der Kindererziehung zeigt, dass es als normal empfunden wird, den Nachbarn bei der Kinderbetreuung zu helfen. Dort, wo das bürgerschaftliche Engagement aber an zeitliche und finanzielle Grenzen stößt, fordert Biechl eine angemessene Bezahlung für die Leistungen: „ [...] wir müssen mit unseren Kapazitäten eben auch haushalten." Dies gilt insbesondere für solche Leistungen, für die es in der Regel feste Strukturen gibt, die jedoch aufgrund der dünnen Besiedlung nicht aufrechterhalten werden können. Ebenso können keine Aufgaben übernommen werden, die ein flächendeckendes und verbindliches Engagement benötigen (Raß, Ahrens). Auch die Landjugend übernimmt - beispielsweise in den erwähnten 72-StundenAktionen - Aufgaben, die ohne ihr Engagement in der Stadt womöglich von der Verwaltung durchgeführt würden. Dabei wird betont, dass die Jugendlichen nur solche Aufgaben übernehmen wollen, die Spaß machen und gemeinschaftlich-kreativ durchgeführt werden können. „Bei ,Wir für's Land' da hat jetzt neulich ein Gemeinderat angerufen, ob denn bei ihnen auch eine Landjugend mitmache, die hätten da noch was zu erledigen." Und: „Das gab es mal bei der 72-Stunden-Aktion, dass ein Gemeinderat unbedingt wollte, dass eine Aufgabe erledigt wird, die überhaupt keinen kreativen Spielraum für die Gruppe ließ." (Raß) Auch wenn sich der Gemeinderat an dieser Stelle durchsetzen konnte, so haben die Jugendlichen deutlich gemacht, dass sie aus der Erfahrung gelernt haben und bei der nächsten Anfrage dieser Art nicht mehr zur Verfügung stehen werden.

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Sollte eine wichtige Aufgabe tatsächlich nicht mehr öffentlich finanzierbar sein, so scheint es wichtig, zunächst mit den Bürgerinnen und Bürgern in einen Dialog zu treten und zu fragen - nicht zu fordern - ob sie sich an dieser Stelle ein Engagement oder eine Kooperation vorstellen könnten. Es wird jedoch betont, dass die Entscheidung, ein öffentliches Angebot aufzugeben, nicht leichtfertig getroffen werden dürfe. Es müsse verhindert werden, dass die Bürger mit der Schließung unter Druck gesetzt und ihr Engagement letztlich doch wieder eingefordert würde. „Diejenigen, die meinen, dass sie zusätzliches ehrenamtliches Engagement für ihre Arbeit benötigen, müssen interessante Angebote entwickeln. Und diese Angebote müssen sich nach dem Interesse der Ehrenamtlichen richten und nicht nur danach, was die Einrichtung braucht." (Lang) Allgemein scheinen die Interviews mit den zivilgesellschaftlichen Akteuren die Aussage von Stöber zu bestätigen, dass die Diskussion über ein mögliches Abwälzen von Aufgaben von Dritten teilweise stärker geführt als dies von den Betroffenen empfunden wird. Denn am Ende wollen sich viele Menschen für ihre Gemeinschaft engagieren - jedoch nicht als Pflichtprogramm, sondern als i-Tüpfelchen, wie dies Raß empfindet. 2.6 Ableitungen und Vertiefungsbedarfe

Im Gegensatz zu anderen räumlichen Arenen, insbesondere dem Quartier (vgl. Kapitel 3), sprechen die Vertreter der Zivilgesellschaft auffallend wenig über Bürgerbeteiligung in der Dorfentwicklung als vielmehr über ihr persönliches Engagement, das häufig als ganz selbstverständlich gilt. Obwohl aufgrund einer hohen Engagementbereitschaft und eines starken Verantwortungsgefühls viel für die Dorfgemeinschaft: geleistet wird, spielt dies neben dem Gemeinschaftsaspekt des Engagements eine untergeordnete Rolle. Dass das Engagement für das Dorf gut und nützlich ist, ist auf Nachfrage bewusst, ist aber nicht Motivation für oder Ziel des Engagements. Die Vertreter der öffentlichen Hand sowie die Planerinnen und Planer sind in ihrer Wortwahl der staatlich initiierten Partizipation näher, sprechen dann aber zumeist über Leitbildprozesse oder konkrete Projekte. Sie erkennen durchaus das darüber hinausgehende hohe Engagement der Zivilgesellschaft an und damit die Unersetzbarkeit dieser Aktivitäten für die Dorfentwicklung, da das Engagement stark zur Lebendigkeit der Dorfgemeinschaft beiträgt. An vielen Stellen gibt es bereits zivilgesellschaftliche Strukturen, die von Seiten der öffentlichen Hand angesprochen werden können. Die Besonderheit des Engagements im Rahmen von Dorfentwicklung liegt in der Nähe der Zivilgesellschaft zu Verwaltung und Politik, solange diese noch vor Ort sind. Eine einfache Ansprache ohne große bürokratische Hindemisse erleichtert das Engagement, macht es aber auch der öffentlichen Hand leichter, ihre Wünsche und Anregungen in die Zivilgesellschaft hinein zu tragen. Die Übernahme kommunaler Aufgaben ist jedoch ein umstrittenes Thema. Die Daseinsvorsorge wird einerseits in Teilen durch die Zivilgesellschaft geleistet, eine grundsätzliche Verantwortung wird

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jedoch abgelehnt. Es wird deutlich, dass Engagement (für das Gemeinwohl) nur dann und solange geleistet wird, wie die Engagierten Freude daran haben und sie die Kapazitäten dazu aufbringen wollen und können. Es stellt sich also die Frage, welchen Spaßfaktor beispielsweise die 72-Stunden-Aktion der Landjugend hat. In diesem Fall berichten die Ansprechpartner mit einer unglaublichen Begeisterung von den dort gemachten Erfahrungen und der Anerkennung. Im ländlichen Raum fällt die Rolle der räumlich hierarchisch gestuften Dachverbände auf. Obwohl diese auch im städtischen Kontext existieren, werden sie dort weniger thematisiert. Inwieweit diese Dachstrukturen explizit für den ländlichen Raum relevant, vielleicht auch ermöglichend sind und in anderen räumlichen Arenen ein womöglich ungenutztes Potenzial darstellen, bleibt hier unbeantwortet. Ebenso deckt die Frage nach der Relevanz von Eigentum an Grund und Boden einen interessanten Vertiefungsbedarf auf. Wie von Biechl angesprochen, existiert bei den Bäuerinnen und Bauern ein Bewusstsein dafür, dass Grundbesitz Verantwortung mit sich bringt. Der große Anteil an städtischen Gemeinschaftsflächen lässt in den Städten womöglich naturgegeben auch die Bereitschaft sinken, sich für den Raum zu engagieren. Bei allen Krisen der Landwirtschaft ist bei den ausgeführten Gegenüberstellungen zu vergegenwärtigen, dass hier vielfach (nicht ausschließlich) die besser gestellten ländlichen Regionen im Fokus der Befragung standen. Die Auseinandersetzung mit peripheren, strukturschwachen und stark schrumpfenden ländlichen Räumen stellt sicherlich ein anderes Problemfeld dar (vgl. Kapitel 5 und Borstel in diesem Band). Dem ländlichen Raum werden aber gerade aufgrund seiner Überschaubarkeit und der größeren Identifikation der Menschen mit ihm größere Chancen zugeschrieben, einige der aktuellen Themen besser lösen zu können, als dies in den anonymeren, städtischen Räumen der Fall ist (Glück). Es drängt sich die Frage auf, ob die Menschen in die Stadt ziehen, um diesem Engagement auf dem Land zu entgehen, oder ob das Leben in der Stadt dazu führt, dass sich ein solches Engagement nicht entwickelt. Es ergeben sich weiterhin grundlegende Forschungsbedarfe, was die Grenzen der durch die Zivilgesellschaft geleisteten Daseinsvorsorge betrifft. Auch der scheinbare Zusammenhang zwischen Engagementbereitschaft und der Nähe zur öffentlichen Hand ist genauer zu ergründen, als dies in diesem Projekt geleistet werden konnte.

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3.

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Das Quartier

Wie die Dörfer im ländlichen Raum, so ist auch das Quartier eine kleine räumliche Einheit, die zunächst einmal das Potenzial für gemeinschaftliche Aktivitäten und Verantwortung in sich trägt, in ihrer Struktur jedoch städtisch geprägt ist. Insbesondere im Bereich der Bürgerbeteiligung wurden auf dieser Ebene zahlreiche Erfahrungen gesammelt. Dazu trägt maßgeblich eine ausgeprägte Förderstruktur mit Fokus auf sog. „Stadteile mit besonderem Entwicklungsbedarf' bei. Das wohl prominenteste Programm ist das Programm Soziale Stadt. Es verfolgt einen integrierten Ansatz (vgl. Gualini in diesem Band), der den Anspruch erhebt, möglichst viele Akteure eines Stadtteils an dessen Entwicklung zu beteiligen, um mit ihnen autarke Strukturen zu entwickeln und zu verstetigen. Der integrierte Ansatz fordert zudem eine ressortübergreifende Zusammenarbeit der öffentlichen Hand ein. Im Rahmen solcher Förderprogramme wurden mit den zumeist aktivierenden Ansätzen vielfach gute Erfahrungen gemacht. Dieser Ansatz hat aber auch Grenzen. Ohne dies an dieser Stelle werten zu wollen, bleibt festzuhalten, dass es weder für ein gelungenes nachhaltiges Empowerment noch für eine Verstetigung viele gelungene Beispiele gibt. Die zahlreichen Aktivitäten in benachteiligten Stadtteilen bündeln aber auch den Blick in Richtung dieser Förderkulissen. Weniger im Fokus stehen bessergestellte Quartiere und das Engagement, das - zumeist unabhängig von staatlich initiierten Beteiligungsstrukturen - in diesen geleistet wird. 3.1 Engagement im Quartier

Die meisten Gesprächspartner in dieser räumlichen Arena sind der Meinung, dass das Engagement bezüglich der Stadtentwicklung primär im Quartier bzw. im persönlichen Nahraum der Menschen geleistet wird, weil diese hier persönlich betroffen sind. Thies beschreibt dies so: „Es geht nicht vorrangig um Funktionen oder Verkehrszellen, sondern um den Lebensraum. Wo finden sich Menschen unter welchen Aspekten zusammen und teilen gemeinsame Fragestellungen, die zu bearbeiten sind?" Die Abgrenzung dieses Nahraums ist jedoch schwierig. Sabine Slapa betont, dass es beim Engagement mehr auf die persönliche Bedeutung des Raums für die Person als auf das unmittelbare Wohnumfeld ankommt. Der Nahraum kann somit auch ein regelmäßiger Durchgangsort sein oder ein Erholungsort außerhalb des eigenen Nahraums. Und Birgit Weber betont, dass die unmittelbare Nachbarschaft auch sehr klein sein kann: „Wenn wir irgendetwas vor der Tür haben, ist das etwas anderes, als wenn es drei Straßen weiter passiert." Welche Personen sich im Quartier engagieren, hängt stark von der Aufgabenstellung ab und davon, was überhaupt als quartiersbezogenes Engagement betrachtet wird. Tobias Habermann weiß aus Erfahrung, dass es in Projekten, die aus der Zivilgesellschaft heraus entstehen, zumindest einer Person bedarf, die Vordenker und Motivator ist, und charakterisiert diese als in der Regel gutbürgerlich, älter als 35 und weiblich

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(während die Vorstände zumeist männlich sind). Er betont, dass zwar alle mitmachen können, dass für bestimmte Aufgaben jedoch eine gewisse Geistesweite sowie Kreativität benötigt werden, für alternative Ideen auch eine alternative Szene. Es braucht Zeit und Kraft, die Menschen in persönlichen Notlagen möglicherweise nicht haben. Ein Dach über dem Kopf und Verpflegung müssen gesichert sein, erst dann „kann man sich über weitere Sachen Gedanken machen." (Habermann) Es bedarf außerdem gewisser Kompetenzen, die im Fall des von ihm begleiteten Projekts der Nachbarschaftsgärten in Leipzig unter anderem juristischer Natur sind. So führt Habermann weiter aus: „Es muss irgendjemanden geben, der das überblicken kann, es muss jemand sein, der studiert hat, das muss jemand sein mit Intellekt." „Das Überblicken" beinhaltet aber nicht nur juristische Komponenten. Auch der Aufbau der Verwaltung muss verstanden und die dort zuständigen Ansprechpartner müssen bekannt sein. So sind zumindest solche Menschen notwendig, die vorangehen und die anderen mit sich ziehen. Verlassen sie die Gruppe oder das Quartier, kann ein Projekt zusammenbrechen, wenn kein Ersatz gefunden wird. In bessergestellten Quartieren, so Reinert und Heike Maria von Joest, gibt es viele solcher aktiven Bürger, die Engagement von Haus aus gelernt haben. Hier findet sich eine vielleicht überraschende Parallele zum ländlichen Raum. Thies sieht darüber hinaus ein vielfältiges Engagement deijenigen, die keine leitenden Rollen inne haben: „Wenn ich mal gucke, wer sich in einem wohlhabenden Dorf oder einer Gemeinde wirklich an Diskursen beteiligt, sind das ja nicht viele. Wenn man jetzt aber schaut, wie viele sich an Diskursen - auf ihre spezifische Art - in sozialen Brennpunkten beteiligen, sind das schon eine ganze Menge." So beschreibt er die für das Quartier wertvolle Arbeit des Sportvereins: „Das ist zwar nicht Schalke 04 aber Schwarz-Weiß XY! Und wenn man die fragt, werden die sagen: Wir sind keine Stadtteilentwickler. Aber sie entwickeln ja eine Identität oder haben bereits eine Identität aus dem Stadtteil heraus entwickelt. Sie wollen ihren Sport, stellvertretend für ihren Stadtteil, leistungsmäßig nach vome bringen. Innerhalb dieses Segments sind sie Stadtteilentwickler oder Sozialraumentwickler." Dazu gehört auch der „Platzwart, der dafür sorgt, dass Sonntags immer der Platz abgestreut ist, dass die Eckfähnchen stehen, dass das Bier kalt gestellt ist." Er ist nicht der große Stadtteilentwickler, leistet aber einen Beitrag, der diesen Stadtteil nach vome bringt. Hier mangelt es noch an einer angemessenen Anerkennungskultur. (Thies) Selbst bei den am wenigsten Privilegierten sieht Thies eine „Unmenge an Ressourcen, Potenzialen und Talenten, auch unkonventionellen Talenten [...], die ihren Alltag bewältigen unter schwierigsten Rahmenbedingungen. Das ist subversiv, oft illegal, was die alles machen. Da gibt es ein kreatives Potenzial", das für den Stadtteil abgeschöpft werden kann und muss. Und Vandamme fügt ein Beispiel aus Karlsruhe hinzu, wo die „Trinker im öffentlichen Raum" auf eigene Initiative hin und in Kooperation mit der Stadtreinigung einen von ihnen genutzten zentralen Platz regelmäßig reinigen. „Plötzlich ist ein ganz anderes Verhältnis da. Sie sind da, sie trinken halt,

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aber sie machen sauber. Sie sind in den Augen der Anwohner keine Bedrohung mehr. Sie sind Teil des Quartiers geworden." Der Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund, die immer wieder als schwierig erreichbar gilt, bescheinigt Staubach ein starkes Engagement, aber auch hier wieder auf eine unkonventionelle Art und nicht so, „wie das vielleicht die Mehrheitsgesellschaft definiert". Und weiter: „Wir wollen uns nicht nur mit formellem Engagement beschäftigen, das in Vereinen und generell in organisierter Weise stattfindet, sondern auch gucken, wie Engagement informell in Nachbarschaften organisiert stattfindet. Und das Engagement von Migranten findet sich gerade in diesen Bereichen." Als Beispiel nennt er ein Projekt, in dem türkische Familien eine Brachfläche, auf der Drogen gehandelt wurden, von Müll befreit und für den eigenen Gebrauch bewirtschaftet haben. Dieses Engagement wurde von den Besitzern der angrenzenden Kleingärten jedoch vielmehr als illegale Annektierung des Grundstücks und weniger als ein dem Quartier dienendes Engagement gesehen, beklagt Staubach. Sozialraumbezogenes Engagement wird also nicht immer gleich definiert und bewertet. Staubach betont auch, dass Engagement tatsächlich nicht in jedem Fall gut ist, sondern auch destruktiv sein kann. „Es kann Gruppen im Stadtteil geben, die lautstark sind, aber ganz deutlich andere Gruppen unterdrücken oder ihnen keinen Raum lassen." Engagement, das sich nicht nach den Maßstäben von Solidarität, Zusammenhalt oder Herstellung gleichwertiger Lebensbedingungen richtet, kann dysfunktional sein, selbst dann, wenn es gut gemeint ist. Hier beobachtet Staubach an manchen Stellen auch eine Überforderung bürgerschaftlichen Engagements, wo sich Menschen für andere Gruppen engagieren wollen, aber keinen professionellen Hintergrund haben und dann der Sache unter Umständen weniger dienlich sind. Zum individuellen Engagement der Bewohner kommt hier die professionalisierte und institutionalisierte Zivilgesellschaft ins Spiel, die sich ebenfalls auf vielfältige Weise im Quartier engagiert. In den Wohlfahrtsverbänden, den Einrichtungen von Diakonie und Caritas sowie in anderen größeren zivilgesellschaftlichen Organisationen erreicht sie einen Grad der Professionalisierung, durch den die Zivilgesellschaft noch ganz andere Funktionen übernehmen kann. Denn die professionalisierte Zivilgesellschaft hat andere Zugänge zur öffentlichen Hand, verwaltet für diese materielle Ressourcen, sie hat politisches Gewicht und kann so die Rolle des Anwalts für bestimmte Gruppierungen übernehmen. Sie kann und sollte Engagement in diesen Gruppen auch aufzeigen, anstoßen und ftir das Quartier abschöpfen, denn, so Thies: „Wenn der hauptamtliche zivilgesellschaftliche Bereich das nicht als Ziel ansieht oder als Aufgabe erkennt, dann entsteht keine Zivilgesellschaft im Kellergeschoss."

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3.2 Kommunikation und Kooperation Im Quartier wird besonders die nicht-finanzielle Bedeutung der Unterstützung lokaler Projekte und Aktivitäten durch die öffentliche Hand sichtbar. Dabei geht es beispielsweise um Räume, die für Treffen zur Verfügung gestellt werden, oder um das unentgeltliche Ausleihen v o n Drängelgittern für selbstorganisierte Straßenfeste, um Informationen über andere v o r Ort agierende Vereine oder über Eigentümer v o n unansehnlichen Brachflächen, um Hilfestellung in Form v o n Beratung zur Beantragung v o n Fördergeldem oder einen Wegweiser durch unübersichtliche Verwaltungen. Gleichzeitig können viele Hilfestellungen auch über

freiwilliges

Engagement

generiert werden, oft auf sehr kreative Art und Weise. Der oben erwähnte Verein Nachbarschaftsgärten e.V. in Leipzig berichtet von freiwilligen privaten Leistungen v o n Köchen und Ingenieuren sowie v o n Baggerfahrern einer nahe gelegenen Baustelle, die nach Feierabend gegen eine Flasche Freibier einen Durchstich gemacht haben. Die für die Gärten benötige Muttererde war vorher Teil der Osterdekoration der umliegenden Einkaufzentren gewesen. Für die Generierung all dieser zusätzlichen Mittel war eine breitenwirksame Öffentlichkeitsarbeit durch den Verein nötig. Beate Weber schreibt der Zivilgesellschaft eine „Energie von unten" zu, die länger währt als öffentliche Förderprogramme. So seien es manchmal gerade jene Akteure ohne abgesicherte Finanzierung, die ein sehr starkes Durchhaltevermögen hätten. In manchen Fällen liegen die Hindemisse für einen erfolgreichen Projektabschluss auch in öffentlichen Auflagen, beispielsweise in ordnungstechnischen Vorgaben, die für kleine Initiativen nicht einzuhalten sind. So war es für die Nachbarschaftsgärten nur über Fördergelder möglich, die ausnahmslos vorgeschriebenen Wasser- und A b wasseranschlüsse für die Fahrradselbsthilfewerkstatt, die neben den Gärten auf der Brachfläche entstand, zu finanzieren. Aber auch die Beantragung von Fördergeldem will gelernt sein, weiß Habermann zu berichten und verweist auf die Beobachtung, dass es zumeist die großen Träger und Vereine sind, die öffentliche Gelder akquirieren, weil sie eher die Kapazitäten dazu haben. Im Leipziger Projekt ist der Wert der freiwillig

erbrachten Arbeitsstunden und Sachspenden aus der Bevölkerung nicht in

Zahlen auszudrücken. Nach Einschätzungen des Quartiersmanagements liegt er weit über den öffentlichen Zuschüssen. Für den Erfolg des Projekts war beides notwendig und am Ende hat auch die öffentliche Hand v o n dem Projekt, das mehrere Bauaktivitäten rund um die ehemalige Brachfläche angestoßen hat, profitieren können. Die Art der verwaltungsinternen Barrieren bzw. nötigen Unterstützungsleistungen können sicherlich nicht verallgemeinert werden. Sie hängen sehr stark sowohl v o n der Verwaltung (und hier v o n einzelnen Mitarbeitern) als auch v o n den individuellen Bedarfen der zivilgesellschaftlichen Akteure ab. Wesentlich ist aber ein offener Dialog, in dem ausgelotet wird, wer welche Leistungen erbringen kann und an welchen Stellen ein gutes Vorhaben zu scheitern droht, obwohl ein kleiner Eingriff, eine Beratung oder ein wenig mehr Flexibilität der Verwaltung es retten könnten.

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Dieser offene Dialog ist in Fragen der Stadtentwicklung weniger ausgeprägt als bspw. in der Sozialplanung. Thies verweist auf den ordnenden Charakter des Baugesetzbuches im Vergleich zum Sozialgesetzbuch. Zwar ist selbstverständlich auch Letzteres ordnend, es besaß aber von Anfang an einen diskursiven Charakter: „Konstitutiv verankert im Jugendhilfegesetz sind die Verwaltung und die Zusammenarbeit der Akteure vor Ort. Wenn man das weiter durchdekliniert, will man also den Diskurs mit den Sozialpartnern im weitesten Sinne innerhalb der Gremien im Rahmen der Jugendhilfeplanung konstitutiv anlegen." (Thies) Das Vor-Ort-Sein und die Auseinandersetzung mit den Betroffenen als Individuen hat also gewissermaßen eine andere Geschichte. Freilich sind Mitwirkungsmöglichkeiten der Bürger inzwischen auch im BauGB verankert, sie sind darüber hinaus aber noch nicht selbstverständlich und man ist noch nicht so nah am Bürger wie in solchen Fragen, bei denen das Sozialgesetzbuch zum Tragen kommt. Für eine produktive Zusammenarbeit ist es darüber hinaus von Bedeutung, dass die zivilgesellschaftlichen Akteure ihre Aktivitäten der öffentlichen Hand angemessen mitteilen. Birgit Weber: „Mancher Bürger denkt vielleicht auch, allein dass er irgendwas macht, heißt schon, dass das auch jemand sieht. Auch für Initiativen gilt, dass sie kommunizieren, was sie machen. Ich kann nicht zu Hause sitzen und warten, dass jemand anklopft und fragt, was ich gerade mache. Wenn ich sehen will, dass etwas gesehen wird, muss ich es auch kommunizieren." Zwar verfügen die Verwaltungen über Vereinsregister. Welche Vereine jedoch überhaupt aktiv sind und was diese machen, wissen sie nicht in jedem Fall. Hier fordert Weber von den zivilgesellschaftlichen Akteuren einen selbstbewussteren Umgang mit der Verwaltung: „Wenn [der Bürger] geschickt ist, hat die Verwaltung überhaupt keine Möglichkeit, nicht hinzugucken." Auch Slapa sieht an dieser Stelle Entwicklungsbedarf: „Die Zivilgesellschaft ist ja auch nicht so weit, als dass sie sagt: ,0k, ich bin Bürger XY und ich habe jetzt eine tolle Idee und gehe damit zur Verwaltung.' Da gibt es ja Barrieren." Auch die Zivilgesellschaft könnte an dieser Stelle selbstbewusster und kommunikativer werden. Ob die Mitwirkung der Zivilgesellschaft an Prozessen der Stadtentwicklung institutionalisiert werden sollte, darüber sind sich die Partner nicht einig. Thies fordert nach hessischem Vorbild, dass sachkundige Bürger als Vertreter der verschiedenen Gruppierungen in politische Beiräte eingebunden werden, in denen sie die gleichen Stimmanteile haben sollen wie die Parteien. Die professionell organisierte Zivilgesellschaft soll seiner Meinung nach hier nur beratend tätig werden (ohne Stimme), da sie ihre eigenen Zugänge zur öffentlichen Hand hat. Habermann steht fest verankerten Beratungsgremien und Arbeitskreisen kritisch gegenüber, weil sich die Bürger erfahrungsgemäß nur temporär, aber nicht auf Dauer engagieren wollen. Und auch Reinert hat Vorbehalte: „Ich habe immer größte Bedenken gegen alle Formen von institutionalisierten Arbeitskreisen. Wo sehr leicht neue .Klüngelkreise' entstehen. Entweder sind es .Klüngelkreise', die sich gegenüber anderen abschotten und dann ein Eigenleben entwickeln. Oder die andere Alternative ist, dass es so sterile Diskussionsforen sind, wo man schon immer weiß: .Wenn der sich

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meldet, der sagt immer das und wenn der sich meldet, der sagt immer das', und man im Grunde die Rollen austauschen kann und sagt: .Heute sagst du mal das, was der sonst immer sagt', weil jeder sowieso schon weiß, was gesagt wird." Reinert fordert stattdessen lokale Plattformen zum Austausch über Aktivitäten im Quartier, in denen sich die einzelnen Akteure themenspezifisch und temporär zusammenschließen können und sich nach dem System des „shifting involvement" mal mehr, mal weniger stark einbringen. Ähnliches schlagen Birgit Weber, Klaus Reuter und Slapa vor, indem sie regelmäßig stattfindende Stadtteilkonferenzen und Runde Tische anregen, bei denen Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft gemeinsam über die Anliegen im Quartier sprechen (vgl. Kapitel 1.2). 3.3 Netzwerkarbeit und Intermediäre

Thies macht im Bereich der Kirchen auf das Spannungsfeld zwischen den drei Formen der Diakonie (im Sinne des Dienstes an den Menschen) aufmerksam. Die Kirche besteht zum einen aus den professionell geführten Einrichtungen der Untemehmensdiakonie, die nach den Prinzipien der Wirtschaftlichkeit wirkend als Dienstleister der öffentlichen Hand fungiert; dabei handelt es sich um Verbandsstrukturen, also klassische Einrichtungen des Dritten Sektors. Außerdem findet Diakonie in den lokalen Kirchengemeinden statt, teilweise im Konflikt mit der Unternehmensdiakonie, die zuweilen das unprofessionelle Vorgehen der Kirchenmitglieder beklagt. Und drittens versteht sich die Kirche als „Anwalt der Armen", sie ist ein sozialpolitisch relevanter Partner und will durch Lobbyarbeit konstitutiv an der Gestaltung des Staates mitwirken. Thies sieht derzeit einen Trend zur Diakonie als Dienstleistung. Er fordert daher die Stärkung des Dreiklangs dieser unterschiedlichen kirchlichen Bereiche und damit einhergehend ein besseres Zusammenwirken von Professionellen und ehrenamtlich Engagierten. Letztere müssen bezüglich ihres Vorgehens Kirchengemeindeentwicklung und Stadtentwicklung im Zusammenhang sehen, damit soziale Aufgaben nicht an die Diakonie „abgeschoben" werden und die Brücke zwischen Kirche und den Menschen nicht abbricht. Der Appell für eine ausgewogene und konstruktive Kooperation dieser drei Formen von Engagement im kirchlichen Bereich kann auch an die nicht-kirchlichen Akteure der örtlichen Zivilgesellschaft gerichtet werden. Denn Thies weist zurecht darauf hin, dass in Stadtteilen zwei Systeme zivilgesellschaftlicher Organisationen handeln: Ein professionell agierendes, bestehend aus zivilgesellschaftlichen Akteuren, die aufgrund eines Auftrags gewisse Stadtteilkompetenzen erworben haben (ζ. B. der Leiter des Jugendclubs), sowie das Netzwerk der Bewohner. Beide Netzwerke müssen seines Erachtens differenziert betrachtet, gestärkt und in Kooperation geführt werden. „Wenn ich den Pfarrer kenne und weitere fünf hauptamtlich Agierende, kenne ich damit noch nicht unbedingt die zivilgesellschaftliche Basis."

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Neben diesen beiden informellen Netzwerken agiert die Seite der öffentlichen Hand, die zumindest auf der politischen Ebene zu einem Großteil auf unbezahlter und freiwilliger Arbeit beruht. Dieses Netzwerk weiß wiederum nicht unbedingt, was in den anderen beiden Netzwerken passiert. „Wie konstituiere ich einen Prozess, der auch die informellen Stadtentwicklungsdebatten verbindet, die in Sportvereinen und anderen Zirkeln stattfinden, mit Zirkeln oder Debatten in Ämtern und Stadtpolitik?" fragt Thies. Anders formuliert: Wie verbindet man das Potenzial und das Wissen in einem Stadtteil mit den vielen Dingen, die im Stadtteil aus Sicht der öffentlichen Hand nicht zufriedenstellend gelöst sind? Thies gibt auch gleich eine Antwort: „Da kommt der Intermediäre ins Spiel." Diese Instanz, bei der im Stadtteil die Fäden zusammenlaufen, die moderiert und vermittelt, wird von vielen Gesprächspartnern als wichtig erachtet. Insbesondere dort, wo Bürger aufgrund von negativen Erfahrungen ein gewisses Misstrauen gegenüber staatlichen Personen und Einrichtungen haben, braucht es intermediäre Instanzen als Brückenbauer, findet Staubach. Er ergänzt auch den Bedarf an Mediation innerhalb der Zivilgesellschaft sowie den Bedarf an Interessenausgleich zwischen jenen Gruppen, die lautstark auf sich aufmerksam machen können und jenen, die leichter überhört werden. Im Zuge des Programms Soziale Stadt sind in vielen Stadtteilen mit besonderem Entwicklungsbedarf Quartiersmanager oder Stadtteilmanager eingesetzt worden, die zumindest für den Förderungszeitraum diese Aufgabe übernehmen. Thies merkt jedoch an, dass die lokale Netzwerkarbeit ein auf Dauer angelegter Prozess ist und einer anderen Logik folgt als zeitlich begrenzte Förderprogramme. Auch sind die häufig von städtischer Seite eingesetzten Intermediäre nicht so unabhängig und neutral, wie es die Zivilgesellschaft sein kann: „Man darf nicht die Hand beißen, die einen füttert", so Habermann in seiner Funktion als Quartiersmanager. Seiner Meinung nach sollte zwar auch ein bei der Stadtverwaltung angestellter Quartiersmanager diese kritisieren dürfen, zivilgesellschaftliche Akteure können jedoch selbstbewusster und fordernder mit Verwaltung und Lokalpolitik umgehen: „Ein Bürgerverein kann direkt beim Bürgermeister klingeln und sagen: ,Das wollen wir jetzt und das machen wir jetzt, wir wollten sie informieren.' Die müssen nicht nachfragen, die können informieren." (Habermann) Reuter verweist ganz grundsätzlich auf die große Bedeutung für Projekte, verwaltungsinterne Verfahrensabläufe zu kennen. Ein direkter Ansprechpartner in der Verwaltung oder eben ein städtischer Quartiersmanager ist hier von Vorteil. Habermann betont, dass ein Intermediärer in jedem Fall sehr nah an den Bewohnern sein muss, mit anpacken muss, um akzeptiert und ernst genommen zu werden. Slapa weist in diesem Zusammenhang auf die lokalen Gewerbetreibenden hin: „[...] die kommen ja ins Gespräch mit den Leuten. Und die Leute gehen dorthin und teilen beim Einkaufen auch ihre Sorgen mit. Und das können solche Leute unheimlich gut aufnehmen. Das kann die Verwaltung ja gar nicht. Die ist außen vor." Staubach fordert ein Quartiersmanagement grundsätzlich für alle Stadtquartiere, jedoch mit unterschiedlichen Anteilen an öffentlicher und privater Verantwortung je

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nach Stärke der lokalen Zivilgesellschaft und angepasst an die Herausforderungen und Strukturen des jeweiligen Stadtteils: „Für die einen muss es tiefer angelegt werden, konkreter sein und es müssen Projekte definiert werden. Für Bildungsbürger kann man abstraktere Angebote und Gelegenheiten schaffen, um sie zu erreichen." Von Joest fordert einen weitgehenden Rückzug des Staates aus den bessergestellten Quartieren („Weg mit dem Staat, die wissen wie es geht."), um die begrenzten öffentlichen Mittel langfristig ausschließlich dorthin fließen zu lassen, wo Bedarf besteht. An dieser Stelle manifestieren sich die unterschiedlichen Sichtweisen bezüglich der Rolle, Grenzen und Aufgaben des Staates. Viele Gesprächspartner unterscheiden bei der Förderung und Koordinierung des Engagements auf Quartiersebene sehr deutlich zwischen benachteiligten und bessergestellten Quartieren. Die Bewohner in sozial schwachen Quartieren leiden nicht nur unter materieller Armut, sondern häufig auch unter einer „politischen Armut", weil sie keinen direkten Zugang zur Verwaltung und zur Politik haben oder ihre Wünsche nicht artikulieren können, so Reinert. Thies beschreibt die Situation in einem nicht benachteiligten Ort so: „Da wusste der Sportvereinsfunktionär sehr wohl, wie er mit dem Bürgermeister kommunizieren kann. Und andere Mitglieder des Sportvereins waren fraktionsübergreifend im Parlament vertreten. Die haben also ihre Zugänge." Die Bewohner in benachteiligten Quartieren brauchen also besondere Hilfestellungen, um ihr Umfeld aktiv mitgestalten zu können. Staubach beklagt, dass durch die niedrige Wahlbeteiligung sowie die fehlende Möglichkeit für Nicht-Deutsche, ihre Lokalpolitiker zu wählen, bei den örtlichen Parteien ein Mangel an Legitimation herrscht, da sie große Teile der Bevölkerung nicht vertreten. Gerade hier dürfe Stadtentwicklung nicht nur über Wahlen legitimiert, sondern müsse mittels kommunikativer Prozesse diskutiert werden.

3.4 Bürgerbeteiligung

Die Kommunikation und Kooperation zwischen der Zivilgesellschaft bzw. den bürgerschaftlich Engagierten und der öffentlichen Hand wird im Quartier stärker als in den anderen räumlichen Arenen mit der formellen und informellen Bürgerbeteiligung assoziiert, also mit einem einseitig von der öffentlichen Hand kommenden Kommunikationsangebot. Dies mag an den zahlreichen Förderprogrammen liegen, die in den letzten Jahren aufgelegt wurden und nach Ansicht von Slapa dahingehend von Bedeutung sind, dass die Verwaltungen dazu gezwungen wurden, die Bürger bei der Planung mit ins Boot zu holen. Trotz vieler positiver Beispiele und eines grundsätzlichen Bedeutungswandels der Bürgerbeteiligung sehen die Gesprächspartner auch vielfältige Gründe für das Scheitern lokaler Bürgerbeteiligung. Staubach empfindet Beteiligung zuweilen als „Rhetorik und Verbalakrobatik", die nur stattfindet, weil sie Voraussetzung für Fördergelder, nicht aber weil sie gewollt ist. Slapa kennt in ihrem Umfeld wenige Planer, die der Meinung sind, dass die Zivilgesellschaft von Anfang an in die Planung mit einbe-

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zogen werden müsse. Dies ist teilweise in der Angst vor zu hohen Forderungen begründet: „Oftmals sind es ja bei der Bürgerwahmehmung nur so ganz kleine Dinge, es sind ja noch nicht mal die großen Welten, die bewegt werden müssen. Und ich glaube, da ist ein unterschiedliches Verständnis. Die Verwaltung denkt immer, sie müsse jetzt 80.000 Euro in die Hand nehmen und müsse die Straße umbauen, und nur dann sind die Bürger zufrieden. Aber oftmals reicht es, dass die Bank vielleicht eine Lehne bekommt." Habermann sieht den Grund für dieses Zögern in dem scheinbaren Mehraufwand für die Verwaltungsangestellten. Einige Mitarbeiter der Verwaltung haben eine große Scheu vor Konflikten, die sie austragen müssten, weil die Bürger unter Umständen anderer Meinung sind oder nicht mit einer Stimme sprechen. Finden Veranstaltungen zur Beteiligung statt, so widersprechen sie teilweise der Handlungslogik der Zivilgesellschaft: „Da kann man nicht erwarten, dass, wenn man sagt: Abends ist eine Versammlung, da könnt ihr euch äußern', dass die dahin kommen. Viele haben schon zeitliche Probleme. Also Schichtarbeitende oder Verkäuferinnen und Verkäufer, die bis 22 Uhr arbeiten, die können nicht, wenn um 19 Uhr oder 19.30 Uhr die Parteiversammlung oder die Bürgerversammlung ist, dahin kommen." Habermann betont, dass der Ort und die Uhizeit solcher Veranstaltungen sehr gründlich gewählt werden müssten: „Wenn abends ein Fußballspiel ist - ich würde nie bei einem Fußballländerspiel eine Veranstaltung machen, das ist tödlich." Denn die Mitarbeiter der Verwaltung müssen verstehen, „dass Leute in ihrer Freizeit aus Spaß und Freude hingehen", so Habermann weiter. Bleibt nur das Wochenende? Hier setzt sich Hummel für den Feierabend der Verwaltungsmitarbeiter ein. So zeichnet sich bereits bei der Terminfindung ab, dass es schwer ist, die unterschiedlichen Handlungslogiken zusammenzubringen und dass Kreativität und Flexibilität gefordert sind, wenn die Akteure aufeinander zugehen sollen. Slapa fordert neue Methoden, um Menschen zu aktivieren und neugierig zu machen. Weil die meisten Menschen dann kommen, wenn es um sehr konkrete Themen geht, von denen sie persönlich betroffen sind, kommt es auch nicht primär auf die Anzahl der Beteiligten, sondern auf die Qualität der Kommunikation an, so Habermann. „Veranstaltungen mit zehn Leuten können erfolgreicher und intensiver sein, weil da qualitativ viel mehr bei herauskommt, als wenn 200 Leute zwei Stunden dastehen und sich berieseln lassen." Aus der Forderung nach niedrigschwelliger Ansprache und qualitativer Kommunikation folgt eine stärkere Mitbestimmung. „Es ist zu wenig, die Bürger zu fragen .Wollt ihr lieber grün, gelb oder rot haben? Und den Papierkorb 10 cm dichter dran oder 15 cm weit weg von der Wand?' [...] Das ist die klassische Beteiligung, wie sie in vielen Orten in Deutschland stattfindet. Und so findet dort auch die klassische Kommunikation statt", bemängelt Habermann. Ebenso wie Slapa und Reuter kennt auch er gute Beispiele, wo die Bürgerinnen und Bürger viel früher in die Planungen einbezogen werden. Denn von ihnen können wichtige Impulse ausgehen, die in der Verwaltung unter Umständen nicht gesehen werden.

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Hummel kritisiert, dass die Bürger auf die Rolle von Bittstellern reduziert werden: „Die Benachteiligten fordern möglichst viel, damit sie irgendwie am Kuchen teilhaben können. Und der Staat sagt irgendwann: ,Ach, soviel haben wir grad nicht'. Das ist ein langweiliges Spiel - nennt sich Bürgerbeteiligung." Alle Gesprächspartner fordern eine Begegnung auf Augenhöhe. Für Slapa fängt dies bei der persönlichen Ansprache im Rahmen von Beteiligungsmaßnahmen an: „Das ist mir dann ehrlich gesagt auch vollkommen schnurz, ob da der Bürgermeister oder der Landrat oder Herr Professor oder wer auch immer ist. Wenn er dahin kommt, dann muss ihm klar sein, dass hier jeder gleich ist und dass es keine Sonderbehandlungen gibt. [...] Ich würde ihn auch niemals mit Bürgermeister oder Doktor ansprechen. Das ist für mich Herr Maier, Herr Schulze oder wie auch immer." Diese Erfahrungen mit der Bürgerbeteiligung zeigen, wie Kommunikationsprobleme bereits aus der Ansprache und den Erwartungshaltungen heraus entstehen können. 3.5 Ableitungen und Vertiefungsbedarfe

Wie der ländliche Raum, so eröffnet auch das Quartier die Chance, sich auf niedrigschwelliger Ebene für den persönlichen Nahraum zu engagieren. Im Gegensatz zum ländlichen Raum wurde hier jedoch schon viel darüber gesagt - zumindest das Engagement im Rahmen von Förderprogrammen ist bekannt und es fällt den Gesprächspartnern zum Teil sehr schwer, bezüglich der Rolle der Zivilgesellschaft nicht über informelle Bürgerbeteiligung zu sprechen. Weniger offensichtlich ist das Engagement außerhalb dieser Programme, das jedoch mindestens ebensoviel, wahrscheinlich auch nachhaltigeres Potenzial besitzt. Auf ganz unterschiedlichen Ebenen der Professionalität und in vielen Themenbereichen existiert im Quartier eine Zivilgesellschaft, die häufig nicht gesehen oder als solche erfasst wird. Wie dies geschehen kann und wie die zahlreichen laufenden Aktivitäten zu bündeln sind bzw. wie bei den Akteuren ein Bewusstsein für ihren Beitrag zur Stadtentwicklung zu erreichen ist, bleibt jedoch weitestgehend unbeantwortet. Die Ursachen für eine Unterschätzung der Bedeutung der Zivilgesellschaft und des bürgerschaftlichen Engagements mögen in der mangelnden Kommunikation beider Seiten liegen - oder an unterschiedlichen Kommunikationsmodi: Die Zivilgesellschaft macht nicht immer genügend auf ihre Aktivitäten aufmerksam und die öffentliche Hand erkennt bei dem an sie herangetragenen Engagement nicht immer die Relevanz für die Stadtentwicklung. Dabei ist sich das Gros der Interviewpartner einig: Es geht nicht darum, wer Aufgaben besser löst, sondern darum, dass sich die Qualität erhöht, wenn Zivilgesellschaft und öffentliche Hand gemeinsam ein Projekt angehen. Wünschenswert sind darüber hinaus Kooperationen mit der Wirtschaft, wie sie auch Quartiersmanagementgebiete zum Ziel haben. Letztere werden oft mit dem Vorwurf konfrontiert, dass sie in der Summe - trotz zahlreicher guter Beispiele - den Anspruch auf Vernetzung und Problemlösung auf Augenhöhe eben nicht nachhaltig erfüllen. In den sogenannten besser gestellten Quartieren wird die Nachhaltigkeit einzelner Projekte

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hingegen kaum näher betrachtet. Ist es also tatsächlich eine Besonderheit der strukturschwachen Quartiere, dass sich Strukturen nach dem Auslaufen einer Finanzierung nicht verstetigen? Interessant wäre die Untersuchung der Frage, was das projektbezogene Engagement, beispielsweise bei der Organisation eines Freiwilligentages durch engagierte Bürgerinnen und Bürger in einem bessergestellten Quartier von dem eines Quartiersmanagements in einer Sozialen Stadt-Kulisse unterscheidet. An die Verstetigungsdiskussionen der Sozialen Stadt anknüpfend stellt sich die dringende Frage, wie in Quartieren ganz allgemein Kommunikation verbessert und Kooperationen gefördert werden können. Welche Erfahrungen können aus fehlgeschlagenen Bürgerbeteiligungsmaßnahmen gezogen werden und wie können unterschiedliche Handlungslogiken Berücksichtigung finden? Was sind die Barrieren für ein bürgerschaftliches Engagement im Nahraum, und wie können diese abgebaut werden? Insbesondere die Rolle von Intermediären ist hier zu untersuchen. An manchen Stellen hat hierzu die Planung einen zivilgesellschaftlichen Beitrag geleistet. Ein Beispiel ist der Planerladen, der aus einer Initiative von Studierenden der Raumplanung in Dortmund entstanden ist (Staubach). Ziel war es, Planung mit den Menschen vor Ort zu machen und dadurch demokratischer zu gestalten. So war die Beteiligung vielleicht auch aktiverend, die Studierenden wollten in erster Linie aber ermöglichen. In den Gesprächen wurde deutlich, dass in vielen Quartieren selbst die Bürgerbeteiligung noch unzureichend ist und eine sich darüber hinaus engagierende Zivilgesellschaft erst recht nicht mit Stadtentwicklung in Verbindung gebracht wird. Hier gilt es, für ein Bewusstsein für die Aktivitäten der Zivilgesellschaft sowie für die Verbindung dieses Engagements mit den Themen der Stadtentwicklung zu sensibilisieren. Erst dann kann sich das große Potenzial für die benachteiligten, aber auch für die bessergestellten Quartiere entfalten. Vielleicht ist das Engagement auf dieser Ebene auch besonders komplex, weil hier sehr viele unterschiedliche Ansprüche und Strukturen aufeinander stoßen. Zwar werden die Strukturen bei zunehmender räumlicher Größe komplexer, die Akteure werden aber auch „lauter". Vieles von dem, was im Quartier passiert, wird vielleicht auch deshalb nicht erfasst und vernetzt, weil es „leise" geschieht.

4.

Die Stadt

Das Quartier wurde als erlebbarer Nahbereich und damit als Raum für Engagement vorgestellt. Mit Beteiligungsverfahren wurden auf dieser Ebene die meisten Erfahrungen gemacht. Doch was ist mit dem Engagement für die Gesamtstadt? Ist das Feld zu groß? Wer sind die Akteure, die über das Quartier hinaus Stadt entwickeln? Handelt es sich dabei um eine bewusste Einscheidung für die städtische Ebene? Und in welchem institutionellen Rahmen findet hier Engagement statt? Auch wenn die folgenden Ausführungen nicht für alle Städte in ihrer Vielfalt und all ihren Facetten stehen können, weisen sie auf die Relevanz der Zivilgesellschaft in dieser räumlichen Arena hin.

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4.1 Engagement in der Stadt

Die Motivation für ein Engagement wird entweder durch einen großen Leidensdruck ausgelöst oder durch die große Hoffnung beflügelt, etwas ändern zu können (Reinert). Sowohl der Leidensdruck als auch die Hoffnung auf Erfolg sind dann am größten, wenn es um konkrete Themen mit greifbaren Lösungen geht, von denen ein Mensch persönlich betroffen ist. Aus diesem Grund sind viele Gesprächspartner der Meinung, bürgerschaftliches Engagement finde primär auf der Ebene des konkreten Nah- bzw. Sozialraums und weniger auf gesamtstädtischer Ebene statt (vgl. Kapitel 3.1). Im Bezug auf die Freiwilligenagenturen sagt Birgit Weber: „Wenn sie Bürgernähe brauchen, dann müssen sie dorthin, wo die Bürger sind. Und die sind nicht in der Stadt, sondern die sind in den Kiezen, in ihren Vierteln usw. Es gibt auch ausgewählte Projekte, die stadtweit denken und in größeren Zusammenhängen. Aber ursprünglich an den Bürgern dran, mit den Bürgern zusammen, hat immer auch einen Bezug zur Lebenswelt. Und als Lebenswelt ist eine Stadt zu groß." Engagement braucht Identifikation und während im ländlichen Raum ein Programm mit dem Titel „Unser Dorf soll schöner werden" aktivierenden Charakter hat, wäre ein entsprechendes Programm bezogen auf einen größeren Raum - etwa „Unser Friedrichshain soll schöner werden" - weniger erfolgsversprechend (Reinert). Auch Reuter charakterisiert Engagement als Stadtteil- bzw. quartiersbezogen und insbesondere in Großstädten nicht als gesamtstädtisch. Großstädte stellen mit Sicherheit eine Besonderheit dar - insbesondere vor dem Hintergrund, dass mancherorts ein Stadtteil oder Bezirk mehr Einwohner und/oder Fläche hat, als anderswo Klein- und Mittelstädte. Beate Weber meint, dass Engagement eher dort zustande kommt, wo die räumliche Einheit und damit der thematische Abstraktionsgrad kleiner sind. Einen übergeordneten, raumbezogenen Blick schreibt Reuter hingegen den „Berufsbürgern" zu, die sich aufgrund ihrer beruflichen Stellung oder ihrer Interessen mit gesamtstädtischen Themen beschäftigen. Für Beate Weber gehören hierzu auch Bürgerinitiativen, die temporär Interessen mit einem Bezug zu Themen städtischen Ausmaßes vertreten. Und auch Arnd Pricibilla schließt sich dieser Meinung an: Engagement ist zunächst eher kleinräumig, aber in der Addition dann letztlich wieder großflächig. Reinert weist jedoch daraufhin, dass auch indirekte Betroffenheit zu bürgerschaftlichem Engagement führen kann und dass regionale, nationale oder globale Themen zuweilen stärker bewegen als das Geschehen vor der eigenen Haustür. Von Joest berichtet von Menschen, die sich im Rahmen von Projekten der Bürgerstiftung Berlin durchaus in andere Stadtteile begeben, um sich dort für bedürftige Menschen zu engagieren und davon dann wiederum auf einer persönlichen, emotionalen Ebene zu profitieren. Vandamme misst einem solchen quartiersübergreifenden Ansatz große Bedeutung zu, weil die Potenziale für benachteiligte Quartiere oft außerhalb der Quartiersgrenzen liegen. Neben dem lokalen Engagement außerhalb des eigenen Nahraums zur Förderung anderer Quartiere gibt es viele Beispiele für ein bürgerschaftliches Engagement zur Aufrechterhaltung ehemals kommunaler Angebote von stadtweiter Relevanz. Engage-

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ment dieser Art hat zwar einen gesamtstädtischen Bezug, ist jedoch auf ein konkretes, lokal verankertes Projekt und nicht auf komplexe gesamtstädtische Zusammenhänge bezogen (vgl. Kapitel 4.3). Zivilgesellschaftliche Akteure, die bei ihrem Engagement die Gesamtstadt im Blick haben, gehören zumeist der „elitären" Zivilgesellschaft an, den professionalisierten zivilgesellschaftlichen Organisationen. Sehr deutlich wird dies z.B. bei den Bürgerstiftungen, deren Engagement oft die Verbesserung der Lebensbedingungen innerhalb einer Stadt zum Ziel hat. Die Bürgerstiftung Berlin hat während des Prozesses zur Formulierung ihres Leitbildes unter anderem über den Anspruch gesprochen, den ihr Name beinhaltet - nämlich eine Stiftung von und für alle Berliner zu sein. Sie versteht sich als koordinierende Dachorganisation für Engagement in der Stadt. „ [...] denn sonst versandet bei den Projekten zu viel im ,Kleinklein'. Oft ist es ganz wichtig, Wissen zu bündeln, Ideen zu bündeln und Finanzen zu bündeln", so von Joest. Während sich das übergeordnete Ziel der Bürgerstiftung Berlin auf die Gesamtstadt bezieht, finden sich unter ihrem Dach eine Vielzahl einzelner Projekte, teils innerhalb von Quartieren, teils quartiersübergreifend. Der Weg einer Bürgerstiftung zu mehr Einfluss ist jedoch weit, meint Pricibilla, denn viele Bürgerstiftungen operieren auf kleiner Basis, da ihr Finanzvolumen bisher noch begrenzt ist (vgl. Wolf in diesem Band). Dies mag auch ein Grund dafür sein, dass Bürgerstiftungen - zumindest noch nicht - die Bedeutung von Dachorganisationen wie im ländlichen Raum besitzen (vgl. Kapitel 2.3). Pricibilla hebt die Bedeutung von Dachorganisationen jedoch hervor: „Ich habe mehrere Akteure in einer Stadt, die an der Thematik arbeiten, jeder kocht bislang erst mal so sein eigenes Süppchen, oftmals nebeneinander her, oftmals kommt auch die gleiche Suppe dabei raus. Eigentlich kann man Kräfte bündeln, Ressourcen bündeln und das gemeinsam auf den Weg bringen." Dass diese Koordinationsaufgaben auf gesamtstädtischer Ebene zumindest in den größeren Kommunen nicht durch das bürgerschaftliche Engagement Einzelner erfüllt werden können, sondern es hierzu größerer zivilgesellschaftlicher (oder staatlicher) Organisationen bedarf, versteht sich von selbst. Im Kontext des bürgerschaftlichen Engagements auf kommunaler Ebene sind auch die Leistungen von Kommunalpolitikern und Mitgliedern politischer Parteien zu erwähnen. Auch wenn diese nicht immer der Zivilgesellschaft, sondern vielfach dem Staat zugeordnet werden, so findet ihre Arbeit doch überwiegend unbezahlt statt. Dabei wird besonders deutlich, dass Engagement auf kommunaler Ebene sehr viel politischer ist als im Quartier oder im ländlichen Raum (vgl. Kapitel 2.1 und 3.1). Je größer die Stadt, desto abstrakter und/oder politisch aufgeladener werden die Themen. Um hier mitwirken zu können, bedarf es eines bestimmten Grades an Einfluss und Kompetenzen. Auch dadurch ergibt sich die verstärkte Organisation und Institutionalisierung der zivilgesellschaftlichen Akteure in dieser räumlichen Arena. Ein Bewusstsein für die Stadtentwicklungsrelevanz des Engagements schreiben die Gesprächspartner daher eher der institutionalisierten Zivilgesellschaft als einzelnen bürgerschaftlich Engagierten zu. Dennoch beobachten viele Gesprächspartner, dass

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auch die Bürgerinnen und Bürger, die in der Regel in ihrem Engagement nicht mit komplexen und gesamtstädtischen Themen konfrontiert sind, in größeren Maßstäben denken können, wenn sie die dafür nötige Zeit erhalten und dazu angeleitet werden (Beate Weber, Slapa, Reinert). Reinert betont an dieser Stelle, dass es bei vielen Fragestellungen nicht möglich ist, nach rein sachlichen Argumenten zu entscheiden. Vielmehr gehe es häufig um politische Entscheidungen. Weil auch bürgerschaftlich engagierte Politiker sich schnell in ihnen fachfremde Zusammenhänge einarbeiten können und müssen, traut Reinert diese Fähigkeit auch den Bürgerinnen und Bürgern zu. Für Vandamme ist diese Fähigkeit weniger notwendig und eine Fokussierung ausschließlich auf die Belange im Nahraum legitim: „Wenn man die Stadt betrachtet wie eine Landschaft, dann könnte man sagen: In der Verwaltung müssen Führungspersonen die gesamte Landschaft wahrnehmen. Das ist deren Job. Die Bürgerschaft kann, muss aber nicht die gesamte Landschaft wahrnehmen. Das ist deren Freiheit." 4.2 Kommunikation und Kooperation

Die Gesprächspartner weisen der institutionalisierten Zivilgesellschaft auf gesamtstädtischer Ebene die Rolle eines Bindeglieds zwischen Bürgern und öffentlicher Hand zu. Einerseits dient sie der öffentlichen Hand als Ansprechpartner, um ihre Belange in die Bürgerschaft hineinzutragen und Informationen über das bürgerschaftliche Engagement in der Stadt zu erhalten. Birgit Weber erwähnt hier die Bedeutung der Freiwilligenagenturen, die Informationen zum Engagement lokaler Akteure bündeln und an die öffentliche Hand weitergeben können. Andersherum sind zivilgesellschaftliche Organisationen auch Sprachrohr der Bürgerinnen und Bürgerin in die Verwaltung und Politik hinein, indem sie deren Belange vertreten. Die Bürgerstiftung Berlin versteht sich außer als unmittelbar helfende Institution für bedürftige Menschen auch als eine Instanz, die politisch Einfluss nimmt (von Joest) (vgl. Kapitel 3.3). Reuter weist jedoch daraufhin, dass durch die institutionalisierte Zivilgesellschaft nicht pauschal die Interessen aller vertreten werden. Und auch Pricibilla schreibt der Kommune letztlich eine größere Neutralität zu als den Wohlfahrtsverbänden, die durch ihre jeweiligen Philosophien geprägt sind. Neben der Initiierung von Projekten und politischer Einflussnahme wird der Zivilgesellschaft auch die Rolle zugeschrieben, konkrete Aufgaben für die Kommunalverwaltung zu übernehmen. Aufgrund ihrer Unabhängigkeit sind größere zivilgesellschaftliche Träger zum Teil besser in der Lage, für die öffentliche Hand beispielsweise eine Beratungsfunktion zu übernehmen. Die Zivilgesellschaft hat in Heidelberg die Umweltberatung, welche zuvor die Stadt für die Bürger angeboten hatte, übernommen. Zunehmend und kontrovers wird auch die Übernahme kommunaler Infrastrukturen durch die Zivilgesellschaft diskutiert (vgl. Kapitel 4.3).

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Da gesamtstädtisches Engagement eher der institutionalisierten Zivilgesellschaft zuzuordnen ist, kann man davon ausgehen, dass hier auch entsprechende Kanäle zur öffentlichen Hand etabliert sind. In vielen Städten gibt es mittlerweile Ansprechpartner für die Zivilgesellschaft, wie weiter unten beschrieben wird. Je größer die Stadt, desto weniger können diese Ansprechpartner jedoch kleinen Initiativen oder Einzelpersonen gerecht werden. In größeren Städten ist daher eine dezentrale Organisation wichtig, damit die Distanz zur öffentlichen Hand nicht zu groß wird. 4.3 Übernahme städtischer Aufgaben am Beispiel der Freibäder

Im ländlichen Raum wird das Thema der Daseinsvorsorge thematisiert (vgl. Kapitel 2.5). Auch in den Kommunen kommt es aufgrund von Kürzungen immer wieder zur Schließung kommunaler Einrichtungen, die nicht verpflichtend angeboten werden müssen. Ein Beispiel hierfür sind Freibäder. Während die Hallenbäder als notwendige Voraussetzung für den Schulsport aufrechterhalten werden müssen und daher nicht ohne weiteres geschlossen werden können, zählen Freibäder in vielen Städten nicht zu den kommunalen Pflichtaufgaben. Ihre Schließung ist dennoch von gesamtstädtischer Bedeutung. Pricibilla berichtet von einer Kommune, in der die Zivilgesellschaft durch ihr Engagement den Erhalt des Freibades gewährleistet und das betriebswirtschaftlich nicht rentable Schwimmbad effizienter geführt hat, als dies zuvor in öffentlicher Trägerschaft der Fall war. Damit ein solches Engagement Erfolg hat, bedarf es jedoch mehrerer Voraussetzungen. Lang beschreibt dies für den ländlichen Raum und auch Pricibilla ist der Meinung, dass die Kommune nicht in eine Anspruchshaltung gegenüber der Zivilgesellschaft verfallen darf, also nicht erwarten kann, dass die Bekanntgabe der Schließung automatisch zu einer Übernahme durch die Zivilgesellschaft führt. Denn, so weiß Pricibilla aus Erfahrung, es muss Menschen geben, denen der Erhalt des Freibades so sehr am Herzen liegt, dass sie auch bereit sind, sich an dieser Stelle mit freiwilliger, unbezahlter Arbeit zu engagieren. Das ist nur dann der Fall, wenn die Abgabe von Arbeit auch mit der Übergabe von Gestaltungsspielraum und Verantwortung verbunden ist, während die Kommune gleichzeitig Rahmenbedingungen schaffen muss, innerhalb derer das Engagement erfolgreich sein kann. So gehören zum Betreiben eines Freibades technisch aufwändige Aufgaben, die nicht durch bürgerschaftliches Engagement geleistet, sondern professionell ausgeführt werden müssen. Hier muss seiner Meinung nach die Aufgabenteilung zwischen Kommune und Zivilgesellschaft klar und vertraglich geregelt sein. Und hier muss auch klar sein, dass es keinen Aufschrei geben darf, wenn ein solches Bad dann nach zwei Saisons wieder schließt, weil sich nicht mehr genug Freiwillige finden. Pricibilla berichtet jedoch von Bürgerbädern, die bereits seit zehn Jahren in Betrieb sind. Reuter ist skeptisch, dass Aufgaben wie der Betrieb von Freibädern langfristig und tragfähig von der Zivilgesellschaft übernommen werden können, weil Aufgaben eines solchen Ausmaßes betriebswirtschaftliches Denken voraussetzen, bürgerschaftliches

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Engagement hingegen stark personengebunden und damit nicht unbedingt langfristig oder nachhaltig ist. Er ist im Gegenteil der Meinung, dass betriebswirtschaftlich nicht rentable Aufgaben, die von der Kommune abgegeben werden müssen, nicht auf den Schultern der Zivilgesellschaft abgeladen werden dürfen. Aus diesem Grund fordert Pricibilla dauerhafte Organisationsformen für dauerhafte Aufgaben. Kooperationsverträge zwischen Kommune und zivilgesellschaftlichen Akteuren, also Public Private Partnerships mit der Zivilgesellschaft, können vielfältige Formen und Strukturen annehmen, stecken aber allesamt noch in den Kinderschuhen. Auch Staubach fordert hier von der öffentlichen Hand mehr Mut, derartige Verträge einzugehen. Weil solche Kooperationsverträge Konfliktpotenzial besitzen, schreibt Pricibilla dem StädteNetzWerk NRW, das solche Prozesse extern moderiert, eine wichtige Rolle zu. Eine direkte Anfrage v o n der Verwaltung an die Zivilgesellschaft kann schnell den Beigeschmack der „Problemabwälzung" bekommen und ein solch von Engagement getragenes Projekt noch im Keim ersticken. Pricibilla: „Die Anfangsstufe ist dann oft so: ,Na dann können die Bürger j a bei uns so mitmachen.' Aber warum soll denn ein Bürger irgendwo mitmachen? Wenn ein Bürger sich engagiert, dann will er auch selber entscheiden, w o er sich engagiert. Und wie." Pricibilla versteht sich als „Anwalt", Auftragnehmer und Vermittler der öffentlichen Hand, der als neutraler Dritter für die unterschiedlichen Handlungslogiken sensibilisieren kann.

4.4 Intermediäre Instanz Die Kooperation zwischen Zivilgesellschaft und öffentlicher Hand auf kommunaler Ebene kann - ähnlich wie dies ein Quartiersmanager auf Quartiersebene tut durch eine intermediäre Instanz verbessert werden. Diese kann die Funktion eines Ansprechpartners für die Zivilgesellschaft haben, sie kann Verwaltungen in Bezug auf bürgerschaftliches Engagement unterstützen und sie kann als Moderator oder Mediator zwischen beiden Seiten vermitteln. Als klassischer Ansprechpartner für die Zivilgesellschaft in allen Belangen rund um das bürgerschaftliche Engagement sind die vielen Freiwilligenagenturen zu nennen. Sie vermitteln und beraten sowohl Einzelpersonen als auch zivilgesellschaftliche Organisationen. Die einzelnen Agenturen, die unter dem Dach der Landes- und Bundesarbeitsgemeinschaften der Freiwilligenagenturen zusammengefasst sind, agieren selbstständig und besitzen keine einheitliche Form. So gibt es private Agenturen und solche, die bei den Kommunalverwaltungen angesiedelt sind, Agenturen mit und ohne bezahlte Angestellte, sehr kleine Agenturen, die nur wenige Stunden in der Woche geöffnet haben und größer angelegte Agenturen. Auch das Aufgabenspektrum und die primären Zielstellungen sind von Agentur zu Agentur verschieden (Birgit Weber). Ebenso wie die Stadtentwicklung von vielen als ressortübergreifende Querschnittsaufgabe angesehen wird, so plädieren auch viele der Gesprächspartner für eine Ansiedlung des Themas Bürgerschaftliches Engagement möglichst nah beim Bürgermeister. „In einer kommunalen Stadtverwaltung, die hierarchisch gegliedert und nach einzel-

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nen Sektoren unterteilt ist - wer ist da für Bürgerengagement zuständig? Entweder alle oder niemand. Im Zweifel niemand", meint Pricibilla. Mit Monika Heibig wurde in Berlin, wie mittlerweile in vielen anderen Kommunen auch, eine Beauftragte für bürgerschaftliches Engagement eingesetzt mit der Aufgabe der ressortübergreifenden „gesamtstädtischen Koordinierung in Fragen der Zivilgesellschaft". Sie sieht ihre Aufgabe hauptsächlich darin, die Rahmenbedingungen für bürgerschaftliches Engagement zu verbessern und Akteure zu vernetzen. Durch ihre Zuständigkeit für Gesamtberlin bleibt jedoch kaum Raum für Gespräche mit engagierten Einzelpersonen. Eher sind es die größeren zivilgesellschaftlichen Akteure, die auf Heibig zugehen. Je nach Größe der jeweiligen Kommune kann eine Beauftragte oder ein Beauftragter auch auf einer niedrigeren Ebene eingesetzt werden, in Berlin sind die Beauftragen teilweise auch bei den Bezirksbürgermeistern angesiedelt. Heibig merkt jedoch an, dass diese Ansiedlung der Beauftragten in der Verwaltung Teile der Zivilgesellschaft auch abschrecken kann, da der Kontakt auf einer zu stark administrativ ausgerichteten Ebene stattfindet. „Das ist ein schwieriges Thema und man darf auch nicht zu viel staatlichen Einfluss nehmen. Denn wir wollen ja, dass die Zivilgesellschaft sich selbst organisiert." (Heibig) Von Joest findet einen kommunalen Ansprechpartner wichtig um auszutarieren, welche Aufgaben der Staat übernehmen muss und wo die Zivilgesellschaft aktiv werden kann. Vandamme sieht es als eine weitere Aufgabe von Anlaufstellen für die Zivilgesellschaft an, unter all den konkurrierenden Interessen der großen und kleinen zivilgesellschaftlichen Akteure „wahrzunehmen, wer nicht wahrgenommen wird". In enger Anbindung an den Städtetag Baden-Württemberg wurde 1999 das Städtenetzwerk Bürgerschaftliches Engagement gegründet, mit dem Ziel, einen intensiven Erfahrungsaustausch zwischen den Städten in der Engagementförderung herzustellen. Das Städtenetzwerk dient neben dem Austausch mittlerweile auch der Entwicklung von Strategien und Instrumenten zur Engagementförderung mit professionellen Fachkräften in den 64 kommunalen Anlaufstellen sowie der Beratung von Kommunen bezüglich ihrer Organisationsstrukturen, z.B. der Einrichtung kommunaler Anlaufstellen für bürgerschaftliches Engagement in der Verwaltung (Vandamme). Ähnlich aufgestellt ist das StädteNetzWerk NRW, das über die Förderung des bürgerschaftlichen Engagements hinaus auch zu anderen Belangen der Kommunen tätig ist. Es initiiert und begleitet Projekte und übernimmt eine Vermittlerrolle. Den Bedarf eines Vermittlers sieht Pricibilla in der stärkeren Glaubwürdigkeit einer externen und neutralen Stelle sowie durch die Tatsache begründet, dass es vielerorts in den Kommunen keine für die Zivilgesellschaft zuständigen Mitarbeiter gibt (Pricibilla). Beispiele für Moderatoren oder Agenturen - unabhängig von Dachverbänden - die explizit die Zivilgesellschaft unterstützen und beraten, wurden in den Interviews nicht genannt.

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4.5 Lokale Agenda

Die Lokale Agenda 21 wurde nach der Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro im Jahr 1992 als lokales Programm zur Agenda 21 aufgesetzt. Dabei sollten in enger Kooperation mit den Bürgern Konzepte zur nachhaltigen Entwicklung der Kommunen erarbeitet werden. Es sind zahlreiche Lokale-Agenda-Gruppen entstanden und viele Gemeinden hatten oder haben noch immer einen Agenda-Beauftragten. In NRW hat sich als eine Art Selbsthilfeorganisation der Kommunen in diesem Kontext die Landesarbeitsgemeinschaft Agenda NRW gebildet, die bis heute existiert und laut Reuter zu einer ausgezeichneten Netzwerkarbeit beiträgt. Die Erfahrungen zeigen jedoch auch, dass sich wenige Menschen in den Agenda-Gruppen beteiligen. Reuter sieht ein Hindernis für bürgerschaftliches Engagement darin, dass die Lokale Agenda in keinem festen Rahmen verankert wurde, da die Gruppen und Ideen sowohl für die Zivilgesellschaft als auch fur die öffentliche Hand nur unverbindlichen Charakter besitzen. Die in diesem Kontext Engagierten beschreibt Reuter entsprechend als Bürger, die schon zuvor einen guten Einblick in kommunale Verfahrensabläufe besaßen. Außerdem nennt er jene Einzelkämpfer, die schon von Nachhaltigkeit sprachen, als dieses Thema von vielen noch gar nicht ernst genommen wurde. Eine gute Anbindung an und ein entsprechendes Wissen über die Verwaltung war und ist für die Gruppen entscheidend, um dem Stadtrat gut ausgearbeitete Entscheidungsvorlagen unterbreiten zu können. Die meisten Menschen haben sich eher in Einzelprojekten engagiert als zu sagen: „Wir machen jetzt nachhaltige Stadtentwicklung." (Reuter) Brigitte Adam und Slapa weisen darauf hin, dass die Themen der Lokalen Agenda mit Begriffen wie die bis dahin nicht diskutierte Nachhaltigkeit zu abstrakt und zu wenig greifbar waren. Dadurch wurde dann auch das nachhaltige Engagement gefährdet. Vandamme: „Also Nachhaltigkeit wird so verstanden, dass da ein Tümpel angelegt wird und der soll lange existieren. Aber die Nachhaltigkeit in der Bürgerschaft - dass immer wieder neue Bürger kommen und sich für den Tümpel interessieren - die findet in der Regel nicht statt. [...] Wenn der Tümpel an einer Stelle ist, die leicht zugänglich ist, die stark frequentiert wird, dann wird das Interesse nicht nachlassen, weil immer wieder Menschen darüber stolpern." Damit weist Vandamme auf die emotionale Komponente von Engagement hin. Er plädiert für eine stärkere Verbindung zwischen Lokaler Agenda und der Förderung von bürgerschaftlichem Engagement, da dies erfahrungsgemäß zu mehr Nachhaltigkeit führt. Hier kann möglicherweise auch die Soziale Stadt, deren Nachhaltigkeit nicht unumstritten ist, noch etwas lernen. Vandamme kritisiert die Lokale Agenda als „Stellvertreterengagement" gewisser Eliten gegenüber der Bürgerschaft: „Dieses Stellvertreterengagement, das prägt sozusagen den Erstickungstod von Innen. Und die Agenda war so ein Stellvertreterengagement: ,Wir machen das Gute für die anderen.' [...] Diese Prozesse haben dazu geführt, dass sich Eliten von der Bürgerschaft abgegrenzt haben. Und da ist [...] bei der Förderung des bürgerschaftlichen Engagements ein ganz anderes Handlungsprinzip." Hier geht

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es vielmehr darum, allen Menschen die Möglichkeit zu geben, ihre eigenen Erfahrungen mit persönlichem Engagement zu machen. Vandamme sieht außerdem einen Mangel an Kooperation der Akteure untereinander, was letztlich an der Idee einer gemeinsamen Verantwortung vorbeigeht. Dadurch haben die einzelnen Gruppen gemäß der jeweiligen Einzelinteressen gehandelt, ohne zielgruppenübergreifend zu kooperieren. Slapa glaubt, dass in der Lokalen Agenda viel zerredet wurde und Diskussionen nicht zielorientiert genug abliefen. Die Erfolgskriterien der Vorgaben müssen aber nach Meinung von Vandamme mit dem Begeisterungspotenzial der Bürgerschaft zusammengebracht werden. Dazu gehört auch, dass diese mehr Entscheidungsbefugnisse und Mitspracherecht erhält. Diese Hoffnung der Bürgerschaft wurde aufgrund der marginalen Projektbudgets nicht erfüllt. Im Gegenteil: Vandamme hat den Verdacht, dass die Lokale Agenda von der öffentlichen Hand teilweise freudig aufgenommen wurde, um die grünen Bürgerinitiativen zu domestizieren. Für Slapa hat die Lokale Agenda damit einen eher „unangenehmen Nachgeschmack". Wenn die strukturellen und organisatorischen Voraussetzungen stimmen, kann es der Lokalen Agenda 21 aber auch gelingen, bürgerschaftliches Engagement in Entscheidungsprozesse einzubringen, weiß Reuter aus seinen Netzwerk- und NRW-Erfahrungen zu berichten. 4.6 Ableitungen und Vertiefungsbedarfe

Das Engagement auf gesamtstädtischer Ebene ist im Vergleich zur Quartiersebene oder auch zum ländlichen Raum weniger „ich-bezogen". Die Themen sind abstrakter und/oder politischer und ziehen daher überwiegend die institutionalisierte Zivilgesellschaft und das klassische Engagement in Politik und Gremien an. Das Gegenüber der Kommunen sind auf städtischer Ebene daher in erster Linie Personen, die vernetzt sind und der Mittel- und Oberschicht angehören - hier mit „elitär" umschrieben. Dies hat sich auch in der Lokalen Agenda gezeigt - gleichwohl stark geprägt von den jeweiligen individuellen Erfahrungen - und muss im Umgang mit der Zivilgesellschaft Beachtung finden. Es stellt sich die Frage, ob auch andere Gruppen für ein Engagement auf städtischer Ebene begeistert werden können bzw. welche Effekte dieses „Stellvertreterengagement" für die Legitimation und Akzeptanz von Projekten und Entscheidungen hat. Wie kann die Nähe zu den Bürgerinnen und Bürgern, die nicht durch zivilgesellschaftliche Organisationen vertreten werden, gewahrt bleiben? Der nicht-elitäre Teil der Zivilgesellschaft ist durch die größere Entfernung zur öffentlichen Hand weniger in gesamtstädtische Fragestellungen integriert. Die konkrete Einbeziehung von Bürgerinnen und Bürgern in die die Stadt betreffenden Planungen ist möglich und kann zu guten Lösungen beitragen. Sie bedarf jedoch einer intensiven Anleitung. Um Anregungen aus der Bürgerschaft zu erhalten und dieser ein Mitspracherecht zu gewähren, sind intermediäre Instanzen, kommunale Ansprechpartner, zivilgesellschaftliche Dachstrukturen etc. von großer Bedeutung.

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Die Erfahrungen der Bürgerbäder, aber auch der Lokalen Agenda, insbesondere in NRW, zeigen, dass nachhaltiges Engagement für die Stadt möglich ist, jedoch Mitsprache, kreativen Spielraum und die Aussicht auf Erfolg braucht. Die in entsprechenden Kooperationen gemachten Erfahrungen sind näher zu untersuchen, ebenso die Frage, ob institutionalisierte Strukturen Effektivität steigern oder freiwilliges Engagement hemmen. Auch ein Engagement auf Zeit muss legitim sein und bei der Abgabe kommunaler Aufgaben an die Zivilgesellschaft berücksichtigt und anerkannt werden. Vertragliche Regelungen und Aufgabenteilung widersprechen zunächst der zivilgesellschaftlichen Handlungslogik. Dies hat jedoch einen normativen Beigeschmack, denn auch Wohlfahrtsverbände gehen Verträge partnerschaftlich mit der öffentlichen Hand ein bzw. teilen sich Aufgaben mit ihr. Vor diesem Hintergrund können die oben beschriebenen moderierenden und vermittelnden neutralen Instanzen von großer Bedeutung sein. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass sich Städte hinsichtlich ihrer Struktur, Größe und Geschichte stark voneinander unterscheiden, bleibt es schwierig, hierfür verbindliche Antworten zu finden. Aufgrund der großen Unterschiede innerhalb der räumlichen Arena Stadt bedarf es weiterer Forschungen, in denen diese Unterschiede stärkere Berücksichtigung finden. An dieser Stelle sei auf den Engagementatlas 2009 (Prognos AG 2009) hingewiesen, der ein starkes Gefalle im Engagement zwischen Nord-Süd, zwischen Ost-West, aber auch zwischen den unterschiedlich großen Kommunen beschreibt. Ein Bezug zur Stadtentwicklung wurde dabei nicht untersucht, hier besteht weiterer Forschungsbedarf.

5.

Der strukturschwache Raum

Die vorangegangenen drei Kapitel haben Zivilgesellschaft in den Kontexten ländlicher Raum, Quartier und Stadt diskutiert. An dieser Stelle soll ein Blick auf den strukturschwachen Raum geworfen werden, der sich in allen drei vorangegangenen räumlichen Arenen finden lässt. Hier treffen zwei ungünstige Entwicklungen aufeinander: Komplexere Problemlagen und eine schwache Engagementbereitschaft (vgl. Beitrag Liebmann). Die Strukturschwäche hat verschiedene Gesichter: Sie wird nicht nur erkenn- und spürbar an den leerstehenden Wohnungen und Geschäften in den Städten, die von Abwanderung betroffen sind. Insbesondere junge Frauen und Männer verlassen die Städte, um in anderen Regionen Ausbildungs- und Arbeitsplätze zu suchen. Der Leerstand und das Wegbrechen der technischen und sozialen Infrastruktur sind Folgen der schrumpfenden Bevölkerung und verstärken gleichzeitig den eben beschriebenen Trend. Strukturschwach sind aber auch die städtischen sozialen Brennpunkte, in denen zunehmend Menschen leben, die auf staatliche Transferleistungen angewiesen sind, in denen es an angemessenen Infrastruktureinrichtungen, an Bildung und an Arbeitsplätzen und Perspektiven mangelt, in denen die Bausubstanz verfällt und die

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Gewalt steigt. Schließlich gibt es auch von Schrumpfung betroffene ländliche Gemeinden. Diese drohen zu überaltern oder gänzlich von der Landkarte zu verschwinden. Förderprogramme wie Stadtumbau Ost, Stadtumbau West, Soziale Stadt, URBAN und LEADER+ versuchen, diese Trends umzukehren oder zumindest ihre Auswirkungen in Grenzen zu halten. In einigen Kommunen überschneiden sich diese Programme, nicht zuletzt, weil sich auch die Probleme überschneiden und einander bedingen. In Eisenhüttenstadt beispielsweise arbeiten Stadtumbau Ost und Soziale Stadt Hand in Hand. Die Bürgerinnen und Bürger gelten bereits als „krisenerprobt". Matthias Rogge sagt: „Man muss [...] bedenken, dass die Menschen hier - wenn ich es jetzt mal nur auf 1989/90 beziehe - eigentlich seit 20 Jahren von einem Umbruch in den nächsten stürzen." Denn es mangelt, nicht nur in Eisenhüttenstadt, an zahlungskräftigen Geldgebern, die Städte leiden unter der abnehmenden Kaufkraft der Bewohnerinnen und Bewohner oder unter Altschulden, die auf den Wohngebäuden lasten. Das Bildungsniveau und die Nachfrage nach soziokulturellen Angeboten sinken ebenso wie die Identifizierung mit dem Umfeld, das nur zu oft ein negatives Image hat. In Eisenhüttenstadt ist dies insbesondere bei den Menschen unter 40 Jahren spürbar, die den Aufbau der Stadt in Zeiten starken Wachstums nicht miterlebt haben und daher die Besonderheit Eisenhüttenstadts zu DDR-Zeiten nicht mehr nachempfinden können, ergänzt Andrea Peisker, die vor Ort für die Soziale Stadt zuständig ist. Für das ländliche Brandenburg benennt Stöber als ein wesentliches Problemfeld die Konkurrenz zwischen den Dörfern um die noch vorhandenen Infrastruktureinrichtungen.

5.1 Engagement im strukturschwachen Raum

Einen direkten Zusammenhang zwischen Strukturschwäche und Engagementbereitschaft können nicht alle Gesprächspartner bestätigen (vgl. Liebmann in diesem Band). Während die Interviewpartner aus Eisenhüttenstadt und Hoyerswerda von einer sehr schwer aufzubrechenden Lethargie berichten, scheinen im ländlichen Nordhessen und in den Dörfern Brandenburgs die Bewohnerinnen und Bewohner durch den Strukturwandel und den damit zusammenhängenden Problemen näher zusammenzurücken, sich zu engagieren und die Probleme gemeinsam anzugehen, wie Lang und Stöber beobachten (vgl. Borstel in diesem Band). Ingeborg Beer spricht von einer gefühlten Bandbreite, die von einer eigenständigen Engagementbereitschaft bis hin zur „Mund-zu-Mund-Beatmung" reicht. Jedoch existieren im strukturschwachen Raum persönliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die ein Engagement behindern. Als negative Einflussfaktoren nennen die Befragten die persönlichen Probleme der Menschen, den durch die Arbeitsplatzsuche bedingten hohen Mobilitätsanspruch und ganz allgemein den „Strudel der Veränderung" (Beer), in dem sich die Menschen befinden. Anhaltende Arbeitslosigkeit führt zur Perspektivlosigkeit und hemmt das Engagement. Selbst bei den Bessergestellten werden eine negative Grundstimmung und ein allgemeiner Rückzug

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ins Private beobachtet (Beer). Manche Interviewpartner sehen die Gründe für das niedrige Engagement im ostdeutschen Raum in den vorgebenden Strukturen der ehemaligen DDR und der relativ kurzen Existenz von Vereinen seit der Wiedervereinigung. Beer berichtet von zivilgesellschaftlichen Gruppen, die durch den Wegzug ihrer Führungspersonen zusammengebrochen sind und auch Gerhard Schlegel sieht die Innovationen zivilgesellschaftlicher Akteure unter dem Wegzug der „Hauptsubstanz" leiden. Stöber fasst die Probleme bildlich zusammen: „Weil man eben so alleine sitzt in seiner Dorfstraße Nummer 1 und die Bürgersteige sind hochgeklappt - da kommen einem manchmal nicht mehr viele Ideen." Ein Mangel an Vereinen wird nicht beklagt, wohl aber ein Mangel an Einsatzbereitschaft, die der Gemeinschaft und der Entwicklung des Wohnumfeldes zugute kommt. Wer sich engagiert - so sind sich zumindest alle für den städtischen strukturschwachen Raum Befragten einig - tut dies in erster Linie, um Hobbys zu pflegen und Eigeninteressen durchzusetzen. Peisker beklagt, dass die wenigen vorhandenen „Initiativchen" häufig gegen das Verwaltungshandeln gerichtet sind und die Anwohnerschaft mobilisieren, ehe Entscheidungen verstanden und mit der Verwaltung diskutiert wurden. Und sie beklagt, dass es immer die Gleichen sind, die sich engagieren, dass genau diese sich häufig an mehreren Stellen engagieren und dass diese sich für die immerfort gleichen Dinge einsetzen. Viele wollen ihrer Meinung nach mitmachen, aber keine Verantwortung übernehmen. Ein Miteinander, das anstelle eines Gegeneinander treten kann, wird als schwer umsetzbar empfunden. Anders sieht es im strukturschwachen ländlichen Raum aus. Wie im ländlichen Raum allgemein üblich, scheinen sich die Menschen hier mehr zu engagieren als in der Stadt. Denn hier betreiben die Anwohner vielerorts gewollt oder zwangsläufig Daseinsvorsorge (vgl. Kapitel 2). Hierfür gibt es im städtischen Kontext weniger Beispiele: Die Verwaltungsmitarbeiter in Eisenhüttenstadt berichten von einem Sportverein, der eigenständig den öffentlichen Sportplatz saniert und von einer Bewohnergruppe, die von sich aus das von Schließung bedrohte Tiergehege übernommen hat. Über solches Engagement freut sich eine von Sparzwängen gebeutelte Verwaltung. Das dies eine nicht legitime Abwälzung öffentlicher Aufgaben ist, sieht Beer nicht und schließt sich damit der Argumentation von Lang bezüglich des ländlichen Raums an. Ob und wie man Engagement für das Wohnumfeld und die Stadtentwicklung fördern kann, darüber sind sich die Befragten uneinig. Denn die aus persönlichen Problemen resultierende Lethargie ist schwer aufzubrechen. Stefan Krapp sieht Mobilisierungspotenzial in niedrigschwelligen Engagementangeboten und Beer fordert von der institutionalisierten Zivilgesellschaft, ihre Angebote stärker öffentlich zu präsentieren. Peter Biemath betont die Notwendigkeit, den bürgerschaftlich Engagierten auch Erfolgschancen und Mitbestimmung in Aussicht zu stellen. Eine kooperative Verwaltung muss offen sein für Vorschläge der Zivilgesellschaft und mit ihr ins Gespräch kommen. Er ist jedoch überzeugt, dass es schwierig ist, ein einmal gedämpftes Engagement wieder in Gang zu bringen und betont die Notwendigkeit, bereits bestehendes Engagement zu fördern.

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5.2 Kommunikation und Kooperation

Lang berichtet von einer guten Kommunikation mit der öffentlichen Hand im ländlichen Nordhessen und auch Stöber bestätigt für Brandenburg eine enge Zusammenarbeit von Vertretern der Zivilgesellschaft mit Verwaltung und Politik. Die Strukturschwäche der Gemeinden scheint hier kaum Einfluss auf die Kooperation zu haben und lediglich bei der Daseinsvorsorge und der „Abwälzung" öffentlicher Aufgaben auf die Zivilgesellschaft werden die unterschiedlichen Perspektiven deutlich (vgl. Kapitel 2.5). Damit kann hiervon einer gegebenen, wenngleich nicht immer gelungenen Kommunikation die Rede sein. In den Städten Hoyerswerda und Eisenhüttenstadt scheint dies anders zu sein. In den Gesprächen dominieren Ressentiments der Verwaltung gegenüber den immerfort fordernden, sich aber nicht engagierenden Bürgern, während die bürgerschaftlich Engagierten ein Interesse der Verwaltung an ihren Aktivitäten in Hoyerswerda vermissen. Im Ergebnis scheint die Kommunikation vielfach erst gar nicht stattzufinden. Die Gesprächspartner in Hoyerswerda beklagen, dass es keine allgemeinen Ansprechpartner und keine Kontaktstelle für ihre Fragen und Bedürfnisse gibt und die Verwaltung nicht transparent arbeitet. Uwe Proksch: „Wir wissen [...] ja nicht, was da wirklich in der Verwaltung passiert. Vielleicht gibt es dort Runden, aber wir ahnen es nur und insofern ist es nicht transparent, ist es nicht durchschaubar und es wird eben nicht mit den Bürgern kommuniziert." Und: „Und das macht es sicherlich auch so ambivalent, dass auf der einen Seite die Verwaltung gerne Bürgermitsprache hätte, aber so richtig ernst auch nicht haben will, weil sie will ja eigentlich in Ruhe arbeiten und nicht ständig mit irgendwelchen spleenigen Ideen belästigt werden." In Eisenhüttenstadt sieht die Verwaltung dies anders. Sie beklagt in der Zivilgesellschaft eine Divergenz zwischen „wollen" und „tun": Einerseits fordern die Bürger mehr Informationen und werfen andererseits die Informationsflyer in ihren Briefkästen ungelesen wieder weg. Überhaupt sei die Kommunikation einseitig geprägt durch hohe Forderungen, welche die Verwaltung nicht erfüllen kann. Denn Bürgerbeteilung sei ein Mehraufwand, der in Verwaltungen, denen die Kommunalaufsicht nicht-pflichtige Aufgaben streicht und die darüber hinaus unter der Last einer sehr dünn gewordenen Personaldecke leiden, kaum leistbar ist. „Augen zu und durch" sei in Brandenburg vielerorts das Motto der Verwaltungen, so Krapp. Felix Ringel und Beer lassen dieses Argument nicht gelten und empfinden eine Überbetonung der eigenen Zwänge. In Hoyerswerda glauben die Vertreter der Zivilgesellschaft, dass die Verwaltung das eigene Unvermögen und die im Zusammenhang mit dem Stadtumbau gemachten Fehler verstecken will, indem nicht mit den Bürgern kommuniziert wird. Beer erinnert daran, dass die Bürger viel Geld für eine funktionierende Verwaltung bezahlen. Wenn manche Kommunen dann wie selbstverständlich von der Zivilgesellschaft bürgerschaftliches Engagement erwarten oder gar einfordern, so sieht Beer hier ein Missverhältnis. An dieser Stelle sieht sie vielmehr eine Überforderung der Zivilgesellschaft. Trotz der allgemein guten Kooperation zwischen

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Zivilgesellschaft und öffentlicher Hand im ländlichen Raum stimmt dem auch Lang zu, denn sie beobachtet, dass strukturschwache Kommunen häufig zu schnell die Zivilgesellschaft herbeirufen, damit diese Aufgaben übernimmt, welche die Kommune nicht mehr leisten kann. Nicht immer sind diese Aufgaben von der Zivilgesellschaft auch zu bewältigen. Dennoch mahnen Beer, Stöber und Schlegel an, dass die Zivilgesellschaft auch Verantwortung übernehmen muss und nicht immer nur fordern kann. Schlegel: „Unsere Bürger sind nicht Bürger in diesem Sinne, wie ich einen Bürger verstehe. Ein Bürger zu sein heißt, dass ich Anteil nehme. Ich bin nicht wie ein Hotelgast. Wenn ich Bürger sein will, muss ich mitmachen, muss an diesem Gemeinwesen mit beteiligt sein, muss ich dieses Gemeinwesen mit gestalten wollen." Beer fordert sogar, die Verteilung von Geldern an die Engagementbereitschaft der Zivilgesellschaft zu koppeln, weil Projekte nur dann nachhaltig Erfolg haben, wenn sich die Menschen mit ihnen identifizieren. Peisker und Rogge beschreiben aus ihrer Sicht, woran es liegt, wenn die Verwaltung Initiativen nicht so sehr unterstützt, wie diese es sich wünschen. Zum einen gibt es im öffentlichen Haushalt strukturschwacher Kommunen so gut wie keinen Spielraum, Initiativen außerhalb von Förderprogrammen finanziell zu fördern. Außerdem gibt es unter Umständen hohe Auflagen der verschiedenen Ämter, zum Teil auch gerade durch Förderprogramme, die selbst kleinteilige Ideen und Lösungsansätze unter Umständen sehr kompliziert werden lassen. Belange der Denkmalpflege oder sicherheitstechnische Vorgaben können Projekten der Zivilgesellschaft einen Strich durch die Rechnung machen oder aber Prozesse derart in die Länge ziehen, dass das Engagement wieder abbricht. Die Gesprächspartner aus Eisenhüttenstadt bemängeln ihrerseits aber auch, über die Vorhaben von zivilgesellschaftlichen Akteuren gar nicht erst informiert zu werden. Dadurch können sie, auch im Sinne von unterstützenden Hinweisen, kaum Einfluss nehmen. Selbst Vereine in städtischen Liegenschaften, ζ. B. in einem „Haus der Vereine", empfinden die Räumlichkeiten, in die sie viel investiert haben, als Eigentum und wollen sich nicht von der Stadt reinreden lassen. Krapp bestätigt einen zu schwachen Austausch der Zivilgesellschaft mit der (lokalen) öffentlichen Hand. Die ministerielle Ebene wird erst recht nicht erreicht, was eine Berücksichtigung der Belange zivilgesellschaftlicher Akteure in Novellierungen von Förderprogrammen oder Strategien erschwert bzw. dazu führt, dass notwendige Anpassungen nicht vorgenommen werden. Dabei sieht er aber genau dort, wo Zivilgesellschaft nicht richtig wahrgenommen wird, ein ungenutztes Potenzial: „Man möchte sagen, [die Kommunen] spüren [das niedrigschwellige Engagement], registrieren es aber nicht." Dies hat auch mit der aus einem starken Ressortdenken resultierenden Wahrnehmung zu tun, welche Tätigkeiten stadtentwicklungsrelevant sind und welche nicht. Ob zivilgesellschaftliche Aktivitäten in Themenfeldern wie Bildung oder Kultur Teil der Stadtentwicklung sind, darüber sind sich die Gesprächspartner nicht einig (vgl. Kahl und Wagner in diesem Band).

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Die Verwaltung hat nach Meinung von Biemath keine progressiven Ideen, während Proksch der Zivilgesellschaft die Möglichkeit zuschreibt „in den Tag hinein zu planen" und „spleenige Ideen" zu entwickeln, auch wenn diese nicht unbedingt umsetzbar sind. Schlegel mangelt es in der Verwaltung an der Risikobereitschaft, die nötig ist, um neue Wege zu gehen: „Wie soll den ein Beamter Risiken eingehen wollen? Der kriegt doch auch so sein Geld." Dies mag auf der persönlichen Ebene so sein, die Verwaltung einer strukturschwachen Kommune als Ganzes ist in ihrer Handlungsfähigkeit jedoch abhängig von Fördergeldern und muss sich immer wieder den Förderrichtlinien neu aufgesetzter Programme anpassen. Hier wird eine Unübersichtlichkeit an neuen Programmen beklagt sowie ein zu starker Fokus auf Erfolg, der Kritik aus der Zivilgesellschaft heraus nicht zulässt (Beer). Biernath unterstellt der Verwaltung in Hoyerswerda eine Alibi-Beteiligung, die nur durchgeführt wurde, weil sie vorgeschrieben war, die eine Mitbestimmung jedoch nicht zuließ. Aber auch die Zivilgesellschaft leidet unter der Abhängigkeit von Förderprogrammen, die unter Umständen Innovationen dadurch behindern, dass sich die Aktivitäten zu stark nach den Anforderungen der Programme richten und sich an diese anpassen müssen. Dies fängt nach Meinung von Peisker schon bei der Sprache an. Hier besteht eine große Diskrepanz zwischen der innerhalb von Förderprogrammen gängigen und der für die Bürger verständlichen bzw. üblichen Sprache. Eine Übersetzungsarbeit für die Kommunen wird dadurch schwierig. Selbstkritisch sehen sie und Rogge jedoch auch die verwaltungsinterne Kommunikation und bemängeln, dass manche Kollegen aus anderen Abteilungen bis heute Ausmaß und Konsequenzen der rapiden Schrumpfung der Stadt nicht verstünden und auch nicht reflektieren würden. Eine angemessene Kommunikation mit der Bürgerschaft wird dadurch zusätzlich erschwert. Sowohl in Eisenhüttenstadt und Hoyerswerda als auch im Land Brandenburg beobachten die Gesprächspartner anstatt einer Diskussionskultur zwischen den Akteuren in der Stadtentwicklung ein Gegeneinander, das Gemeinsamkeiten übersieht. Dorit Baumeister beschreibt dies so: „Wenn ich sage ,die Wand ist weiß', dann sagt er ,die Wand ist rot'. Man kommt nicht durch mit Argumenten." Dabei geht es - so betonen Stöber und Beer - nicht darum, füreinander oder gegeneinander, sondern miteinander aktiv zu werden. Krapp erwartet Erfolg, wo sich die Akteure einander zuhören, wo Meinungen stehen gelassen werden können und wo ein Klima herrscht, in dem man auf Augenhöhe miteinander reden kann. Biernath: „Denn wir wollten, wie gesagt, durch die geplanten Ideen dazu beitragen, vielleicht auch das Streitgespräch zu suchen, um durch Streit im guten Sinne auch zu einem besseren Ergebnis beizutragen." Die Gegenargumente der anderen Akteure zu hören befördert seiner Meinung nach auch die eigene Entscheidungsfindung. Dies empfinden die Verwaltungsmitarbeiter aus Eisenhüttenstadt ebenso. Sie kritisieren die kurzfristige und egoistische Sicht der Bürger auf die städtischen Probleme und beklagen eine Veränderungsresistenz, die dazu führt, dass sich die Bürger an die eigenen Projekte klammern, auch wenn diese in der Form keinen Sinn mehr machen. „Ich meine, der Bürger nimmt seine Probleme wahr und ihm fehlt der Gesamtblick.

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Und deswegen ist das, was der Bürger als Problem wahrnimmt, unter Umständen keins", so Peisker. Gefragt nach der Zusammenarbeit mit der Politik, kommt sowohl von der Verwaltung als auch von der Zivilgesellschaft Gegenwind. Proksch, Peisker und Rogge sehen ein Problem darin, dass Politiker kaum Zeit haben, sich intensiv mit Sachverhalten zu beschäftigen. Diskussionen empfinden die Verwaltungsmitarbeiter als wenig fachlich, teilweise schon populistisch und Ringel spricht von einem „Geklüngel" in den Parteien. Die Kooperation mit der Zivilgesellschaft beschreibt Biemath als „Inseldasein durch Einzelveranstaltungen". Es bestehe die Tendenz, bürgerschaftliches Engagement abrufen zu wollen, wenn die Politik es braucht, so Beer. Die Politik kümmere sich nur während der Laufzeit der Förderprogramme, die Zivilgesellschaft hingegen darüber hinaus. Für eine produktive Kooperation bedarf es nach Meinung von Schlegel einer leitenden, visionären Stadtverwaltung und eines Oberbürgermeisters, der das Ziel vorgibt und die Menschen in seinen Vorhaben mitnimmt. „Die Verwaltung hat keine Vision für Hoyerswerda und die Bewohner haben auch keine Vision für Hoyerswerda", stellt Schlegel als ein grundlegendes Problem dar. Auch Beer betont die Bedeutung von gemeinsamen Leitbildern: „Das verstehe ich dann auch unter Kooperation von Zivilgesellschaft, Politik, Verwaltung und Bürger, dass man so etwas ausstreitet und guckt, wo jeder seinen Beitrag leisten kann. Und der muss auch nachvollziehbar und abfragbar erbracht werden." Insgesamt ist es aufgrund der Komplexität der Probleme nötig, alle Akteure ins Boot zu holen. Beer betont jedoch, dass dies an manchen Stellen im Prozess nicht möglich und auch nicht sinnvoll ist. Vielmehr soll die öffentliche Hand gezielt auf die Zivilgesellschaft zugehen und nach den Akteuren suchen, die für ein bestimmtes Problem wichtig sind. So können auch solche zivilgesellschaftlichen Akteure integriert werden, die ansonsten zu wenig wahrgenommen würden. Dort, wo es gefestigte Strukturen gibt, glauben Peisker und Rogge, ist eine Zusammenarbeit einfacher. Die vielen Umbrüche und schwachen Engagementanreize im strukturschwachen Raum machen dies jedoch schwer. Auch Krapp beobachtet in den Kommunen in Brandenburg zumeist ein Mangel an Partizipation oder aber eine unfreiwillige Durchführung von Partizipation aufgrund von Förderrichtlinien. Die Gruppe der Kommunen, die freiwillig und gerne beteiligt, ist noch klein. Nach einer massiven Einforderung von Partizipation, u. a. durch Förderrichtlinien, sieht Krapp jedoch ein wachsendes Bewusstsein für deren Notwendigkeit. Dieser Perspektivwechsel geschieht nicht zuletzt aus der Not heraus, gewisse Probleme heute ohne Geld lösen zu müssen. Aber es sind auch gute Erfahrungen, die diesen Perspektivwechsel fördern. Nach seinem Empfinden sieht und spürt man, in welchen Kommunen Beteiligung stattfindet und in welchen nicht. Beer betont, dass die Zivilgesellschaft in Zukunft immer mehr Aufgaben übernehmen wird und sich Verwaltungen ihr gegenüber werden öffnen müssen. Wo Bürgerbeteiligung in Planungsverfahren jedoch noch nicht zum Alltag gehört, da ist es bis zu einer Kooperation auf Augenhöhe noch ein weiter Weg.

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5.3 Stadtumbau und Zivilgesellschaft Ein großes Thema in den Städten des strukturschwachen ostdeutschen Raums ist der Stadtumbau Ost zur Förderung des Rückbaus von baulichen Anlagen (insbesondere von Wohngebäuden), die aufgrund des Bevölkerungsrückgangs nicht mehr benötigt werden. Eine enge Kooperation mit den Bewohnern und zivilgesellschaftlichen Akteuren - so wie es im Programm Soziale Stadt vorgesehen ist - ist in dieser ausgeprägten Form bei Stadtumbaumaßnahmen nicht gefordert, eine Beteiligung der betroffenen Eigentümer und Mieter bei der Vorbereitung und Durchführung der Maßnahmen hingegen schon. Eine große Rolle spielen die Wohnungsgesellschaften, die neben ihren wirtschaftlichen Interessen als Eigentümer auch die Belange der betroffenen Mieter, der Stadtentwicklung, der Ver- und Entsorgungsunternehmen, der Denkmalpflege, der kreditgewährenden Banken etc. berücksichtigen müssen. Sowohl von Seiten der Verwaltung in Eisenhüttenstadt als auch von Seiten der Zivilgesellschaft in Hoyerswerda wird anerkannt, dass Stadtumbauprozesse einen Grad der Komplexität erreichen, den die Bürgerinnen und Bürger in der Regel nicht voll erfassen können. Und so entsteht in der Stadtverwaltung der Eindruck, dass sich die Betroffenen, die sich über die Maßnahmen beklagen, häufig nicht in der Lage (oder Willens) zu sein scheinen, die technischen, finanziellen und administrativen Zwänge des Umbaus zu verstehen und anzuerkennen. Sie scheinen sich nur dann zu engagieren, wenn Entwicklungsprozesse ihren persönlichen Interessen zuwider laufen, ohne dabei ein Verständnis für die Gesamtproblematik zu haben. Bei Problemen wenden sie sich mit hohen Erwartungshaltungen an die Stadt, nicht jedoch an den Vermieter, der für die Abrissarbeiten zuständig und verantwortlich ist (Rogge/Peisker). Aus Angst vor unkontrolliertem Wegzug fließen die Informationen über Umbau und Abriss teilweise nur spärlich (Ringel). Die Verwaltung sieht als Ausweg aus nicht zusammenzuführenden Partikularinteressen eine Beteiligung in einer späteren Phase, in der die Ermittlungen aller technischen Sachverhalte bereits abgeschlossen ist und die Bürger über die objektiven Entscheidungen der Wohnungsbaugesellschaften eher informiert als befragt werden. Dies sei wichtig, um die technisch-objektiven Gründe der Wohnungsgesellschaften deutlich zu machen, damit ihnen keine Willkür unterstellt werden könne. Nur dort, wo Bürger eine aktive Rolle spielen, sollen sie in die Planungen einbezogen werden. Dabei soll die Beteiligung nicht aufgezwungen, sondern durch niedrigschwellige Informationen angeregt werden. Die Kritik der Bürger an den Maßnahmen sehen Biernath, Proksch und Baumeister in Hoyerswerda hingegen genau darin begründet, dass die Maßnahmen nicht angemessen kommuniziert werden. Dadurch entsteht bei den Bürgerinnen und Bürgern der Eindruck, dass sich die Unternehmen nicht in ihre Konzepte hineinreden lassen wollen und die sozialen Aspekte zugunsten der wirtschaftlichen vernachlässigen. Biernath fordert, dass die Wohnungsgesellschaften, die primär eine „ökonomische Sprache sprechen", ihre Sicht der Dinge so erklären müssen, dass sie verständlich ist.

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Bei entsprechendem Hintergrundwissen und Sachverstand können auch die Bürgerinnen und Bürger konstruktiv zum komplexen Sachverhalt des Stadtumbaus beitragen, glaubt auch Baumeister. Ein Laie kommuniziert dabei natürlich anders: „So mag es mancher nicht so artikulieren, wie wir als Architekten oder Städteplaner, die sagen: ,Die Sichtachse hier, die verlangt eine Akzentuierung."' (Biernath) In Hoyerswerda haben engagierte Bürgerinnen und Bürger den Verein Stadtumbau und Bürgerbeteiligung (SUB) e.V. gegründet, um ihren Beitrag zum Stadtumbau zu leisten. Nach erfolglosen Bemühungen sprechen sie heute von einer Scheinbeteiligung, in der die Durchführung eines Bürgerforums auf die lange Bank geschoben und die Vertreter des Vereins in den Sitzungen des Arbeitskreises nicht ernst genommen wurden. Dabei, so betont Biernath, ging es in dem Verein nicht um „nostalgische Ideen", sondern um konstruktive Kritik. Viele Mitglieder waren Architekten und Bauingenieure, die teilweise am Aufbau der Stadt beteiligt gewesen waren und fachlich durchdachte Beiträge liefern konnten. Der Verein hat sich nach drei Jahren mangels Erfolg wieder aufgelöst. Die damaligen Mitglieder glauben, dass die Verwaltung durch eine vordergründige Einbindung versucht hat, den Verein unter ihre Kontrolle zu bringen. Dabei, so glaubt Biernath, hätte eine Beteiligung vermutlich Fehlentwicklungen im Umbau verhindern können. Denn: „Es wohnt ja kaum jemand von den Entscheidungsträgem in der Neustadt, sondern das typische ist eigentlich, dass die in der Altstadt oder eben auf dem Lande wohnen, sodass sich eigentlich auch keiner so richtig identifiziert mit der Stadt", gibt Biernath zu Bedenken. Und auch aus einem anderen Grund ist die enge Zusammenarbeit mit der Bevölkerung im Stadtumbau wichtig: Beer begründet die Notwendigkeit einer engen Zusammenarbeit auch damit, die Zerstörung der Stadt psychologisch zu betreuen. Baumeister, die zusammen mit der Kulturfabrik in Hoyerswerda mehrere Projekte zu dem Thema durchgeführt hat, nennt dies „Sterbebegleitung". Beide kritisieren, dass der Stadtumbau einseitig als Wohnungsproblem diskutiert wird und dabei die sozialen Komponenten, die „software", vernachlässigt werden. Das Programm Soziale Stadt kann und sollte hier als Ergänzung eingesetzt werden. Bei Kulturprojekten, die sich künstlerisch mit dem Stadtumbau in Hoyerswerda beschäftigten, waren kaum Vertreter der öffentlichen Hand anwesend. Es waren Projekte der Erinnerungskultur, die nicht spektakulär waren, in denen die Sorgen der Betroffenen jedoch ernst genommen wurden. Weil die direkte Beteiligung erfolglos blieb, wurde die Kultur als Weg „hintenrum" angesehen, um sich doch in das Thema einzumischen, um das Image von Hoyerswerda zu verbessern und Identifikation zu schaffen (vgl. Wagner in diesem Band).

5.4 Raumpioniere Ulf Matthiesen wirft im Zusammenhang mit dem strukturschwachen Raum die Diskussion über das Konzept der Raumpioniere auf. Diese engagieren sich für „aus der Funktion gefallene Räume", d.h. im ländlichen strukturwachen Raum aber auch in

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Form von Zwischennutzungen temporärer Brachen in den vom Strukturwandel betroffenen Städten. So können auch Peisker und Rogge von Zugezogenen berichten, die ein vergleichsweise hohes Engagement für die Stadt zeigen. Sowohl die Raumpioniere selbst als auch ihre innovativen Projekte sind sehr heterogen. Manche werden zu Kristallisationskernen für eine übergreifende Netzbildung, andere sind einseitige Prinzipiellsten. Manche ziehen dauerhaft in das neue Umfeld, viele sehen den Umzug jedoch eher als längerfristiges Projekt an und nicht als allgemeinen Lebenswandel. Gemeinsam ist ihnen aber, dass sie von außerhalb in die Gemeinde kommen bzw. längere Zeit außerhalb dieser gelebt haben und dadurch dort externe Impulse geben können, wo die endogenen Potenziale für eine zukunftsfähige Entwicklung nicht ausreichen. Auch das Beispiel der Gärten in Leipzig deutet auf dieses Phänomen hin. Bei einem Großteil der Akteure handelt es sich um zugezogene Personen (vgl. Kapitel 3). Da nicht alle Räume gleich attraktiv für Raumpioniere sind, haben diese die Rolle von „Trüffelschweinen" inne, die Chancen aufzeigen und Entwicklungsdynamiken anstoßen. Dadurch werden sie zu Attraktoren für Schrumpfungsregionen und können im Idealfall zu Identifikationsfiguren werden und die lokale Bevölkerung und die öffentliche Hand mit ihrem Optimismus anstecken. Erfahrungen zeigen jedoch, das dies nicht immer einfach ist, da die Bevölkerung den neuen Nachbarn trotz der positiven Wirkungen der Initiativen skeptisch oder sogar feindlich gegenüber stehen kann, während es der öffentlichen Hand an einer experimentellen Förderstruktur mangelt. „An der Förderpolitik kann man schon sehen, dass das denen unheimlich ist", so Matthiesen. Raumpioniere passen eben nicht immer ins Konzept. Denn sie sind fluide Netzwerke und keine institutionalisierten Organisationen. Angesichts der Komplexität der Probleme und eines Mangels an generalisierbaren Entwicklungsstrategien brauchen die Pioniere in erster Linie die zeitlich befristete Förderung von experimentellen Ideen, eine Art Probierraum für Suche-und-Finde-Prozesse. Weil sie das Risiko der Innovation auf eigenen Schultern tragen, haben Raumpioniere sehr hohe Selbstausbeutungsraten und gehen eher vorsichtig und sondierend in ihren Projekten vor. Dies steht im Gegensatz zu stark durchgeplanten Projekten mit einer langen Planungsphase. Der durch die öffentliche Hand propagierte Leitsatz „Stärken stärken", so Matthiesen, muss durch Förderungen für jene Bereiche ergänzt werden, für die Lösungsstrategien fehlen und wo durch Raumpioniere auch dort Entwicklungen angestoßen werden können, wo diese nicht zu erwarten sind. „Neben den Stärken-stärken-Förderungen, die durchaus ihr Recht haben, muss es für Bereiche, wo wir schlicht nicht wissen, was da zu passieren hat, [...] andere Förderressourcen geben." Jedoch betont er auch, dass die Initiativen die Abwanderung nicht stoppen können: „Das Land ist voll mit lokalen Initiativen. Gleichwohl in Anbetracht der massiven Strukturprobleme ist das eher ein Tropfen auf den heißen Stein."

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5.5 Ableitungen und Vertiefungsansätze

Bei der Betrachtung des strukturschwachen Raums fällt in erster Linie der Unterschied zwischen dem ländlichen Raum und den Städten auf. Liebmann stellt in ihrem Beitrag einen Bezug zwischen Engagement und Schrumpfung her und deckt in schrumpfenden Gebieten Engagement behindernde Umstände auf. Borstel beobachtet gerade im ländlichen, strukturschwachen Raum ein Mangel an Zivilgesellschaft (vgl. sein Beitrag in diesem Band), den Lang und Stöber so nicht beschreiben. Hier bedarf es tiefgehender Forschungen, die auch danach fragen, was die Städte an dieser Stelle von den Dorfgemeinschaften lernen können. Unter Umständen ist die Engagementbereitschaft im strukturschwachen Raum generell schwächer, fällt bei dem allgemein höheren Engagement im ländlichen Raum jedoch nicht so sehr ins Gewicht. Auffallend ist außerdem eine kaum vorhandene oder mangelhafte Kommunikation zwischen der Zivilgesellschaft und der öffentlichen Hand. In den Gesprächen treten wie nirgendwo sonst starke Ressentiments zutage und alle Vorurteile, die man über die andere Seite hat, werden anhand von Beispielen belegt. Erkennen lässt sich für den ländlichen strukturschwachen Raum eine gegebene, aber einseitige Kommunikation, geprägt von Erwartungshaltungen. Im städtischen Bereich entsteht der Eindruck, dass Kommunikation erst gar nicht stattfindet. Dabei ist eine bessere Kommunikation durchaus gewollt, unter den gegebenen Umständen jedoch nur, solange dadurch kein Nachteil entsteht. Eine konstruktive Wirkung der Kooperation wird theoretisch nicht in Frage gestellt, praktisch scheint sie jedoch nahezu ausgeschlossen zu sein. Auch hier kann nicht abschließend geklärt werden, inwiefern mangelhafte Kooperation und Strukturschwäche miteinander einhergehen und sich gegenseitig bedingen. In jedem Fall finden sich hier Aussagen, die viel über die grundlegenden Anforderungen an eine gelungene Kommunikation sagen. Die Meinung vieler anderer Gesprächspartner, dass sich die besten Lösungen durch eine Kooperation auf Augenhöhe finden lassen, wird durch die Berichte aus dem strukturschwachen Raum bestätigt. Denn hier empfindet die Zivilgesellschaft, dass ihr die öffentliche Hand Steine in den Weg legt; andersrum mag die öffentliche Hand die Zivilgesellschaft kaum noch in Planungen einbeziehen, weil sich die Bürger wenig einsichtig gegenüber Verwaltungshandeln zeigen. Raumpioniere können im strukturschwachen Raum - ähnlich den Quartiersmanagern, Ansprechpartnern und externen Beratern in anderen räumlichen Arenen - als intermediäre Instanzen gesehen werden, die das Potenzial haben, nicht nur neue Ideen zu entwickeln, sondern auch zwischen den Seiten zu vermitteln. Nicht immer wird dieses Potenzial jedoch erkannt und allzu oft stellen sich Verwaltung und Bürgerschaft gegen die von außen kommenden Engagierten. Die Frage, wie solches Engagement gefördert werden kann, muss weiter untersucht werden. So sehr die Förderprogramme handlungsschwachen Kommunen auch unter die Arme greifen - sie werden ebenso als Einschränkung wahrgenommen. Dies gilt sowohl für die öffentliche Hand als auch für die Zivilgesellschaft, die ihre Vorhaben und Projekte

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den Förderrichtlinien anpassen muss, auch wenn ein anderes Vorgehen als sinnvoller erachtet wird. Hier wird der Ruf nach flexibleren Förderinstrumenten deutlich.

6.

Die Metropolregion

Elf Regionen in Deutschland tragen, gemäß einem Beschluss der Ministerkonferenz für Raumordnung (MKRO) den Titel Metropolregion. Metropolregionen verfügen in der Regel über einen, im Falle polyzentrischer Metropolregionen über mehrere vergleichsweise starke und große Kerne bzw. Zentren. Diese müssen jedoch nicht die Größe von Shanghai oder Mexiko-City haben, damit ihnen eine internationale Bedeutung zugesprochen wird. Besonders gerne werden sie auch im Zuge der Europäisierung thematisiert. Dies führt zu neuen und unterschiedlichen Herausforderungen sowie Lösungsansätzen für den städtischen Kem und das ländlich Umland. Ein Umgang mit zivilgesellschaftlichen Akteuren ist vor diesem komplexen Hintergrund keine Selbstverständlichkeit. Entsprechend rückt hier nicht die definitorische Auseinandersetzung in den Vordergrund, sondern die Frage, welche Rolle zivilgesellschaftliche Akteure auf dieser noch neuen Ebene spielen wollen und können.

6.1 Metropolregionen

Das Bundesministerium für Verkehr, Bauen und Stadtentwicklung definiert Metropolregionen als „räumliche und funktionale Standorte, deren herausragende Funktionen im internationalen Maßstab über die Grenzen hinweg ausstrahlen." (BMVBS 2007: 1) Im Jahr 1997 hat die MKRO erstmals Metropolregionen in Deutschland festgelegt: Diese zunächst sieben Metropolregionen sollten „als Motoren der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung [...] die Leistungs- und Konkurrenzfähigkeit Deutschlands und Europas erhalten und dazu beitragen, den europäischen Integrationsprozess zu beschleunigen." (Beschluss MKRO, 3. Juni 1997) Nach einer Episode um Nachhaltigkeitsdiskussionen stehen heute die wirtschaftliche Entwicklung und der globale Wettbewerb im Fokus, wie Brigitte Adam, die im BBR für den Wettbewerb Regionen der Zukunft zuständig war, berichtet. Bei den Metropolregionen handelt es sich um räumliche Arenen, die untereinander, aber auch in sich sehr heterogen sind. Ihre Grenzen wurden von den Gründungsinitiatoren - zumeist der öffentlichen Hand und/oder der Wirtschaft - normativ, zum Teil variabel festgelegt. Sie umfassen neben den Kernstädten das mit diesen durch wirtschaftliche Verflechtungen und Pendlerströme eng verbundene Umland. Dies schließt nicht nur den städtisch geprägten, suburbanen, sondern auch den ländlichen Raum mit ein. Darüber hinaus unterscheiden sich Metropolregionen auch durch ihre Organisationsstruktur. Die Spannbreite reicht von demokratisch gewählten Regionalparlamenten bis zu informellen Netzwerken.

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Metropolregionen gewinnen im europäischen Vergleich immer mehr an Bedeutung, sind für die Gesellschaft aber kaum verständlich und greifbar. Zwar wird die Zivilgesellschaft im Kontext von Regional Governance in Metropolregionen gelegentlich thematisiert (vgl. Ludwig/Mandel/Schwieger/Terizakis 2008, 26 oder Blatter/Knieling 2009, 253ff.), sie spielt jedoch eine untergeordnete und in manchen Regionen gar keine Rolle. Es stellt sich daher die Frage, ob es auf dieser Ebene überhaupt eine Form von Zivilgesellschaft gibt, und wenn ja, wie sie in diese neue Handlungsebene integriert ist bzw. wie sie auf diese reagiert. 6.2 Engagement in der Metropolregion

In den Interviews wird häufig thematisiert, dass sich wenige Menschen bürgerschaftlich für die Metropolregion engagieren, da sie ein künstliches Konstrukt ist und sehr stark durch Einzelakteure bestimmt wird. Adam: „Ich denke, die meisten wissen gar nicht, dass sie in einer Metropolregion leben." Ähnlich sieht dies Sylvana Mehrwald von der Metropolregion Rhein-Neckar GmbH6, die darauf verweist, dass das Thema Metropolregion für viele Bürgerinnen und Bürger weit entfernt ist. Umfragen in der Metropolregion Rhein-Neckar (MRN) haben ergeben, dass über drei Viertel der Befragten bereits von der Metropolregion gehört haben, sich aber die wenigsten als Bürgerinnen und Bürger der Region fühlen. Während es dem Grundverständnis der MRN entspricht, dass bürgerschaftliches Engagement einen Beitrag zur Entwicklung regionaler Identität leistet, ist diese für Jens Scheller, ehemals erster Beigeordneter im Planungsverband Ballungsraum Frankfurt/Rhein-Main 7 , nicht ausschlaggebend: „Mein Ziel ist nicht [...] eine regionale Identität zu erzeugen. Mir genügt es, wenn man mit dem Kopf an die Sache herangeht, wenn man sich dessen bewusst ist, dass es etwas bedeutet, wenn man in Bad Homburg lebt und in Frankfurt arbeitet und die Freundin arbeitet in Wiesbaden und man benutzt irgendwelche Freizeitangebote hier und geht zum Einkaufen dorthin, [...] dass diese lebensweltlichen Ausprägungen

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Der Verband Region Rhein-Neckar, der Verein Zukunft Metropolregion Rhein-Neckar e.V. und die Industrie- und Handelskammern der drei beteiligten Bundesländer sind Gesellschafter der operativen MRN GmbH. Diese sieht sich als neutrale Plattform mit dem Ziel der Vernetzung aller Akteure zur Lösung konkreter Probleme und Herausforderungen in der Region. Sie führt Projekte in eigener Trägerschaft durch, unterstützt die Arbeit bestehender regionaler Netzwerke und positioniert die Region durch Öffentlichkeitsarbeit. Der Schwerpunkt liegt dabei in der Wirtschaftsforderung und der mit ihr assoziierten Entwicklung auch weicher Standortfaktoren, sodass die regionale Wirtschaft bei der Initiierung und Finanzierung der gemeinschaftlichen Regionalentwicklung eine zentrale Rolle einnimmt. (Daramus/Mehrwald, www.m-r-n.com). Der Ballungsraum Frankfurt/Rhein-Main umfasst 75 Städte und Gemeinden im Kern der Metropolregion Frankfurt/Rhein-Main, die sich zu einem Planungsverband zusammengeschlossen haben, dem einzigen verfassten Organ der Rhein-Main-Region. Der Planungsverband, der 2001 aus dem seit 1974 bestehenden Umlandverband Frankfürt hervorging, ist für die Erstellung des bundesweit ersten regionalen Flächennutzungsplans (FNP) und des Landschaftsplans für den Ballungsraum zuständig. Gleichzeitig vertritt der Planungsverband die gesamte Region im Initiativkreis Europäische Metropolregionen und führt ein regionales Monitoring für die Metropolregion durch. Der Planungsverband ist engagiert in den Gesellschaften Regionalpark, Standortmarketing und Kulturregion (Interview Scheller, www.planungsverband.de).

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natürlich auch etwas zu bedeuten haben. Dass man auch gemeinsame Probleme hat, die man eben auch gemeinsam lösen muss." Der Mangel an Identifikation mit der Metropolregion ist neben der künstlichen Formung der Region und der wenig greifbaren Größe auch auf die Themen zurückzuführen, die auf metropolregionaler Ebene diskutierten werden. Scheller sieht in der Region und ihrer Angebotsvielfalt und der damit verbundenen nachlassenden Bindung an den Ort auch eine Ursache dafür, dass das soziale Gefiige in der Region in Teilen nachlässt. Zusätzlich sind die Themen für die Zivilgesellschaft, insbesondere die nicht formal organisierten Bürgerinnen und Bürger, zu abstrakt oder komplex. Carmen Daramus von der Metropolregion Rhein-Neckar beobachtet, dass das Engagement in größeren Räumen zumeist auch formalisierter und institutionalisierter ist. Eine Einarbeitung in regionale Fragestellungen kann nicht jedem zugemutet werden. Im Gegenteil kann sie bei einem Laien zu Frustrationen führen, glaubt Scheller: „Es fördert, glaube ich, eher Frustration, wenn sich hier jemand mit Müllentsorgung im Rhein-Main Gebiet auseinandersetzt. Also, der wird eine ganze Weile brauchen, bis der überhaupt mal recherchiert hat, wie das hier funktioniert. [...] Das ist einfach vollkommen unattraktiv." Dies liegt seines Erachtens jedoch weniger an den Kompetenzen der Bürgerinnen und Bürger als vielmehr an einem Mangel an Informationen und transparenten Entscheidungsstrukturen (vgl. Kapitel 6.3). Die Bürgerschaft, so Adam, macht nur dann längerfristig mit, wenn sie schnelle Erfolge sieht. Die Themen der Metropolregionen sind dafür zu groß. Ein weiterer Grund für einen Mangel an Engagement auf metropolregionaler Ebene wird darin gesehen, dass Bürgerinnen und Bürger zumeist nicht unmittelbar betroffen sind, z.B. bei wirtschaftlichen Themen. Daher erwartet Adam ein starkes öffentliches Engagement (außerhalb der großen, institutionalisierten Organisationen der Zivilgesellschaft) eher in Form von Protesten gegen Großprojekte. Die großen Protestinitiativen der 1970er Jahre sind dabei den NIMBY-Protesten (not in my backyard) der direkt Betroffenen gewichen. „Sie müssen die ganze zivilgesellschaftliche Debatte in die heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse einbetten. Die Bürgerbewegungen der 1970er Jahre fanden auf einem hohen Niveau unter ganz anderer wirtschaftlicher Sicherheit der Einzelnen statt. Dies begründete Engagement und Mut zum Protest. Heute tritt zum einen die zunehmende Sorge um die persönliche Existenzsicherung in den Vordergrund und zum anderen werden heute die großen gesellschaftskritischen Themen durch entsprechende Organisationen, die sich als Themenanwälte begreifen, gedeckt." (Adam) Das Problem mit den Protestinitiativen sieht Adam jedoch grundsätzlich darin, dass sie erst dann aktiv werden, wenn sie von den bereits beschlossenen Vorhaben erfahren, also dann, wenn die Planungen sehr weit fortgeschritten sind. Auch Mehrwald und Daramus sehen den Grund für das aktuell schwache Engagement auf metropolregionaler Ebene in den überwiegend wirtschaftlich orientierten Themen, die mit der Zivilgesellschaft zunächst schwierig vereinbar erscheinen. Dennoch bezeichnen sie die Themen als „Gemengelage", die viele Bereiche berühren, in denen die Zivilgesellschaft eine Rolle spielt. Denn ohne Bürger wird es kein „Wir-

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Gefühl" geben. Sie sind wichtig für die Schaffung von Lebensqualität, die wiederum als weicher Standortfaktor gesehen wird. Daher soll die Zivilgesellschaft in bestimmte Themen gezielt einbezogen werden. Adam und Ralf Baumgarth sehen für die Bürgerinnen und Bürger relevante Themen ζ. B. im Freiraumschutz und der Naherholung, der sozialen und kulturellen Infrastruktur, in Gesundheit, Bildung, Kultur und der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Die auf der Ebene der Metropolregion aktiven zivilgesellschaftlichen Akteure sind weniger engagierte Einzelpersonen oder kleinere Vereine und Initiativen. Es ist eher der institutionalisierte Teil der Zivilgesellschaft, der hier zu finden ist. Baumgarth beobachtet in der MRN ein zunehmendes Bewusstsein bei zivilgesellschaftlichen Organisationen für die Metropolregion. Wie stark sich eine zivilgesellschaftliche Organisation in Themen der Metropolregion einmischt, hänge dabei von ihrem Selbstverständnis und ihrer eigenen Betroffenheit ab. Die Evangelische Kirche im Hochtaunus beispielsweise hat für das soziale Monitoring ihrer Region innerhalb der Metropolregion einen Kreis-Sozialbericht erstellt und damit die Arbeit des Planungsverbands Ballungsraum Frankfurt/Rhein-Main unterstützt, berichtet Scheller. Dennoch sind es bisher wenige zivilgesellschaftliche Akteure, die auf dieser Ebene organisiert sind. Die Zuständigkeitsbereiche überregional organisierter Verbände, wie z.B. die Freiwilligenagenturen, die Kirchen und Wohlfahrtsverbände, entsprechen nicht zwangsläufig den Grenzen der Metropolregionen, die sich meist über mehrere Kreise und teilweise auch über mehrere Bundesländer erstrecken. Für die Geschäftsstelle der Metropolregion Rhein-Neckar sind regionale Zusammenschlüsse von großer Bedeutung, da sie als Repräsentanten bestimmter zivilgesellschaftlicher Akteursgruppen angesprochen und einbezogen werden können (Mehrwald/Daramus). Für die Zivilgesellschaft bedeutet die Netzwerkarbeit jedoch einen Mehraufwand, wenn nicht gar einen gewissen Luxus, der nicht in jedem Fall leistbar ist. Davon weiß Baumgarth zu berichten, der in der Metropolregion Rhein-Neckar (MRN) die bisher einzige Arbeitsgemeinschaft der Freiwilligenagenturen auf metropolregionaler Ebene, die MAGFA, ins Leben gerufen hat und darüber hinaus am Aufbau eines EhrenamtNetzwerks arbeitet. Er geht davon aus, dass eine Voraussetzung für Engagement ist, dass die Akteure Gemeinsamkeiten entdecken und einen Mehrwert für sich sehen. Der Vorteil von Netzwerken liegt für ihn im Austausch über Gemeinsamkeiten und Überschneidungen (z.B. bei Bildungsangeboten), aber auch in der Öffentlichkeitsarbeit: Einheitliche Programme und Begriffe innerhalb der Region erhöhen den Wiedererkennungswert und sind leichter vergleichbar und kommunizierbar. Ein Mangel an Protestinitiativen oder an metropolregionalen Netzwerken bedeutet jedoch keinesfalls auch einen Mangel an Zivilgesellschaft und bürgerschaftlichem Engagement in der Region. 45°/o der Bürgerinnen und Bürger der MRN sind in ihrem Umfeld engagiert und tragen aus Sicht der Metropolregion dadurch zu ihrer Entwicklung bei (Mehrwald). Scheller beobachtet darüber hinaus ein Engagement, das aufgrund von steigender Mobilität und abnehmender Ortsbindung zeitlich befristet

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ist und entsprechende, nicht auf Dauer bindendende Angebote sucht. Gerade bei Berufspendlern findet das Engagement nicht unbedingt am Wohnort statt. Die Zivilgesellschaft scheint an vielen Stellen ihre Rolle gegenüber dem Konstrukt der Metropolregion noch nicht gefunden zu haben (vgl. Federwisch in diesem Band). Baumgarth stellt auch für die Akteure in der MAGFA fest, dass der Umgang mit dem Konstrukt Metropolregion nicht allen gleichermaßen liegt. 6.3 Kommunikation und Kooperation

In den Interviews mit der MRN und dem Planungsverband wird deutlich, dass ein Bewusstsein für die Bedeutung des bürgerschaftlichen Engagements und den zivilgesellschaftlichen Akteuren zumindest in diesen beiden Regionen vorhanden ist. Die Zivilgesellschaft wird von Mehrwald und Daramus als wichtiger Garant für eine hohe Lebensqualität und damit in der Regionalentwicklung als das „Salz in der Suppe" gesehen. Baumgarth betont ergänzend, dass auch das kleinteilige, nicht auf regionaler Ebene organisierte Engagement einen wichtigen Beitrag zur regionalen Entwicklung leistet. Der Zivilgesellschaft wird außerdem eine Rolle als Seismograph oder Früherkennungssystem zugeschrieben (Daramus/Mehrwald, Baumgarth, Scheller). Durch wichtige Anregungen und Hinweise in Planungsprozessen kann sie Politiker und „verbildete Planer", so Scheller, in ihrer Arbeit korrigieren. Denn die Zivilgesellschaft hat keinen durch einen verwaltungspolitischen oder ökonomischen Nutzen gelenkten Blick und kann dadurch unter Umständen mehr als die öffentliche Hand oder die Wirtschaft sehen (Baumgarth). Im Gegensatz zu einer defensiven, die Planung frühzeitig legitimierenden Einbindung der Zivilgesellschaft können sich Verantwortliche durch eine offensive Beteiligung wichtige Anregungen und Hinweise holen (Adam, Scheller). Scheller und Adam warnen, dass eine reine Information über Planungen, die grundsätzliche Änderungen nicht mehr erlaubt, zu Protestaktionen und damit nachträglich zu Problemen führen kann. Die MRN GmbH betont auf ihrer Internetseite zunächst die gelungene Kooperation zwischen den Akteuren aus Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Verwaltung. Die Einbindung der Zivilgesellschaft erfolgt themenbezogen und soll zukünftig in den Projekten dort weiter ausgebaut werden, wo eine Einbindung auch Sinn macht. Eine Beteiligung möglichst aller Bürger im klassischen Sinne empfindet Mehrwald als schwierig, da es kaum möglich ist, „den Bürger in Reinform" zu definieren. Er nimmt unterschiedliche gesellschaftliche Rollen ein, als Arbeitnehmer, Elternteil, Schüler oder Student etc. In diesen Rollen wird er als Teil der gemeinschaftlichen Regionalentwicklung in Ansätzen bereits eingebunden. Darüber hinaus sind zahlreiche Bürger bereits aufgrund ihrer beruflichen Funktionen gestalterisch in regionalen Arbeitskreisen tätig. Bisher wurden im Rahmen des Projekts „Bürger in Bewegung" diverse Beteiligungsmaßnahmen durchgeführt: Ein Bürgermonitoring fragt alle zwei Jahre Bewohnerinnen und Bewohner nach ihrer Meinung, durch den Bürgerpreis

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werden Projektideen gefordert, ein Stiftertag dient als Plattform für gegenseitigen Austausch und durch die Organisation eines Freiwilligentags im Jahre 2007 wurden über 6.700 Freiwillige aktiviert. Gemeinsam mit dem Verein Zukunft Metropolregion Rhein-Neckar e.V. kooperiert die GmbH themenbezogen mit zahlreichen regionalen Netzwerken, die teilweise aus der Zivilgesellschaft heraus entstanden sind. Mit diesen Aktivitäten nimmt die MRN trotz ihres kurzen Bestehens eine Vorreiterfunktion unter den deutschen Metropolregionen ein. Baumgarth beklagt allgemein die Reduzierung der Zivilgesellschaft auf die Funktion als weicher Standortfaktor und fordert die Verbesserung der Rahmenbedingungen für bürgerschaftliches Engagement. Die Informationskanäle aus der Zivilgesellschaft in die MRN hinein könnten seines Erachtens ausgebaut werden. Mehrwald macht darauf aufmerksam, dass die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft - so wie die MRN überhaupt - noch in den Kinderschuhen steckt und daher Potenzial zur Ausweitung hat. Im Planungsverband Frankfurt wurde die Erfahrung gemacht, dass die Aufgaben des Verbandes zu eng gefasst sind. Bei der Errichtung eines Hochschulnetzes wurde die Kommunalaufsicht eingeschaltet, um zu prüfen, ob sich der Planungsverband seinen Aufgaben gemäß verhalten hat. Generell bemüht sich der Planungsverband durch eine dezentrale Auslegung der Flächennutzungspläne (FNP), durch Ausstellungen, Volkshochschulkurse, Schulprojekte, eine Intemetplattform u.ä. die Bürger über die vorgeschriebene Beteiligung hinaus in die Planungen einzubeziehen. Das Bewusstsein, dass dies nur gelingen kann, wenn es auch identitätsstiftende Projekte und Netzwerkaktivitäten gibt, scheint jedoch noch nicht Konsens zu sein (Scheller). Die Strukturen der Metropolregionen und die Rolle der Zivilgesellschaft darin sind verschieden. In einzelnen Metropolregionen gibt es durch die Bürger gewählte Regionalparlamente. In anderen Regionen setzen sich die Gremien ausschließlich aus Bürgermeistern der Region oder Vertretern von Verbänden und Kammern zusammen. Nach Auffassung von Scheller führt die vor allem in der Region Rhein-Main besonders ausgeprägt vorhandene Zersplitterung regionaler Aufgabenträger und die hinter verschlossenen Türen tagenden GmbH-Gremien dazu, dass der Zugang zu Informationen und dadurch letztlich auch die Auseinandersetzung mit regionalen Aufgabenstellungen erschwert wird. Dadurch werden Entscheidungen getroffen, die wenig transparent und für die Bürgerschaft kaum nachvollziehbar sind. Die Entscheidungen, die auf regionaler Ebene getroffen werden, sind abstrakter und ihre Adressaten weniger konkret als auf kommunaler Ebene. Dadurch entfernen sich Politiker, die in Gremien oberhalb der Kommunalebene agieren, zunehmend von der Bürgerschaft und damit von den nicht institutionalisierten Teilen der Zivilgesellschaft. Wo kein Zwang besteht, mit Bürgern in Kontakt zu treten, da wird dies auch kaum getan. Dies wird möglicherweise durch die Unabhängigkeit von direkten Wählerstimmen verstärkt. Daher fordert Scheller eine Bündelung regionaler Entscheidungsstrukturen in einem demokratisch legitimierten Verband oder Regionalkreis, der für Transparenz sorgt und als Ansprechpartner dient.

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Auch Baumgarth weist dort auf den Mangel an Transparenz und Legitimation hin, wo Regionalparlamente nicht demokratisch gewählt werden. Zwar werden in der MRN Informationen vom Verband in die Kommunen und vom Verein an die Mitglieder gegeben, nicht aber direkt an die Bürgerschaft herangetragen. Es entsteht der Eindruck, dass Politiker, die in regionalen Gremien aktiv sind, wenige Informationen nach unten weitergeben, sei es aufgrund der Themen, die auch für Lokalpolitiker sehr abstrakt sind (Baumgarth), sei es aufgrund von Machtmonopolisierung (Scheller). Darüber hinaus wird die Partizipation der Bürgerinnen und Bürger in Planungsprozesse auf regionaler Ebene selten als notwendig erachtet, teilweise ist sie unerwünscht. Schellers Auffassung, dass der Bürger als planerischer Endkonsument eine sehr große Rolle spielt, wurde während seiner Tätigkeit im Planungsverband nicht von allen geteilt. Sowohl die Privatisierung regional bedeutender Verwaltungsbereiche als auch undurchsichtige Gremienstrukturen führen seiner Ansicht nach zu einer Monopolisierung von Wissen und damit zu einer Entdemokratisierung, also einer Entmachtung der Zivilgesellschaft. Baumgarth macht darauf aufmerksam, dass es in vielen Kommunen, nicht aber auf Kreisebene, Beteiligungsprozesse gibt. Die Ebene der Metropolregion stellt eine noch höhere Abstraktionsebene dar. Die Verwaltung ist geprägt durch Politiker und andere Menschen mit Richtlinienkompetenzen und führt letztlich aus, was die Politik fordert, meint Baumgarth. Da an dieser Stelle die Politik stark personengebunden ist, wird die Einbindung und Förderung der Zivilgesellschaft unter Umständen temporär unterstützt und dann wieder vernachlässigt. So bleiben bei allen Bemühungen um Sachlichkeit und Gemeinwohlinteresse Themen auf der Strecke, wenn sie nicht „von oben" gewollt sind (Scheller). 6.4 Kultur und Struktur einer gelungenen Kooperation

Die Größe und Thematik von Metropolregionen macht es unmöglich, alle Bürgerinnen und Bürger zu erreichen. Allen Befragten erscheint es daher sinnvoll, zivilgesellschaftliche Akteure themenbezogen zu beteiligen. Die planenden Instanzen müssen zunächst die rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen für Partizipation erhalten (Scheller). Außerdem müssen neue Methoden der Beteiligung gefunden werden, die sich von den schon bekannten Verfahren auf Kommunalebene unterscheiden (Baumgarth). Es muss Strukturen geben, die eine niederschwellige Möglichkeit der Einmischung zulassen (Scheller) und politisches Engagement ggf. auch bezahlen (Adam). Als Möglichkeiten nennt Baumgarth spontan ein Bürgertelefon, Bürgerkonferenzen oder ein gewähltes Bürgerparlament auf metropolregionaler Ebene. So wie die großen Wirtschaftsunternehmen Mitarbeiter in die MRN GmbH entsenden, so könnte er sich dies auch für einen Mitarbeiter aus der Zivilgesellschaft vorstellen.

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Scheller fordert von den Planern eine Beteiligungskultur bzw. eine beteiligungsorientierte Grundhaltung. Dazu bedarf es zunächst eines Bewusstseins darüber, was für eine wichtige Rolle die Zivilgesellschaft in der Regionalentwicklung spielt. Bürgerschaftliches Engagement könnte zu einem Markenzeichen der Region werden (Baumgarth). Ebenso muss der Zivilgesellschaft ein Bewusstsein dafür vermittelt werden, für die Entwicklung ihrer Region mitverantwortlich zu sein. Mehrwald verweist darauf, dass auch die MRN als Regionalentwicklungsgesellschaft für regionale Probleme neue Lösungen und Lösungswege erarbeitet. Sie erachtet ein entsprechendes Verantwortungsbewusstsein in der Zivilgesellschaft für angemessen. Eine Kooperation auf Augenhöhe bedarf gleicher Verhandlungsvoraussetzungen durch entsprechende Anleitung. Dazu Adam: „Wenn man sich jetzt einmal die gesamte Diskussion um Zivilgesellschaft, Kooperationsverfahren, Mediationsverfahren u.s.w. [anguckt]: Die müssten eigentlich alle die gleichen Verhandlungsvoraussetzungen haben, die haben sie aber erst mal nicht." Dies bedeutet, das Thema Regionalentwicklung möglichst frühzeitig, nämlich in der Schule, den Bürgerinnen und Bürgern nahe zu bringen (Adam). Auch Scheller erkennt, dass das Thema Stadtentwicklung vermittelt werden muss, da es für viele wenig greifbar ist: „Früher, da konnte ich irgendwelche Gespräche führen und eigentlich waren die Leute immer interessiert, was ich zu erzählen hatte. Und seitdem ich [...] als Planer unterwegs bin, kann ich immer noch genauso begeistert von irgendetwas berichten und es passiert trotzdem, dass man mal in glasige Augen blickt." Für eine Kooperation aller Akteure ist es wichtig, alle relevanten Multiplikatoren zusammenzubringen, so Baumgarth, und ein den vielfältigen Themen entsprechendes breites Netzwerk an Partnern zu haben, so Scheller. Die Etablierung regionaler Netzwerke und eine dauerhafte Lobbyarbeit sind von großer Bedeutung. Dabei muss die Informations- und Vermittlungsarbeit sowohl von Seiten der Zivilgesellschaft als auch von Seiten der öffentlichen Hand bzw. der Wirtschaft kommen (Baumgarth). Damit sich zivilgesellschaftliche Akteure jedoch regional vernetzen, muss zunächst das Thema Regionalentwicklung sowie der Beitrag, den die Zivilgesellschaft dazu leisten kann (und leistet), anschaulich gemacht und vermittelt werden. Bereits bestehende Netzwerke können den Beitrag der Zivilgesellschaft anschaulich machen, weiß Baumgarth. Die Abstraktion der Themen auf dieser Ebene muss aufgelöst und die für die Zivilgesellschaft wenig attraktiven Themen so heruntergebrochen werden, dass ein Bezug zu ihrem Engagement hergestellt werden kann. Bei aller Bemühung um eine Miteinbeziehung der Zivilgesellschaft in die Regionalentwicklung durch die öffentliche Hand dürfen jedoch die nicht-organisierten Stimmen der Zivilgesellschaft nicht überhört werden. Durch einen angemessenen Interessenausgleich muss vermieden werden, dass nur jene Stimmen gehört werden, die sich in zivilgesellschaftlichen Organisationen institutionalisiert haben und lautstark auf sich aufmerksam machen können (Adam).

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6.5 Ableitungen und Vertiefungsbedarfe

Es kristallisiert sich heraus, dass die Zivilgesellschaft mit zunehmender Größe der räumlichen Arena einen höheren Grad an Professionalisierung, Stärke und politischer Relevanz mitbringen muss, um gegenüber der Wirtschaft und der Vielzahl der politischen Interessen in unterschiedlichen Kommunen auf Augenhöhe kommunizieren zu können. Mit der global agierenden Wirtschaft kommt ein großer Akteur mit eigenen Interessen und einer eigenen Handlungslogik ins Boot, der den Dialog noch komplexer macht. Die Regionalentwicklung erreicht einen für einzelne Bürger kaum zu fassenden Abstraktionsgrad. Daher gewinnt die Funktion der institutionalisierten Zivilgesellschaft, ein Sprachrohr fiir die Bürger (wenn auch unmöglich für alle) zu sein, zunehmend an Bedeutung. Sie kann zwar keine demokratische Legitimation auf Metropolregionsebene erreichen, aber sie kann Transparenz einfordern und Multiplikator sein. Dies ist auch vor dem Hintergrund wichtig, dass in der Bürgerschaft ein Bewusstsein für die Region geweckt werden soll. Aufgrund der Komplexität der Themen scheint es sinnvoll, die Zivilgesellschaft themenbezogen einzubeziehen. Hier erweisen sich kooperative Netzwerke als hilfreich. Weil diese für die Zivilgesellschaft mit einem Mehraufwand verbunden sind, ist es auch hier wichtig, ein Bewusstsein fiir die Bedeutung der Region zu schaffen, die ja zunächst ein künstlich gebildetes Konstrukt ist. Die Bürgerinnen und Bürger können vereinzelt zu sehr konkreten Themen einbezogen werden, um vorausschauend Fehlplanungen zu vermeiden. Positiv stimmt, dass es - zumindest in einzelnen wenigen Metropolregionen - Formen und Modelle zu geben scheint, durch die sich zivilgesellschaftliche Akteure angesprochen fühlen, mitzuwirken. Diese Formen sind von einer starken Freiwilligkeit geprägt. Es ist unwahrscheinlich, dass sich die Metropolregion zu einer räumlichen Ebene entwickelt, die neue zivilgesellschaftliche Akteure generiert, es scheint sich aber abzuzeichnen, dass sich neue Formen der Zusammenarbeit ergeben. Diese Entwicklung muss jedoch langfristiger beobachtet werden, denn das Konstrukt der Metropolregion ist noch jung. Wenig beleuchtet wurden in den Interviews die räumlichen Disparitäten. Zwar wurden die Auswirkungen und die Komplexität durch die Akteurs- und Interessenkonstellation thematisiert. Die Herausforderungen, die durch das Aufeinandertreffen wirtschaftsstarker Zentren und eines ländlich geprägten Umlands entstehen, spielten keine große Rolle. Langfristig wird die Frage zu beantworten sein, ob sich Disparitäten zwischen Kem und ländlichem Raum nicht verstärken, indem die Sprachrohre der öffentlichen Hand, der Wirtschaft und der Zivilgesellschaft in erster Linie in den Zentren der Metropolregionen sitzen.

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7.

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Querschnittsthemen

Eine Reihe von Themen, Problemen oder Wahrnehmungen zieht sich wie ein roter Faden durch alle räumlichen Arenen. Einige wurden in den vorangegangen Kapiteln bereits angesprochen und werden hier noch einmal aufgegriffen. Dazu gehören die Handlungslogik der öffentlichen Hand, die sich von der der Zivilgesellschaft unterscheidet, sowie die Grundvoraussetzungen für gute Kooperation und Kommunikation. Den folgenden Ausführungen ist ein altbekanntes und dennoch häufig vernachlässigtes Grundprinzip menschlichen Miteinander voranzustellen: Kooperation und Kommunikation sind stets von den involvierten Personen geprägt und abhängig (vgl. Scarpa in diesem Band). Die Erfahrungen der Interviewpartnerinnen und Interviewpartner bestätigen dies. Trotz der unterschiedlichen (personellen und institutionellen) Rahmenbedingungen tauchen in den Gesprächen immer wieder Aussagen über das Miteinander von öffentlicher Hand und Verwaltung auf, die nicht explizit der einen oder anderen räumlichen Arena zugeordnet werden können. Und so werden von den Gesprächspartnern auch allgemeine Regeln benannt und Vorschläge gemacht, die wo notwendig - zu einer Verbesserung der Situation beitragen können. 7.1 Politik und Verwaltung - Handlungslogiken der öffentlichen Hand

Die Handlungslogik der Zivilgesellschaft wurde im Eingangskapitel näher erläutert und kam in den folgenden räumlichen Arenen immer wieder in unterschiedlicher Weise zum Tragen. An dieser Stelle soll die Handlungslogik der öffentlichen Hand thematisiert werden. Gefragt nach den Stärken und Schwächen der öffentlichen Hand - auch im Gegensatz zur und im Miteinander mit der Zivilgesellschaft - ergeben sich innerhalb der fünf räumlichen Arenen mehr Übereinstimmungen als Differenzen. Zwar werden der Zivilgesellschaft im Vergleich zur Politik und Verwaltung nicht per se innovativere Ideen zugeschrieben. Dennoch unterliegt die öffentliche Hand in ihrem Handeln allgemein einer anderen Logik als die Zivilgesellschaft. Dass die Verwaltung allen Klischees entsprechend als bürokratisch und unflexibel angesehen wird, erstaunt weniger. Als ein Grund wird genannt, dass Beamte selten Risiken eingehen und Macht nur ungern aus der Hand geben. Auch ein Mangel an Innovation, Risikobereitschaft und Transparenz werden ihr nachgesagt sowie eine Tendenz zu öffentlichkeitswirksamen Großprojekten. Birgit Weber stellt dem die teils sehr starke Bürokratie in manchen institutionalisierten zivilgesellschaftlichen Organisationen gegenüber und Hummel warnt vor einer „moralinträchtigen Diskussion" und der Festigung von Klischees. Auch Reuter plädiert für ein stärkeres Verständnis füreinander. Tatsächlich wird von vielen Gesprächspartnern auch gesehen, dass in der Verwaltung kompetente Mitarbeiter sitzen, während in der Zivilgesellschaft z.T. Projekte durchgeführt werden, die nicht zu Ende gedacht sind - und nicht zu Ende gebracht werden. Trotz der für die Zivilgesellschaft teilweise befremdlichen Verwaltungslogik sitzen dort Experten, die mit diversen Ressourcen ausgestattet sind und so-

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mit bestimmte Sachverhalte überblicken und Inhalte durchsetzen können - oder eben nicht durchsetzen können. Schließlich bleiben diese an Haushaltspläne und Verwaltungsvorschriften sowie in vielen Fällen an restriktive Haushaltssicherungskonzepte gebunden. Die Verwaltung kann nicht allen Einzelinteressen nachkommen, sondern strebt idealerweise einen Interessenausgleich an. Sie ist gezwungen, langfristiger zu denken als die Zivilgesellschaft und bündelt oder vernetzt professionelles Expertenwissen. Sie ist zur Durchführung bestimmter Aufgaben verpflichtet und kann andere Aufgaben zusätzlich freiwillig übernehmen. Krapp macht darauf aufmerksam, dass die von vielen Gesprächspartnern als wichtig empfundenen Netzwerk-Aktivitäten beispielsweise nicht zwingend zu den Aufgaben der öffentlichen Hand gehören, auch wenn sie vermehrt Bausteine von Förderprogrammen sind. EU, Bund und Länder haben aufgrund der kommunalen Selbstverwaltung wenig Einfluss auf die Stadtentwicklung, können aber durch Förderprogramme Richtlinien festlegen. Krapp unterstreicht, dass die übergeordneten Ebenen den Kommunen „nicht rein reden" dürfen, dass Förderrichtlinien vielmehr als weiche Instrumente zu verstehen sind, die Spielregeln formulieren und Grundsatzdiskussionen anstoßen. Gute Förderprogramme setzen voraus, dass die übergeordneten Ebenen mitbekommen, was vor Ort passiert und gebraucht wird. Dies bedarf einer Kommunikation zwischen diesen Ebenen, die nicht überall gelingt. Krapp erläutert, dass einige kleinteilige Initiativen, wenn auch nicht im Detail, von Seiten der Landesregierung wahrgenommen werden, allerdings nur dort, wo Fördergelder geflossen sind. Habermann geht davon aus, dass der Verwaltung die übrigen Aktivitäten vor Ort nicht bekannt sind: „Die Verwaltung hat keinen Zugang zum Potenzial, die wissen zu 99% gar nicht, was es so gibt; Vereine haben aber nicht die Kapazitäten, neben dem großen Engagement in der Freizeit noch Werbung für eigene Belange zu machen." Kommunen sind also auf eine gute Kommunikation nicht nur zwischen Zivilgesellschaft und Kommunalverwaltung, sondern darüber hinaus auch zwischen den verschiedenen Verwaltungsebenen angewiesen. Verwaltungsinterne Kommunikationsprobleme, und damit eine wenig ausgeprägte ressortübergreifende Arbeitweise, werden häufig beklagt. Hier appelliert Birgit Weber dafür, Barrieren in der Verwaltung abzubauen und die Zuständigkeiten innerhalb der Verwaltung besser zu klären. Dem steht die Erfahrung von Krapp entgegen, der auf die Belastungen und Grenzen der Kommunen aufmerksam macht. Auch wenn sich seine Beispiele auf Kommunen im Land Brandenburg beziehen, ist eine zusehends wachsende Aufgabenkomplexität bei sinkendem kommunalem Budget kein ostdeutsches Phänomen. Hier steht der Forderung nach einer verbesserten Abstimmung der Ressorts untereinander der Hinweis auf eine schwer zu bewältigende Mehrbelastung für die Verwaltungen gegenüber. Grundsätzlich waren in den Interviews vergleichsweise wenige kritische Äußerungen über Politik und Politiker zu hören. Vereinzelt wird der Politik eine zu starke Abhängigkeit von Legislaturperioden und Parteidenken vorgeworfen, die einer Sachlichkeit entgegenstehen. Es überwiegen aber Aussagen, in denen Politik als eine für das The-

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ma notwendige, richtungsweisende Instanz gesehen wird. Dabei schreiben viele Interviewpartnern dem Bürgermeister eine Schlüsselrolle für eine funktionierende Verwaltung zu. Staubach nennt ihn stellvertretend für die Politik, um richtungweisende Strukturen anzustoßen, und auch Slapa macht ihn maßgeblich für die Bereitschaft einer Kommune, Beteiligungen durchzufuhren, verantwortlich. Glück argumentiert, dass das Beteiligungsinteresse eher bei der „bürgerabhängigen" Politik zu finden sein müsse und nicht bei den bürgerunabhängigen Verwaltungsmitarbeitem und unterstreicht damit die richtungsweisende Funktion der Politik. Dass dem tatsächlich so ist, wird in den Gesprächen jedoch nicht bestätigt. Zwar wird das Verhältnis zwischen Bürgerschaft, Verwaltung und Politik oftmals als schwierig geschildert, ob die Probleme aber primär in der Zusammenarbeit mit der Verwaltung oder eher mit der Politik entstehen, scheint situations- und personenabhängig zu sein. Habermann sieht insbesondere auf den Ebenen oberhalb der Kommunen eine Gefahr in der „Diskussion über bürgerschaftliches Engagement, die zur Zeit auch auf großer politischer Ebene läuft. Hier habe ich das Gefühl, es geht nicht darum, das Engagement zu fördern, zu würdigen und die Menschen dort abzuholen, wo sie sind, und bei dem zu unterstützen, was sie tun. Sondern es geht darum, den Bürger dafür auszunutzen - bewusst gewählter Ausdruck - gewisse Dinge zu erledigen und zu übernehmen, die vorher Verwaltung oder Kommune übernommen hatten und nun keine Ressourcen mehr dafür da sind." Krapp relativiert an dieser Stelle die Möglichkeit der direkten Einflussnahme von Bund und Ländern auf die kommunale Ebene durch Förderrichtlinien: „Es ist dann aber auch die Frage, wie konkret wir im Rahmen von Evaluierungen und Erfolgskontrollen das auch sanktionieren. [Bürgerbeteiligung] ist kein Thema, wo wir so richtig reinfassen, denn das wäre nicht hilfreich." In den Gesprächen mit den Vertretern der Zivilgesellschaft wird teilweise beobachtet, dass nicht sehr scharf zwischen der Politik als richtungsweisende und der Verwaltung als durchführende Instanz getrennt wird. Krapp beschreibt hingegen die gegebene klare Aufgabenverteilung: „Ja, natürlich könnte man jetzt Probleme, die wir [in der Verwaltung] wahrnehmen, an die Politik herantragen, aber die Politik erwartet in der Regel Antworten, nicht Fragestellungen." Und in Bezug zum Thema Zivilgesellschaft sagt er weiter: „Die Politik hat erkannt, ,da müssen wir mal handeln'. Also mussten wir handeln." Birgit Weber sieht genau darin ein Problem, da ihrer Ansicht nach Politiker, die sich im Wahlkampf befinden, die Verwaltung teilweise in Aufgaben zwängen, für die sie gar nicht zuständig ist. Hummel erwartet daher von der Politik, dass sie sich schützend vor die Verwaltung stellt, gerade dann, wenn diese durch nicht-öffentliche Akteure angegriffen wird.

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7.2 Kooperation - Voraussetzungen für eine neue Rollenaufteilung

Wie bereits dargestellt, zeichnet sich in den Gesprächen weniger die Frage ab, wer Aufgaben besser wahrnimmt (die öffentliche Hand oder die Zivilgesellschaft), sondern wie ein gemeinsames Miteinander ausschauen kann, dass zu einem verbesserten Ergebnis führt. Problematisch ist dabei, dass eine neue Aufgabenverteilung bzw. schon die Diskussion darum stets mit einem Rückzug des Staates belegt ist. Und dies wird zumeist negativ wahrgenommen, wie Magel beschreibt: „Da kann man ja ganz schlecht drüber reden, weil es sehr schnell klassifiziert wird. Jeder von uns ist ja froh, dass es solche Auffangeinrichtungen wie Hartz IV gibt [...]. Die Frage ist ja: Warum soll der Staat für mich sorgen? Wer sagt denn das? Der Staat soll ja eigentlich nur die Grundinfrastruktur herrichten, aber ich bin doch für mich verantwortlich. Drum ist es in unserem Land nicht möglich, die Subsidiarität wirklich zu diskutieren, weil man sofort in irgendeine Ecke geschoben wird [...]. Es ist vergessen worden, wir haben das verlernt, dass wir zunächst einmal für uns selber zuständig sind." Stöber beschreibt dies mit anderen Worten, schließlich sollte es nicht darum gehen, etwas für oder gegen die Verwaltung zu tun, sondern darum, Verantwortung zu übernehmen. Manche Interviewpartner sind klar der Auffassung, dass der Staat nicht dafür zuständig ist, das Zusammenleben der Menschen zu organisieren und dass der Wohlfahrtsstaat selbst eine Staatsgläubigkeit provoziert hat, die zu einer Mentalität des Fordems geführt hat. Spätestens durch die Finanzkrise und die künftige Zahlungsunfähigkeit einiger Kommunen bedarf es nach Ansicht einiger Gesprächspartner einer neuen Aufgabenverteilung im Sinne einer Verantwortungsgemeinschaft und einer Rückbesinnung auf das Subsidiaritätsprinzip. Die Tatsache, dass hier unterschiedliche Staats- und Gesellschaftsauffassungen existieren, erschwert die Suche nach einer neuen Rollenaufteilung Nun ist das Subsidiaritätsprinzip nicht neu, aber das Bewusstsein dafür scheint sich verlagert zu haben. Muss womöglich das Subsidiaritätsprinzip neu diskutiert werden, um eine Kooperation zwischen Zivilgesellschaft und öffentlicher Hand zur Sicherung der Grundinfrastruktur zu realisieren? Für kontinuierliche und unvoreingenommene Kooperationen müssen sich beide Seiten öffnen. Hier scheint einerseits ein Umdenken der öffentlichen Hand erforderlich, auf das Habermann hinweist: „Wenn Ideen aus der Zivilgesellschaft kommen, sind sie eher umsetzbar, als wenn Verwaltung sich die Umsetzung von der Zivilgesellschaft wünscht." Die öffentliche Hand muss im Sinne des ermöglichenden Staates besser erfassen, nutzen und unterstützen, was aus der Zivilgesellschaft heraus entstanden ist und entsteht, anstatt Engagement an bestimmten Stellen einzufordern. Die Zivilgesellschaft hingegen muss sich mit dem Gedanken vertraut machen, dass ihr Handeln keine reine Privatangelegenheit ist, sondern Auswirkungen auf das Gemeinwesen hat. Thies fordert insbesondere von der institutionellen Zivilgesellschaft, dass diese das Bewusstsein für ihre Rolle im Stadtteil schärfen muss.

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Das kann die Zivilgesellschaft, insbesondere die nicht-institutionalisierte, auch überfordern, denn der Blick über die eigenen Aktivität hinaus und auf den gesamten Raum sowie das Verständnis für mögliche Folgen des eigenen Handelns stehen beim Engagement nicht unbedingt im Vordergrund und sind zunächst nicht selbstverständlich, wie in vielen Gesprächen angesprochen wird. Eine Überforderung ist auch der Anspruch, dass die Engagierten neben ihren bezahlten Tätigkeiten, sprich in ihrer Freizeit, die Probleme kreativer und innovativer lösen können als die öffentliche Hand, gibt Lang zu bedenken. Außerdem ergänzt sie: „Nur weil einem ein Problem am Herzen liegt, bedeutet dies nicht entsprechendes Fachwissen." Für eine gute Zusammenarbeit wird auch eine größere Flexibilität der Verwaltung gefordert, um auf die Bedürfnisse der Zivilgesellschaft einzugehen. So kann es beispielsweise zum bürokratischen Problem werden, wenn eine Gruppe Engagierter die Räumlichkeiten der öffentliche Schule nach Feierabend des Hausmeisters nutzen möchte. Beer fordert hier ein „Ende des Verwaltens" und einen Aufbau von Managementstrukturen, die bei der „organisatorischen Unterstützung bei der Umsetzung von existentem Bedarf' helfen. Auch Schlegel sieht eine gute Kooperation durch eine starke Bürokratie und unflexible Arbeitsweise gefährdet: „Ein Bürokrat hat was dagegen, wenn jemand zu Dir reinkommt und macht dir 'nen Vorschlag. Um Gottes Willen, das ist das schlimmste, was ihm passieren kann. Und er sagt ,Wo soll ich das denn hier hinschreiben, ich kann doch nicht und ich hab kein Blatt Papier mehr.'" Auch wenn diese Haltung das Verwaltungshandeln überspitzt, so zeigt sich hier dennoch, dass von Seiten der Zivilgesellschaft wenige Möglichkeiten gesehen werden, eigene Vorschläge und Kreativität in das Verwaltungshandeln einfließen zu lassen. Die Stärken einer Kooperation sind da erkennbar, wo man sich die ergänzenden Unterschiede vor Augen führt: Während die öffentliche Hand stark auf Standards und Richtlinien ausgelegt ist - Beer und Staubauch verweisen hier auf eine Orientierung an Daten und Indikatoren - hat die Zivilgesellschaft eher die Entwicklung der weichen Faktoren im Blick. „Ich glaube, die Zivilgesellschaft ist erst einmal ein Seismograph, der überhaupt merkt, wo sich in diesem sozialen Raum etwas tut", so Beer. Schließlich ist sie ja vor Ort und selbst betroffen. Das bestätigt auch Habermann, der meint: „Die Zivilgesellschaft ist Expertin vor Ort, wo sie tätig ist, wo sie wohnt. Sie weiß am besten, welche Bedarfe es dort gibt, was es für Handlungsdefizite und Handlungsmöglichkeiten dort gibt." Dabei sollte die Rolle der Verwaltung aber nicht in den Schatten gestellt werden. „Die Verwaltung ist hochgradig spezialisiert. Die geht dann Detailphänomenen nach, die auch sehr wichtig sind", erläutert Staubach. Und am Ende sind es die Mandatsträger der Politik, die Rechenschaft über die Entwicklungen abgeben müssen, nicht die zivilgesellschaftlichen Akteure. So ist es wichtig, dass lokale Projekte von oben abgesegnet werden, denn „wenn es den [Segen] nicht gibt, dann können die hier unten strampeln und machen, was sie wollen", meint Thies. Im Kontext der Kooperation stellt sich die Frage, wie diese unterschiedlichen Problemwahmehmungssphären in Einklang gebracht werden können.

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Für die gesamtstädtischen Planungen betont Slapa daher die Rolle des Planers als Moderator und Anleiter für die Zivilgesellschaft. Ihres Erachtens kann jeder - bei entsprechender Anleitung - an Stadtentwicklungsprozessen mitwirken. Es braucht aber eine Übersetzung, da der Bürger als Experte eine andere Sprache spricht als der Experte aus der Verwaltung. Und es braucht Zeit, die die Verwaltung der Bürgerschaft - so ihre Erfahrung - in Beteiligungsprozessen häufig nicht gibt. Halbherzig sind auch solche Projekte, bei denen das Quartiersmanagement wenig professionell durch den zweiten Arbeitsmarkt gesichert wird, wie Staubach berichtet. Eine stärkere Zusammenarbeit im Themenfeld der Stadtentwicklung - entweder von der öffentlichen Hand oder aber durch Projekte der Zivilgesellschaft initiiert - muss von allen Seiten gewollt und unterstützt werden. Krapp sieht dahingehend die Entwicklungen der letzten Jahre in einem positiven Licht: „Also, ich glaube, in der Landesregierung tut sich da jetzt einiges. Weil man einfach erkennt, dass man mit den normalen Themen Städtebau/Stadtentwicklung nicht so richtig weiterkommt. Das heißt, wir müssen uns einfach stärker mit anderen Zukunftsthemen verzahnen. [...] Interessanterweise sind ja bei dem Preis .Familienfreundliches Brandenburg' fast nur Projekte der Sozialen Stadt prämiert worden. Und das wird jetzt zunehmend erkannt, dass man mit Straßen, Wegen, Plätzen eine Menge erreichen kann, aber man kann nicht stolz sein auf den laufenden Meter Pflaster. [...] Was hat das jetzt eigentlich mit Partizipation zu tun? Das hat deswegen was damit zu tun, weil man ja mit den Menschen vor Ort, eigentlich auch mit den Gemeinden, stärker diese Themen bearbeiten und auch diskutieren muss."

7.3 Kommunikation - Grundvoraussetzung für gelungene Kooperation Eine angemessene Kommunikation ist ein wesentlicher Baustein zu einem Miteinander auf Augenhöhe: .Aber sie dürfen nicht in Kategorien denken. Sie müssen sich auf eine Ebene stellen, sie müssen versuchen, eine Sprache zu finden, in der sie auch konstruktiv kommunizieren können - und letztendlich: Sie müssen miteinander reden, reden, reden", so Slapa. Vielfach wird betont, dass es keiner großen Umstrukturierungen in Verwaltungsabläufen bedarf, um das Miteinander zu verbessern. Hummel bringt dies auf den Punkt, indem er sagt „es braucht keine neue Struktur, sondern eine neue Kultur". Staubach spricht von einem notwendigen Umdenken und einen Paradigmenwechsel in den Köpfen der Planer: „Denn das muss man von der Pike auf lernen. [...] Meist kommt ein Experte, der den Bewohnern zeigt, wo es lang geht. Das ist etwas, das sich sehr stark verändern muss, eine Einstellungsveränderung sozusagen. Man muss eine Sensibilität für die Zivilgesellschaft entwickeln, eine Kultursensibilität." Und Slapa verweist auf den für die Zivilgesellschaft notwendigen Lernprozess, sich nicht erst dann zu engagieren, wenn es Probleme gibt, sondern sich wirklich aktiv in die Entwicklung der eigenen Gemeinde einzubringen und sich in die Politik einzumischen. Dies setzt natürlich Interesse am Thema Stadt oder Stadtgesellschaft voraus und impliziert die Notwendigkeit, ein Bewusstsein für Stadtentwick-

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lung zu entwickeln. Grundsätzlich muss der Wille, die Bereitschaft sowie die Einsicht bestehen, dass Kommunikation eine Bereicherung darstellt. Dabei ist gute Kommunikation selbstverständlich abhängig von Situationen und persönlichen Sympathien. Auf Seiten der Verwaltung stellen Staubach und Slapa jedoch ein Defizit in Bezug auf aktives Zuhören fest: Die Verwaltung muss die Kommunikation mit den Bürgern zunächst einmal erlernen. Bisherige Formen wie die Bürgersprechstunden führen eher zu einem Rechtfertigungsmodus der Verwaltungsmitarbeiter. Pricibilla empfiehlt der öffentlichen Hand, zunehmend eine Steuerungs- und Initiierungsfunktion anzunehmen. Dies würde der Wahrnehmung entgegen wirken, dass die öffentliche Hand vielerorts eher reagiert als agiert. Da die Zivilgesellschaft, wie bereits erwähnt, ihre Rolle in der Stadtentwicklung häufig nicht bewusst und aktiv einnimmt, ist eine Bewusstseinsänderung Grundlage dafür, um mit der öffentlichen Hand bezüglich Themen der Stadtentwicklung überhaupt erst in Kommunikation treten zu können. Die Kommunikation mit der öffentlichen Hand ist für die institutionalisierte Zivilgesellschaft einfacher als für Individuen oder Gruppen, hinter denen keine Vereinsstruktur oder ähnliches steht. So verweist Beer auf die Hindernisse für nicht institutionalisierte Gruppen: „Wenn sie keinen Verein haben, sondern nur eine Gruppe sind, dann kommen sie überhaupt nicht durch. Dann wollen sie eine Turnhalle abends - wie geht das denn? Eine Veranstaltung an der Schule - wie geht das denn? Oder am Wochenende wollen sie das nutzen - wie geht das denn? Das ist doch in den meisten Fällen eine riesen Geschichte." Gerade hier muss es die Aufgabe der öffentlichen Hand sein, einen Interessensausgleich zwischen den artikulationsschwachen und -starken Gruppen herzustellen, unterstreicht Staubach. Hierzu müssen inaktive Gruppen gesondert abgeholt werden, betont Slapa. Slapa sieht ein großes Potenzial in der Kommunikation und der Zusammenarbeit sehr unterschiedlicher Gruppen. Durch Moderation kann hier in einer Weise vermittelt werden, dass eine Gegenüberstellung unterschiedlicher Interessen zu einem Leraeffekt führt. So hat Slapa bei der sogenannten „Punktmethode" schon beobachten können, dass die Teilnehmer ihre Punkte nicht immer dem eigenen Projektvorschlag geben: „Und die Leute zu beobachten, wo sie dann ihre Punkte kleben, [...] teilweise geben sie ihrem eigenen Vorschlag gar keinen Punkt [...]. Also das Verständnis füreinander ist ganz wichtig. Und wenn [die öffentliche Hand] diese unterschiedlichen Gruppen zusammenbringt, dann schaffe ich [als Moderatorin] es auch, die subjektive Betrachtungsweise zu reduzieren." Grundsätzlich braucht es Räume der Begegnung. Das Ziel muss es dabei gar nicht sein, alle in einen Dialog zu führen, sondern auch auf themenspezifische Zusammenhänge und individuelle Interessen zu achten. Bei allen Diskussionen und Dialogen ist es wichtig, Probleme und Lösungsansätze nicht zu zerreden, sondern zu Entscheidungen zu gelangen, da ansonsten das Interesse an einer Mitwirkung nachlassen wird. Aber wie entsteht ein Dialog mit- und untereinander? Hierzu nennt Reuter eine Reihe von Instrumenten. So helfen Partizipationsverfahren, die informellen und (noch) nicht vernetzten Strukturen zu aktivieren. Die institutionalisierte Zivilgesellschaft

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kann dabei - ebenso wie Schulen - als Multiplikator verstanden und genutzt werden. Wesentlich ist dabei fur Reuter, dass Kommunikationsebenen geschaffen werden, bei denen Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft gemeinsam an einem Tisch sitzen. Aus eigener Erfahrung weiß er, dass es an Runden Tischen, bei denen die Multiplikatoren mit der öffentlichen Hand zusammen kommen, oft sachlicher zugeht als im Stadtrat. Nicht zuletzt um für den Umgang und das Miteinander der unterschiedlichen Rollen zu sensibilisieren hat die LAG 21 e.V. Rollenspiele zu einzelnen Themen entwickelt, bei denen sich Schülerinnen und Schüler in die unterschiedlichen Interessen, aber auch Zwänge der einzelnen Akteure eindenken. Reuter sieht aber noch mehr Spielräume, um über gegebene Strukturen bürgerschaftliches Engagement zu erfassen. So ist seines Erachtens das Vereinsregister ein viel zu selten genutztes Instrument. Thies plädiert dafür, auch im Rahmen von Förderprogrammen die lokalen Akteure ernster zu nehmen und ihnen Kompetenzen zuzutrauen: „Im Gegensatz dazu ist man bei der Sozialen Stadt von außen hinein gekommen und traut dann einem Sozialarbeiter, der da schon lange mit den Jugendlichen arbeitet, gar nicht zu, mit dem Städtebauamt zusammen zu arbeiten. Der bekäme das gar nicht in einen Kontext. Und damit hat man das Kind oft mit dem Bade ausgekippt. Dabei gibt es ein System vor Ort, das es vor so einem Prozess schon gab und das auch nach dem Prozess weiter funktioniert", so seine Erfahrung. Auch Beer kennt Ansätze, bei denen die Zivilgesellschaft unabhängig von der öffentlichen Hand bereits einen in ihren Augen unbezahlbaren Beitrag zur Stadtentwicklung leistet. Als Beispiel nennt sie den Trainer eines Sportvereins, der Defizite in den schulischen Leistungen seiner Mannschaft sah und daraufhin begann, das Training mit einer Hausaufgabenhilfe zu kombinieren. Hier wirkt die Zivilgesellschaft durch ihre stärkere Einbindung in aktuelle Probleme. Es zeigt sich, dass sich beide Seiten die Erwartungen, die sie aneinander haben, vor Augen führen müssen, nicht zuletzt, um Missverständnisse zu verhindern. Nicht nachvollziehbar abgeschmetterte Vorschläge aus der Zivilgesellschaft führen ebenso zu Irritationen, wie falsche Vorstellungen darüber, wer wofür Verantwortung übernimmt. Außerhalb von Arbeitsgruppen und projektbezogener Kooperation kommen, wie bereits angesprochen, eher die kritischen als die gestalterischen Töne der Zivilgesellschaft im Rathaus an. Sowohl Slapa als auch Beer verweisen darauf, dass Menschen in der Regel mit der Erwartungshaltung, der Staat habe sich zu kümmern, also mit Beschwerden und Kritik an die öffentliche Hand herantreten, und vergleichsweise selten mit Ideen oder Kooperationsvorschlägen. Dies führt teilweise sicherlich zu Akzeptanzproblemen innerhalb der Verwaltung und dazu, dass die Verwaltung zuweilen mit Informationen und Diskussionsständen nur ungern an die Bürger herantritt. Bürger ziehen daraus jedoch möglicherweise den Schluss, dass sie nicht ernst genommen werden. Offen bleibt eine Einigung darüber, inwieweit Mitwirkungsstrukturen institutionalisiert sein sollten. Ist es der vor Ort institutionalisierte Arbeitskreis mit Vorspracherecht im Gemeinderat in Weyarn, von dem Magel und Glück berichten? Oder das von

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anderen geforderte Stadtteilbudget, der Bürgerhaushalt, ein Quartiertsmanagement in jedem Quartier? Nicht nur Heibig weiß aus Erfahrung, dass es darum geht einen Rahmen zu schaffen. Hierzu gehört es zunächst einmal, die Mitsprache- und Mitwirkungsmöglichkeiten vor Ort transparent zu machen. Als Beispiel nennt Beer die Fernsehsendung .jetzt red 'i!", bei der Politiker die Fragen der anwesenden Bürgerinnen und Bürger live beantworten müssen. Magel sieht die Entwicklung und das Ausdiskutieren eines gemeinsamen Leitbildes als entscheidende Grundlage für ein konstruktives Miteinander. Für die Zivilgesellschaft bedeutet dies, die Engagementbereitschaft sichtbarer zu machen und sich nicht nur auf Lobbyarbeit und eigene Interessen zu konzentrieren.

7.4 Ableitungen und Vertiefungsbedarfe Eine klärende Diskussion, wenn nicht gar Neujustierung der Zuständigkeiten und Aufgaben scheint angebracht. Zumindest aber ist es erforderlich, die jeweiligen Zuständigkeiten für Bürgerinnen und Bürger klarer zu formulieren bzw. zu artikulieren. Bei allem Konsens darüber, dass ermöglichende Strukturen zivilgesellschaftsnäher und -freundlicher sind, bleibt im Kontext der Stadtentwicklung zu untersuchen, ob diese auch ohne aktivierende Strukturen auskommen würde - oder im Gegenzug die aktivierenden Ansätze womöglich ein Lernfeld für Engagement darstellen. In einem abschließenden Kapitel werden nunmehr Reflexionen und zu vertiefende Fragestellungen festgehalten.

8.

Wertung und Perspektiven

Die vorangegangenen Ausführungen zeigen eine breite, jedoch nicht abschließende Aufbereitung der in den Interviews gewonnenen Eindrücke, Erfahrungen und Erkenntnisse. Das Projekt stand vor unterschiedlichen Herausforderungen, die eine umfassende Gegenüberstellung und Auswertung aller Aspekte erschweren. Genannt seien hier: •

die Fülle, Vielfalt und Vielschichtigkeit der verschiedenen, in den Interviews angesprochenen Themen,



damit einhergehend eine Vielzahl aufgeworfener Fragen,



die Berücksichtigung unterschiedlicher Disziplinen und räumlicher Arenen,



die z.T. von sehr unterschiedlichen persönlichen Erfahrungen geprägten Aussagen,



die unklaren Abgrenzungen zu dem, was unter Zivilgesellschaft aber auch



unter Stadtentwicklung zu verstehen ist sowie



die im Angesicht dieser Komplexität begrenzte Laufzeit des Projekts.

Dennoch soll hier versucht werden, erste übergreifende Aussagen festzuhalten und für künftige Forschungen weiterführende Fragen aufzuwerfen. Nach einer Gegen-

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Überstellung der räumlichen Arenen in den wesentlichen Punkten folgen Überlegungen zu den acht zu Beginn des Projekts formulierten Leitthemen, die Grundlage für den in den Interviews verwendeten Gesprächsleitfaden waren. 8.1 Räumliche Arenen

Die Art des raumrelevanten Engagements und die Organisationsstruktur der Zivilgesellschaft unterscheiden sich in den jeweiligen räumlichen Arenen. Dabei sind die direkte oder indirekte Betroffenheit und damit die Engagementbereitschaft nicht unbedingt sozialraumbezogen und finden auch außerhalb der viel betrachteten (geforderten) Nachbarschaften statt. Es ist jedoch festzuhalten, dass die Zivilgesellschaft tendenziell elitärer und institutionalisierter wird, je komplexer die räumliche Arena ist. Es gibt kaum einzelne Engagierte, die sich in den Hoheitsbereich der höheren Verwaltungsebenen begeben. Um in größeren Städten und Metropolregionen an Einfluss zu gewinnen, bedarf es einer Professionalisierung oder einer intensiven Anleitung durch Experten, da es auf diesen räumlichen Ebenen zunehmend um abstraktere Fragestellungen sowie einen erweiterten und anspruchsvolleren Akteurskreis (z.B. mit Global Playern aus der Wirtschaft) geht. Und es braucht Netzwerke und eine Ressourcenbündelung. Freilich gibt es auch in diesem größeren Maßstab organisierte zivilgesellschaftliche Akteure. Diese sind jedoch nicht immer den administrativen Grenzen entsprechend organisiert und daher an manchen Stellen nur bedingt als Ansprechpartner geeignet. Es ist nicht selbstverständlich, dass ihnen, wie in den Interviews beschrieben, ein Handlungs- oder gar Mitwirkungsrecht eingeräumt wird. In allen räumlichen Arenen wird als ein Ausweg aus diesem Dilemma immer wieder die Notwendigkeit betont, sich der Zivilgesellschaft ressortübergreifend zu öffnen sowie die Nähe von Entscheidungsbefugten zu suchen. Nicht zuletzt bestätigt sich in den Interviews die Annahme, dass insbesondere die strukturschwachen Räume, in denen die Komplexität der Probleme einer engen Zusammenarbeit aller Akteure bedarf, aufgrund der Lebenssituationen ihrer Bewohner an einem Mangel an zivilgesellschaftlichen Akteuren leiden. Die Professionalisierung der Akteure, die nötig ist, um an abstrakten Fragestellungen mitwirken zu können, lässt umgekehrt den Schluss zu, dass die Durchführung praktischer und lebensnaher, gleichwohl stadtentwicklungsrelevanter Projekte auch für kleinere, weniger institutionalisierte zivilgesellschaftliche Akteure ein Betätigungsfeld darstellt. Insbesondere das Quartier und der ländliche Raum sind geprägt von Nachbarschaftshilfe und Engagement, das weniger auf politischen Motiven als auf persönlicher Betroffenheit beruht. Die Einbindung der Zivilgesellschaft bzw. die Einbindung bestimmter zivilgesellschaftlicher Akteure bei Fragen der Raumentwicklung ist somit stark von den zu behandelnden Themen und Fragestellungen abhängig. Hier muss die Fülle der unter dem Begriff „Zivilgesellschaft" zusammengefassten Formen des Engagements differenziert betrachtet werden.

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Mittels dezentraler Anlaufstellen kann im Quartier leichter als in der Gesamtstadt ein Querschnitt der Bevölkerung erreicht werden. Dabei ist jedoch zu beachten, dass benachteiligte Quartiere eher einer Aktivierung bedürfen, z.B. in Form von Quartiersmanagement. Auffallend ist vor diesem Hintergrund, dass nirgends die Begriffe ,Einbeziehung von Bürgerinnen und Bürgern', ,Bürgerbeteiligung' und .Zivilgesellschaft' so synonym verwendet werden wie bei Ausführungen zur Quartiersebene. In der Betrachtung vernachlässigt werden zumeist Gesamtstädte oder besser gestellte Quartiere, in denen ermöglichende Strukturen eine bereits starke Zivilgesellschaft fördern. So findet beispielsweise parteipolitisches Engagement auf gesamtstädtischer Ebene statt; viele schreiben Engagement in den Parteien allein dem Staat bzw. der öffentlichen Hand zu. Zu unterscheiden ist entsprechend, ob es einer Aktivierung oder vielmehr einer Ermöglichung der Zivilgesellschaft bedarf: Je abstrakter die Themen und je weniger elitär die Zivilgesellschaft, desto mehr ist für eine konstruktive Mitwirkung in der Stadtentwicklung Aktivierung und Anleitung nötig. Dies gilt insbesondere für die Metropolregion und den strukturschwachen Raum. Viel selbstermächtigtes Engagement, das positiv zur Stadtentwicklung beiträgt - wie es sich in vielfältiger Form im Quartier und im ländlichen Raum findet - bedarf lediglich des Abbaus von Barrieren bzw. der Unterstützung im Kleinen, um es zu ermöglichen. Hier spielt die Nähe zur öffentlichen Hand eine große Rolle. Der ländliche Raum führt sehr lebendig vor Augen, wie direkte Kommunikationswege in die Verwaltung und Politik hinein zu Verantwortungsbewusstsein und Mitwirkungsbereitschaft führen, auch wenn diese Kommunikationswege von Dritten manchmal als Vetternwirtschaft kritisiert werden. Die Aktivitäten reichen - oft eher unbewusst - bis in die Daseinsvorsorge hinein. Der strukturschwache Raum ist hier - sicherlich nicht immer, aber häufig - ein Gegenbeispiel und zeigt, wie eine mangelhafte oder falsche Kommunikation einzelner Beteiligter zu unrealistischen Erwartungshaltungen und wenig kooperativen Akteuren führen: Während Verwaltungsmitarbeiter z.T. unter der undifferenzierten Anspruchshaltung der wenig gemeinwohlorientiert engagierten Bewohner leiden, wird - zumindest im strukturschwachen städtischen Raum - von Seiten der Zivilgesellschaft eine fehlende Kommunikation beklagt. Im strukturschwachen ländlichen Raum scheint eine fehlerhafte Kommunikation dazu zu fuhren, dass sich die Zivilgesellschaft als Lückenbüßer fühlt.

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8.2 Leitthemen Der Gesprächsleitfaden der Interviews basierte auf acht zu Beginn des Projekts formulierten Leitthemen, die im Folgenden besprochen werden. I.

Bewertung entwicklungsrelevanter Bedarfe und Probleme der Stadt-/Raumentwicklung aus Sicht des zivilgesellschaftlichen Handelns und des bürgerschaftlichen Engagements Nach sehr zurückhaltenden Äußerungen der Interviewpartner zu diesem Themenkomplex sind die Autorinnen zu dem Schluss gekommen, dass die Frage, inwieweit sich zivilgesellschaftliche Akteure mit den Inhalten und Fragen von Stadtentwicklung befassen, nicht unabhängig von der Frage zu diskutieren ist, inwieweit sich Zivilgesellschaft mit sich selbst, ihrer Handlungslogik, ihren Motiven für Engagement sowie ihren Zielen beschäftigt. Es ist davon auszugehen, dass wenige Bürgerinnen und Bürger oder kleinere zivilgesellschaftliche Organisationen bewusst den Entschluss fassen, sich zukünftig für Stadtentwicklung zu engagieren. Dies ist umso unwahrscheinlicher, da viele Menschen Stadtentwicklung mit hoheitlicher Stadtplanung gleichzusetzen scheinen. Ebenso wenig wird sich ein Bürger für ein Engagement entscheiden, um Teil der Zivilgesellschaft zu werden. Vielmehr handelt ein Bürger dann, wenn er meint, etwas zu einem von ihm subjektiv bzw. kollektiv wahrgenommenen Handlungsbedarf beitragen zu wollen. Diese Entscheidung wird befördert oder geprägt durch das jeweilige persönliche soziale und gesellschaftliche Umfeld, aber auch durch die Handlungsoptionen, die der Raum bietet. Die Mitwirkungsmöglichkeiten, die von der öffentlichen Hand signalisiert und angeboten werden, spielen dabei eine nicht unwesentliche Rolle. Vor dem Engagement erfolgt in der Regel keine bewusste Problemanalyse; Bedarfe im räumlichen Umfeld werden wohl wahrgenommen, aber nicht unbedingt der Stadtentwicklung zugeordnet - und sie werden nicht selbstverständlich reflektiert und gegenüber der öffentlichen Hand artikuliert. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass eine Reihe von Bürgerinnen und Bürgern ein gespaltenes Verhältnis zur öffentlichen Hand hat und ihr Wissen eher einem neutralen Dritten anvertrauen würde. Ein einzelner oder eine Gruppe engagierter Bürger stellt sich also kaum die Frage, ob er einen Beitrag zur Stadtentwicklung leistet. Im Alltag finden sie auch sonst wenig Anlässe für eine Auseinandersetzung mit der Stadtentwicklung und ihren Handlungsfeldern. Als Ausnahme zu nennen ist hier die eher politische (anwaltschaftliche) Komponente der Zivilgesellschaft, die in Form von Protesten oder Forderungen zur Geltung kommt. Die Einbettung des Engagements in ein größeres Bild, wie es an dieser Stelle diskutiert wird, scheint aber auch hier der überwiegenden Mehrheit der Engagierten kaum bewusst und stellt in der Regel auch keine Hauptmotivation für das Engagement dar. Dies ist insofern bedauerlich, als dass der in der Stadtentwicklung vielerorts verfolgte integrierte Ansatz es erlaubt und sogar wünscht, der Zivilgesellschaft eine weit größere Rolle zuzuschreiben, als dies in der hoheitlich belegten Planung durch die vorgeschriebene Beteiligung von Betroffenen möglich ist.

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Etwas anders mag dies bei größeren zivilgesellschaftlichen Institutionen aussehen, die oft mit der öffentlichen Hand kooperieren, wie Trägem der Wohlfahrtspflege, Lobby-Verbänden oder Gewerkschaften. Sie kennen Förderstrukturen und sind professionell genug, sich in die Denkmuster von Geldgebern einzuarbeiten und sich diesen anzupassen. Im weitesten Sinne nehmen sie dadurch auch in Kauf, sich instrumentalisieren zu lassen. Dadurch kann es bei den großen Verbänden zu einem eingeschränkten Blickfeld bzw. einer Entfremdung von der Basis kommen. Mehr als engagierte Bürgerinnen und Bürger reagieren sie unmittelbarer und bewusster auf Bedarfe und Probleme im Sinne der öffentlichen Hand und können dementsprechend an der Auflegung von Förderprogrammen maßgeblich beteiligt werden, sodass ihre Sicht auf die Probleme und Bedarfe mehr in die Förderstrukturen einfließen kann. Jedoch ist es auch für die Akteure in diesem Feld nicht immer einfach, sich einer Stadtentwicklungsrelevanz bewusst zu werden, da beispielsweise Bildung oder Gesundheitsförderung nicht grundsätzlich als Bestandteile der Stadtentwicklung kommuniziert werden. Akteure aus der Stadtentwicklung setzen hier womöglich zu viel voraus, indem sie erwarten, dass die Komplexität der Thematik ohne weiteres in den Köpfen verankert ist und stets das gleiche unter dem Begriff Stadtentwicklung subsummiert und verstanden wird. Ein institutionalisierter Teil der Zivilgesellschaft im Kontext der Stadtentwicklung oder mit einem expliziten Bewusstsein für diese scheint zunächst nicht gegeben. Verbände wie der deutsche Städtetag - in erster Linie finanziert durch die Mitgliedskommunen - sind kaum als zivilgesellschaftliche Akteure zu verstehen. Organisationen mit dem direkten Ziel der (Wohn)Umfeldverbesserung, wie etwa Bürgerstiftungen oder Stadtteilvereine, konzentrieren sich zumeist auf die Durchführung von Einzelprojekten und sind in ihren Aktivitäten nicht selbstverständlich mit strategischen Überlegungen von Verwaltungen oder zur Gesamtstadt vertraut. Und so sehr andere Träger die Stadtentwicklung tangieren - dies geschieht oftmals unbewusst, am Rande ihrer Projekte oder gar „aus Versehen". Zwar erkennen zivilgesellschaftliche Akteure Bedarfe und Probleme, eine mentale Verbindung zu den Gesamtzusammenhängen der Stadtentwicklung oder eine tatsächliche Bewertung, Reflexion und damit Einflussnahme findet jedoch nur vereinzelt statt. Eine Reihe von Fragen wurde im Laufe des Projekts aufgeworfen und konnte in den Interviews nicht beantwortet werden. Dazu gehören u.a. folgende Punkte: •

• •

Wie viele Freiräume, Kapazitäten und Möglichkeiten bleiben den Trägem und Verbänden der Wohlfahrtspflege oder anderen Vereinen überhaupt, unabhängig von öffentlicher Förderung stadtentwicklungsrelevante Fragestellungen anzugehen? Ist es möglich, ein (zivil-)gesellschaftliches Bewusstsein für Stadt- oder Raumentwicklung zu entwickeln oder scheitert dies an der Komplexität des Begriffs? Inwieweit ist der integrierte Ansatz tatsächlich geeignet, bei den betroffenen Akteuren ein Verantwortungsgefühl für den Raum zu entwickeln?

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Π.

Bewertung der Fähigkeit der öffentlichen Hand, Bedarfe und Probleme zu erkennen und angemessen als Gegenstand v o n Stadtentwickliuigspolitik zu adressieren und darauf zu reagieren Die Interviews haben bestätigt, dass die öffentliche Hand - Bund, Länder und Kommunen - bei der Ermittlung von Bedarfen und Problemen auf Instrumente wie Monitoring und Analysen setzt. Deren Indikatoren werden immer angreifbar bleiben. Durch den daraus resultierenden Gesamtblick auf den Raum und auf die im Raum vorhandenen Zusammenhänge hat die öffentliche Hand einen zumindest zur weniger professionalisierten und institutionalisierten Zivilgesellschaft konträren Zugang und erkennt andere Bedarfe und Probleme, als dies engagierte Bürgerinnen und Bürger tun, die in ihrem Alltag eher mit weichen Faktoren und unmittelbar mit Situationen im Raum konfrontiert sind. Dies unterstreicht die Bedeutung solcher zivilgesellschaftlichen Akteure in der Problemermittlung als wichtige Ergänzung zu dem strukturanalytischen Blick der öffentlichen Hand. Eine Reihe von Förderprogrammen verweist auf einen bewussten und gezielten Umgang mit öffentlich wahrgenommenen Problemen in der Stadtentwicklung. Dies erfolgt aber in der Regel in benachteiligten Stadtteilen. Ob diese erfolgreich sind, kann und soll an dieser Stelle nicht bewertet werden. Freilich werden der Sozialen Stadt, einem Programm, das auch auf die Einbindung zivilgesellschaftlicher Akteure setzt, stets auch kritische Töne entgegengebracht. Auch wenn in den Interviews vereinzelt mehr Geld und differenziertes und/oder mehr ressortübergreifendes Handeln eingefordert wurde, gab es grundsätzlich wenig Kritik. Die Autorinnen möchten an dieser Stelle zusätzlich positiv hervorheben, dass es das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung war, dass ein Programm mit sozialen Schwerpunkten auf den Weg gebracht und damit die Relevanz der sozialen Belange in der Stadtentwicklung hervorgehoben hat. Parallel sei hier auch auf eine Reihe von Forschungsschwerpunkten verwiesen, wie etwa im Rahmen der ExWoSt-Forschung und von Modellvorhaben, die sich unabhängig von sozial schwachen Strukturen problemrelevanter Themen annehmen. Die Nationale Stadtentwicklungspolitik weist u.a. mit ihrem Ziel, Stadt zum öffentlichen Thema zu machen, auf die Bereitschaft hin, sich neuen Aufgaben und Veränderungen zu stellen. Mit Blick auf die Zivilgesellschaft bleibt jedoch unklar, was genau man sich v o n einem öffentlichen Diskurs verspricht: Ein Bewusstsein dafür zu schaffen, was Stadtentwicklung ist und wo ihre Grenzen und Möglichkeiten liegen? Oder verbirgt sich dahinter doch (auch) die stille Hoffnung, über diesen Weg langfristig nicht mehr finanzierbare Aufgaben an andere Akteure abzugeben, insbesondere in den stark handlungseingeschränkten Kommunen? Auch die zweite Annahme muss kein Tabuthema sein, eine entsprechende Diskussion muss jedoch öffentlich und mit offenem Ausgang gefuhrt sowie auf die Handlungslogik der Zivilgesellschaft abgestimmt werden.

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Eine andere Frage ist, inwieweit der integrierte Ansatz der Nationalen Stadtentwicklungspolitik und der Förderprogramme überhaupt nachhaltig und über Förderungen hinaus bei den Kommunen ankommt. Wie ernst werden diese Ansätze genommen - und sind überhaupt alle Kommunen in der Lage, mit diesen politischen und strategischen Ansätzen bürgerfreundlich umzugehen? Wo und warum fuhrt eine vorgeschriebene Einbindung der Zivilgesellschaft z.T. zu halbherzigen Bürgerbeteiligungsmaßnahmen? Auch an dieser Stelle sind es wieder die leeren öffentlichen Kassen, die in vielen Kommunen zu enormen Sparzwängen und damit einhergehend zur Notwendigkeit einer enormen Ressourcenbündelung führen, um das Alltagsgeschäft bewältigen zu können. An dieser Stelle sei darauf verwiesen, dass weder die informelle Bürgerbeteiligung noch ein ressortübergreifendes Arbeiten der öffentlichen Hand zu den primären Aufgaben der Verwaltung gehören und für die Mitarbeiter zunächst einmal einen Mehraufwand bedeuten. Durch Förderprogramme ist den Kommunen ein Instrument an die Hand gegeben worden, um punktuell und strategisch zu reagieren. Durch die Bindung an vorgeschriebene Vorgehensweisen nicht zuletzt auch in Förderprogrammen sind Kommunen jedoch auch unflexibler in ihren Reaktionen als zivilgesellschaftliche Akteure (zumindest solange, wie diese nicht auch auf Fördermittel angewiesen sind). Die Vorstellung, dass jede Kommune für sich und ohne Anreize neue, experimentelle Wege gehen, bürgeroffene Prozesse durchlaufen und integrierte Handlungsansätze entwickeln kann, ist mehr als unwahrscheinlich. Daher scheinen die Strategien des Bundes ein richtungsweisendes Medium und eine Hilfe zu sein, auf Bedarfe und Probleme zu reagieren. Dass die Bedeutung der Zivilgesellschaft dabei hervorgehoben wird, ist positiv zu bewerten. Ihre Rolle muss angemessen und kritisch beleuchtet werden. Die Konzentration auf Förderprogramme führt dazu, dass vielerorts der Großteil des Stadtraums außen vor gelassen wird. Offen bleibt, welche Rolle besser gestellte Räume in einer Stadtentwicklungspolitik spielen können. Inwiefern können ihre Potenziale zur Problemlösung in der Stadtentwicklung beitragen? Inwiefern können die hiesigen, zu wenig analysierten Strukturen Vorbild für benachteiligte räumliche Arenen sowie Vorbild für eine nationale Strategie sein? Auch hier werden weiterführende Fragen aufgeworfen, u.a.: • • •

Reichen die Bemühungen der öffentlichen Hand aus, erkannte Probleme tatsächlich zu reduzieren? Welche Problemerfassung der Zivilgesellschaft spiegelt sich bislang in Förderprogrammen wider? Führen einzelne Förderprogramme zur Überforderung mancher Kommunen?

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Iü.

Bewertung der Fähigkeit bzw. der Angemessenheit zivilgesellschaftlichen Handelns und bürgerschaftlichen Engagements im Umgang mit Bedarfen und Problemen Wie unter dem ersten Leitthema dargestellt, fragen sich zivilgesellschaftliche Akteure gemeinhin nicht, ob und was sie in einem ganzheitlichen Kontext bezogen auf den Raum leisten können. Je nachdem, welche Bereiche der Stadtentwicklung zugeschrieben werden, ist die Zivilgesellschaft ein wichtiger Akteur, wenn auch nicht immer gefragt und erwünscht. Wirft man einen Blick auf die informelle Zivilgesellschaft, so ist sich zu vergegenwärtigen, dass es sich um engagierte, bezüglich des jeweiligen Aufgabenfeldes aber zum Teil um ungelernte bzw. unqualifizierte Akteure handeln kann. Sie mögen beispielsweise einen eigenen Expertenblick auf die Bildungseinrichtungen im Stadtteil haben - sie sind aber nicht zwingend Pädagogen. Dies schränkt die Fähigkeit zum Umgang mit Problemen ein, unterstreicht aber die Notwendigkeit einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit Experten, um angemessen mit Problemen und Bedarfen umzugehen. Dabei darf natürlich nicht unerwähnt bleiben, dass auch Experten fehlbar sind und zivilgesellschaftliche Akteure durchaus Fehlentwicklungen erkennen können. Wird der Zivilgesellschaft diese Fähigkeit zugesprochen, kann sie zu einem wichtigen Korrekteur öffentlichen Handelns werden. Ein weiterer Unterschied liegt darin, dass die öffentliche Hand einen ganzheitlichen Blick auf Stadt und Stadtentwicklung wirft, den ein einzelner Bürger oder ein zivilgesellschaftlicher Zusammenschluss in der Regel nicht hat. Auch vor diesem Hintergrund sind partnerschaftliche Strukturen sowie eine verstärkte Sensibilisierung für die Belange der Stadtentwicklung zu empfehlen. In den Förderkulissen finden sich gute Beispiele, bei denen Vereine, Wohlfahrtsverbände oder Kirchen zu einem wichtigen Partner der öffentlichen Hand geworden sind. Es gibt also Ansätze, in denen die Zivilgesellschaft bewiesen hat, dass sie produktiv mit lokalen Problemen umgehen kann. Ein flächendeckender oder systematisierbarer Ansatz zur Einbindung der formellen Zivilgesellschaft ist dies aber nicht. Weil eine Bestandsaufnahme oder auch nur Betrachtung dessen, was außerhalb von Förderkulissen geschieht, bislang vernachlässigt wurde, ist der Umgang mit Problemen und Bedarfen der Zivilgesellschaft in besser gestellten Räumen sehr hypothetisch. Ein besonderes Augenmerk ist hier auf die engagementfordernde Infrastruktur zu werfen. Beispielhaft zu nennen sind Freiwilligenagenturen, Bürgerstiftungen oder die Träger der freien Wohlfahrtspflege. Auch die Etablierung von Ansprechbarkeiten und hauptamtlichen (Dach-)Strukturen, wie Beispiele in den Interviews gezeigt haben, sind als wichtiger Baustein zu sehen. Denn während sich die öffentliche Hand auch im Umgang mit Engagement von externen Dritten beraten lässt, sind solche Strukturen oder Angebote für die Zivilgesellschaft selten gegeben. Gerade die kleinteiligen informellen Strukturen, die eine solche Beratung gebrauchen könnten, sind nicht ausreichend vernetzt und können sich externe Beratung nicht leisten. Eine Unterstützung und Qualifizierung der Zivilgesellschaft würde ihr Potenzial im Umgang mit Bedarfen und Problemen stärken.

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Daraus können folgende Fragen abgeleitet werden: • • •

Welchen Beitrag leistet die Zivilgesellschaft in den einzelnen Bereichen der Stadtentwicklung, insbesondere in den Gebieten außerhalb der Förderkulissen? Wie lässt sich die Expertensicht der Zivilgesellschaft besser fassen und nutzen? Welche Rolle kann oder sollte die öffentliche Hand bezüglich der engagementfördernden Infrastruktur spielen?

Bewertung der Bedeutung und der Problemlösungsfähigkeit von zivilgesellschaftlichem Handeln und bürgerschaftlichem Engagement bei Stadt- und raumentwicklungsrelevanten Fragestellungen Die Interviews zeigen, dass Zivilgesellschaft als problemlösende Instanz in der Stadtentwicklung keine feste Größe darstellt. Sie spielt dahingehend eine Rolle, als dass punktuell Lösungen gefunden und entsprechende Ansätze umgesetzt werden. Weil bürgerschaftliches Engagement aber freiwillig und selbstbestimmt und damit hochgradig personenabhängig ist, sind lösungsorientierte Projekte der Zivilgesellschaft in keiner Weise eine Garantie für Nachhaltigkeit. Es ist und bleibt das Recht eines jeden Engagierten, zu jedem Zeitpunkt seine freiwillige Tätigkeit niederzulegen. Von daher ist die Problemlösungsfähigkeit von zivilgesellschaftlichen Akteuren zwar gegeben, kann jedoch nicht als dauerhafter Ansatz verstanden bzw. erwartet werden. Die Zivilgesellschaft löst ferner nur jene Probleme, die sie selbst als solche erkennt. Auch dies entspricht ihrer Handlungslogik: Sie entsteht da, wo sie sich engagieren will - und nicht da, wo sie engagiert wird. Anzunehmen, dass ein von der öffentlichen Hand formuliertes Problem in jedem Fall auf die Mitwirkungsbereitschaft engagierter Menschen trifft, wäre naiv. Anders ist dies freilich im Rahmen des Subsidiaritätsprinzips und der freien Wohlfahrtspflege. Hier ist eine Instrumentalisierungsgefahr durch einseitig gedachte Förderstrategien bzw. deren halbherzige Umsetzung sowie bei öffentlichen Aufträgen an die freie Wohlfahrtspflege zu beachten.

IV.

Die Zivilgesellschaft als Problemloser zu handeln, wird auch von den Autorinnen äußerst kritisch bewertet. Insbesondere bei Stadtentwicklungsfragen besteht die Gefahr, dass dies geschieht. Es scheint, als würde zumeist nicht danach gefragt, was die Zivilgesellschaft bereits in einer Stadt oder einem Quartier leistet, um diese Aktivitäten zu würdigen und unterstützen. Vielmehr wird zunehmend danach gefragt, was die Zivilgesellschaft tun und welche Aufgaben sie übernehmen könnte. Dies kommt einer Instrumentalisierung der Zivilgesellschaft gleich und steht diametral ihrer Handlungslogik entgegen. Entsprechend ist die Frage zu stellen, welche Rolle und welchen Einfluss die Zivilgesellschaft unabhängig von den für die öffentliche Hand offensichtlichen Bedarfen und Problemen inne hat - und wie sich dies auf die Stadtentwicklung auswirkt. Hier besteht Bedarf an Bewusstseinsbildung und Forschung. Die Autorinnen plädieren dafür, Strukturen zu schaffen, die der Zivilgesellschaft helfen, sich bei der öffentlichen Hand Gehör zu verschaffen und damit in Fragen der Stadtentwicklung in erster Linie als Ansprechpartner in der Problemwahrnehmung

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und ggf. der Generierung von Lösungsansätzen zu fungieren und nicht primär der problemlösende Partner zu sein. Wie für erkannte Probleme Lösungen gefunden werden können, sollte weder die Zivilgesellschaft noch die öffentliche Hand allein entscheiden. Kooperative Lösungsansätze, die die Handlungslogik der Zivilgesellschaft positiv zu nutzen wissen, müssen verstärkt erprobt werden. Auf die Urheberschaft einzelner Ideen und Argumente kommt es dabei nicht an. Zu vertiefende Fragestellungen sind u.a.: • • •

Wie ist gegebenes Engagement umfassend zu erfassen und für Stadtentwicklung nutzbar zu machen - ohne es zu missbrauchen? Wie kann es gelingen, neutrale und beratende Instanzen für die Zivilgesellschaft zu etablieren? Wie kann die Funktion der Zivilgesellschaft als Früherkennungssystem sinnvoll und nachhaltig verankert werden?

V.

Bewertung der Fähigkeit bzw. der Angemessenheit zivilgesellschaftlichen Handelns und bürgerschaftlichen Engagements, effektivere bzw. innovativere/kreativere Ansätze als die der öffentlichen Hand in der Stadtentwicklung zu initiieren bzw. fordern Weil der öffentlichen Hand oftmals - und vielerorts wohl zu Recht - ein unflexibles, zu stark bürokratisches Denken unterstellt wird, liegt die Vermutung nahe, dass effektivere und innovativere Ergebnisse zustande kommen, wenn Projekte von der Zivilgesellschaft angegangen werden. Die Interviews bestätigen dies nicht in vollem Umfang. Richtig ist, dass zumindest die nicht sehr stark institutionalisierte Zivilgesellschaft schneller und flexibler auf neue Situationen und Probleme reagieren kann als die Verwaltungen, die an komplexe Verfahrenabläufe und restriktive Haushaltspläne gebunden sind. Dass diese Ideen jedoch innovativer und nachhaltiger sind, ist nicht gewährleistet. Vielmehr ist die Zivilgesellschaft so innovativ wie ihre Mitglieder - demnach nicht mehr oder weniger innovativ als Verwaltungsmitarbeiter - und so nachhaltig wie ihre Engagementbereitschaft. Sie ist in erster Linie den eigenen Interessen verpflichtet und muss ihre Ansätze nicht auf Nachhaltigkeit und Sozialverträglichkeit hin überprüfen oder rechtfertigen und in einen gesamträumlichen Kontext eingliedern. Dieser Fokus ist auch nicht ihre Aufgabe. Die Zivilgesellschaft handelt, wenn sie es will - die öffentliche Hand, weil sie es muss. Gleichwohl kann auch hier eine Partnerschaft mit der öffentlichen Hand hilfreich sein, um die Nachhaltigkeit zivilgesellschaftlicher Projekte zu verbessern und in einem größeren räumlichen Kontext zu verstehen. Die Kreativität der Zivilgesellschaft bedarf als solche keine gesetzlichen Rahmenbedingungen, in der Umsetzung ist sie in der Regel jedoch an Recht und Ordnung gebunden: Will eine Person eine rechtsfähige Stiftung gründen, unterliegt sie der Aufsicht der Stiftungsbehörde, will ein Verein ein Straßenfest organisieren, braucht er hierzu das Ordnungsamt, will eine Elterninitiative einen Spielplatz aufwerten, wird

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das Bau- oder Grünflächenamt mitreden. Selbst Demonstrationen müssen genehmigt werden. Hier kommt es auf den Abbau von innovationshemmenden Barrieren bei den öffentlichen Verwaltungen an. Entsprechend herrscht relative Einigkeit darüber, dass das Thema Engagement und Zivilgesellschaft ressortübergreifend in einer Stabstelle möglichst nah am Bürgermeister angesiedelt sein sollte. Wie bereits dargestellt, bringen unterschiedliche räumliche Kontexte unterschiedliche zivilgesellschaftliche Akteure und damit unterschiedliche effektive bzw. innovative Herangehensweisen hervor. Mit dieser Differenzierungsnotwendigkeit scheinen sich weder die Zivilgesellschaft noch die öffentlichen Akteure zu befassen. Um zu vertiefen, inwieweit die Zivilgesellschaft Innovation und Effektivität in der Stadtentwicklung fördern kann, bedarf es der Beantwortung weiterer Fragen, zum Beispiel: • • •

Gibt es inhaltliche Bereiche, in denen die Zivilgesellschaft dennoch effektiver und innovativer als die öffentliche Hand sein kann? Wie spiegeln sich Effektivität und Innovation auf den unterschiedlichen räumlichen Ebenen wider? Welche Rolle spielt die Ansprechbarkeit und Partnerschaft mit der öffentlichen Hand bei der Schaffung kreativer Freiräume?

VI.

Bewertung der Fähigkeit bzw. der Angemessenheit zivilgesellschaftlichen Handelns und bürgerschaftlichen Engagements, eine Ergänzung bzw. Alternative zum öffentlichen Handeln in der Stadtentwicklung zu leisten In der Diskussion um die Rolle der Zivilgesellschaft in der Stadtentwicklung kann es nicht darum gehen, Aufgaben abzuwälzen. Die Zivilgesellschaft kann jedoch eine Ergänzung und Alternative zum öffentlichen Handeln sein. Dabei muss es Aufgabe demokratisch legitimierter Mandatsträger bleiben, einen Gesamtüberblick zu haben und wo notwendig steuernd tätig zu werden, insbesondere dann, wenn alle Bürgerinnen und Bürger vom Handeln oder den Ergebnissen der Planung durch einzelne Gruppen betroffen sind. Wird die Zivilgesellschaft wie in den hier beschriebenen Überlegungen eher deskriptiv als normativ betrachtet, müssen auch Akteure und Zusammenschlüsse, die nicht für das Allgemeinwohl, sondern für ihre Partikularinteressen kämpfen, die unter Umständen demokratischen Grundwerten sogar entgegenstehen, der Zivilgesellschaft zugeordnet werden. Umso wichtiger ist es, dass der Staat zwischen den gesellschaftlichen Gruppierungen einen Ausgleich schafft und damit den Rahmen für ein gesellschaftliches Miteinander absteckt. Dies schließt jedoch nicht aus, Spielräume oder Kontexte zu zulassen, in denen sich die Kreativität und die Ideen der Zivilgesellschaft besser entfalten und somit öffentliches Handeln ergänzen oder ersetzen können. Als Input- und Ideengeber finden sie schließlich wenige Anlaufstellen bei der öffentlichen Hand. Wenn es solche gibt oder Spielräume entwickelt werden, läuft die öffentliche Hand natürlich erneut Gefahr, steuernd einzugreifen und der Handlungslogik bürgerschaftlichen Engagements zu widersprechen. Auch hier liegt die Lösung in der gemeinsamen Gestaltung sol-

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eher Spielräume. Der Dialog, der Austausch, das Gemeinsame sind Grundlage für ein konstruktives, angemessenes Miteinander auf Augenhöhe. Ergänzende Beiträge oder Leistungen der Zivilgesellschaft in der Stadtentwicklung sind also möglich, solange sie nicht verordnet oder zugewiesen werden. Dies gilt insbesondere für den Bereich der Daseinsvorsorge, in dem die Zivilgesellschaft an vielen Stellen ihren Beitrag zur Stadtentwicklung leistet, indem sie zuvor öffentliche (in der Regel nicht-pflichtige) Aufgaben übernimmt. Dabei betonen die Interviewpartner, dass solche Aufgaben nicht übernommen werden, um Probleme der öffentlichen Hand anzugehen und Daseinsvorsorge zu betreiben - wie dies womöglich von der öffentlichen Hand wahrgenommen oder vereinzelt erhofft wird. Vielmehr steht das jeweilige Projekt, die Idee oder die Gemeinschaft, die dieses Projekt betrifft, im Vordergrund. Ob die Zivilgesellschaft hier ungewollt eine Ergänzung oder gar Alternative zu öffentlichem Handeln darstellt oder ob es sogar ihre Pflicht ist, einen in die Krise geratenen Wohlfahrtsstaat im Sinne des Subsidiaritätsprinzips zu ersetzen, ist umstritten und muss mit allen unterschiedlichen Staatsauffassungen diskutiert werden. In diesem Themenkomplex werden u.a. folgende Grundsatzfragen aufgeworfen: • • •

Welche Bedeutung hat das vieldiskutierte Thema der Legitimität der Zivilgesellschaft für die Rolle der Zivilgesellschaft in der Stadtentwicklung? Behindern unterschiedliche Staatsauffassungen ein konstruktives Miteinander von Zivilgesellschaft und öffentlicher Hand? Wie neutral kann ein Miteinander auf Augenhöhe zwischen Zivilgesellschaft und öffentlicher Hand überhaupt sein?

Vn. Bewertung der Fähigkeit bzw. der Angemessenheit öffentlich-rechtlicher Institutionen im Umgang mit zivilgesellschaftlichem Handeln und bürgerschaftlichem Engagement in Bezug auf stadtentwicklungspolitisch relevante Bedarfe und Probleme Ob die öffentliche Hand in der Stadtentwicklung angemessen mit zivilgesellschaftlichem Handeln umgeht, kann nicht pauschal beantwortet werden. Die Auswertung der Interviews liefert ein differenziertes Bild. Neben sehr positiven Kooperationen geht der Umgang mit zivilgesellschaftlichen Akteuren zum Teil auch am Ziel vorbei. So ist ein Wettbewerb, im dem raumrelevantes Engagement prämiert wird, sicherlich gut gemeint. Er verfehlt jedoch sein Ziel, die Zivilgesellschaft anzusprechen, wenn die Wettbewerbsanforderungen aus professioneller Perspektive gedacht sind und Engagierte überfordern. Das Gleiche gilt für die Beantragung von Fördergeldem, bei der insbesondere unprofessionelle zivilgesellschaftliche Akteure der Hilfestellung bedürfen. Im Umkehrschluss kam in den Interviews immer wieder zum Tragen, dass es vielen Planerinnen und Planem sowie Vertretern der öffentlichen Hand schwer fiel, Zivilgesellschaft losgelöst von Bürgerbeteiligung zu diskutieren.

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Ein Verständnis für die Belange der Stadtentwicklung darf nicht vorausgesetzt werden. Vielmehr müssen Themen moderiert vermittelt werden. Der Blick für kleine Feinheiten im Umgang mit der Zivilgesellschaft muss geschärft werden; die öffentliche Hand muss sich verstärkt auf eine ihr entgegengesetzte Handlungslogik einlassen. Hier können Schulungen von Verwaltungsmitarbeitern zum Umgang mit der Zivilgesellschaft - unter Umständen durch externe Berater und Vermittler - womöglich mehr bewirken als Strukturveränderungen und großangelegte Verwaltungsreformen. Solche Schulungen können weiter greifen: Neben einem Bewusstsein für die Anliegen, Möglichkeiten und Grenzen der Zivilgesellschaft mag es angebracht sein, nach dem Bewusstsein der Verwaltungsmitarbeiter für ihre Stadt zu fragen. Wie bewusst oder wichtig ist einem Sachbearbeiter im Bereich Liegenschaften, der das lokale „Haus der Vereine" verwaltet, welchen Beitrag diese Vereine für die Stadt und die Stadtentwicklung leisten? Weiß die Frau vom Ordnungsamt, was es mit dem integrierten Ansatz auf sich hat? Oder wie geht der Mitarbeiter im Jugendamt mit dem komplexen Thema Stadtumbau und all seinen technischen und psychologischen Konsequenzen um? Wie stark identifiziert sich der einzelne Mitarbeiter in der Verwaltung überhaupt mit seinem Arbeitsplatz - und seiner Stadt? Hier zeichnet sich ein Themen-, womöglich auch ein Problemfeld ab, das bislang wenig beachtet wurde. Lernen und geschult werden müssen aber ebenso die Bürgerinnen und Bürger - auch dies klang in den Interviews mehrfach durch. Immer wieder wird die Schule als Lernort für Engagement thematisiert in dem Sinne, dass hier eine entsprechende Sensibilisierung für das Thema stattfinden kann. Die Autorinnen vertreten die Überzeugung, dass dies zwar die Gefahr birgt, Schulen und ihre Curricula zu überfrachten. Still vorauszusetzen, dass sich junge Menschen für ihr Umfeld engagieren, kommt aber einer Überschätzung und Überforderung gleich. Tatsächlich wäre es unangebracht, ein solches Aufgabenfeld allein Lehrern und anderen Pädagogen zu überlassen. Denkbar ist, dass Stadtentwickler und Pädagogen gemeinsam Module oder Bausteine entwikkeln und eventuell auch durchführen, die für einen variablen Einsatz (in AGs am Nachmittag, einer Projektwoche etc.) zur Verfügung stehen. Schule ist als Institution schon allein deshalb wichtig, weil sie Multiplikator ist. Über die Schule bekommen auch die Eltern andere Einblicke und können in einen Dialog treten. Es sind, wie bereits angedeutet, auch die strukturellen Barrieren in den Verwaltungen, die ein stadtentwicklungsrelevantes Engagement behindern können. Vertreter der öffentlichen Hand müssen realisieren, dass eine Unterstützung der Zivilgesellschaft meist weniger finanzieller als vielmehr ideeller und (infra-)struktureller Art ist, auch wenn monetäre Aspekte wie Quartiersfonds oder Stadtteilbudgets immer wieder angesprochen werden. Es geht in erster Linie um Organisationsentwicklung, nicht um Projektförderung. Denkbar wäre eine öffentlich geförderte Finanzierung der Qualifizierung zivilgesellschaftlicher Akteure ζ. B. in der Beantragung von Fördermitteln oder zur Arbeitsweise der öffentlichen Hand, oder aber die Bereitstellung von Räumlichkeiten, die neben einer monetären Erleichterung auch einer Anerkennung gleichkommt.

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Einer Sensibilisierung bedarf es umgekehrt auch, wenn seitens der Zivilgesellschaft Geld eingefordert wird. Vielfach müssen Verwaltungsmitarbeiter die Erfahrung machen, dass eine hohe Erwartungshaltung an die vermeintlich reiche öffentliche Hand herangetragen wird. Die oft sehr defizitären Haushalte mit stark kontrollierenden Auflagen sind von der Bürgerschaft nicht in ihrer gesamten Konsequenz spürbar oder nachvollziehbar. Dass weder die Zivilgesellschaft noch die öffentliche Hand Gelder zu viel hat, sollte zusehends als Chance verstanden werden. Denn ein Miteinander ist ressourcen- und geldsparender als ein Gegeneinander. Bei der Frage nach dem Umgang der öffentlichen Hand mit der Zivilgesellschaft sollten die örtlichen Gegebenheiten nicht außer Acht gelassen werden. Unabhängig davon sind folgende Fragen vertiefend zu untersuchen: • • •

Wo stößt der moderierende Planer bei der Komplexität und geforderten Neutralität an seine Grenzen? Inwieweit unterscheidet sich der Gesamtüberblick und die Identifikation mit der Stadt bei Verwaltungsmitarbeitern und zivilgesellschaftlichen Akteuren? Wie können Schulungen für Mitarbeiter der öffentlichen Hand bzw. für Akteure der Zivilgesellschaft aussehen?

Vni. Bewertung der .politischen' Dimension zivilgesellschaftlichen Handelns und bürgerschafitlichen Engagements - und somit z.B. von Bestrebungen, diese in öffentliche Politikansätze der Stadtentwicklung zu integrieren Grenzen der politischen Einflussnahme liegen dort, wo Entscheidungen getroffen werden müssen, für die am Ende auch jemand gerade stehen muss. In letzter Instanz bleibt die Entscheidung dann bei der Politik, wenn der Vollzug alle Bürger bindet oder öffentliche Mittel herangezogen werden. Die demokratische Legitimation der Politik wird durch geringe Wahlbeteiligungen oder durch das nicht vorhandene Wahlrecht für nicht-deutsche Mitbürger zusehends hinterfragt. Die politische Dimension der Zivilgesellschaft wird von der Politik zu wenig wahrgenommen und akzeptiert. Während der Bund am ehesten Erfahrungen mit Dachverbänden im Lobbyismus-Bereich, mit Themenanwälten oder der freien Wohlfahrtspflege macht, sind es auf kommunaler Ebene die Erfahrungen aus Beteiligungsverfahren, vereinzelt auch aus Bürgerinitiativen. Die Legitimation der Zivilgesellschaft ist ebenfalls Gegenstand sehr grundsätzlicher Debatten. Trotz ihrer Vermittlerfunktion, ihres Ideenreichtums bei Projekten, ihrer Rolle als lokale Expertin, ihrer visionären Kompetenz und ihrer vermeintlichen Neutralität - sie ist nicht demokratisch legitimiert. Gleichwohl kann sie einen Beitrag zur kollektiven Willensbildung leisten. Der politischen Dimension der Zivilgesellschaft, durch Kontroversen und eigene Aktionen zu neuen Einblicken und Entscheidungen zu gelangen, ist daher Aufmerksamkeit zu widmen. Entsprechend ist nicht allein die Art der Entscheidungsfindung und Kooperation zu diskutieren, sondern auch, welcher Anlass oder Anstoß den Prozess in Gang gesetzt hat.

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Hier ist zum einen danach zu differenzieren, auf welcher räumlichen Ebene agiert wird, zum anderen danach, ob man sich innerhalb oder außerhalb von Förderprogrammen befindet. Empowerment als ein Ziel der Sozialen Stadt hat eine politische Dimension, gelingt jedoch häufig nicht. Es stellt sich die Frage, ob es nicht gelingt, weil diesem Aspekt im Förderprogramm nicht angemessen Rechnung getragen wurde, ob das Programm vor Ort nicht entsprechend umgesetzt wurde, ob der Zeitpunkt falsch war oder ob nicht die richtigen Akteure beteiligt waren. Antworten wären an dieser Stelle aus heutiger Sicht eher spekulativ. Auch eine Antwort auf die Frage, inwieweit eine politische Dimension der Zivilgesellschaft überhaupt in die Stadtentwicklungspolitik integriert werden kann, lässt sich auf Grund der Interviews kaum beantworten. Die Autorinnen gehen davon aus, dass das Aufgreifen des Themas Zivilgesellschaft in der Nationalen Stadtentwicklungspolitik als Versuch gedacht ist, eine politische Dimension zuzulassen. Unklar bleibt aber, wie diese politische Dimension und Rolle begriffen wird bzw. wo ihre Grenzen liegen. Ebenso unklar bleibt, was unter Zivilgesellschaft verstanden und gefasst wird. Diese Herangehensweise schmälert den Blick auf die Kompetenzen, Interessen, auf die Integrationskraft und Möglichkeiten der Zivilgesellschaft. Es bleibt ein bitterer Nachgeschmack aufgrund tendenzieller Steuerungsbemühungen und der Gefahr der Instrumentalisierung. Problematisch ist an dieser Stelle womöglich der föderale Aufbau der staatlichen Strukturen in Deutschland: Inwieweit lassen sich Strategien auf Bundes-, Landesund Kommunalebene gleichermaßen verankern? Und durch wen? Eine bundesweite Strategie kann ein besseres Miteinander und ein Zulassen von Mitsprache nicht verordnen. Dies scheitert nicht allein an ihrer Zuständigkeit, sondern auch an ihrer Akzeptanz. Entsprechend bleiben viele Ausführungen auf Bundesebene sehr allgemein, um auf nachgeordneten Ebenen nicht angreifbar zu werden. Im Kontext der Zivilgesellschaft führt dies dazu, dass ein Umgang mit ihr zwar gewollt ist, dies aber auf Grund der unklaren Begriffsauffassungen womöglich eher zu Verwirrungen, denn zur Klärung beiträgt. Die politische Dimension der Zivilgesellschaft wird von der Politik zu wenig wahrgenommen und akzeptiert. Es stellt sich die Frage, ob und wie die politische Dimension erneut an Bedeutung gewinnen und sich in Politikansätzen der Stadtentwicklung wiederfinden kann. Insbesondere bei der politischen Dimension bleiben viele grundsätzliche Fragen offen. Zu vertiefende Fragestellungen sind u.a.: •

Führt ein besseres und umfassenderes Verständnis von Zivilgesellschaft auch zu einer optimierten und ehrlichen Verankerung in einer Stadtentwicklungspolitik?



Führt eine bessere Definition der Möglichkeiten und Grenzen von Mitwirkung und Mitsprache zu mehr Mitwirkung und Mitgestaltung oder grenzt dies Kreativität und Bereitschaft eher ein? Welche Rolle spielt der Föderalismus bei der Verstärkung einer politischen Dimension der Zivilgesellschaft?



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Literatur Blatter, Joachim/Knieling, Jörg (2009): Metropolitan Governance - Institutionelle Strategien, Dilemmas und Variationsmöglichkeiten für die Steuerung von Metropolregionen. In: Knieling, Jörg (Hrsg.): Metropolregionen. Innovation, Wettbewerb, Handlungsfähigkeit. Hannover. S. 224-269. Becker, Elke (2009): Zivilgesellschaft in der Stadt- und Raumentwicklung. Opusculum Nr. 40. Maecenata Institut, Berlin. BMFSFJ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend) (2005): Freiwilliges Engagement in Deutschland 1999-2004. Vorgelegt von INS Infratest Sozialforschung, München. BMVBS (Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung) (2007) (Hrsg.): Metropolregionen - Chancen der Raumentwicklung durch Polyzentralität und regionale Kooperation. Voraussetzungen für erfolgreiche Kooperation in den großen Wirtschaftsräumen der neuen Länder am Beispiel der Metropolregion Sachsendreieck. Werkstatt: Praxis H. 54. Bonn. Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements" (2004): Bürgerschaftliches Engagement: auf dem Weg in eine zukunftsfähige Bürgergesellschaft. Schriftenreihe: Bd. 4. Opladen: Leske u. Büdlich. Klages, Helmut/Gensicke, Thomas (1999): Wertewandel und bürgerschaftliches Engagement an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Speyerer Forschungsberichte 193. Speyer. Ludwig, Jürgen/Mandel, Klaus/Schwieger, Christopher/Terizakis, Georgios (Hrsg.) (2008): Metropolregionen in Deutschland: 11 Beispiele für Regional Governance. Baden-Baden: Nomos. Prognos AG (2009): Engagementatlas 2009. Daten. Hintergründe. Volkswirtschaftlicher Nutzen (erstellt im Auftrag von AMB Generali Holding AG). Reimer, Sabine (2006): Die Stärke der Zivilgesellschaft in Deutschland. Berlin: Maecenata Verlag.

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V. Handlungskontexte

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Zivilgesellschaft, Kulturpolitik und Stadtentwicklung von Bernd Wagner

1.

Eine notwendige, nicht nur begriffliche Vorbemerkung

Über den Zusammenhang von Zivilgesellschaft und Kultur zu schreiben erfordert, sich über die beiden Begriffe und ihre Bedeutung klar zu sein. Der seit den 1990er Jahren in der allgemeinen gesellschaftspolitischen und sozialwissenschaftlichen Diskussion verbreitete Begriff „Zivilgesellschaft" - wahlweise auch „Bürgergesellschaft" - ist unklar und vage. Er sagt sich leicht daher, aber was damit gemeint ist oder ausgedrückt werden soll, ist oft sehr unterschiedlich. Schon auf der grundsätzlichen Ebene ist oft unklar, ob er in einem deskriptiv-analytischen oder, darüber hinausgehend, in einem normativen Verständnis gebraucht wird.1 Als deskriptiv-analytischer Begriff bezeichnet „Gesellschaft" auf der allgemeinsten Ebene - und hier macht es keinen Unterschied, ob von „Zivilgesellschaft", „Bürgergesellschaft" oder auch nur allgemein von „Gesellschaft" die Rede ist - alles, was nicht „Staat" ist. Dem liegt der „alte" Dualismus von Staat und Gesellschaft zugrunde, der sich mit der Entstehung der neuzeitlichen europäischen Gesellschaft seit dem 16. Jahrhundert zur Erfassung der veränderten politisch-sozialen Wirklichkeit herausgebildet hatte und in Deutschland durch Friedrich Hegel seine erste, umfassende theoretische Ausprägung erhielt. An Stelle der „alten, in sich homogenen, herrschaftlichpolitisch durchformten und ständisch geschichteten societas civilis" trat einerseits die neuartige Herrschaftsorganisation „Staat" und andererseits „als Kehrseite dieses Vorgangs, die .Gesellschaft' (societas civilis extra imperium) der aller eigenen Herrschafitsfunktionen entkleideten ... .Untertanen'." (Böckenförde 1989: 228) Die über Jahrhunderte zur Analyse der politischen und sozialen Wirklichkeit gebräuchliche - und diese erfassende - polare Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft mit einer zunehmenden „Verstaatung der Gesellschaft" entsprach ab dem 19. Jahrhundert allmählich immer weniger der Realität. Der Übergang zu einer demokratischen Staatsform mit Parteien, Gewaltenteilung und organisierten Interessengruppen im politischen Raum sowie die Ausdehnung der Vereine, Verbände und Assoziationen, die über den gesellschaftlichen Raum hinaus auch in den politischen hinein wirkten, führten zu einer stärkeren gegenseitigen Durchdringung von „Staat" und „Gesellschaft" mit einer schrittweisen „Vergesellschaftung des Staates" als Kehrseite der „Verstaatung der Gesellschaft" bildet.

1

Siehe hierzu auch die Unterscheidung von Frank Adloff in diesem Band zwischen einem bereichs- und einem interaktionsbezogenen Verständnis von Zivilgesellschaft.

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Bernd Wagner

Der ursprüngliche Gegensatz sowie die schrittweise Verzahnung von Staat und Gesellschaft schlugen sich auch in den theoretisch-philosophischen Konzepten zur „Zivilgesellschaft" nieder, die Bezugspunkte für die heutigen Diskussionen über deren Gehalt und Funktionen sind und in der Regel auch eine normative Dimension haben. Dabei spricht Charles Taylor bildlich von einem „Locke-" und einen „MontesquieuStrang" (1993: 131-146). John Locke (1632-1704) meint mit „civil society", entsprechend der neuzeitlichen Entzweiung von Staat und Gesellschaft, die unabhängige gesellschaftliche Sphäre als Entfaltungsraum des Individuums und als Gegenüber zum Staat. Dieser un- oder vorpolitische Raum ist bezogen auf den Staat durch seine negative Freiheitsfunktion, den Schutz vor staatlichen Ein- und Übergriffen, bestimmt. Von hier aus zieht sich eine Traditionslinie bis zu den gegenwärtigen Positionen der prioritären Verteidigung der Freiheit des Individuums und des Marktes gegenüber staatlicher Bevormundung. Bei Montesquieu (1689-1755) wird ein halbes Jahrhundert später der Schutzraum „civil society" zu einem Vermittlungsraum. Die schroffe Gegenüberstellung wird aufgehoben. In das System der staatlichen Gewaltenteilung werden nun auch gesellschaftliche Netzwerke von Institutionen und Organisationen, die „corps intermediaries" als Kennzeichen der „civil society" eingebunden, die sowohl Teil der politischen als auch der gesellschaftlichen Strukturen sind und als Verbindungsglieder zwischen diesen fungieren. Hier knüpft Alexis de Tocqueville (1805-1859) an, für den die zivilen Assoziationen, Vereinigungen und Organisationsstrukturen, wie er sie in den Vereinigten Staaten von Amerika vorfand, Orte der lokalen Selbstregierung und Selbstorganisation sind - und als solche Teil demokratischer Politik. Auch von Montesquieu und Tocqueville zieht sich ein Strang hin zur aktuellen Diskussion über Zivil- und Bürgergesellschaft, beispielsweise zu den Ansätzen der Kommunitaristen. In der politischen Theorie in Deutschland im 19. Jahrhundert blieb trotz des sich hier rasch ausbreitenden Vereins- und Verbändewesens - dem „eigentlich positiv, gestaltendem Prinzip der neuen Epoche", wie Otto von Gierke 1868 schrieb (zit. n. Hoffmann 2003: 61) - die Dichotomie von „Staat" und „Gesellschaft" weiterhin das beherrschende Theorem zur Erklärung der politisch-sozialen Wirklichkeit. Erst im Laufe des 20. Jahrhunderts änderte sich dies in den staats- und gesellschaftstheoretischen Diskussionen sowohl unter dem Einfluss der angloamerikanischen und westeuropäischen Diskussionen als auch der realen politisch-sozialen Veränderungen. Das Begriffspaar „Staat" und „Gesellschaft" - letztere jetzt häufig als „Zivil-" und „Bürgergesellschaft" bezeichnet - trat seit den 1980er und 1990er Jahren verstärkt auf. Die gesellschaftstheoretischen Bezüge, die normative Dimension von „Zivilgesellschaft" sowie der damit bezeichnete Gegenstand sind hierbei verschieden. Im Zusammenhang mit den neuen sozialen Bewegungen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts bezog man sich beispielsweise verstärkt auf Antonio Gramscis' (1891 - 1937) Konzept der „societä civile". In seinem Verständnis ist „Zivilgesellschaft" sowohl eine Kategorie bürgerlicher Herrschaft, die sich nicht nur durch staatliche „Zwangsapparate" (Justiz, Polizei etc.) und seine „ideologischen Apparate" (Erziehungswesen, Kulturin-

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stitutionen) realisiert, sondern gerade auch durch ein Netz privater Organisationen und Vereine. Diese intermediär zwischen Staat, Gesellschaft und Ökonomie stehende Zivilgesellschaft ist aber gleichzeitig das Feld für die Entfaltung von Gegenmacht und für Auseinandersetzungen um kulturelle und damit um politische Hegemonie. „Zivilgesellschaft" als Bezugspunkt und Handlungsorientierung politischer Praxis wurde in den vergangenen Jahrzehnten eng mit dem Kampf gegen die totalitären Staatsapparate in Ost- und Mitteleuropa verknüpft, wo sie als Gegenbegriff zu den Staats- und Parteidiktaturen diente, so wie „civil society" für das entstehende Bürgertum im 17. und 18. Jahrhundert ein Kampfbegriff gegen den absolutistischen Staat war. Eine weitere einflussreiche Ausformung im gegenwärtigen Verständnis von „Zivilgesellschaft" ist die jüngere Kritische Theorie, vor allem Jürgen Habermas' Theorie des kommunikativen Handelns. Für ihn stellt „Öffentlichkeit" gemeinsam mit „Zivilgesellschaft" die Scharnierstelle zwischen der Sphäre der Politik und der Sphäre der Lebenswelt dar, wobei Zivilgesellschaft „sich aus jenen mehr oder weniger spontan entstandenen Vereinigungen, Organisationen und Bewegungen zusammen(setzt), welche die Resonanz, die die gesellschaftlichen Problemlagen in den privaten Lebensbereichen finden, aufnehmen, kondensieren und laut verstärkend in die politische Öffentlichkeit weiterleiten." (Habermas 1994: 443) Sich zum Teil auf diese und andere theoretisch-philosophische Konzepte beziehend, zum Teil auch eigene politische Konzeptionen ausarbeitend, wird das gegenwärtige Verständnis von „Zivil-" und „Bürgergesellschaft" in Deutschland ebenso stark von parteipolitischen Positionen mitbestimmt, die selbst wiederum sehr unterschiedlichen Denktraditionen verpflichtet sind, wie dem christlichen Subsidiaritätsprinzip, den Solidaritäts- und Gerechtigkeitsvorstellungen der Arbeiterbewegung, dem Wirtschaftsliberalismus oder der Selbsthilfebewegung. In Konzepten wie dem „aktivierenden Staat", dem „Umbau des Wohlfahrtsstaates zur Wohlfahrtsgesellschaft, einer zu fördernden Bürgergesellschaft mit starken intermediären Organisationen, einem neu auszutarierenden Wohlfahrtsmix oder dem wirtschaftsliberalen Marktmodell sind diese Positionen in den letzten eineinhalb Jahrzehnten besonders im Zusammenhang mit den Diskussionen über die Zukunft des Sozialstaates in Deutschland weiterentwickelt worden. Diese und weitere politische und theoretisch-philosophische Konzepte ziviler Gesellschaft gehen in das gegenwärtige Verständnis von und die Diskussionen der „Zivil- und Bürgergesellschaft" ein. Als politische, gesellschaftstheoretische und philosophische Konzeptionen haben sie einen normativen Charakter, und sie beschreiben gleichzeitig einen Teilbereich unseres politisch-sozialen Lebenszusammenhanges. Während die normativen Vorstellungen des Verständnisses von Zivilgesellschaft in der gegenwärtigen Debatte unterschiedlich, zum Teil auch widersprüchlich sind, was für die Einschätzung der Funktion und der Stärke der Zivilgesellschaft im politisch-gesellschaftlichen Gefiige der Bundesrepublik von erheblicher Bedeutung ist, hat sich hinsichtlich ihrer analytisch-deskriptiven Dimension in den letzten Jahren und Jahrzehnten eine relative Übereinstimmung herausgebildet. Zwar sind auf einer allgemeinen Ebene alle Mitglie-

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der der Zivilgesellschaft, die nicht dem Staat angehören - auf Zusammenschlüsse bezogen: NGOs, Non-Governmental-Organisations oder Nichtregierungsorganisationen, einschließlich der Unternehmen und anderer privatwirtschaftlicher Organisationen, die beispielsweise auf den großen internationalen Konferenzen zu den stärksten NGOs gehören. In einem eingeschränkten und in der deutschen Diskussion weit verbreiteten Verständnis meint Zivil- oder Bürgergesellschaft allerdings nicht nur „Nicht-Staat" sondern auch „Nicht-Markt". Privatwirtschaftliche Akteure und Aktivitäten zählen danach nicht zur „Zivilgesellschaft", deren Zusammenschlüsse gleichermaßen NGOs wie NPOs, Non-Profit-Organisationen, sind. Diesem Verständnis entspricht die verbreitete, auch in der kulturpolitischen Diskussion gebräuchliche Unterscheidung in die drei großen Sektoren oder Felder „Staat", „Markt" und „Gesellschaft". In einem solch eingeschränkten, deskriptiv-analytischen Verständnis wird „Zivilgesellschaft" im Folgenden verwendet. Auch das andere Substantiv im zu untersuchenden Begriffspaar „Zivilgesellschaft und Kultur" zeichnet sich nicht durch besondere Eindeutigkeit aus. Es gibt vermutlich wenige Begriffe in der deutschen Sprache, die ähnlich viele Bedeutungen haben wie „Kultur". Das reicht von einer allgemeinen Definition, wonach mit „Kultur" alles bezeichnet wird, „was die Menschen aus sich und ihrer Welt machen und was sie dabei denken und sprechen", wie etwa das Handbuch philosophischer Grundbegriffe bestimmt und wie er sich auch in den meisten allgemeinen Lexika findet, bis hin zu einer weitgehenden Reduktion von Kultur auf Kunst. (Siehe stellvertretend für die vielen Publikationen zum Kulturbegriff Moebius/Quadflieg 2006 oder die verschiedenen Definitionen im Handbuch der Kulturwissenschaften (2004).) Viele Definitionen von „Kultur" schließen einander nicht aus und können nebeneinander gebraucht werden, wenn deutlich ist, in welchem Zusammenhang und mit welchem Erkenntnisinteresse sie verwendet werden. Im Unterschied zum oben diskutierten Begriff „Zivilgesellschaft" ist die Diskussion über Kultur und Kulturverständnis so weit entfaltet, dass trotz der Bedeutungsfulle von „Kultur" meist eine Eingrenzung des Verständnisses im Rahmen des jeweiligen Erkenntnisinteresses möglich ist. Da es im vorliegenden Beitrag um das politische Handlungsfeld „Kulturpolitik" geht, ist hier ein weiterer anthropologischer Kulturbegriff ebenso wenig angebracht wie ein enger kunstzentrierter. Wenn im Folgenden von „Kultur" die Rede ist, so ist damit das Praxisfeld der künstlerisch-ästhetischen Produktion und Rezeption, der unterhaltend-spielerischen Weltaneignung und Weltdeutung sowie der kulturell-kreativen Aktivitäten gemeint. Dieser gesellschaftliche Teilbereich kultureller Praktiken und symbolischer Produktion zeichnet sich gegenüber anderen Teilsystemen durch einen spezifischen Zusammenhang von Sinn und Form, Inhalt und Ausdruck aus, der sich vom unmittelbaren Alltagshandeln und von zweckorientierten Aktivitäten wie Arbeit als Erwerbszweck unterscheidet. In dieses gesellschaftliche Praxisfeld wird in Gestalt der Kulturpolitik durch politisch-staatliche Akteure wie Kulturverwaltungen, Ministerien und Kulturpolitiker eingegriffen, aber auch von gesellschaftlichen Vereinen, Verbänden, Kirchen, Unternehmen und Einzelpersonen.

Zivilgesellschaft, Kulturpolitik und Stadtentwicklung

2.

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Zivilgesellschaft und Kultur - eine Verbindung mit langer Tradition

Unsere heutige Kulturlandschaft, die kulturelle Infrastruktur der Stadt-, Privat- und Freien Theater, der Konzerthäuser, Museen und Ausstellungshallen aller Art, der Kulturzentren, Musikschulen und Bibliotheken sowie die Angebotsvielfalt von Konzerten, Film- und Theateraufführungen, der Chöre und Orchester, Festivals, Leseabende, Kabaretts und vielen anderen Kulturveranstaltungen ist durch einen Trägerpluralismus von staatlich-kommunalen, privatwirtschaftlichen und frei-gemeinnützigen Akteuren gekennzeichnet. Die von der öffentlichen Kulturpolitik getragenen kulturell-künstlerischen Institutionen und Veranstaltungen, die von der Kulturwirtschaft hervorgebrachte Kunst und Kultur sowie die Angebote, Einrichtungen und Aktivitäten von Vereinen, Verbänden und Organisationen bilden gemeinsam die reichhaltige Kulturlandschaft Deutschlands. (Siehe als Überblick den Abschlussbericht der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland" des Deutschen Bundestages (2007)). Den Kern des kommunal-staatlichen Kultursektors bilden die von Kommunen, Ländern oder dem Bund getragenen Kulturinstitutionen und die von ihnen ausgerichteten Projekte und Kulturveranstaltungen. Das zweite große Feld - oder der zweite Sektor - sind die kulturellen Güter, die erwerbsmäßig hergestellt und verbreitet werden. Künstlerische Produktion und kulturelle Angebote dienen hier der Gewinnerzielung. Dieser marktwirtschaftliche Teil der Kulturlandschaft wird allgemein als „Kulturwirtschaft" oder ideologiekritisch als „Kulturindustrie" bezeichnet. Den dritten Bereich bilden die frei-gemeinnützigen Angebote und Einrichtungen, deren Träger auch unter der Bezeichnung „zivilgesellschaftliche Akteure" zusammengefasst werden. Da sie weder staatlich-kommunal getragen werden noch marktvermittelt agieren, werden sie zum Dritten oder dem „intermediären" Sektor gezählt. Vom zweiten, ebenfalls nichtstaatlichen kulturwirtschaftlichen Bereich unterscheidet sich der frei-gemeinnützige dadurch, dass er nicht gewinnorientiert handelt, was ihn wiederum mit dem ersten, dem staatlich-kommunalen Sektor verbindet. Hierzu gehört die Vielzahl kultureller Vereine in allen Bereichen der Laien- und Breitenkultur und die große Zahl der von gemeinnützigen Zusammenschlüssen getragenen Einrichtungen der kulturellen Bildung, der Soziokultur und der freien Kulturarbeit in den verschiedenen Sparten, sowie die kirchlichen, gewerkschaftlichen und mäzenatischen Kulturaktivitäten. Ein zentrales Merkmal dieses Feldes ist das hohe ehrenamtlichbürgerschaftliche Engagement von Millionen Menschen, die einen großen Teil der Arbeit in diesen frei-gemeinnützigen Kultur- und Kunsteinrichtungen leisten. Ohne diese vielfaltigen Aktivitäten gäbe es zahlreiche kulturelle Projekte und Einrichtungen nicht und ohne sie hätten viele künstlerische Produkte nie das Licht der Welt erblickt. Ehrenamtlich-bürgerschaftliches Engagement - und damit „Zivilgesellschaft" - ist allerdings auch im öffentlichen, staatlich-kommunalen Kulturbereich verbreitet. Auch hier gibt es inzwischen kaum eine Kultursparte oder Kunstform, bei der nicht bürgerschaftlich-ehrenamtlich Engagierte einen zunehmend größer werdenden Teil

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der Arbeit tragen. Dies geschieht entweder durch individuelle Mitarbeit in entsprechenden Einrichtungen und Projekten oder vielfach durch die Mitgliedschaft und das Mitwirken in Fördervereinen und Freundeskreisen.2 Bei diesen drei Sektoren „Staat", „Markt" und „Gesellschaft" handelt es sich nicht um drei separate „Säulen" unserer Kulturlandschaft, sondern um Bereiche, die mal enger, mal lockerer miteinander verflochten sind und sich gegenseitig bedingen und befruchten. Zwischen ihnen bestehen viele Übergänge, und sie wirken sowohl bei den praktischen Aktivitäten als auch bei der Trägerschaft von Kultureinrichtungen häufig zusammen. Die engere institutionelle Kooperation von Akteuren des staatlichen Sektors mit solchen des privatwirtschaftlichen oder frei-gemeinnützigen wird seit einigen Jahren mit dem aus der Stadtentwicklung und der allgemeinen Kommunalpolitik stammenden Terminus „Public-Private-Partnership" (PPP) bezeichnet. Die Zahl solcher Partnerschaften hat seit Ende der 1990er Jahre auch im Kulturbereich zugenommen. Solche Kooperationen existieren schon seit Beginn der Herausbildung dieser drei Felder des Kulturbereichs, im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert besonders häufig im Museums- und Bibliotheksbereich. Dieses schon immer vorhandene Zusammenwirken von staatlich-kommunaler Kulturpolitik, kulturwirtschaftlichen Strukturen und gesellschaftlich-bürgerschaftlichem Engagement bei der Hervorbringung, Sicherung und Weiterentwicklung der vielfältigen Kulturlandschaft in Deutschland erhält in der kulturpolitischen Praxis gegenwärtig neue Bedeutung. Die drei kulturellen Sektoren können auf eine lange Tradition zurückblicken und haben sich in unterschiedlicher Intensität und Geschwindigkeit seit Beginn der modernen Gesellschaft herausgebildet. Während die Medici im Florenz der Renaissancezeit erste Formen einer neuzeitlichen Kunst- und Kulturpolitik entwickelten, entstand in Italien, bald darauf auch nördlich der Alpen, ein Kunst- und Literaturmarkt. In den europäischen Städten traten zur gleichen Zeit Gilden und Zünfte als Auftraggeber von Kunstwerken für Kirchen, öffentliche Plätze und Gebäude auf. Gleichgesinnte Bürger schlossen sich - von den oberitalienischen Städten ausgehend - zu Vereinigungen zusammen, die unter anderem Bucheditionen und Theaterstücke in Auftrag gaben, Kunst- und Sprachakademien gründeten, die ersten Opernhäuser bauten und diese sowie andere kulturelle Aktivitäten finanzierten. In den deutschen Städten bildeten sich im 15. und 16. Jahrhundert im Zuge ihres Ausbaus neben den noch wenig vorhandenen kommunalen Aktivitäten im kultu2

Wie verbreitet bürgerschaftlich-ehrenamtliches Engagement im Kulturbereich heute ist, wird im Freiwilligensurvey, der 2004 zum zweiten Mal nach 1999 erhoben wurde, deutlich. 36% der Bevölkerung sind demnach freiwillig engagiert. Nach den Bereichen „Sport und Bewegung" (ll°/o), „Schule und Kindergarten" (7%) und „Kirche und Religion" (6%) stehen „Kunst und Musik" gemeinsam mit dem „Sozialen Bereich" mit jeweils 5,5% an vierter Stelle. Bei den 5,5% der Bevölkerung, die sich im Bereich Kultur und Kunst freiwillig engagieren, liegen die Chöre, Musik- und Gesangsgruppen mit einem Anteil von 55% an der Spitze. Weitere Schwerpunkte sind „Kunst Allgemein", „Theater" und „Heimat· beziehungsweise Brauchtumspflege" mit jeweils 10%. Die Museen und die Kulturmusikförderung folgen mit jeweils 3%. Die restlichen 9% verteilen sich auf die übrigen Sparten (Gensicke/Picot/Geiss 2006; siehe zum Bürgerengagement in der Kultur auch IfK 2001).

Zivilgesellschaft, Kulturpolitik und Stadtentwicklung

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rellen Bereich wie der Stadtmusik und den kleinen Ratsbibliotheken sowie neben der Förderung von Kunst- und Bauwerken durch Gilden und Zünfte erste Ansätze mäzenatischer Kunstfinanzierungen durch Kaufleute, Unternehmen und Handelsherren sowie frühe Formen einer neuartigen kulturellen Öffentlichkeit heraus. Diese war anfänglich wenig formalisiert und entstand vor allem in Kaffeehäusern und um Zeitungen und Zeitschriften herum. Aber schon im 17. und frühen 18. Jahrhundert kam es, an italienischen, niederländischen und englischen Vorbildern orientiert, zu Zusammenschlüssen mit dem Ziel des kulturellen Austauschs, des geselligen Beisammenseins und der Beförderung nützlicher sowie kultureller Maßnahmen. Während in diesen frühen bürgerlichen Assoziationen wie den Sprach-, patriotischen und anderen Aufklärungsgesellschaften die gemeinsamen kulturellen Aktivitäten und die Unterstützung kulturell-künstlerischer Vorhaben lediglich neben der allgemeinen Unterhaltung, der Förderung nützlich-praktischer Vorhaben und des aufklärerischen Räsonnements stand, entstanden in der zweiten Hälfte des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts zunehmend Assoziationen, Vereine und Gesellschaften, bei denen kulturell-künstlerische Aktivitäten im Zentrum standen. Am verbreitetesten waren die collegia musica musizierender und musikliebender Bürger, die Lesegesellschaften und die Geselligkeitsvereine, die bald zu zentralen Orten des kulturellen städtischen Lebens wurden. Kunst und Kultur waren hier vor allem Medien der Selbstverständigung sowie Orte des geselligen Beisammenseins des entstehenden und an die Macht strebenden Bürgertums. Sie dienten dem Bürgertum darüber hinaus zur Kritik am Adel und Fürstentum sowie zur Abgrenzung gegenüber den nachdrängenden „unterbürgerlichen" Schichten. Im Laufe des 19. Jahrhunderts kam es zu einem raschen Aufschwung weiterer kultureller Vereinsgründungen mit unterschiedlichen künstlerisch-kulturellen Interessen entlang der verschiedenen Kunstsparten. Besonders verbreitet waren die Gesangvereine und Liedertafeln, die Geschichts- und Altertums- sowie die Kunst- und später die Museumsvereine. Aus diesem, vom Bürgertum getragenen kulturellen Vereinswesen entstanden mit der Zeit Kultureinrichtungen; aus Lesegesellschaften wurden Bibliotheken, aus Kunstvereinen Ausstellungsgebäude und Kunstmuseen und aus Geschichtsvereinen historische Museen. Hinzu kamen vor allem kunstgewerbliche und naturwissenschaftliche Sammlungen, die in eigenen Räumen präsentiert wurden. Zusätzlich zu den von Vereinen betriebenen Kultureinrichtungen gründete in dieser Zeit auch eine Reihe bürgerlicher Mäzene Kunst- und andere Museen wie das prominente Städelsche Museum in Frankfurt am Main oder das Wallraf-Richartz-Museum in Köln. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts kam es durch die hauptsächlich von konfessionellen und sozialreformerischen Bildungsvereinen getragene Volksbildungsbewegung verstärkt zur Gründung von Lesehallen und Volksbibliotheken. In dieser Zeit entstanden auch in der Arbeiterbewegung eigene Formen und Orte kulturellen Lebens und der Selbstverständigung. Arbeiterbildungs- und proletarische Gesangvereine, Volksbühnen und Volksbibliotheken traten neben die Kultureinrichtungen des Bürgertums, des Hofes und die staatlich-kommunalen Kulturinstitutionen.

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Viele der heutigen Kultureinrichtungen gehen auf bürgerschaftliche Initiativen des späten 18. und 19. Jahrhunderts sowie auf solche der Arbeiterbewegung zurück, ebenso viele der heutigen Kunst-, Museums- und Theatervereine sowie ein großer Teil des kulturellen Vereinswesen mit Gesangvereinen und Laienkulturgruppen, der lokalen Heimat- und Geschichtsvereinen. Da zahlreiche bürgerliche Vereine zwar entsprechende Kultureinrichtungen erfolgreich gründeten, aber mit einer längerfristigen Trägerschaft vielfach finanziell und personell überfordert waren, entstanden in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Reihe von Kooperationsmodellen, bei denen die Kommunen und die Vereine jeweils unterschiedliche Aufgaben übernahmen. Besonders ausgeprägt waren solche frühen öffentlich-privaten Partnerschaften beim Betrieb von Kultureinrichtungen im Museums- und Bibliotheksbereich. Aber auch beim Bau von Theatergebäuden, Konzerthallen und anderen Kultureinrichtungen kam es öfters zu derartigen Arrangements zwischen öffentlicher Hand und Zusammenschlüssen kunstinteressierter Bürger oder privatwirtschaftlicher Kulturanbieter. Parallel zur Ausbildung des bürgerlichen Vereinswesens im Kulturbereich entwickelten sich auch die beiden anderen Sektoren weiter. Der Kunstmarkt, der - verglichen mit Italien, den Niederlanden und England - in Deutschland zuvor noch relativ gering entwickelt war, entfaltete sich im 19. Jahrhundert auch hier. In dieser Zeit entstand zudem ein breiter Musikmarkt, vor allem im Konzertbereich sowie im Zusammenhang mit einzelnen Virtuosen, um die bereits damals ein erheblicher „Starrummel" gemacht wurde. Besonders ausgeprägt waren im 19. Jahrhundert die Marktstrukturen im Bereich der Darstellenden Künste. Neben den etwa zwei Dutzend Hoftheatem und den bis Ende des 19. Jahrhunderts beiden einzigen kommunal getragenen Theatern in Mannheim und Freiburg wurden professionelle Aufführungen vor allem von den etwa 200 bis 300 von Impresarien, Theaterunternehmen und Theatervereinen getragenen Bühnen angeboten. In diesem Jahrhundert bildete sich eine systematische Kulturpolitik der Länder und Kommunen und - in ersten Anfängen - auch des Reiches heraus. Hofbibliotheken und -bühnen wurden zu Landesbibliotheken und Staatstheatern, Kunst- und andere Museen wurden von den Einzelstaaten sowie in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts von den Städten gegründet, die Kommunen übernahmen Kunsthallen und Sammlungen, deren Trägerschaft die Vereine überforderte und sie trugen gemeinsam mit Vereinen Volksbibliotheken und Museen. Sie bauten Theatergebäude und Musiksäle, die sie unter anderem vermieteten, den Theaterunternehmen mit der Zeit kostenlos überließen sowie diesen schrittweise auch Zuwendungen zahlten. „Zivilgesellschaft und Kultur" - mit der Herausbildung der Zivil- oder Bürgergesellschaft in Deutschland von der Frühen Neuzeit bis ins beginnende 20. Jahrhundert ist dies nicht als das Verhältnis zweier Einheiten zu verstehen, die miteinander in Beziehung gesetzt werden. Die Konstitution der Bürgergesellschaft war vielmehr von

Zivilgesellschaft, Kulturpolitik u n d S t a d t e n t w i e k l u n g

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Beginn an vor allem eine kulturelle, so wie die Kultur in vielen Bereichen vor allem eine bürgergesellschaftlich getragene war. 3

3.

Kommunalisierung der Kultur und zivilgesellschaftlicher Neubeginn

Während in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts die öffentliche Kulturpolitik zunehmend an Bedeutung gewann und ein Kulturmarkt in bis dahin unbekanntem Ausmaß entstand, nahm im Verhältnis dazu das kulturelle Vereinswesen und die von ihm getragenen Einrichtungen und Angebote ab. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg und besonders in der Weimarer Republik gingen zahlreiche, vormals von Vereinen, Stiftungen und Einzelpersonen gegründete und getragene Einrichtungen in kommunale Verantwortung über. Die Kosten für einen dauerhaften Unterhalt der Museen, Bibliotheken und Theater überstieg vielfach die finanzielle Leistungsfähigkeit der gesellschaftlichen Akteure; die gestiegenen Anforderungen an einen professionellen Betrieb dieser Institutionen konnte von den ehrenamtlich-bürgerschaftlichen Vereinen oft nicht mehr erfüllt werden und die Größe der Sammlungen, der Umfang des Angebots und der Nutzung sprengte häufig die Möglichkeiten einer Vereinsträgerschaft. Mit der Auflösung der Fürsten-, Herzog- und Königtümer nach dem Ersten Weltkrieg gingen auch die vormals höfischen Kulturinstitutionen, die bis dahin von den Herrscherhäusern selbst und nicht von den Staatsregierungen finanziert worden waren, in staatliche Verantwortung über, darunter nahezu alle Hoftheater und die meisten Hoforchester. Diese Kommunalisierung und Verstaatlichung von ehemals gesellschaftlich oder privat getragenen Kultur- und Kunsteinrichtungen während der Weimarer Republik erfuhr im Nationalsozialismus eine weitere Steigerung. Sowohl die zivilgesellschaftlichen als auch die marktwirtschaftlichen Kulturaktivitäten kamen in der Zeit des Nationalsozialismus unter dem Gleichschaltungs- und Kontrolldruck von Staat und Partei weitgehend zum Erliegen. Auch in den ersten beiden Jahrzehnten der Bundesrepublik - die Entwicklung in der DDR verlief anders und muss hier außer Acht gelassen bleiben - dominierte trotz eines zügig wieder aufgebauten kulturellen Vereinslebens eine staatlich-kommunale Ausrichtung der Kulturangebote und der Kulturpolitik. Diese Fokussierung auf kommunale und staatliche Kulturaktivitäten änderte sich erst mit dem kulturpolitischen Aufbruch Ende der 1960er Jahre, der unter dem Motto „Bürgerrecht Kultur" (Hermann Glaser) und „Kultur für alle" (Hilmar Hoffmann) stand. In dieser Zeit begann im Kulturbereich - in neuen Formen - eine verstärkte Revitalisierung bürgerschaftlicher Aktivitäten. Stadtteilkulturaktivitäten, Kunst- und Theaterprojekte im öffentlichen Raum, soziokulturelle Zentren, freie Theatergruppen,

3

Zur Ausbildung des kulturellen Vereinswesens und der Kulturwirtschaft sowie den Anfangen der staatlich-kommunalen Kulturpolitik im 18. und 19. Jahrhundert siehe ausführlicher Wagner 2009.

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Bernd Wagner

Kinder- und Jugendkulturarbeit, kulturpädagogische Projekte, Jugendkunst- und Musikschulen sind Beispiele dieser damals für die Bundesrepublik neuartigen Kulturbewegung, die von zivilgesellschaftlichen Akteuren, Initiativen und Vereinen getragen wurde und zum großen Teil auf ehrenamtlich-bürgerschaftlichem Engagement beruhte. Dabei wurde zum Teil auf die Erfahrungen des bürgerschaftlichen Kulturengagements und auf die Ansätze der Arbeiterkulturbewegung im 19. Jahrhundert zurückgegriffen. Das neue gesellschaftliche Engagement im Kulturbereich betraf nicht nur die neuartigen, nichtinstitutionellen Kulturaktivitäten, sondern auch die traditionellen Kunstsparten und Kulturinstitutionen wie Museen, Theater sowie die Musik. Ehrenamtlichbürgerschaftliches Engagement fand hier einerseits in Form von Freundeskreisen und Fördervereinen statt, die teilweise schon eine bis ins 19. Jahrhundert zurückreichende Tradition besaßen und die sich in den 1970er und 1980er Jahren verstärkt mit Leben füllten, und andererseits zunehmend durch individuelle ehrenamtliche Mitarbeit etwa bei Besucherführungen, in Museumsshops oder bei kulturpädagogischen Aktivitäten. Im Zusammenhang mit dieser neuen Phase zivilgesellschaftlichen Engagements im Kultur- und Kunstbereich entwickelten sich auch die kulturellen Verbandsstrukturen weiter. Zu den in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegründeten traditionellen Kultur- und Kunstverbänden wie dem Deutschen Bühnenverein, der Deutsehen Kunstgenossenschaft oder dem Komponistenverband kamen im Zuge der Neuen Kulturpolitik in den 1970er und 1980er Jahren Verbandsgründungen im Bereich der Soziokultur, der kulturellen Bildung und der freien Kultur sowie die Gründungen allgemeiner kulturpolitischer Verbände wie der Kulturpolitischen Gesellschaft und dem Deutschen Kulturrat hinzu. Einen dritten Schub erhielt das bürgerschaftliche Engagement im Kulturbereich nach der Gründungszeit des 18. und 19. Jahrhunderts und der Revitalisierung im Rahmen des kulturpolitischen Aufbruchs in den 1970er Jahren ab Mitte der 1990er Jahre, als die Finanznot der öffentlichen Haushalte die Kommunen zur Reduzierung von Leistungen und zur Schließung von Einrichtungen zwang. Inzwischen gibt es kaum eine Kommune, in der nicht bürgerschaftliches Engagement die Weiterführung von Einrichtungen und Angeboten ermöglicht. Das reicht von der Aufrechterhaltung der Öffnungszeiten von Stadtteilbibliotheken über Führungen in Museen bis zur Finanzierung einer Operninszenierung durch Spendensammlungen des Theaterfreundeskreises. In einigen Fällen konnten durch ein solches Engagement auch beabsichtigte oder bereits beschlossene Schließungen, etwa von Bibliotheken in Stadtteilen oder in kleinen Kommunen, rückgängig gemacht werden, indem Bürger, meist in Kooperation mit der Kommune, die Trägerschaft übernahmen. Allerdings wäre es vollkommen verfehlt, die gegenwärtige, seit etwa 10 bis 15 Jahren stattfindende Ausweitung des bürgerschaftlichen Kulturengagements nur im Kontext der öffentlichen Haushaltskrise zu sehen und zu diskutieren. Die Diskussion über

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bürgerschaftlich-ehrenamtliches Engagement im Kulturbereich begann schon früher und war Teil der allgemeinen gesellschaftlichen Debatten zur Überforderung des Sozialstaates und seines Umbaus zu einer Wohlfahrtsgesellschaft, zum aktivierenden Staat und zur Zivilgesellschaft unter der Fragestellung „Krise des Wohlfahrtsstaates und der Zukunft der Kulturpolitik", wie beispielsweise 1996 eine Tagung hieß. Ausgangspunkt dieser frühen kulturpolitischen Überlegungen war die „dauerhafte Überforderung kommunaler Leistungsfähigkeit" und eine daraus begründete neue Orientierung der Kulturpolitik, die „weg von Versorgungs- und Fürsorgeansprüchen hin zu mehr Mitverantwortung, Mitwirkung und Mitgestaltung der Bürgerinnen und Bürger fuhrt", wie der damalige Beigeordnete des Kulturausschusses des Deutschen Städtetages Bernd Meyer in einem Grundsatzbeitrag unter der Überschrift „Kultur in der Stadt - Herausforderung für eine neue Bürgerkultur" schrieb (Meyer 1997). Diese Impulse schlugen sich in der „Hanauer Erklärung" des Kulturausschusses des Deutschen Städtetages „Kulturpolitik und Bürgerengagement" von 1997 nieder, in der die Ausgestaltung einer neuen Verantwortungspartnerschaft zwischen kommunalen Kultureinrichtungen und kommunaler Kulturpolitik einerseits und bürgerschaftlichem Engagement andererseits als wichtige Aufgabe einer kulturpolitischen Neuorientierung gefordert wird: „Um im Sinne einer neuen Kulturverantwortung bürgerschaftliche Mitarbeit, Mitverantwortung, Mitgestaltung und Mitfinanzierung in öffentlich geforderten Kultureinrichtungen zu erreichen", heißt es in der Erklärung, „ist eine Umorientierung dieser Einrichtungen wünschenswert: Öffentliche Kultureinrichtungen sollten • • • •

sich die vielfach vorhandene kulturelle, künstlerische und soziale Kompetenz der Bürgerschaft zunutze machen; engagierten Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit zur gestaltenden Mitwirkung in Kultureinrichtungen geben; die freiwillige und ehrenamtliche Mitarbeit von Bürgerinnen und Bürgern suchen und fördern; über ein zeitgemäßes Fund-Raising nicht nur die Finanzierungsstruktur verbessern, sondern auch ihre Verankerung in der Bevölkerung stärken (Friend-Raising)." (Deutscher Städtetag 1997: 60f.)

Aus einer solchen Haltung heraus sind viele der gegenwärtigen Ansätze eines bürgerschaftlichen Engagements im Kulturbereich entstanden. Sie sind Ausdruck einer Neubewertung der Verantwortlichkeiten und eines neuen Austarierens des Verhältnisses von Staat, Markt und Gesellschaft bei der Sicherung und beim Ausbau der vielgestaltigen Kulturlandschaft in Deutschland. Danach ergänzt zivilgesellschaftliche Engagement die staatlichen Leistungen im Kultursektor durch gesellschaftliche Aktivität, erhöht die Identifikation der Bürgerinnen und Bürger mit den Kultureinrichtungen ihrer Stadt, trägt dazu bei, die Angebote bürgernäher zu organisieren und gibt vielen Menschen die Möglichkeit, sich am kulturellen Leben aktiv zu beteiligen.

218

Bernd Wagner

In Gestalt einer „kooperativen Kulturpolitik" werden dabei die Kompetenzen und Potenzen der unterschiedlichen kulturellen Akteure als Gestaltungspotenziale aufgegriffen und durch eine Kombination von öffentlicher Verantwortung, Marktdynamik und gesellschaftlicher Partizipation eine neue Qualität kulturpolitischer Aufgabenwahrnehmung erreicht. Angestrebt werden „gemischte Strukturen", „hybride Organisationen" und ein Regulierungsmix, der die Ressourcen, Potenziale und Steuerungsmedien der einzelnen Bereiche kombiniert.

4.

Kulturpolitik und Stadtentwicklung

Im kulturpolitischen Aufbruch der 1970er Jahren wurden - im Unterschied zu früher - die Stadt und die Stadtgesellschaft zum Ausgangs- und Bezugspunkt des Handelns sowohl der staatlich-kommunalen als auch der zivilgesellschaftlichen Akteure. Bis dahin standen die kulturellen Interessen der Akteure, eine abstrakte Verpflichtung der Kommunen zur kulturellen Daseinsvorsorge, aber vor allem die Kulturinstitution im Zentrum kulturpolitischen Denkens und Handelns. Besonders neue Kulturformen wie Stadtteilkulturarbeit, Geschichtswerkstätten, soziale Kulturarbeit, wohnraumnahe Kinderkulturangebote, Jugend- und Soziokulturzentren, Straßentheater und zahlreiche andere kulturell-künstlerische Aktivitäten bezogen sich direkt auf den städtischen Raum, wollten diesen „wohnlicher" und „menschlicher" gestalten und damit einen Beitrag zur Förderung anregungsreicher urbaner Milieus leisten (siehe hierzu auch den Beitrag von Walter Siebel in diesem Band). Es waren aber nicht nur die vielfaltigen neuen praktischen Kulturprojekte und -initiativen, die die Stadt und die Stadtteile als Lebensraum der Menschen ins Zentrum ihrer Arbeit stellten, auch reformorientierte Kulturpolitiker entwickelten ihre kulturpolitischen Konzeptionen als einen Beitrag im Kampf gegen die „Unwirtlichkeit der Städte" - so der Titel eines viel diskutierten Buches von Alexander Mitscherlich aus diesen Jahren - und banden ihre kulturpolitischen Ansätze und Vorschläge in Überlegungen und Konzepte zur Kommunalpolitik und Stadtentwicklung ein (Siehe beispielsweise Glaser 1974/83; Hoffmann 1974). Gemäß der einflussreichen Erklärung des Deutschen Städtetages von 1973 wurde „Kultur" gemeinsam mit Bildung „als Element der Stadtentwicklung" begriffen. Eine besondere Bedeutung kam dabei dem neuen Instrument der Kulturentwicklungsplanung zu. Diese war Teil der damals verbreiteten politischen Konzeption der Modernisierung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft durch eine stärkere Planung politischer Prozesse. In vielen gesellschaftlichen Feldern wurde die bis dahin oft reaktive Politik der Nachkriegs- und „Wirtschaftswunder"-Jahre durch eine aktive, gestaltende Politik mit neuen politischen Steuerungs- und Planungsinstrumentarien abgelöst. Die Ansätze im Kulturbereich waren anfangs eng mit der Reform des Bildungswesens und entsprechender Planungen verbunden. In der erwähnten, für die weitere kulturund bildungspolitische Entwicklung zentralen Erklärung des Deutsehen Städtetages

Zivilgesellschaft, Kulturpolitik und Stadtentwicklung

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von 1973 „Bildung und Kultur als Element der Stadtentwicklung" wird an oberster Stelle der „vordringlichen Maßnahmen" festgestellt: „Bildung und Kultur sind Zentralbereiche kommunaler Planung." (Deutscher Städtetag 1973: 174) Mit dem Konzept einer „Kulturentwicklungsplanung" wurde auf kommunaler Ebene eine neue Entwicklung kulturpolitischer Arbeit eingeleitet, die bis heute fortwirkt. Die Überlegungen und praktischen Ansätze kultureller Planung waren gedacht als eines der zentralen Instrumentarien zur Umsetzung der Neuen Kulturpolitik und galten als übergreifende Klammer, die „Kooperationen stiften, Koordination der Aktivitäten ermöglichen und vor allem - den Zielfindungsprozess demokratisch organisieren" sollte. Auch wenn in den zahlreichen kommunalen Kulturentwicklungsplänen der 1970er und 1980er Jahren die Kulturinstitutionen im Zentrum standen, bezogen sie sich bereits oft auch schon auf die Stadt als Ganzes. In den 1990er Jahren verknüpften sich die Diskussionen um kulturelle Planung häufig mit der Erarbeitung kommunaler Leitlinien, Leitziele und Leitbilder im Kontext des in dieser Zeit begonnen Prozesses der Kulturverwaltungsreform. Nach der Jahrhundertwende hat das inzwischen von nicht Wenigen in der Kulturpolitik als antiquiert angesehene Konzept der Kulturentwicklungsplanung wieder eine verstärkte Beachtung gefunden. In einer Reihe größerer und mittlerer Städte sind in den letzten Jahren angesichts der neuen Herausforderungen der kommunalen Kulturpolitik Kulturentwicklungsplanungen in Angriff genommen worden. Der gesellschaftlich-kulturelle Wandel, die veränderte Stadtwirklichkeit und die strukturellen wie finanziellen Probleme der Kultureinrichtungen sowie die allgemeinen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen werden hier in einem weitergehendem Maße einbezogen, als dies in früheren Kulturplanungsprozessen der Fall war. Für die Verständigung darüber, mit welchen Zielen Kulturpolitik betrieben werden soll, welche Strukturen dafür angemessen und zu finanzieren sind und welche Schwerpunkte gesetzt werden sollen, dafür stellen Kulturplanungen ein sehr brauchbares Instrument dar. Dabei beschränkten sie sich nicht, wie früher häufig, auf die öffentlich getragenen und von ihr finanzierten Kultureinrichtungen, sondern setzen diese in Bezug zu den beiden anderen Sektoren der Kulturlandschaft. Der privatwirtschaftliche und frei-gemeinnützige sowie besonders die in den vergangenen Jahren gewachsenen Übergänge und Verbindungen zwischen den drei Feldern sind in solchen zeitgemäßen Planungsprozess ebenso Gegenstand der Betrachtungen und Zielformulierungen wie andere Felder der Stadtpolitik, insbesondere die Jugend-, Bildungs-, Sozial- und Wirtschaftspolitik, aber auch das Stadtmarketing und der Tourismus. Die kulturellen Institutionen sind nicht mehr der Ausgangspunkt dieser Überlegungen, sondern der städtische Raum und seine Veränderungen und beziehen diese im Sinne einer integrierten Planung mit ein (siehe zur kulturellen Planung Wagner 2008). Kulturpolitische Planungs- und Neuorientierungsprozesse sind heute ein Teil der Stadtentwicklung und gehen vom sozialen Gebilde Kommune als Ort der Integration und Partizipation, des innergesellschaftlichen Dialogs, des Aushandelns von Interessen und des Austarierens von Widersprüchen aus. Dieser Diskurs des Städtischen, den es seit einigen Jahren wieder verstärkt gibt, wird allerdings von der Kultur- wie

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Bernd Wagner

der gesamten Kommunalpolitik noch zu wenig mit gefuhrt und schlägt sich erst ansatzweise in praktischer Politik nieder. Im Zusammenhang mit den Diskussionen um die „kreative Stadt" und eine integrierte Stadtentwicklung zeichnet sich hier eine neue Entwicklung ab, die gute Potenziale zur Einbindung der Kulturpolitik und der Kulturplanung als Element der Stadtentwicklung enthält (siehe hierzu IfK 2008).

Literatur Böckenförde, Ernst-Wolfgang (1989): Staat und Gesellschaft. In: Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon - Recht. Wirtschaft. Gesellschaft. Bd. 5, 7. Aufl. Freiburg u.a., S. 228-235. Deutscher Städtetag (1973): Bildung und Kultur als Element der Stadtentwicklung. In: Deutscher Städtetag (1986): Stadt und Kultur. Arbeitshilfen des Deutschen Städtetages zur städtischen Kulturpolitik. Stuttgart u.a., S. 162- 175. Deutscher Städtetag/Kulturausschuss (1997): Kulturpolitik und Bürgerengagement. Hanauer Erklärung. In: Kulturpolitische Mitteilungen. H. 79 (IV/97), S. 60-61. Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland" des Deutschen Bundestages (2007): Schlussbericht, Berlin: BT-DrS. 16/7000. Gensicke, Thomas/Picot, Sibylle/Geiss, Sabine (2006): Freiwilliges Engagement in Deutschland 1999 bis 2004. Ergebnisse der repräsentativen Trenderhebung zu Ehrenamt, Freiwilligenamt und bürgerschaftlichem Engagement. Wiesbaden. Glaser, Hermann/Stahl, Karl Heinz (1974/1983): Bürgerrecht Kultur, 2. Aufl. Frankfurt a.M. u. a. Habermas, Jürgen (1994): Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt a.M. Handbuch der Kulturwissenschaften (2004), hrsg. von Friedrich Jaeger u. a., Bd. 1: Grundlagen und Schlüsselbegriffe, Bd. 2: Paradigmen und Disziplinen, Bd. 3: Themen und Tendenzen. Stuttgart, Weimar. Hoffmann, Stefan-Ludwig (2003): Geselligkeit und Demokratie. Vereine und zivile Gesellschaft im transnationalen Vergleich 1750-1914. Göttingen. Institut fur Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hrsg.) (2008): Jahrbuch für Kulturpolitik 2008. Thema: Kulturwirtschaft und Kreative Stadt. Essen. Institut fur Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hrsg.) (2001): Jahrbuch für Kulturpolitik 2000, Thema: Bürgerschaftliches Engagement. Essen: Klartext Verlag. Meyer, Bernd (1997): Kunst in der Stadt - Herausforderung für eine neue Bürgerkultur. In: Der Städtetag, H. 5/1997, S. 318-322. Moebius, Stephan/Quadflieg, Dirk (Hrsg.) (2006): Kultur. Theorien der Gegenwart. Wiesbaden. Taylor, Charles (1993): Der Begriff der „bürgerlichen Gesellschaft" im politischen Denken des Westens. In: Brumlik, Micha/Brunkhorst, Hauke (Hrsg.): Gemeinschaft und Gerechtigkeit. Frankfurt a.M., S. 117- 148.

Zivilgesellschaft, Kulturpolitik und Stadtentwicklung

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Wagner, Bernd (2008): Kulturentwicklungsplanung - Kulturelle Planung. In: Klein, Armin (Hrsg.): Kompendium Kulturmanagement. Handbuch für Studium und Praxis. München, S. 163-179. Wagner, Bernd (2009): Fürstenhof und Bürgergesellschaft. Zur Entstehung, Entwicklung und Legitimation von Kulturpolitik. Bonn, Essen.

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Der Traum vom glücklichen Miteinander - oder Bildung als Nagelprobe für eine integrative Kommunalentwicklung von Heike Kahl

1.

(T)raumordnung

Zur Einordnung dieses Artikels Ein wissenschaftlicher Artikel ist nicht zu erwarten. Denn die Kompetenz der Autorin im Bereich der Stadtentwicklung ist mit dem Kompetenzverständnis vieler Eltern vergleichbar - Bildung und Pädagogik betreffend die meinen alles zu wissen, allein aufgrund der Tatsache, dass sie Eltern sind. Die Legitimation, etwas zum Thema beizusteuern, leitet sich für jemanden, der sich primär mit Bildung und nicht mit Stadtentwicklung befasst, aus zwei Gründen ab: Zum einen ist die Anlage des Buches als Sammelband hinreichend offen, sodass es einen assoziativen Blick zulässt auf die Frage, wie Stiftungshandeln einen Beitrag dazu leisten kann, Bildung als Teil von Stadt- und Kommunalentwicklung zu sehen. Zum anderen können die Programmerfahrungen der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung (DKJS), für die die Autorin seit 15 Jahren arbeitet, Geschmacksproben dafür liefern, wie es gelingen kann, im kommunalen Umfeld zu einem gemeinschaftlichen Verständnis von Entwicklungsfragen zu kommen und von diesen Entwicklungsaufgaben ein Handlungskonzept abzuleiten, das auf gemeinsamer Verantwortungsübernahme und nicht auf Zuständigkeitskategorien beruht. In diesem Artikel wird die Entscheidung getroffen, nicht zwischen Kommunal-, Regional- und Stadtentwicklung zu unterscheiden und auch die Raumbegriffe (sozial, kommunal usw.) nicht abgrenzend zu führen. Der Grund? Es geht nicht um eine systematische Betrachtung von Raumordnungsfragen, sondern darum, Stiftungshandeln als zivilgesellschaftlichen Motor und Impulsgeber für gesellschaftliche Entwicklungsprozesse darzustellen und die konkreten Effekte aufzuzeigen, die sich für Bildung und Kommunalentwicklung daraus ableiten lassen. Stiftungen sind Akteure der Zivilgesellschaft. Die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung versteht sich mit ihrer besonderen Verfasstheit als „Gemeinschaftsaktion", was sich sowohl in der Zusammensetzung ihres Gesellschafterkreises mit Ministerpräsidenten, Unternehmern, Stiftungen, Verlegern usw. ausdrückt als sich auch in ihrer Arbeitsweise manifestiert. Ihr Hauptziel sieht die Stiftung darin, entscheidend dazu beizutragen, die Aufwachsbedingungen von Kindern und Jugendlichen zu verbessern. Und ihr wichtigster Ansatz ist es, dies von den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen aus zu denken, dem biografischen Verlauf der Kinder zu folgen und die Verantwortung für Bildung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe nach Möglichkeit

Der Traum vom glücklichen Miteinander

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praktisch herzustellen. Die DKJS wird als erfolgreiche Vernetzerin und als Verknüpferin des eigentlich Unvereinbaren beschrieben und sieht es als ihre Aufgabe an, dafür zu sensibilisieren und Beispiele zu geben, dass sich das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen eben nicht in Zuständigkeitskategorien, sondern in Verantwortungsgemeinschaften abbildet. Raum und Bildung - Bildungsraum

Raum wird im pädagogischen Kontext gem als „dritter Pädagoge" bezeichnet. Meistens wird er eng interpretiert, auf Gebäude und damit auf das engere Schulumfeld bezogen. Nach der Maxime, dass sich „aus einer veränderten Ästhetik [...] eine neue Ethik mit anderen Umgangsformen und einer anderen Arbeitshaltung [ergibt] - und am Ende [...] die Leistungen auch besser [werden]." (Kahl 2009) Der Begriff „Raum" wird entweder mit dem Begriff „sozial" kombiniert oder er ist ordnungsprinzipiell gemeint. Neueren Datums sind die Verbindungen von „Raum" und „Bildung", die mit Ideen rund um „Bildungslandschaften" und „Verantwortungsgemeinschaften" einhergehen. Diese werden jedoch gleich wieder klassisch, wenn man sie mit dem viel bemühten Sprichwort vom ganzen Dorf, das man braucht, um eine Kind zu erziehen, übersetzt. Im Sinne von „Bildungslandschaften" erweitert sich das Verständnis des „dritten Pädagogen". Es bezieht sich auf die Gesamtheit und das Zusammenspiel aller Akteure, die sich für Bildung innerhalb eines definierten „Raumes" verantwortlich fühlen. So gesehen ist „Raum" jenes Etwas, das zwischen Menschen, Institutionen und Initiativen sowie um sie herum als Basis vorhanden ist; eine Ordnungskategorie, innerhalb derer eine neue Denkkultur möglich ist - weg von einer Ressourcennutzungsmentalität hin zu einer Potentialentwicklungskultur, wie es Professor Hüther in der DKJS im Rahmen der Beiratssitzung zu „nelecom" (Bildungslandschaftsprogramm in Thüringen) ausdrückte. Aber zu oft noch werden „Bildungslandschaften" als Bündnisse verschiedener Institutionen verstanden, die zuvor in Abgrenzung ihrer Zuständigkeiten agierten und nun verabreden, im Sinne der Kinder und in deren gelingender Biografie zusammenzuarbeiten. Schon das ist eine schwierige Aufgabe, weil es mitunter passiert, dass - weil Mode - die Vernetzung zum Selbstzweck gerät und scheitern muss, wenn das Ziel und die Rollen der einzelnen Akteure nicht genau definiert sind. In unserem Fall betrifft das eine gute Bildung für Kinder und Jugendliche ohne Brüche an den besonders schwierigen Übergängen. Gewiss scheitern „Bildungslandschaften", wenn zivilgesellschaftliche Akteure als unverzichtbare Mobilisierungskräfte, Impulsgeber und „Alltagsgestalter" in solche Prozesse nicht eingebunden werden und wenn ein enges Verständnis von Bürgergesellschaft vorherrscht, das sich auf die Würdigung des Ehrenamts beschränkt und nicht den Anspruch erhebt, dass Bürger private Verantwortung für öffentliche Belange übernehmen wollen und den Anspruch haben, wichtige Handlungsfelder im öffentlichen Raum zurückzugewinnen. Im Kontext alter

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politischer Handlungsroutinen wurde versäumt, neue und zu Optimismus Anlass gebende Ansätze für den Umgang mit Schnittstellen zwischen der staatlichen Verwaltung und dem zivilgesellschaftlichen Sektor zu etablieren. Und auch wenn der „Staat" ernst macht mit Subsidiarität, steht er vor Herausforderungen, auf die er selbst erst noch Antworten finden muss. Ist zum Beispiel sicher, dass das Zurückgehen formaler Netzwerke in organisierten Zusammenhängen wie Vereinen oder Verbänden kompensiert werden kann durch informelle Zusammenschlüsse und Organisationsformen? Und entwickeln die Mitglieder solcher informellen Netzwerke ausreichend Kraft für Intervention, Einfluss und Gestaltung? Der eine Extremfall liegt vor, „wenn ein bürokratisch-paternalistisches Dienstleistungssystem die gesellschaftlichen Aktivitäten erstickt und entmutigt und alles und jedes ,νοη fürsorglichen Behörden geregelt wird'. Im anderen Extremfall finden wir ein sehr liberales Regime, das wahrscheinlich starke Anreize zur Selbsthilfe schaffen wird. Doch diese werden vermutlich eher auf dem Markt vermittelt oder in irgendeiner anderen Weise selektiver Natur sein [...]." (Offe/Fuchs 2001: 500) Für Stiftungen ergibt sich hier ein wichtiges Aktionsfeld dafür, Aufmerksamkeit und Sensibilisierung für die Problemlage zu schaffen, aber auch dafür, Kooperationsprozesse zwischen Staat und Zivilgesellschaft zu moderieren und zu steuern. Beim Aufbau von Bildungslandschaften kann das besonders zum Tragen kommen, gerade auch dafür, das Verantwortungsvakuum, das an den Schnittstellen von Zuständigkeiten entsteht, überwinden zu helfen. Ein hoffentlich gelingendes Beispiel bietet das Programm „Lernen vor Ort", das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung mit ca. 60 Mio. € unterstützt wird. Stiftungen sind hier explizit eingeladen, den 40 Kommunen, die in den kommenden drei Jahren ein kohärentes Bildungssystem mit allen Akteuren aufbauen wollen, Partner bei der Lösung von Entwicklungsaufgaben und Steuerer bei den Prozessen zu sein. Geht man von einem ganzheitlichen Entwicklungsansatz aus, dann werden „Räume" generell kleiner. Man denkt im „Quadratkilometer Bildung" (z.B. Regionalen Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie, Berlin) oder in kommunalen Zusammenhängen. Vielleicht ist diese Tendenz bereits eine Reaktion auf die Tatsache, dass es in größeren ordnungspolitischen Zusammenhängen ausgesprochen schwer, wenn nicht unmöglich ist, den Beteiligten aus allen gesellschaftlichen Bereichen eine Stimme zu geben. Eine Stimme vielleicht, aber keine Orchestrierung, durch die es den Stimmen einfacher würde, einander zu verstehen, aufeinander bezogen zu agieren und auf eine gemeinsame Aufgabe eingestimmt zu sein. Es ist eben keinesfalls selbstverständlich, dass selbst bei besten Vorsätzen die Akteure formeller und informeller Bildung, von Jugendarbeit und Schule, dieselbe Sprache sprechen und gemeinsame Ziele verfolgen. Wie schwierig ist es erst, wenn dann auch noch Architekten und Stadtplaner, Vertreter der Wirtschafts- und Gesundheitsressorts Aufgaben gemeinsam lösen sollen. Bisher ist dies nicht zufriedenstellend gelungen, so sehr die Notwendigkeit ersichtlich ist, insbesondere, wenn man es mit schrumpfenden, anderweitig unattraktiv erscheinenden Räumen oder sozialen Brennpunkten zu tun

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hat. Erschwert wird die Aufgabe, drängende gemeinsame Entwicklungsaufgaben zu lösen, wenn nur in institutionellen Kategorien und nicht von der Praxis und den Bedürfnissen der Zielgruppe her gedacht wird und zudem Zivilgesellschaft allein als schmückendes Beiwerk akzeptiert, aber nicht als treibende Kraft verstanden wird, der besonders in der Initiierung und Steuerung von Entwicklungsprozessen eine wichtige Rolle zukommen kann. Die Orientierung auf kleinere „Einheiten" ist der Spiegel dafür, wie man von dem Wissen, was getan werden muss, zum Wissen kommen kann, wie dies geschehen soll. Stiftungen können nicht nur Impulsgeber für solche Prozesse sein, sondern auch erfolgreich die Orchestrierung aller Beteiligten übernehmen. Hierfür ein Beispiel. Spielraum Gemeinsam mit Nike setzt die DKJS das Programm „Spielraum" um. Ausgangspunkt war das Wissen darüber, dass sich Jugendliche oftmals fernab von organisierten Kommunikationsformen und pädagogisierten Räumen an besonderen Plätzen treffen: auf von der Stadt gerade nicht genutzten und ungepflegten Brachflächen, Parkplätzen, verödeten Sportflächen, an „Zwischenorten" von Raum und Zeit. Dieses Besetzen und Gestalten von unbewohnten Flächen wird in der Regel als störend empfunden, manchmal auch als Bedrohung. Die DKJS hat gemeinsam mit Nike den Spieß umgedreht und Jugendliche eingeladen, solche Brachflächen nicht nur zu besetzen, sondern Konzepte für sie zu entwickeln und in gewisser Weise Raumpioniere zu werden. Jugendliche, die kaum die Möglichkeit haben, an kommerziellen Freizeitangeboten zu partizipieren und die eigene Wirksamkeit zu erfahren. Mit diesen Initiativen verwandelt sich Ödland in lebenswertere Orte - geeignet für Teamsport und persönliche Entfaltung, Austausch und Lernen. Wenn man Raumpioniere nicht nur als Abenteurer versteht, sondern als Menschen, die zum eigenen Vorteil, aber auch zum Nutzen der Gemeinschaft und des „Raumes" eingefahrene Logiken durchbrechen, unkonventionelle Wege gehen und Räume neu profilieren, dann entstehen positive Irritationen, die alle Beteiligten dazu zwingen und motivieren, anders über das Ineinandergreifen von Verantwortlichkeiten zu denken. Es entstehen aber auch konkrete Anlässe, um gemeinsam zu handeln und Barrieren, die zwischen „traditioneller", arbeitsteiliger und von Organisationsstrukturen aus gedachter Rollenteilung bestehen, zu überbrücken. In einem Projekt - der Klix-Arena in Berlin Reinickendorf - hat das dazu geführt, dass Jugendamt, Bauamt, Bezirksbürgermeister, der Jugendhilfeträger Gangway, die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung und NIKE, die Reinecke-FuchsGrundschule und nicht zuletzt Eltern es sich zur gemeinsamen Aufgabe gemacht haben, diesen Spielraum nicht nur zu gestalten, sondern ihn zu einem gemeinsamen Entwicklungsnukleus zu machen und dabei die Partizipation aller groß zu schreiben. Die Jugendlichen berichten, dass sie nicht daran geglaubt haben, dass mit dem maroden Platz etwas passiert, dass sich jemand gerade um sie kümmert, denen sonst kaum Zuwendung entgegengebracht wird. Dass sie es schaffen, sich selbst zu organisieren

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und Verantwortung zu übernehmen, zu erfahren, welch gutes Gefühl es ist, das ihnen etwas zugemutet und zugetraut wird, sie dabei aber nicht allein gelassen werden... Die beteiligten Erwachsenen berichten, dass sie es nicht für möglich gehalten haben, diese komplexe Aufgabe gemeinsam zu meistern und Ressourcen und Mittel zu erschließen, die vorher jenseits ihres Denkhorizonts lagen. Spielraum und entsprechend angelegte Projekte sind geeignet, eine partizipative Kultur des Kümmems entstehen zu lassen. Und dieses Kümmern ist mit demokratischer Teilhabe verbunden und kann zur praktischen Übersetzung von „Verantwortungsgemeinschaft" beitragen. Und weil im Projekt keine theoretischen Vorhaben zur Zusammenarbeit besprochen wurden, sondern ein konkreter Anlass vorhanden war, weil jeder den Vorteil für sein eigenes Handeln und seinen Verantwortungsbereich sieht, funktioniert Kommunikation und Zusammenarbeit leichter als am theoretischen Gegenstand. Aber auch hier sind Vermittlung, Moderation, Motivation und Steuerung nötig, die hier von der DKJS übernommen werden. Man kann solche gelungenen SPIELRÄUME auch in Österreich und der Schweiz finden.

2.

Ein Traum, der keine neue Erfindung ist

Literaturausflug

Brigitte Reimann, fast sagenumwobene Schriftstellerin der DDR, ist im Zuge des Bitterfelder Wegs - durch den die Trennung von Künstler und Volk überwunden werden sollte - 1963 nach Hoyerswerda gegangen, voller Enthusiasmus und mit der Lust, an einer Glücksgeschichte des sozialistischen Aufbaus einer neuen, menschenfreundlichen Stadt mitzuschreiben, in der der Einzelne sein Glück findet und eine ganze Gesellschaft ihr humanistisches Antlitz zeigt. Dieser Prozess soll durch ihren Roman „Franziska Linkerhand" begleitet werden. Der Roman wird nicht vollendet. Brigitte Reimann stirbt an Krebs. Aber auch andere Gründe verhindern, dass das Buch beendet wird. Einer ist, dass Brigitte Reimann ihre positive Einstellung nicht durchhalten kann, weil Traum und Realität einander widersprechen. So heißt es in einem Brief an Professor Henselmann, Chefarchitekt der DDR, am 11.06.63: „Lieber Herr Professor Henselmann, [...] Mir bereitet es physisches Unbehagen, wenn ich durch die Stadt gehe - mit ihrer tristen Magistrale, mit Trockenplätzen zwischen den Häusern, wo Unterhosen und Windeln flattern, mit einer pedantischen und zudem unpraktischen Straßenführung, die die Erfindung des Autos ignoriert [...] Wahrscheinlich lässt sich in den fertigen Wohnkomplexen nichts mehr korrigieren, aber es müsste doch möglich sein, die Pläne für die nächsten Komplexe in irgendeiner Weise zu beeinflussen. Entschuldigen Sie, bitte, dass ich Ihnen soviel von Hoy vorklage; das Thema liegt mir auch deshalb am Herzen, weil mein nächster Held Architekt sein wird, und nun versuche ich von allen Leuten, deren ich habhaft werden kann, zu erfahren, wie weit die Architektur das Lebensgefühl ihrer Bewohner zu prägen vermag, und mir scheint,

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sie trägt in gleichem Maße zur Seelenbildung bei wie Literatur und Malerei, Musik, Philosophie und Automation." (Reimann/Henselmann 2001) Brigitte Reimanns Traum war ein ganzheitliches Lebenskonzept, in dem Arbeitsteilung und Spezialisierung nicht zur Entfremdung führen, weder bei den Regierenden noch im alltäglichen Miteinander, und bei dem Schönheit und Nützlichkeit keine Gegensätze sind. Ein Konzept von Stadt, das all dies ermöglicht und eben in gemeinsamer Verantwortung für die Menschen gedacht ist, und nicht zwischen separaten Interessen zerrieben wird. „Es muss, es muss sie geben, die kluge Synthese zwischen Heute und Morgen, zwischen tristem Blockbau und heiter lebendiger Straße, zwischen dem Notwenigen und dem Schönen, und ich bin ihr auf der Spur, hochmütig und ach, wie oft, zaghaft, und eines Tages werde ich sie finden." (Reimann 1998: 603f.) Der richtige Geist in der richtigen Flasche

Ist Brigitte Reimanns Gesellschaftsentwurf nur zum Scheitern verurteilt, weil er eine Vision auf falscher Grundlage war? Der richtige Geist, nur in der falschen Flasche? Und wenn man den Geist befreit, in einer Gesellschaft, die demokratisch verfasst ist, wird er sich durchsetzen und ausbreiten? Mir kommt der Titel eines Buches von Robert D. Putnam in den Sinn: „Bowling alone". Der Titel ist ein Statement, eine Infragestellung. Auch eine gesellschaftliche Bankrotterklärung? In seinem Vorwort zu „Gesellschaft und Gemeinsinn" heißt es bei Putnam in Bezug auf die Frage, wie Lebenszufriedenheit zustande kommt: „Breite und Tiefe der sozialen Beziehungen seien der beste Prädiktor für Glück." (Putnam/Goss 2001: 22) Dies sind auch die wichtigsten Ingredienzien für Brigitte Reimanns Vision, wenn sie feststellt, dass ein Architekt nicht nur Häuser entwirft, „sondern Beziehungen, die Kontakte ihrer Bewohner, eine gesellschaftliche Ordnung" (Reimann 1998: 540). Es gibt keine Garantie dafür, dass in einer demokratisch verfassten Gesellschaft per se auch die Bedingungen für tiefe emotionale, soziale, verwurzelte Beziehungen und Bindungen vorhanden sind. Darauf verweist schon der Titel von „Bowling alone". Er setzt Assoziationen frei bezüglich einer totalen Individualisierung, einer sozialen Entfremdung, für die anonyme, in ihrem Innern fragmentierte und entfremdete Stadt und verweist auf die räumliche Bedingtheit von sozialen und kulturellen Prozessen. Gerade wenn man Bildung nicht auf Wissensvermittlung reduziert und Schule nicht als Institution betrachtet, die sich darauf beschränkt, Fächer zu unterrichten, anstatt Menschen zu bilden und sie dabei zu unterstützen, zu mündigen Bürgern zu werden, ist „der soziale Raum nicht einfach vom geografischen Raum abgekoppelt, sondern ,Raum' überhaupt [...] als soziale Konstruktion, also als Signatur individuellen und sozialen Handelns gefasst" (Hallet/Neuman 2009: 12f.). Bildung ist in diesem Zusammenhang Teil eines Gesamtkaleidoskops und muss in den Kontext der Entwicklung von Städten bzw. kommunalen Räumen gestellt und nicht als isolierte Einzelaufgabe gesehen werden. Schule ist dann nicht allein ein Gebäude mit Innen- und Außen-

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räum, sondern ein wichtiger Lebensort für Kinder und Jugendliche und zudem im besten Falle Ausgangspunkt für kulturelles Leben in einer Kommune, ein Ort des Miteinanders und der Kommunikation. Ein Ort, an dem Menschen willkommen sind und der von Menschen willkommen geheißen wird. Ein Ort, an dem junge Menschen zu selbsttätigen, eigenverantwortlich handelnden, zur Problemlösung fähigen und lebenstüchtigen Persönlichkeiten gebildet werden. Die Klammer zwischen Bildung, Erziehung und Betreuung ist Entwicklung. Und dafür muss ein viel größerer „Raum" zur Verfügung stehen, als die Schule - eng definiert - bieten kann. Mancher Blick in die städtische Realität trägt zur Ernüchterung bei, wenn man das, was Kinder brauchen und wollen und das, was sie gewöhnlich haben und bekommen, einander gegenüberstellt. Oggi Enderlein, Projektleiterin der Werkstatt „Schule wird Lebenswelt" im Programm „Ideen für mehr! Ganztägig lernen." der DKJS und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung verweist immer wieder auf die Notwendigkeit, Schule von den Bedürfnissen der Kinder aus zu denken: nicht Kinder schulgerecht zu machen, sondern Schulen kindgerecht. Wenn man dies bedenkt, wird schnell klar, dass Schule kein isolierter Raum sein darf, sondern integrativer Teil einer „Bildungslandschaft". Oggi Enderlein fasst zusammen: „Im Alter zwischen etwa 6 und 13 Jahren sind wichtige ... Bedürfnisse: selbstbestimmte Bewegung, Erproben von Geschicklichkeit, Körpererfahrung; die Begegnung und Auseinandersetzung mit anderen, etwa gleichaltrigen Kindern; eigenständiges Erkunden, Entdecken und Erobern der Welt im Umfeld der Wohnung - vor allem gemeinsam mit anderen Kindern und dabei Dinge zu erforschen, zu erfinden, zu konstruieren, auf die Beine zu stellen." (Enderlein 2009: 162) Es braucht nicht viel Phantasie, um festzustellen, wie weit die Realität und die berechtigten Ansprüche von Kindern auseinander liegen. Davon, Stadtentwicklung auch aus der Sicht und orientiert an den Bedürfnissen von Kindern zu betrachten, ist man im Allgemeinen weit entfernt, so viele gute Beispiele es mittlerweile auch gibt. So unterbrach mich der aufgebrachte Bürgermeister eines Ortes, als ich über Bildungslandschaften sprach und dabei die besondere Verantwortung der Bürgermeister hervorhob, gute Bedingungen für Bildung zu schaffen, mit den Worten: „Wenn ich mich nun auch noch um Bildung kümmern soll, was wird dann aus meinen Kemaufgaben?" Wie sehen die Kernaufgaben aus, könnte man fragen, wenn man daran erinnert, dass seine Aufgabe raumordnungspolitisch in der Sicherung der Daseinsvorsorge für seine Bürger und Mitmenschen besteht?

3.

„Bildung" als Standortfaktor

Bei einem Besuch in einer kleinen Stadt holte mich der Bürgermeister vom Bahnhof ab. Als wir begannen, über Bildungschancen im Ort zu sprechen, wurde er ganz aufgeregt und sagte: „Ich habe den Schlüssel für die Schule in meinem Büro. Ich weiß nicht, ob sich das gehört, aber ich würde Ihnen so gern meine Schule zeigen.

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Vielleicht treffen wir auch noch den Elternkreis. Die können dann zeigen, was wir in den vergangenen zwei Jahren aus der Schule gemacht haben." Der Bürgermeister hatte verstanden, wie zentral Bildung für die Entwicklung seiner Stadt ist. Bildung findet überall statt: in Dörfern, die nah bzw. fern voneinander sind, in großen und in kleinen Städten, in Ballungsgebieten, Stillstandsgebieten, in schrumpfenden Städten und solchen, in denen mehr als 50 o/o der neu eingeschulten Kinder einen Migrationshintergrund haben. Der Bürgermeister wusste, dass Stadt und auch Dorf keine stabilen und kontinuierlichen Räume mehr sind. Sie werden für die Menschen zu flüchtigen, temporären Aufenthaltsorten, die sich manchmal wie ein Hotel anfühlen, in dem man sich wohl fühlen will, von dem man aber weiß, dass man sich dort nur für einen Moment aufhalten wird. Auch Brigitte Reimann spricht von den Stadtbewohnern als „Wurzellose" und „Wartende" in einer „provisorische(n) Stadt". (Reimann/Drescher 2008) Der flüchtige Raum verändert sich, man nutzt ihn, er beherbergt einen, aber er gehört einem nicht. Umso wichtiger ist es, Bindungen entstehen zu lassen und danach zu fragen, was denn die besondere Lebensqualität eines Ortes ausmacht, auch deshalb, weil der Begriff der Bürgerschaft nicht mehr zwangsläufig mit dem Credo von „Besitz" verbunden ist. Besitz und Bürgerschaft gehörten lange zusammen. In der Tradition der Hanse ist beides vielleicht am sinnfälligsten miteinander verbunden. Heute müssen andere Bindungsfaktoren ge- oder erfunden und entwickelt werden: solche, die es Menschen leichter machen, sich für einen Ort zu entscheiden - eine besonders schöne Umgebung, gute Verkehrsanbindungen, eine Kommune, in der es ein sichtbar gutes Zusammenleben der Menschen gibt, eine gute Schule, etc. Claus Offe und Susanne Fuchs beschreiben sie als „feinkörnige konzeptionelle Komponenten" (Offe/Fuchs 2001: 418) und nennen im Kontext von Sozialkapital Aufmerksamkeit, Vertrauen und Engagement in Aktivitäten als wichtige Indikatoren. Die besondere Begabung eines Ortes

Wenn die Kontinuität eines Ortes nicht mehr garantiert ist, wenn man es aufgrund der demografischen Entwicklung, der wirtschaftlichen Situation einer Region, der sozialen Situation eines Ortes mit Wegzug und Schrumpfung zu tun hat und Mobilität eine zentrale Kategorie des Lebens wird, dann kann man das bedauern und als Niedergang betrachten. Man könnte aber auch sagen: Wenn kein Wachstum da ist, sondern das Gegenteil, dann ist man auch nicht mit den Problemen von Wachstum konfrontiert. Dann kann man nicht mehr auf das alte Verständnis von Stadt setzen, weder in der Organisationsstruktur noch im Profil. Dann kann sie zur Avantgarde von etwas Neuem werden. So, wie zu Zeiten der DDR in der Provinz, abseits von Mainstream und Kontrolle, in den Bereichen Kunst und Kultur Erstaunliches auf die Beine gestellt wurde, Cottbus das beste Theater hatte und in Jena eine aufmüpfige

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Intelligenz zu Hause war, muss Provinz nicht den Charakter haben, den Volker Braun beschreibt, wenn er meint: „Provinz - das ist der leere Augenblick. Geschichte auf dem Abstellgleis. Status quo. Was uns ersticken machen kann: aus der bewegten Zeit in eine stehende zu fallen." (Braun 1988) Aber unter Bedingungen von Schrumpfung, sozialer Diskrepanz, Abwanderung usw. erscheint diese Beschreibung als nicht unrealistisch. Nach einer besonderen Begabung zu fragen, ist mit der Profilierung eines Ortes verbunden, wenn man Stillstandsgebiete in Bewegung setzen will. Die Konkurrenz unter den Kommunen/Städten/Dörfern nimmt zu. Keine Stadt wird in Zukunft alle Aufgaben, die auf sie zukommen, alleine bewältigen können. Und Zukunftssicherheit kann sie nur gewinnen, wenn sie danach fragt, was ihre besondere Begabung im Vergleich zu anderen Städten ist und wo sich Kooperationen mit anderen Kommunen zum gegenseitigen Vorteil anbietet. Kleinprojekte

Manchmal ist die besondere „Begabung", die zu einer neuen Lebensqualität fuhrt, die Landschaft, die einen Ort umgibt, manchmal kann die besondere „Begabung" in der Bildung und den Aufwachsbedingungen der Kinder und Jugendlichen liegen, und manchmal im sozialen Zusammenhalt der Menschen. Soziale Netzwerke, wie sie im Programm „Kleinprojekte" (Programm der DKJS gemeinsam mit dem Land Mecklenburg·Vorpommern) entstehen, fuhren zu solchen Standortvorteilen, weil sie nicht nur „Investitionsgüter" sind, sondern in vielen Fällen direkt zu Konsumwerten werden. Dem Programm „Kleinprojekte" liegt die Überlegung zugrunde, dass der soziale Zusammenhalt in einem Ort, einer Kommune in strukturschwachen Gebieten ein wichtiger Erfolgsfaktor auch für die ökonomische und soziale Stabilität ist. Arbeitslosigkeit ist das wichtigste Stichwort des Programms. Es bedeutet für die betroffenen Menschen häufig Resignation und soziale Ausgrenzung. Das hat zur Folge, dass die Potentiale und Ideen von Menschen ungenutzt bleiben und der regionalen Entwicklung verloren gehen. „Kleinprojekte - Lokales Handeln für Beschäftigung" unterstützt mit Zuschüssen bis zu 10.000 Euro unbürokratisch und flexibel die Ideen von Personen, Initiativen und Trägern, die das „soziale Kapital" - die Potentiale der Menschen - für Beschäftigung und Integration in ausgewählten Regionen stärken können. Selbsthilfeinitiativen, intergenerative Projekte in Dorfgemeinden oder das Projekt „Junges Wismar", bei dem 30 junge Wismarer gemeinsam mit Stadtplanem, Architekten, Künstlern und Jugendclubs einen Stadtplan für Jugendliche herausgeben, sind Beispiele dafür. Das Programm richtet sich an kleine Vereine, informelle Gruppen und Privatpersonen, die in ihrem lokalen Umfeld ein Vorhaben realisieren, das zur beruflichen und gesellschaftlichen Integration von Jugendlichen und jungen Erwachsenen beiträgt. Das ist kein Zufall. Es ist gewollt und in der Praxis gelungen, die lebensweltliche

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und die individuelle Dimension miteinander zu verbinden. In fast allen Projekten berichten die Beteiligten, dass sie ihre Resignation überwinden und Selbststärke aufbauen konnten und sich sozial viel besser integriert fühlen. Und auch die gewollten Nebeneffekte haben sich eingestellt. Aus sozialen Projekten heraus sind nicht selten wirtschaftliche Ideen entstanden, die durchaus tragfähig sind. Insgesamt betonen 42,4% der Befragten in der Evaluation, dass in der Projektarbeit völlig neue soziale Beziehungen hergestellt wurden. Etwa ein Drittel der Befragten betont den Nutzen, den die Kleinprojekte nicht nur für die unmittelbar Beteiligten, sondern auch für den Ort generell bzw. die Allgemeinheit haben (Boettner 2006: 69). Die Evaluationsstudie von Kleinprojekte zeigt weiter, dass sich im Kleinprojekte-Bereich der sozialen Stadtentwicklung überwiegend ehrenamtlich engagierte und in Vereinen organisierte Personen beteiligen. Es gelingt also, vorhandene Ressourcen im Stadtteil, der Stadt oder dem Dorf zu mobilisieren, zu vernetzen und im Sinne langfristiger Angebots- und Hilfsstrukturen zu gestalten. Da nehmen sich zum Beispiel die Einwohner eines Dorfes vor, ihr ganzes Dorf zu einem „Kunst-Dorf" zu machen. Da gründen in Wismar Kunsthandwerkerinnen und Kunsthandwerker eine Gemeinschaft, deren Arbeitszentrum nicht nur die gemeinsamen Werkstätten sind, sondern zu denen soziale Treffpunkte ebenso gehören wie Berufsorientierungsprojekte für Jugendliche und Arbeitslose. Da gibt es den Vater, der mit dem Sohn die Idee umsetzt, spezielle Futtermittel zu produzieren und zu verkaufen. Da gibt es in einem Dorf einen überdachten Treffpunkt in der Dorfrnitte, ein Labyrinth aus Feldsteinen, das mittlerweile zu einer touristischen Attraktion geworden ist, Kalender und Postkarten von den Dorfattraktionen, die sich gut verkaufen, die Organisation des Ganzen durch buchstäblich alle Bewohner im Dorf, etc. Die Ingredienzien für solche erfolgreichen Projekte sind immer dieselben: von den Bedürfnissen der Betroffenen ausgehen, einen starken Lebensweltbezug herstellen, nicht ausschließlich die Institutionen zur Zusammenarbeit bewegen, sondern den Menschen Anlässe und Gelegenheiten bieten, Verantwortung für die eigenen Belange zu übernehmen, dabei gefördert und begleitet werden, Eigeninitiative fördern, Anerkennung geben, voneinander lernen können, Partizipation, etc. Lebenswelt Schule

Da gibt es das Programm Lebenswelt Schule, das die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung gemeinsam mit der Jacobs Foundation realisiert. Vier Modellkommunen entwickeln mit dieser Unterstützung ihre Bildungslandschaften weiter. Ein dafür notwendiger erster Schritt ist, dass sich zentrale Akteure an einen Tisch setzen, um zu überlegen, welche Art der Bildung sie für richtig, angemessen und notwendig halten. Was sind die Werte, auf denen der Bildungsprozess beruht? Wie können Kinder und Jugendliche selbst zu Mitgestaltem ihres Lernwegs werden? Wie können Übergänge so gestaltet werden, dass an den bereits vorhandenen und entwickelten Stärken angesetzt werden kann?

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Heike Kahl

Dieser Verständigungsprozess, der Bildung zu einem öffentlichen Gut macht, das im öffentlichen Diskurs reflektiert und weiter entwickelt wird, ist, das zeigen die ersten Erfahrungen, eines der Erfolgsgeheimnisse dieses Programms. Denn es ist ja keineswegs selbstverständlich, dass der Baudezernent, der Schulleiter, die Erzieherin in der Kita, die Mutter, die Sozialdezernentin das Gleiche meinen, wenn sie von „guter Bildung" sprechen. Diese Verständigung ist eine Grundlage auch für weitere Schritte: Für die Weiterentwicklung kommunaler Strukturen (etwa den Aufbau eines Bildungsmanagements), die politische Neubewertung des Themas Bildung und, diesem folgend, die Bereitstellung weiterer Ressourcen.

4.

Partizipation - ein Zauberwort

Statt eines Schlusswortes

Teilhabe oder Partizipation ist ein beliebtes Schlagwort. Aber oft steckt nicht drin, was draufsteht, oder was als Teilhabe verstanden wird, ist nicht so, wie es verstanden werden sollte. Für die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung ist Partizipation ein Querschnittsthema in all ihren Programmen. Und fast alle Programme, die wirkungsvoll sind und Effekte weit über das Programm hinaus haben, sind getragen durch erfolgreiche Formen, Jugendliche, Eltern, Lehrer, aber auch unterschiedliche Institutionen an der Arbeit zu beteiligen - und nicht erst, wenn alles schon entschieden und die wichtigsten Entscheidungen gefallen sind, nicht in legitimatorischer Form. Die Stiftung schafft Bedingungen und Anlässe für Beteiligung. Im Programm SPIELRAUM, von dem ich berichtet habe, sind die Jugendlichen von Anfang an in die Planung des Platzes miteinbezogen worden. Es war für viele von ihnen das erste Mal, dass nach ihren Vorstellungen und Wünschen gefragt wurde. Schließlich sind sie doch die Spezialisten für den Ort, an dem sie sich viele Stunden am Tag aufhalten. Sie haben sofort verstanden, dass es diesmal ernst gemeint ist. Und die Erfahrung von ernsthaftem Fragen und Zuhören, Reflektieren und Abwägen hat sie wachsen lassen. Die Jugendlichen haben Verantwortung übernommen und viele Dinge in eigener Regie geleistet. Der Platz ist zu ihrem Platz geworden. Er spiegelt das wider, was sie sich gewünscht und was sie sich selbst erarbeitet haben. Refik, einer der Jugendlichen, sagt: „Das ist was schönes, wenn man selber mal so seinen Senf dazu geben kann. Weil das ja auch was für uns ist. Für andere und unsere kleinen Geschwister, das ist für jeden." Und Samya: „Ja natürlich bin ich stolz drauf. Weil ich zum Beispiel auch mitgemacht hab und andere Leute auch mitgemacht haben und es so gut geklappt hat." Sie sind im Prozess der Arbeit durch Mitarbeiter des Vereins Gangway begleitet, beraten, motiviert, getröstet und in fairer Weise kritisiert worden. Immer war es ein respektvolles und achtungsvolles Miteinander.

Der Traum vom glücklichen Miteinander

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Und die Eltern? Wie schwer ist es, Eltern, die selbst in nicht einfachen Umständen leben, einzubinden und zu begeistern. Hier ist es gelungen, weil die Eltern im Projekt nicht in ihrer Rolle als Aufsichtspflichtige gefragt waren, nicht im sie Überfordemden Kontext einer Elternversammlung befragt wurden, sondern mit dem eingeladen waren, was sie konnten und wobei sie sich wohl fühlten. So ist auch ihre Neugier gewachsen. Sie haben mitgearbeitet, haben gekocht und zusammen Nachmittage verbracht. Sie waren stolz auf ihre Kinder, vielleicht auch das zum ersten Mal. Und die beteiligten Ämter und Verwaltungen? Sie haben die Erfahrung gemacht, dass auch ihre Arbeit wertgeschätzt wird, dass es lohnend ist, sich einzusetzen, dass Arbeit leicht und freudvoll sein kann, dass Nachhaltigkeit entsteht, wo sonst oft nur kurzfristige Effekte erzielt werden. Ämter, deren Wirken sich oftmals auf das Verwalten beschränkt, haben ihr Rollenverständnis in der konkreten Arbeit geändert, haben Moderationsrollen übernommen, dafür gesorgt, dass auch andere Verwaltungen Feuer fangen, sind vom Angebotsgeber zum Ermöglicher geworden. Sie haben es genossen, konkrete Rückmeldungen zu erhalten und selbst Teil von Praxisprozessen zu sein. Und auch unter Ressourcengesichtspunkten war es für sie eine wohltuende Erfahrung, dass Wirkung sich multipliziert, wenn die begrenzten Mittel einzelner Ressorts gemeinsam und aufeinander abgestimmt eingesetzt werden. Claus Offe spricht, wie erwähnt, von „Vertrauen", das sich nicht in der Abwesenheit von Misstrauen erschöpft, sondern davon ausgeht, dass Menschen umgänglich und einander wohlgesonnen sind und sich aus Kooperation und gemeinsamen Handlungen heraus Sinn stiften lässt und gegenseitiger Nutzen entstehen kann. Er spricht von „Aufmerksamkeit" in Bezug auf alle öffentlichen Angelegenheiten. Und er spricht von „Engagement" in informellen Netzwerken, Vereinen, bei Aktivitäten zum gemeinsamen Nutzen als wichtiges Element für Sozialkapital (Offe/Fuchs 2001: 419). Und so schließt sich der Kreis.

Literatur Boettner, Johannes (2006): Kleine Projekte in Mecklenburg-Vorpommern - Eine nutzerorientierte Untersuchung des ESF-Programms „Kleinprojekte: Lokales Handeln für soziale Zwecke", Reihe C, Bd. 20, Neubrandenburg, http://www.kleinprojekte-mv.de/cms/uploads/ files/Kleine_Projekte_in_MV_Untersuchung_der_Hochschule_Neu-brandenburg.pdf (25.11.2009) Braun, Volker (1988): Rimboud, Ein Psalm der Aktualität. In: Braun, Volker: Verheerende Folgen mangelnden Anscheins innerbetrieblicher Demokratie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 116f. Enderlein, Oggi (2009): Um groß zu werden, braucht man als Kind ein ganzes Dorf. In: Bleckmann, Peter/Durdel, Anja (Hrsg.): Lokale Bildungslandschaften. Wiesbaden: Verlag fur Sozialwissenschaften, S. 159-178.

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Heike Kahl

Hallet, Wolfgang/Neuman, Birgit (Hrsg.) (2009): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Tum. Bielefeld: Transkript Verlag. Kahl, Reinhard (2009): Kann denn Schule schön sein? In: Zeit online, 08. Sept. 2009. http:// www.zeit.de/gesellschaft/schule/2009-09oecd-schule-potsdam (25.11.2009) Offe, Claus/Fuchs, Susanne (2001): Schwund des Sozialkapitals? Der Fall Deutschland. In: Putnam, Robert D. (Hrsg.): Gesellschaft und Gemeinsinn. Sozialkapital im internationalen Vergleich. Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung, S. 417-514. Putnam, Robert D./Goss, Christin A. (2001): Einleitung. In: Putnam, Robert D. (Hrsg.): Gesellschaft und Gemeinsinn. Sozialkapital im internationalen Vergleich. Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung, S. 15-43. Reimann, Brigitte (1998): Franziska Linkerhand. Berlin: Aufbau Verlag. Reimann, Brigitte (2001): Alles schmeckt nach Abschied. Tagebücher 1964-1970. Hrsg. von Angela Drescher. Berlin: Aufbau Verlag. Reimann, Brigitte/Henselmann, Hermann (2001): Mit Respekt und Vergnügen. Briefwechsel. Hrsg. von Ingrid Kirschey-Feix. Berlin: Aufbau Verlag.

VI. Handlungsansätze

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Bürgerbeteiligung und konzeptionelle Planung von Detlev Ipsen

1. Einführung In seinem berühmten Buch „De la democratic en Amerique" analysiert Alexis de Tocqueville Chancen und Gefahren der Demokratie in den Vereinigten Staaten von Amerika. Er zeigt Risiken der Demokratie auf, die heute noch existieren. Die Gefahr, dass Mehrheiten Minderheiten „tyrannisieren", sieht er durch die aktive Teilnahme der Bürger eingedämmt. Partizipation ist also aus dieser Sicht nicht irgendeine Form der Demokratie, sondern das wichtigste Korrektiv einer formal verfassten Demokratie. Auf die räumliche Entwicklung von Städten und Regionen übertragen, wird durch Partizipation die Planung möglicherweise auch fachlich reichhaltiger und entfaltet eine höhere Problemlösungskapazität. Im Sinne Tocquevilles trägt sie dazu bei, die möglichen Fehler von Mehrheitsentscheidungen zu vermeiden. Jürgen Habermas arbeitet in seiner Theorie des kommunikativen Handelns einen weiteren theoretischen Aspekt der Partizipation heraus. Die Lebenswelt, das selbst erarbeitete und praktizierte Wissen um die Welt, ist immer in Gefahr, durch systemische Faktoren „kolonisiert" zu werden. Das ökonomische und das politische System durchdringen die Lebenswelt jedes Einzelnen und gefährden so das sich dort akkumulierende kreative Potential. In diesem Sinne ist Partizipation „kommunikatives" Handeln, mit dem sich nicht nur Problemlösungen erarbeiten lassen, sondern das die Lebenswelt des einzelnen Bürgers als Wissens- und Handlungsressource zur Grundlage der Planung macht. Es ist mir wichtig, mit diesen beiden theoretischen Verweisen deutlich zu machen, dass Partizipation nicht nur eine instrumenteile Bereicherung der Planung ist, sondern ein Weg zu einer kreativen Raumentwicklung. In diesem Beitrag will ich kurz auf den theoretischen Hintergrund der Partizipation in Deutschland eingehen, um vor allem auf den „spatial turn" der zivilgesellschaftlichen Entwicklung hinzuweisen. Das eigentliche Thema ist aber, ob und wenn ja, wie der räumliche Kontext der Bürgerbeteiligung für die Art und Form der Beteiligung von Bedeutung ist. Dabei beziehe ich mich vornehmlich auf Planungsprojekte, an denen ich beteiligt war. Es handelt sich um kleinere Siedlungen und Städte sowie um Regionen und Landschaften. Nur in einem eher forschungsorientierten Fall beziehe ich mich auf größere Städte (Toronto und Berlin).

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2.

Detlev Ipsen

Theoretischer Hintergrund: Ansätze einer Theorie kommunikativer Planung

Ansätze einer kommunikativen Planungstheorie thematisieren den Schnittpunkt zwischen der Planungsbürokratie und gesellschaftlichen Akteuren. Sie stellen das hierarchische Verhältnis zwischen beiden Ebenen in Frage und formulieren Grundsätze für veränderte Formen der Problembearbeitung unter Einbeziehung aller relevanten Akteure. Für unser Projekt ist die Frage relevant, inwieweit die Anerkennung kultureller Vielfalt und Differenz in den Ansätzen einer kommunikativen Planungstheorie berücksichtigt bzw. aufgehoben ist. Vorliegende Ansätze kommen in erster Linie aus dem angelsächsischen Raum (Friedmann 1989; Forester 1989; Sager 1994; Innes 1995; Healey 1993). Im deutschsprachigen Raum lassen sich vorwiegend induktive und pragmatische Ansätze erkennen (Dienel 1971; Seile 1996; Fassbinder 1997), die sich insbesondere aus der begrenzten Steuerungsfähigkeit der Planung herleiten (Fürst 1996). Die vorliegenden angelsächsischen Ansätze stützen sich im Wesentlichen auf die gesellschaftstheoretischen Arbeiten von Jürgen Habermas (1962, 1981, 1990). Habermas' Demokratietheorie, in der die diskursive Meinungs- und Willensbildung sowie der Begriff der politischen Öffentlichkeit unter Einschluss der Zivilgesellschaft zentrale Kategorien sind, schien geeignet, eine Demokratisierung der Planung zu begründen (Friedmann 1989; Forester 1989; Sager 1994; Innes 1995; Healey 1993). Habermas' Diskursethik (1981) lieferte die Grundlagen für kommunikative und verständigungsorientierte Formen in der Planung. Das Leitbild einer kooperativen Planung („collaborative planning") unter Beteiligung aller relevanten Akteure, der Berücksichtigung ihrer -vielfältigen lebensweltlichen Interessen und der Schaffung von politischen Kommunikationsund Kooperationsstrukturen, wie es von Healey formuliert wurde (Healey 1997), ist auch kultursensibel. Ein Begriff von Stadt, mit dem sich die Bewohner identifizieren können, erfordert nach Patsy Healey die Vielfalt der städtischen Akteure in der Gestaltung von Stadt zu repräsentieren sowie die Vielfalt der (Be)Deutungen von Stadt anzuerkennen, denn: „There are many cities which could be imagined and articulated as expressions of,the city'." (Healey 2002: 1778) Ein breiter Diskurs gilt der Frage nach Rationalität und Macht in Planungsprozessen (Forester 1999; Fainstein 2000; Flyvbjerg 1998; Renn 1996). In zahlreichen Arbeiten wird zudem das Handeln von Planerinnen und Planern unter den Aspekten Ethik und Ausübung von Macht thematisiert (Healey 1992; Forester 1999; Vigar; Healey 2002). Hierbei wird auch auf den strukturalistischen Ansatz von Anthony Giddens rekurriert (1984, 1990). Über die demokratietheoretisch und ethisch begründeten Ansätze hinaus weist Leonie Sandercocks Vision einer offenen Stadt (cosmopolis) (1998). Die von ihr eingeforderte Anerkennung kultureller Vielfalt („cultural politics of difference") schließt jenseits von politischen Verteilungs- und Entscheidungsmustern Formen der Arbeitsteilung sowie den Umgang mit (fremden) Kulturen ein. Eine Politik der Differenz wird unter dem Stichwort der „cultural citizenship" thematisiert (McGuigan

Bürgerbeteiligung und konzeptionelle Planung

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1996; Delanty 2000) und als Voraussetzung für eine gleichberechtigte interkulturelle Kommunikation verstanden. Nach John Rex (1998) handelt es sich hierbei um den Integrationsmodus einer „kulturautonomen Integration". Unser Raumbegriff beinhaltet die Schaffung von raumwirksamen Entscheidungen (.place making' im Sinne von Healey (1998, 2002)). Kultursensible Planungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Vielfalt der kulturellen Gruppen repräsentieren. Wenn auch in den meisten Ansätzen kommunaler Planung nicht explizit formuliert, sind kulturspezifische Interessen und Sichtweisen im demokratietheoretischen (pluralen) Ansatz doch vorhanden. Für die Entwicklung von Formen der räumlichen Partizipation, also der Entwicklung in Städten, Regionen und Landschaften, sind die vorgestellten Ansätze von großer Bedeutung. Die Bildung von Raum- und somit Verteilungsmustern (spacing) bestimmen die Chance für die Bildung von kulturellen Clustern, ihren Abschließungsgrad bzw. ihre Offenheit. Die spezifische Art der Ortsbildung (placing), die in die raumstrukturellen Gegebenheiten eingebettet ist, bestimmen die Möglichkeit für das kollektive Handeln der jeweiligen soziokulturellen Gruppen und die sich daraus ergebende städtische oder teilstädtische Lebensqualität sowie die soziale Distanz zwischen den soziokulturellen Gruppen, den Austausch zwischen ihnen bzw. die gegenseitige Ausschließung (Marcuse 1997, 1998; Kronauer 2002; Bremer 2000; Elias, Scotson 1990). Eine theoretische wie empirische Schwäche ist, dass sich die Forschungsansätze, die sich mit der Auseinandersetzung um die Verfügung des Raumes, mit Aneignung und Exklusion beschäftigen (spacing) sowie diejenigen, die sich auf .placing' beziehen, von wenigen Ausnahmen abgesehen (Healey 1997; Ghilardi 2001) kaum aufeinander beziehen. Dies gilt insbesondere für die deutsche Debatte. In der englischsprachigen Diskussion um .placing' spielt dagegen Macht, Herrschaft, Gender etc. und damit Exklusion und Aneignung eine stärkere Rolle. Für die Frage nach Chance, Form und Inhalt von Partizipation ist dies jedoch entscheidend, da die Durchlässigkeit, die Ausstrahlung und Vernetzung kultureller Orte mit der Gesamtstadt darüber entscheiden, ob interkulturelle Kommunikation stattfindet. Der soziologische Kontext der Partizipation kann homogen oder heterogen sein. In einem sozial homogenen Raum stehen tendenziell einheitliche Interessen einem geplanten Entwicklungskonzept entgegen. Dies war beispielsweise häufig bei partizipativen Verfahren zur Sanierung und Stadterneuerung der Fall. Anders ist dies in sozial und kulturell heterogenen Räumen. Hier ist die Partizipation der Bewohner bei den Planungen auf jeden Fall schwieriger. Auf der anderen Seite sind im Falle einer aktiven Partizipation die Nebenwirkungen bedeutsam. Wenn sozial und kulturell heterogene Gruppen in einem Quartier ins Gespräch kommen, dann wird auf diese Weise die kulturelle Komplexität produktiv verarbeitet. Der Nebeneffekt der Partizipation ist dann erheblich, da kulturelle Vielfalt, wenn kommunikativ vermittelt, ein wesentliches innovatives Kapital von Städten und Quartieren ist.

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Für die Ortsbildung und die damit verbundenen Chancen der Aneignung oder Verdrängung formulierte Pierre Bourdieu den Zusammenhang von kulturellem, sozialem und ökonomischem Kapital und verwies damit darauf, dass Orte als Ressourcen „sozial strukturieren", also in einem unmittelbaren Verhältnis zur Machtverteilung und ökonomischen Akkumulation in einer Stadt stehen (Bourdieu 1998). Orte können Fokus und Heimat bestimmter Milieus und Kulturen sein, wenn sie so gestaltet und organisiert sind, dass sich Menschen mit ihnen identifizieren, interne Kommunikationsnetze aufbauen und von dieser Position aus nach „außen" wirksam werden. Und schließlich ist für die Frage nach Form und Dynamik der Partizipation der prozessorientierte Ansatz einer „collaborative planning" im Sinne von Healey wichtig, der mit Bezug auf den demokratietheoretischen Ansatz Habermas' auf die diskursive Meinungs- und Willensbildung unter Einschluss der Zivilgesellschaft sowie die Schaffung politischer Kommunikations- und Kooperationsstrukturen abzielt. Vor dem Hintergrund der kulturellen Vielfalt moderner Städte und der Anerkennung kultureller Vielfalt im Sinne von Sandercocks „cultural politics of difference" gewinnt eine derartige Politik der Differenz grundlegende Bedeutung für die Herausbildung von interkulturellen Kommunikations- und Kooperationsstrukturen und damit einer städtischen Metakultur. Grundsätzlich sind mit Partizipation zwei Typen von Partizipation gemeint: Partizipation bezieht sich zum einen auf die Kontrolle und mögliche Korrektur von Plänen, wie es die kommunale Politik vorsieht. Diese Beteiligung ist zum einen formal geregelt, zum anderen sind solche Pläne häufig Anlass für die Bildung von Bürgerinitiativen. Man kann dies eine reaktive Partizipation nennen. Zum anderen gibt es Initiativen, die von der Politik, von der Verwaltung, von Vereinen, Kirchen oder einem Kern aktiver Bürger und Bürgerinnen ausgehen. Sie beziehen sich auf wahrgenommene Probleme (Verkehrslärm, Hausleerstand, Zuwanderung, fehlende Infrastruktur etc.). In diesem Fall werden die Bürger aktiv und fordern das Handeln von Politik und Verwaltung ein. Dies kann man eine aktive Partizipation nennen. Im dritten Fall schließlich sehen die Politik bzw. Teile der planenden Verwaltung Handlungsbedarf, um einen Teilraum oder eine (meist kleinere) Stadt auf die Zukunft hin zu orientieren. Daraus kann eine konzeptionelle Partizipation entstehen, bei der Parteien, Institutionen sowie Bürger und Bürgerinnen kooperieren. Dies kann man eine kooperative Partizipation nennen.

3.

„Sache" und „Raum" als Kontext der Beteiligung. Fallstudien

Man kann vermuten, dass die örtliche Lage und die Inhalte von vorhandenen Problemen oder bevorstehenden Entscheidungen die Art und den Typus der Beteiligung mitbestimmen. Bei dem Gegenstand der Partizipation kann es sich um sektorale Fragen und Probleme wie Verkehr oder Bildung handeln oder um allgemeine Entwicklungsperspektiven. Entsprechend bestimmt sich auch die Rolle des Raumes bei der Partizipation. Sektorale Fragen sind eher weniger, Entwicklungsperspektiven dage-

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gen stärker auf Räume bezogen. Aber auch die raumbezogene und konzeptionelle Partizipation, die hier im Mittelpunkt steht, ist verschieden, weil die mit einer Gemeinde, einer Stadt oder einem Quartier verbundenen „Eigenarten" und „Problemlagen" die Art der Partizipationsverfahren prägen. Im Folgenden wird die Partizipation in einzelnen Gemeinden, Kleinstädten und einem Großstadtquartier untersucht, um die unterschiedlichen Typen partizipativer Verfahren deutlich zu machen. 1 3.1 Aktivierende Beteiligung: Ortsidentität und Lebenswelt - Spangenberg braucht die Altstadt

Bei einer Veranstaltung für Gemeinderäte hielt ich an der Volkhochschule in Melsungen (Hessen) einen Vortrag zur Geschichte der Modernisierung des ländlichen Raumes in Hessen. Ich berichtete über Leitbilder oder, wie wir es nennen, Raumbilder für die Entwicklung des ländlichen Raumes in den 1950er und 1960er Jahren. In zahlreichen Broschüren wurden damals „Feindbilder" - wie es nicht mehr sein soll - und „Zukunftsbilder" entworfen. Das Feindbild war das traditionelle Dorf mit dem Misthaufen vor dem Haus und Linden auf dem Dorfplatz. Das Eigentümliche daran ist nun, dass die Feindbilder von gestern auf uns heute wie Idyllen wirken und zum Teil auch wieder in Vorschläge für Dorferneuerungen eingehen. Innerhalb von fünfundzwanzig Jahren haben sich die Vorstellungen über das „richtige Leben und die gute Planung" verändert. In dieser Situation sind wir eingeladen worden, über die Zukunft der Kleinstadt Spangenberg nachzudenken. Wohin soll es gehen? Was ist zu tun? Die Aufgabe des Projektes ist es also, an einem Bild für die Zukunft mitzuarbeiten, der Zukunft ein Design zu geben. Ein Bild entsteht aber nicht am Grünen Tisch, sondern durch den Austausch von Erfahrungen und Wünschen, durch Dialog. Um diesen Dialog zu organisieren, wurde ein Beirat aus dreizehn Bürgerinnen und Bürgern gegründet, die über ein Jahr lang die Untersuchungen begleiteten und Diskussionen über die Zukunft des Ortes führten. In mehreren Aktionen und öffentlichen Diskussionen wurde die breitere Öffentlichkeit in diese Diskussionen mit einbezogen. So haben Schülerinnen und Schüler mit einer Ausstellung einen Bogen zu den 1950er und 1960er Jahren geschlagen, um Zeit und Raum als Koordinaten der Entwicklung bewusst zu machen. Viele Bürgerinnen und Bürger haben uns in Gesprächen ihre Erfahrungen, Probleme und Wünsche mitgeteilt und in einer repräsentativen Umfrage mittels Fragebögen ihre Bewertung der Gegenwart sowie ihre Vorstellungen für die Zukunft mitgeteilt. In zahlreichen Diskussionen mit Politikern und Bürgerinnen im Beirat wurden die Ergebnisse zusammengetragen und Bilder für eine zukunftsfähige Entwicklung entworfen.

1

Der Verfasser war bei diesen Beteiligungsverfahren als Berater tätig oder hat die Verfahren als Moderator begleitet. In einigen Fällen wurden dazu vorab vom Verfasser Umfragen durchgeführt, um repräsentativ die Problemlagen, Erwartungen und Forderungen von Bürgerinnen und Bürgern zu erheben.

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Das Partizipationsprojekt in Spangenberg diente nicht der Entwicklung v o n Konzepten oder einzelnen Projekten. Die vielen offenen Gespräche, eine Umfrage, aber vor allem die Arbeiten der Schülerinnen und Schüler hatten zum Ziel, die Aufmerksamkeit der Bürgerinnen auf ihre Stadt zu lenken. Die Schülerinnen wurden gebeten, ihre Eltern und Großeltern zu fragen, ob sie auf den Dachböden und in den Kellern nach Gegenständen suchen könnten. Das Vorhaben, über die Schule die Eltern und Verwandten zu erreichen, war erfolgreich. In einer gemeinsam gestalteten Ausstellung wurden die Ergebnisse dieser Suche präsentiert. Eltern und Freunde kamen zur Ausstellungseröffnung und sahen sich Gegenstände und Bilder aus der Geschichte und Entwicklung der Stadt an. Die Stadt war für einen Tag Thema. Diese Beteiligung diente nicht so sehr der Diskussion einer Planung, sondern der Selbstversicherung darüber, w o man lebt, welche Geschichte man hat und in ersten Ansätzen, wie man in Zukunft leben will.

3.2 Alheim - unternehmende Partizipation Die Zielsetzung der Partizipation in der Gemeinde Alheim war noch weiterführend. A u f einer Bürgerversammlung wurden Fragen zur Zukunftsgestaltung diskutiert. Dabei ging es um verschiedene Bereiche und Gruppen wie die Zukunft der Jugend, der Frauen, der Landwirtschaft etc. So baute eine Jugendgruppe unter Anleitung des Sozialarbeiters entlang eines Baches eine Wasserlandschaft, eine Gruppe ehemaliger Bergleute machte einen Schacht für Besucher zugänglich, Dozenten und Studierende einer Bildungseinrichtung bauten einen Pavillon, aktive Bürger und ein Gastwirt planten und realisierten einen Dorfplatz, andere einen Dorfladen. Wesentlich für den weiteren Verlauf einer durch die Bürger getragenen „unternehmenden Partizipation" war die Weltausstellung in Hannover und die damit möglich gewordene Bewerbung um externe Projekte. Das Dorf Oberellenbach gehörte zu den beiden externen EXPO-Projekten, die im Gebiet der Gemeinde Alheim durchgeführt wurden. Thema dieses EXPO-Projektes war die soziale und wirtschaftliche Entwicklung des Dorfes durch kooperatives Handeln. Zu den konkreten Projekten zählten die Vermarktung v o n landwirtschaftlichen und handwerklichen Produkten, eine heilpädagogische Einrichtung und die Wiederbelebung des Dorfes durch einen Dorfladen. Im Nachbarort Licherode wurde das ökologische Schullandheim mit dem Thema „Region als natumaher Lernort" zum zweiten EXPO-Projekt der Gemeinde Alheim. Parallel dazu entwickelte die Gemeinde das Fremdenverkehrsprojekt „Landschaft erfahren": Landschaft sollte durch eine bewusste Akzentuierung ästhetisch und intellektuell erfahrbar werden. Die Erfahrungen bezogen sich auf die Landschaftsgeschichte, auf Wasser, die Beziehung zwischen Tier, Mensch, Landschaft sowie auf andere Projekte, die zu diesem Zeitpunkt durchgeführt wurden. Wichtig ist dabei, dass mit der erfolgreichen Bewerbung um externe Expo-Projekte eine Professionalisierung stattfand. Kennzeichnend dafür war die Durchführung eines wissenschaftlichen Kolloquiums in einem Ortsteil der Gemeinde. In den Unterla-

Bürgerbeteiligung u n d k o n z e p t i o n e l l e P l a n u n g

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gen heißt es: „Der Gemeine Alheim ist aus diesem Grunde daran gelegen, die Beziehung von Dorf und Landschaft in einem wissenschaftlichen Kolloquium und einer öffentlichen wissenschaftlichen Tagung zu diskutieren." Auf der Tagung „Dorf und Landschaft 2000" sollten die sozialen, wirtschaftlichen und ästhetischen Bedingungen der Beziehung zwischen dem Dorf und der Landschaft thematisiert werden. Die Expo2000 hatte das Motto „Mensch - Natur - Technik". Die unternehmende Partizipation führte auf der einen Seite zu einer erhöhten öffentlichen Aufmerksamkeit, auf der anderen Seite wurde der Kreis derer, die sich aktiv beteiligen, kleiner. Diese Form der Partizipation hat die Tendenz, sich im Laufe der Zeit zunehmend zu professionalisieren.2 3.3 H a n n . M ü n d e n - S y m b o l i s c h e Ziele u n d kooperative P l a n u n g

Wenn man Menschen in Umfragen nach den Umweltproblemen fragt, die sie für wichtig halten, wird Wasser zumeist nicht genannt. Verkehrs- und Lärmbelastung, Luftverschmutzung und Klimawandel sind vielen Menschen als Problem bewusst. In Umfragen, die wir in Dresden und Frankfurt am Main durchführten, nannten durchschnittlich nur 7,6 °/o der Befragten Wasser als Umweltproblem. In Frankfurt waren es sogar nur 3,3% der Bevölkerung, die Wasser für ein wichtiges Umweltproblem halten. 3 Offensichtlich steht die allgemeine und ständige natürliche und technische Verfügbarkeit von Wasser, die häufigen Niederschläge, die vollen Bäche und Flüsse sowie das ständig abrufbare Wasser im Haushalt im Widerspruch zu der Vorstellung, Wasser könnte ein Problem sein. Wer sich mehr mit der Welt beschäftigt, weiß um die sich ausbreitenden Wüsten, erinnert sich an die Dürren in der Sahelzone und in Somalia, er hat von den Konflikten um das Jordan- und Euphratwasser gehört. Aber was sollte das Problem mit Wasser in Mitteleuropa, in Deutschland sein? In der Tat ist das Wasserproblem in mitteleuropäischen Städten in der Regel kein Mengenproblem, obgleich Wasser der größte Stoffstrom ist, der die Städte durchfließt. Das zentrale Problem in Mitteleuropa ist nicht ein allgemeiner Mangel, sondern der Mangel an Wasser in hervorragender Qualität sowie die Verunreinigung der Gewässer, die weit über die Selbstreinigungsfähigkeit der Bäche oder Flüsse hinausgeht. Offensichtlich hat man sich in den letzten Jahrzehnten daran gewöhnt, dass sich Flüsse nicht zum Baden und Quellen nicht zum Trinken eignen. Selbst dem Wasser aus der Leitung wird misstraut. Über 84°/o trinken nie oder nur selten Wasser aus dem Wasserhahn. Gerade weil das Wasser aus dem Hahn oder der Flasche kommt, gibt es in der Öffentlichkeit kein Bewusstsein von und kein Wissen über Wasser. So werden viele Bereiche 2 3

Die Gemeinde widmet sich heute vor allem der Produktion von Solarenergie. Ein Teil dieses Beitrages fußt auf einem vom Bundesforschungsministerium geförderten Projekt. Die Ergebnisse sind veröffentlicht in: Ipsen/Cichorowski/Schramm (Hrsg.) 1998.

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des unmittelbaren Lebens zunehmend der zivilen Kompetenz entzogen und staatlichen und städtischen Bürokratien übergeben. Der zivilisatorischen Umwandlung zur modernen Stadt entspricht ein Prozess der „Entzivilisierung". Die Verantwortung der Haushalte und Nachbarschaften für die Wasserversorgung und die Beseitigung der Fäkalien werden von staatlichen Institutionen übernommen. Zum anderen verschwindet die technische und natürliche Seite dieses Prozesses zu großen Teilen aus dem Gesichtsfeld der Bürgerinnen und Bürger. Woher das Wasser kommt und wohin es fließt, lässt sich auf der Ebene des einzelnen Haushaltes nicht mehr erkennen; genauso ist es mit Lebensmitteln und der Energie. Ein bedeutender Teil des städtischen Lebens ist nicht mehr direkt sichtbar. Erfahrungswissen um natürliche und technische Zusammenhänge des städtischen Lebens geht verloren, neues kann nicht mehr entstehen. Zugleich fächert sich die Zuständigkeit und damit die Beziehung zu den stofflichen Elementen mehr und mehr auf und fuhrt auf der Expertenebene zu einer Verengung der Sichtweisen und einem Verlust an Zusammenhangswissen. Das Wasserproblem spannt sich so zwischen zwei Polen auf: Die stoffliche Seite, die sich als eine Gefährdung der Qualität der Ressource darstellt, und der kulturellen Seite, die durch einen strukturell bedingten Verlust an Problembewusstsein gekennzeichnet ist. Beide Pole sind auf das engste mit der Entwicklung der modernen Stadt verbunden, in der eine technische und administrative Infrastruktur aufgebaut worden ist, um die Naturseite der Stadt möglichst effizient zu regulieren. Um die verschiedenen Aspekte des Wassers und damit auch der Wasserprobleme aufeinander zu beziehen, verwenden wir den Begriff Wasserkultur. Eine nachhaltige Wasserkultur stellen wir uns als eine „Kultur der vielen Wasser" vor. Heute wird in der Regel das gleiche Wasser zum Teekochen, zum Duschen und zum Autowaschen benutzt. Eine nachhaltige Wasserkultur wird für unterschiedliche Zwecke unterschiedliche Wasser bereithalten. In Nutzungskaskaden wird ein und dasselbe Wasser unterschiedlichem Gebrauch zugeführt. Die Bäche in den Städten werden nicht mehr Vorfluter sein und bei starkem Regen Fäkalien und Abfall an den Kläranlagen vorbei in die Flüsse schwemmen. Die Flüsse können dann der Bewässerung, dem Baden, dem Sport und der Erholung dienen und so den Wert der Landschaft vor der Haustür erhöhen. Die nachhaltige Wasserkultur wird neben den „professionellen Wassermachern" auch die Fürsorge und Verantwortung der Bürgerinnen und Bürger benötigen. Nicht nur die Kommune und der Staat werden zuständig sein, sondern alle. Diesen Fragen stellte sich die Stadt Hann. Münden mit dem Projekt „Wasserspuren", das eines der dezentralen Projekte der Weltausstellung EXP02000 war (vgl. Ipsen/ Wehrle 2000: 677-680). Drei innerstädtische Plätze um die Kirche und das Rathaus herum sollten so gestaltet werden, dass die Qualität des Wassers visuell und akustisch erfahrbar wird. Die Stadt, zwischen den Flüssen Fulda und Werra gelegen und in ihrer Geschichte im Guten wie im Bösen durch diese Flüsse geprägt, interpretierte ihre Beziehung zum Wasser neu, und zwar als wichtigen Teil der natürlichen Umwelt. Die städtischen Plätze stehen als von Menschen geformt und gestaltet der letztlich

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unkontrollierten Natur der Flüsse gegenüber. Jetzt sollten sie den Bürgern die Ökologie des gesamten Habitats, der Stadt und der Natur, näher bringen. Das Mittel, den zerrissenen Zusammenhang wieder zusammen zu fugen, ist die Kunst - die Kunst des Städtebaus, der Wasser- und Windskulptur, die gestaltete Klanglandschaft. Die Bühne der gewünschten Begegnung ist die Ästhetik. Um ein solches Projekt umsetzen zu können, muss man neue Wege der Planung beschreiten. Je weniger konventionell und erprobt das Ziel, desto eher muss man eingetretene Wege verlassen. So kam es, dass zur Entwicklung von Ideen fur eine ökologische Ästhetik der Plätze zugleich eine neue Planungskultur erprobt wurde. Planer und Architekten, Künstler, Bürgerinnen und Bürger gingen eine zeitweilige Kooperation ein, um dieses Projekt zu entwickeln und umzusetzen. Von einem externen Moderator, der jedoch mit der Stadt und ihren Gegebenheiten vertraut war, wurde ein Verfahren geleitet, bei dem Planer, Künstler und Bürger in gemeinsamen Workshops Vorschläge entwickelten, die schließlich einer Jury aus externen Fachjuroren und örtlichen Politikern vorgestellt wurden. Dabei sollten nicht nur qualitativ hochwertige Entwürfe entstehen, sondern sich auch Kooperationen zwischen den beteiligten Planern und Künstlern entwickeln. Die Bürger, so erhoffen sich die Initiatoren des Verfahrens, konnten auf diese Weise nicht nur in die Planung und Konzeption eingebunden werden, sie wurden vielmehr selbst zu Akteuren und damit zu Multiplikatoren der Planungsidee. Politik und Verwaltung schufen die notwendigen Rahmenbedingungen für das Verfahren und begleiteten es mit großem Interesse. Wir bezeichnen diese Form von Planung als „deep participation". „Deep participation" heißt, dass die Bürger an der Planung nicht nur beteiligt sind, sondern aktiv den Prozess und das Ergebnis mitbestimmen. Sie beurteilen und bewerten nicht nur die Vorstellungen von Politik und Planung, sondern gestalten, wie andere Akteure auch, diese Vorstellungen mit. Das bedeutet, dass sich die Bürger durch ihre Teilnahme fachlich qualifizieren und ihre Interessenlage damit eine fachliche Sicht erhält. Doch nicht nur die Grenze zwischen Bürgern und Planung, auch die zwischen unterschiedlichen Planungsperspektiven wird überschritten. Künstler, Freiraumplaner, Architekten, Bürgerinnen und Bürger arbeiten in einem Team, ohne die Rollen zu wechseln oder zu verwechseln. Verwaltung und Politik lassen einen offenen Prozess mit oft überraschenden Ergebnissen zu. Diese Aktivitäten entwickelten sich nicht von ungefähr. Eine breite Interesseneinbindung der Bürgerinnen und Bürger bereits in der Planungsphase ist eine Investition in die Zukunft. Die Verbundenheit der Bürgerinnen und Bürger mit den Plätzen ist höher, Beschädigungen und Vandalismus sind leichter zu begrenzen. Nicht zuletzt aber profitiert die politische Kultur einer Stadt davon, dass Politik und Verwaltung ihre Diskursbereitschaft unter Beweis stellen. Bereits sehr früh wurden die Bürgerinnen und Bürger - zunächst über die örtliche Presse, später auch durch Informationsveranstaltungen - auf die Umgestaltung hingewiesen und über die Möglichkeit des aktiven Eingreifens informiert. Kurz vor der ersten Vollversammlung, als die Bürgerinnen und Bürger zusammentrafen, die sich

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als Akteure an den Planungsworkshops beteiligen wollten, war ungefähr ein Drittel aller Hann. Mündener über die geplante Umgestaltung informiert. Den Kern der aktiven Beteiligung bildete die Mitarbeit einzelner Bürgerinnen und Bürger in sogenannten Planungsworkshops, in denen gemeinsam mit eingeladenen Planern und Künstlern ein Gestaltungskonzept sowie konkrete Planungsvorschläge erarbeitet werden sollten. So sind Anregungen und Ideen der Bürgerinnen und Bürger in den Planungen zu finden. Diese Vorschläge wurden von einer Jury aus externen Planern und örtlichen Politikern bzw. Mitgliedern der Verwaltung begutachtet und mit Anregungen und Kritik an die Planer und Künstler zur Überarbeitung „zurückgegeben". Die Bürgerinnen und Bürger konnten während des Workshops auch die Ideen aller anderen Gruppen kennenlemen und in einer Gesprächsrunde (ausschließlich „unter sich") über Vorteile und Nachteile der verschiedenen Konzepte diskutieren. Auf diese Weise wurden sie in die „Denklogik" der anderen Konzepte miteinbezogen. Wenn ein solcher Prozess gelingt, können die am Workshop beteiligten Bürger zu Multiplikatoren der in den anderen Planungsteams gesammelten Ideen werden. Um nicht in Interessenskonflikte zu geraten, haben die Initiatoren des Projektes die Strukturierung und die wesentlichen Teile der Organisation in die Hände eines externen Moderators gegeben, der selbst Architekt und mit der Stadt Hann. Münden seit Jahren vertraut ist. 3.4 Konzepte für Morgen: Preetz - Bürgerforen als Zukunftswerkstatt

In einer Reihe von Städten oder Stadtteilen wurden in den letzten Jahren Zukunftswerkstätten durchgeführt. Die Zukunftwerkstatt möchte mögliche Dimensionen der Entwicklung formulieren, Gefahrdungen abwenden und Konzepte für eine positive Zukunft entwickeln. Häufig war die angenommene demografische Entwicklung einzelner Städte oder Stadtregionen Anlass für die Durchführung solcher Zukunftswerkstätten und die Entwicklung von Zukunftskonzepten. Ich gehe kurz auf ein derartiges Projekt ein: auf die Entwicklung eines Zukunftskonzeptes in Preetz, Schleswig-Holstein. Die Planer hatten dafür eine bestimmte Methode und ein wissenschaftliches Verfahren gewählt. Die Beschreibung und Analyse des Untersuchungsraumes wurde unter Zuhilfenahme des Sensitivitätsmodells nach Prof. Vester®4 durchgeführt. Entsprechend des Ansatzes des Open-Space-Verfahrens gelang es im Rahmen dieses Projektes, viele Personen zur Entwicklung kreativer Lösungen für wichtige Aufgaben zusammenzubringen und nachhaltige Impulse für die Umsetzung dieser Ideen 4

Das Sensitivitätsmodell ist ein Instrument zur Erfassung, Analyse, Planung und Mediation komplexer Systeme in Management, Unternehmen, Verwaltung, Planung und Forschung. Es ist eine Art „offenes Arbeitsgerüst", mit strukturierten und aufeinander aufbauenden Arbeitsschritten. Durch die schrittweise Beschreibung und Untersuchung des Systems aus verschiedenen Blickwinkeln kann der Anwender das zu untersuchende System und dessen „Sensitivität" (Empfindsamkeit für Wirkungen) in seiner Gesamtheit kennen lernen und auf der Basis dieses ganzheitlichen Systemverständnisses nachhaltige und systemverträgliche Maßnahmen entwickeln und diese in entsprechenden Szenarien auf ihre Auswirkungen hin überprüfen.

Bürgerbeteiligung und konzeptionelle Planung

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zu geben. Mit wenigen organisatorischen und inhaltlichen Vorgaben arbeiteten die Teilnehmenden weitgehend selbstorganisiert zu verschiedenen Themenbereichen. Die Entwicklung der Themenvorschläge erfolgte sehr unterschiedlich. Zum einen gab es Projektvorschläge, die ganz neu ggf. im Rahmen der Beschreibungs- und Analysephase entwickelt wurden, zum anderen Projekte, die bereits ein bestimmtes Stadium erreicht hatten, aber weiterer Unterstützung bedurften. Es gab aber auch Projekte, die schon vor längerer Zeit angedacht worden waren und nun wieder zum Leben erweckt wurden. Die Ideen bzw. Arbeitsthemen entstanden im Rahmen eines Themenmarktplatzes. In selbst organisierten Arbeitsgruppen wurden in zwei Tagen Bausteine zu diesen Themenfeldem zusammengetragen. Die Beteiligung der Bürgerinnen ist bei diesem Verfahren sehr intensiv und zeitaufwendig. Zudem erfordert die Teilnahme die Fähigkeit zu analytischem Denken. Sowohl in der Analyse als auch bei der Entwicklung von Zukunftsszenarien wird mit Variablen gearbeitet. Die ganzheitliche Wirklichkeit eines Raumes wird dabei in verschiedene Dimensionen gegliedert, die unterschiedliche Wertausprägungen haben oder diese im Planungskonzept annehmen können. Die Arbeit erfolgt in einzelnen Arbeitsgruppen, die von Koordinatoren aus der Bürgerschaft organisiert und moderiert werden. Die Moderatorinnen werden von einzelnen Mitarbeiterinnen des Planungsteams unterstützt. Die protokollierten Arbeitsergebnisse werden im Plenum vorgetragen und integrativ oder systemisch diskutiert. Die Partizipation hat zum Ziel, 1. das Wissen der Bürgerinnen zusammenzutragen, 2. Entwicklungsvariablen zu formulieren, 3. kausale Abhängigkeiten zwischen den Variablen als Hypothesen zu formulieren, 4. in der Planungsdiskussion die Verifikation bzw. Falsifikation einzelner Zusammenhänge zu formulieren, 5. aus den einzelnen Hypothesen systemische Zusammenhänge zu formulieren und schließlich 6. ein integriertes Konzept für einen Raum oder für Teilräume zu entwickeln. Die Umsetzung des gedachten Systems in einen bestimmten Raum wird dann durch Projekte geleistet - eigentlich liegen dem wieder Hypothesen über die Wirkung einzelner Projekte zugrunde.

4.

Schlussbemerkung

Ziel dieses Papiers ist es, zum einen den theoretischen Hintergrund der Bedeutung von Zivilgesellschaft im Rahmen der Bürgerbeteiligung zu skizieren. Zum zweiten soll an einigen Beispielen aufgezeigt werden, dass es sich lohnt, verschiedene Typen von Partizipation zu unterscheiden. Allen Ausführungen liegt zugrunde, dass die Menschen zumindest in Umfragen deutliche Ansprüche an eine Beteiligung anmelden. In den hier geschilderten Fallbeispielen ging es nicht um sektorale Partizipation etwa in Verkehrs- oder Schulfragen, sondern um konzeptionelle Planungen. Bei der Partizipation bezüglich konzeptioneller Fragen existieren unterschiedliche Formen, die von der sensibilisierenden bis zur entwurfsorientierten Partizipation reichen. Schließlich kann man die kritische Partizipation von einer kooperativen unter-

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scheiden. Die kritische Partizipation beschäftigt sich seitens der Zivilgesellschaft mit Vorlagen der Verwaltung oder Vorgaben der Politik, mit der sich dieses Papier jedoch nicht befasst hat. Die kooperative Partizipation bringt Bürgerinnen und Bürger, Politik und Verwaltung zusammen. Die Initiative geht dabei in der Regel und auch in den hier geschilderten Fällen von der Politik aus. Die Konzeptentwicklung kann sich auf einzelne Teilräume beziehen oder auf eine ganze Stadt. Grundsätzlich unterscheidet sich die kooperative Partizipation auch dann nicht, wenn sie sich auf ganze Regionen bezieht. Inhaltlich geht es dabei um die Ausarbeitung von räumlichen Systemen und die Entwicklung von Handlungsstrategien und Projekten. Diesen Formen konzeptioneller Partizipation ist gemeinsam, dass sie in einem Wechselverhältnis von Arbeit in Arbeitsgruppen und Plenumsdiskussionen ablaufen. Während die Arbeitsgruppen einzelne Teilräume oder Problembereiche bearbeiten, dienen die Bürgerversammlungen der umfassenden Information, Diskussion und Legitimierung der Konzepte. Die Partizipation, die hier diskutiert wurde, dient ausschließlich der Entwicklung und Vorbereitung von Planungskonzepten und Handlungsstrategien. Im Grundsatz kann die Partizipation als ein Beratungsverfahren verstanden werden. Die Ergebnisse des partizipativen Verfahrens dienen der Verwaltung, die dann Vorlagen erarbeitet bzw. Räten und Abgeordneten, die Entscheidungen fällen.

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Bürgerbeteiligung und konzeptionelle Planung

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250

Förderung des bürgerschaftlichen Engagements - Strategien und Methoden für die kommunale Praxis von Alfred Reichwein und Martina Trauth-Koschnick

1.

Einleitung

Die Aufgabe der kommunalen Selbstverwaltung hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich verändert, sowohl objektiv, z.B. durch die im Zuge der Globalisierung veränderten Rahmenbedingungen, als auch subjektiv in der Wahrnehmung der handelnden Akteure. War die Rechtmäßigkeit des Handelns das vorherrschende Legitimationskriterium für „Verwaltungen", so war es die Wirtschaftlichkeit der Ressourcenverwendung für das „Unternehmen" Stadt1, und die politische Akzeptanz für die „planende Verwaltung" (Vgl. hierzu bereits 1974 Offe, Claus: Rationalitätskriterien und Funktionsprobleme politisch-administrativen Handelns. In: Leviathan 2, Nr. 3, S. 333-345). Frühzeitig wurde daraufhingewiesen, dass die moderne Kommune die Verwaltung, die Produktion von Dienstleistungen und Infrastruktur sowie die Entwicklung einer demokratisch-emanzipatorischen Stadtkultur parallel zu leisten habe. Die kommunale Praxis ist dieser Debatte nur bedingt gefolgt. Sie bildet sich aber in den von der Kommunalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsmanagement (KGSt) geprägten und von den Kommunen übernommenen Begriffen „Verwaltung", „Dienstleistungsunternehmen" und „Bürgerkommune" ab. Städte müssen sich heute und in Zukunft mit Herausforderungen auseinandersetzen, die weit über sie selbst hinausweisen. Stadtentwicklungsprozesse stehen immer mehr im Spannungsfeld zwischen Globalisierung und lokaler Identität sowie vor der Bewältigung der Folgen des demografischen Wandels. Das leitende und übergreifende Wirkungsziel dafür ist heute und in Zukunft die Lebensqualität der Einwohnerinnen und Einwohner in einer Kommune. Der Begriff Lebensqualität lässt sich in einem Bündel strategischer Ziele, die sehr unterschiedliche Ausrichtung haben können, für jede Kommune konkretisieren: Der Bogen lässt sich beispielhaft spannen von der Wirtschaft mit ihrem Arbeitsplatzangebot, der Kultur, der sozialen Kohäsion, dem Bildungssystem, der Qualität von Luft und Wasser, der Ver- und Entsorgung, dem Angebot an Sport- und Freizeiteinrichtungen bis zum öffentlichen Personennahverkehr. Die Steuerungsaufgabe ist die Erhaltung und Förderung der Lebensqualität.

1

Wir verwenden den Begriff Stadt und Stadtgesellschaft und beziehen darin Kreise, Gemeinden usw. ein, wohl wissend, dass es sich um sehr unterschiedliche Organisationen handelt. Ähnlich unterschiedlich sind, abgesehen von ihrer rechtlichen Verfasstheit, im Übrigen die Städte in Deutschland selbst, bezogen auf ihre reale Lage in unterschiedlichen Bereichen (Historie, soziale Lage, Wirtschaft, Finanzen, Bevölkerung etc.).

Förderung des bürgerschaftlichen Engagements

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Die kommunale Selbstverwaltung ist zurzeit in besonderem Maße finanziell belastet durch die strukturellen und konjunkturellen Krisen in vielen Branchen. Viele deutsche Kommunen können keinen ausgeglichenen Haushalt vorlegen. Investitionen, Personal und freiwillige Leistungen wurden in den letzten Jahren kontinuierlich reduziert. Vor diesem Hintergrund erscheint die in der Wissenschaft aufgeworfene Diskussion über die Zulässigkeit von Einsparungen durch die Übernahme von Leistungen im Rahmen des bürgerschaftlichen Engagements aus Sicht der kommunalen Praxis kaum nachvollziehbar. Die moderne Kommunalverwaltung erbringt ihre Leistungen im vorgegebenen, eher begrenzten Ressourcenrahmen in unterschiedlichen organisationspolitischen Konstellationen. Die öffentlich-private Partnerschaft kann dabei ebenso wie die Leistungserbringung durch das bürgerschaftliche Engagement alleine legitim und Nutzen stiftend sein. Trotz der schwierigen Rahmenbedingungen konnte in den letzten Jahren durch die Einführung einer strategischen, wirkungsorientierten Steuerung und einer konsequenten Modernisierung und Optimierung in vielen Kommunen die Servicequalität und die Kundenorientierung gesteigert, der mit der Leistungserbringung verbundene Ressourcenaufwand hingegen deutlich verringert werden. Die Optimierung auf der Leistungs- und auf der Aufwandsseite bleibt Daueraufgabe der deutschen Kommunalverwaltungen. Dabei ist objektiv wie auch im Verständnis der handelnden Personen eine Stadt nur insoweit (über-)lebensfähig und attraktiv für die Menschen, wie sich eben diese in und für die Stadt engagieren. Beispiele für Bürgerengagement in den unterschiedlichsten Sektoren und ihre segensreichen Folgen füllen Bände.2 Die Verleihung von Preisen für bürgerschaftliches Engagement findet in nahezu jeder Kommune regelmäßig statt. Damit stellt sich für die Praxis nicht die Frage des „ob" des Bürgerengagements, sondern alleine die Frage des „wie". Diese schließt die notwendige Befassung mit Fragen der mittelbaren und unmittelbaren Einflussnahme auf Entscheidungsprozesse ein, der bekannten Asymmetrie bei der Durchsetzung von Interessen in Stadtentwicklungsprozessen, einer rückläufigen Beteiligung an Kommunalwahlen oder in den Parteien bzw. die Frage, wie man angesichts der unterschiedlichen kulturellen Herkunft von Zugewanderten ebendiese dennoch in die Stadtgesellschaft mit allen ihren Facetten einbinden kann. Für diesen Komplex von Strukturen, Prozessen und Verhaltensregeln verwenden wir den Begriff Public Governance. Antworten auf diese Herausforderungen sind in den Kommunen nicht durch isoliertes Fachhandeln und kurzfristige Einzelmaßnahmen möglich. Nachhaltige Lösungen können Städte nur gemeinsam mit ihren Bürgerinnen und Bürgern sowie den Akteuren der Stadtgesellschaft finden und umsetzen. In diesem Beitrag wird die These vertreten,

2

Vgl. beispielhaft Bohnsack, Kerstin u.a. (Hrsg.) (2008): Initiative ergreifen - Bürger machen Stadt. Düsseldorf. Mit vielen Beispielen aus der Stadtentwicklung durch Bürgerengagement, von der Kulturschmiede Fröndenberg bis zum Frauenkommunikationszentrum Bahnhof Herzogenrath.

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2.

Alfred Reichwein und Martina Trauth-Koschnick

dass bürgerschaftliches Engagement nicht nur auf der operativen, sondern auch auf der strategischen Ebene - als Partizipation - stattfinden muss, um die Zukunftsfähigkeit der Kommunen und deren gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fordern, dass bürgerschaftliches Engagement „unteilbar" ist, also nicht nach „gutem" oder „schlechtem" Engagement unterschieden werden darf, und dass dieses nur in einem Klima aus Partnerschaft und Toleranz auf der Basis von Transparenz gedeiht.

Zum Begriff der Partizipation und des bürgerschaftlichen Engagements im kommunalen Kontext

Die Debatte über die Teilhabe von Bürgerinnen und Bürgern an Prozessen der Stadtentwicklung reicht zurück in die 70er Jahre des letzten Jahrhunderts. Sie fand damals im Rahmen einer allgemeinen Debatte über die Demokratisierung des Gemeinwesens (vgl. Buse 1977) statt und war das beherrschende Thema. Eine Vielzahl von Untersuchungen befasste sich theoretisch und empirisch mit den Voraussetzungen, den Effekten und den Konflikten von Teilhabe. Auch damals fand bereits eine Differenzierung in eine mehr systembezogene Metadiskussion und die eher auf die Funktionen hin orientierte Betrachtung konkreter empirischer Phänomene statt. „Obwohl der Elan der politischen Diskussion um „Mehr Demokratie" erlahmt ist, spielt die Frage der Mitwirkung der Bürger auch und gerade bei den „sachbezogenen" Problemen wie der Reform des Sozialwesens oder einer leistungsorientierten und bürgemahen öffentlichen Verwaltung eine wesentliche Rolle." (siehe Buse 1977: 10) Partizipation wurde definiert als „Versuch der Einflussnahme auf einen politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess. Dabei wird das politische Handeln einmal eingegrenzt auf solche Personen, die nicht qua Amt oder Funktion für die Vorbereitung oder Durchführung dieser politischen Entscheidung zuständig sind. Zum anderen muss sich das Handeln auf den Versuch der Einflussnahme auf einen konkreten inhaltlichen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess beziehen." (ebd.: 14) In verschiedenen Projekten, z.B. bei der Altstadtsanierung, wurden Partizipationsangebote und ihre Wahrnehmung untersucht und ein Prozessmodell der Partizipation entwickelt. Von Partizipation deutlich abgrenzbar und abzugrenzen ist der Begriff des Bürgerschaftlichen Engagements, dem von der Enquete-Kommission „Bürgerschaftliches Engagement" folgende Kriterien zugeschrieben werden: 1. Bürgerschaftliches Engagement ist freiwillig. Die bürgerschaftliche Qualität des Engagements wird durch Selbstorganisation und Selbstbestimmtheit des freiwillig ausgeübten Engagements bestimmt. Die Freiwilligkeit entspricht dem Wandel des bürgerschaftlichen Engagements hin zu einem kurzfristigeren, hinsichtlich der

Förderung des bürgerschaftlichen Engagements

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Motivation weniger gebundenen Engagement, schränkt aber auch die Berechenbarkeit und Verbindlichkeit und damit teilweise den Nutzen ein. Diskutiert wird die Freiwilligkeit außerdem bezüglich verschiedener Modelle des unfreiwilligen Engagements, wie bei-spielsweise der Bürgerarbeit. 2. Bürgerengagement ist nicht auf materiellen Gewinn ausgerichtet. Es wird also nicht, wie Erwerbsarbeit, zeit- oder leistungsäquivalent bezahlt und findet von daher auch nicht vorrangig aufgrund von Bezahlung statt. Neben völliger Unentgeltlichkeit sind aber Aufwandsentschädigungen oder eine geringe Bezahlung, wie zum Beispiel beim Freiwilligen Sozialen Jahr, möglich. 3. Mindestens ein Effekt des bürgerschaftlichen Engagements muss ein positiver Effekt für Dritte sein, es muss also ein Gemeinwohlbezug vorliegen. Das bedeutet aber nicht, dass altruistische Motive im Vordergrund stehen müssen, ebenso kann die Motivation zum bürgerschaftlichen Engagement einen Selbstbezug haben, wie der Wunsch nach Selbstverwirklichung oder Formen der oben beschriebenen Selbsthilfe. 4. Bürgerengagement ist öffentlich bzw. findet im öffentlichen Raum statt, da Öffentlichkeit einerseits wichtig für die Interessenvertretung der Engagierten, für die Schaffung einer Anerkennungskultur sowie die Bereitstellung von Informationen für die Tätigkeit der Engagierten ist. Andererseits gewährleistet sie Transparenz, Dialog, Teilhabe und Verantwortung in den Organisationsformen des Engagements. 5. In der Regel wird bürgerschaftliches Engagement gemeinschaftlich bzw. kooperativ ausgeübt. Es umfasst dabei nicht nur das Engagement im Sinne des traditionellen Ehrenamts, welches vor allem ein stark formalisiertes, langfristiges Engagement bezeichnet. Öffentliche Kritik und Widerspruch, sowie weitere neue Formen der Selbstorganisation zählen ebenfalls zum bürgerschaftlichen Engagement, denn „Dabei sein und Dagegen sein gehören gleichermaßen zum Bürgerengagement in einem demokratischen Gemeinwesen und machen dessen Produktivität und Innovationskraft aus", (vgl. Enquete-Kommission 2002: 86 ff.) In der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion über bürgerschaftliches Engagement lassen sich vier Richtungen unterscheiden (vgl. Frech 2007: 202): • •

• •

der demokratietheoretische Ansatz, der verschiedene Formen bürgerschaftlichen Engagements erörtert und ihr Reformpotenzial analysiert, der wohlfahrtstaatliche Strang, unter dem Leitgedanken von Reform und Modernisierung des Staates sowie der Frage, wie Bürgerschaft und Dritter Sektor in die Erbringung öffentlicher Leistungen eingebunden werden können, der politisch-ethische Diskurs, der zivilethische Grundlagen verfolgt und die verwaltungswissenschaftliche Debatte, die Möglichkeiten der Einbindung bürgerschaftlichen Engagements in die öffentliche Leistungserstellung diskutiert und nach Konzepten öffentlich-privater Partnerschaften fragt.

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Jeder Ansatz verfolgt spezifische Steuerungsinteressen und zieht gleichzeitig Trennlinien, die in der lokalen Praxis so nicht gezogen werden können, da die Übergänge dort fließend sind. Hier gilt es vielmehr, Partizipation und bürgerschaftliches Engagement als Handlungsprinzipien der kommunalen Selbstverwaltung zum Kemanliegen zu machen und als führende Arbeitsprinzipien in den Kontext einer hohen Lebensqualität in den Städten und Gemeinden zu stellen. So notwendig die Unterscheidung zwischen Partizipation und bürgerschaftlichem Engagement im Detail ist, so verzichtbar ist sie bei der Beschreibung des Verständnisses von Zivilgesellschaft, dem hier gefolgt werden soll. Zivil- oder Stadtgesellschaft versteht sich „... als Raum zwischen Markt, Staat und Familie, in dem sich freiwillige Zusammenschlüsse bilden, wo Teilhabe- und Mitgestaltungsmöglichkeiten genutzt werden und Bürger Gemeinwohlverantwortung übernehmen." (Klein 2007: 212) Dieses Verständnis von Zivilgesellschaft impliziert vier im kommunalen Kontext wesentliche Aspekte: •



• •

3.

Es betont den prozessualen Charakter, schließt Öffentlichkeit mit ein, ist transparent und bietet einen Anknüpfungspunkt für andere Bürgerinnen und Bürger sowie weitere Partnerinnen und Partner. Es stellt bürgerschaftliches Engagement in einen Zusammenhang mit wesentlichen Fragen der kommunalen Daseinsvorsorge (Welche Kultur und Leitbilder von öffentlichen Diensten, Einrichtungen und Hilfen wollen und brauchen die Menschen vor Ort zukünftig und welche Art von Veränderungen erfordert das?). Es zeigt den Aspekt der Revitalisierung der kommunalen Ebene durch bürgerschaftliches Engagement auf. Es ermöglicht eine Ressourcen-Perspektive, die das Selbstorganisationspotenzial und die Kreativität der Bürgerinnen und Bürger erkennt und sie zu Mitgestaltem werden lässt.

Erschließung von bürgerschaftlichem Engagement auf kommunaler Ebene

Wesentliche Voraussetzung, um das Potenzial von bürgerschaftlichem Engagement in Kommunen dauerhaft und in vielfältigen Bereichen erschließen zu können, ist eine auf breite Kooperation angelegte Stadtentwicklung, die u.a. folgende Grundsätze verfolgt: • • • • •

ein neues Selbstverständnis der kommunalen Verwaltung in der Arbeitsweise und im Umgang mit ihren Mitarbeitern und ihrer Bürgerschaft, Stadtentwicklung als offener und gesamtstädtischer Prozess, die Integration zivilgesellschaftlicher Akteure in kommunale Planungsprozesse, die Erschließung vielfältiger Partizipationschancen, z.B. durch die Anwendung neuer Informationstechnologien im Bereich elektronischer Partizipation, die Förderung lokaler Netzwerke

Förderung des bürgerschaftlichen Engagements

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3.1 Neues Selbstverständnis der kommunalen Verwaltung in der Arbeitsweise und im Umgang mit ihren Mitarbeitern und ihrer Bürgerschaft

Die aktuellen und zukünftigen gesellschaftlichen Herausforderungen sind innerhalb der Bürgerschaft und der Kommunen mittlerweile gut kommuniziert, sodass ein Bewusstsein für neue Formen der Partizipation und Beteiligung vorhanden ist. Die praktische Umsetzung der neuen Kooperationsformen ist aber an wesentliche Voraussetzungen geknüpft: Eine der wichtigsten ist, dass die kommunale Ebene das Potenzial an kreativen Kräften (Sozialkapital) in der Zivilgesellschaft erkennt. Über das Erkennen hinaus müssen Kommunen lernen, dieses Potenzial wertzuschätzen und entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen, um es letztlich auch erschließen zu können. Dies bedeutet für Verwaltungen eine Veränderung ihres Handelns und ihres Selbstverständnisses - sowohl im Umgang mit ihren Bürgerinnen und Bürgern als auch mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Es reicht nicht, dass sich kommunale Führungskräfte allein über die kooperativen Verfahren im Klaren sind und versuchen, sie top down zu implementieren. Soll ein verändertes Selbstverständnis entstehen, muss die gesamte Verwaltung davon erfahren, in den Prozess einbezogen und zur aktiven Mitwirkung und Öffnung gegenüber der Gesellschaft motiviert werden. Um Partnerschaften effektiv gestalten und in Netzwerken agieren zu können, braucht kommunale Führung neben Managementkompetenzen auch Governance-Fähigkeiten. Dementsprechend müssen Personalentscheidungen und Kompetenzen ausgerichtet sein (vgl. KGSt-Bericht Nr. 1/2009: 59). So besteht die Aufgabe der Städte und Gemeinden nicht nur darin, Bürgerinnen und Bürger zu unterstützen, sondern mit diesen aktiv in Netzwerken zusammenzuarbeiten (vgl. Behringer 2007: 204). Dadurch sind Kommunen als partnerschaftliche Akteure der Bürgerinnen und Bürger tätig. Diese reagieren ihrerseits nicht in erster Linie aus einer Protesthaltung heraus, sondern drücken ihren Willen zur gemeinsamen Entwicklung aus.

3.2 Stadtentwicklung als offener und gesamtstädtischer Prozess

Stadtentwicklung ist integrierte Politik. Es ist der Versuch, den Raum (das Stadtquartier) in den Mittelpunkt zu stellen und, daran anschließend, die notwendigen Aktivitäten in räumlicher und finanzieller Hinsicht als zusammengehörig zu erkennen und zu bündeln. Ein mittlerweile ganz entscheidender Punkt ist die Tatsache, dass die Arbeit in den Quartieren und Sozialräumen weniger aus baulicher oder städtebaulicher Sicht beeinflusst wird, sondern immer stärker aus der Perspektive sozialer Problemstellungen. Die Lebenslagen von Bewohnern sind so komplex, dass nicht nur ein Amt oder Fachbereich „zuständig" sein kann. Für Kommunen ergeben sich daraus neue Anforderungen an die konzeptionelle Arbeit von Stadtentwicklung: Im Binnenverhältnis der Verwaltungsaufgaben muss die Stadtentwicklungsplanung einerseits als Querschnittaufgabe begriffen werden. Andererseits stößt die heutige Verwaltung

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an ihre Grenzen, wenn sie nicht die Bereitschaft zeigt, auch (und vermehrt) stadtplanerische Aktivitäten an die Bürgergesellschaft abzugeben bzw. die Bürgerinnen und Bürger zur Verantwortungsübernahme zu motivieren und sie als Experten zu betrachten. Eines der Ziele von integrierter Stadtentwicklung ist es, Verknüpfungen zwischen verschiedenen Themenfeldern, Projekten, Maßnahmen und Programmen auszubauen. Darunter ist auch die notwendige Verschränkung der in der Praxis häufig isoliert operierenden Felder der klassischen Stadtentwicklungsplanung und der Sozialplanung zu verstehen. Die integrierte Stadtentwicklung ist Teil und Voraussetzung einer sozialen und ökonomischen Stadtentwicklung. Dabei entwickelt sie einen spezifischen Raumbezug. Eine Strategie kann dann als integriert bezeichnet werden, wenn sie gleichzeitig die Wirtschaftsentwicklung, die soziale Entwicklung und die Lebensqualität betrifft. Sie sollte Entwicklungsfragen in der Zusammenschau von Innen- und Außenansicht betrachten (endogene Potenziale/exogene Einflüsse und unterstützende Kräfte) (vgl. Landeshauptstadt München, Institut für Städtebau und Wohnungswesen 2005: 21). Schon in den 1970er Jahren wurde Sozialplanung in der Bundesrepublik Deutschland als ein Gesamtprozess gesehen, der sich aus Gesellschaftsplanung, Stadtplanung und Sozialfürsorgeplanung zusammensetzt (vgl. KGSt-Bericht 1978/19). Dieses Verständnis setzte sich vor dem Hintergrund der funktional versäulten Verwaltung jedoch nur schwer durch, obwohl das aktive Zusammenwirken von Bürgern bzw. Betroffenen und Politik zu den Grundprinzipien der Sozialplanung gehört. Sozialplanung ist nie nur eine Planung für die Bürgerinnen und Bürger, sondern immer eine mit ihnen. Die unterschiedlichen Vorstellungen zur Gestaltung des Zusammenlebens in der Kommune kommen aus verschiedenen Bevölkerungsgruppierungen. Sozialplanung muss daher kollektive Betroffenheiten aufspüren, Bürgerinnen und Bürger aus der Vereinzelung lösen und zur Wahrnehmung ihrer Interessen befähigen. Schließlich muss sie es vermögen, Prozesse des Miteinander und der nachbarschaftlichen Selbsthilfe einzuleiten (vgl. Deutscher Verein 2005: 250). Stadtentwicklung bedarf integrierter und offener Planungsprozesse, die die beteiligten Akteure einbeziehen und notwendige Querverbindungen und Zusammenhänge analysieren. Dabei geht es auch um die Offenlegung der jeweiligen Akteursinteressen, um die Herstellung politischer Legitimation und die Erarbeitung von Lösungskonzepten in Form von Abwägungs- und Entscheidungsgrundlagen. Ziel ist es, die unterschiedlichen Lebensbedingungen der Menschen (Wohnen, Infrastruktur, Gesundheit, Arbeit etc.) in einem fachübergreifenden Planungsprozess zu reflektieren, in einen Raumbezug einzubinden und zu einer kommunalen Gesamtstrategie zu bündeln. Dazu müssen auch die einzelnen Fachplanungsverfahren, wie Stadt- und Regionalplanung, Flächennutzungsplanung, Bebauungsplanung, Verkehrsplanung, Bildungsplanung und Sozialplanung in einem ressortübergreifenden Verfahren kontinuierlich aufeinander abgestimmt werden. Auch sollten die Planungsinstrumente und -konzepte qualitativ weiterentwickelt werden (z.B. Ε-Democracy, Modellsimulationen, Zukunftsszenarien

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etc.) (vgl. KGSt-Bericht Nr. 1/2009: 34; Lutz 2007). Diese Gesamtstrategie ist im optimalen Fall das Ergebnis einer methodisch fundierten und gesellschaftlich akzeptierten Balance zwischen ökonomischen, ökologischen und sozialen Belangen der Stadt mit einem größtmöglichen Maß an Kooperation und Kommunikation. 3.3 Integration zivilgesellschaftlicher Akteure in kommunale Planungsprozesse

Bisherige Konzepte von Planungen mit Feinsteuerungsanspruch (top down) werden weder der städtischen Komplexität noch dem Ziel der Qualitätsverbesserung und Optimierung gerecht (Zukunftsrat Hamburg, AG Wachsende Stadt: Zukunftskonzept Stadtentwicklung: 3). Immer mehr Kommunen sehen sich durch die zunehmenden komplexen Herausforderungen veranlasst, ihre Strategieentwicklung und -umsetzung zu überdenken. Sie beginnen damit, Bürgerinnen und Bürger sowie weitere Partnerinnen und Partner aktiv an Planungsprozessen zu beteiligen, um das planerische Handeln effektiver zu machen und die Qualität zu verbessern. Bürgerinnen und Bürger, die sich an partizipativen Verfahren beteiligen, profitieren davon, weil ihre Bedürfnisse und Interessen effektiver berücksichtigt werden können. Sie haben als lokale Expertinnen und Experten in der Regel detailliertes Wissen über die konkreten Probleme in ihrer Lebenswelt. Wenn das Wissen und die Sichtweisen unterschiedlicher Akteure in den Planungsprozess miteinbezogen werden, entstehen zumeist kreative und auch haltbare Lösungen, denn diese werden auf einer breiten Basis entwickelt und von den Betroffenen mitgetragen. Die Möglichkeit an Planungen mitzuwirken, fordert außerdem das Gefühl der Mitverantwortung für kommunale Angelegenheiten und den Ausgleich verschiedener Interessen(gruppen). Auch Verwaltung und Politik profitieren von einer Beteiligung der Öffentlichkeit. Entscheidungen werden inhaltlich verbessert, sie sind nachvollziehbarer und besser abgesichert, wodurch auch die Umsetzung der Ergebnisse beschleunigt werden kann. In deutschen Städten gibt es neben formalen Beteiligungsprozessen mittlerweile eine Vielzahl informeller Beteiligungslandschaften, die ein enorm hohes Gestaltungspotenzial enthalten, aber auch die Gefahr bergen, in ihrer Vielfalt unüberschaubar zu werden. Um Paralleldiskurse und Intransparenz zu vermeiden, ist es vor allem Aufgabe der Kommune: • • • •

Prozesse des Zusammenwirkens zu initiieren, diese zu moderieren, sie zu koordinieren, die Ergebnisse zusammenzufuhren und sie letztlich in ein Gesamtplanungsverfahren einzubinden.

Jede Kommune muss sich mit ihren konkreten und lokalen Ausprägungen genau auseinandersetzen. Nur so kann sie spezifische Schwerpunkte für die aktuelle und zukünftige Entwicklung setzten, den Bedürfnissen ihrer Bürgerinnen und Bürger gerecht werden und ihre Attraktivität und somit Wettbewerbsfähigkeit erhöhen. Bei verschärfter Standortkonkurrenz wird Qualität zum entscheidenden Erfolgsfaktor.

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Zum einen sind gute Lebensbedingungen (intakte Umwelt, attraktive Bildungs- und Kulturlandschaft, florierende Wirtschaft etc.) wesentliche Voraussetzung dafür, dass Menschen in eine Stadt ziehen und dort bleiben. Zum anderen ist eine Stadt, in der Menschen gerne leben und in der sie sich heimisch fühlen, eine wesentliche Bedingung für ihr dortiges Engagement. Um diese Prozesse zu unterstützen und langfristige Zielvorstellungen anzuregen, sollten Kommunen und Bürger zusammen Visionen entwickeln. Visionen sind gebündelte Wirkungsziele (möglichst aller Akteure), die ζ. B. beschreiben, wie die Kommune eines Tages aussehen könnte, welche Qualitäten sie besitzt und für welche Werte besonders eingetreten werden soll. Zur wesentlichen Orientierung muss zu Beginn die Zielstellung geklärt (Was wollen wir erreichen?) und die Umsetzung diskutiert werden ( M e wollen wir das erreichen bzw. wie gestalten wir gemeinsam?). Mittlerweile gibt es eine Vielzahl von Methoden zur Beteiligung (ζ. B. Planungszellen, Strategieworkshops, Perspektivenwerkstätte, Zukunftswerkstätte, Zukunftskonferenzen etc.). Welche Methode für einen konkreten Beteiligungsprozess sinnvoll ist hängt u.a. von der erwünschten Teilnehmerzahl, von der zur Verfügung stehenden Zeit und von der Beteiligungstiefe ab, d. h. davon, ob es sich um einen Informations-, Konsultations- oder Mitbestimmungsprozess handelt. Für die Entwicklung strategischer Ziele/Leitbilder und Visionen werden in Kommunen recht erfolgreich Zukunftskonferenzen angewendet (vgl. KGSt-Bericht Nr. 1/2009: 37f.). Zukunftskonferenzen unterscheiden sich von traditionellen Planungsmethoden dadurch, dass der gesamte Planungsprozess mit einer Gruppe von Personen durchgeführt wird, die die unterschiedlichsten Perspektiven und nicht nur einige ausgewählte Sichtweisen vertreten. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer lernen die Annahmen, Wahrnehmungen und Standpunkte der anderen dadurch kennen, dass sie während des Planungsprozesses intensiv miteinander arbeiten. Annahmen und Status Quo werden konsequent infrage gestellt. Diese Methode erzeugt häufig eine höhere Verpflichtung zur Durchführung von Plänen, weil sich die Beteiligten den entwickelten Zielen stärker verbunden fühlen. Mit Hilfe von Zukunftskonferenzen können Kommunen mit einer großen Bandbreite an Akteuren diese Prozesse gezielt umsetzen. Der repräsentative Querschnitt ist notwendig, um eine umfassende Übersicht über die Kommune und ihr Umfeld zu erlangen. Das bedeutet, dass Verwaltung, Politik, Verbände, Wirtschaft, Bürgerinitiativen, Kirchen und Nicht-Organisierte vertreten sind. Mit einzubeziehen sind aber auch alle Altersstufen sowie bestimmte Bevölkerungsgruppen wie Erwerbslose, Menschen mit Behinderungen, Migranten u.a. Die Einladung und Aktivierung zur Teilnahme der einzelnen Personen erfordert eine aufwändige Vorbereitung. Zu berücksichtigen ist dabei, dass nach den bisherigen Erkenntnissen und Erfahrungen höhere Einkommens- und Bildungsschichten überproportional an der Gestaltung der politischen und gesellschaftlichen Lebensverhältnisse beteiligt sind. Insofern ist die politische und gesellschaftliche Partizipation einkommensschwacher und bildungsferner Bevölkerungsschichten gezielt zu fördern (vgl. Engels 2004: 35). Ein heterogener Teilnehmerkreis bietet einen guten Grund für eine interdisziplinäre Kontaktaufnahme und neue Kooperationen zwischen verschiedenen

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Akteuren. Gleichzeitig ist jeder Anwesende in seinem Umfeld ein Multiplikator und vergrößert so die Chancen auf eine Umsetzung der Ergebnisse. Komplexe Probleme können umso besser gelöst werden, je kooperativer und prozessorientierter die Arbeitsweise organisiert ist. Hierzu gehört auch eine kontinuierliche Kommunikation der angestrebten Ziele und der erwünschten Maßnahmen. Denn die eigentliche Herausforderung liegt darin, auch in der Prozessumsetzung den umfassenden und integrierten Charakter beizubehalten. 3.4 Partizipationschancen durch die Anwendung neuer Informationstechnologien

Das Internet ist seit Ende der 1990er Jahre zunehmend zum Alltagsmedium für Bürgerinnen und Bürger avanciert, sodass mittlerweile mehr als die Hälfte der Deutschen als Intemetnutzer gilt. Junge Menschen werden heute oft schon im frühen Alter mit Informations- und Kommunikationstechnologien konfrontiert - für viele ist die Nutzung des Internets „wie das Lesen einer Zeitung oder Radiohören" (Initiative eParticipation 2005: 5). Auch wenn die jetzige Seniorengeneration noch verhältnismäßig wenige Nutzer der neuen Technologien aufweist, ist davon auszugehen, dass die künftigen älteren Generationen einen sehr viel einfacheren Zugang dazu haben werden. Die elektronische und speziell die internetgestützte Verfahrensbeteiligung der Bevölkerung bietet Kommunen die Chance, ein breiteres Wissen über die Bedürfnisse ihrer Bevölkerung zu erlangen, was ihnen über die traditionellen Kommunikationswege bisher nur eingeschränkt und mit hohem Arbeitsaufwand gelingt. Obwohl die Anschaffung eines Internetzugangs für alle Bevölkerungsgruppen eine Hürde darstellt, kann der dadurch ermöglichte Zugang zu elektronischen Abstimmungsverfahren oder virtuellen Diskussionsforen als vergleichsweise niederschwellig angesehen werden (vgl. Hagedorn/Märker/Trenel 2001: 1). Insbesondere die Möglichkeit, sich vorher eingehend Gedanken darüber zu machen, was gesendet werden soll, stellt einen elementaren Unterschied zu Präsensveranstaltungen dar (vgl. Becker/ Dopfer 2005: 8). Trotz vieler Vorteile bleibt die Kritik, dass zumindest die meisten komplexeren elektronischen Beteiligungsinstrumente bisher von zu wenigen Bürgerinnen und Bürgern und in zu geringer Kontinuität genutzt werden. Auch wird eine Beteiligung über elektronische Kanäle nie die gesamte Bürgerschaft erreichen. Anders sieht es bei den einfacheren Instrumenten der Ε-Partizipation aus: Deutschlandweit sind die kommunalen Spitzen mittlerweile gut über E-Mail zu erreichen und es existieren sogar einige Bürgermeister-Chats (vgl. Hokkeler: 2008). Die Erreichbarkeit auf elektronischem Wege trifft allerdings noch keine Aussage über die tatsächliche Bürgerorientierung und Responsivität kommunaler Politik. Aktives Antwortmanagement und die Verpflichtung, z.B. E-Mails zeitnah zu beantworten, gehören sicherlich dazu. Zu einer transparenten Öffentlichkeitsarbeit und Information über die kommunale Politik und Verwaltung tragen auch die mittlerweile in vielen Städten und Gemeinden (darunter z.B. die Landeshauptstadt Potsdam) vorhandenen Ratsinformationssysteme (RIS) bei.

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Ε-Partizipation kann keine einmalige Investition in technische Lösungen sein, die sich dann von selbst finanziert. Im Vergleich zu populären Investitionen in eine Ε-Administration, die zumindest langfristig gesehen in Verwaltungsprozessen zu Einsparungen führen kann, bewirkt der Ausbau von Beteiligungselementen keine monetäre Entlastung. Es ist vielmehr eine elektronische Fortführung und Ergänzung der bisherigen Beteiligungsverfahren. Eine Ausnahme macht die durch die elektronischen Verfahren wirklich neu entstandene Chance, Jugendliche und junge Erwachsene (mit einer durch ihre Biografie größeren Technikaffinität) für Beteiligungsprozesse zu motivieren. Bisher wagen sich leider nur wenige Kommunen an komplexe elektronische Beteiligungsinstrumente, selbst größere Projekte der Bundesregierung konnten bislang kaum Breitenwirkung erzielen. Einige internationale Beispiele, vor allem aus dem angelsächsischen Raum, zeigen dagegen, wie Bürgerinnen und Bürger erfolgreich auf elektronischem Wege in komplexeren Beteiligungsformen in die Entwicklung von Leitideen und die Zukunftsplanung ihrer eigenen Kommunen miteinbezogen werden können. 3 Wie Bürgerinnen und Bürger mittels Ε-Partizipation an der Stadtentwicklung beteiligt werden können, soll das folgende Beispiel aus der Stadt Köln zeigen. Unortkataster Köln Das Unortkataster Köln ist eine interaktive Plattform im Internet, die es den Nutzem ermöglichen soll, auf Orte innerhalb der Stadt Köln hinzuweisen, die sie als hässlich, lautstark, unpraktisch o. ä. empfinden. Ziel des Forums ist „der bürgerliche Austausch und die Diskussion als Basis demokratischer Lösungsfindungen". Bürgerinnen und Bürger werden als unmittelbare Nutzer der Straße wahrgenommen, die wertvolles lokales Wissen inkorporieren, welches keinesfalls für Stadtplanung und Weiterentwicklung des Stadtbildes verloren gehen darf. Das Unortkataster Köln stellt Funktionalitäten des Web 2.0 zur Verfügung, um möglichst die von Nutzern eingestellten Inhalte anschaulich und verständlich darzustellen. So ist es für jeden angemeldeten Nutzer möglich, eigene als Unorte empfundene Straßen, Plätze, Monumente usw. einzuspeisen und diese zur Diskussion zu stellen. Mittels einer einfachen Ja/Nein-Abstimmung können andere Nutzer entweder zustimmen oder ablehnen - die Ergebnisse werden anhand einer Skala dargestellt. Auch die Verwaltung kann sich in die Diskussion einschalten; sie kann Lösungsvorschläge einbringen sowie andere Vorschläge kommentieren und damit frühzeitig die Tragfähigkeit und mögliche Akzeptanz abwägen. Jedem Neueinsteiger wird durch eine Zeitliste, die den Diskussionsverlauf von Beginn an dokumentiert, eine schnelle Übersicht vermittelt, um damit eine Beteiligung zu erleichtern. (Vgl. www.unortkataster.de)

3

Vgl. z.B. die Stadt Vancouver (www.vancouver-ecodensity.ca).

Förderung des bürgerschaftlichen Engagements

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Die Stadt Hamburg sieht in der Diskussion mit einer breiten Öffentlichkeit via Internet klare Vorteile. Bereits im Jahre 2002 beteiligten sich 540 registrierte Teilnehmer an einer Diskussion zum neuen Hamburger Leitbild. Inzwischen sind Diskurse zu weiteren Themen gefolgt: • • • • •

familienfreundlicher Wohnort Hamburg Hamburger Haushaltsplanung Neugestaltung des Domplatzes Living Bridge Zukunft der Universität

Zusammenfassend lassen sich folgende Effekte feststellen: Mehr Transparenz: Durch die Notwendigkeit, komplexe Zusammenhänge auf das Wesentliche zu reduzieren und verständlich zu kommunizieren, gelingt es, ein Thema in kurzer Zeit in seinen Kernpunkten umfassend zu beleuchten. Versachlichung von Konflikten: Konflikte in Planungsprozessen verschwinden leider nicht dadurch, dass sie nicht transparent sind. Sie tauchen lediglich zu einem späteren Zeitpunkt wieder auf und verursachen dann oftmals mehr Kosten, als wenn sie in einem „Prozess der besseren Argumente" ausgetragen worden wären. Durch das diskursive Verfahren gewinnen diejenigen, denen es gelingt, die anderen zu überzeugen (und nicht zu überstimmen). Das ist nicht nur langfristig günstiger, sondern auch nachhaltiger. Neugestaltung staatlichen Handelns: Über die Interaktion mit den Bürgern signalisieren Politik und Verwaltung Dialogbereitschaft und ermöglichen eine echte Teilhabe an den Entscheidungen vor Ort. Auch wenn es kein Allheilmittel ist: Politikverdrossenheit kann damit reduziert werden. Außerdem: Wer wüsste vor Ort besser Bescheid als die Betroffenen? Es werden neue Ideen generiert, auf die man in der Verwaltung oft nicht von allein gekommen wäre. Werbung für das eigene Konzept: Wie fundiert und durchdacht sind die Planungen? Auch ein guter Plan hat noch Optimierungsmöglichkeiten oder er durchläuft besser früher als später den Realitätsscheck. Es lohnt sich, Bürger stärker in politische Entscheidungsprozesse einzubeziehen (siehe Mitterhuber 2009: 9). 3.5 Förderung lokaler Netzwerke

Mit Netzwerken wird allgemein das Potenzial für ein hierarchiearmes, partizipatives und flexibles Arbeiten verbunden (vgl. Weber 1994). Netzwerke von Personen oder Institutionen gibt es sehr unterschiedlich ausgeprägt in allen gesellschaftlichen Bereichen. Es werden primäre Netze im engeren Privatbereich (Familie, Freunde), sekundäre (Interessengruppen, Nachbarschaften, Vereine) und tertiäre Netze (Unternehmen und Institutionen) unterschieden (vgl. Schubert 2005: 73-104). Institutionelle

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Alfred Reichwein und Martina Trauth-Koschnick

Netzwerke umfassen sowohl die sekundären Netzwerke aus Vereinen und Initiativen wie auch die tertiären Netze von professionellen Institutionen und Unternehmen (vgl. Bauer 2005: 11-54). Die Bertelsmann Stiftung sieht in institutionellen Netzwerken vor allem eine besondere Chance zur Entwicklung von Innovationen. Indem die einzelnen Mitglieder aus den eingefahrenen Strukturen ihrer eigenen Organisation heraustreten und mit den Denk- und Arbeitsweisen der Netzwerkpartner konfrontiert werden, bildet sich in der vergleichsweise offenen Struktur der Netzwerktreffen ein produktives Klima für neue Ideen und unkonventionelle Lösungen heraus. Gerade in Zeiten häufiger Veränderungen wird institutionellen Netzwerken eine hohe Flexibilität in Hinblick auf die Befriedigung neuer Aufgaben zugesprochen. Dies betrifft auch die Möglichkeit, bürgerschaftliches Engagement in die Lösung anstehender Aufgaben einzubeziehen (vgl. Bertelsmann Stiftung Themenheft 2/2007: 10). Netzwerke lassen sich idealtypisch durch das Fehlen formaler Hierarchien, die prinzipielle Offenheit gegenüber neuen Netzwerkpartnern, die Freiwilligkeit der Teilnahme sowie die temporäre Regelung von Verantwortlichkeiten und Aufgaben charakterisieren (vgl. Klingelhöfer 2005: 47-72). Gerade aus diesem Grund scheinen Netzwerke besonders gut geeignet, zivilgesellschaftliche Prozesse zu befördern und zu unterstützen. Der Arbeitsansatz lokaler Netzwerke besteht vor allem darin • • • • •

alle relevanten Akteure vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Kompetenzen anzusprechen und in ein gemeinsames Netzwerk zu integrieren, gemeinsam lösungszentrierte Ansätze zu entwickeln, bestehende Angebote zu vernetzen, Einzelakteure, Institutionen und Bevölkerungsgruppen zu stärken sowie gemeinsam Projekte zu entwickeln und durchzuführen.

Solche strategischen Netzwerke, die sowohl zivilgesellschaftliche Akteure als auch institutionelle Akteure aus Politik, Verwaltung und Behörden einbeziehen, bedürfen eines professionellen Netzwerkmanagements sowie einer professionellen Netzwerkmoderation. Aus Gründen der unterschiedlichen Perspektiven einzelner Akteure und zum Teil auch aus divergierenden Wertehaltungen stellen Netzwerke oft konfliktreiche Beziehungsgeflechte dar - Arbeits- und Handlungsansätze variieren mitunter stark. Sofern Verhandlung ein zentraler Kooperationsmechanismus von Netzwerken ist, bedarf es dazu einer adäquaten Kooperations- bzw. Verhandlungstechnik. Moderation erfüllt einige der wesentlichen, daraus resultierenden Anforderungen wie • • • •

Ausgleich bzw. Abgleich unterschiedlicher Interessen und Ziele (Sachebene), Ausgleich von Machtasymmetrien (Beziehungsebene), Strukturierung von Arbeitsprozessen (Ebene des Prozessmanagements) und Förderung der Netzwerkkultur

Der Kontext einer Moderation in Netzwerken unterscheidet sich grundlegend von der Herangehensweise im „traditionellen" organisationalen Milieu. Moderation in Netzwerken ist nicht nur eine mögliche Technik zur Gestaltung des Verhandlungs- und

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Kooperationsprozesses, sondern unerlässlicher Kern der Netzwerkgestaltung überhaupt. Netzwerkmoderation wird damit zu einem elementaren Bestandteil der Netzwerksteuerung, somit zu einer Schlüsseltechnik für die Gestaltung von Netzwerken (Aderhold 2005: 21-46).

4.

Resümee

Die Kommune ist der Ort, wo sich zeigen wird, inwieweit Infrastrukturangebote den Bedürfnissen ihrer Bürgerinnen und Bürgern entsprechen - und wie wirkungsorientiert und nachhaltig sie ausgerichtet sind. Kommunen können die Angebote nicht alleine planen und steuern. Sie können aber durch die Bereitstellung von Infrastruktur, Kommunikation und Dialogplattformen die Basis schaffen, damit zivilgesellschaftliche Akteure bedarfsgerechte Lösungen umsetzen können.

Literatur Aderhold, Jens (2005): Unterscheidung von Netzwerk und Organisation, Netzwerkkonstitution und Potentialität. In: Konzepte und Strategien der Netzwerkarbeit Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.). München, S. 21-46. Bauer, Petra (2005): Institutionelle Netzwerke steuern und managen. Mit Netzwerken professioneller zusammenarbeiten. Bd. 2. Tübingen, S. 11 - 54. Becker, Comelia/Dopfer, Jaqui (2005): Electronic Public Participation - Neue Medien in der Öffentlichkeitsbeteiligung bei behördlichen Prozessen. Sofia - Diskussionsbeiträge zur Institutionenanalyse Nr. 05-4. Darmstadt. Behringer, Jeannette (2007): Zivilgesellschaft in der Demokratie. In: Der Bürger im Staat, 4/2007. Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, S. 204. Bertelsmann Stiftung (2007): Zukunft Quartier - Lebensräume zum Älterwerden, Themenheft 2: Gemeinsam mehr erreichen - Lokale Vernetzung und Kooperation. Gütersloh, S. 10. Buse, Michael/Nelles, Wilfried/Oppermann, Reinhard (1977): Determinanten politischer Partizipation. Meisenheim, Glan. Engels, Dietrich (2004): Armut, soziale Ausgrenzung und Teilhabe an Politik und Gesellschaft. Köln. Enquete-Kommission: „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements" Deutscher Bundestag (Hrsg.) (2002): Schriftenreihe Bd. 4. Bericht: Bürgerschaftliches Engagement: Auf dem Weg in eine zukunftsfähige Bürgergesellschaft. Frech, Siegfried (2007): Bürgerschaftliches Engagement, In: Der Bürger im Staat, H. 4/2007, Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg. Hagedom, Hans/Märker, Oliver/Trenel, Matthias (2001): Bürgerbeteiligung im Internet - Das Esslinger Fallbeispiel. WZB Discussion Paper FS II 01-208. Online: http://skylla.wz-berlin. de/pdf/2001/ii01-308.pdf.

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Alfred Reichwein und Martina Trauth-Koschnick

Hokkeler, Michael (2008): Vortrag zum Web 2.0, Modemer Staat 2008. Online: wvm.kikos.de. Holman, Peggy/Devane, Tom (2006): Change Handbook, Heidelberg. Initiative eParticipation: Elektronische Bürgerbeteiligung in deutschen Großstädten 2005. Zweites Website-Ranking der Initiative eParticipation. Online: http://www.initiative-eparticipation.de/Studie_eParticipation2005.pdf. KGSt (1999): Bürgerengagement - Chancen für Kommunen. Bericht Nr.6/1999. Köln, S. 15. KG St (2009): Management des demografischen Wandels, Strategie und Organisation. Bericht Nr. 1/2009. Köln, S. 59. Klein, Ansgar (2007): Bürgerschaftliches Engagement und zivilgesellschaftliche Reformpolitik. In: Der Bürger im Staat. Jg. 57, H. 4, S. 212-217. Klie, Thoma (2007): Bürgerschaftliches Engagement und die Zukunftsfähigkeit der Städte und Gemeinden. In: Der Bürger im Staat, H. 4/2007, Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg. Klingelhöfer, Susanne (2005): Konzepte und Strategien der Netzwerkarbeit im Programm Entimon - Gemeinsam gegen Gewalt und Rechtsextremismus. In: Konzepte und Strategien der Netzwerkarbeit. München, S.47 - 72. Mitterhuber, Renate (2009): Mitmachen lohnt. In: VITAKO aktuell 2/2009. Offe, Claus (1974): Rationalitätskriterien und Funktionsprobleme politisch-administrativen Handelns. In: Leviathan 2, Nr. 3, S. 333-345. Positionspapier des Deutschen Städtetages zum II. Städtebaukongress. Köln, 2004. Schubert, Herbert (2005): Das Management von Akteursnetzwerken im Sozialraum. Mit Netzwerken professioneller zusammenarbeiten. Bd. 2. Tübingen, S. 73 -104. Weber, B. (1994): Untemehmensnetzwerke aus systemtheoretischer Sicht. Zum Verhältnis von Autonomie und Abhängigkeit in Interorganisationsbeziehungen. Institut für Betriebswirtschaft. Hochschule St. Gallen. H. 9, St. Gallen.

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Kommunikation und Stadtentwicklung. Für eine Wunschkultur in der Kommunikation von Ludovica Scarpa

Stellen wir uns eine lange Linie auf dem Boden vor. Sie symbolisiert, an einem Ende, das rationale, wissenschaftlich bestätigte Wissen, wonach menschliche Verhaltensweisen von Strukturen und Tatsachen abhängig sind, welche die betreffenden Personen nicht durchschauen: Verhalten wird hier interpretiert als eine Funktion von Geschichte, Erziehung, Natur, Konditionierungen, Gesellschaft, Biologie, Genen u.v.m. Das andere Ende symbolisiert die Vorstellung, Menschen seien immer frei in ihren Sinngebungen, ihr Verhalten könne daher als eine Funktion ihrer Art und Weise gesehen werden, Sinn zu suchen und zu geben bzw. zu finden.1 Die Soziologie schwankt zwischen diesen Extremen: Einerseits gelten quasi-naturwissenschafitliche Ursache-Wirkungsketten, wonach Verhalten, ebenso wie natürliche Phänomene, von Wissenschaftlerinnen studiert und interpretiert wird, ohne dass die Akteure notwendigerweise davon wissen, andererseits werden sie nach narrativen, ethnographischen und existenziellen Methoden als Experten ihrer Probleme gesehen: Sie erzählen ihre Geschichte und geben ihr erst dadurch Sinn. Städtebau und Stadtplanung als wissenschaftliche Disziplinen suchen nach einer „Objektivierung" von Wissen, brauchen also verallgemeinerbare Antworten auf unser Bedürfnis nach Sinn. Was allerdings mit Menschen zu tun hat, hat immer mit der Pluralität von Einzelnen zu tun, mit ihren Namen, ihren Adressen und Geschichten sowie ihrer jeweiligen Fähigkeit, selbständig nach Sinn zu suchen - was durch ihre Erzählungen geschieht.

1

Vgl. Bourdieu 1992: 141f.: »Doch wie der Subjektivismus seiner Tendenz nach die Strukturen auf die Interaktionen reduziert, so leitet der Objektivismus die Handlungen und Interaktionen aus der Struktur ab. So besteht der zentrale theoretizistische Fehler - Marx begeht ihn - darin, die Klassen auf dem Papier als reale Klassen zu behandeln, von der objektiven Homogenität der Bedingungen, Konditionierungen, folglich der Dispositionen - einer Homogenität, die aus der positionalen Identität im sozialen Raum erwächst - , auf die Existenz als vereinigte Gruppe, als Klasse zu schließen. Der Begriff des sozialen Raums ermöglicht es, sich der Alternative des Nominalismus und des Realismus im Bereich der sozialen Klassen zu entziehen: Die politische Arbeit, die soziale Klassen im Sinne von corporate bodies schaffen soll, permanente Gruppen, die mit permanenten Vertretungsorganen, Siglen usw. ausgestattet sind, hat um so mehr Aussichten auf Erfolg, je näher sich die Akteure, die zusammengebracht, zu einer Gruppe vereinigt werden sollen, im sozialen Raum stehen (folglich derselben Klasse auf dem Papier angehören). Die Klassen im Sinne von Marx sind durch politische Arbeit herzustellen, deren Erfolg davon abhängt, ob sie sich mit einer in der Realität fundierten Theorie wappnet, die also in der Lage ist, einen Theorie-Effekt - theorein heißt im griechischen sehen - auszuüben, das heißt eine Vision der Division durchzusetzen."

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Ludovica Scarpa

Konstituierte Welt Damit ist knapp die Schwierigkeit skizziert, mit der Spezialisten und Betroffene konfrontiert sind, wenn sie sich treffen, um über ihre Stadträume zu sprechen und durch „Partizipation" zu komplexen Entscheidungen zu finden. Fachspezialisten sind reich an „objektivem" Wissen, die Betroffenen hingegen reich an „subjektiven" Geschichten und Empfindungen. Wenn Menschen miteinander reden, vergleichen sie dabei stets implizit verschiedene Welterklärungen, Deutungen und Sinngebungen. Durch die Art und Weise, wie wir über die Welt reden, konstituieren wir sie: So können wir, um ein Beispiel zu nennen, das Konzept der Evolution als Kampf betrachten; wir können sie aber auch als Anpassungsprozess sehen, der die Harmonie der gesamten Natur betont - je nachdem, welche Begriffe wir benutzen, implizieren und evozieren wir damit andere Weltvorstellungen. Zwischenmenschliche Kommunikation selbst können wir entweder als Tanz oder als Kampf interpretieren: Es geht dabei um weit mehr als nur um Inhalte, die Beteiligten konkurrieren um die Wertschätzung des jeweils anderen, es geht um eine Art „soziale Libido", mit der wir unser Bedürfnis nach Akzeptanz und Zugehörigkeit ausleben. Jeder kennt den Stress, der entsteht, wenn wir versuchen, in die Defensive zu gehen, wenn wir „Acht geben müssen", wenn wir uns nicht verstanden bzw. uns sogar attackiert fühlen, bzw. wenn wir andere nicht verstehen - deswegen stärken kommunikative Kompetenzen u.a. aktiv die Gesundheit (vgl. Bengel/Strittmatter/Willmann 2001). Ebenso wichtig wie unsere physischen Lebenserhaltungsbedürfhisse es sind, ist es für uns, die Welt als zusammenhängend, kohärent und sinnvoll zu erleben. Vertrauen und Zuversicht basieren auf der Annahme, Sinnvolles mit anderen teilen zu können. Deswegen tut es so weh, mit den Meinungen anderer konfrontiert zu werden, die von unseren womöglich grundverschieden sind und dazu führen, dass wir das Gefühl haben, die Welt „nicht mehr zu verstehen". Die verschiedenen Akteure in partizipativen Prozessen kommunizieren also quasi aus fremden Welten miteinander und sind daher gezwungen, ihre Sinngebungen zu vergleichen. 2 Das wird im Alltag allerdings von kaum jemandem bemerkt. Wir Menschen gehen normalerweise einfach davon aus, dass das, was wir sagen, von anderen verstanden wird. Aber: Die Bedeutung von Gesagtem bzw. Gehörtem wird vom Hörer mit Bedeutung versehen, der Hörer deutet immer das, was er hört. Er kann sich beispielsweise in wenigen Sekundenbruchteilen fragen: „War es als Scherz gemeint?" und sich durch harsche Worte nicht beleidigt fühlen - oder aber eine banale Äußerung als ,Affront" interpretieren und ihr damit genau diese Bedeutung geben und dadurch eine ganz andere Realität erleben. Würden wir uns bewusst sein, wie autonom und selbstreferentiell wir darin sind, alles mit Bedeutung zu versehen, was mehr mit uns als mit der Welt um uns herum zu tun hat, wären wir viel freier und unabhängi-

2

Vgl. Birkenbihl (2007); Birkenbihl achtet mehr auf Effizienz als auf Authentizität und wird daher von Friedemann Schulz von Thun (1981) kritisiert.

Kommunikation und Stadtentwicklung

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ger in unserem emotionalen Selbstmanagement: Was in der Welt geschieht, erhält ja erst von uns eine (tragische, lustige, interessante) Bedeutung. Planer und Wissenschaftler haben eine andere Sprache, ein anderes Vorwissen und andere implizite und explizite Überzeugungen als die Betroffenen. Fremde können einander schnell missverstehen, den Absichten des anderen misstrauen und gegenseitig die Argumentationen entwerten. Aber: Fehlt das Vertrauen, sind Menschen kaum in der Lage sich gegenseitig zuzuhören, ohne in die Defensive zu gehen - und in solchen Fällen wird miteinander sprechen dann oft als Zeitverschwendung oder sogar als etwas Ärgerliches und als Stress erlebt (vgl. Benien/Schulz von Thun 2003).

Kommunikation lernen .Aktives Zuhören" und andere „Werkzeuge" für eine gelungene Kommunikation kann jeder lernen. Es geht dabei aber um noch viel mehr, es geht um die Einstellung anderen gegenüber. Je mehr „Expertenwissen" vorhanden ist, umso nötiger ist es, dass diese Experten eine offene, grundsätzlich nicht wertende Haltung gegenüber der „alltäglichen" Meinung anderer üben. Es geht darum, Distanz zum eigenen Wissen aufzubauen, um zu vermeiden, die Vorstellungen anderer (auch und besonders ohne es zu merken) zu entwerten. Die Betroffenen sind die Experten ihrer Probleme - dies ist nicht nur ein Slogan. Versuchen Experten beispielsweise zu überzeugen oder zu beschwichtigen, zeigen sie ohne es zu wollen ihre Überlegenheit. Bereits dies hinterlässt bei den Betroffenen implizit den Eindruck, ihr Standpunkt würde entwertet (und dadurch als „naiv" etikettiert). In stadtplanerischen Berufen dürfte es allerdings eher schwierig sein, wie in jeder Wissenschaft mit einem normativen Kern, eine nicht wertende Haltung einzunehmen. Umso wichtiger ist für sie ein Training in diese Richtung (vgl. Fischer/Uiy/Patton 2009). Aus der Stadt- und Architekturgeschichte kommend, biete ich solche systemischen Trainingsseminare seit dem Sommersemester 2003 an meiner Universität Iuav in Venedig an, mit zunehmendem Erfolg (vgl. Scarpa 2003: 47-53). Ich hatte angefangen, mich mit dem Thema zu beschäftigen, als ich das Unwohlsein meiner Studenten bemerkte, eine kommunikative Unsicherheit, die sie oft durch Arroganz zu verbergen suchten. Ich stellte mir die Frage, was es wohl bringen würde, alles Mögliche über Stadt- und Sozialgeschichte zu wissen, wenn wir in unseren Beziehungen zueinander derart verkümmert zu sein scheinen. In Deutschland erfuhr ich von derartigen Seminaren, zunächst an den sogenannten „Karrierezentren" der Universitäten. Schließlich entdeckte ich die Zusatzausbildung „Kommunikationspsychologie" von Friedemann Schulz von Thun in Hamburg (vgl. Schulz von Thun 1981, 1989, 1998), begeisterte mich dafür und studierte dort erneut mit den Zweck, so etwas ähnliches für meine venezianischen Studenten anzubieten - was dann auch geschah. Damit orientierte ich mich an den Bedürfnissen der Studierenden und entdeckte, wie stark unsere Kultur von Fach- und Faktenwissen dominiert ist, wohingegen die sogenannten „soft skills" oft zu kurz kommen.

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Von der Kritik zur Formung von Lebensräumen Städtebau ist eine Disziplin, die historisch aus der Kritik an ihrem Gegenstand, der Stadt, heraus entstanden ist: Auf den ersten Tagungen im 19. Jahrhundert fragten Hygiene-Experten, Ärzte wie Rudolf Virchow sowie die ersten Stadtexperten nicht nach den Vorteilen und Funktionsweisen der europäischen Städte, sondern kritisierten sie als grundsätzlich zu dicht bebaut und unhygienisch. Später kritisierten sie sie als Ergebnisse von Spekulationstätigkeiten. Somit ist Städtebau eine Disziplin, die mehr aus der Kritik ihres Objektes heraus entstanden ist als aus der Frage, wie dieses funktionierte (vgl. Scarpa 1995b). Eine Haltung der Sorge und der Fürsorge setzte erst vor knapp 30 Jahren ein. Sie trat allmählich an die Stelle dieses problematischen Anfangs, und zwar seitdem sich Bewohner in Berlin-Kreuzberg in den 1970er Jahren vor Bulldozer legten, um ihre Altbauhäuser zu retten. Dabei ist es uns wichtig zu betonen, dass es sich um Betroffene handelte, die sich für ihre Stadträume einsetzten, nicht um Stadtplaner. Stadtplanung formt Räume, die Menschen in ihrem Alltag beeinflussen (vgl. Emeiy 2007; Scarpa 1995a). Es geht im weitesten Sinn um das Regieren von Menschen, indem über grundsätzliche, existenzielle Fragen entschieden wird, die für längere Zeit „gebaute Tatsachen" schaffen. Stadträume sind historisch immer dadurch entstanden, dass einige Subjekte ihre Vorstellungen und Ziele über die von anderen gesetzt haben; es geht also immer auch um Macht, nicht nur um Wissen. Fachleute verstehen sich dabei oft als Vermittler zwischen den Bedürfnissen von Bürgern, technischen Möglichkeiten und kulturpolitischen Werten, und realisieren zunächst gar nicht ihre Identifizierung mit ihrem Wissen und ihren Standards. Dies kann man in Frage stellen, wenn wir uns historische Stadträume anschauen: Ist es zum Beispiel wirklich so wichtig, „genug Sonne und Luft (und .Abstandgrün') für alle" zu haben, wenn wir sehen, wie zufrieden in Altstädten ohne dies gelebt wird? Stadtplanung ist ein „Dispositiv", wie Michel Foucault es bezeichnete 3 : Ein Zusammenspiel von Wissen, Regeln, Theorien, Vorstellungen, Verwaltungspraxis, Diskursen, Debatten, Reden und Gegenreden, ein dichtes Netz um den Stadtraum zu planen, d.h. in seiner Entstehung zu kontrollieren, wobei Wertvorstellungen sich quasi verselbständigen und als Tatsachen objektiviert werden. Bei einer Verschärfung der bereits vorhandenen Kommunikationsprobleme zwischen den Planern und der öffentlichen Hand sowie der Zivilgesellschaft im Bereich der Stadtentwicklung können wir nicht von „falschen" Ansprüchen, Vorbehalten oder Rollenverteilungen sprechen: Es geht vielmehr gerade darum, Begrifflichkeiten wie „falsch/richtig" sowohl innerpsychisch als auch in der Praxis zu überwinden. Da je nach Sichtweise und Zielen andere Vorstellungen „richtig" sind, lernen wir, das komplexe System als Ganzes zu betrachten, quasi ohne uns mit einer Partei zu identifizieren, und erkennen dann oft die sich gegenseitig hochschaukelnden Teufelskreise. 3

Vgl. Agamben (2006); Hier wird das Konzept des „Dispositiv" besser erklärt als bei Foucault selbst.

Kommunikation und Stadtentwicklung

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Wohl bleiben uns Konzepte wie „nützlich" und „geeignet", die nur in Bezug zu erklärten Zielen benutzt werden können: Wir sprechen daher eher von „funktionalen" oder „dysfunktionalen" Systemen in Hinblick auf das Erreichen solcher expliziten, reflektierten, transparenten Ziele. Die „fremden Welten" beider Seiten können z.B. so aussehen: Die Experten sind stolz auf ihr Wissen, motiviert, dies der Zivilgesellschaft zur Verfügung zu stellen, erklären auch bereitwillig die Ziele der Planung bzw. die Lösungen, die sie befürworten. Die Bürger ärgern sich vielleicht bereits über die Art und Weise dieser Experten „sich wichtig zu machen", die Wörter verwenden, die ansonsten kein normaler Mensch benutzt. Wie sie von oben herab mit uns sprechen! Oft werden ihnen zudem verborgene Absichten unterstellt, also andere als die, die sie nach außen hin kommunizieren. Und sind wirklich die Expertenlösungen geeignet, die eigenen Probleme zu lösen? Man fühlt sich eben nicht auf Augenhöhe: Auf der einen Seite sind die, die das Wissen besitzen, auf der anderen Seite sind wir Bürger mit unseren schmerzlichen Erfahrungen, die oft genug nicht gehört und ernst genommen werden.

Richtungswechsel Was bedeuten diese Erkenntnisse für die Praxis? Wer kann zwischen den mentalen Welten Brücken bauen? Bedarf es eines externen Impulses, um auf eine veränderte Kommunikation hinzuwirken? Einige Interviewpartner (vgl. Becker/Runkel in diesem Band) berichteten, dass externe Impulse nötig sind, da sich Verwaltungen schwer tun, sich aus sich heraus zu verändern. Kursänderungen werden in der Tat erst dann vorgenommen, wenn es auf den üblichen Wegen nicht mehr funktioniert. Sind also - wie in Kreuzberg Ende der 1970er Jahre - Entscheidungen blockiert, dann lernen Verwaltung und Stadtplaner-Szene durch ständige Verhandlungen mit den jeweiligen Akteuren, die Bedenken und Ziele der Betroffenen ernst zu nehmen. Wir können uns fragen, ob es die Bürger sind, die auf eine veränderte Kommunikation „trainiert" werden sollten, oder ob es nicht vielmehr Aufgabe der Verwaltung und der Wissenschaft sei, ihre Mitarbeiter und Vertreter zu schulen. Um dies beantworten zu können, ist mit Thomas Gordon folgende Frage zu stellen: „Wer hat das Problem?" 4 Abgesehen davon, dass es eher schwierig zu bewerkstelligen wäre, Bürger zu einer Erweiterung ihres kognitiven Bewusstseins und zu einem Kommunikationstraining zu bewegen, sind es die Vertreter der Verwaltung und der Stadtplanung, die etwas erreichen wollen - ihre Planung durchzusetzen bzw. Probleme dadurch zu lösen. Und wer etwas will, der hat ein Problem: Wie kann er dies erreichen? Besonders dann, wenn andere skeptisch sind? Unter anderem durch eine effektive und geeignete

4

Vgl. Gordon 1989 und 2005; Beide Bücher sind bereits dreißig Jahre alt, allerdings immer noch unersetzlich für die Entwicklung einer Kommunikationskultur, die auf aktivem Zuhören basiert.

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Kommunikation (vgl. Hinsch/Wittmann 1997). Nicht um zu überzeugen oder im Endeffekt gar zu manipulieren (was sich mittelfristig nicht auszahlt, sondern sogar noch mehr Probleme schafft, da das Vertrauen gänzlich und unwiderruflich zerstört wird), sondern um gemeinsam mit den Bürgern nach (neuen) Ideen Ausschau zu halten (vgl. Wates 2000). Neue Ideen und Kreativität gedeihen allerdings nur dort, wo eine ruhige Atmosphäre herrscht und niemand Gefahr läuft, gedemütigt oder gar beschämt zu werden: „Brainstorming" verträgt sich nicht mit Kritik und erst recht nicht mit Polemik, sodass das konstruktive Benennen von Problemen wieder eine notwendige kommunikationspsychologische Angelegenheit ist. Experten haben also ein Interesse daran, ihr Fachwissen zu bereichern, durch „aktives Zuhören", Paraphrasieren und konstruktives Feedback zu lernen, mit den Bürger produktiv zu reden, sie ernst zu nehmen und verstanden zu werden. In der Praxis kann sich der Stadtplaner den Bürgern gegenüber ähnlich verhalten wie der Lehrer (wie im Buch von Gordon geschildert) gegenüber seinen Schülern: In beiden Fällen besteht kein symmetrisches Verhältnis, da der Lehrer bzw. der Stadtplaner eben „mehr weiß" als sein Gesprächspartner, und genau diese Ungleichheit gilt es mit kommunikativen Mitteln auszubalancieren. Merke ich ζ. B. als Stadtplaner, dass ein Betroffener unruhig wird oder sogar verärgert ist, werde ich es tunlichst vermeiden, meine Position zu verteidigen, sondern durch „aktives Zuhören" erst einmal versuchen genau zu verstehen, was für Wünsche, Ängste, Enttäuschungen und Bedürfnisse sich hinter diesem Ärger verbergen. Erst dann, wenn der Betroffene sich durch mein Paraphrasieren verstanden fühlt, werde ich mit „Ich-Botschaften" meine Ziele und Ansichten erklären, und zwar dann, wenn ich sicher bin, dass der andere in der Lage ist zuzuhören, ohne das Bedürfnis zu verspüren in die Defensive zu gehen, also nur dann, wenn er sich in seinem Ärger so weit ernst genommen fühlt (und sich in seiner Haltung und seinen Empfindungen akzeptiert fühlt), dass er verhandlungsfähig ist (vgl. Rosenberg 2009). Dabei die eigene fachliche Überlegenheit zu zeigen bzw. zu betonen kann ein Fehler sein, genauso wie es ein Fehler ist, den Unmut und die Vorwürfe von Bürgern zu verniedlichen und zu banalisieren und somit zu entwerten. Ich habe es selbst erlebt, wie die Gemeindevertreter des Dorfes, in dem ich lebe (am südlichen Ende von Lido), während einer Versammlung bezüglich der Umgestaltung der Piazza die Einwohner mit den Worten „ihr jammert ja auch nur immer" diskreditierten, als sie merkten, dass diese das Vorhaben ablehnten. Die Planung rollte erbarmungslos über das Dorf, das jetzt nicht mehr wie ein verschlafenes Dorf, sondern so wie jede andere Peripherie aussieht. Im Ergebnis bleiben auch hier die Bewohner lieber in ihren Häusern vorm Femseher, statt wie früher draußen zu sitzen. Schlechte Planung beeinflusst also in der Tat das Verhalten von Menschen. Ich frage mich daher, ob gar keine Planung nicht besser als schlechte Planung ist. Die Frage lautet also auch: Sind die Lösungen, die Stadtplaner mit den Bürger besprechen, wirklich „offen", oder geht es nicht einfach nur darum, sie ihnen zu verkaufen? Leider ist oft genug die zweite Variante der Fall. Dabei mutiert Kommunikation zu Manipulation oder Werbung. Solche Erfahrungen vertiefen die Kluft zwischen der Zivilgesellschaft

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und den Institutionen der Verwaltung und der Politik, die hier in Italien bereits eher als „Feinde" der normalen Menschen angesehen werden: Man ist solche Machtspielchen gewohnt, das Vertrauen ist entsprechend gering. Wie gesagt, es handelt sich nicht um „Techniken", vielmehr ist es eine bewusste Einstellung, die durch das Erlernen solcher Techniken geformt wird: Fachwissen gilt nicht „mehr", ist nicht „mehr wert" als das „diskursive" Erfahrungswissen der Bürger. Ihr Ärger verbirgt Ängste, Sehnsüchte und Frustrationen, die die Experten ernst nehmen sollten, anstatt sie zu verniedlichen; sie sollten sie mit verständlichen und nicht wertenden, wertschätzenden Worten verbalisieren, um gemeinsam nach Lösungen zu suchen, durch die ein sogenannter „win-win"-Prozess entsteht, bei dem niemand den Eindruck gewinnt, „gewonnen" oder „verloren" zu haben.

Bürgerbeteiligung und das Konzept des „ethnographischen Blicks" Bürger in der Entscheidungsfindung auf lokaler Ebene zu beteiligen hat mehrere Vorteile, hier seien nur drei davon genannt: •

Bürger kennen ihre Lebenswelten sehr gut, ihre Erkenntnisse sind zwar anderer Art, aber genauso wichtig wie „Fachwissen". • Gelingt es, sie ernst zu nehmen und sie zu überzeugen, so sind es dann auch „ihre" Entscheidungen, die getroffen werden und respektiert werden wollen, und sie werden sich damit identifizieren und sie mittragen. • Viele Köpfe haben mehr Ideen als wenige: In einem wirklich wertfreien „Brainstorming" kommen kreative Ideen zustande, die eine Person allein nicht hätte entwickeln können. Allerdings gelingt Bürgerbeteiligung bekanntlich nicht dadurch, dass man die Bürger lediglich einlädt. Die Moderation in Planungsprozessen ist ein delikates Unterfangen. Es gilt Wertschätzung sowie eine wertungsfreie Zone durch kommunikative Mittel herzustellen, in der sich jeder ohne Bedenken und ohne die Sorge, beschämt oder belächelt zu werden, einbringen kann. Um eine solche Moderation durchführen zu können, muss ich als Moderator in der Lage sein, mein „Vorwissen" auszuklammern, ich darf mich nicht mehr als „Experte" sehen, der den Bürger erklärt, was für sie gut ist (vgl. Weisbach/Sonne-Neubacher 2008). Ich muss also mein Wissen parat haben, gleichzeitig aber eine gesunde Distanz dazu herstellen, um mich nicht damit zu identifizieren - sollte dies der Fall sein, würde ich schnell das Bedürfnis verspüren, meine Position zu verteidigen, was jede Souveränität sowie die Fähigkeit, zuzuhören, zerstört. Ein Moderator, der in der Lage ist, eine Atmosphäre zu schaffen, in der sich alle sich wohl fühlen, tut dies mit kommunikativen Mitteln und mit einer besonderen Einstellung anderen gegenüber: Grundsätzlich fasst er jeden Redebeitrag knapp mit eigenen Worten zusammen, bevor weitere Beiträge folgen. Er resümiert auch immer wieder wertfrei den Stand der Diskussion. Sind Emotionen im Spiel, so werden diese ausgedrückt, lediglich beschrie-

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ben, ebenfalls ohne zu werten. Kritik wird von ihm dabei in die dahinter liegenden Wünsche und Bedürfnisse übersetzt. In meinen Seminaren geht es prinzipiell darum zu lernen, wie und durch welche bewussten Prozesse wir Menschen Sinn vermitteln, damit wir offen für die Interpretationen anderer werden, ohne das Bedürfnis zu verspüren, in die Defensive zu gehen, wenn diese unsere Weltvorstellungen in Frage stellen. Dabei gehe ich kognitiv, systemisch und spielerisch vor. Ich stelle z.B. mit John Searle (vgl. Searle 2008) fest, dass es zwei Arten von Sprache gibt, die grundsätzlich eine andere Beziehung zur Realität abbilden: • •

Beschreibungen und Wünsche.

Die ersten „begleiten" sozusagen die Realität, sie beschreiben, was existiert, und zwar so, wie es ist, während die zweiten etwas gegen sie formulieren. Deswegen bringt eine Beschreibung sofort etwas Ruhe in eine Diskussion. Alles was mit Planungen, Vorstellungen davon, wie etwas sein soll, Ansinnen, Zielen zu tun hat, hat mit Wünschen zu tun und ist eine Art Konkurrenz - in unseren Gedanken, unserem Wollen - zur realen Welt. Wir üben damit potentiell Druck auf sie aus, um sie zu verändern, denn wir brauchen uns nichts zu wünschen, was bereits existiert. Auch Kritik und Vorwürfe sind nur besondere Formen von Wünschen: Wenn ich „dies da" kritisiere, wünsche ich mir damit, dass „dies da" anders sei als es ist. Da wir Menschen dadurch charakterisiert sind, dass wir Bedürfnisse und Wünsche haben, die uns ständig motivieren, sind wir prinzipiell „gegen" die Welt, wie sie ist. Wir wollen sie verändern und tun dies auch. Wünsche haben also implizit mit Macht zu tun, mit Macht über und mit Widerstand gegen die Dinge, die sich viel zu oft erlauben, genau so bleiben zu wollen wie sie sind, statt sich unseren Wünschen entsprechend zu verhalten. Wenn wir durch Übung schließlich dahin gelangen zu verstehen, dass Vorwürfe und Kritik einfach destruktiv geäußerte Wünsche sind, so können wir uns darin üben, positiv und konstruktiv zu äußern, wonach wir uns sehnen, also Wünsche und Bedürfnisse auszudrücken, statt andere bereits durch unsere kritische Wortwahl in die Defensive zu drängen. Es gehört allerdings „Training" dazu, da wir in der Regel intuitiv eher in der Lage sind zu sagen, was wir nicht (mehr) wollen, als das positiv zu äußern, was wir wollen. Sind wir dann darin trainiert, so sind wir auch in der Lage (eventuell aggressive) Vorwürfe anderer in die dahinter liegenden Wünsche und Bedürfnisse zu übersetzen. Wir brauchen dann nicht selbst in die Defensive zu gehen. Meine Seminare sind sozusagen Training für eine „Wunschkultur", da die Gesprächspartner bei Kritik in der Regel in die Defensive gehen und ein unnötiger Teufelskreis aus Rechtfertigungen - Recht haben wollen - Beweisen und Gegenbeweisen - sich verteidigen usw. entsteht. Dabei hört keiner dem anderen und seinen Bedürfnissen wirklich zu, da es um „Recht haben" und „das Gesicht wahren" usw. geht: Wir sind also auf einmal nicht mehr Partner im Bemühen, Probleme zu lösen, sondern Konkurrenten, Kämpfer um die „richtige" Position. Um uns daran zu gewöhnen, die eigenen

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Meinungen und Überzeugungen aus der Distanz als Meinungen und Überzeugungen zu betrachten, die nicht mehr gelten als die von anderen auch, habe ich das Konzept des „ethnographischen Blicks" entwickelt. Das ist ein Modell, um die drei Schritte deutlich zu „sehen", die in unserem Kopf ansonsten so schnell vor sich gehen, dass wir sie gar nicht erst wahrnehmen: Wahrnehmung: Etwas, was wir beschreiben können, oder ein Satz, den wir hören oder lesen, ein Bild, das wir fotografieren können. Alles, was unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht und wir mit unseren Sinnen erfahren. Sinngebung, Interpretation, Einschätzung: Was bedeutet das für mich? Welche Bedeutung gebe ich dem, und auf der Basis welcher Überzeugungen basiert diese? Emotionelle Reaktion: Je nachdem, ob ich meine Wahrnehmung als Gefahr oder als Bestätigung für meine Welt definiere, fällt die Reaktion anders aus: ein inneres Nein oder ein inneres Ja, ein Gefühl von Aversion oder von Wohlfühlen und Einklang. Der erste und der dritte Schritt sind Realitäten, die ich beschreiben kann. Ein Satz, den ich zitiere, (oder eine Szene, die ich fotografiere) und die Wahrnehmung, wie ich mich dabei fühle, sind beides „Phänomene", die ich beschreiben kann. Nur der mittlere Schritt der Sinngebung gibt diesem Satz genau den Sinn, den dieser für mich als Hörer dann „hat". Und jedes Bewusstsein „erzeugt" dies, indem das Wahrgenommene durch den eigenen „Filter" an Überzeugungen, Werten, Kultur, Vorstellungen, Wissen, Erwartungen, Wünschen, Bedürfhissen usw. eben eine Bedeutung erhält, die zusammen genommen für uns „Sinn macht". Was ich „Filter" nenne, nennen wir normalerweise „ich", also alle Konditionierungen und Eigenschaften, die jeder besitzt und die sich einerseits ähneln, andererseits bei jedem ganz anders sind. Mit diesem mentalen Modell kann ich mit etwas Übung erkennen, dass Dinge und Menschen nicht so „sind", wie ich sie sehe und benenne, sondern dass sie von uns ständig „Bildunterschriften" erhalten, mit denen sich unsere Erfahrung erst färbt und zwar mit Qualitäten, die wir selbst in Dinge und Menschen hineinprojizieren. Je nach Erwartungshaltung und mentalem Standard werde ich z.B. John als „faul" bezeichnen. Dabei werde ich ernsthaft glauben, ich hätte ihn lediglich beschrieben, was nicht der Fall sein kann, da dies eine Bewertung auf der Basis meiner Erwartungen an John ist. Eine Beschreibung wäre viel umständlicher: Wenn ich so etwas äußere, interessiert mich lediglich, was John meiner Meinung nach tun „sollte". Ich vergleiche meine Wahrnehmung mit meinen Wünschen und Vorstellungen und ziehe letztere vor. Wahrnehmung und emotionale Reaktionen sind nach Paul Watzlawick (vgl. Watzlawick 2008) Phänomene bzw. Realitäten erster Ordnung, da sie messbar sind. Unsere Fähigkeit zur Sinngebung ist die Basis unserer Freiheit, immer neue und andere Interpretationen geben zu können, andere Wertungen und Evaluierungen vornehmen zu können. Sogar das Konzept von „Potential" können wir denken, was

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nichts anderes bedeutet als .jetzt noch nicht existent", nur in Potenz vorhanden. Ich denke dabei nicht nur, dass wir das Potential haben, umzudenken und das Gehörte anders zu verstehen, sondern auch, dass wir darüber hinaus ganz allgemein sogar etwas nicht Existierendes denken können: Was „potentiell" ist, gibt es eben noch nicht. Merken wir dies, eröffnen sich für unsere Freiheit neue Spielräume. Wenn wir Menschen also solch einen Begriff wie „Potential" denken können, handelt es sich dabei nicht nur um das „Potential", mit meiner Interpretation die meines Gegenübers besser verstehen zu können, sondern auch und gerade um das ganz offene Potential: Was wir noch nicht entdeckt, noch nicht gedacht haben, die Idee, die wir noch nicht mit Worten benennen können, und die umso wichtiger ist, je mehr sie sich von der jetzigen Realität unterscheidet; wenn sie uns als Zivilgesellschaft die Richtung zeigt, in die wir gehen wollen, um unsere vielfältigen Wünschen zu erfüllen. Gerade unmögliche „Ideen" und Wünsche sind also dabei richtungsgebend und werden umso wichtiger, je „anders" die noch geltende Norm und die jetzige Realität voneinander abweichen: Sie sind nämlich dazu da, uns die Richtung zu noch ungeahnten Potentialen aufzuzeigen. Wir verleihen also vielem Wichtigkeit, und zwar genau die Wichtigkeit, von der wir glauben, dass Dinge sie haben, und zwar in genau dem Augenblick, in dem wir ihnen diese Wichtigkeit geben. Wenn wir in meinen Seminaren gemeinsam diesen Blick üben, so werden wir bald weniger Mühe damit haben, „unparteiisch" zu sein, was bei der Moderation von hitzig geführten Stadtplanungsdebatten sehr hilfreich sein kann.

Ausblick Diese nicht ganz so neuen Kommunikationsmethoden kommen nicht nur in Partizipationsprozessen zum Zuge. Wir können von einem allgemeinen Wandel in der Kommunikation sprechen, der sich seit den 1970er Jahren allmählich in Gang gesetzt hat. Zivilgesellschaft ist ein Begriff und ein Zustand, sie bildet sich aber nicht „von selbst" aus: „Soziale Kompetenz" ist eine der vom Europäischen Parlament befürworteten Kompetenzen, 5 und es gehört Training dazu. Alle gesellschaftlichen Kategorien sind davon betroffen, dass wir heute nicht mehr einfach „gegebene" und von allen getragene Wertvorstellungen teilen, sondern quasi ständig in einer Situation der „interkulturellen Kommunikation" leben. Generell kann für die kommenden Generationen eine verbesserte Kommunikation durch die Schule sowie gute Modelle angestoßen werden, dies ist aber ein Thema, das die Grenzen der Stadtplanung natürlich bei weitem sprengt. Allerdings wissen wir aus sozialpsychologischer Sicht längst, dass moderne, anonyme Stadträume zu

5

Raccomandazione del Parlamento europeo e del Consiglio der 18 dicembre 2006, relative a competenze chiave per l'apprendimento permanente. In: „Gazzetta Ufficiale dell'Unione Europea", S. 8.

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aggressiven oder depressiven Verhaltensweisen führen können. A n erster Stelle sind also doch wieder diejenigen gefragt, die Stadtplanung betreiben, so dass sie diese „menschenverachtenden" Stadträume nicht mehr planen und bauen lassen werden. Insofern glaube ich, dass „aktives Zuhören" nur ein erster Schritt in Richtung einer allgemeinen Schärfung unserer Empathie mit Menschen und Bürgern sein kann, aber auch mit Landschaften, Stadträumen und Natur. Es geht also um eine „aktiv zuhörende Einstellung", die unser (manchmal viel zu starkes und überbewertetes) technisches Wissen begleiten kann und soll. Man könnte die Meinung vertreten, ein Kommunikationstraining sollte Bestandteil aller Studiengänge werden, und zwar eben nicht nur als „skill", um überzeugend zu „wirken", sondern um derartige Bedürfnisse bei sich selbst wahrzunehmen, um das Bewusstsein für diese zu schärfen, damit man andere ernst nehmen kann, so wie man sich selbst ernst nimmt. Allerdings haben solche Erfahrungen nur dann eine positive Wirkung, wenn die jeweilige Person sie aktiv sucht, also ein Bedürfnis danach verspürt - und dies ist auch das größte Problem dabei: Sie sind praktisch nicht erlernbar für „beratungsresistente" Menschen, also für Menschen, die diese Erfahrungen nicht wollen bzw. in ihren Urteilen entwerten. Und auch dies gilt es zu respektieren.

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Ludovica Scarpa

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Gesprächsführung.

VII. Fazit

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Zivilgesellschaft und Stadtentwicklung von Rupert Graf Strachwitz

Einleitung Zivilgesellschaft ist zu einem Modebegriff geworden. Kaum eine politische Äußerung kommt heute ohne die Nennung dieses Wortes aus. Was aber damit impliziert wird, bleibt vielfach unklar. Geht es um eine Handlungsoption, die sich von einer wie auch immer militärisch definierten abgrenzen soll? Um freiwillige Beiträge der Bürgerinnen und Bürger zur Erfüllung der Staatsaufgaben, weil diese aus dem Steueraufkommen und mit den Mitarbeitern der Staatsverwaltung nicht mehr zu bewältigen sind? Oder um einen vorpolitischen Raum, in dem politische Teilhabe eingeübt wird? Um eine Arena, in der transfamiliäre Interaktion von Bürgern in spezifischer Handlungslogik bestimmend ist? Um eine Form der Beteiligung an der Entscheidungsfindung zu Themen und Prozessen von allgemeinem Belang? Ist Zivilgesellschaft mit Bürgergesellschaft synonym? Ist der Begriff eine modernere Ausdrucksweise für ein Phänomen, das im 19. Jahrhundert als bürgerliche Gesellschaft beschrieben wurde? Ist sie dem Bürgertum eigentümlich? Ist sie Ausdruck von Herrschaft oder setzt sie sich gerade von dieser ab?1 Diese Fragen sind heute nicht eindeutig beantwortbar. Es wird darüber in der Wissenschaft ein kontroverser Diskurs geführt, der noch nicht zu eindeutigen Begrifflichkeiten geführt hat. Insbesondere ist ungeklärt, ob letztlich ein Bereichskonzept oder ein Handlungskonzept dem Begriff der Zivilgesellschaft zugrunde liegt. Dies macht es schwer, auf die These zu reagieren, ohne eine starke Zivilgesellschaft und das in ihr wirkende bürgerschaftliche Engagement seien die Herausforderungen unserer Zeit und Gesellschaft prinzipiell unlösbar. Dennoch muß versucht werden, sich der Thematik zu nähern und sich insbesondere mit der Frage auseinanderzusetzen, ob sich tatsächlich nichts verändern würde, wenn nicht über neue Werte, über eine in einem sehr allgemeinen Sinn neue Kultur, über eine Neudefinition von gesellschaftlichen Aufgaben Einigung erzielt wird. Ohne Sozialkapital, so die Verfechter einer Stärkung der Zivilgesellschaft, keine Verbesserung der Qualität der öffentlichen Verwaltung, ebensowenig der Marktteilnehmer in ihrer Funktion als soziale Organismen (vgl. Putnam 1994). Wenn die Mitglieder der Gesellschaft dieser im weitesten Sinn nicht permanent etwas schenken, können, so ihr Argument, die eklatant hervorgetretenen Defizite nicht behoben werden. Geschenke sind notwendig - in Form von Zeit und Geld, aber auch in Form von Kreativität, Empathie, Gemeinsinn und Verantwortlichkeit. 1

Mehrere Autoren dieses Bandes haben zu Recht in ihren Beiträgen, wo notwendig, eine definitorische Klärung für die Zwecke ihrer Ausführungen vorangestellt, die von den Herausgebern nicht zu tilgen war.

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Rupert Graf Strachwitz

An dieser Stelle liegt der Einwand nahe, ein Sozialdruck zu schenken - von einer sanktionsbewehrten Pflicht ganz zu schweigen - höhle nicht nur den Begriff des Schenkens unzulässig aus, indem ihm der Freiwilligkeitscharakter genommen wird, sondern impliziere sogar ein Gesellschaftsbild mit totalitärem Anspruch, wenn sich eine hoheitliche Gewalt die Administration des Schenkens zumessen würde. Das für die Zivilgesellschaft in Anspruch genommene Attribut der Pluralität wäre in einem solchen System nicht mehr aufrechtzuhalten; anstatt der durch die Ausweisung eines eigenständigen zivilgesellschaftlichen Bereichs erstrebten größeren Offenheit der Gesellschaft entstünde deren Gegenteil. Der gesellschaftlich erwünschte Nutzen, die Freisetzung für notwendig erachteter Qualitäten wie Ideenreichtum und Ideenwettbewerb, aber auch Identifikation der Bürger mit ihrem Umfeld, Resistenz gegen innere Emigration, Integration und die Einübung einer Zivilität des Umgangs, würden nicht erarbeitet und fruchtbar gemacht werden können. These und Einwände sind Gegenstand der aktuellen Zivilgesellschaftsdebatte (vgl. Adloff 2005b). Zahlreiche Untersuchungen gehen der Frage nach, was die Bürgerinnen und Bürger zu Schenkerinnen und Schenkem macht, (vgl. Freiwilligensurvey 2004; s. hierzu auch Sprengel und Strachwitz 2008). Allerdings bleiben diese nicht auf die Analyse der Ergebnisse empirischer Sozialforschung beschränkt, sondern können durchaus auf ordnungstheoretische Konzepte verweisen, die in unterschiedlicher Weise die Zweiteilung in Staat2 und Markt oder in Staat und bürgerliche Gesellschaft für defizitär erachtet, die Vorstellung von einem alles überwölbenden Staat zurückgewiesen oder eine Dreiteilung reklamiert haben. So ist Karl Poppers offene Gesellschaft ausdrücklich dem Hegeischen Modell entgegengesetzt. Auch der Strukturwandel der Öffentlichkeit bei Jürgen Habermas oder die Weltgesellschaft bei Niklas Luhmann sind Konzepte, die ein hierarchisches Gesellschaftsmodell nicht akzeptieren. „Gesellschaft ist das umfassende Sozialsystem aller kommunikativ füreinander erreichbaren Handlungen. In der heutigen Zeit ist die Gesellschaft Weltgesellschaft. Es gibt nur noch ein einziges Gesellschaftssystem." (Luhmann 2008: 212) Die Globalisierung der Lebensbedingungen und Kommunikation hat, wenn nichts anderes, die Abgrenzung von Regionen obsolet werden und überdies regionale Bezüge entstehen lassen, die eben nicht mit administrativen Regionaleinheiten kongruent sind. Die Frage ist, wie unter solchen Bedingungen das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit umund durchsetzbar bleibt, ohne daß es zu unerträglichen Solidaritätsverlusten kommt. Als Lösung bietet sich die Stärkung des unmittelbaren, lokalen Raumbezugs an. Es geht daher im folgenden um eine im weitesten Sinn politische Dimension von Zivilgesellschaft - politisch hier ausdrücklich nicht als das Geschäft der Politiker, sondern als die Verfaßtheit von Gesellschaften verstanden. So betrachtet ist die Zeit, in der diese Zivilgesellschaft als nette Marginalie behandelt werden konnte, vorbei. Soll, wie es dem Wesen einer demokratischen und pluralen Ordnung entspricht, der 2

Mit Staat sind hier und im folgenden alle Ebenen der Verfaßtheit in öffentlich-rechtlichen Gebietskörperschaften, d. h. Gemeinde, Land, Bund und Europäische Union, gemeint.

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Mensch und Bürger in seiner Freiheit in den Mittelpunkt gestellt werden, kommt dieser Zivilgesellschaft eine grundlegende Bedeutung zu. Die Gesetzesreformen der letzten Jahre greifen in diesem Sinne zu kurz und tragen zur Lösung des Problems letztlich fast nichts bei. Sie sind populistisch oder fiskalisch bestimmt und blicken aus Sicht der hoheitlichen Gewalt auf die Gesellschaft, nicht aus Sicht des Menschen und Bürgers. Es ist daher eindringlich daran zu erinnern, daß nach unserem Gesellschaftsverständnis tatsächlich der Mensch im Mittelpunkt steht und nicht etwa die Gemeinschaft. „Am 30. Januar ist endgültig die Zeit des Individualismus gestorben. Die neue Zeit nennt sich nicht umsonst Völkisches Zeitalter. Das Einzelindividuum wird ersetzt durch die Gemeinschaft des Volkes", so hatte im März 1933 Joseph Goebbels formuliert. Daß dieses Konzept überwunden ist, muß sich nicht nur in Grunddokumenten und sonntäglichen Reden, sondern täglich neu im Alltagsleben erweisen. Dies gilt in besonderem Maße für den Kontext Raum und Zivilgesellschaft, der in der bisherigen Zivilgesellschaftsdebatte zu wenig entwickelt worden zu sein scheint.

1.

Gesellschaft, von den Bürgern her gesehen

Daß die in Westdeutschland nach 1945 begründete Gesellschaftsordnung in ihren Grundsätzen - Vorrang der Menschen- und Bürgerrechte, Demokratie, Rechtsstaatsprinzip und Aufbau auf kulturellen Traditionen 3 - langfristig wünschenswert erschien und ihrer normativen Rahmensetztung fast universell akzeptiert wurde, war in den folgenden Jahrzehnten deutlich und konstant. Ebenso wurde die ostdeutsche Gesellschaftsordnung in dieser Grundsätzlichkeit sowohl von der Mehrheit der ihr unterworfenen Bürger als auch von außen betrachtet als grundlegend defizitär angesehen. Doch spätestens in den 1960er Jahren ging in Westdeutschland der übergreifende Konsens über alle Ausformungen dieser Ordnung verloren, während er von Ostdeutschland aus in vielen Einzelheiten kritisch beurteilt wurde. Das Festhalten an Aspekten, die nur vermeintlich intrinsische Bestandteile der regelmäßig beschworenen freiheitlich-demokratischen Grundordnung darstellten, in Wirklichkeit aber entweder als Relikte früherer Ordnungen oder auf Grund anderer Entwicklungen als überholt galten, führte zu erheblichen Konflikten, die nur teilweise zum Anlaß für grundsätzliche Neuordnungen genommen wurden, insbesondere dort nicht, wo das Verwaltungshandeln gegenüber dem Bürger betroffen war. Otto Mayers Diktum „Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht", von Ralf Dahrendorf schon 1968 als „nicht nur zynisch, sondern auch unheimlich richtig" bezeichnet, scheint weithin und weiterhin auszustrahlen (Dahrendorf 1968: 234). Der Obrigkeitsstaat, der, durchaus nicht immer in schlechter Absicht, für sich die alleinige Definitions-, Planungs- und Vollzugskompetenz in allen Angelegenheiten des öffentlichen Wohls für sich in Anspruch nahm, erwies sich als hartnäckiger, als es die politische Theorie 3

So in einer ganzen Reihe von Verträgen auf den Ebenen von UNO, Europarat und Europäischer Union völkerrechtlich verpflichtend vereinbart

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und die Entwicklung der Lebenswelt der Bürger hätten vermuten lassen. Max Webers Warnung vor der .totalitären Demokratie' blieb aktuell. Versuchen, daran etwas zu ändern, war in der Regel kein hinreichender Erfolg beschieden. Das geflügelte Wort von der Staats- oder Politikverdrossenheit kommt insofern nicht von ungefähr. Schon seit einigen Jahrzehnten ist der Wohlfahrtsstaat, der ganz ohne Zweifel den Bürgerinnen und Bürgern zahlreiche positive Errungenschaften beschert hat, angreifbar geworden. Nicht nur sah und sieht er sich immer weniger in der Lage, die zugesagten oder gar in Aussicht gestellten Leistungen zu erbringen, da die Kosten die selbst mit hoheitlichem Zwang erwirtschafteten Mittel immer weiter übersteigen. Auch die sehr hohen Transaktions- (vulgo Verwaltungs-)kosten erscheinen immer weniger plausibel, zumal die Qualität der Leistungen mit den Ansprüchen, aber auch den Möglichkeiten und dem Wettbewerb immer weniger Schritt halten konnte. In den letzten Jahren ist die Frage, was „der Staat" leisten kann, um die Frage ergänzt worden, was er leisten soll. Das heißt, Bürger und Bürgerinnen stellen in zunehmendem Maße nicht nur die Leistung selbst, sondern auch den Anspruch des Wohlfahrtsstaates, sie zu erbringen, in Frage. Sie argumentieren vielfach mit dem Hinweis auf das größere Innovationspotential kleinerer Organismen, auf das schon vor Jahrzehnten Emst Fritz Schumacher hingewiesen hat (1980). Diese Argumentation wird durch zahlreiche Negativerfahrungen mit öffentlichen Verwaltungen sowie großen Industriekonzernen angereichert. Selbst mittlere Gemeinden, von den Ländern, dem Bund oder der Europäischen Union ganz zu schweigen, werden heute von vielen Bürgern als fremde, ihnen regulierend, kontrollierend, einengend gegenübertretende, ihren Herrschaftsanspruch mit allen Mitteln durchsetzende Mächte empfunden. Ob diese Einschätzung einer unvoreingenommenen Analyse standhält, ist dabei von nachgeordneter Bedeutung. Im Vordergrund steht das weit verbreitete Gefühl, schon die Stadt sei kein „Wir", sondern ein „Die da". Die Tatsache, daß schon seit rund vier Jahrzehnten in Westdeutschland Bürgerinitiativen, Aktionsgruppen, sich selbstermächtigt bildende und selbstorganisiert handelnde Vereinigungen in politische Prozesse eingreifen und besonders in Phasen der Entscheidungsvorbereitung und Vollzugskontrolle Aufgaben übernehmen, die vordem in den gewählten Volksvertretungen angesiedelt waren, spricht eine beredte Sprache. Daß eine politische Zivilgesellschaft unter bestimmten Bedingungen auch gegen ein totalitäres System erfolgreich sein kann, beweisen die Ereignisse des Jahres 1989 in Ostdeutschland (vgl. u.a. Neubert 2008/Muschter und Strachwitz 2009). Daß ein politisches System eine derartige Infragestellung seiner Autorität nicht auf Dauer ungestraft ignorieren kann, liegt auf der Hand, daß ein System, das für sich in Anspruch nimmt, vom Bürger her bestimmt zu sein (vgl. Grundgesetz Art. 20 Abs. 2), nicht repressiv, sondern kommunikativ reagieren muß, ebenso. Ohne Zweifel sind Versuche hierzu unternommen worden. Allerdings sind diese vielfach eher geeignet gewesen, die Problematik zu verschleiern, als dieser tatsächlich auf den Grund zu gehen. Andere Versuche waren im Ansatz gewiß richtig, griffen aber zu kurz oder kamen zu spät, um die sich immer stärker aufstauende Unzufriedenheit noch wirk-

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sam bekämpfen zu können, erwiesen sich nachträglich als untauglich oder waren zwar gut gemeint, aber doch im Ansatz verfehlt, weil die zugrundeliegende Analyse falsch war. Die in der Stadtentwicklung erprobten Bürgerbeteiligungsmodelle sind für letzteres symptomatisch. Schließlich haben manche Maßnahmen ihre Wirksamkeit deshalb eingebüßt, weil sie entweder einem veralteten Gesamtparadigma entnommen, weil sie sich selbst in eine Richtung entwickelten, die den Krisensymptomen gegenüber zunehmend resistent war oder weil sie sich als ungeeignet erwiesen, auf diese Symptome angemessen zu reagieren. Ein Beispiel hierfür ist die Einbindung von Verbänden, die sich als „übliche Verdächtige" heute eher dem Spott ihrer Mitwelt ausgesetzt sehen, als daß sie als wirksames Instrument bürgerschaftlicher Mitgestaltung eingeschätzt werden. Mit dieser Kritik ist ausdrücklich nicht impliziert, daß alle bisherigen Modelle der informellen Mitwirkung an planerischen Prozessen am Ziel vorbeigegangen wären. Zu betonen ist jedoch, daß diese durchweg einem Paradigma verhaftet blieben, das Hegel so beschrieben hat: „Der Staat faßt die Gesellschaft nicht nur unter rechtlichen Verhältnissen, sondern vermittelt als ein wahrhaft höheres moralisches Gemeinwesen die Einigkeit in Sitten, Bildung und allgemeiner Denk- und Handlungsweise (indem Jeder in dem Andern seine Allgemeinheit geistiger Weise anschaut und erkennt)" (1809, §54). Daß dieses Paradigma nicht zu einer pluralen, offenen, vom Bürger her bestimmten Gesellschaft paßt, liegt auf der Hand. Die Analyse wäre in unstatthafter Weise unvollständig, würde nicht ausdrücklich daraufhingewiesen, daß die seit den 1990er Jahren vielfach propagierte Vorstellung, der Staat ließe sich als Leistungserbringer durch den Markt ersetzen, weder im Ansatz vertretbar noch letztlich erfolgreich gewesen ist. Zwar ist nicht zu bestreiten, daß zahlreiche Dienstleistungen effektiver und effizienter über den Markt angeboten werden können. Jedoch ist zum einen der Versuch, den Staat selbst als Paramarkt zu etablieren, demokratietheoretisch mehr als bedenklich. Der Bürger ist eben nicht „Kunde" des Staates, allenfalls, will man in dieser Terminologie bleiben, dessen Eigentümer. Zum anderen wird eine auf Leistungsaustausch reduzierte Kommunikation und Interaktion menschlichen Grundbedürfhissen nicht gerecht und kann schon deshalb in der den Bürger als Ausgangspunkt nehmenden und in den Mittelpunkt stellenden Gesellschaft keinen Bestand haben. Schließlich besteht bei vielen Bürgern auch der Verdacht einer Hand-in-glove-Bezizhung zwischen Markt und Staat, eines beide verbindenden „Systems", das des Störenfrieds Zivilgesellschaft geradezu bedarf. Als Fazit ist jedenfalls festzuhalten, daß das Zusammenleben in der Gesellschaft ausschließlich in den Kontexten von Staat und Markt fundamental unbefriedigend erscheint. Eine alternative Interaktion ist für den sozialen Frieden, der seinerseits ein politisches Ziel von hoher Priorität darstellt, unerläßlich. Nicht zuletzt aus dieser Konstellation erwächst die Vorstellung, eine weitere Aktionsarena zu definieren, die anderweitig nicht befriedigte Interaktionsformen aufgreift.

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Schon im 19. Jahrhundert wurde hierfür eher pragmatisch das für das deutsche Wohlfahrtswesen, allerdings auch nur für dieses, prägende Subsidiaritätsprinzip entwickelt, das im 20. Jahrhundert zu einem Kerngedanken der katholischen Soziallehre wurde und den Boden für Überlegungen bereitete, der Zivilgesellschaft in zu definierenden Bereichen die Priorität des Handelns zuzuweisen. Es ist nicht zufällig, daß dieses, tatsächlich nur auf den Wohlfahrtsbereich, nicht aber auf andere Felder staatlichen Handelns bezogene Prinzip, im Ausland als markantestes Merkmal deutscher Zivilgesellschaftsvorstellungen gesehen wird. Joachim Emst Böckenförde, ein konservativer Staatsrechtslehrer, vertrat schon 1977 die These, daß der Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht schaffen kann. Ihm folgt impliciter Robert Putnam mit seiner Theorie des Sozialkapitals, das nur im informellen Bereich gebildet wird, aber für eine effektive Staatsverwaltung ebenso unerläßlich ist wie für einen erfolgreichen Markt. Schließlich hat auch Anthony Giddens mit seiner besonders im sozialdemokratischen Umfeld vielbeachteten Lehre vom Dritten Weg dem traditionellen Etatismus eine Alternative entgegengestellt, die mit Zivilgesellschaftskonzepten weitgehend im Einklang steht. Interessant ist aber auch, daß Antonio Gramsci als überzeugter Marxist von zwei Überbauten über den Produktionsverhältnissen spricht, von denen er den einen als societä civile bezeichnet. Weitere Traditionslinien, die letztlich zu der theoretischen und praktischen Entwicklung einer Zivilgesellschaft als Bereichskonzept geführt haben, seien hier nur angedeutet: durch den Hinweis auf die nach 1975 auf Grundlage der Schlußakte von Helsinki in den Ländern Mittel- und Osteuropas einschließlich der DDR entstandenen Bürgerrechtsbewegungen, auf das seit den 1970er Jahren zunächst in den USA sprunghaft gestiegene wissenschaftliche Interesse an dem Bereich, der zunächst nur vage als zwischen Markt und Staat liegend umschrieben wurde (vgl. bspw. Etzioni 1973), auf die tatsächlich stark gestiegene ökonomische Bedeutung dieses sogenannten Dritten Sektors (vgl. Salamon u.a. 1999) und schließlich durch den Verweis auf die explosionsartige Entwicklung einer barrierefreien globalen Kommunikation. Daß auch bereits früher Träger hoheitlicher Gewalt mit nichtstaatlichen Organisationen in Einzelfällen weitreichende Kooperationen erarbeitet, vereinbart und durchgeführt haben, sei am Rande vermerkt. 4 Entscheidender als handlungsleitende Erfahrung ist der gewandelte Umgang staatlicher Stellen mit Unternehmen des Marktes. Trat der Staat traditionell diesen fast ausschließlich als Regulierungsinstanz, allenfalls als Vertragspartner gegenüber, ist heute das gemeinsame Entwickeln von Vorhaben von wirtschaftlichem Interesse zur Regel geworden. Zwar belegen nicht gerade wenige Investitionsruinen die Folgen der Nichtbeachtung dieses Verfahrens, doch 4

Beispiele sind etwa das Abkommen der Bundesrepublik Deutschland mit der Jewish Claims Conference (1952), die Kirchenstaatsverträge der Länder mit den Evangelischen Landeskirchen u.v.a. Entscheidend ist, daß es schon hier nicht um den Vollzug staatlicher Maßnahmen ging wie sonst vielfach in Vereinbarungen zwischen „Staat" und „privat", schon gar nicht um die Umsetzung des Subsidiaritätsprinzips im Wohlfahrtsbereich, sondern um die gemeinsame Erarbeitung von Lösungen für beiderseitig relevante Fragestellungen auf gleicher Augenhöhe.

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überwiegen heute Ansätze der gemeinsamen Entwicklung von Anfang an, wobei die Frage, wer im Einzelfall die Initiative ergriffen oder welchen Vorschlag gemacht hat, in den Hintergrund tritt. Mit der Zivilgesellschaft steht die Einübung solcher Verhaltensweisen im Grundsatz noch bevor. Wenn heute die Zivilgesellschaft als Oberbegriff für die vielfaltigen Partner in die Diskussion eingeführt wird, die nicht dem Markt zurechenbar sind und neben diesem und den vielfältigen staatlichen und kommunalen Instanzen gesellschaftliche Prozesse maßgeblich bestimmen, so ist das diesen unterschiedlichen Traditionslinien ebenso geschuldet wie einem gewandelten und sich weiter wandelnden normativen Verständnis der Bürgerinnen und Bürger von der Gesellschaft, in der sie leben möchten. Eine Gesellschaftsordnung, die für sich in Anspruch nimmt, den Bürger in den Mittelpunkt zu stellen, wird dies in konkrete Strukturen und Prozesse umzusetzen haben.

2.

W a s ist Zivilgesellschaft?

Für den Charakter der Zivilgesellschaft ist es symptomatisch, daß sich die Akteure nur bedingt in nachhaltig stabilen Formen organisieren. Informelle Zusammenschlüsse, relativ kurzlebige Netzwerke, formfreie Initiativen und dergl. treten im Kern gleichberechtigt neben große verbandsmäßig organisierte Strukturen. Die Kommunikation seitens der anderen Bereiche auf diese meist eher traditionell ausgerichteten Partner zu beschränken, heißt, den Charakter und die Handlungslogik der Zivilgesellschaft zu verkennen und Chancen der Kooperation und der Nutzung von Ideen und Engagement ungenutzt zu lassen. Dem Begriff Zivilgesellschaft ist es so ergangen wie vielen anderen Begriffen auch: Er hat sich in seiner Bedeutung verändert. Mit historischen Ableitungen, die uns bis zur societas civilis der Antike oder zumindest doch in das 18. Jahrhundert zurückführen können, ist wenig geholfen, noch weniger mit dem Blick auf Hegels bürgerliche Gesellschaft, wenn der Begriff so zu fassen ist, wie ihn die moderne internationale sozialwissenschaftliche Debatte reklamiert. Es ist jedoch nicht zu übersehen, daß in der öffentlichen Debatte gelegentlich eher auf jene Begriffe rekurriert wird, obwohl das die Zivilgesellschaft antreibende bürgerschaftliche Engagement eben gerade nicht mit einem im historischen Sinne .bürgerlichen' Impetus verwechselt werden darf. Diese Konzepte lassen sich eher mit der Vorstellung einer Zivilgesellschaft als eines Bereichs gesellschaftlichen Handelns verbinden, der insgesamt nicht oder jedenfalls nicht notwendigerweise normativen Ansprüchen genügt. Diese einem Bereichskonzept entsprechende Begrifflichkeit, ist von der einem Handlungskonzept verhafteten zu unterscheiden, auch wenn eine Verständigung zwischen diesen Konzepten möglich erscheint. Doch stellt das Handlungskonzept eher ein bestimmtes Verhalten der Menschen, den zivilen Umgang mit der Mitwelt in den Vordergrund und ermöglicht so einen eher normativen Zugang, während das Bereichskonzept eher im analytischen Bereich verbleibt. Dementsprechend ist in einem Bereichskonzept eine gute von einer

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schlechten Zivilgesellschaft zu unterscheiden. The dark side of civil society, die etwa Organisationen wie den Ku Klux Clan umfaßt, ist beständig Gegenstand amerikanischer Zivilgesellschaftsdebatten. Während in einem Handlungskonzept Zivilgesellschaft und Bürgergesellschaft als Synonyme gelten können, empfiehlt sich in einem Bereichskonzept eine begriffliche Trennung. Im folgenden werden Zivilgesellschaft und Bürgergesellschaft ausdrücklich nicht als Synonyme gebraucht. Während Bürgergesellschaft als ganz und gar normativ besetzter Begriff erscheint, ist Zivilgesellschaft als Übersetzung des englischen civil society im Sinne eines Bereichskonzepts eher deskriptiv konnotiert (vgl. Adloff 2005). Anders ausgedrückt: Während Bürgergesellschaft die Gesellschaft definiert, die nach eigenem Selbstverständnis und tatsächlich vom Menschen her konzipiert ist, beschreibt Zivilgesellschaft den Teil einer Gesellschaft, der sich durch unterscheidbare, im folgenden näher zu erläuternde Kriterien von anderen Teilen, namentlich Staat und Markt, abhebt. Nur dadurch läßt sich Kritik an zivilgesellschaftlichem Handeln in einer Weise diskutieren, die nicht zugleich das gesamtgesellschaftliche Konzept der drei Bereiche gesellschaftlich relevanten Wirkens in Frage stellt. Hierauf weist etwa Liebmann (in diesem Band) zu Recht mit dem Hinweis hin, daß rechtspopulistische Gruppen in Ostdeutschland fallweise in ein zivilgesellschaftliches Vakuum vorstoßen und dort Funktionen übernehmen. Dies ist normativ zu kritisieren, darf aber offenkundig nicht dazu fuhren, alle zivilgesellschaftlichen Akteure mit diesem Vorwurf zu konfrontieren, ihnen zu mißtrauen oder sie gar aus kommunikativen Arrangements auszuschließen. Dem Handlungskonzept ist darüber hinaus entgegenzuhalten, daß es einer Definitionsinstanz bedarf, die die Zugehörigkeit einzelner Ausformungen festzustellen hat. Wem sollte diese übertragen werden? Im Bereich der Stadtentwicklung kommt dies beispielsweise dann zum Tragen, wenn unterschiedliche zivilgesellschaftliche Initiativen zwar jeweils subjektiv Ziele des Gemeinwohls verfolgen, diese Ziele jedoch miteinander im Konflikt stehen. Daraus, wie es in der Tat geschieht, den Schluß zu ziehen, die Zivilgesellschaft sei zumindest ein ungeeigneter Entwicklungspartner, womöglich aber sogar eine grundlegende Fehlanalyse, wie es Margaret Thatchers berüchtigtes Diktum „There is no such thing as society" nahelegt, kann auf diese Weise vermieden werden. Zivilgesellschaft ist also nicht mehr als eines von drei Aktionsfeldern, in denen sich das Individuum jenseits seines unmittelbaren Umfeldes, also der Familie, bewegt, und zwar in aller Regel gleichzeitig. Mit dieser Einteilung wird nicht versucht, die gesamte Lebenswirklichkeit systematisch zu ordnen oder gar zu erklären, sondern lediglich, und das ist schon genug, zu beschreiben, in welche unterschiedlichen Handlungslogiken und organisatorischen Bedingungen der Mensch sich einordnet, wenn er sich in der Gesellschaft bewegt. Daß dieses Modell sich von dem Hegeischen System des alles übergreifenden, überwölbenden Staates grundlegend unterscheidet, liegt auf der Hand. Eine prinzipielle Hierarchisierung der Aktionsfelder muß insoweit als überwunden gelten. Für die politische Debatte ist vielmehr die Frage entscheidend, wo und wie das selbstorganisierte Handeln in der Zivilgesellschaft und das demokratisch legitimierte hoheitliche Handeln des Staates ineinandergreifen.

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Idealtypisch werden, jeweils auf Grund von Delegation seitens der Bürger, in jedem Bereich andere Aufgaben wahrgenommen: im Staat die Gewährleistung von Sicherheit, die Regelung der Angelegenheiten, die zwingend für alle verbindlich zu regeln sind und die Gewährleistung - nicht notwendigerweise die Bereitstellung der Leistungen, die allen Bürgerinnen und Bürgern zugänglich sein müssen. Bildung sei als herausragendes Beispiel genannt. Der Markt hingegen produziert Güter und Dienstleistungen und bietet sie denen an, die daran Bedarf haben und sie bezahlen können. Der Konzentration der Produktionsverhältnisse in der Hand des Staates ist durch die nach 1990 gewonnenen Einblicke in die sozialistischen Systeme eine stichhaltige Begründung abhanden gekommen. Aus dieser Aufgabenteilung ergeben sich unterschiedliche Handlungslogiken: Übt der Staat durchaus im guten Sinne Gewalt aus, und ist er dazu durch die Ermächtigung aller legitimiert („no taxation without representation"), arbeitet der Markt nach der Logik des Tauschs. Insofern bleibt es unbestreitbar richtig, dem Staat das Monopol auf hoheitliches Handeln, d. h. auf eine über die eigene Sphäre hinausreichende, für alle verbindliche Herrschaft zu übertragen und die beiden anderen Sphären hiervon auszuschließen. Die Zivilgesellschaft folgt einer anderen, dritten Handlungslogik. Dies ist im Kern die Handlungslogik des Geschenks, die schon vor über 50 Jahren von Francois Perroux herausgearbeitet wurde, der dem homo oeconomicus, also dem Bild des Menschen, der bei allem, was er tut, seinen wirtschaftlichen Vorteil bedenkt, eine deutliche Absage erteilte (Perroux 1961; s. hierzu auch Offe 2002: 273ff.) und in diesem Zusammenhang zwischen den drei Handlungslogiken Gewalt, Tausch und Geschenk differenzierte. Die gewählten Attribute erscheinen zur Differenzierung der Bereiche hilfreich und öffnen zugleich den Blick dafür, daß das Zusammenleben in der Gesellschaft ausschließlich in den Kontexten von Staat und Markt fundamental unbefriedigend wäre, weil es dem Bedürfnis zu schenken nicht hinreichend Rechnung trägt. Eine alternative Interaktion von Bürgern und Bürgerinnen erscheint vielmehr unerläßlich. Zivilgesellschaft kann insoweit als die Summe dieser Interaktionen angesehen werden. Um sie präziser eingrenzen zu können, ist Zivilgesellschaft insofern als die Summe von formellen und informellen Institutionen und Aktionen zu definieren, die ein Mindestmaß an Kohärenz aufweisen, wenngleich sie nicht notwendigerweise juristische Personen darstellen. Weitere Merkmale sind ein Mindestmaß an Nachhaltigkeit, wiederum aber nicht notwendigerweise eine längerfristige Beständigkeit, sowie neben dem subjektiven Gemeinwohlinteresse die primäre Ausrichtung an ideellen und nicht etwa wirtschaftlichen Zielen. Entscheidend ist ferner das uneingeschränkte Verbot der Ausschüttung von eventuellen Gewinnen an Mitglieder oder Eigentümer, nicht allerdings das Verbot, Überschüsse überhaupt zu erwirtschaften. Diese Bestimmung führt zur Einordnung zahlreicher normativ außerordentlich positiv zu bewertender Organisationen der Sozialwirtschaft, z.B. der Genossenschaften, als Hybride, in letzter Konsequenz aber als Teile des Marktes, da diese Trennlinie sie in den Bereich des Marktes verweist, ohne daß ihre Doppelfunktion übersehen werden darf. Sie können durch Ausdrücke wie low profit oder .Zielorientierte Unternehmun-

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gen' von ausschließlich gewinnorientierten Unternehmungen unterschieden werden. Die Ausprägung solcher Hybride legt zudem die Folgerung nahe, daß eine scharfe Abgrenzung der Arenen unmöglich ist, was wiederum eine kooperationsorientierte Handlungsoption eher nahelegt als eine strikte Trennung und ein Beharren auf Alternativen (vgl. Gualini in diesem Band). Wenn allerdings Siebel (in diesem Band) die Position vertritt, die Voraussetzungen für eine autonome Zivilgesellschaft seien generell abhanden gekommen, so ist dem mit Federwisch (in diesem Band) zu widersprechen. Entscheidendes Merkmal der Zivilgesellschaft ist ferner, da für ein Geschenk unerläßliche Voraussetzung, das Gebot einer freiwilligen Zugehörigkeit. Nur aus eigenem Antrieb, selbstermächtigt, kann der Bürger in diesen Bereich eintreten. Weder durch Geburt, noch durch Beruf oder Wohnort ist eine Mitgliedschaft vorgegeben. Diese Selbstermächtigung hat weitreichende Konsequenzen für das Selbstverständnis und die Handlungslogik der Zivilgesellschaft, die es zu respektieren gilt, wenn der Dialog mit der Zivilgesellschaft gelingen soll. Diese Selbstermächtigung ist pädagogisch exogen, im übrigen aber intrinsisch endogen bestimmt. Aus der Selbstermächtigung folgt im übrigen die autonome Selbstorganisation bzw. Selbstverwaltung. Ebenso folgt daraus ein plurales Verständnis des Handelns, da ja, aus welchen Gründen auch immer, andere freiwillig eine neue Organisation bilden können. Diese Pluralität ist wesentliche Vorbedingung für die Kreativität der Zivilgesellschaft. Sie durch ein Verlangen nach klaren Strukturen, wenigen Ansprechpartnem, legitimen Repräsentanten oder leistungsfähigen Organisationen zu verdrängen, heißt die Natur der Zivilgesellschaft zu verkennen, was notwendigerweise zu Beeinträchtigungen des Ergebnisses fuhren muß. Die Handlungslogik der Zivilgesellschaft führt vielmehr zu einem Wirken außerhalb von Hierarchien, in Netzwerken und informellen Kommunikationszusammenhängen, was keinesfalls als defizitär, sondern im Sinne moderner Wissenschaftstheorie als weiterführend zu deuten ist (Dürr 2004: 29-37). Wenn Gesellschaftsbildung und Herrschaft in einer Hand bleiben, wird unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts die Gesellschaft defizitär sein. Gewollt sind demokratietheoretisch gesehen nicht der Untertan, sondern der Bürger und die Bürgerin. Aber wir müssen uns und andere fragen, ob wir das auch praktisch wollen. Manchem in Politik und Verwaltung scheint allemal der Untertan lieber zu sein. Das Problem ist nur, in einem Umfeld, das Bürger nicht schätzt, werden die Untertanen in absehbarer Zeit zur Revolution blasen. Letztlich ist nicht der Staat, sondern sind die Bürger die Garanten des sozialen Friedens. Es muß daher Ziel der Politik sein, eine Zivilgesellschaft zu ermöglichen, die auf Augenhöhe mit Staat und Markt verkehren kann und - das ist der Kem der Fragestellung - in der Lage ist, ihren gesellschaftsbildenden und -entwickelnden Auftrag zu erfüllen. Menschen wollen sich engagieren. Dies muß nicht belohnt, aber als Wert an sich ermöglicht werden. Die Ermöglichung (das Empowerment) von bürgerschaftlichem Engagement - wir sprechen nicht von Aktivierung, denn das klingt zu sehr nach Kanalisierung und Kontrolle - ist daher ein politisches Ziel von hoher Priorität.

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3. Bürgerschaftliches Engagement Menschen übernehmen Loyalitäten, Identifikationen und daraus folgend auch Integration und Partizipation nicht mehr als ein durch Geburt vorgegebenes Paradigma, sondern arrangieren sich im Lauf ihres Lebens mehrfach, vielleicht sogar vielfach neu. Es liegt insofern nahe, die Zivilgesellschaft mit dem bürgerschaftlichen Engagement in Verbindung zu setzen. In der Tat werden über 80% des bürgerschaftlichen Engagements in Organisationen der Zivilgesellschaft geleistet.5 Schon aus diesem Grund ist übrigens bürgerschaftliches Engagement von der Wahrnehmung staatsbürgerlicher Verantwortung oder gar Verpflichtungen zu trennen. Das Ziel von Engagement wird vom Engagierten selbst bestimmt; es kann sich an politisch definierten Zielen orientieren, muß es aber und tut es auch in der Praxis überwiegend nicht (vgl. Siebel in diesem Band). Bürgerschaftliches Engagement war und ist dennoch ein Weg, zu der als unattraktiv empfundenen Partizipation in den demokratischen Strukturen des Staates eine alternative Gestaltungsoption zu entwickeln. Der Begriff Bürgerschaftliches Engagement hat die Nachfolge des Begriffs .Ehrenamt' angetreten, der von vielen „ehrenamtlich" Engagierten zunehmend als anachronistisch empfunden wird. Er ist offenkundig umfassender als der Begriff der Freiwilligenarbeit und weniger normativ aufgeladen als andere Begriffe wie Philanthropie, Solidarität usw. Das heißt, wer der Gesellschaft Zeit oder Ideen oder Empathie oder Vermögenswerte oder sein persönliches Ansehen schenkt, ist bürgerschaftlich engagiert. Messen, aggregieren und argumentativ verwerten läßt sich in erster Linie das Schenken von Zeit und Geld; darüber dürfen jedoch die anderen Formen nicht übersehen werden. In der Summe bilden sie die wesentlichen Ressourcen, aus denen sich die Zivilgesellschaft speist. Der Zusammenhang zwischen Zivilgesellschaft und bürgerschaftlichem Engagement ist aber auch einem weiteren Umstand geschuldet. Dieser ergibt sich aus dem ursächlich selbstermächtigten und selbstorganisierten Charakter jedes Engagements. Daß eine Organisation, die strukturell auf Freiwilligkeit basiert und durch Verzicht auf materiellen Gewinn gekennzeichnet ist, sich überdurchschnittlich dazu eignet, Engagement anzunehmen und zu organisieren, leuchtet unmittelbar ein. Überdies entspricht dies der schon längst erfolgten, demgemäß auch nicht mehr steuerbaren Ausdifferenzierung unserer Gesellschaft - wir können auch positiv sagen, dem Bekenntnis zu Toleranz, Respekt und vor allem zu Pluralität - den hohen Werten einer freiheitlichen Gesellschaft. Adloff (in diesem Band) konstatiert diesbezüglich die Sozialfigur des aktiven, eigenverantwortlichen, gemeinsinnigen Bürgers. Niklas Luhmann fragt, indem er Emile Dürkheim rezipiert: „Könnte es nicht eine Art laufendes Regenieren von Sozialität in interpersonalen Kontakten geben, das weder auf eine vorkonstituierte Moral, noch auf ein in den Köpfen schon vorhandenes Kollektivbewußtsein zurückgeführt werden kann, aber auch nicht den Individuen als 5

Der Prozentsatz läge noch höher, wenn nicht die Freiwilligen Feuerwehren als Einrichtungen der Kommunen, formal dem Bereich Staat zugeordnet werden müßten (siehe Freiwilligensurvey 2004).

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Eigenleistung zurechenbar ist?" (2008: 16). Der Staat wird hingegen trotz seiner vier Ebenen und vielen Facetten eben gerade nicht als pluralistisch, sondern als monopolistisch wahrgenommen, der Wirtschaft ergeht es trotz einer Million Unternehmen ähnlich. Insofern ist Engagement gerade nicht komplementär mit neoliberalen Ideologismen, sondern eher mit solidarischen oder kommunitären Konzepten (Adloff in diesem Band). Damit ist aber freilich noch nicht gesagt, ob die Gesellschaft an einem solchen Engagement überhaupt Interesse hat, noch drastischer ausgedrückt, ob es fiir diese akzeptabel, vielleicht sogar tolerabel ist. Um die Frage nach der Akzeptanz zu beantworten, muß zunächst geklärt werden, welche Formen Engagement annimmt. Die Europäische Kommission hat 1997 hierzu eine, wie ich meine, hilfreiche Einteilung getroffen. Sie erfolgte übrigens in einem Papier, das als Weißbuch konzipiert, aber mangels der Zustimmung des Rates - also der nationalen Regierungen, die Einschränkungen ihrer Macht witterten - als Mitteilung der Kommission veröffentlicht wurde (Europäische Kommission 1997). Die Funktionen der .Vereine und Stiftungen', so heißt es dort ganz traditionell, sind eingeteilt in Dienstleistungen, Themenanwaltschaft, Selbsthilfe und Mittlerfunktion. Beispiele für die erste Gruppe sind etwa die Wohlfahrtsverbände, aber auch zivilgesellschaftliche Träger von Kultureinrichtungen, für die zweite Gruppe sind dies Organisationen wie Greenpeace, aber auch Bürgerinitiativen, für die dritte die Anonymen Alkoholiker, Patientenorganisationen oder Sportvereine, für die vierte die fordernden Stiftungen oder Dachverbände. Daß viele Organisationen mehrere Funktionen gleichzeitig ausüben, ist unbestritten. In allen Funktionen führt das Engagement zu einem Output. Ob dieser für die Gesamtheit der Bürger von Interesse oder auch nur akzeptabel ist, ist das entscheidende Kriterium dafür, ob das Engagement selbst und über dieses auch die Zivilgesellschaft Akzeptanz und somit Legitimität beanspruchen kann. Dieser Output läßt sich in drei Ebenen bestimmen. Auf der ersten Ebene produziert bürgerschaftliches Engagement öffentliche Güter. Es stellt kulturelle Angebote bereit, hilft, Not zu lindern, trägt zur Gesundheitsvorsorge bei, pflegt Tiere usw. Auf der zweiten Ebene produziert es meritorische Güter, indem es Möglichkeiten dafür schafft, sich bürgerschaftlich zu engagieren, hilft, ein Bewußtsein für neue Themen herzustellen (etwa in den lokalen Agenda-Prozessen), dazu beiträgt, Werte, auf denen das Gemeinwesen aufbaut, zu schützen (etwa Menschen· und Bürgerrechte), Interessen von Minderheiten vertritt oder Konzepte für Entwicklungsmaßnahmen vorstellt. Und schließlich erbringt Zivilgesellschaft durch ihr Handeln einen Mehrwert, der der Gesellschaft zugute kommt. Hierzu gehören beispielsweise Inklusion und Integration aller Mitglieder eines lokalen Verbundes, Partizipation an Entscheidungsprozessen, Beiträge zum sozialen Wandel und sozialen Frieden und die Bildung von sozialem Kapital. Es ist wichtig darauf hinzuweisen, daß dieser Mehrwert unabhängig von den hergestellten Gütern produziert wird. So können beispielsweise Geselligkeitsvereine

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ebenso wie Schützen- oder Trachtengruppen, Blaskapellen, Laientheatergruppen einen erheblichen zivilgesellschaftlichen Mehrwert produzieren, obwohl die von ihnen hergestellten Güter möglicherweise von geringem öffentlichem Interesse sind und überwiegend der Freizeitgestaltung ihrer Mitglieder dienen. Ein prägnantes Beispiel hierfür sind die Passionsspiele in Oberammergau, nach deren Regeln jeder, der in der Gemeinde geboren ist oder 25 Jahre dort gelebt hat, ein Recht auf Mitwirkung hat. Gilt das, so stellten diese im Jahr 2000 erstmals die Frage, auch für türkische Zuwanderer? Die Gemeinde war gespalten, aber schließlich wurde die Frage bejaht, und Migranten wirkten an diesem für die Gemeinde zentralen Ereignis gleichberechtigt mit - wie man sich vorstellen kann, mit durchschlagendem Erfolg für die Integration und natürlich auch für die aktive Partizipation dieser Mitbürger und damit für den sozialen Frieden in der Gemeinde. Während auf der ersten Ebene bürgerschaftliches Engagement in einen Wettbewerb mit bezahlter Arbeit tritt oder treten kann, ist dies auf der zweiten Ebene weniger, auf der dritten Ebene kaum noch der Fall. Ergänzend spricht Borstel (in diesem Band) von der Tätigkeit und den Projekten zivilgesellschaftlicher Akteure als subversiv, stabilisierend oder integrierend. Setzt man den hier vertretenen Ausgangspunkt, den Menschen, in Beziehung zu den tatsächlichen Machtstrukturen, wird deutlich, daß all diese Funktionen ihre Berechtigung haben. Es sei nochmals verdeutlicht, daß es bei der Beurteilung und dementsprechend auch der Förderung von bürgerschaftlichem Engagement aus Sicht des gesellschaftlichen Bedarfs nicht oder nur nachrangig darauf ankommt, welche Leistungen durch dieses Engagement erbracht werden und ob diese für die Erfüllung der Staatsaufgaben finanziell attraktiv sind. Vielmehr geht es allein darum, daß Menschen kontinuierlich den kommunikativen Prozess des Schenkens an die Gemeinschaft erlernen und permanent ausüben - ob im Kirchenchor, im Sportverein, im Katastrophenschutz, in der Menschenrechtsgruppe, bei Greenpeace oder sonstwo. Hier und nur hier befindet sich die Schule der Demokratie, mehr noch, die Schule der guten Gesellschaft, der guten politischen Ordnung. Und nur so wächst heran, was oft mit Zivilgesellschaft verwechselt wird: die Bürgergesellschaft, die Gesellschaft also, die von den Bürgern her bestimmt ist. Hier ist übrigens auch die Scheidewand: Was mit diesem Ziel nicht kompatibel ist, gehört nicht hierher. Organisationen, in denen getauscht und nicht geschenkt wird, gehören danach beurteilt. Sie sind damit nicht notwendigerweise gewinnorientierte Wirtschaftsuntemehmen, sondern möglicherweise Sozialuntemehmen, die in der steuerlichen Gestaltung nochmals anders zu betrachten sind, doch das ist ein anderes Thema. Und selbstverständlich: Feinden der offenen, der Bürgergesellschaft kann durch diese Trennung das Deckmäntelchen der Gemeinnützigkeit genommen werden.

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4.

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Von der Stadtplanung zur Stadtentwicklung

Schon 2006 hatte Hatzfeld festgestellt: „Engagement für die Allgemeinheit entsteht häufig erst dann, wenn es konkrete Mitwirkungs- und Handlungsmöglichkeiten gibt." Es gehe daher um „zivilgesellschaftliche Initiativen, die eigenständig Projekte mit öffentlichem Nutzen entwickeln." (2006: 13). Bisherige Konzepte der Einbeziehung von Zivilgesellschaft sind, bei allen Unterschieden etwa zwischen Metropolen, Städten und Dörfern, wie Wolf (in diesem Band) herausarbeitet, in der Regel planerisch dominiert und finden dementsprechend in der Handlungslogik der Zivilgesellschaft nur schwer eine Entsprechung. Es kann letztlich kein sinnvoller Diskurs zwischen den Beteiligten entstehen, solange die Regeln einer diskursiven Meinungs- und Willensbildung (nach Habermas, s. hierzu Ipsen in diesem Band) systematisch verletzt werden. Erste Ansätze und Erfolge eines neuen Zugangs bestätigen diese These. Der Schritt von der Stadtplanung zur Stadtentwicklung besteht demzufolge gerade darin, die Dominanz einer Akteursgruppe über die Regeln aufzugeben und zu einem konsensualen Arrangement aller Beteiligten auf gleicher Augenhöhe (auf einem level playing field] zu gelangen, in dessen Rahmen alle Akteure gleiche Initiativrechte besitzen. Den Bürgerinnen und Bürgern zu verdeutlichen, daß es nicht genügt, wenn Vereine oder Verbände sich zu Vorhaben eine Meinung bilden und diese der planenden Verwaltung vortragen, sondern daß sie selbst permanent aufgerufen sind, Ideen zur Optimierung einer lokalen Situation zu entwickeln, daß sie nicht nur berechtigt, sondern geradezu verpflichtet sind, von sich aus aktiv zu werden, erfordert ein grundlegendes und mitunter schmerzhaftes Umdenken. Dieses kann sich auf erfolgversprechende Versuche der Vergangenheit stützen, bedarf aber der Verallgemeinerung und Verbreitung, wohl auch neuer Ansätze und Verfahrensregeln. Dieser Umdenkungsprozeß erscheint freilich nicht nur wegen der Misserfolge bisheriger Bemühungen angezeigt, sondern trägt auch der individualistisch geprägten Kreativität Rechnung. Dabei darf Individualismus im Sinne Poppers keinesfalls mit Egoismus verwechselt werden, im Gegenteil, dieser erscheint nach Popper geradezu als Voraussetzung für eine demokratisch bestimmte Bürgergesellschaft. Nur dort, so läßt sich folgern, wo Bürger sich aufgerufen fühlen, freiwillig, gegebenenfalls in Gruppen, ihrer Mitwelt ihre Kreativität zur Verfugung zu stellen, findet eine demokratietheoretisch befriedigende und effektive Entwicklung statt (vgl. hierzu Reichwein in diesem Band). Häußermann, Läpple und Siebel weisen auf das Gegenteil hin: „Angesichts der Kontinuität eines planerischen Denkens, das mit der räumlichen Ordnung soziale Ordnung herstellen will, stellt sich die Frage, ob sich darin möglicherweise eine Affinität planerischen Denkens zu autoritären Regimen zeigt." (2008: 75) Über die Erfolgschancen vereinzelter Entwicklungsschritte weit hinaus zwingt also die Forderung, die Bürgergesellschaft zu verwirklichen, von der Stadtplanung zur Stadtentwicklung voranzuschreiten. Die Veränderung des Blickwinkels (englisch mindset oder auch framework) ergibt sich daraus als notwendige Konsequenz. Befürchtungen, Reibungsverluste und Zeitverzögerungen würden die Effizienz der Pia-

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nung in unzumutbarer Weise beeinträchtigen, ist dadurch zu begegnen, daß diese Effizienz mit positiven Folgen für die Entwicklung durch Suffizienz ersetzt wird (s. hierzu Dürr 2009). Es ist vielfach argumentiert worden, daß der hier beschriebene Weg sich allenfalls für relativ homogene lokale Gemeinschaften eigne, deren Bürgerinnen und Bürger über einen relativ hohen Bildungsstand verfügen und traditionell darin geübt sind, sich für übergeordnete Belange engagiert zu interessieren. Diese Sichtweise verkennt freilich die Bedeutung von Subkulturen, wie sie schon im 19. Jahrhundert etwa im Zuge der Arbeiterbewegung entstanden sind. Solidarität, durchaus gegen Dritte gerichtet, ist ein Merkmal menschlicher Gemeinschaften, unabhängig von deren Sozialstatus und Bildungsgrad. Auch für von einer Minderheitsposition geprägte Gemeinschaften, wie sie auch in Deutschland in den Städten existieren, sind Netzwerke der Solidarität typisch (vgl. hierzu Schulze 2004; s. auch Hinterhuber 2009). Die Notwendigkeit einer Verbreiterung der Sichtweise ist in zahlreichen Beiträgen in diesem Band hervorgehoben worden (s. bspw. Gualini). Nur auf diese Weise kann es gelingen, die grundlegenden Parameter einer angemessenen politischen Ordnung auf eine der zentralen Herausforderungen für gemeinschaftliches Handeln anzuwenden. Allerdings wäre es verfrüht und insofern auch anmaßend, diese Ergebnisse als universelle Problemlösung zu reklamieren. Bedeutsam ist vielmehr der in Teilen kontroverse Diskurs, der geeignet scheint, den Blick für die Schwierigkeiten und Möglichkeiten zu schärfen. Auf der zuvor ausgebreiteten Folie soll abschließend versucht werden, die Ergebnisse eines Projekts zu analysieren, das den Versuch unternahm, die Schnittstellen zwischen Stadtentwicklung und Zivilgesellschaft auszuloten und Möglichkeiten der Verbreiterung dieser Schnittmenge zu ermitteln. Zwar würde ich Gualinis kategorische Festlegung, es gelte, „eine ent-räumlichte - oder räumlich blinde - Referenz an Zivilgesellschaft zu vermeiden", nicht in dieser Zuspitzung teilen. Unstrittig ist aber, daß Zivilgesellschaft in vielfacher Hinsicht räumlich - im wesentlichen lokalräumlich - bezogen ist und somit ein Potential für die Mitwirkung in einer gemeinsamen räumlichen Arena bereithält. Unter welchen Voraussetzungen dieses Potential tatsächlich integrativ nutzbar gemacht werden kann, war wesentlicher Gegenstand der Untersuchungen im Rahmen des Projekts. In diesem Zusammenhang ist dem Arrangement als unstrukturiertem Kommunikations-, Entscheidungs- und Kohabitationsprozeß unterschiedlicher Beteiligter angesichts der Mißerfolge strukturierter Beteiligungsmodelle besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Dem von einigen Autoren konsequent vorgetragenen Blick auf die Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Akteure im Sinne eines bei der Kommune liegenden Initiativ- und Definitionsmonopols ist dabei zu widersprechen. Bestehen, so war zu fragen, zwischen Metropolen und Dörfern, strukturstarken und -schwachen, ost- und westdeutschen Städten so signifikante Unterschiede, das sie schlechterdings nicht verglichen werden können? In einzelnen Themenbereichen ist

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dies, so scheint es, der Fall. Jedoch lassen sich Erfahrungen aus bestimmten Regionen durchaus für andere nutzen. So sollten die katastrophalen Folgen schlecht durchdachter und umgesetzter Entwicklungskonzepte, wie sie beispielsweise Borstel (in diesem Band) am Beispiel ländlicher Gebiete in Ostdeutschland aufzeigt, sehr wohl als Argument für die Notwendigkeit kohärenter und mehrere Akteure einbeziehender Entwicklungsarenen dienen. Becker und Runkel haben in einem Forschungsprojekt des Maecenata Instituts an der Humboldt Universität zu Berlin und des Instituts für Stadt- und Regionalplanung der Technischen Universität Berlin, das im Rahmen des Programms Nationale Stadtentwicklungspolitik gefordert wurde, eine exploratorische empirische Untersuchung zu den Schnittmengen zwischen Zivilgesellschaft und Stadtentwicklung durchgeführt. Die Ergebnisse wurden in diesem Band vorgestellt. Becker und Runkel verweisen zu Recht auf gravierende Unterschiede, aber auch auf Gemeinsamkeiten zwischen unterschiedlich ausgebildeten Kommunen. Besondere Problemfelder bzw. Barrieren, die die gemeinsame Suche nach Lösungsansätzen erschweren, sind anscheinend auf die Größe oder Dichte des untersuchten Raumes und auf thematische oder andere Besonderheiten zurückzuführen. Ein besonderes Problem entsteht beispielsweise offenkundig dadurch, daß Menschen, die von Leistungen des Staates existentiell abhängig sind, Angst davor haben, sich zivilgesellschaftlich zu artikulieren oder auch nur zu organisieren, da sie Nachteile bei der Beurteilung oder Zuteilung von Sozialleistungen befürchten. Daß diese Angst begründet sein kann, ist nicht von der Hand zu weisen. Insofern sind neue Konzepte der Ausreichung von Sozialleistungen, etwa das Bürgergeld-Konzept, möglicherweise geeignet, diese Hemmungen abzubauen und die Partizipation dieser Bürger zu verbessern. Diese Ergebnisse, insbesondere die Äußerungen der Interviewpartner, bestätigen die Hypothese, daß wir am Anfang eines Prozesses der Neujustierung des Verhältnisses zwischen den gesellschaftlichen Akteursgruppen (Staat/Markt/ Zivilgesellschaft) untereinander und in ihrem Verhältnis zu Bürger/Bürgerin und Familie stehen. Im Rahmen dieser Neujustierung kommt der Idee eines aktivierenden oder ermöglichenden Staates (vgl. Deutscher Bundestag 2002) herausragende Bedeutung zu. Es zeigt sich, daß die klassischen Steuerungsmechanismen der öffentlichen Hand (Macht/Regulierung und Geld) bei der Lösung langfristiger Stadtentwicklungsprojekte versagen, besonders, soweit diese über die reine Stadtplanung hinausgehen. Es gilt daher, neue Steuerungsmodelle zu entwickeln, zu erproben und umzusetzen. In diesem Zusammenhang ist der Steuerungsmechanismus des (die Zivilgesellschaft/die Bürger) aktivierenden Staates in den Blick genommen worden, der auf einem definierten Paradigma basiert. Dabei entsteht jedoch das Dilemma der Konfrontation mit einer prinzipiell anderen Handlungslogik, die im wesentlichen von Freiwilligkeit geprägt ist. Die Enquete-Kommission .Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements' hatte sich 2002 zu einer Festlegung auf den Begriff des ermöglichenden Staates durchgerungen (ebd.) und damit ihre Position verdeutlicht, daß in der Güterabwägung zwischen

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staatlichem Handeln und autonomer gesellschaftlicher Entwicklung dem Prinzip der Selbstermächtigung die höhere Priorität einzuräumen ist. Für die Stadtentwicklung hat dies insbesondere zur Folge, daß die der Zivilgesellschaft innewohnenden Prinzipien der Selbstermächtigung und Selbstorganisation zu erheblichen Koordinierungsproblemen und einem teilweise krassen Mißverhältnis zwischen Bedarf und Angebot fuhren können, da nicht zu übersehen ist, daß das Selbstorganisationspotenzial in strukturschwachen oder Problemregionen deutlich schwächer ausgebildet ist als in strukturstarken Regionen. Der ermöglichende Staat steht daher vor dem Dilemma, daß zivilgesellschaftliche Partner dort zur Verfügung stehen, wo sie, jedenfalls auf den ersten Blick, am wenigsten gebraucht werden. Zudem werden gerade hier regelmäßig Interessengegensätze und Konflikte innerhalb der Zivilgesellschaft beobachtet. Die grundsätzlich subjektive Gemeinwohlorientierung zivilgesellschaftlicher Organisationen und ihre nicht hierarchisierbare Pluralität lassen die Schaffung einheitlicher Partnerstrukturen weithin nicht zu. Hinzu kommt die Befürchtung, eine selbstbewußte Zivilgesellschaft könnte sich hier der Kooperation versagen oder diese vollständig dominieren. Die Handlungslogik der Zivilgesellschaft bedingt ferner eine ausdifferenzierte Interessengebundenheit, die ein hohes Konfliktpotential beinhaltet. Auf der anderen Seite scheinen in problematischen Zusammenhängen, in denen aktive Partner zur Erarbeitung von Lösungen besonders erwünscht sind, diese weitgehend zu fehlen. Die Schaffung pseudozivilgesellschaftlicher Strukturen unter Umgehung der Handlungslogik, etwa durch eine staatsgelenkte Einrichtung von Organisationen oder Verbandsstrukturen, hat als Lösung versagt, unter anderem deswegen, weil gerade die Menschen, deren Einbindung in Entwicklungsprozesse besonders erwünscht wäre, vor einer derartigen Einbindung zurückschrecken oder sie ausdrücklich ablehnen. Menschen mit einer von Ausgrenzung und Bevormundung geprägten Sozialerfahrung (Objekte von Verwaltungshandeln) finden den Weg zu Subjekten selbstermächtigten Handelns regelmäßig nicht, raumbezogen vor allem deswegen nicht, weil die Emanzipation von der Objektposition fast notwendigerweise mit einem Raumwechsel verbunden ist. Andererseits sehen sich Aktivierte dem Vorwurf der Manipulation ausgesetzt, was eine Aktivierung zusätzlich erschwert. Schließlich besteht die Gefahr, daß durch den Einsatz traditioneller Mechanismen (Macht/Geld) Aktivierungsergebnisse von vornherein entwertet werden. Die Ausgangshypothese (siehe Gualini in diesem Band), daß traditionelle Formen der Bürgerbeteiligung ebenso wie traditionelle Kontakte zur so genannten organisierten Zivilgesellschaft, d.h. den traditionellen Verbänden (den „üblichen Verdächtigen"), wenig zielführend erscheinen, hat sich durch die Untersuchung von Becker und Runkel im wesentlichen bestätigt. Die von ihnen gezogene Schlußfolgerung, daß Prozessen im Vergleich zu Strukturen erheblich mehr Aufmerksamkeit zu widmen sei, wird zudem durch die Berechnung gestützt, daß etwa im Programm Soziale Stadt 90% der verfügbaren Mittel für Bauen und Abriß und nur 10°/o für Menschen aufgewendet wurden. „Die bisher rein baulich orientierte Stadterneuerungspolitik hat

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die ... Entwicklungen nicht verhindern können." (Häußermann/Läpple/Siebel 2008: 254). Hatzfelds Forderung, „will man ... städtische Fragestellungen auf einer breiteren Basis diskutieren, muß man sich Gedanken zur Ansprache neuer Partner machen" (Hatzfeld: 15), läßt sich insofern erweitern, als die Prozesse dieser Ansprache, bisher zu wenig ausgebildet, nur bei erhöhter Aufmerksamkeit und mit erheblich höherer Priorität in der Zuweisung verfügbarer Mittel befördert werden können.

5.

Lösungsansätze

Kann, so ist abschließend zu fragen, die Entwicklung zufriedenstellender gemeinsamer Willensbildungsprozesse, die eine bürgergesellschaftlich bestimmte Stadtentwicklung ermöglichen, gelingen? Ist ein Erfolg insbesondere dort realistisch zu prognostizieren, wo soziale Brennpunkte, extreme demographische Situationen, Abwanderung oder andere Probleme eine positive Entwicklung zunächst unwahrscheinlich machen? Gibt es letztlich einen Ausweg aus dem von Siebel (in diesem Band) so benannten Teufelskreis? Die Untersuchung läßt eine optimistische Prognose zu, allerdings unter der Voraussetzung bewußt vorgenommener Justierungen. Zum einen kann, wie bspw. Wagner (in diesem Band) für die Entwicklung in der Kulturpolitik aufzeigt, auf sektorale Modelle verwiesen werden, die akzeptable Erfolgsquoten aufweisen. Zum zweiten lassen Bildungsansätze (vgl. Hentig 2006) vermuten, daß die Umstellung von der gegenwärtigen, eher staats- und hierarchiegerichteten auf eine bürgergesellschaftlich konnotierte Grundausrichtung erhebliche Erfolge in der Bewußtseinsbildung der Bürgerinnen und Bürger im Hinblick auf deren Engagement zugunsten des Allgemeinwohls zeitigen kann. Wie Kahl (in diesem Band) herausarbeitet, kann die Bedeutung von Schule und Bildung für die Bildung von Sozialkapital (vgl. Putnam 1994) gar nicht zu hoch eingeschätzt werden. Zum dritten wirken selbst in bildungsfemen Bevölkerungsgruppen, insbesondere auch unter Migranten, in hohem Maße informelle Solidaritätsnetzwerke. Der Nährboden für eine erfolgreiche Selbstermächtigung kann daher entgegen vieler Vorurteile unterstellt werden. Viertens ist die Gesellschaft insgesamt in so starkem Maße kommunikativ vernetzt, daß die Prognosen für eine kollektive und zugleich plurale Selbstorganisation gegenüber selbst nicht weit zurückliegenden Perioden erheblich günstiger sind. Fünftens sind aus dem Umgang zwischen Staat und Markt, etwa in Prozessen der Industrieansiedlung, längst zur Gewohnheit gewordene gemeinsame Entwicklungsverfahren derart umfänglich erprobt, daß ihre Übertragung auf andere Stadtentwicklungsprozesse bei entsprechender Bereitschaft der Beteiligten erfolgversprechend erscheint. Was die Ungleichheit der Ausgangsvoraussetzungen betrifft, so ist in diesem Zusammenhang auf Lerneffekte, die Übertragung von eingeübten Modellen und die Erprobung neuer Kommunikationsebenen in relativ gut ausgestatteten sozialen Laboratorien mit dem Ziel ihrer Anwendung in rauheren Umgebungen zu verweisen.

Zivilgesellschaft und Stadtentwicklung

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Der notwendige Lernprozeß stellt allerdings hohe Anforderungen an das demokratische Grundverständnis der Akteure, da er mit dem Abschied von Mechanismen der Herrschaftsausübung verbunden ist und eine Handlungsorientierung allein an den Entwicklungszielen voraussetzt. Der Einübung dieser Orientierung kommt daher hohe Priorität zu. Es kann gelingen, selbst in als problematisch eingestuften räumlichen Zusammenhängen einerseits selbstermächtigte zivilgesellschaftliche Strukturen lebendig werden zu lassen, andererseits mit diesen gemeinsam Stadtentwicklung zu betreiben (s. hierzu u. a. Kahl und Scarpa in diesem Band). Hierfür bieten sich auf der Grundlage dieser Analyse insbesondere pädagogische, selbstermächtigungs- und zugleich konsensorientierte Prozesse an. Moderierte Verfahren haben ihre Eignung für die Bewältigung solcher Prozesse vielfach unter Beweis gestellt. Eine herausragende Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der Entwicklung einer engagement- und zivilgesellschaftsorientierten Schulpädagogik zu. Die Einübung von Diskursfähigkeit und anderen zur gleichberechtigten Teilhabe an Entwicklungsprozessen notwendigen Positionen, Überzeugungen und Verfahren in der Schule ist langfristig der Schlüssel zur Schaffung einer tatsächlich von den Bürgern her entwickelten Gesellschaft. Der .Runde Tisch' ist nicht nur physisch, sondern auch im übertragenen Sinn das Bild, das sich Bürgerinnen und Bürgern als Instrument gemeinsamer Entwicklung und Problemlösung einprägen muß. Für die Übergangszeit ist die Entwicklung von kurzfristigen Ermöglichungsstrategien unerläßlich. Hierzu ist es allerdings erforderlich, in Prozessen zu denken und in Menschen zu investieren. Ferner gilt es, und zwar durchaus in allen Akteursgruppen, Respekt vor anderer Handlungslogik ebenso einzuüben wie das Arbeiten in Netzwerken anstatt in Hierarchien. Nicht, ob jemand zuständig oder befugt ist, entscheidet über seinen oder ihren Zugang zu einem Diskurs am Runden Tisch, sondern ob jemand sich beteiligen will und etwas beizutragen hat. Notwendige Diskursregeln sind gemeinsam zu entwickeln und allseits zu befolgen. Wenn der Staat, der ohne Zweifel über erheblich mehr Ressourcen, über die demokratische Legitimation und über das Instrument der hoheitlichen Gewalt verfügt und daher vor allem in der Pflicht steht, sich zurückzunehmen und seine günstigeren Startvoraussetzungen eben nicht im Sinne der Machtausübung auszuspielen, einen vernünftigen Beitrag dazu leisten will, die Kreativität und den Beteiligungswillen in den Bürgern zu wecken, so tut er gut daran, sein Augenmerk vornehmlich auf das Empowerment und Capacity Building, d.h. die Ermöglichung und die Organisationsentwicklung zu lenken. Nicht mit schwachen und deshalb möglichweise willfährigen, sondern mit starken, womöglich widerborstigen Partnern, läßt sich gute Entwicklungsarbeit betreiben. Zum Schluß können (weitgehend im Anschluß an Federwisch in diesem Band) einige Forschungsdesiderate für die Zivilgesellschaftsforschung formuliert werden. Mehr Klarheit erscheint beispielsweise hinsichtlich der Frage angebracht, ob und wie zivilgesellschaftliche Akteure an Prozessen der Territorialisierung, Institutions- und Organisationsentwicklung beteiligt, womöglich sogar federführend beteiligt sind. Mit

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Blick auf die Ergebnisse von Untersuchungen in anderen Ländern ist zu vermuten, daß dies stärker der Fall ist als bisher angenommen. Auch welche Funktionen diese Akteure in steuerungsrelevanten Arrangements einnehmen, wäre näher zu untersuchen. Und schließlich ist weiterhin nicht klar, zu welchem Zweck und wann diese Akteure tatsächlich einbezogen werden. Daran schließt sich die Frage an, ob und inwieweit die Initiativbeteiligung zivilgesellschaftlicher Akteure an solchen Prozessen erfolgreich verläuft. Eine empirisch valide Beantwortung dieser Fragen wird letztlich die Entscheidungsgrundlage dafür bilden, inwieweit Stadtentwicklung, Zivilgesellschaft und bürgerschaftliches Engagement legitime Fermente des sozialen Wandels und der gesellschaftlichen Entwicklung darstellen.

Literatur Adloff, Frank/Mau, Steffen (Hrsg.) (2005): Vom Geben und Nehmen. Zur Soziologie der Reziprozität. Frankfurt a. M., New York. Adloff, Frank (2005b): Zivilgesellschaft. Theorie und politische Praxis. Frankfurt a.M., New York. Battis, Ulrich/Söfker, Wilhelm/Stüer, Bernhard (Hrsg.) (2008): Nachhaltige Stadt- und Raumentwicklung. Festschrift für Michael Krautzberger. München. Beckert, Jens/Eckert, Julia/Kohli, Martin/Streeck, Wolfgang (Hrsg.) (2004): Transnationale Solidarität. Chancen und Grenzen. Frankfurt a. M. Böckenförde, Ernst-Wolfgang (1976): Die Bedeutung der Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft im demokratischen Sozialstaat der Gegenwart. In: ders. (Hrsg.): Staat, Gesellschaft, Freiheit. Frankfurt a.M. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2009): Bericht zur Lage und zu den Perspektiven des bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland, erstellt vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Berlin. Dahrendorf, Ralf (1968): Gesellschaft und Demokratie in Deutschland. München. Dürr, Hans Peter (2004): Vernetzung der Zivilgesellschaft als Chance für Zukunftsfähigkeit. In: Maecenata Actuell Nr. 44, Berlin. Dürr, Hans Peter (2009): Warum es ums Ganze geht. München Etzioni, Amitai (1997): Die Verantwortungsgesellschaft. Individualismus und Moral in der heutigen Demokratie. Frankfurt a. M. Europäische Kommission (1997): Mitteilung der Kommission über die Förderung der Rolle der Vereine und Stiftungen in Europa. Luxemburg. Giddens, Anthony (1991): Modernity and Self-Identity. Self and Society in the Late Modern Age. Cambridge. Gramsci, Antonio [1927-1935: 1948] (1991): [Lettere dal carcere] Gefängnishefte. Hamburg. Häußermann, Hartmut/Läpple, Dieter/Siebel, Walter (2008): Stadtpolitik. Frankfurt a.M.

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Hatzfeld, Ulrich/Pesch, Franz (Hrsg.) (2006): Stadt und Bürger. Darmstadt. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich [1809/1811: 1841] (1961): Philosophische Propädeutik. Stuttgart. Hentig, Hartmut von (2006): Bewährung. Von der nützlichen Erfahrung, nützlich zu sein. München, Wien. Hinterhuber, Eva Maria (2009): Abrahamischer Trialog und Zivilgesellschaft. Eine Untersuchung zum sozialintegrativen Potenzial des Dialogs zwischen Juden, Christen und Muslimen. Stuttgart. König, Klaus/Kropp, Sabine (Hrsg.) (2009): Theoretische Aspekte einer zivilgesellschaftlichen Verwalturngsstruktur. Speyer (Speyer Forschungsberichte Bd. 263). Luhmann, Niklas (2008): Arbeitsteilung und Moral: Dürkheims Theorie [1992], In: ders.: Die Moral der Gesellschaft. Frankfurt a. M. Luhmann, Niklas (2008b): Interaktion, Organisation, Gesellschaft [1975]. In: ders.: Die Moral der Gesellschaft. Frankfurt a. M. Muschter, Gabriele/Strachwitz, Rupert Graf (2009): Keine besonderen Vorkommnisse? Zeitzeugen berichten vom Mauerfall. Berlin. Neubert, Ehrhart (2008): Unsere Revolution, Die Geschichte der Jahre 1989/90. München. Offe, Claus (2002): Reproduktionsbedingungen des Sozialvermögens. In: Enquete-Kommission Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements, Deutscher Bundestag (Hrsg.): Bürgerschaftliches Engagement und Zivilgesellschaft. Opladen. Perroux, Francois (1961): Zwang, Tausch, Geschenk. Zur Kritik der Händlergesellschaft. Stuttgart. Popper, Karl [1945; dt. 1957] (1992): Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Tübingen. Putnam, Robert (1994): Making Democracy Work. Civic Traditions in Modern Italy. Princeton. Salamon, Lester u.a. (eds.) (1999): Global Civil Society. Dimensions of the Nonprofit Sector. Baltimore. Schulze, Reinhard (2004): Islamische Solidaritätsnetzwerke. Auswege aus den verlorenen Versprechen des modernen Staates. In: Beckert u.a. (2004): Transnationale Solidarität. Chancen und Grenzen. Frankfurt a.M., S. 195-218. Schumacher, Emst Fritz [1973] (1980): Small is Beautiful. London. Sprengel, Rainer (Hrsg.) (2007): Philanthropie und Zivilgesellschaft. Frankfurt a.M. Zimmer, Annette/Priller, Eckhard (Hrsg.) (2000): Der deutsche Nonprofit-Sektor im gesellschaftlichen Wandel. Zu ausgewählten Ergebnissen der deutschen Teilstudie des international vergleichenden Johns-Hopkins-Projekts. Münster.

VIII. Anhang

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Autorinnen und Autoren Prof. Dr. Frank Adloff ist seit 2007 Professor für Soziologie am John F. KennedyInstitut für Nordamerikastudien der FU Berlin. Nach Studium und Promotion lehrte und forschte er am Maecenata Institut in Berlin, an der Universität Göttingen, der New School for Social Research in New York und am EUI in Florenz. Dipl.-Ing. Elke Becker studierte Raumplanung in Dortmund und Rom. Seit 2006 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachgebiet Planungstheorie am ISR, TU Berlin. Zuvor sammelte sie Erfahrungen in Planungsbüros in Dortmund, Potsdam und Berlin. Ihre inhaltlichen Schwerpunkte sind u. a. die Zivilgesellschaft im räumlichen Kontext, integrierte Stadtentwicklung sowie die Kommunikation und Moderation von Stadtentwicklungsprozessen. Dr. Dierk Borstel ist seit 2008 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld. Nach seinem Studium der Politikwissenschaft beriet er mehrere Jahre für das Berliner „Zentrum Demokratische Kultur" Kommunen zum Umgang mit Demokratie gefährdenden Phänomenen und verteidigte 2009 erfolgreich eine Dissertation zur politischen Kultur in Ostvorpommem an der Universität Greifswald. Dipl. Geogr. Tobias Federwisch hat Geographie, Politikwissenschaften und Soziologie an den Universitäten Jena und Edinburgh studiert. Seit 2007 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geographie der Universität Jena und arbeitet derzeit an seiner Dissertation zum Thema „Metropolregionen in Deutschland". Prof. Dr. Enrico Gualini ist seit 2006 Professor für Planungstheorie am ISR, TU Berlin. Nach dem Architekturstudium und einer Promotion in Stadt- und Regionalplanung am Politecnico di Milano hat er weitere Forschungs- und Lehrerfahrungen u. a. an der Universität Dortmund, der Universität von Amsterdam und in weiteren Projekten im Ausland gesammelt. Prof. Dr. Detlev Ipsen hat Soziologie, Volkskunde und Psychologie in München, Wien (A) und Mannheim sowie Econometrics in Ann Arbor (USA) und Colchester (GB) studiert. Seit 1978 ist er Professor für Stadt- und Regionalsoziologie am Fachbereich für Architektur, Stadtplanung und Landschaftsplanung der Universität Kassel. Er ist Leiter der Arbeitsgruppe für Empirische Planungsforschung (AEP) und Gastprofessor in Porto Alegre, Brasilien.

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Autorinnen und Autoren

Dr. Heike Kahl studierte Germanistik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Im Anschluss an ihre Promotion arbeitete sie an der Akademie der Künste in (Ost)Berlin, sowie als Schulentwicklungsplanerin beim Berliner Senat für Schule, Berufsausbildung und Sport. Seit 1994 ist sie Geschäftsführerin der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung (DKJS). Dr. Heike Liebmann ist Stadtplanerin und seit 1992 am Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung in Erkner (b. Berlin) tätig. Seit 2006 leitet sie dort die Forschungsabteilung Regenerierung von Städten. Promoviert hat sie im Jahr 2004 an der Universität Dortmund. Aktuelle Forschungsthemen sind Stadtumbau, Regenerierungsansätze von Städten im Strukturwandel, Integration im ländlichen Raum. Dr. Alfred Reichwein ist Vertreter des Vorstands der KGSt, Köln. Nach dem Studium der Volkswirtschaft in Bonn und einer Promotion in Organisationssoziologie an der Universität Dortmund hat er in der KGSt eine Vielzahl kommunaler Managementfragen aufgearbeitet. Nach der Übernahme von Führungspositionen in Kommunalverwaltung und Beratungsunternehmen ist er seit 2003 wieder für die KGSt tätig. Dipl.-Ing. Carolin Runkel studierte Stadt- und Regionalplanung in Berlin und Lyon. Von Januar 2009 bis Januar 2010 war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Maecenata Institut für Philanthropie und Zivilgesellschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin für die Koordination des Projekts Stadtentwicklung, Zivilgesellschaft und bürgerschaftliches Engagement zuständig. Dr. Ludovica Scarpa ist seit 1984 Dozentin an der Universität Iuav, Venedig. Hier hat sie zunächst Stadt- und Architekturgeschichte, ab 2003 Kommunikation und Kulturanthropologie gelehrt. Nach dem Architekturstudium und einer Promotion in Geschichtswissenschaften an der Freien Universität Berlin hat sie an der Universität Hamburg eine Zusatzausbildung zur Kommunikationspsychologin absolviert. Dr. Walter Siebel ist Prof.em. für Soziologie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg mit den Schwerpunkten Stadtforschung, Integration und Wohnen. Seine jüngsten Buchveröffentlichungen sind Die europäische Stadt (2004) und Stadtpolitik (zus. mit H. Häußermann und D. Läpple) 2008, beide edition suhrkamp. Dr. Rupert Graf Strachwitz studierte Politische Wissenschaft, Geschichte und Kunstgeschichte an der Colgate University, USA und der Universität München. Er ist Direktor des Maecenata Instituts für Philanthropie und Zivilgesellschaft an der HumboldtUniversität zu Berlin.

Autorinnen und Autoren

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Martina Trauth-Koschnick, Gesundheitswissenschaftlerin (Master of Public Health) und Diplom-Sozialpädagogin, ist als Gesundheits- und Sozialplanerin in der Landeshauptstadt Potsdam tätig. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Kommunales Netzwerkmanagement, partizipative Altenplanung, integrierte Sozialberichterstattung und demografischer Wandel. Dr. Bernd Wagner ist wissenschaftlicher Leiter des Instituts fiir Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft und stellvertretender Geschäftsführer der Kulturpolitischen Gesellschaft in Bonn. Nach dem Studium der Sozialwissenschaften in Frankfurt/Main war er lange Zeit im Verlagsbereich und als kulturpolitischer Publizist tätig. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Kulturpolitik, interkulturelle Kulturarbeit, bürgerschaftliches Engagement und Nachhaltigkeit. Dr.-Ing. Andre Wolf studierte Raumplanung in Dortmund und London. Seit 2006 ist er Projektleiter und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für NonprofitManagement sowie am Institut für Politikwissenschaft der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Bürgerschaftliches Engagement, Nonprofit-Organisationen und Bürgerstiftungen.

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Interviewpartnerinnen und Interviewpartner

Interviewpartnerinnen und Interviewpartner Dr. Brigitte Adam ist Projektleiterin im Referat Stadtentwicklung im Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung (BBR). Von 1998 bis 2000 hat sie dort die Projektgruppe „Regionen der Zukunft" geleitet. Niklas Ahrens ist seit seinem 17. Lebensjahr ehrenamtlich bei der Landjugend Balje zwischen Stade und Cuxhaven aktiv. Aktuell ist er dort auf Orts- sowie Bezirksebene Kassenwart und studiert in Hamburg. Dorit Baumeister ist Architektin und Inhaberin des Büros lienig Et baumeister architekten und im Vorstand der Kulturfabrik e.V. in Hoyerswerda. Ralf Baumgarth ist Geschäftsführer der Bezirksgeschäftsstelle Heidelberg des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes und Ansprechpartner für die Metropolregionale Arbeitsgemeinschaft der Freiwilligenagenturen (magfa) der Metropolregion Rhein-Neckar Dr. Ingeborg Beer ist Stadtsoziologin und Inhaberin des Büros Stadtforschung + Sozialplanung in Berlin und hat sich insbesondere mit den Programmen Soziale Stadt und Stadtumbau beschäftigt. Annemarie Biechl ist ehrenamtlich gewählte Landesbäuerin (Vorsitzende) der Landfrauengruppe im Bayerischen Bauernverband und seit 2003 Mitglied des Bayerischen Landtags. Peter Biernath ist Bürger von Hoyerswerda und aktiv im Verein Kulturbund e.V. tätig. Er war früher Mitglied im Verein Stadtumbau und Bürgerbeteiligung (SUB e.V.). Alois Glück war von 2003 bis 2008 Präsident des Bayerischen Landtags. Vor seinem Engagement in der CSU war er ehrenamtlich und hauptamtlich in der Katholischen Landjugendbewegung tätig. Er ist Präsident des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken. Carmen Daramus ist Mitarbeiterin der Stiftung Metropolregion Rhein-Neckar und bei der Metropolregion Rhein-Neckar GmbH als Mitarbeiterin im Projekt „Bürger in Bewegung" tätig. Tobias Habermann ist Quartiersmanager im Leipziger Westen und hat dort unter anderem das Projekt der Nachbarschaftsgärten e.V. begleitet.

Interviewpartnerinnen und Interviewpartner

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Monika Heibig ist Bevollmächtigte beim Bund und Europabeauftragte sowie Beauftragte für das bürgerschaftliche Engagement des Landes Berlin. Dr. Konrad Hummel war lange Zeit Sozialdezernent in Augsburg und ist heute beim Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung e.V. (vhw) in Berlin tätig. Heike Maria von Joest ist Vorstandsvorsitzende der Bürgerstiftung Berlin und war zuvor unter anderem Hauptgeschäftsführerin des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, Berlin. Stefan Krapp ist Raumplaner und arbeitet als Referent im Ministerium für Infrastruktur und Raumordnung Brandenburg in Potsdam. Gudrun Lang ist Geschäftsführerin von imkontext (Tourismus- und Regionalberatung) in Eschwege. Sie ist außerdem Mitbegründerin der Bürgerstiftung Werra-Meißner in Nordhessen. Prof. Dr. Holger Magel ist Direktor am Institut für Geodösie, GIS und Landmanagement, Lehrstuhl für Bodenordnung und Landentwicklung der TU München und Präsident der Bayerischen Akademie Ländlicher Raum e.V. Prof. Ulf Matthiesen ist Professor am Institut für Europäische Ethnologe der HU Berlin. Zuvor war er lange Leiter der Forschungsabteilung „Wissensmilieus und Raumstrukturen" am Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung in Erkner. Sylvana Mehrwald ist als Abgesandte der BASF SE bei der Metropolregion RheinNeckar GmbH für das Projekt „Bürger in Bewegung" zuständig. Andrea Peisker ist in der Stadtverwaltung Eisenhüttenstadt Projektleiterin für das Programm Soziale Stadt. Arnd Pricibilla ist Rechtsanwalt und Diplomkaufman (FH), Fachrichtung Verwaltungsmanagement, und Projektleiter beim StädteNetzWerk NRW in Unna. Uwe Proksch ist Geschäftsführer der Kulturfabrik in Hoyerswerda, die sich in diversen Projekten mit dem Stadtumbau beschäftigt hat. Claudia Raß ist hauptamtliche Bundesjugendreferentin beim Bund der deutschen Landjugend. Mit Sitz in der Außenstelle Oldenburg ist sie zuständig für Beteiligungsmöglichkeiten und -prozesse und die Qualifizierung von Ehrenamtlichen.

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Interviewpartnerinnen und Interviewpartner

Dr. Adrian Reinert war lange Zeit Geschäftsführer der Stiftung Mitarbeit und leitet heute den Fachbereich „Lebenslanges Lernen" an der Volkshochschule Bonn. Dr. Klaus Reuter ist Geschäftsführer der Landesarbeitsgemeinschaft AGENDA 21 NRW e.V. in Dortmund. Felix Ringel ist Anthropologe und schreibt als gebürtiger Berliner seine Dissertation an der Universität Cambridge über das Leben in Hoyerswerda. Matthias Rogge ist Projektleiter im Bereich Stadtentwicklung/Stadtumbau der Stadtverwaltung Eisenhüttenstadt. Jens Scheller ist freiberuflicher Geograph. Von 2002 bis 2008 war er als Mitglied der Grünen Erster Beigeordneter im Planungsverband Ballungsraum Frankfurt/RheinMain. Sabine Slapa ist Stadtplanerin und Geschäftsinhaberin des Büros die raumplaner in Berlin. Gerhard Schlegel ist Bergmaschineningenieur im Ruhestand und aktiver Bürger von Hoyerswerda. Er war bis zu dessen Auflösung Mitglied im Verein Stadtumbau und Bürgerbeteiligung (SUB e.V.). Prof. Dr. Reiner Staubach ist Stadtplaner und sowohl Mitbegründer und Vorstandsmitglied des Planerladen e.V. in Dortmund als auch Dozent an der Hochschule Ostwestfalen-Lippe. Silke Stöber ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Humboldt-Universität zu Berlin, Landwirtschaftlich-Gärtnerische Fakultät, Institut für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften des Landbaus und Mit-Initiatorin der AG Lebendige Dörfer im Brandenburg 21 e.V. Reinhard Thies ist im Diakonischen Werk Leiter der Servicestelle Soziale Stadt sowie Vorstand der BAG Soziale Stadtentwicklung und Gemeinwesenarbeit in Berlin. Dr. Ralf Vandamme ist Mitarbeiter des Städtetags Baden-Württemberg und macht hier die Fachberatung im Städtenetzwerk Bürgerschaftliches Engagement in Stuttgart. Beate Weber war von 1990 bis 2006 Oberbürgermeisterin der Stadt Heidelberg. Birgit Weber ist Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freiwilligenagenturen e.V. (BAGFA) in Berlin.

T h o m a s Loer

Die Region Eine B e g r i f f s b e s t i m m u n g a m Fall des R u h r g e b i e t e s Qualitative Soziologie Bd. 9 2007. IV/299 S., kt. € 34,-. ISBN 978-3-8282-0412-6 Was ist eine Region? Diese Frage ist im Zuge des ,spatial turn' in den Sozialwissenschaften bis heute unbeantwortet. In diesem Buch wird der Begriff der Region auf empirischer Grundlage expliziert: Eine Region ist eine soziokulturelle Einflussstruktur. Diese Struktur bildet sich in der Lösung von spezifischen Handlungsproblemen heraus, als mit denen konfrontiert die Bewohner eines Raumes sich erfahren, und sie bestimmt als eine Habitusformation ihr alltägliches Handeln. Diese Begriffsbestimmung entwickelt der Autor aus einer detailreichen empirischen Studie über das Ruhrgebiet. Der empirische Fall wird dabei in eine neue Perspektive gerückt: Befreit von der Fixierung auf die Industriekultur und den aktuellen Strukturwandel deckt die Studie weit zurückliegende historische Konstellationen auf. Auf diese Weise zeigen sich charakteristische Züge der Region Ruhrgebiet - etwa die Vergemeinschaftungsorientierung oder die .Malocherhaltung' - als Momente einer Fallstruktur von langer Dauer. Inhaltsübersicht: Kapitel 1 : Einleitung

3

Verhaltene Dissonanz

Kapitel 2: Historische Konstellationen

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Inszenierte Konformanz

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Gesuchte Performanz

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Zwischenbemerkung zur Generalisierung

1

Was ist die Frage?

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Bruchwald und Fluss

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Zwischenraum

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Drei Weiterungen

4

Unterströmung

8

Zusammenfassung

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Zwischenbemerkung zu Gemeinschaftsorientierung und Anerkennung

Kapitel 4: Einflussstruktur

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Kolonialisierung

1

Unbegriffen: Region und Raum

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Übergang

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Wirtschaft qua Vergemeinschaftung

3

Zum Begriff der Region

Kapitel 3 : Fälle der Region 1

Methode und Gegenstand

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Gehaltene Diskrepanz

LUCIUS "LUCIUS

Stuttgart

MAECENATA INSTITUT FÜR PHILANTHROPIE UND ZIVILGESELLSCHAFT AN D E R H U M B O L D T UNIVERSITÄT ZU BERLIN —

In der Maecenata-Schriftenreihe sind bisher folgende Bände erschienen: Band 1 Rainer Sprengel Thomas Ebermann

mit einem Beitrag von Karin Fleschutz

Statistiken zum Deutschen Stiftungswesen 2 0 0 7 2007. VIII/111 S., kt. €34,ISBN 978-3-8282-0422-5 Zum vierten Mal legt das Maecenata Institut einen statistischen Forschungsbericht zum deutschen Stiftungswesen vor. Anhand der im Institut geführten Datenbank, in der rd. 12.000 Stiftungen verzeichnet sind, haben die Autoren Rainer Sprengel und Thomas Ebermann, beide seit vielen Jahren mit der empirischen Sozialforschung zum Stiftungswesen befaKt, eine Reihe von Untersuchungen fortgeschrieben und neue erstmals hinzugefügt. Auch ein Vergleich mit anderen verfügbaren Datenquellen findet statt. Die Untersuchung wird eindrucksvoll ergänzt durch einen Sonderbericht von Karin Fleschutz zu unternehmensverbundenen Stiftungen.

Band 2 Rainer Sprengel Rupert Graf Strachwitz (Hrsg.) Private Spenden für Kultur Bestandsaufnahme, Analyse, Perspektiven 2008. XH/116 S., kt. € 34,ISBN 978-3-8282-0430-0 „Dergrößte Kulturfinanzierer in Deutschland ist der Bürger. Zunächst als Marktteilnehmer, dann als Spender und in dritter Linie als Steuerzahler." Diese Aussage ist vor dem Hintergrund einer Tradition, die stets, den Staat' als größten Kulturförderer sieht und das private Engagement in eine

LUCIUS LUCIUS

Ergänzungsfunktion abdrängen will, ein Paradigmenwechsel. Dass nach der Kulturwirtschaft das bürgerschaftliche Engagement den zweiten Rang in der Finanzierung von Kultur hat, ist ein überraschendes Ergebnis. Diese Aussage wurde nur möglich, weil die Enquete-Kommission dieses Engagement, das private Spenden für Kultur in einem Gutachten eigens untersuchen ließ, ausdrücklich unter Einbeziehung der Zeitspenden. Mit der Erstellung war das Maecenata Institut beauftragt. Das Cutachten wurde im September 2006 von der Enquete-Kommission ,Kultur in Deutschland' angenommen.

Band 3 Thomas Adam Manuel Frey Rupert Graf Strachwitz (Hrsg.) Stiftungen seit 1 8 0 0 Kontinuitäten und Diskontinuitäten 2009. VIII/204 S., kt. € 42,ISBN 978-3-8282-0432-4 Stiftungen sind traditionsreiche Institutionen der Zivilgesellschaft. Seit Jahrhunderten tragen sie zum Gemeinwohl bei. In den letzten Jahren hat die Zahl der Stiftungsgründungen einen beispiellosen Aufschwung genommen. Wie lässt sich diese Zunahme erklären? Welche sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedingungen müssen gegeben sein, damit es zu einer Stiftungsgründung kommt? Der Band stellt Beiträge und Ergebnisse einer Tagung vor, die vom Maecenata Institut in Zusammenarbeit mit der University of Texas in Arlington und der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen in Berlin durchgeführt wurde. Anhand ausgewählter historischer Beispiele aus dem späten 19. und dem 20. Jh. wird die Entwicklung des Stiftungswesens an ideengeschichtlichen Strömungen und der historischen Wirklichkeit gemessen.

Stuttgart

MAECENATA INSTITUT FÜR PHILANTHROPIE UND ZIVILGESELLSCHAFT AN DER HUMBOLDT UNIVERSITÄT ZU BERLIN

Band 4 Eva Maria Hinterhuber Abrahamischer Trialog und Zivilgesellschaft Eine Untersuchung zum sozialintegrativen Potenzial des Dialogs zwischen Juden, Christen und Muslimen 2009. XIV/262 S„ kt. € 46,ISBN 978-3-8282-0467-6 Nicht erst im Zuge fundamentalistischer Terroranschläge gilt Religion oft als konfliktträchtig. Gerade der interreligiöse Dialog verfügt jedoch über das Potenzial, positiv auf gesellschaftliche Konfliktlagen einzuwirken, zur wechselseitigen Integration und zum sozialen Zusammenhalt beizutragen. Seine Akteure erfüllen damit originär zivilgesellschaftliche Aufgaben. Die hier vorgelegte Studie geht der Frage nach diesem sozialintegrativen Potenzial zivilgesellschaftlicher Initiativen im Dialog zwischen Juden, Christen und Muslimen in Deutschland auf theoretischer und empirischer Basis nach. Die sozialwissenschaftliche Analyse abrahamischer Projekte und Vereinigungen hierzulande wird durch einen Blick auf Frankreich, Großbritannien, die Niederlande, Österreich, BosnienHerzegowina, die Schweiz, die Türkei und Israel ergänzt. Kurze Portraits, in denen ausgewählte Trialoginitiativen beispielhaft mit ihren Programmen, Profilen und Kontaktdaten vorgestellt werden, vervollständigen die Studie.

Band 5 Rupert Graf Strachwitz Die Stiftung - ein Paradox? Zur Legitimität von Stiftungen in einer politischen Ordnung

LUCIUS LUCIUS

2010. X/237 Seiten, kt. € 4 8 , ISBN 978-3-8282-0501-7 Der Autor stellt die Frage, ob Stiftungen in einer modernen Demokratie eine theoretisch begründbare Legitimität besitzen. Die stürmische Entwicklung der Stiftungspraxis erscheint insofern als Paradox. Er unternimmt den Versuch, sich diesem Problem aus geistesgeschichtlicher und politikwissenschaftlicher Perspektive zu nähern. Ausgehend von der ersten großen Legitimitätskrise des Stiftungswesens im 18. und seiner Relegitimierung im 19. Jhdt., untersucht er die Entwicklung unter den Bedingungen des National· und Wohlfahrtsstaates, der heute überholt erscheint, fordert angesichts des Aufstiegs der Zivilgesellschaft eine neue Legitimitätsdebatte ein und bietet Überlegungen und Argumente hierfür an.

In Vorbereitung: Band 7

Philipp Hoelscher/Thomas Ebermann (Hrsg.)

Venture Philanthropy in Theorie und Praxis Bilanz und Perspektiven 2010. XII/203 S„ kt. € 4 2 , ISBN 978-3-8282-0506-2

Band 8

Frank Adloff/Eckhard Priller/ Rupert Graf Strachwitz (Hrsg.)

Prosoziale Motivation

Bedingungen des Spendens in interdisziplinärer Perspektive 2010. ca. 220 S„ kt. , ca. € 44,ISBN 978-3-8282-0507-9 Die Maecenata Schriften sind erhältlich im Buchhandel oder über www. Schriftenreihe, maecenata. eu

Stuttgart

Heike Monika Greschke

Daheim in www.cibervalle.com Zusammenleben im medialen Alltag der Migration 2009. X/258 S., kt. € 34,-. ISBN 978-3-8282-0466-9 Qualitative Soziologie Bd. 10 Wie ist globales Zusammenleben möglich? Wie verändert die Verfügbarkeit des Internets Alltag und Zusammenleben in der Migration? In diesem Buch wird ein .fremdes Volk' vorgestellt, das gemeinsam einen virtuellen Raum bewohnt, während seine Mitglieder, die zumeist paraguayischer Herkunft sind, über den Globus verstreut leben. Mit Hilfe von ethnographischen und kommunikationsanalytischen Verfahren, die am und für den Gegenstand entwickelt wurden, untersucht die Autorin den Zusammenhang von (transnationaler) Migration und globalen Kommunikationstechnologien. Sie zeigt, wie sich die soziale Aneignung und technologische Weiterentwicklung des Internets wechselseitig beeinflussen, wie Medien als Substitutionsmechanismus für migratorisch bedingte Abwesenheiten fungieren und welche neuen, globalisierten Formen von Sozialität dabei entstehen. Inhaltsübersicht: Α Medien - Alitag - Migration 1. Einleitung 2. Tragödie im Supermarkt Ycua Bolanos

9. Die methodische Gestalt Cibervalles 10. Ein-und Aussteigen in einem plurilokalen computervermittelten Forschungsfeld

3. Die Herstellung von Globalität im medialen Alltag der Migration

C Die sozialen Landschaften Cibervalles

4. Eine globale Lebenswelt ,ä l@ paraguay@'

12. Wo und mit wem man Terere* trinkt: Cibervalle ,multi-sited'

5. Methodologische Herausforderungen und Buchstruktur Β Fremd ist der Fremde nur in der Fremde? Über die Kunst ethnographischer Verortung in einer globalisierten Welt 6. 7.

8.

Die Ethnographin und ihre Felder in der Weltgesellschaft „Multi-sited Ethnography": Ein Forschungsprogramm für die (mediatisierte) Weltgesellschaft? Per Mausklick ins Forschungsfeld? - Ethnographie in der Internetforschung

LUCIUS LUCIUS

11. Paraguay: Eine Migrationsgeschichte

D Die kommunikative Architektur Cibervalles 13. Analyse von internetbasierter Kommunikation 14. Aufbau und techno-soziale Evolution des Cibervalle-Forums 15. Globales Zusammenleben in Cibervalle 16. „Jetzt schaut euch die Welt zu!" - Wie Cibervaller@s im Alltag zu global playern werden

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