Deutsche in Lateinamerika - Lateinamerika in Deutschland 9783964566843

Die vielfältigen Beiträge dieses Bandes behandeln hauptsächlich die gegenseitigen Kulturrezeptionen und die wirtschaftli

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Deutsche in Lateinamerika - Lateinamerika in Deutschland
 9783964566843

Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort
I. Deutsche in Lateinamerika
1. Eroberer, Auswanderer, Flüchtlinge
Die Entdeckung, Eroberung und Kolonisation Spanisch- Amerikas: historische Last und historische Leistung
Deutsche Landsknechte, Legionäre und Militärinstrukteure in Lateinamerika
Auf der Suche nach Brot und Freiheit: Die Auswanderung aus Deutschland, Österreich und der Schweiz
Lateinamerika als Zuflucht: 1933 bis 1945
2. Forschungsreisende und Touristen
Forschungsreisende und Naturforscher vor und nach Alexander von Humboldt
Von Surrogaten und Extrakten: Eine Geschichte der Übersetzungen und Bearbeitungen des amerikanischen Reisewerks Alexander von Humboldts im deutschen Sprachraum
Verführungen zum Reisen Touristische Lateinamerikabilder
3. Die Rezeption der deutschen Kultur in Lateinamerika
Die deutschsprachige Literatur in Spanisch-Amerika Wege der kulturellen Begegnung in Auswahl
Die deutschsprachige Literatur in Brasilien
Zur Rezeptionsgeschichte der deutschen Musik in Südamerika am Beispiel des Opernhauses von Buenos Aires (Teatro Colόn)
Deutsche Institutionen und Schulen in Lateinamerika Vielfalt und Wechselfälle des 19. und 20. Jahrhunderts
II. Lateinamerika in Deutschland
4. Der Beginn der Rezeption Lateinamerikas
Die Austauschbarkeit der Bilder Frühe Darstellungen der Neuen Welt
Lateinamerika im Bild Die deutschen Maler und Zeichner
Wie die Europäer satt und süchtig wurden
5. Die Präsenz Lateinamerikas im 20. Jahrhundert
Lateinamerika in den Medien: Zeitungen und Zeitschriften
Der lateinamerikanische Film in Deutschland Eine quantitative Erhebung
Die Diskussion um die Theologie der Befreiung in Deutschland
6. Die Rezeption der lateinamerikanischen Kultur
Die großen Multiplikatoren: Autorentreffen, Festivals, Messen und andere Zusammenkünfte
Sind die Deutschen die letzten Entdecker Amerikas? Zur Rezeption der lateinamerikanischen Literaturen
Die Romanistik als Vermittlerin der lateinamerikanischen Kultur und Literatur
III. Deutsch-lateinamerikanische Beziehungen
7. Die Entwicklung der Beziehungen vom 19. Jahrhundert bis zum 2. Weltkrieg
Die Handelsbeziehungen zwischen Deutschland und Lateinamerika (bis 1871)
Deutschland und Lateinamerika im Zeitalter des Imperialismus 1871-1914
Das nationalsozialistische Deutschland und Lateinamerika 1933-1945
8. Die Beziehungen nach dem 2. Weltkrieg
Die Entwicklungspolitik
Profile einer Partnerschaft Zusammenarbeit der katholischen Kirche in Deutschland mit Lateinamerika
Die kulturellen Beziehungen zwischen Deutschland und Lateinamerika

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Karl Kohut/Dietrich Briesemeister/Gustav Siebenmann (Hrsg.) Deutsche in Lateinamerika • Lateinamerika in Deutschland

amcMPúGaDDa c^stíciüüciODSto herausgegeben von Karl Kohut und Hans-Joachim König Publikationen des Zentralinstituts für Lateinamerika-Studien der Katholischen Universität Eichstätt Serie B: Monographien, Studien, Essays, 7 Publicaciones del Centro de Estudios Latinoamericanos de la Universidad Católica de Eichstätt Serie B: Monografías, Estudios, Ensayos, 7 P u b l i c a r e s do Centro de Estudos Latino-Americanos da Universidade Católica de Eichstätt Série B: Monografías, Estudos, Ensaios, 7

Karl Kohut/Dietrich Briesemeister/ Gustav Siebenmann (Hrsg.)

Deutsche in Lateinamerika Lateinamerika in Deutschland

Vervuert Verlag • Frankfurt am Main 1996

Redaktion: Dr. Sonja M. Steckbauer Typoskript: Jutta Spreng

Gedruckt mit Unterstützung der Katholischen Universität Eichstätt

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Deutsche in Lateinamerika - Lateinamerika in Deutschland / Karl Kohut... (Hrsg.). - Frankfurt am Main : Vervuert, 1996 (Americana Eystettensia : Ser. B , Monografías, estudios, ensayos ; 7) ISBN 3-89354-957-9 NE: Kohut, Karl [Hrsg.]; Americana Eystettensia / B

© Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1996 Alle Rechte vorbehalten Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier Printed in Germany

INHALTSVERZEICHNIS Vonvort

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I. Deutsche in Lateinamerika 1. Eroberer, Auswanderer, Flüchtlinge Felix Becker: Die Entdeckung, Eroberung und Kolonisation Spanisch-Amerikas: historische Last und historische Leistung Günter Kahle: Deutsche Landsknechte, Legionäre und Militärinstrukteure in Lateinamerika

35

Béatrice Ziegler: Auf der Suche nach Brot und Freiheit: Die Auswanderung aus Deutschland, Österreich und der Schweiz

48

Anne Saint Sauveur-Henn: Lateinamerika als Zuflucht: 1933 bis 1945

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2. Forschungsreisende und Touristen Franz Tichy: Forschungsreisende und Naturforscher vor und nach Alexander von Humboldt

81

Ottmar Ette: Von Surrogaten und Extrakten: Eine Geschichte der Übersetzungen und Überarbeitungen des amerikanischen Reisewerks Alexander von Humboldts im deutschen Sprachraum

98

Kuno Eugster: Verführungen zum Reisen: Touristische Lateinamerikabilder

127

3. Die Rezeption der deutschen Kultur in Lateinamerika Nicolás Jorge Dornheim: Die deutschsprachige Literatur in Spanisch-Amerika: Wege der kulturellen Begegnung in Auswahl

139

Erwin Theodor Rosenthal: Die deutschsprachige Literatur in Brasilien

157

Kurt Pahlen: Zur Rezeptionsgeschichte der deutschen Musik am Beispiel des Opernhauses von Buenos Aires (Teatro Colón)

162

Harry Werner: Deutsche Institutionen und Schulen in Lateinamerika: Vielfalt und Wechselfälle des 19. und 20. Jahrhunderts

182

II. Lateinamerika in Deutschland 4. Der Beginn der Rezeption Lateinamerikas Helga von Kügelgen: Die Austauschbarkeit der Bilder: Frühe Darstellungen der Neuen Welt

199

Renate Löschner: Lateinamerika im Bild: Die deutschen Maler und Zeichner

223

Franz Mathis: Wie die Europäer satt und süchtig wurden

234

5. Die Präsenz Lateinamerikas im 20. Jahrhundert Jürgen Wilke: Lateinamerika in den Medien: Zeitungen und Zeitschriften

255

Peter B. Schumann: Der lateinamerikanische Film in Deutschland: Eine quantitative Erhebung

269

Claus Bussmann: Die Diskussion um die Theologie der Befreiung in Deutschland

278

6. Die Rezeption der lateinamerikanischen Kultur Michi Strausfeld: Die großen Multiplikatoren: Autorentreffen, Festivals, Messen und andere Zusammenkünfte

285

Gustav Siebenmann: Sind die Deutschen die letzten Entdecker Amerikas? Zur Rezeption der lateinamerikanischen Literaturen

297

Karl Kohut: Die Romanistik als Vermittlerin der lateinamerikanischen Kultur und Literatur

315

III. Deutsch-lateinamerikanische Beziehungen 7. Die Entwicklung der Beziehungen vom 19. Jahrhundert bis zum 2. Weltkrieg Hermann Kellenbenz (f): Die Handelsbeziehungen zwischen Deutschland und Lateinamerika bis 1871

349

Walther L. Bernecker und Thomas Fischer: Deutschland und Lateinamerika im Zeitalter des Imperialismus 1871-1914

371

Reiner Pommerin: Das nationalsozialistische Deutschland und Lateinamerika 1933-1945

398

8. Die Beziehungen nach dem 2. Weltkrieg Hartmut Sangmeister: Die Entwicklungspolitik

407

Hans Czarkowski: Profile einer Partnerschaft: Zusammenarbeit der katholischen Kirche in Deutschland mit Lateinamerika

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Dieter W. Benecke: Die kulturellen Beziehungen zwischen Deutschland und Lateinamerika

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Vorwort Die Vorarbeiten zu diesem Band über die deutsch-lateinamerikanischen Beziehungen gestalteten sich schwierig und reizvoll zugleich. Schwierig deshalb, weil diese Beziehungen für keine der beiden Seiten je einen zentralen Stellenwert hatten. Deutschland hat in der Kolonialzeit nur eine marginale Rolle gespielt (was von heute her gesehen sicher ein Vorteil ist), und auch in den beiden Jahrhunderten der eigenständigen Staaten war es nur ein Partner unter anderen. Für die Intellektuellen beispielsweise war immer Frankreich das bewunderte Vorbild. In Deutschland wiederum denkt man bei "Amerika" immer zuerst an die Vereinigten Staaten, und erst in weitem Abstand dazu an die Staaten südlich des Rio Grande. Dennoch hat sich in den fünf Jahrhunderten seit der Entdeckung des Kontinents ein Geflecht von Beziehungen entwickelt, das weitaus dichter ist, als es der gängigen Meinung entspricht. Dies darzustellen machte den Reiz der Vorarbeiten zu diesem Band aus. Der Titel bezeichnet recht genau die Natur der Beziehungen, die den deutschen Sprachraum mit dem lateinamerikanischen Subkontinent in Vergangenheit und Gegenwart verbunden haben und verbinden: Hinüber gingen vor allem Menschen, herüber kamen Bilder, Früchte, Rohstoffe. Natürlich ist diese Gegenüberstellung überspitzt. Sicher gingen nach Lateinamerika zunächst Menschen: zuerst als Eroberer, später als Auswanderer, schließlich als Flüchtlinge. Aber es gelangten auch Werke, Bilder und Ideen nach Lateinamerika: Die deutsche Literatur zum Beispiel hat dort stärker gewirkt als bekannt ist, und vor allem die Musik und die Philosophie, aber auch die Technik haben die lateinamerikanische Entwicklung mitgeprägt. In der Gegenrichtung kamen zuerst mentale Bilder und Früchte, später dann Rohstoffe: Erze, Öl. Erst in den letzten Jahrzehnten kamen auch Menschen in größerer Zahl: die Flüchtlinge der vielen Militärdiktaturen der 70er und 80er Jahre. Vor allem Chilenen kamen nach dem Militärputsch von 1972 in größerer Zahl nach Deutschland. Schließlich kam auch Kulturelles hinzu: Tänze, Musik, Bücher. Die Wechselbeziehungen entwickelten sich erst allmählich nach dem Entstehen der selbständigen Staaten zu Beginn des 19. Jahrhunderts, so daß man erst von diesem Zeitpunkt an von Wechselbeziehungen im eigentlichen Sinn sprechen kann. Der vorliegende Band sollte die verschiedenen Aspekte dieser Beziehungen systematisch darstellen. Dies ist zwar in wesentlichen Teilen gelungen, aber es blieben empfindliche Lücken, die dem aufmerksamen Leser nicht entgehen werden. Trotz allem bieten die Artikel dieses Bandes nach der Überzeugung der Herausgeber ein umfassendes Bild der Beziehungen zwischen Deutschland und Lateinamerika.

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Die Planung für diesen Band geht auf das Jahr 1988 zurück, als ein Arbeitskreis an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel Vorbereitungen für das bevorstehende schwierige Gedenkjahr der Entdeckung Amerikas 1992 zu treffen begann. Mehrere der damals geplanten Projekte konnten inzwischen verwirklicht werden, manche mit erheblicher Verzögerung. Das gilt auch für diesen Band. Die Drucklegung drohte zunächst an den Kosten zu scheitern. Umso mehr freuen wir uns, daß wir den Band nunmehr vorlegen können. Wir danken den Autoren, die an diesem Band mitgearbeitet haben, für die Geduld, mit der sie die Verzögerung ertragen haben, wie auch für die Bereitschaft, ihre Beiträge zu aktualisieren. Einigen Beiträgern war dies aus Arbeitsüberlastung nicht möglich; in diesen Fällen ist der Abschlußtermin der Arbeit vermerkt. Wir danken besonders Prof. Dr. Paul Raabe, der die Arbeitsgruppe an der Herzog August Bibliothek gegründet und gefördert hat, weiterhin der Leiterin des dortigen Forschungsbereichs, Dr. Sabine Solf und ihrem Stellvertreter, Prof. Dr. Friedrich Niewöhner, für ihre ideelle und organisatorische Unterstützung, und schließlich Dr. Felix Becker, der an der Konzeption des Bandes mitgearbeitet hat. Eichstätt, Berlin, St. Gallen im November 1995

Karl Kohut Dietrich Briesemeister Gustav Siebenmann

I Deutsche in Lateinamerika

1. Eroberer, Auswanderer, Flüchtlinge

Die Entdeckung, Eroberung und Kolonisation SpanischAmerikas: historische Last und historische Leistung Felix Becker

Einleitung Tiefgreifende Wandlungen im wirtschaftlichen, sozialen und staatlichen Gefüge des spätmittelalterlichen Europa kündeten eine neue Epoche an. Nach außen pflanzte sich diese Bewegung mit der im 15. Jahrhundert einsetzenden Expansion nach Übersee fort. Den iberischen Seemächten Portugal und Kastilien folgten Frankreich, die Niederlande und England. Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts reihte sich Rußland mit der Eroberung und Erschließung des nordasiatischen Raumes unter die Kolonialmächte, und selbst zweitrangige Mächte wie Dänemark und Schweden fanden unter ihnen mit dem Erwerb karibischer Inseln ihren bescheidenen Platz. Mit der Europäisierung der außereuropäischen Welt und den von ihr ausgehenden Rückwirkungen auf Europa wurden die Grundlagen des modernen Weltgefüges geschaffen. Lateinamerika nimmt darin eine periphere Stellung ein. Die nachfolgende Darstellung lateinamerikanischer Kolonialgeschichte beschränkt sich auf den Spanisch sprechenden Teil Amerikas. Dies dient zunächst der Klarheit. Darüber hinaus aber lassen sich gerade am Beispiel SpanischAmerikas einige Problemkreise frühneuzeitlicher Kolonialexpansion besonders deutlich aufzeigen. Als erste europäische Kolonialmacht ging Spanien von der Handels- zur Siedlungskolonisation über, womit sich besonders intensive Formen der Konfrontation unterschiedlicher Kulturen ergaben, die auch in Europa in erregten Diskussionen widerhallten. Der mit der Siedlungskolonisation eingeleitete Akkulturationsprozeß — die von direktem und dauerhaftem Kontakt ausgehende gegenseitige Anpassung unterschiedlicher Kulturen — hat in Hispanoamerika noch nicht zu einer tragfahigen, neuen kulturellen Identität geführt; im Unterschied zu Angloamerika, dem großen melting pot, gingen aus dem spanischen Amerika "Entwicklungsländer" hervor. Des weiteren ragt Hispanoamerika unter den frühneuzeitlichen Kolonialreichen durch seinen Edelme-

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tallreichtum hervor, der nachhaltig die politischen Konstellationen beeinflußte. Die Rivalität der Seemächte um den Reichtum Spanisch-Amerikas sowie die gegenseitige Verketzerung zwischen der katholischen Vormacht Spanien und dem protestantischen Europa spiegeln sich bis heute in Zerrbildern spanischer Kolonialgeschichte. Zum Verständnis spanischer Kolonialgeschichte bedarf es der Grundeinsicht, daß europäischer Anspruch und amerikanische Wirklichkeit, Kolonialpolitik und Kolonialpraxis auseinanderklafften. Ungeachtet der Beschränkung auf Spanisch-Amerika wird bei der Frage nach den Triebkräften und Voraussetzungen des Ausgreifens nach Übersee ein kurzer Blick auf Portugal zu werfen sein, welches allen europäischen Mächten voran der frühneuzeitlichen Kolonialexpansion Maßstäbe und Meilensteine setzte. Zunächst aber einige allgemeine Bemerkungen zum Begriff und Phänomen des "Kolonialismus".

1. Kultur und Kolonialismus Wie schon die gemeinsame Wortwurzel von Kultur und Kolonialismus (lat. colere: erschließen, bebauen, kultivieren) zeigt und die Geschichte vielfach bestätigt, bedeutet Kolonisation nicht nur Unterdrückung, Gewalt und Ausbeutung, sondern auch Kulturvermittlung. Köln zum Beispiel, in dessen Name (Colonia) der antike Kolonialstatus weiterlebt, verweist selbstbewußt auf von Kolonialherren ererbtes Kulturgut. Leicht erkennbar, wie sehr die moralische Beurteilung von Kolonialherrschaft historischem Wandel und dem Fortgang der Zeit unterworfen ist. Führt die stets von Gewalt begleitete Konfrontation unterschiedlicher Kulturen zur Synthese (Akkulturation), so entsteht eine neue kulturelle Identität. Zunächst aber ruft Kolonialherrschaft in der kolonisierten Gesellschaft physische und psychische Krisen hervor und verleiht ihr einen "gewissermaßen pathologischen Charakter" (Balandier 1970, 121). Auch im Kultursystem der Kolonisten, also derer, die in der Kolonie Fremdherrschaft ausüben, können "krankhafte" Veränderungen auftreten (Beutekapitalismus, ausufernde Korruption, Gewaltmißbrauch). Die kolonialen Gesellschaften Amerikas liefern hierfür beredtes Zeugnis. Ihr Beispiel zeigt aber auch, daß das Ende europäischer Kolonialherrschaft nicht gleichzeitig das Ende der "kolonialen Situation" bedeutet. Zunächst ging nur die kontrollierende Staatsgewalt von den Mutterländern auf die Kolonisten über. Nach ihrer Unabhängigkeit nahmen die angloamerikanischen Kolonien die Kolonisierung des Westens in Angriff; das Problem der Fremdherrschaft wurde mit der Reduzierung der indianischen Bevölkerung zur Bedeutungslosigkeit gelöst. Lateinamerikanische Gesellschaften tragen nach wie vor pathologische Züge. Gerade in Staaten mit hohem indianischen Bevölkerungsanteil stellt sich die Suche nach kultureller Identität als eines der dringendsten Probleme dar. Die ethnische Zusammensetzung dieser Gesellschaften spiegelt allerdings nur einen Aspekt aktueller Entwicklungsproblematik. Kolonialherrschaft — um diesen althergebrachten Begriff zu verwenden, der moralische Beurteilung nicht

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ausschließt — setzt von Gewalt begleitete Akkulturationsprozesse in Gang. Diese werden nach der politischen Emanzipation der kolonialen Gesellschaften nun als Entwicklungspolitik fortgesetzt. Auch Entwicklungspolitik, die sich ja stets an fremden Vorbildern orientiert, bedeutet Kulturvermittlung, verbunden mit verfeinerten Formen der Fremdherrschaft. Vielleicht bedurfte es des Schimpfwortes "Kolonialismus", um damit "gewisse schon vergangene oder im Absterben befindliche Formen der Gewalt und der Fremdherrschaft zu verurteilen und zugleich andere, neuere und lebenskräftigere sorgfaltig von der Verurteilung auszuschließen" (Lüthy 1967, 193). Aus kolonialer Abhängigkeit entlassene Gesellschaften können und wollen auf fremde Kultur nicht verzichten. Die Probleme ihrer Gegenwart erklären sich aus langfristigen, nicht abgeschlossenen Akkulturationsprozessen.

2. Triebkräfte und Voraussetzungen frühneuzeitlicher Kolonialexpansion Als Kolumbus am 12. Oktober 1492 zum ersten Mal amerikanischen Boden betrat (Guanahani, heute Watling Island), wähnte er sich seinem Ziel nahe, den Seeweg nach Indien in westlicher Fahrt zu finden und glaubte, auf einer der zahllosen Inseln gelandet zu sein, "die man auf Weltkarten immer am Ende des Orients eingetragen findet" (Madariaga 1966, 269). Sein in der Fehlberechnung des Erdumfangs begründeter Irrtum lebte in der offiziellen Bezeichnung des spanischen Amerika als "Las Indias" fort. Ahnte Kolumbus schließlich nach wiederholten Fahrten die Existenz eines bisher unbekannten Kontinents, so blieb es doch Amerigo Vespucci vorbehalten, Europa über die "Neue Welt" zu berichten. "America" nannte deshalb der Kartograph Martin Waldseemüller (1S07) den vierten Kontinent. Die Entdeckung Amerikas gilt gemeinhin als eines der Ereignisse, welche den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit markieren. Doch war die Durchbrechung des geschlossenen mittelalterlichen Lebenskreises Europas 1492 bereits in vollem Gange. Welche besonderen Eigenschaften aber bestimmten gerade Europa, seine Herrschaft über die Erde auszudehnen? War doch das kulturell hochstehende China — ebenso bevölkerungsreich wie Europa — um 1400 europäischen Seefahrern in der Navigationstechnik voraus und unterhielt bereits direkte Handelsbeziehungen von Sansibar bis Kamtschatka. Aus dem Vergleich Chinas mit Europa leiteten französische Historiker eine "Volk-ohne-Raum-Mentalität" ab. Der statistische Europäer verfügte über eine das 25fache seiner eigenen Körperkraft betragende Energiemenge, deren Produktion ausgedehnte Flächen erforderte (Wald- und Weideflächen, Holz und Arbeitstiere), der Chinese nur über die fünffache Menge. Chinesischer Reisanbau erbrachte im Vergleich zu europäischem Getreideanbau auf gleicher Flächeneinheit ein Mehrfaches des Kalorienertrags. Mehr als Chinesen nährten sich Europäer von tierischem Eiweiß (Weideflächen). Dem großen China fehlte es an Menschen, Europäer "verschwendeten" knapp bemessenen Raum (vgl. Chaunu 1969, 336ff.).

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Auch die Suche nach weniger weitgespannten und deshalb problematischen Erklärungen verweist auf wirtschaftliche Zusammenhänge. Auszugehen ist von der "kommerziellen Revolution des Mittelalters". Bevölkerungswachstum, Intensivierung der Landwirtschaft und aufblühendes Städtewesen ließen neue Märkte entstehen. Handel und Gewerbe entwickelten neue Techniken und Organisationsformen. Italien ging dieser Entwicklung voran. Schon im 11. Jahrhundert machten italienische Städte Byzantinern und Syrern den Orienthandel streitig. 1291 wollten die genuesischen Gebrüder Vivaldi Indien — das Herkunftsland begehrter Luxuswaren — auf dem Weg über Gibraltar um Afrika herum erreichen. Die Suche nach der verschollenen Expedition der Vivaldis führte zur Wiederentdeckung der im Altertum schon bekannten Kanarischen Inseln (1312). Der Atlantik öffnete sich. Erfolgreich war die Anknüpfung von Seehandelsbeziehungen zwischen dem Mittelmeerraum und Nordeuropa, in die sich Portugal und Kastilien, von der Lage begünstigt, einschalteten. Beide Staaten hatten im 12. und 13. Jahrhundert neben der nach dem Mittelmeer ausgerichteten Handelsmacht Katalonien eine bedeutende Flotte aufgebaut. Dies sowie das Auftauchen des Sudangoldes, das über die Märkte des Maghreb und die Iberische Halbinsel nach Europa floß, und schließlich der Einfluß italienischer Unternehmerkräfte ließen im Westen des Mittelmeeres eine Drehscheibe des Handels entstehen. Im 14. Jahrhundert gelang es Kastilien, die arabische Vorherrschaft zur See im westlichen Mittelmeer zu brechen. Madeira und die Azoren wurden entdeckt. 1341 versuchte Portugal, die Kanarischen Inseln in Besitz zu nehmen. Doch die Pestkatastrophe von 1347/48 setzte dem Aufstieg der iberischen Staaten vorerst ein Ende. Wirtschaftskrise und soziale Spannungen in ihrem Gefolge entluden sich in Thronfolgeauseinandersetzungen. Die Schwäche des Königtums der Trastamara (1369-1474), Feudalanarchie und kriegerische Auseinandersetzungen lenkten Kastilien für über 100 Jahre von überseeischen Unternehmungen ab. In Portugal ging 1385 gegen den Widerstand des Adels die Thronfolge an die vom Stadtbürgertum unterstützte Dynastie der Avis über. Im Gegenzug unterstützten die Könige dieses Hauses wirtschaftliche Interessen des Bürgertums. Die Verbindung von Staatsgewalt und privatem Unternehmertum sollte von nun an den Fortgang der überseeischen Expansion vorantreiben. Unter Hinzuziehung von Privatunternehmern finanzierte und organisierte Prinz Heinrich der Seefahrer (1394-1460), dem 1443 das Monopol des Afrikahandels übertragen wurde, Erkundungs- und Handelsfahrten entlang der afrikanischen Küste. Neben der Suche nach direktem Zugang zum Gold Afrikas trat nun Indien als Ziel ins Blickfeld Portugals. Den Beinamen "der Seefahrer" erhielt Prinz Heinrich, obwohl er nie an einer Entdeckungsfahrt teilgenommen hatte, weil er die navigationstechnischen und kartographischen Kenntnisse seiner Zeit systematisch sammelte und über die von ihm gegründete nautische Akademie von Sagres, der ersten Europas, der Praxis zugänglich machte.

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Die Entwicklung hochseetüchtiger Segelschiffe zählte, da die Galeere nur für mittelmeerische Verhältnisse geeignet war, zu den wichtigsten technischen Voraussetzungen überseeischer Expansion. Den Grundtyp lieferte die im 12. Jahrhundert auftauchende Kogge, aus der Fortentwicklungen wie die Karacke (ein Lastensegler) und die aufwendige Karavelle hervorgingen. Im 13. bzw. 15. Jahrhundert übernahm die Seefahrt den Kompaß und in der Astronomie verwendete Instrumente zur Gestirnsbestimmung. Im Mittelmeerraum gebräuchliche Portulane (Küstenverlaufskarten) wurden weiterentwickelt. Die Praxis — nicht die Wiederentdeckung der Kenntnisse antiker Autoren — lieferte die technischen und wissenschaftlichen Voraussetzungen überseeischer Expansion. Als das Wissen der Antike (z.B. Kugelgestalt der Erde) Einfluß auf die Planung von Entdeckungsfahrten gewann, war die europäische Kolonialexpansion bereits eingeleitet. Sie folgte vornehmlich wirtschaftlichen Triebkräften. Immer wieder zu lesende Hinweise auf Kreuzzugsgedanken und Missionsauftrag entbehren der Grundlage.

3. Die Gründung des spanischen Kolonialreiches Die Heirat der Thronfolger Kastiliens und Aragons (1469), Ferdinand und Isabella, kündete den Aufstieg einer iberischen Großmacht an, der die Rolle einer Weltmacht zufallen sollte. Vertraglich vereinbarten die beiden Monarchen 1474 die Regierung ihrer beiden, eine Vielzahl von reinos (Königreichen), Fürstentümern und Herrschaften vereinenden Reiche in Personalunion. Während des Kastilischen Erbfolgekrieges wurden die Ansprüche Portugals auf den Thron Isabellas (1474-79) abgewehrt. Bis 1512 (Anschluß Navarras) konnte die Iberische Halbinsel, mit der Ausnahme Portugals, unter den Kronen Aragons und Kastiliens bei Aufrechterhaltung rechtlicher und administrativer Eigenständigkeiten geeint werden. Die hierfür schon im 16. Jahrhundert verbreitete Bezeichnung "Spanien" vermittelt zwar die Vorstellung eines Einheitsstaates, den zu vollenden erst Philipp V. (1700-46) gelang, beschreibt tatsächlich aber nur einen dynastisch geeinten Reichsverband. In der jüngsten Umstrukturierung des spanischen Staates lebt diese historische Tradition wieder auf. Im Friedensvertrag von Alcäfovas mußte Kastilien 1479 die Länder und Gewässer südlich von Kap Bojador an der westafrikanischen Küste als ausschließlich portugiesisches Einflußgebiet anerkennen. Damit war Kastilien der Weg um Afrika herum nach Indien versperrt. Die Kanarischen Inseln aber — das zukünftige "Sprungbrett" nach Amerika — wurden Kastilien zugesprochen. Energisch trieben Ferdinand und Isabella die Stärkung der monarchischen Staatsgewalt gegenüber Ständen und Partikulargewalten voran. Dem Papsttum rangen sie umfassende Rechte über die Kirche ab (Patronatsrecht, Entwicklung zum Staatskirchentum). Religionspolitik wurde zum Instrument der Innenpolitik. Wiedereinführung der Inquisition (Gesinnungskontrolle), Missionskampagnen unter Juden und Mauren (Bekehrung oder Auswanderung) sowie die Förderung innerkirchlicher Reformbewegungen verfolgten das Ziel, der frühabsolutistischen Staatsmacht in Kirche und einheitlichem Glauben eine ideologische Stütze

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zu schaffen. Mit Blick auf zukünftige Entwicklungen in Europa war dies eine durchaus moderne Politik. Mit der Einnahme Granadas am 2. Januar 1492, des letzten maurischen Reiches auf iberischem Boden, fand die Rekonquista ihren Abschluß — ein Verdienst, für das Papst Alexander VI. 1494 Ferdinand und Isabella den Ehrentitel "Katholische Könige" verlieh. Nun konnten sie ihre Aufmerksamkeit überseeischen Unternehmungen zuwenden. Finanzkreise um König Ferdinand drängten, den Plan des Kolumbus aufzugreifen, welcher die unsichere Aussicht bot, dem portugiesischen Rivalen in Indien auf dem Westwege zuvorzukommen. Portugiesischem Vorbild folgend, sah der am 17.4.1492 zwischen den Königen und Kolumbus geschlossene Vertrag von Santa Fe die Gründung einer Handelsniederlassung in den zu entdeckenden Gebieten vor, von der aus im Monopolbetrieb der Vertragspartner Handel mit der einheimischen Bevölkerung getrieben werden sollte. Als Entdecker war Kolumbus erfolgreich, die Handelsfaktorei auf Hispaniola (Haiti) aber erwies sich als Mißerfolg. Investitionen, Gehälter der Angestellten und Warenlieferungen verursachten Kosten, denen vergleichsweise geringe Einnahmen gegenüberstanden. Bald verebbte der im Tauschhandel erzielte Gewinn an Gold. Die Förderung des begehrten Metalls in eigener Regie hätte neue Investitionen erfordert. Kolumbus' Vorschlag, die negative Bilanz durch Lieferung von Indianersklaven zu begleichen, lehnten die Monarchen aus rechtlichen und vor allem aus politischen Erwägungen ab. Einseitig gaben sie die mit Kolumbus vereinbarten Ausschließlichkeitsrechte preis und erlaubten seit 1495 Untertanen, die keinen Sold verlangten, die Ausreise nach den Indias. Unternehmerinitiative und privates Gewinnstreben, welches in Amerika dann häufig zur Goldgier entartete, sollten die Antriebskräfte zur Erschließung der entdeckten und noch zu entdeckenden Gebiete werden. Damit war der Übergang zur Siedlungskolonisation vollzogen. Gleichzeitig begann man bei Hofe, die Länder jenseits des Meeres "als eine Ausdehnung des Herrschaftsraumes der Könige, als eine Erwerbung neuer Reiche zu sehen, die Glanz und Größe der Monarchie erhöhten" (Konetzke 1963, 21). Fortan schlössen die Katholischen Könige und der Erbe ihrer Reiche, König Karl I. (1516-56; 1519 Kaiser Karl V.) mit Entdeckungsunternehmern Verträge, welche Richtlinien für die friedliche und nötigenfalls gewaltsame Unterwerfung der Eingeborenen, für Anlage und Organisation von befestigten Plätzen und Städten erhielten, Privilegien an die Entdecker und Eroberer vergaben. Rechte des Staates sicherten und Verfügungen über die Verteilung der Gewinne trafen. Mit Einsatz der durch den Staat kontrollierten Privatinitiative und der Verheißung sozialen Aufstiegs durch Gewinn wurde das spanisch-amerikanische Kolonialreich innerhalb eines halben Jahrhunderts in seinen annähernd endgültigen Umrissen geschaffen. Die kleinen Scharen von Konquistadoren vollbrachten bei ihren Zügen durch den geographisch und klimatisch vielgestaltigen Kontinent und bei Kämpfen mit Einheimischen unvorstellbare Leistungen an Körper- und Willenskraft. In

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Amerika bis dahin nicht gehörter Kanonendonner, das Erscheinen hier unbekannter Pferde, gezielte Demonstrationen von Härte und Grausamkeit versetzten die Indianer in Schrecken. Überlegene Waffentechnik, Strategie und Härte allein erklären aber nicht die schnellen Erfolge bei der Unterwerfung der Hochkulturen Mittelamerikas und des Andenraumes. Hier verstanden es die Eroberer, innenpolitische Spannungen der Großreiche (Azteken- und Inkareich) zu nutzen und Rückhalt bei unterworfenen Völkern zu finden, als deren Befreier sie erscheinen konnten. Handstreichartig bemächtigten sich die Eroberer der Führung dieser straff organisierten Reiche, um an deren Stelle zu treten. Durch Versippung mit dem indianischen Hochadel, der dem niederen spanischen Adel offiziell gleichgestellt wurde, konnte diese Stellung sozial gefestigt werden. Einmal der Führung beraubt, erlahmte der Widerstand der Bevölkerung meist bald. Hernán Cortés kam der Glaube des Aztekenherrschers Moctezuma zu Hilfe, ein aus dem Osten zurückkehrender Weißer Gott werde ihn seiner Herrschaft entheben. Kampflos öffnete Moctezuma dem "Weißen Gott" und seiner kaum 400 Mann zählenden Schar die Tore der Hauptstadt Tenochtitlán. Dennoch besiegelte schließlich ein Blutbad das Ende des Aztekenreiches. Unbedachtes Vorgehen eines Unterführers machte die Erfolge Cortés* zunichte und löste den letzten Widerstand der Bevölkerung gegen die inzwischen des Mythos entkleideten "Weißen Götter" aus. Mehr Zeit erforderte die Unterwerfung meist kriegerischer und nomadisierender primitiver Stämme an der Nord- und Südgrenze des Kolonialreiches. Die Stammesgesellschaften waren nicht so leicht verletzbar wie hochorganisierte Kulturen. Bald beherrschten sie das Pferd, konnten in die Weite des Raumes zurückweichen und aus ihm heraus überfallartige Angriffe fuhren. Je größer der Grad des Kulturgefälles zwischen Europäern und Indianern war, um so langwieriger gestaltete sich die Integration der Indianer in die entstehende Kolonialgesellschaft. Die Stämme der Pampa zum Beispiel, die sich drei Jahrhunderte lang spanischer Herrschaft entzogen, wurden nach Unabhängigkeit Amerikas von argentinischen Militärexpeditionen systematisch ausgerottet. Unmittelbar nach Abschluß der Konquista erfolgte die Gründung von Städten. Sie wurden Urbanisationsvorstellungen der Zeit gemäß schachbrettartig angelegt. Die rechtliche Organisation entsprach kastilischem Vorbild. Hier ließen sich die mit Stadtbürgerrecht versehenen Gefolgsleute des Anführers der Konquista nieder. Diese Städte dienten der Konzentration der zahlenmäßig den Einheimischen unterlegenen Spanier, waren militärische Stützpunkte und sollten Ausgangszentren der in Gang kommenden Kolonisation werden. Die Indianer des Umlandes wurden Teilnehmern der Konquista in encomienda übergeben. Mit dieser Institution erhielt der encomendero Anspruch auf der Krone geschuldete Tributleistungen in Form von Naturalabgaben und Arbeitsleistung. Dafür verpflichtete er sich, die Indianer zu christianisieren und zu schützen sowie militärisch einsatzbereit zu sein. Der Urbane Charakter spanischer und auch portugiesischer Kolonisation hat die Siedlungsstruktur Lateinamerikas bis in die Gegenwart nachhaltig geprägt.

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Die an feudale Traditionen des Mittelalters anknüpfende Institution der encomienda war zur wirtschaftlichen Sicherung der ersten Siedler erforderlich, erwies sich aber als politischer Mißgriff, da der mit ihr verbundene Auftrag zur Unterweisung der Indianer in spanischen Lebensformen dem Streben nach Gewinn zum Opfer fiel. Dies sowie das dem Anführer der Konquista zustehende und dem gewählten Stadtregiment übergeordnete erbliche Amt des adelantado (militärische, jurisdiktioneile und administrative Aufgaben) förderte die im Mutterland bekämpften Feudalisierungstendenzen. Noch während der Konquista steuerte die Krone dieser Entwicklung entgegen. Sie bediente sich hierbei des Ausbaus der staatlichen Verwaltung, der Kirche und insbesondere der Missionsorden. So wurden mit der Gründung der audiencias (kollegiale Behörden mit Justizund Regierungsaufgaben) von Santo Domingo (1511) und Mexiko (1527) der Machtvollkommenheit des Diego Kolumbus, der als Erbe in die Rechte des Entdeckers getreten war, und des Hernán Cortés, des Eroberers von Mexiko, Schranken gesetzt. Insgesamt wurden bis 1563 neun audiencia-Bezirke eingerichtet. Daneben trat, in den Befugnissen konkurrierend, das Amt des Vizekönigs. Dieser sollte die Regierungsgeschäfte führen und "das monarchische Herrschaftsprinzip auch äußerlich verkörpern" (Pietschmann 1980, 48). Es entstanden zunächst zwei Vizekönigreiche: Neu-Spanien (1536) und Peru (1543); aus letzterem gingen zwei weitere hervor: Neu-Granada (1739) und Rio de la Plata (1776). Diese Vizekönigreiche wurden in Generalkapitanate und Gouvernements unterteilt. Der Vizekönig war zugleich Präsident der an seinem Amtssitz ansässigen audiencia sowie Generalkapitän und Gouverneur der dem Regierungssitz zugehörigen Provinz. Die übrigen Generalkapitanate und Gouvernements aber unterstanden seiner Weisungsbefugnis nur in besonderen Fällen und waren, wie er selbst, dem Indienrat als oberstem politischen und administrativen Organ unterstellt, der 1524 aus dem Königlichen Rat hervorgegangen war. Die Verwaltung der spanischen und indianischen Gemeinden lag in den Händen gewählter, der Kontrolle der Behörden unterstellter Stadträte. Zunächst persönlicher Besitz der Katholischen Könige, wurden die Indias staatsrechtlich den unter der Krone Kastiliens vereinten reinos zugeordnet. Folglich galt für sie kastilisches Recht, aus dem sich ein den besonderen Bedingungen entsprechendes "amerikanisches Recht" (derecho indiano) entwickelte. Aragon war dem Mittelmeer, Kastilien dem Atlantik zugewandt, so daß von hier im wesentlichen die Konquista ausging. Ausschlaggebend dürfte aber für diese Zuordnung gewesen sein, daß die frühabsolutistische Staatsmacht in Kastilien weiter ausgebildet war als in Aragon und somit die Indias in die fortgeschrittenere Entwicklung miteinbezogen wurden. Die aus der staatsrechtlichen Konstruktion abzuleitende Ebenbürtigkeit der amerikanischen reinos mit den kastilischen gab hispanoamerikanischen Historikern Anlaß zu der These: "Die Indias waren keine Kolonien". 1958 wurde sie auf die Tagesordnung des 33. Amerikanistenkongresses gesetzt. Marxistische Historiker sahen hierin "allgemein-imperialistische Tendenzen zur Verfälschung

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der historischen Wahrheit" (Kossok/Markov 1961, 1). Im Hintergrund stand die Verdammung des Kolonialismus, mit der eine Wurzel lateinamerikanischen Selbstverständnisses — das iberische Erbe — verurteilt zu werden drohte. Die ausschließlich staatsrechtliche Betrachtung dieser Frage zeigt einen Aspekt historischer Wahrheit. Doch waren die Indias nicht historisch gewachsene, sondern durch Kolonisation erschlossene Bestandteile des Staatsverbandes und müssen allein schon deshalb ungeachtet staatsrechtlicher Konstruktionen als Kolonien bezeichnet werden.

4. Die "Schwarze Legende" vom Völkermord "Was hier zur Verhandlung steht, das ist ein Völkermord, begangen an zwanzig Millionen Menschen", schrieb H. M. Enzensberger als Herausgeber der 1542 verfaßten, aufsehenerregenden Schrift: Kurzgefaßter Bericht von der Verwüstung der Westindischen Länder (1966). Ihrem Verfasser, dem spanischen Dominikaner Bartolome de Las Casas (1474-1566), gebührt der Ruhm unermüdlichen Einsatzes für eine gerechte und menschenwürdige Behandlung der Indianer. Doch gerade diese Schrift, die mit maßlosen Übertreibungen an den Gerechtigkeitssinn Kaiser Karls V. appellieren sollte, beeinträchtigte seinen Ruf. Zunächst nicht zur Veröffentlichung bestimmt, erschien sie doch bald in verschiedenen Sprachen und bildete die Grundlage für jene "Schwarze Legende" (leyenda negra), die die spanische Kolonialgeschichte als eine Abfolge von Greueltaten erscheinen ließ. Den Rivalen Spaniens war sie willkommen; bis in die Gegenwart lebt sie fort und verleitete H. M. Enzensberger, die Moral der Kolonialgeschichte "kurzzufassen". Obwohl der zweifelnde Historiker nach H. M. Enzensberger Gefahr läuft, sich in den Skandal des Völkermordes zu verstricken (Enzensberger 1966, 148), haben vor allem nordamerikanische Historiker sich eingehend mit der indianischen Bevölkerungsentwicklung befaßt. Ihre Schätzungen der Bevölkerungszahl Amerikas zum Zeitpunkt der Entdeckung weisen beträchtliche Unterschiede auf; Klarheit besteht indessen über die Gründe des rasanten Rückgangs nach 1492. Eingeschleppte Seuchen und Krankheiten wirkten sich katastrophal aus. Schon Zeitgenossen beobachteten einen psychologisch bedingten Rückgang der Geburtenrate infolge des Zusammenbruchs der indianischen Sozialordnung. Rassenmischung führte weiterhin zur Abnahme. An letzter Stelle und neben den vorgenannten Ursachen zahlenmäßig wenig bedeutend sind kriegerische Auseinandersetzungen, Gewaltanwendung und brutale Ausbeutung der Arbeitskraft zu nennen. Die Indianer der Karibischen Inseln starben innerhalb weniger Jahrzehnte aus. Um die Mitte des 17. Jahrhunderts kam der allgemeine Bevölkerungsrückgang zum Stillstand. Von da an bis zum 18. Jahrhundert verdoppelte sich die Einwohnerzahl des spanischen Kolonialreiches von zehn auf zwanzig Millionen. Völkermord ist ein klar definierter Tatbestand, der hier keine Anwendung finden kann. Ob der Vorwurf des Völkermords das Bewußtsein für

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das Zustandekommen von Gewalt in Geschichte und Gegenwart schärft, bliebe zu erörtern.

5. Indianermission und Entwicklungspolitik Von Anbeginn waren die Katholischen Könige auf Schutz und Erhalt der indianischen Bevölkerung bedacht, denn Spanien war kein Auswanderungsland, hatte keinen Bevölkerungsüberschuß aufzuweisen, und spanische Herrschaft in den Indias konnte folglich nur auf indianischen Untertanen gründen. Diese Einsicht wurde auf die schlichte Formel "ohne Indios gibt es keine Indias" gebracht. Die staatliche Integration der Indianer und die Schaffung eines homogenen Untertanenverbandes sollte durch Christianisierung, d.h. durch Vermittlung eines umfassenden christlich-spanischen Kulturkonzepts erlangt werden. Die neuen Untertanen sollten lernen, "wie Bauern Kastiliens zu leben" — also umerzogen werden. Zweifel an der Entwicklungsfähigkeit der Indianer bestanden zunächst nicht. Ein Blick in die eigene Geschichte lehrte Europäern die Entwicklung von der niederen zur höheren Kulturstufe; so mußte auch die Diskrepanz zwischen indianischer Kultur und europäischer als überwindbar gelten. Umstritten aber waren die Methoden. Konquistadoren und Kolonisten plädierten für Integration durch gewaltsame Unterwerfung und beanspruchten die Verfügungsgewalt über die Unterworfenen mit folgendem Argument: Der "lasterhafte Wilde" sei wegen seiner physischen, moralischen und intellektuellen Schwäche zur Annahme sozialer und wirtschaftlicher Lebensformen nach spanischem Vorbild in Freiheit nicht fähig. Dem hielt die insbesondere durch Missionare vertretene pro-indigenistische Richtung entgegen: Die Kolonisten trügen zur Vernichtung der indianischen Bevölkerung bei. Ihr schlechtes Vorbild hindere den "guten Wilden", zivilisierte Lebensformen anzunehmen. Deshalb verlangte diese Richtung, die Indianer in den rechtlichen Stand freier Vasallen unter dem Schutz der Krone zu versetzen. Die Integration sollte mit Hilfe schrittweiser Vermittlung spanischer Lebensweise herbeigeführt werden. Gezielt übertrug die Krone fortan Mitgliedern der reformierten Bettelorden sowie seit 1565 den Jesuiten die Aufgabe der Missionierung. Diese Orden (Dominikaner, Franziskaner u.a.), die im 13. Jahrhundert als Antwort auf neue Formen wirtschaftlichen und sozialen Lebens in den Städten entstanden, waren, anders als die kontemplativen Orden, nicht an Feudalsystem und Agrarstruktur gebunden, daher beweglich und zudem durch Ordensregeln zur Mission verpflichtet. Energisch hatten die Katholischen Könige die Rückbesinnung dieser Orden auf ihre ursprünglichen Prinzipien (Bettelarmut) gefördert. Da sie sich, zur kollektiven Armut verpflichtet, allein an religiösen Belangen orientierten und sich von wirtschaftlichen und damit einhergehenden politischen Interessen distanzierten, konnten sie als Gegengewicht zu feudalen Bestrebungen der Encomenderos eingesetzt werden. Anklagend fragte der Dominikaner Antonio de Montesino während einer Adventspredigt (1511) die spanischen Siedler Hispaniolas: "Sind die Indianer keine Menschen? Haben sie keine vernünftigen

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Seelen?" Unmittelbare Folge der hiermit einsetzenden Debatte, in der sich später Las Casas hervortun sollte, waren die Gesetze von Burgos. Der Rechtsbenachteiligung der Indianer, welche aus ihrer zivilisatorischen Unterlegenheit resultierte, wurde mit Schutzgesetzen begegnet. Die Erörterung der aufgeworfenen Fragen löste eine Flut völkerrechtlichen Schrifttums aus. Die aufgezeigten Grundpositionen bildeten sich bereits wenige Jahre nach Inbesitznahme der Karibischen Inseln, des "Laboratoriums" spanischer Kolonialherrschaft, heraus. Nach der Begegnung mit der allseits bewunderten Kultur der Völker Mexikos wurde das ursprüngliche Ziel, Indianer primitiven Kulturstandes zu Bauern Kastiliens umzuerziehen, modifiziert. Hier sollte spanische Herrschaft auf der vorgefundenen Kultur aufbauen. Die Missionierung Mexikos wurde vor allem Franziskanern übertragen. In Fehleinschätzung der sozialen Realität schienen ihnen die Indianer Mexikos geradezu vorbestimmt für die Verwirklichung einer Lebensgemeinschaft nach dem Vorbild des Urchristentums und zeitgenössischer Utopien. Was die Franziskaner als auf natürliche Weise vorhandene christliche Tugenden sahen (Armut, Demut, Gehorsam, Friedfertigkeit und Geduld der Indianer), waren Merkmale der Gesellschaft einer straff organisierten Theokratie und gewiß auch Ausdruck der Agonie nach dem Zusammenbruch dieses Gesellschaftssystems. Große Beachtung verdient die auf aztekischen Erziehungseinrichtungen aufbauende Bildungsarbeit der Franziskaner, um die sich neben anderen Peter von Gent, ein Verwandter Karls V., verdient machte. Der Bewunderung franziskanischer Chronisten für die vorgefundene Kultur verdanken wir unsere Kenntnis der vorspanischen Geschichte Mexikos. Die Alphabetisierung der führenden Schichten machte schnelle Fortschritte; bereits 1528 verfaßte ein Indianer in lateinischer Schrift einen Bericht über die Konquista: Augenzeugenbericht eines Unterlegenen. Dies zeigt, daß materielle Aspekte europäischer Kultur schnell übernommen wurden. Aber das Scheitern des franziskanischen Vorhabens, einen indianischen Klerus heranzubilden, lehrte, daß die Vermittlung einer in Europa tief verwurzelten geistigen Kultur unabsehbare Zeit erfordern würde. Missionarischer Eifer glaubte auf der Grundlage einer bewunderten Kultur, in der es nur "Verirrungen" wie Idolatrie und Menschenopfer zu beseitigen galt, eine ideale Gesellschaft verwirklichen zu können. Die Einsicht in die Realität zerstörte diesen Traum. Solche Erfahrungen schlugen sich auch in der staatlichen Gesetzgebung nieder. Statt der anfangs erstrebten Umerziehung der Indianer und ihrer Integration in einen homogenen Untertanenverband schuf sie mit Rassentrennungs- und Schutzgesetzen, welche den Indianern den rechtlichen Status Minderjähriger zuwiesen, eine duale Gesellschaft. Die "Neuen Gesetze" des Jahres 1S42 sahen eine drastische Einschränkung des encomienda-Systems vor. Doch zwang der Widerstand der encomenderos Karl V. zu erneuten Zugeständnissen. Die in der Gesetzgebung zum Ausdruck kommende Konzeption zweier getrennter Gesellschaften fand ihre vollkommenste Verwirklichung in den von Las Casas vorgeschlagenen Missionsreservaten. Zunächst als Übergangsein-

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richtung gedacht, die ermöglichen sollte — unter Ausschluß spanischer Siedler, allein mit Hilfe missionarischer Überzeugungskraft —, Indianer an spanische Lebensweise heranzuführen, wurden sie zu Institutionen auf Dauer. Las Casas selbst konnte ein solches Projekt mit staatlicher Genehmigung in Guatemala ins Leben rufen. Am erfolgreichsten war der sogenannte "Jesuitenstaat" von Paraguay, dem immer noch als Entwicklungsmodell große Beachtung geschenkt wird. Ausgehend von der gesetzlich vorgeschriebenen Kombination spanischer und indianischer Lebensformen (u.a. spanische Kommunal Verwaltung, indianische Form des Kollektivbesitzes) schufen die Jesuiten unter den Hackbau betreibenden, halbnomadisierenden Guarani-Indianern ein wirtschaftlich blühendes Gemeinwesen. Um 1750 lebten in diesem "Jesuitenstaat" 100.000 Indianer. Aber auch noch nach ISO Jahren jesuitischer Missionsarbeit waren sie auf die alles regelnde, patriarchalische Leitung der Patres angewiesen. Ein bewaffneter Konflikt zwischen diesem Gemeinwesen und der Staatsmacht (1754-56), ausgelöst durch eine Grenzregelung zwischen dem benachbarten Brasilien und dem spanischem Gebiet, trug wesentlich zur Vertreibung der Jesuiten aus allen portugiesischen und spanischen Besitzungen (1759 bzw. 1767) sowie zur Auflösung des Ordens (1773) bei. Aufgeklärte Reformpolitik der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stellte die bisherige Rassentrennungspolitik zunehmend in Frage. Im Zeichen der Gleichheit hoben die unabhängigen hispanoamerikanischen Staaten im 19. Jahrhundert die von der Kolonialmacht Spanien erlassenen Indianerschutzgesetze auf. Damit wurde die indianische Bevölkerung erhöhtem sozialen und wirtschaftlichen Druck ausgesetzt.

6. Wirtschaft und Gesellschaft Zum Ende der Regierungszeit Karls V. (1556) war das hispanoamerikanische Kolonialreich in seinen Grundzügen ausgeformt. Mit dem Ausbau der Verwaltung und unterstützt von den Missionsorden war es der monarchischen Staatsgewalt gelungen, den im Machtvakuum der Konquista-Zeit sich entfaltenden Ambitionen der Eroberer und ersten Kolonisten Schranken zu setzen. Philipp II. (1556-98) versuchte die Ungleichgewichte in der bisherigen Entwicklung auszugleichen. Hierzu zählte der Ausbau der Amtskirche. Damit wurden dem Ordensklerus, dessen Forderungen politisch unrealistische Züge angenommen hatten, Zügel angelegt. Gerüchten zufolge soll Karl V., von Las Casas beeindruckt, erwogen haben, den Inka-Herrschern ihr Reich zurückzuerstatten (vgl. Konetzke 1965, 40). Das Bekanntwerden der "Neuen Gesetze" von 1542 löste in Peru eine Rebellion unter Führung Gonzalo Pizarros aus. Dies zeigte, daß eine weitergehende Durchsetzung lascasianischer Forderungen Kolonialanarchie zur unbeabsichtigten Folge haben würde. Die Indianerpolitik der Krone — enge Verbindung von Kirche und Staat sowie der Rückhalt der Kirche insbesondere bei niederen Bevölkerungsschichten — erklärt, daß die spanische Herrschaft in Amerika ohne wesentliche militärische Mittel gesichert werden

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konnte. Als der Kampf um die staatliche Unabhängigkeit ausbrach, stand die indianische Bevölkerung vielerorts ablehnend beiseite. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts war das anziehende Gold mit Raub, Plünderung oder Tauschhandel nicht mehr zu erwerben. Auch bergbaulich erschlossene Vorkommen versiegten, an die Stelle ungehemmter Ausbeutung indianischer Arbeitskraft trat ein System staatlich kontrollierter, zeitlich begrenzter Zwangsarbeit. Die hiermit und durch den Rückgang der indianischen Bevölkerung eintretende Verknappung von Arbeitskräften gab der Einfuhr von Negersklaven Auftrieb. All diese Faktoren sowie der Druck nachrückender Einwanderer zwangen zur Intensivierung wirtschaftlicher Aktivitäten. In Hochperu (Bolivien) und Mexiko kam der Silberbergbau in Gang. Er belebte die Nachfrage nach europäischen Fertigwaren und die regionale landwirtschaftliche Produktion. Es entstanden die für Lateinamerika typischen agrarischen Großbetriebe, Hacienda und Plantage. Ausgedehnter Landbesitz, extensive Bewirtschaftung, geringe Produktivität und Binnenmarktorientiemng kennzeichnen die Hacienda. Die kapitalintensive und meist mit Sklaven bewirtschaftete Plantage dagegen war exportorientiert (Zucker, Kakao, Tabak, Baumwolle, Farbstoffe). Die hispanoamerikanische Wirtschaft war in das spanische Monopolhandelssystem eingebunden, welches bis zum Ende der Kolonialzeit beibehalten, in der Praxis aber in zunehmendem Maße durchlöchert wurde. Dieses Monopolhandelssystem war keine Erfindung Portugals und Spaniens. Ein englischer Historiker sah im "städtischen Kolonialismus des Mittelalters" (eine fragwürdige Formulierung; Dobb 1970, 106) das Vorbild merkantilistischer Kolonialpolitik neuzeitlicher Staaten. Als Beispiel und Beleg führte er die Hansestädte an, welche versuchten, "die Binnenstädte von jeder direkten Verbindung mit der Ostsee abzuschneiden und allen anderen Städten den Zutritt zu den Inlandsmärkten zu verwehren". Diese Politik verfolgten auch aufstrebende Staaten frühneuzeitlicher Prägung, als sie sich zunehmend der Gestaltung des wirtschaftlichen Lebens zuwandten, um die Wirtschaftskraft ihrer Territorien in den Dienst fürstlicher Machtpolitik zu stellen. Ob indessen Spanien eine merkantilistische Kolonialpolitik verfocht, welche den Kolonien die Rolle von Rohstofflieferanten und Abnehmern von Fertigwaren zuwies, ist umstritten. Allein schon die gesamtpolitische Konzeption, die Indias nach europäischem Vorbild zu entwikkeln, spricht gegen eine merkantilistische Kolonialkonzeption. Spanische Nutzpflanzen (Olivenbaum, Weinrebe) wurden in den Kolonien heimisch gemacht, und frühzeitig entstand ein verarbeitendes Gewerbe, welches — der europäischen Konkurrenz unterlegen — freilich nur in Zeiten kriegsbedingter Unterbrechung des Handels aufblühte. Sevilla, bereits Handelsmetropole und geographisch günstig gelegen, wurde zum Monopolhafen erhoben. Der 1503 gegründeten Casa de Contratación oblag als Monopolbehörde und nautischem Institut die Kontrolle des Amerikahandels. Für die Vorhäfen Sanlúcar und Cádiz sowie die Kanarischen Inseln, welche von allen nach Amerika gehenden Schiffen angelaufen wurden, galten

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Ausnahmeregelungen. Nachdem sich die Handelsfaktorei auf Hispaniola als unrentabel erwiesen hatte, wurden finanzkräftige Sevillaner Großkaufleute durch Privileg am Amerikahandel beteiligt. Der Krone wurden Einkünfte durch Steuern, das königliche Fünftel an allen eingehenden Edelmetallen sowie durch Abgaben für Lizenzen und Freifrachten gesichert. Jährlich sollten zwei Flotten nach den Indias auslaufen. Ziel der ersten Flotte waren die Karibischen Inseln und das mexikanische Veracruz, Ziel der zweiten Cartagena und der Isthmus von Panama, von wo aus der Weitertransport der Waren nach Lima erfolgte. Alle anderen Häfen waren vom direkten Warenverkehr mit Europa ausgeschlossen; selbst für den Rio de la Plata-Raum bestimmte Waren nahmen den umständlichen Weg über Lima und von dort aus über die Anden bis zum Bestimmungsort. Der Warenverkehr von den Indias nach Spanien hatte denselben Routen zu folgen. Dieses starre, aus Gründen der Kontrolle und Sicherheit erforderliche System trug nicht unwesentlich zur Verteuerung der Waren bei und begünstigte den Schmuggelhandel. Die soziale Entwicklung des Kolonialreiches lief der gesetzlich verankerten Konzeption einer dualen Gesellschaft entgegen. Aus zumeist unehelichen Beziehungen zwischen Europäern und Indianerinnen ging eine zahlreiche Mestizenbevölkerung hervor. Mestizinnen wurden von Spaniern als Ehepartnerinnen begehrt. Die Nachkommen dieser Ehen zeigten bei fortgesetzter Verbindung mit Weißen bereits in der dritten Generation wieder rein europäische Erscheinungsmerkmale. Männliche Mestizen dagegen fanden kaum spanische Partnerinnen. Auch zwischen Weißen und Negern sowie Indianern und Negern fand Rassenmischung statt (Mulatten, Zambos). Sie förderte den Prozeß der Akkulturation und erlangte damit soziale Bedeutung. Die Bezeichnungen der einzelnen Rassen, der Grundmischungstypen und der sich daraus ergebenden zahlreichen Varianten wurden zur Bezeichnung für die soziale Stellung. So wurde ein Indianer, der des Lesens und Schreibens mächtig war und sich in das europäische Wirtschaftsleben eingefügt hatte, gegen Ende der Kolonialzeit als Mestize bezeichnet. Ein Mestize konnte sozial "weiß" werden, aber auch zum "Indianer" absteigen. Wirtschaftlich erfolgreiche Einwanderer standen an der Spitze der kolonialen Gesellschaft. Als die Krone im 17. Jahrhundert aus Geldmangel hohe Verwaltungsämter in den Kolonien zu verkaufen begann, konnte diese Schicht vermehrt politischen Einfluß erlangen und zur kolonialen Oligarchie aufsteigen. Verständlicherweise wurde der Preis des Amtes im Hinblick auf bessere wirtschaftliche Gewinnaussichten gezahlt. Der Korruption wurde damit Vorschub geleistet. Freiwillige Zahlungen sicherten den Amtsinhabern bei Überprüfung ihrer Amtsführung Schutz vor Strafverfolgung — eine weitere Einnahmequelle des Staates. Die Zahlungen bewegten sich oft in beträchtlicher Höhe. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts wurde der Ämterkauf eingestellt. Wenn sich der Staat in einer Zeit politischer und wirtschaftlicher Schwäche zum Komplizen der Korruption machte, so lag darin auch das Eingeständnis, daß eine effektive Kontrolle der Kolonien in Anbetracht der Entfernung und Kommunikationsprobleme nicht möglich war. Dies schlug sich zunächst im

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derecho indiano nieder, das die scheinbar widersprüchliche Formel "ich gehorche, leiste aber nicht Folge" kannte. Sie sollte gewährleisten, daß von den Zentralbehörden im Mutterland erlassene Anordnungen als praxisfern zurückgewiesen werden konnten, ohne die gesetzgeberische Autorität der Krone in Frage zu stellen. Wie sehr sich Rechtspraxis und soziale Wirklichkeit unterschieden, zeigten immer wiederkehrende Klagen, daß selbst die besten Gesetze nur eine schwache Barriere gegen die Habgier derer darstellten, die mit ihrer Durchsetzung beauftragt waren. In den letzten Jahrzehnten spanischer Kolonialherrschaft zeichnete sich eine zunehmende Entfremdung zwischen in Amerika geborenen Spaniern (Kreolen) und Europaspaniem, zwischen Mutterland und Kolonien ab. Hierzu trugen die Eingriffe bourbonischer Reformpolitik in die koloniale Gesellschaft bei, welche ihre eigenen, "amerikanischen" Regeln entwickelt hatte, sowie das Bemühen um konsequente Durchsetzung einer merkantilistischen Kolonialpolitik. Die gebildete kreolische Mittelschicht sah ihre sozialen Aufstiegschancen durch Europaspanier versperrt, welche die führenden Ämter in Verwaltung, Kirche und Militär einnahmen. Aus ihr gingen die Träger der Unabhängigkeitsbewegung hervor.

7. Spanien kolonisierte — Europa profitierte Bereits die Nachricht vom Erfolg des Kolumbus führte zu Auseinandersetzungen zwischen europäischen Seemächten um das — noch nicht bestehende — spanische Kolonialreich. Würde man eine Linie von Kap Bojador nach Westen ziehen, so machte Portugal sofort mit Berufung auf den Vertrag von Alcä?ovas geltend, lägen die entdeckten Inseln im portugiesischen Interessengebiet. Früheren Beispielen folgend, wandten sich die Katholischen Könige an Papst Alexander VI., um sich mit verschiedenen Bullen alle Gebiete jenseits einer 100 kastilische Meilen westlich der Azoren und Kapverden verlaufenden Nord-SüdLinie als kastilische Einflußzone bestätigen zu lassen. Im Jahr darauf lösten Portugal und Kastilien im Vertrag von Tordesillas (7.6.1494) ihren Streit. Die außereuropäische Welt wurde nun durch einen um 270 kastilische Meilen nach Westen verschobenen Längengrad in eine portugiesische und eine kastilische Hälfte geteilt. Mit der neuen Trennungslinie war Portugal ein Teil des noch unbekannten südamerikanischen Halbkontinents zugefallen: Brasilien, das Pedro Alvarez Cabral sechs Jahre später entdecken sollte. 1529 wurde die Regelung von 1494 um die Molukkenlinie (Vertrag von Zaragoza) ergänzt. Noch war das Papsttum als gemeinsame höchste Autorität der christlichabendländischen Völkerfamilie anerkannt. Doch die päpstlich sanktionierte Weltteilung stieß auf Widerspruch der westeuropäischen Seemächte. Frankreichs König Franz I. (1515-47) soll seinen Widerspruch gegen die Bevorzugung der iberischen Mächte mit dem Verlangen, "man zeige mir Adams Testament", zum Ausdruck gebracht haben. Die Forderung nach freier Schifffahrt auf allen Weltmeeren wurde erhoben; überseeische Länder sollten freiem Eroberungsrecht oder dem Erwerb nach vorheriger Vereinbarung mit den Eingeborenen unterliegen. Holländische Rechtsgelehrte, vor allem Hugo Grotius

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(Mare liberum, 1609), trugen zur theoretischen Begründung dieser Grundsätze bei. Um innereuropäische Auseinandersetzungen und Friedensschlüsse nicht durch den Streit um kolonialen Besitz zusätzlich zu belasten, wurde zuerst in spanisch-französischen Friedensverträgen des 16. Jahrhunderts der Grundsatz entwickelt, daß jenseits einer "Freundschaftlinie" im Antiantik allein das Recht des Stärkeren gelte. Francis Drake, der in dieser vom europäischen Völkerrecht ausgenommenen Zone seinen Ruhm erlangte, wird die schlagwortartige Zusammenfassung dieses Prinzips zugeschrieben: "No peace beyond the line!" Doch erwies sich dieser den europäischen Frieden sichernde Grundsatz auf Dauer nicht als tragfähig und gehörte endgültig der Vergangenheit an, als mit dem Erlöschen der spanischen Linie der Habsburger Europa in den Krieg um die Thronfolge trat (1701-14). Für das 18. Jahrhundert galt die Beobachtung Friedrichs des Großen: "Man braucht einander nur wegen einiger Länder in Amerika beneiden, so ist gleich ganz Europa in Parteien zerspalten, um Seeund Landschlachten zu liefern" (Vorrede zu Histoire de mon temps, 1746). In den sehr kontrovers geführten Debatten spanischer Theologen und Juristen zur Frage der Rechtmäßigkeit überseeischer Landnahme wurde auch angeführt, das Völkerrecht lege eine Vereinigung aller Reiche zu einer internationalen Gemeinschaft nahe. Friede und Glück der Menschheit erforderten eine Universalmonarchie, Karl V. sei zum Universalherrscher berufen. Tatsächlich vereinte Karl V., dessen Wahl zum Kaiser gegen die Kandidatur Franz I. mit beträchtlichen, von Fuggern und Welsern bereitgestellten Geldsummen ermöglicht wurde, in seiner Hand die burgundische, habsburgische und spanische Macht — ein Reich, das an Universalität die aus dem Mittelalter stammenden Vorstellungen übertraf. Doch bekannte sich die Völkerrechtslehre der spanischen Spätscholastik zur einzelstaatlichen Souveränität, betonte den europäischen Charakter des Kaisertums, um festzustellen: "Den Antipoden konvenieren nicht unsere Industrie und politische Verfassung" (Konetzke 1965, 36). So konnte der Kaisertitel nicht zur Rechtfertigung spanischer Herrschaft in Amerika herangezogen werden, aber Spaniens Herrschaft in Amerika stellte eine bedeutende Stütze für die kaiserliche Politik Karls V. in Europa dar. Der einsetzende Strom der Edelmetalle verlieh ihm die zur Finanzierung dieser Politik notwendige Kreditwürdigkeit. "Ohne Amerika hätte Karls V. Kaisertum den Schmalkaldischen Krieg nicht überlebt" (Chaunu 1969, 460). Karls V. Universalpolitik und, unter Philipp II. (1556-98), Spaniens Rolle als Führungsmacht des katholischen gegenreformatorischen Europa ließen den Kronanteil am Reichtum Amerikas in Kriegen, Händen fürstlicher Subsidienempfanger und Börsen italienischer, deutscher, flämischer und spanischer Kreditgeber versickern. Mehrfach mußte Spanien in der Zeit Philipps II. Staatsbankrott erklären. Aber nicht nur Universal- und Hegemonialpolitik machten das reiche Spanien zum armen Land. Von Anbeginn verstand es die europäische Geschäftswelt, Lücken im spanischen Monopolhandelssystem zu finden. Gedeckt von

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spanischen Partnern beteiligten sich finanzkräftige, vor allem genuesische Bankiers am Amerikahandel. 1505 wurden diese Verbindungen mit einheimischen associés legalisiert. Karl V. opferte spanische Interessen übernationalen Gesichtspunkten. So wurde das Augsburger Bankhaus der Weiser durch Privileg spanischen Untertanen im Handel mit Amerika gleichgestellt (1525). Ein 1528 geschlossener Vertrag verpflichtete die Weiser, 4.000 Negersklaven in Amerika einzuführen. Im selben Jahr wurde ihnen die Eroberung und Kolonisation Venezuelas übertragen — ein Unternehmen, das zum wirtschaftlichen Mißerfolg geriet. Nach Auseinandersetzungen mit den staatlichen Behörden verzichteten die Welser 1556 auf alle Rechte. Um dieselbe Zeit zeichnete sich in Spanien eine restriktivere Politik gegenüber Ausländern ab. Doch konnte der Amerikahandel auf die Einfuhr von Waren außerspanischen Ursprungs nicht verzichten. Das spanische Gewerbe, vor allem die Textilindustrie, war um 1500 weit entwickelt. Aber verschiedene staatliche Maßnahmen, zur Förderung gedacht, hatten gegenteilige Folgen erzielt. Als die Kaufkraft der Kolonien mit dem Strom der Edelmetalle zunahm, erwies sich die spanische Produktion als ungenügend. Um 1570 wurden Klagen laut, daß wegen der Beteiligung Fremder am Amerikahandel kein Reichtum von Dauer im Lande bleibe. Zwar waren die Fremden 1505 gewährten Zugeständnisse inzwischen zurückgenommen worden, doch konnten weiterhin ausländische Kaufleute — gedeckt von spanischen Strohmännern — am Amerikahandel teilnehmen. Den Strohmännern brachte dieses Verfahren, ohne Investitionen und Risiko, bequemen Gewinn. Ob in dieser "Passivierung" des spanischen Sevillakaufmanns eine Eigenart spanischer Wirtschaftsmentalität beobachtet werden kann, ist umstritten. Eindeutig waren indessen die Folgen. Nach den Beobachtungen eines französichen Konsuls waren 1691 am spanischen Amerikahandel beteiligt: Franzosen (25 %), Genuesen (21 %), Holländer (19 %), Flamen und Engländer (je 11 %), Hamburger (7,6 %) und Spanier (3,8 %). Neben dem legalen, von der Forschung statistisch erfaßten Handel nahm der nicht erfaßbare Schmuggelhandel beträchtliche Ausmaße an. In Sevilla und Cádiz wurden Waren undeklariert verschifft, Silberschiffe wurden vor der Küste abgefangen, Sendungen entladen, um damit den Kronanteil zu hinterziehen; die Kanarischen Inseln entwickelten sich zum beliebten Umschlagplatz für Schmuggelgut. Der Negerhandel, der mit staatlichen Lizenzverträgen Unternehmern verschiedenster Herkunft (Spaniern, Genuesen, Deutschen, Portugiesen, Holländern, Franzosen und Engländern) überlassen und zunehmend als Objekt internationaler Politik in die Rivalität um den Markt SpanischAmerikas einbezogen wurde, bot eine weitere Gelegenheit, Waren illegal in das spanische Kolonialreich einzuführen. Piraten überfielen spanische Schiffe und versuchten, Waren an den amerikanischen Küsten abzusetzen. Im Auftrage der holländischen West-Indien-Kompagnie kaperte Piet Heyn 1628 die spanische Silberflotte, womit die Kompagnie 11 Millionen Gulden Gewinn verbuchen konnte. Zunehmend unkontrollierbarer wurde der Warenverkehr im karibischen

30 Raum, nachdem sich dort im 17. Jahrhundert europäische Seemächte festzusetzen begannen. Der Zufluß amerikanischer Edelmetalle wurde mit der europäischen "Preisrevolution" des 16. Jahrhunderts in Zusammenhang gebracht. Im Falle Spaniens sind inflationäre Auswirkungen unverkennbar, im gesamteuropäischen Zusammenhang jedoch noch zahlreiche offene Fragen zu diskutieren. Die Bedeutung der Edelmetalle für den Welthandel zeigt folgendes Beispiel: Mit der europäischen Expansion nach Amerika wanderte das Zuckerrohr vom Mittelmeer über die atlantischen Inseln in die Neue Welt. Zur Bewirtschaftung der Zuckerrohrplantagen wurden Negersklaven benötigt. Im Handel mit Negern erwarb Portugal das Silber, welches — da in Asien europäische Waren kaum Absatz fanden — zur Bezahlung asiatischer Produkte benötigt wurde. Auch Niederländer und Engländer lernten bald, dieses Dreiecksgeschäft zu beherrschen. Spanien, das mit dem Verlust der Armada (1588) als Seemacht an Bedeutung verlor und im 17. Jahrhundert eine Zeit politischen und wirtschaftlichen Niedergangs durchlebte, stellte lediglich die Geldquelle. Von welcher Bedeutung das spanische Kolonialreich selbst für das deutsche Gewerbe war, dem keine Seemacht zur Seite stand, zeigt die Feststellung, daß in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts "für die schlesischen Verleger, die auf Kosten von einhunderttausend Webern lebten, und für ihre hamburgischen Exporteure [ . . . ] die ständige Ausweitung des spanischen Kolonialmarktes zur ökonomischen Existenzfrage wurde" (Kossok 1961, 213). Die politische Herrschaft über die Indias konnte Spanien bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts sichern, aber das Kolonialreich war mittlerweile ein wirtschaftliches Kondominium der europäischen Seemächte geworden. Während der napoleonischen Kriege mußte Spanien vorübergehend neutralen Mächten das Recht zum Direkthandel mit den Kolonien zugestehen, um deren Versorgung sicherzustellen. Hieran beteiligten sich eifrig die jungen Vereinigten Staaten von Nordamerika. Auf den Wegen des indirekten Handels über Spanien, des Schmuggels und des Handels der Neutralen wurden Beziehungen geflochten, die Spanisch-Amerika nach der Unabhängigkeit neue Bindungen der Abhängigkeit auferlegten. Über der wirtschaftsbelebenden Kraft des Silbers ist nicht zu vergessen, daß Spanisch-Amerika Europa zahlreiche Produkte lieferte, die hier den Alltag belebten: Medizinalpflanzen (Chinarinde), Genußmittel (Tabak, Kakao), Früchte (Banane, Tomate, Kartoffel), Färbstoffe (Koschenille, Farbhölzer, Indigo) usw. Welche geistigen Impulse Europa aus Übersee erhielt, in welchem Maße die Begegnung mit der überseeischen Welt — nicht zuletzt durch die in Briefsammlungen verbreiteten Berichte von Missionaren — zur Erweiterung des europäischen Wissenshorizonts beitrug, kann hier nicht ausgeführt werden. Hingewiesen wurde bereits auf die von der Eroberung Amerikas ausgehende Belebung völkerrechtlicher Erörterungen. Die Menschen des Zeitalters der Renaissance sahen im Reich Karls V., "in dem die Sonne nicht unterging", bewunderte antike Größe übertroffen. So belegte auch die europäische Expansion nach

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Übersee, daß Geschichte nicht in Zyklen, sondern als fortschreitender Prozeß der Höherentwicklung verlaufe. Eng mit der Idee historischen Fortschritts verknüpft ist der im 18. Jahrhundert zuerst begrifflich gefaßte, aber nicht neue Entwicklungsgedanke. Schon die ersten spanischen Missionare in Amerika gaben sich dem von der staatlichen Politik aufgegriffenen Gedanken hin, die Eingeborenen könnten auf die europäische Kulturstufe gehoben werden. Auch englische Kolonisten in Nordamerika kamen 100 Jahre später zu dieser Einsicht: Die "Lehre vom guten Wilden beinhaltete die Anfange einer Entwicklungstheorie" (Sheehan 1980, 6). Die Lehre vom "lasterhaften Wilden" wurde bis in unser Jahrhundert zur ideologischen Rechtfertigung kolonialer Unterdrückung herangezogen. Kolumbus erlag der Illusion, in der Karibik einen paradiesisch einfach anmutenden Menschen vorgefunden zu haben; dieser Trugschluß der Existenz eines unverdorbenen Menschen wurde vor allem im 18. Jahrhundert zur Kritik der "unnatürlichen" europäischen Zivilisation herangezogen. Franziskanische Missionare glaubten fernab Europas eine an Thomas Morus' Utopia und urchristlichem Leitbild orientierte Gesellschaft schaffen zu können. Das Missionsreservat der Jesuiten in Paraguay wurde als Verwirklichung eines — im ursprünglichen Sinne des Begriffs — kommunistischen Gemeinwesens mißverstanden und die wahrhaft despotische Herrschaft der Inkas zum "sozialistischen Staat" hochstilisiert. So projizierte Europa auf Amerika verlorene Träume und auf die Zukunft gerichtete Utopien und ließ bei diesen "amerikanischen Träumen" stets die kulturelle Realität außer acht.

8. Traum der Freiheit — Trauma der Freiheit Eine zunehmende Entfremdung zwischen Mutterland und Kolonien, das aufgeklärte Gedankengut und das Erlebnis der Französischen Revolution sowie das Vorbild des nordamerikanischen Freiheitskampfes ließen im spanischen Amerika den Gedanken staatlicher Unabhängigkeit reifen. Auf die Nachricht von der durch Napoleon erzwungenen Abdankung des spanischen Königs Ferdinand VII. (5.5.1808) zugunsten Joseph Bonapartes bildeten sich in den Städten Hispanoamerikas sogenannte juntas, die beanspruchten, im Namen des verhinderten legitimen Monarchen zu regieren. Doch anders als im Mutterland, wo die aus einer spontanen Volkserhebung hervorgegengenen juntas im Namen des Königs den Widerstand gegen den Usurpator Joseph Bonaparte anführten, wandten sich die Juntas in den Kolonien gegen die dort nach wie vor im Namen Ferdinands regierenden Behörden. Der Unabhängigkeitskampf hatte begonnen und währte eineinhalb Jahrzehnte. Mit der Schlacht von Ayacucho in den Anden Perus (9.12.1824) war die spanische Macht überall in Amerika — mit Ausnahme Kubas und Puerto Ricos — gebrochen. Nicht unterdrückte Massen kämpften gegen ihre Unterdrücker, sondern Kreolen gegen die Herrschaft des Mutterlandes. Von einer revolutionären Massenerhebung kann also keine Rede sein, auch wenn es in Mexiko den Priestern Hidalgo und Morelos vorübergehend gelang, Massen zu mobilisieren.

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Dieses Ereignis führte in Mexiko zur Einigung von Kreolen und Europaspaniern im royalistischen Lager, denn — wie ein Zeitgenosse ausführte — man fürchtete Hab und Gut "in einem Krieg von Banditen" zu verlieren. Die Unabhängigkeit Mexikos wurde schließlich (1821) von dem Obersten Agustín Iturbide, einem Repräsentanten konservativer Kreise, errungen, als Ferdinand VII., durch eine Revolution im Mutterland gezwungen, eine liberale Verfassung in Kraft setzte. Iturbide wurde zum Kaiser von Mexiko ausgerufen. Doch dieses Kaisertum war nur von kurzer Dauer (bis 1.4.1823), und in Mexiko begann eine Epoche permanenten Bürgerkriegs. Ungeachtet homogener Züge (weiße Herrschaftsschicht spanischen Ursprungs, gemeinsamer katholischer Glaube, einheitliche Institutionen und einheitliches Recht) zerfiel Spanisch-Amerika in zahlreiche Einzelstaaten. Diese partikularen Tendenzen waren unter anderem angelegt in der Ausrichtung der unverbunden nebeneinander bestehenden Verwaltungseinheiten auf das Mutterland sowie in der teilweise geographisch bedingten Isolierung der großen Siedlungszentren. Sie kamen zum Durchbruch, als Spanisch-Amerika das einigende Band der gemeinsamen Krone abgelegt hatte. In den einzelnen Staaten kämpften fortwährend Föderalisten gegen Unitarier, Konservative gegen Liberale: Große und kleine caudillos machten sich die Macht streitig. Lediglich Brasilien, das als konstitutionelle Monarchie (1822-89) in die Unabhängigkeit trat, durchlebte im 19. Jahrhundert eine Zeit relativer politischer Stabilität. Die in der Heiligen Allianz geeinten europäischen Staaten verweigerten den hispanoamerikanischen "Rebellenrepubliken" die Anerkennung, um den Herschaftsanspruch Spaniens und das monarchische Regierungsprinzip aufrechtzuerhalten. Großbritannien verließ 1822 (Kongreß von Verona) als erste europäische Macht die Nichtanerkennungsfront, denn erfolgreich verlangten die jungen Republiken gegen das Angebot weitreichender wirtschaftlicher Zugeständnisse die Anerkennung ihrer staatlichen Unabhängigkeit. Mit Handelsverträgen wurde das ehemalige Kolonialreich erneut in die wirtschaftliche Abhängigkeit von Europa und nunmehr auch den USA eingebunden. Im freigeistigen Hamburg wurde der Sieg der hispanoamerikanischen Unabhängigkeitsbewegung als ein Triumph von "Menschenrecht, Freiheit, Aufklärung und Bürgerglück" über "die Nacht des Fanatismus und mönchischer Verfinsterung" gewertet; darin klingt das alte über Spanien verhängte Odium an. Der Vorsitzende der Hamburger Commerzdeputation aber konnte angesichts der Öffnung des hispanoamerikanischen Marktes 1822 feststellen: "Hamburg hat Kolonienerhalten." (Becker 1984, lff.) Simón Bolívar (1773-1830), der bedeutendste lateinamerikanische Unabhängigkeitskämpfer, mußte hingegen resignierend erkennen, wie sein Lebenswerk und damit Menschenrecht, Freiheit und Bürgerglück im Chaos untergingen. 1821 schrieb er an General Santander:

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Scheint Ihnen nicht, [...] daß diese Gesetzgeber, die mehr unwissend als schlecht und mehr anmaßend als ehrgeizig sind, uns in die Anarchie, danach in die Tyrannei und schließlich in den Ruin führen werden? Ich sehe es so, und ich bin dessen sicher. Wenn es nicht die Bewohner des Tieflandes sind, die uns zu unserem Verderben fuhren, so werden es die Philosophen des offiziellen Kolumbiens sein. Diejenigen, die sich für Lykurg, Numa, Franklin oder Camillo Torres [...] und andere Numen halten, die der Himmel auf die Erde sandte, um so ihren Weg in die Ewigkeit zu beschleunigen, und nicht um ihnen Republiken wie die griechische, römische oder amerikanische zu geben, sondern um Trümmer von monströsen Konstruktionen anzuhäufen, und um auf einem gotischen Grundriß ein griechisches Gebäude am Rande eines Kraters zu errichten.1

Bibliographie Balandier, Georges. 1970. Die koloniale Situation: ein theoretischer Ansatz. In: R. v. Albertini. Moderne Kolonialgeschichte. Köln/Berlin, 105-124. Becker, Felix. 1984. Die Hansestädte und Mexiko. Handelspolitik, Verträge und Handel (1821-1867). Acta Humboldtiana, Nr. 9. Wiesbaden. Bernecker, Waither L.; Raymond Th. Buve; John R. Fischer; Horst Pietschmann und Hans Werner Tobler (Hgg.). 1994. Handbuch der Geschichte Lateinamerikas. Bd. I: Mittel- und Südamerika und die Karibik bis 1760. Hg. v. H. Pietschmann. Stuttgart. Bolívar, Simón. 31985. Doctrina del libertador. Prólogo de Augusto Mijares. Compilación, Notas y Cronología de Manuel Perez Vila. Caracas: Biblioteca Ayacucho. Burckhardt, Jacob. 1956. Weltgeschichtliche Betrachtungen. Gesammelte Werke. Bd. 4. Darmstadt. Chaunu, Pierre. 1969. L'Expansion européenne du X1F au XV siècle. L'Histoire et ses Problèmes. Bd. 26. Paris. Dobb, Maurice. 1970. Entwicklung des Kapitalismus. Vom Spätfeudalismus bis zur Gegenwart. Köln/Berlin. Enzensberger, Hans Magnus (Hg.). 1966. Bartolomé de las Casas. Kurzgefaßter Bericht von der Verwüstung der westindischen Länder. Frankfurt a.M.

'Übersetzt nach Bolívar 1985, 158; vgl. Kahle 1969, 59. Die Stelle ist enthalten im Brief an Santander vom 13. Juni 1821.

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Kahle, Günter. 1969. Historische Bedingtheit der Diktatur in Lateinamerika. In: Friedrich Wehner: Idee und Wirklichkeit in Iberoamerika. Beiträge zur Politik und Geistesgeschichte. Hamburg, 55-64. — und Friedrich Wehner. 1969b. Das Militär in der Politik in Lateinamerika. In: Friedrich Wehner 1969, 71-80. Konetzke, Richard. 1963. Entdecker und Eroberer Amerikas. Von Christoph Columbus bis Hernán Cortés. Frankfurt a.M. —. 1965. Die Indianerkulturen Altamerikas und die spanisch-portugiesische Kolonialherrschaft. (Fischer Weltgeschichte, 22). Frankfurt a. M. Kossok, Manfred. 1961. Die Bedeutung des spanisch-amerikanischen Kolonialmarktes für den preußischen Leinwandhandel am Ausgang des 18. und Beginn des 19. Jahrhunderts. In: Hansische Studien. Heinrich Stromberg zum 70. Geburtstag. Berlin. — und Walter Markov. 1961. Lateinamerika zwischen Emanzipation und Kolonialismus, 1810-1960. Studien zur Kolonialgeschichte und Geschichte der nationalen und kolonialen Befreiungsbewegung. Bd. 6/7. Berlin. Lüthy, Herbert. 1967. Die Epoche der Kolonisation und die Erschließung der Erde. Versuch einer Interpretation des europäischen Zeitalters. In ders.: In Gegenwart der Geschichte. Historische Essays. Köln/Berlin, 179-270. Madariaga, Salvador de. 1966. Kolumbus. Entdecker neuer Welten. Bern/München/Berlin. Pietschmann, Horst. 1980. Die staatliche Organisation des kolonialen Ibero amerika. Handbuch der lateinamerikanischen Geschichte (Teilveröffentlichung). Stuttgart. Sheehan, B. W. 1980. Savagism and Civility: Indians and Englishmen in Colonial Virginia. Cambridge/Mass./New York.

Deutsche Landsknechte, Legionäre und Militärinstrukteure in Lateinamerika Günter Kahle

Das Wirken deutscher Söldner und Soldaten in Lateinamerika läßt sich sowohl unter Aspekten der Phantasie als auch der Realität darstellen. Beginnen wir einleitend mit den Legenden. Sie reichen von der Entdeckung und Eroberung des Kontinents durch die Europäer bis in die Gegenwart und nehmen ihren Anfang mit der berühmten und viel zitierten Brevísima Relación de la Destrucción de las Indias Occidentales des spanischen Dominikaners Bartolomé de las Casas aus dem Jahre 1542. Er berichtet in dieser für den Indienrat und den Prinzen Philipp bestimmten Denkschrift über das große Indianersterben und in diesem Zusammenhang auch von den Greueltaten deutscher Landsknechtsführer in Venezuela. Diese Provinz war 1526 von Karl I. (V.) dem Augsburger Bankhaus der Welser übergeben worden und wurde von ihnen knapp zwei Jahrzehnte hindurch verwaltet. Unzählige Indianer, so schreibt Las Casas, gehen auf das Schuldkonto "jener viehischen Tyrannen, der Deutschen" (Las Casas 1966, 95), die "viehischer und rasender als die blutgierigsten Tiger und wütigsten Wölfe und Löwen" (ebda., 89) waren. "Sie mordeten und erwürgten [...] mehr als vier bis fünf Millionen dieser unschuldigen Leute auf die unerhörteste, ruchloseste, boshafteste Art, und stürzten ihre Seelen in die Hölle" (ebda., 90). Kaum jemand wunderte sich über solche Exzesse, denn "der tyrannische deutsche Gouverneur" war, wie Las Casas vermutet, ein "Ketzer [...] und ließ außerdem deutliche Kennzeichen von Luthertum blicken" (ebda., 92). Dazu wäre einmal zu sagen, daß uns aus den 17 Jahren Weiserherrschaft in Venezuela insgesamt 16 Namen von Anführern deutscher Abkunft urkundlich überliefert sind, die sich in diesem Zeitraum dort aufhielten.' Sie waren von einer großen Zahl spanischer Unterführer, Beamten, Priester und Landsknechte umgeben. Hinsichtlich der vier bis fünf Millionen von den Deutschen angeblich ermordeten Indianer wäre zu bemerken, daß die eingeborene Bevölkerung Venezuelas zur Zeit der Konquista hoch gerechnet etwa 350.000 Menschen betrug. Diese Zahl verminderte sich — teils durch Kämpfe mit den Europäern, teils durch Sklavenhandel und die damit verbundenen harten Arbeitsbedingungen, vor allem aber durch die aus Europa eingeschleppten Krankheiten — bis zum Ende des 16. Jahrhunderts auf ca. 300.000 (vgl. Rosenblat 1954). Die entsetzlichen Massenmorde, die von einer Handvoll Deutscher an Millionen von Indianern in Venezuela verübt worden sein sollen, erweisen sich also bei

'Als fundierteste Untersuchung über die Welser gilt immer noch das Werk von Friede 1961. Die beste deutschsprachige Zusammenfassung gibt Huber 1966, 163-346.

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näherer Betrachtung als Phantasie. Ungeachtet dieser Erkenntnis ist die — aus unterschiedlichen Gründen sicher auch kritikbedürftige — Herrschaft der Welser in Venezuela in einem Teil der ausländischen, auch der spanischen Literatur zum Ziel unsachlicher Angriffe geworden, die wiederum ein aufschlußreiches Pendant darstellen zur Voreingenommenheit der französischen und niederländischen, vor allem aber englischen und später auch angloamerikanischen Historiographie gegenüber den Spaniern. Das bekannteste und berüchtigteste Ergebnis dieser vorsätzlichen Geschichtsentstellungen ist die leyenda negra, deren Auswirkungen noch in der Gegenwart spürbar sind. Den Angloamerikanern blieb es vorbehalten, die schon während der Konquista einsetzende Legendenbildung über die Barbarei der deutschen Söldner und Soldaten in Lateinamerika im 20. Jahrhundert schließlich zur perfektionierten Groteske zu erheben. Die inzwischen längst widerlegten Behauptungen über die subversive Tätigkeit der sogenannten Fünften Kolonne der Deutschen und gut organisierte deutsche Untergrundarmeen in Lateinamerika während des Zweiten Weltkrieges2 können hier genauso übergangen werden wie die esoterischen (!) Phantastereien über eine am Ende des Zweiten Weltkrieges erfolgte Invasion von Teilen des Amazonastieflandes durch einige Tausend deutsche Soldaten (vgl. Brugger 1976, v.a. 167-180, 239-247) und ähnliche Märchen. Wenn wir jedoch nach dem Ursprung solcher Legenden fragen, finden wir die Antwort in der Regel im anglo-amerikanischen Raum. Im vorliegenden Fall erscheinen u.a. die — obwohl ebenfalls jenseits der Grenze des Normalen liegenden — Behauptungen des nordamerikanischen Präsidenten Franklin Delano Roosevelt erwähnenswert, die in seiner, nicht zuletzt auch an die Lateinamerikaner gerichteten Rede vom 27. Oktober 1941 enthalten sind. Danach hatten die Deutschen alle Vorbereitungen getroffen, um 14 lateinamerikanische Staaten militärisch zu besetzen und daraus "five vassal states" zu machen. Religion und Kirche sollten beseitigt werden, "and in the place of the Bible, the words of Mein Kampf will be imposed and enforced as Holy Writ". Nicht genug damit, auch "in the place of the cross of Christ will be put two symbols — the swastika and the naked sword". Etwas unklar bleibt nur noch, ob alle diejenigen, welche "have placed God above Hitler", nun "liquidated" werden würden oder die Chance hätten, mit einer Einweisung in die "concentration camps" davonzukommen. — Die deutsche Regierung hat es seinerzeit für nötig gehalten, diesen Unsinn auch noch offiziell zu dementieren.3

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So z.B. Fernández Artucio 1942. Die von ihm vorgebrachten Behauptungen wurden bereits wenige Jahre nach Kriegsende von dem holländischen Militärhistoriker Louis de Jong in den Bereich der Phantasie verwiesen (de Jong 1959). 3 Vgl. hierzu The Public Papers... 1941, 439f. und "Amtliche Verlautbarung der Reichsregierung vom 1. November 1941" in Berber 1943, 160f. — Hier heißt es irrtümlich: "... Rede vom 28. Oktober".

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Kommen wir nach dieser einleitenden Skizzierung einiger weniger Legenden nun zu den Tatsachen. Als Konquistadorenführer und als Landsknechte, aber auch als Kaufherren, Bergleute und Handwerker gelangte im 16. Jahrhundert eine Anzahl Deutscher nach Lateinamerika, jedoch blieben die meisten nur begrenzte Zeit dort und kehrten wieder nach Europa zurück. Wieviele es insgesamt gewesen sind, wissen wir nicht, da nur verhältnismäßig wenige Namen überliefert wurden. Wahrscheinlich waren es nur einige Hundert, von denen knapp die Hälfte als Landsknechte im Dienst und Sold der spanischen Krone standen. Wie unklar, z.T. auch widersprüchlich die Aussagen der Quellen sind, geht — um hier nur ein Beispiel zu bringen — aus der Tatsache hervor, daß der deutsche Landsknecht Ulrich Schmidel, der sich 1535 der Expedition Pedro de Mendozas zum Río de la Plata anschloß, als Gesamtzahl der Expeditionsteilnehmer "2500 Spainnier vnd 150 Hochtheuschen, Niederlender vnd Osterlich oder Sachsen" nennt (Schmidel 1893, 1). Eine Auswertung der Forschungen von Lafuente Machain ergibt dagegen, daß sich unter den 3143 Europäern, die von 1535 bis 1580 in das Rio de la Plata-Gebiet einwanderten, nur sieben Personen befanden, von denen wir mit Sicherheit wissen, daß sie deutscher Herkunft waren (Lafuente Machain 1943). Einige dieser deutschen Konquistadorenfiihrer und Landsknechte, die im 16. Jahrhundert nach Lateinamerika kamen, sind durch Veröffentlichungen hervorgetreten und haben mit ihren Berichten einen zwar quantitativ geringen, qualitativ jedoch wertvollen Beitrag zur Historiographie geleistet. Aus Venezuela sind die Briefe Philipps von Hutten und die Indianische Historia des Nikolaus Federmann zu nennen. Philipp von Hutten, ein Vetter des Humanisten Ulrich von Hutten, war einer der militärischen Führer in der Weiserkolonie und leitete vom August 1541 bis zum April 1546 einen Eroberungszug in das Innere Venezuelas, in dessen Verlauf er den Tod fand. Als 1550 in Augsburg eine deutsche Ausgabe des zweiten und dritten Cortés-Briefes gedruckt wurde, ist dieser Ausgabe ein Anhang beigefügt worden, der, ohne den Namen zu erwähnen, verschiedene Berichte aus Briefen Philipps von Hutten bringt, die er wahrscheinlich an seinen Bruder, den Bischof Moritz von Eichstätt, gerichtet hatte (Von dem Newen Hispanien... 1550). Damit wurden die ersten Eindrücke eines deutschen Augenzeugen von Amerika und seinen Menschen in Deutschland publiziert. Nikolaus Federmann war dreimal stellvertretender Gouverneur in der Weiserkolonie Venezuela (1530, 1535 und 1536). Er leitete zwei Eroberungszüge ins Landesinnere, von denen der erste sieben Monate (1530/31) und der zweite, in dessen Verlauf er bis in die Region der heutigen Stadt Bogotá vordrang, 31 Monate (1536-1539) dauerte. Seine Indianische Historia schrieb er 1533/34 während eines Besuches in Augsburg. Sie behandelt Federmanns erste Expedition und enthält zahlreiche wichtige historische und geographische Einzelheiten, ist jedoch vor allem völkerkundlich von bleibender Bedeutung. Sie wurde 15 Jahre nach Federmanns Tod von seinem Schwager 1557 in Hagenau herausgegeben.

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Am berühmtesten wurde die Chronik von Ulrich Schmidel. Er stammte aus einer wohlhabenden Familie in Straubing, wo sein Vater Bürgermeister war. Schmidel hatte wahrscheinlich eine gute Schulbildung genossen und war wohl erst als Kaufmann tätig, bevor er sich 1534 als Landsknecht verdingte und im darauffolgenden Jahr an der Mendoza-Expedition teilnahm. Außer im heutigen Argentinien und Brasilien verbrachte Schmidel viele Jahre in Paraguay, an dessen Eroberung er mitwirkte. 1SS3 kehrte er nach Deutschland zurück und lebte zunächst wieder in Straubing, ging jedoch dann, als Lutheraner, nach Regensburg, wo er 1579 starb. Sein Reisebericht, den er nach seiner Rückkehr schrieb, erschien erstmals 1567 in Frankfurt am Main, doch fand er, ähnlich wie Federmanns Indianische Historia, anfangs kaum Beachtung. Erst spätere Generationen erkannten den bedeutenden historischen Wert dieser Aufzeichnungen, und Schmidel gilt heute als frühester Chronist des Rio de la Plata-Gebietes. Weit über den deutschen Sprachraum hinaus bekannt wurden vor allem die Aufzeichnungen des in Hessen geborenen Hans Staden. Er trat als Büchsenschütze in portugiesische Dienste und war 1547/48 das erste Mal in Brasilien. Seine zweite Südamerikareise machte er auf einem spanischen Schiff, dessen Ziel der Río de la Plata war, das jedoch vor der brasilianischen Küste Schiffbruch erlitt. Staden geriet in die Gefangenschaft der Tupinambá-Indianer, aus der er erst ein dreiviertel Jahr später wieder befreit wurde. Nach seiner Rückkehr schrieb er in Deutschland seine Erlebnisse nieder, die 1557 zum ersten Mal in Marburg gedruckt wurden.4 Diese Wahrhaftig' Historia vnd beschreibung eyner Landtschaffi der Wilden, Nacketen, Grimmigen Menschfresser Leuthen... sprach im Gegensatz zu den Berichten Federmanns und Schmidels schon von ihrem Titel her einen breiten Leserkreis an, und das Buch erlebte in wenigen Jahren mehrere Auflagen. Tatsächlich gehört Stadens Bericht zu den interessantesten Reiseerzählungen des 16. Jahrhunderts; er wurde in acht Sprachen übersetzt und erlebte bis 1964 insgesamt 83 Auflagen (vgl. Maack/ Fouquet 1964, 211-231). Aus der Lektüre dieser Veröffentlichungen deutscher Landsknechte wird klar ersichtlich, daß sie sich den unterworfenen Indianern gegenüber nicht anders verhielten als die Spanier oder die Portugiesen. Sie aber deshalb aus der Sicht der Gegenwart heraus verurteilen zu wollen, wie es der gängigen Mode entspricht, zeigt sowohl mangelnde Fähigkeit als auch fehlenden Willen, diese deutschen Landsknechte aus ihrer Zeit heraus zu verstehen. Der Zeitraum, in dem deutsche Landsknechte nach Hispanoamerika gelangten, ist eng begrenzt und beschränkt sich im wesentlichen auf die Regierungszeit Karls I. (V.). Seine Nachfolger Philipp II. und Philipp III. haben die Einreise und vor allem die Einbürgerung von Ausländern in Amerika in steigendem Maße erschwert und schließlich nahezu unmöglich gemacht. Von wenigen Ausnahmen abgesehen hat

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Nach Sixel 1966, 135 existiert eine noch frühere, bisher unbekannt gewesene Ausgabe von 1556.

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sich an diesen strengen Bestimmungen bis zum Ende der spanischen Kolonialzeit auch nichts geändert (vgl. Konetzke 1965, 33f.). Dagegen war es trotz vorübergehender Einwanderungs- und Aufenthaltsverbote durch die im allgemeinen großzügigere portugiesische Gesetzgebung für Ausländer leichter, nach Brasilien zu gelangen. Das Land galt jedoch lange Zeit hindurch als arm und konnte, da es keine Edelmetalle zu besitzen schien, kaum Einwanderer anlocken. Deutsche Landsknechte begegnen uns daher während der Phase der Eroberung kaum in Brasilien, jedoch haben zwei deutsche Militärbefehlshaber in der brasilianischen Kolonialgeschichte des 17. und des 18. Jahrhunderts eine wichtige, wenn auch jeweils ganz unterschiedliche Rolle gespielt. Der erste von beiden war Graf Johann Moritz von Nassau-Siegen, ein Großneffe Wilhelms von Oranien. Er wurde von der Holländisch-Westindischen Kompanie, die 1630 einen breiten Küstenstreifen im Nordosten Brasiliens okkupiert hatte, zum "Gouverneur-Capiteyn en de Admirael-Generael" des niederländischen Brasilien ernannt, das er von 1637 bis 1644 regierte. Moritz von Nassau, wie er gewöhnlich genannt wird, erwies sich nicht nur als überaus fähiger Politiker, sondern auch als hervorragender militärischer Führer. Durch eine kluge und gemäßigte Indianerpolitik gelang es ihm, die Eingeborenen auf seine Seite zu ziehen und sie militärisch ausbilden zu lassen. Mit ihrer Unterstützung konnte er gegen den erbitterten Widerstand der Portugiesen den holländischen Machtbereich im Süden bis zum Rio Säo Francisco und im Norden bis Maranhäo erweitern. Seine Abberufung leitete das Ende der Kolonie ein, die schließlich 1654 von den Holländern wieder aufgegeben werden mußte.5 Der zweite Deutsche, Johann Heinrich Böhm, gilt als der Schöpfer der brasilianischen Armee. Oberst Böhm, der von 1762 bis 1764 unter dem Kommando des Grafen von Schaumburg-Lippe an der Reorganisation des portugiesischen Heeres mitgewirkt hatte, wurde 1767 von König Joseph I. zum Generalleutnant befördert und als neuer Befehlshaber der brasilianischen Streitkräfte mit dem Aufbau eines stehenden Heeres in Brasilien beauftragt, damit sich diese Kolonie auch ohne Unterstützung des Mutterlandes gegen Angriffe von außen verteidigen könne. Er hat diese Aufgabe vorbildlich gelöst und den Erfolg seiner Bemühungen unter Beweis gestellt, als es ihm 1776 gelang, die von Buenos Aires und der Banda Oriental nach Rio Grande do Sul eingedrungenen spanischen Truppen zum Rückzug zu zwingen (vgl. Oberacker 1978, 141-149). Nach der 1822 proklamierten Unabhängigkeit Brasiliens befürchtete Kaiser Pedro I., daß die brasilianischen Streitkräfte zahlenmäßig zu schwach seien, um möglichen portugiesischen Rückeroberungsversuchen widerstehen zu können. Da die damals noch geringe Bevölkerung des Landes dem Soldatenberuf ableh-

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Aus der Fülle der Literatur über Moritz von Nassau vgl. vor allem die Überblicke in Wätjen 1941, 74-132; Boxer 1957, 67-158; Oberacker 1978, 80-107.

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nend gegenüberstand und sich die neue Regierung aus innenpolitischen Rücksichten vor Zwangsaushebungen scheute, beschloß sie die Anwerbung ausländischer Söldner. Durch ein Gesetz vom 8.1.1823 wurden die sogenannten Fremdenbataillone geschaffen, und da mit Leopoldine, der Tochter Kaiser Franz I. von Österreich, "eine Habsburgerin brasilianische Kaiserin war, hoffte man, in Deutschland das meiste Entgegenkommen zu finden" (Oberacker 1978, 190). Tatsächlich gelang es dem schon seit 1821 im Dienste Leopoldines stehenden Major Georg Anton von Schaeffer, etwa 2.000 Soldaten in Deutschland anzuwerben und nach Brasilien zu schicken. "Schon allein die Anwesenheit und ständige Bereitschaft der etwa 2.000 wohlgeschulten und ausgebildeten deutschen Soldaten stellte eine wesentliche Machterweiterung und Festigung des jungen Kaiserreiches dar [...]. Der Kaiser besaß in ihnen ein zuverlässiges und getreues Werkzeug, das sich von allen Revolutionen und Verschwörungen fernhielt und nur ihm ergeben war" (Oberacker 1978, 192). Ihre erste Feuerprobe bestanden diese deutschen Söldner im argentinisch-brasilianischen Krieg um Uruguay (1826-1828), in dem der in Preußen geborene General Gustav Heinrich von Braun Chef des neu geschaffenen brasilianischen Generalstabs war (vgl. Oberacker 1984, 211-263). Mitte des 19. Jahrhunderts wurden wiederum etwa 2.000 deutsche Söldner angeworben, meist ehemalige Teilnehmer der Revolution von 1848, denen von der brasilianischen Regierung "nicht nur ein annehmbarer Sold, sondern — nach Abschluß einer vierjährigen Dienstzeit — auch ein Landgeschenk in Aussicht gestellt wurde" (Oberacker 1978, 283). Bereits unmittelbar nach ihrer Ankunft erfolgte ihr Einsatz im Krieg Brasiliens gegen den argentinischen Diktator Rosas (1851-1852), doch scheinen diese deutschen Söldner den brasilianischen Erwartungen nur sehr bedingt entsprochen zu haben. Die anfänglich gebildete deutsche Legion, die sogenannten "Brummer", wurde daher bald wieder aufgelöst und ihre Offiziere und Soldaten auf brasilianische Einheiten verteilt. Zu einem letzten großen militärischen Einsatz von Deutschen im 19. Jahrhundert, die nun freilich nicht mehr geworbene Söldner waren, kam es im Krieg der Tripelallianz gegen Paraguay (1864/65-1870). Tausende von in Brasilien lebenden deutschen und deutschstämmigen Freiwilligen nahmen an diesem Krieg teil, der hohe Opfer forderte und in dessen Verlauf manche deutschen Siedlungen und Gemeinden fast alle wehrfähigen jungen Männer verloren (vgl. Oberacker 1978, 299-311). Der eindrucksvollste Einsatz deutscher Söldner während des 19. Jahrhunderts erfolgte jedoch im nördlichen Südamerika. Als es den Spaniern gelungen war, 1815/16 Venezuela und Nueva Granada zurückzuerobern, geriet die dortige Unabhängigkeitsbewegung in eine ernste Krise und schien zeitweise vor dem endgültigen Zusammenbruch zu stehen. Simón Bolívar war 1817 in das unwegsame venezolanische Guayana ausgewichen, wo es ihm gelang, sich das Stromgebiet des Orinoco zu sichern und eine Basis für die Reorganisation seiner Armee zu gewinnen. Die Kämpfe der letzten Jahre hatten ihm gezeigt, daß er mit seinen unzureichend ausgebildeten Streitkräften den spanischen Berufs-

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Soldaten nicht gewachsen war. Sein Erfolg hing davon ab, ihnen gleichwertig disziplinierte und gut geschulte Truppen entgegenstellen zu können. Um dieses Ziel zu erreichen, mußte Bolívar jedoch in weit größerer Zahl als bisher Freiwillige aus Europa anwerben und unter ihnen vor allem Offiziere, welche die Fähigkeit besaßen, ihm als Instrukteure zu dienen. Zwar kämpften schon verschiedene Europäer in Bolivars Heer, doch ihre Zahl war viel zu gering. Die Werbungen in Europa wurden deshalb in den Jahren 1817-1819 verstärkt fortgesetzt, und zahlreiche Veteranen der Napoleonischen Kriege suchten sich nun eine neue Betätigung unter den Fahnen Bolivars. Den größten Teil der Legionäre stellten Engländer und Iren, aber die Werber waren auch auf dem Kontinent tätig. Besonders erfolgreich waren sie in dem mit Großbritannien in Personalunion verbundenen Königreich Hannover, doch liefen ihnen auch aus anderen deutschen Ländern viele abenteuerlustige junge Leute zu und verpflichteten sich zum Dienst in Bolivars Heer. In den Kämpfen der folgenden Jahre haben sich die europäischen Freiwilligen im allgemeinen gut bewährt; ihre Verluste waren jedoch extrem hoch. Nach den Angaben des nordamerikanischen Historikers Hasbrouck haben von den insgesamt ca. 6.000 europäischen Legionären nur etwa 150 das Ende des Unabhängigkeitskrieges überlebt (1928, 388). Da die Deutschen mit etwas mehr als 300 Offizieren und Soldaten nur ein verhältnismäßig kleines Kontingent der europäischen Freiwilligen stellten, kämpften sie auch nicht in einem geschlossenen Verband, wie dies, wenigstens zeitweilig, die Engländer und die Iren taten, weshalb von den Deutschen auch keine national bestimmte Truppengeschichte überliefert ist. Memoiren oder Tagebücher von deutschen Freiwilligen existieren kaum6, mögen vielleicht auch noch nicht publik geworden sein, so daß die Schicksale der meisten deutschen Legionäre unbekannt geblieben sind.7 Wissenschaftlich erforscht wurde nur das Leben des in Kassel geborenen späteren bolivianischen Großmarschalls Otto Philipp Braun." Dagegen ist die Biographie des angeblich aus Loccum stammenden und in Venezuela bis zum General aufgestiegenen Johann von Uslar, der "of all the Hanoverians [...] was the best known" (Hasbrouck 1928, 352), voller Unklarheiten und Widersprüche, die bis heute nicht geklärt werden konnten (Kahle 1980, 105f., Anm. 166). Einzelne Versuche, die Schicksale weiterer deutscher Legionäre eingehend zu erforschen, sind bisher über erste Anfänge nicht hinausgelangt (vgl. Kahle 1990), ein Mangel, der nicht zuletzt auch von den Hispanoamerikanera bedauert wird: "Die Berichte über die

'Am bekanntesten und zugleich ergiebigsten sind die Erinnerungen des Majors Carl Richard, die (ohne Angabe eines Autors) 1822 in Leipzig unter dem Titel erschienen: Briefe aus Columbien an seine Freunde von einem hannöverischen Officier. Vgl. hierzu die 1992 erschienene kommentierte Ausgabe von König. 7 Die bisher ausführlichste Übersicht über deutsche Legionäre im Heer Simón Bolivars in Kahle 1980, 91-95. 'Vgl. vor allem die beiden Biographien von Díaz 1945 und Noelle 1969. Die beiden deutschen Biographien von Grube 1939 und Martin 1942 tragen romanhaften Charakter.

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Söhne des großherzigen und edelmütigen Deutschland, welche ebenso in Südamerika für die Freiheit und Unabhängigkeit der alten spanischen Kolonien kämpften, sind dürftig." 9 Noch einmal kam es während des 19. Jahrhunderts im spanischen Amerika zu einem spektakulären Einsatz deutscher bzw. deutschsprachiger Legionäre, als der österreichische Erzherzog Maximilian 1864-1867 mit ihrer und französischer Hilfe hoffte, sein Kaiserreich in Mexiko durchzusetzen. In der ereignisreichen Geschichte Lateinamerikas blieb dieser Versuch nur eine — seinerzeit freilich großes Aufsehen erregende — Episode voller nutzloser Opfer.10 Die Zeit der Söldner neigte sich ihrem Ende zu, und die Armeen der unabhängigen lateinamerikanischen Staaten wurden nun in zunehmendem Maße zum Betätigungsfeld europäischer und seit dem Ende des 19. Jahrhunderts auch deutscher Militärinstrukteure. Die beiden großen militärischen Konflikte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die Lateinamerika erschütterten, hatten die Überlegenheit schlagkräftiger und — nach lateinamerikanischen Maßstäben — gut ausgebildeter sowie disziplinierter Armeen gezeigt. Zwar hatte Paraguay den Krieg gegen die Tripelallianz Argentinien, Brasilien und Uruguay (1864/65-1870) verloren, aber der langjährige paraguayische Widerstand erweckte weltweit Bewunderung. Chile hat im Salpeterkrieg gegen Bolivien und Peru (1879-1883) sein Staatsgebiet durch den Gewinn einiger wirtschaftlich bedeutender Regionen erheblich vergrößern können und war zur vorherrschenden Macht an der pazifischen Küste geworden. In beiden Kriegen waren aber auch viele Mängel hinsichtlich der strategischen sowie der taktischen Führung und der Waffentechnik deutlich geworden, die nur durch eine Professionalisierung der Streitkräfte zu beheben waren. "Professionalisierung bedeutete aber auch Entpolitisierung, d.h. die Militärs zogen sich auf den isolierten Bereich ihres Berufes zurück, verzichteten weitgehend auf Interventionen im politischen Raum und schlössen andererseits politische Eingriffe in innermilitärische Angelegenheiten aus" (Brunn 1969, 279). Eine solche Umgestaltung konnte jedoch nur mit Hilfe erfahrener ausländischer Fachkräfte durchgeführt werden, und "das geschah, indem man europäische Offiziere als Instrukteure an die militärischen Bildungsanstalten oder direkt zur Truppe verpflichtete, oder eigene Offiziere zur Dienstleistung in fremde Armeen kommandierte. Einen tiefgreifenden Einfluß hat hierbei das deutsche Militärsystem ausgeübt. Deutsche Offiziere arbeiteten in Chile, Argentinien und Bolivien. Offiziere dieser Länder und aus Brasilien dienten in der preußischen Armee, und durch die Rolle, die Chile und Argentinien als Vorbilder für andere lateinamerikanische Armeen gewannen, dehnte sich der deutsche Einfluß mittelbar auf den ganzen Kontinent aus" (ebda., 280, vgl. auch 290).

'Garcia Roseli 1961/62, 85. Übersetzung des Autors. l0 Aus dem fast unüberblickbar gewordenen Schrifttum über Maximilian sei hier nur verwiesen auf die Studie von Bopp 196S.

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Am stärksten wurde der deutsche militärische Einfluß in Chile, wo seit 1885 der preußische Artillerieoffizier Hauptmann Emil Körner als Instrukteur tätig war. Körner, der 1896 zum Divisionsgeneral ernannt wurde und 1904 als Heeresinspekteur an die Spitze der chilenischen Landstreitkräfte trat, gelang eine umfassende Reorganisation des chilenischen Heeres, das völlig nach preußischdeutschem Vorbild ausgerichtet wurde." Der Bruder Kaiser Wilhelms II., Prinz Heinrich, der auf seiner Südamerikareise außer Brasilien und Argentinien auch Chile besuchte, zeigte sich vom Erfolg der deutschen Instrukteure und einer Parade in Chile sehr beeindruckt, die nach seinen Worten "eine Miniaturausgabe einer Parade auf dem Tempelhofer Feld genannt werden" kann. Darüber hinaus brachte er in seinem Reisebericht die Überzeugung zum Ausdruck, "daß [...] der Militarismus ein außerordentlich wertvolles Bindeglied zwischen Chile und Deutschland [bildet]" (Schaefer 1974, 177). Nach einleitenden Reformbemühungen durch Oberst Alfred Arent (19001902) waren seit Beginn des 20. Jahrhunderts auch in Argentinien deutsche Offiziere als Instrukteure tätig, von denen vor allem der spätere General Wilhelm Faupel bekannt wurde. Faupel war von 1911 bis 1914 mit der Ausbildung argentinischer Offiziere betraut, 1921-1926 war er Berater der argentinischen Heeresleitung und 1927-1930 Generalinspekteur der peruanischen Armee.12 Seit 1911 arbeitete eine deutsche Militärmission unter Leitung des Majors Hans Kundt auch an einer Reform des bolivianischen Heeres. Kundt wurde in Bolivien bald zum General und zum Chef des Generalstabes ernannt, aber "die Erfolge Kundts waren so eklatant, daß nach den Manövern 1913 sich militärische Kreise in Chile ernsthaft beunruhigt zeigten" (Brunn 1969, 327). Während sich Kundt und seine deutschen Mitarbeiter in Bolivien allgemeiner Beliebtheit erfreuten, konnten sich die meisten deutschen Instrukteure in Chile und vor allem in Argentinien offensichtlich nur schwer auf lateinamerikanische Verhältnisse einstellen und schufen sich durch ihr arrogantes Auftreten manche unnötigen Gegner. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges kehrte Kundt, wie auch die anderen deutschen Instrukteure, nach Europa zurück, wurde 1921 erneut als militärischer Berater in Bolivien verpflichtet, jedoch 1930 wegen angeblicher Einmischung in innenpolitische Angelegenheiten ausgewiesen. Noch einmal, während des Chaco-Krieges gegen Paraguay, hielt sich Kundt 1932-1935 als Militärberater in Bolivien auf und hat das Land nach der Niederlage endgültig verlassen.13 Nach dem Ersten Weltkrieg, der die Tätigkeit der deutschen Militärinstrukteure in Lateinamerika unterbrochen hatte, versuchten die Regierungen der Weimarer Republik und des Dritten Reiches, die unter Wilhelm II. begonnene

"Allgemein zur deutschen Heeresreform in Chile sowie speziell zu Körner vgl. Borke 1938, 294-297; Schaefer 1974, passim: Blancpain 1974, 702-750. IJ Zu Faupel: Borke 1938, 310-313; Schaefer 1974, passim. "Zu Kundt: Borke 1938, 298-307; Schaefer 1974, 107-112 und 203-207.

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Militärpolitik in den südamerikanischen Staaten weiterzuführen, wobei sich das Schwergewicht der deutschen Bemühungen nun von Chile auf Argentinien verlagerte. In Deutschland ließ man sich dabei vor allem von dem Bestreben leiten, den nach 1918 in Lateinamerika weitgehend verlorenen Markt für die deutsche Waffenindustrie zurückzugewinnen, und "1930 war Deutschland — ungeachtet der Bestimmungen des Versailler Vertrages — schon wieder das Land mit dem größten Waffenexport in Europa" (Schaefer 1974, 209). Die deutschen Militärinstrukteure jener Jahre (neben dem schon erwähnten Wilhelm Faupel in Argentinien und Peru, Hans Kundt in Bolivien, auch von 1923 bis 1937 Hans von Kiesling in Chile u.a.) haben durch ihre bestehenden Verbindungen und entsprechende Vermittlungen wesentlich zu diesem boom beigetragen. Der verlorene Zweite Weltkrieg hat die Tätigkeit der deutschen Militärinstrukteure in Lateinamerika beendet, an deren Stelle nun überwiegend Nordamerikaner traten. Eine gewisse Ausnahme bildete nur noch Argentinien, wohin zahlreiche Deutsche, darunter auch viele Angehörige der früheren deutschen Wehrmacht, geflüchtet waren, um einer Verfolgung durch die Alliierten zu entgehen. Unter ihnen befanden sich so erfahrene Luftwaffenoffiziere wie der ehemalige Inspekteur der Jagdflieger Generalmajor Adolf Galland und die früheren Obersten Werner Baumbach und Hans Ulrich Rudel (vgl. Meding 1992). Sie fanden mühelos ein neues Betätigungsfeld auf dem militärischen Gebiet und fungierten als Berater und wohl auch als Ausbilder der argentinischen Luftwaffe, die 1946 eine eigene Teilstreitkraft wurde. Die Ausbildung des Brigadegenerals Basilio Lami Dozo, der 1981 Chef der argentinischen Luftwaffe wurde, stand völlig unter dem Einfluß dieser deutschen Offiziere. Nach britischer Auffassung war er "däs klügste Mitglied der herrschenden Militärjunta und [...] der von dem Angriffsplan auf die Falklandinseln am wenigsten begeisterte Offizier". Aber als dieser Krieg dann 1982 "unvermeidlich geworden war, fochten keine Argentinier härter und länger zur Verteidigung des Mutterlandes als die Piloten von Lami Dozo" (Eddy u.a. 1984, 260). Mit ihnen war die militärische Ausbildung durch deutsche Fachleute in Lateinamerika noch einmal — und wahrscheinlich zum letzten Mal — in Erscheinung getreten.

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Auf der Suche nach Brot und Freiheit: Die Auswanderung aus Deutschland, Österreich und der Schweiz Béatrice Ziegler

Vorbemerkungen Säo Leopoldo, San Carlos, Santa Maria, Playa Maiten...! Deutsche, Schweizer, Österreicher in Kolonien des lateinamerikanischen Kontinents! Kolonisten haben in hohem Maße das Bild der deutschen, österreichischen und schweizerischen Auswanderungen nach Mittel- und Südamerika geprägt. Siedlungsgründungen sind als Pionierleistungen eindrucksvoll, und die Kolonisation ist in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht bedeutend gewesen. Daneben, davor und danach hat es aber auch einen anderen Typ der Emigration gegeben: jenen der — vor allem Urbanen — Einzelwanderer, der Elitewanderung. In den Kapitalen und anderen wichtigen Städten des Kontinents haben Kaufleute, Unternehmer, Handwerker und Künstler gelebt, deren Präsenz ein ebenso großes Gewicht hat im Migrationsgeschehen, in den wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zwischen Lateinamerika und der (alten) Heimat. Die Auswanderung aus dem Raum des Deutschen Reiches, des heutigen Österreichs und der Schweiz nach Lateinamerika sind Gegenstand dieses Überblicks. Wenn dabei für den vorliegenden Band die "Deutschen" als Klammer, die die Themen zusammenhält und inhaltlich beeinflußt, verstanden werden, entstehen daraus für mein Thema Probleme. Es sind die gleichen Schwierigkeiten, die auch die historischen Quellen — vor allem die überseeischen — den Forschern bereiten: Die Definition von "Deutschen" ist nicht eindeutig. In den Quellen wurde "deutschsprachig" meist mit "Deutschen" gleichgesetzt, was für die Forschung wie überhaupt für die Rezeption der genannten Wanderungen gleich in zwei Richtungen Verzerrungen mit sich bringt: Zum einen wurden Deutschsprachige aus Gebieten außerhalb des Deutschen Reiches oftmals dessen Angehörigen zugezählt, ohne daß das Gewicht der Staatszugehörigkeit und das der Zugehörigkeit zu einer Sprachgruppe als identitätsbildende Faktoren beurteilt wurden. Damit begibt sich die Forschung der Untersuchung möglicher Unterschiede und Konflikte zwischen Angehörigen verschiedener Staaten und der gleichen Sprachgruppe. Zum anderen fallen Anderssprachige aus dem Deutschen Reich, aus Österreich und der Schweiz als Angehörige dieser Staaten ebenfalls aus den Statistiken. "Minderheiten" des Deutschen Reiches und des

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heutigen Österreich1 sind in den Quellen oftmals unter ihrer Sprachgruppe eingetragen worden, also zum Beispiel als Polen oder Slowenen. Damit wird ihre soziale Existenz verstümmelt. In der Forschung über die "deutsche" Auswanderung bleiben sie praktisch unerwähnt, selbst wenn sie rein statistisch erfaßt werden. Für die schweizerische Immigration in die lateinamerikanischen Länder entsteht im extremen Fall die Situation, daß deutschsprachige Schweizer und Schweizerinnen unter "Deutsche", französischsprachige unter "Franzosen" und Tessiner unter "Italiener" verzeichnet worden sind.2 Die schweizerische Auswanderung ist aber überhaupt nur analysierbar, wenn die Wanderungen aller Sprachgruppen grundsätzlich gemeinsam untersucht werden. Erst dann wird deutlich, ob die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Sprachgruppe für das Wanderungs- und das Integrationsverhalten relevant ist. Der Anteil der Angehörigen Österreichs und der Schweiz an der Gesamtheit der Ausländer in Lateinamerika bzw. ihre absolute Zahl sind verschwindend klein. Aber auch die Angehörigen des Deutschen Reiches machen lediglich in den Ländern mit größeren deutschsprachigen Siedlungsgebieten (Argentinien, Brasilien, Chile) bedeutendere Anteile an der Einwanderung insgesamt aus. Dort allerdings hat ihre Präsenz eine erhebliche politische Bedeutung, nicht zuletzt wegen der weiterbestehenden Bindungen zur alten Heimat. Auch im Rahmen der Überseewanderungen aus Österreich, der Schweiz und dem Deutschen Reich ist das Gewicht der Lateinamerika-Auswanderung nicht groß. Die erdrückende Anziehungskraft des nordamerikanischen Subkontinents wird durch die Zahlen deutlich: Aus allen Ländern und im gesamten Zeitraum wanderten 80 % und mehr der Überseewanderer in die USA und nach Kanada aus. Der Rest verteilte sich auf Lateinamerika, Australien und übrige Staaten. Obwohl die Lateinamerika-Auswanderung im Rahmen der gesamten Migrationsströme nicht sonderlich ins Gewicht fällt, hat ihre Erforschung eine eigenständige Bedeutung: 1. Die Wanderung selbst hebt sich klar von derjenigen in die USA ab (Länge des Weges, Routen, Organisation usw.). 2. Integration und Assimilation der Eingewanderten finden in unterschiedlich strukturierten Gesellschaften statt und weisen deshalb auch andere Merkmale auf. Die Rückwanderung bekommt beispielsweise damit einen anderen Stellenwert als im Falle der USA. 3. Die Untersuchung der regionalen und sozialen Herkunft der Auswanderer nach Lateinamerika vermag das Bild der Auswanderungsursachen und der

'Wissenschafter stoßen allerdings beim Versuch, die Wanderung aus dem Vielvölkerstaat oder aus einem seiner Teile in ihrer Gesamtheit zu analysieren, auf enorme Quellenprobleme. 2 Die Rätoromanen werden auch in der Schweiz meist unter die Deutschsprachigen subsumiert. Damit wird im Falle der Auswanderung nach Brasilien das Faktum überdeckt, daß ihre Verständigung in brasilianischer Sprache kaum Probleme bot, während Deutschschweizer erhebliche Schwierigkeiten hatten.

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Rahmenbedingungen der Auswanderungsentscheidung zu differenzieren und die Kenntnisse über solche Abläufe gerade wegen der Überschaubarkeit der Gruppen zu erweitern. Unser Wissen über Phänomene wie lokale Wanderungstraditionen, über Zusammenhänge z.B. zwischen Beruf und Wanderungsziel u. a. kann durch sie erheblich vergrößert werden. Solche Analysen sind für die vergleichende Migrationsforschung grundlegend (vgl. für solche Reflexionen Anderegg 1987 und Bade 1988).

Überblick Die Anfange der europäischen Massenauswanderung in die lateinamerikanischen Länder fallen in die Zeit nach der Unabhängigkeit. Verschiedene Faktoren hatten die Einwanderung und Ansiedlung von Nicht-Spaniern bzw. -Portugiesen in der Kolonialzeit erschwert (vgl. allgemein Mörner 1985). So galten in den deutschen Staaten, in Österreich-Ungarn und den schweizerischen Kantonen zum Teil weit über 1800 hinaus sehr restriktive Auswanderungsbestimmungen. Ihre Entsprechung fanden diese in der Einwanderungspolitik der portugiesischen und spanischen Kolonialmacht. Lange Reisezeiten und vielfach mangelnde Infrastruktur waren der Auswanderung in den südlichen Teil des amerikanischen Kontinents nicht förderlich. Der Boden war zudem für eine bäuerliche Besiedlung rechtlich nicht verfügbar. Die Struktur des kolonialen Handels und insbesondere seine Verquickung mit der kolonialen Verwaltung machte es Außenstehenden außerordentlich schwer, Fuß zu fassen. Dennoch gab es Fremde: (Ehemalige) Soldaten und Matrosen wie Staden, Anhänger einer Utopie wie Léry, Bergbauspezialisten und vereinzelt Großgrundbesitzer sowie Dienstboten der Angehörigen der Kolonialmacht. Ihre Zahl war insgesamt gering. Der Kontinent wurde bereits im 18. Jahrhundert häufig bereist; unter den Reisenden befanden sich aber nur wenige aus dem deutschen Sprachraum. Erst Humboldt rückte mit seiner Expedition den südlichen Teil des amerikanischen Kontinents ins Blickfeld deutschsprachiger Forscher. Nach den Unabhängigkeitserklärungen ließen sich in vielen Ländern alsbald Fremde vor allem als Kaufleute nieder. In den meisten Staaten verhinderte aber die bescheidene Handelskapazität der Bevölkerung eine Erweiterung der Präsenz europäischer Kaufleute. Dies trifft vor allem für die zentralamerikanischen Staaten und die Andenländer zu. Die napoleonischen Kriege sowie die innenpolitische Lage, Bürgerkriege beziehungsweise isolationistische Diktaturen verzögerten in anderen — etwa Argentinien oder Uruguay — die Immigration Einzelner. An den ersten Einwanderungen waren Angehörige sowohl deutscher Staaten (insbesondere der Hansestaaten) wie auch schweizerischer Kantone beteiligt. Da die Österreich-ungarische Auswanderung für diese frühe Zeit kaum untersucht

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ist, sind Aussagen über eine österreichische Beteiligung schwierig. Falls es eine solche gab, war sie ohne Zweifel äußerst gering.3 In Brasilien, dessen monarchische Regierung schnell relativ gefestigt war, kam es schon um 1820 zum ersten Kolonisationsprojekt, dem einige kleinere in den zwanziger und dreißiger Jahren folgten. Bürger und Bürgerinnen deutscher Länder und der Schweiz waren an diesen Siedlungen prominent beteiligt. Der wirtschaftliche Aufschwung in der Mitte des Jahrhunderts und die politische Öffnung bzw. Konsolidierung in Argentinien, Uruguay, Paraguay und Brasilien führten von den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts an dazu, daß sich diese Staaten aktiv um europäische Einwanderer zu bemühen begannen, um die großen unbesiedelten Gebiete zu erschließen und für die nationale Wirtschaft nutzbar zu machen. Demgegenüber verstärkte sich gerade dann durch die krisenhafte Verschärfung der Pauperismus-Probleme der Emigrationsdruck in Deutschland und der Schweiz. So nahm die Auswanderung nach Brasilien in den fünfziger und nach Argentinien sowie Uruguay in den sechziger Jahren sprunghaft zu. Siedlungskolonien wurden in rascher Folge gegründet. Während die Emigration nach Brasilien schon um 1870 wegen teilweise skandalöser Wanderungs- und Ansiedlungsbedingungen wieder abflaute, verstärkte sich diejenige nach Argentinien weiter. Bald rückte auch der Süden Chiles ins Blickfeld deutscher und schweizerischer Auswanderungswilliger. Der Höhepunkt deutscher wie schweizerischer Auswanderung liegt in den achtziger und neunziger Jahren. Während dieser für die schweizerische Massenauswanderung zugleich praktisch das Ende darstellte, flachte die deutsche zunächst wieder ab, verzeichnete aber vor dem Ersten Weltkrieg nochmals einen bescheidenen Aufschwung. Die österreichische Auswanderung setzte überhaupt erst in den siebziger Jahren in nennenswertem Umfang ein, erreichte aber schon in den achtziger Jahren erste Spitzenwerte. Im Unterschied zur schweizerischen und deutschen Auswanderung zog die österreichische im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts massiv an und erlebte damit gleichzeitig ihren Höhepunkt. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung in lateinamerikanischen Ländern in der Mitte des Jahrhunderts nahm auch die Wanderung in die Städte zu: Neben Kaufleuten ließen sich vor allem in den Ländern des Cono Sur zahlreiche Handwerker und Gewerbetreibende nieder. Industrien entstanden in Städten und in den Siedlungsgebieten. Die Kaufleute konsolidierten ihre Häuser und vermochten sich neben den dominierenden Engländern zu behaupten. Wirtschaftliche Erschütterungen, Strukturwandlungen in den Wirtschaften der sich entwickelnden Regionen (Mexiko, Argentinien, Chile, Brasilien u.a.m.) und Konzentrationsprozesse brachten bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts die meisten großen Handelskontore zum Verschwinden. In Ländern wie Argentinien, Brasilien und Mexiko setzte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die Industrialisierung ein.

3

Vgl. Bernecker, von Mentz, Banko, Kellenbenz, Ziegler; alle im Jahrbuch Geschichte von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft Lateinamerikas. 1988.

fir

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In anderen Ländern verzögerte sich dieser Prozeß und wurde dann von der Internationalisierung überlagert. Mit der entstehenden Industrie verstärkte sich der direkte Handel der europäischen Industrie gerade als Zulieferung für die entstehenden Industrieanlagen (z.B. über "Vertretungen") mit den Kunden in Übersee. Daneben nahmen auch die europäischen Kapitalbeteiligungen zu. Es setzte die Internationalisierung der frühen nationalen Industriegesellschaft ein, die im Ersten Weltkrieg unterbrochen wurde. Versuche, nationale Interessen zu schützen, führten in der Zwischenkriegszeit endgültig zu ungünstigeren Bedingungen vor allem für das Importgeschäft, aber auch für den Handelsverkehr von Europäern und US-Amerikanern überhaupt. Unter anderem deswegen entstanden erste Produktionsstätten multinationaler Unternehmen in Lateinamerika, die nicht nur den lokalen Arbeitsmarkt, sondern auch die städtischen Ausländerkolonien stark veränderten: Die Entwicklung der alteingesessenen Kolonien trennte sich immer stärker von den Gruppen von "Kontraktarbeitern", die nur für wenige Jahre ins Land einreisten. Gleich nach dem Ersten Weltkrieg setzte die Siedlungswanderung in den Cono Sur wieder ein, allerdings in bescheidenem Ausmaß, beschränkt durch die Quotenregelungen und durch die schwierig gewordenen Siedlungsbedingungen. Zudem drängten Einwanderer aus anderen Staaten nach, die geringere Löhne und schlechtere Lebens-, Arbeits- bzw. Ansiedlungsbedingungen in Kauf nahmen. Die zahlenmäßige Erfassung der Wanderungsentwicklung aus Statistiken ist äußerst schwierig. Offizielle Daten der Auswanderungsländer sind erst für die späteren Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts von einiger Zuverlässigkeit. Sie liegen aber meist unter den betreffenden Zahlen der Einwanderungsländer. Ergeben Einzelstudien Zahlenmaterialien zu einer räumlich und zeitlich begrenzten Wanderung, erweisen sich frühere Daten in der Regel als deutlich zu niedrig angesetzt. Angaben schweizerischer Autoren lassen die Überseewanderung aus der Schweiz zwischen 1800 und 1939 bei etwa 500.000 Menschen beziffern. Von den Überseewanderern reiste die absolute Mehrheit (zwischen 80 und 95 %) in die USA, etwa 15 % entfielen auf Lateinamerika. Davon ging von den achtziger Jahren an der größte Teil nach Argentinien. In großem Abstand folgten Brasilien und schließlich die übrigen Länder als Zielgebiete (Arlettaz 1975, 1979a; Schelbert 1976). Dieselben Unsicherheiten in Bezug auf das Zahlenmaterial gelten für die deutschen Staaten und das Deutsche Reich. Auch hier handelt es sich um Schätzungen: Zwischen 1820 und 1920 wanderten 227.000 Deutsche in Lateinamerika ein. Davon gingen 11.000 nach Chile, 147.000 nach Brasilien und der Rest nach Argentinien und Uruguay (Blancpain 1988, insbes. 352-354). Für Österreich-Ungarn ist das Zahlenmaterial nicht genauer. So verzichtete Chmelar (1974) für die Zeit vor 1876 sogar auf Schätzungen. Zweifellos war damals die Auswanderung verschwindend gering, da sie verboten war und da die ländlichen Gebiete des Reiches noch nicht in gleichem Umfange von

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strukturellen Veränderungen betroffen waren wie nordwestlicher gelegene Staaten. Auch für Menschen aus Österreich-Ungarn blieben die USA Hauptzielland (83 % zwischen 1876 und 1910). Von den lateinamerikanischen Ländern liegt Argentinien an der Spitze mit 94.000 Österreichern, gefolgt von Brasilien mit 56.000 österreichischen Einwanderern und den übrigen mit 6.300 Personen. Die Auswanderung nach dem Ersten Weltkrieg ist nicht aufgearbeitet.4 Bei einer geschätzten Gesamteinwanderung nach Lateinamerika zwischen 1820 und 1920 von 6 bis 7 Millionen Menschen erweist sich sowohl die österreichische wie die schweizerische Immigration als unbedeutend, aber auch diejenige aus dem Deutschen Reich ist numerisch nur von sehr geringer Bedeutung. Dem steht, wie bereits angedeutet, das wirtschaftliche, soziale und politische Gewicht der deutschsprachigen Einwanderung gegenüber.

Die Siedlungswanderung in die Länder des Cono Sur Zielländer zahlenmäßig bedeutender Einwanderung waren solche des sogenannten Cono Sur des Kontinents. Dort waren weite, von Weißen ungenutzte Flächen vorhanden. Arbeitskräfte konnten jedoch nicht oder nur ungenügend rekrutiert werden (Indios oder Schwarze). Das Interesse Argentiniens, Brasiliens, Uruguays und Paraguays sowie Chiles an ihren Landreserven erwachte erst nach der Unabhängigkeit und der darauffolgenden Konsolidierung, also in den vierziger und fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts, nachdem sich die politischen Verhältnisse stabilisiert hatten und im Falle von Brasilien das traditionelle Arbeitskräftereservoir (der afrikanische Sklavenmarkt) versiegt war. Dann begannen die Regierungen der genannten Länder sich um die Anwerbung von Siedlern zu bemühen. In Brasilien hatte der Kaiser bereits 1818/1819 ein erstes Kolonisationsprojekt lanciert, die Kolonie Nova Friburgo, deren Anfänge für die Schweizer Siedler äußerst entbehrungsreich waren (Nicoulin 1973). Erst mit einer zweiten, nun deutschen Zuwanderung begann die Siedlung zu prosperieren. Ebenfalls in die zwanziger und dreißiger Jahre fallen deutsche Gründungen im Staate Säo Paulo. Solche Experimente blieben aber am Rande. Unter dem Eindruck der drohenden Durchsetzung des Sklavenhandelsverbotes durch England begannen Ende der vierziger Jahre Kaffeepflanzer des Staates Säo Paulo den Einsatz von europäischen Kolonisten in Plantagen zu erproben. Die großangelegte Aktion führte ungefähr 6.000 Kolonisten in die Plantagen (Schweizer, Deutsche und Portugiesen). Bei diesem Experiment wurden die Europäer als Plantagenarbeiter angeworben. Als "Halbpächter" sollten sie in die Lage gesetzt werden, später Land zu kaufen. Diese Voraussetzung hebt die "/jarrena-Kolonisation" klar von den übrigen Ansiedlungen ab (Ziegler 1985).

4 Die Wanderungsproblematik hat in der österreichischen Forschung noch kaum Eingang gefunden. Es gibt neben dem zitierten Werk von Hans Chmelar kaum wissenschaftliche Literatur. Vgl. auch Deak 1974, 174-178.

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Zur gleichen Zeit warben der Schwiegersohn des Kaisers und hamburgische Kaufleute für eine Siedlungskolonie in Santa Catarina, namens Dona Francisca. Auch hier waren die ersten Kolonisten Schweizer, aber schon vom dritten Jahr an übertraf die deutsche Zuwanderung die schweizerische.3 Neben diesen beiden großen Projekten zogen weitere Siedlungen (z.B. Blumenau) sowie der große Siedlungsraum von Rio Grande do Sul laufend Einwanderer an.6 Daneben entstanden verschiedene kleinere Kolonien, wie etwa die Kolonie Tirol, welche 1848 im Staat Espirito Santo gegründet wurde (erwähnt von Dujmovits 1980). Die Einwanderung aus der Schweiz und den deutschen Staaten erreichte mit dieser Siedlungstätigkeit ihren Höhepunkt. Die skandalösen Zustände in den Plantagenkolonien sowie weitere Unregelmäßigkeiten führten dazu, daß Brasilien unattraktiv wurde, auch wenn die Zuwanderung in die südlichen Siedlungsgebiete nie ganz abriß.7 Spätere, in den siebziger, achtziger und neunziger Jahren entstandene Kolonien blieben klein, und es war ihnen in der Regel kein Erfolg beschieden (vgl. z.B. Ziegler 1986). Einzelne vermochten allerdings zu einem kulturellen und identitätsstiftenden Zentrum von Einwanderern gleicher Herkunftsregion zu werden, so z.B. Helvetia bei Campinas (Säo Paulo) für die Obwaldner oder die Ansiedlung von Tirolern bei Piracicaba (Säo Paulo) nach 1877.® Die Einwanderung aus Österreich setzte in diesen Jahrzehnten verstärkt ein und erreichte ihren Höhepunkt vor dem Ersten Weltkrieg. Angaben bei Chmelar und Dujmovits — eine eingehende Studie steht aus — zeigen, daß diese Einwanderer in der Regel Siedler auf bescheidenstem Niveau wurden oder aber in ländliche oder städtische Anstellungsverhältnisse kamen (Chmelar 1974, 39-42; Dujmovits 1980, 65). Brasilien schuf in Anlehnung und teilweiser Reaktion auf die Gesetzgebung der USA eine Quotenregelung, die die Zuwanderung in der Zwischenkriegszeit schließlich unmöglich machte. Argentinien ist für alle drei Herkunftsländer ein bevorzugtes Ziel. Gleichzeitig weist Argentinien eine Besonderheit für lateinamerikanische Länder auf: die hohe Rückwanderungsquote! Während diese für die Massenwanderungen in andere Länder zu vernachlässigen ist, weist sie dort für das Deutsche Reich 56,8 %,

'Ziegler 1983; zur deutschen Auswanderung Illi 1977; Kellenbenz/Schneider 1976 und Kellenbenz 1979. Die Auswanderung in die Provinz Santa Catarina wurde bislang durch die deutsche Migrationsforschung nicht bearbeitet. 'Anfänglich vor allem deutschsprachige, dann auch Italiener und Angehörige slawischer Völker. Die Besiedlung der Provinz Grande do Sul ist Thema der monumentalen Untersuchung von Roche 1959. 7 Die Auswanderungsländer warnten. Preußen erließ das Von-der-Heydtsche Reskript, welches die Anwerbung von Menschen für Brasilien verbot. Die Wirksamkeit des Reskriptes ist allerdings umstritten. 'Beide Kolonien wurden bis jetzt von der Historischen Wanderungsgeschichte nicht untersucht.

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für Österreich-Ungarn 42,1 % und für die Schweiz 38,8 % auf.9 Trotz der enormen Bedeutung sind die Siedlungen in Argentinien wenig erforscht.10 Die Einwanderer gründeten vor allem in den ersten Jahrzehnten Kolonien, deren beträchtliches Ausmaß und ansehnliche Zahl eine erhebliche wirtschaftliche Kraft darstellen. Die Kolonisten kamen zu beachtlichem Wohlstand, und die Siedlungen gründeten immer wieder Tochterkolonien. Erst mit der krisenhaften Verschlechterung der argentinischen Wirtschaftssituation in den neunziger Jahren bot sich für Siedler wie Einwanderer eine andere Lage: Konzentration des Bodens sowie Spekulation und Absatzprobleme führten dazu, daß die Rentabilität der bäuerlichen Betriebe sank und der Neuaufbau von landwirtschaftlichen Betrieben ohne beträchtliches Kapital verhindert wurde. Einwanderer erreichten den Status des Bodeneigentümers nur noch selten und wenn, dann lediglich auf abgelegenen und überwiegend schlechten Böden. Für diese Entwicklung zeugt die Besiedlung des Chaco vom Ende des 19. Jahrhunderts an und die Ansiedlung in misiones in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts, wo die Siedler unter härtesten Bedingungen gerade ihr Überleben zu sichern vermochten — abgesehen von einigen wenigen, die das beste Land erwarben und über Kapital verfugten. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert wurden Einwanderer in ihrer Mehrheit Landarbeiter und Pächter oder zogen in die Städte, wo sie in Gewerbe und Industrie Arbeit fanden. Die deutschsprachige Kolonie in Buenos Aires z. B. war damals bereits groß und sozial weit gefächert. Früher eingewanderte Kaufleute und Gewerbetreibende bzw. Handwerker sowie auch Unternehmer hatten sich zum Teil zu ansehnlichem Wohlstand emporgearbeitet — einem Wohlstand, den die später Ankommenden in der Regel nicht mehr erreichten.11 Die massenweise Auswanderung aus der Schweiz versiegte mit dieser Entwicklung und auch die deutsche nahm stark ab. Die österreichische erlitt leichte Einbußen, stieg dann aber erneut an und erreichte 1905/06 und 1907 ihren Höhepunkt (Chmelar 1974, 34-39). Die verstärkte Auswanderung nach Argentinien in den zwanziger Jahren führte zu dramatischen Siedlungsversuchen an der argentinischuruguayisch-paraguayischen Grenze.

'Arlettaz 1979a, 93; Anderegg 1987, 321-323. Wie wenig die Frage der Rückwanderung bearbeitet ist zeigt-z.B. Chmelar 1974, 34ff., der von einer geringen Rückwanderung aus Argentinien ausgeht. '"Zur schweizerischen Literatur über die Auswanderung nach Lateinamerika allgemein vgl. Nicoulin 1979; Nicoulin/Ziegler 1975. Übersichten zur argentinischen Kolonisation sind älter. Neuere Werke behandeln Teilaspekte, so etwa Arlettaz 1979b. Die deutsche und österreichische Siedlungsgeschichte ist noch nicht bearbeitet. 1 'Newton (1977) beschreibt die deutsche Kolonie vor allem anfangs des 20. Jahrhunderts, vielfache Anknüpfungen erlauben jedoch Einsichten in ihren Zustand auch im späteren 19. Jahrhundert. Die unveröffentlichte Arbeit von Motschi (1982) zeigt insbesondere die Reflexion der städtischen deutschsprachigen Kolonie zu den Agrarkolonien in Santa Fe und weiter nördlich.

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Die Auswanderung nach Chile erreichte zahlenmäßig im Vergleich zu jener nach Argentinien und Brasilien nur kleine Werte. Die erste Welle sieht Blancpain in seinem grundlegenden Werk zwischen 1848 und 1864, eine zweite in den achtziger und neunziger Jahren. Die Einwanderung der beiden Wellen erfolgte in zwei verschiedene Siedlungsgebiete. Die schweizerische Siedlungsbewegung richtete sich mit der deutschen in die gleichen Regionen, wenn auch anfänglich zum Teil in voneinander getrennte Dörfer. Die österreichische Auswanderung nach Chile war laut Chmelar zahlenmäßig unbedeutend.12 Die erste Welle der deutschsprachigen Einwanderung in Chile führte in die Gegend von Valdivia und Osorno. Der ländlichen Besiedlung folgte sehr schnell eine handwerkliche und kaufmännische Aktivität von neu eingewanderten mittelständischen Personen. Es entstand ein Gebiet fast geschlossener deutschsprachiger Besiedlung, die gekennzeichnet war durch die Ähnlichkeit mit der Struktur der Herkunftsländer: ländliche Siedlungsgebiete, aus denen heraus kleinere und größere Städte als handwerkliche und industrielle Zentren mit der dazugehörigen breiten Fächerung der Mittelschicht wuchsen. Das südliche Siedlungsgebiet, das von der chilenischen Bevölkerung isoliert war, blieb agrarisch. Die bäuerliche Bevölkerung lebte abgekapselt in Dörfern, die an der überlieferten deutschen Kultur festhielten und die chilenische Gesellschaft ausklammerten. Für sie trifft wohl zu, was Waldmann als "adaptación sin asimilación" bezeichnete (Waldmann 1988, 445).

Massenauswanderung als Folge von Strukturwandel Die Massenauswanderung des neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts wurde ausgelöst durch soziale und wirtschaftliche Krisensituationen. Bevölkerungswachstum und Kapitalisierung der Landwirtschaft bzw. die Schaffung größerer Markträume für landwirtschaftliche Produkte vor allem durch den Eisenbahnbau, der Abstieg der Handwerker infolge der mangelnden Kaufkraft der Bevölkerung und wegen der zunehmenden Konkurrenz der Industrie kennzeichnen die Situation in den Auswanderungsgebieten. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts waren Arbeitsmöglichkeiten in der Industrie nur selten oder nicht gegeben, die Verarmung schritt voran, die Gemeinden waren überschuldet. Die strukturellen Wandlungsprozesse wurden in Krisenjahren durch Agrarkrisen und Hungersnöte, Teuerung und zunehmende Arbeitslosigkeit und Mangel an Perspektiven überlagert. Den Höhepunkt dieser Entwicklung löste die Migrationswelle der vierziger und fünfziger Jahre aus, die sich von Irland aus über den nördlichen Kontinent gegen Süden ausdehnte. Die nächste große Krise, jene der

"Für die deutsche Kolonisation in Chile ist Blancpain 1974 grundlegend. Ferner zu beachten Young 1974 und Waldmann 1988. Der schweizerische Beitrag ist wissenschaftlich nicht untersucht. Immerhin verfaßte Schneiter 1983 einen interessanten Überblick über die schweizerische Präsenz in Chile seit den Anfängen. Zur österreichischen Auswanderung nach Chile vgl. Chmelar 1974, 42f.

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achtziger Jahre, trug in den Österreich-ungarischen Auswanderungsgebieten noch weitgehend das alte Gepräge; in Deutschland und der Schweiz fiel die alte mit einer modernen Industrie- und Finanzkrise zusammen. Sie markiert in beiden Ländern den Höchststand der Auswanderung, während Österreich, wie überhaupt Mittel- und Südeuropa, den Höhepunkt phasenverschoben erst im 20. Jahrhundert erlebte. In letzter Zeit wird vermehrt darauf hingewiesen, daß die oben skizzierten Strukturwandlungen nicht nur mit einer Aus-, sondern auch mit einer intensiven Binnenwanderung einhergingen (so z.B. Bade 1980). Dabei sind die Regionen nicht immer im gleichen Maße von beiden Phänomenen betroffen. Ferner wird neuerdings hervorgehoben, daß die Massenwanderung nach Lateinamerika eine ausgeprägte Familienwanderung ist. Diese Tendenz schwächt sich allerdings gegen Ende des Jahrhunderts ab. Gleiches, wenn auch in weit geringerem Umfang, läßt sich von der USA-Wanderung sagen. Mit der Abschwächung des Anteiles der Familien nimmt der Anteil der Männer zu. Dies, verbunden mit der — noch zu wenig untersuchten — Bedeutung, die den Frauen in der Binnenwanderung und damit im Prozeß der Urbanisierung zukommt, weist auf geschlechtsspezifisches Verhalten im Wanderungsprozeß hin.13 Wichtig ist femer, daß die Auswanderung ergänzt wird durch einen meist erheblichen Einwanderungsstrom.14 Bade, der sich mit solchen Umschichtungen seit längerem befaßt, erklärt sie im wesentlichen durch die unterschiedlichen Arbeitsmarktniveaus (Lohn/Arbeitsbedingungen usw.) (Bade 1979). Eingebracht wird ferner, daß bei der (ländlichen) Überseewanderung die räumliche Mobilität die soziale ersetzt, bzw. die Auswandernden die soziale Mobilität durch die räumliche vermeiden wollen. Dies würde bedeuten, daß die Siedlungsgebiete des lateinamerikanischen Kontinentes den Einwandernden jenes Leben tatsächlich erlaubten, das sie sich erhofften, auch wenn die bestehenden gesamtwirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen enorme Probleme bereiteten. Die die Geschlechterdifferenz berücksichtigende Geschichtswissenschaft hat sich in jüngster Zeit auch der Wanderungsgeschichte zugewandt und aufmerksam gemacht darauf, daß sich sowohl die Motivationssituation wie auch die Rahmenbedingungen weiblicher Wanderung und Akkulturation von den bis anhin als allgemein beschriebenen, nun als männlich begriffenen Phänomenen unterscheiden. Forscherinnen bemühen sich deshalb, Quellenmaterial und Methoden seiner Befragung zu finden, was über die Wanderungsprozesse geschlechterdifferent Auskünfte geben soll (z.B. Ziegler 1994). Die Massenauswanderung nach Lateinamerika war in hohem Maße organisiert. Das heißt, daß Kolonisationsgesellschaften oder der Staat sich um Einwanderer bemühten und die Anwerbung, Reise und Ansiedlung von Gruppen

^Binnenwanderungen von Frauen wurden vor allem im Rahmen von Untersuchungen über Dienstmädchen beschrieben: Walser 1985; Wierling 1987; Bochsler/Gisiger 1989. ,4 Für die Schweiz programmatisch Gruner 1980.

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von Menschen organisierten. Sie sorgten zum Teil für Publikationen in den Auswanderungsregionen (Broschüren, Zeitungsartikel usw.) oder zogen ein Agentennetz auf. In einigen Fällen standen sie sogar mit den Behörden unmittelbar in Verbindung, um so die Anwerbung von Familien zu beschleunigen. Diese Art der Auswanderungsorganisation hebt sich ab von der für das Zielland USA üblichen, bei der sich die Emigranten meist auf eigene Faust zu organisieren hatten. Der hohe Grad an Organisiertheit der Lateinamerika-Auswanderung bedeutet gleichzeitig, daß der Entscheidungsspielraum für den Einzelnen beschränkt war: Angeworben wurde für eine bestimmte Siedlung, ein bestimmtes Kolonisationsprojekt; hier waren die Auswanderer meist zumindest für einige Jahre fixiert, oft auch finanziell gebunden. Mit der Organisiertheit mag es zusammenhängen, daß es aus Lateinamerika eine verhältnismäßig geringe Rückwanderung gegeben hat. — Allerdings muß einschränkend bemerkt werden, daß diese auch nie genauer untersucht worden ist. Aussagen über diese Problematik sind also nur bedingt verläßlich. Weitere Gründe für die geringe Rückwanderung mögen darin liegen, daß die Überfahrtskosten hoch waren. Die Siedler lebten meist in Verhältnissen, in denen es ihnen nicht möglich war, Mittel dafür zu sparen. In einzelnen Kolonien mag es ferner eine Rolle gespielt haben, daß der hohe Gruppendruck den Ausstieg erschwerte. Argentinien stellt in bezug auf die Rückwanderung, wie bereits erwähnt, eine Ausnahme dar. Möglicherweise liegt dies daran, daß verhältnismäßig viele Einwanderer nicht selbständige Siedler, sondern Angestellte wurden.

Ansiedlung zwischen Einfügung und Abkapslung Die Siedlungsgebiete deutschsprachiger Einwanderer sind nur zum Teil erforscht. Grundlegende Werke zu den Siedlungen in Chile und in den südlichen Regionen Brasiliens (Rio Grande do Sul) haben unsere Kenntnisse über den Siedlungsprozeß, Fragen der Integration und Assimilation und der sozialen Schichtungen sowie kultureller Einbettungen erweitert. Dennoch bleiben erhebliche Lücken. Nicht nur fehlen genauere Kenntnisse über viele Regionen, sondern es gibt auch wichtige Fragestellungen, die nicht oder nur teilweise untersucht worden sind. Siedlungsgründungen bedeuteten in den ersten Jahren meist harte, aufreibende Arbeit. Die enormen Herausforderungen stärkten die Zusammenarbeit der Siedler und schufen ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das sich als Pioniertum verstand. Diese Phase des Aufbaus wird denn auch in Erinnerungsschriften immer wieder beschworen. Auf die Sicherung der unmittelbaren Lebensbedürfnisse folgte, nochmals in vorwiegend gemeinschaftlicher Arbeit, der Aufbau der sozialen Infrastruktur: Schule, Kirche, Vereine usw. Am Modell der alten Heimat entstand das neue Gemeinwesen. Kolonien waren in den seltensten Fällen utopisch, vielmehr sozial konservativ, orientiert an dem, was man aufgegeben

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hatte.15 Die deutschen Siedlungsgebiete waren meist abgelegen von (größeren) Ansiedlungen der Gastgesellschaft. Dies und die Tatsache, daß die soziale Schichtung der lateinamerikanischen Länder den bäuerlich-handwerklichmittelständischen Siedlern keinen sozialen Ort zuweisen konnte, der auch ihrem Anspruch auf eine Mittelschicht-Existenz entsprochen hätte, dürften dazu beigetragen haben, daß sich die Kolonisten abkapselten, Selbstbehauptungs- und Überlegenheitsgefühle entwickelten und ihre Besonderheit betonten. Der Prozeß der Abschottung der deutschen Siedlungen ist häufig beschrieben worden. Dennoch steht eine detaillierte Analyse dieses Prozesses in der Wechselwirkung mit der Gesellschaft des Gastlandes noch aus. Insbesondere ist nach den Kräften zu fragen, die sich gegen eine Selbstisolation oder gegen den Charakter des "Siedlungsgeistes" wehrten und danach, warum sie unterlagen. Es gilt also auch, den "Abtrünnigen" nachzugehen. Im Falle der schweizerischen Kolonisten im deutschsprachigen Siedlungsgebiet ist zudem zu fragen nach ihrem Weg zwischen der Betonung des "Schweizerischen" und dem Aufgehen in der Gesamtkolonie (Ziegler 1983). Es steht kaum in Frage, daß solche Prozesse mit abhingen von der Stellung im sozialen Gefüge der Kolonie, auch wenn die Siedlungsideologie zum Beispiel Schichtunterschiede zu überdecken suchte. Ebenfalls vielfach beschrieben, aber nicht erklärt ist die zunehmende Orientierung vieler deutscher Kolonien am neu zusammengeschlossenen Deutschen Reich und seinen politisch-militärischen Erfolgen. Es ist einerseits nach den Verbindungen der Kolonien zur Wirtschaft und Gesellschaft des Gastlandes und des Deutschen Reiches zu fragen, andererseits nach den Bemühungen in deutschen Kreisen, die Verknüpfungen mit den deutschen Siedlungsgebieten zu wirtschaftlichen und politischen Zwecken zu intensivieren. In diesem Zusammenhang wäre ferner zu prüfen, weshalb gerade die ehemaligen Achtundvierziger, die zum Teil erheblichen Einfluß auf die Gestaltung der Kolonien genommen hatten, in die sie nach dem Scheitern der Revolution ausgewandert waren, zu den treibenden Kräften dieser großdeutschen Orientierung wurden. Dem Prozess der Nationalisierung der deutschen Siedlungsgebiete — vor allem im Vorfeld und während des Zweiten Krieges — konnten sich die meisten Kolonien kaum entziehen. Ein wesentliches Element dabei war das Verbot, die deutsche Sprache zu sprechen, ein weiteres die Vorschriften für die deutschen Schulen, die Landessprache in der Grundschule zu unterrichten. Dieser — in vielen Teilen für die Betroffenen schmerzhafte — Prozeß hat die Beziehungen der Siedlungen zu ihrer Umgebung nachhaltig verändert: Das Ghetto wurde aufgebrochen, und der Weg zur Integration in die Gesamtgesellschaft, beziehungsweise die ernsthafte Auseinandersetzung mit ihr wurden möglich und notwendig. Auch diese Entwicklung ist bis heute in ihren Konsequenzen und in

"Die Kolonie Campos Sales in Säo Paulo am Ende des 19. Jahrhunderts war von den schweizerischen Auswanderern als fourieristisches Experiment geplant. Die Anlage der Kolonie machte seine Erprobung unmöglich.

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ihren Bedingtheiten durch wirtschaftliche Entwicklungsprozesse nicht untersucht.16

Elitenwanderung Elitenwanderung folgte und folgt anderen Ursachen und Motiven und verläuft anders als Massenwanderung. Elitenwanderung umfaßt die Wanderung einzelner Personen bzw. Familien, die qualifizierte Berufe ausüben. In der Regel ist Elitenwanderung eine Urbane Wanderung. Es handelt sich bei den Wandernden in ihrer Mehrheit um junge, anfanglich unverheiratete Männer, die in ihrem Beruf weitere Erfahrungen sammeln (z.B. Künstler) oder ihre Karriere durch den Auslandaufenthalt aufbauen wollen. Die Rückwanderung ist meist vorgesehen. Der Charakter der Einzelwanderung folgt eher dem Strukturwandel des Ausund Einwanderungslandes als den konjunkturellen Schwankungen. Auch wenn die Elitenwanderung in der Regel nicht durch Krisen bedingt ist, kann nicht ausgeschlossen werden, daß dem Auswanderungswilligen sein Beruf in der Heimat eine unbefriedigende Existenz bot, oder daß ihm längerfristig der soziale Abstieg drohte. Diese Zusammenhänge sind allerdings wenig bekannt. Der Fall der kaufmännischen Angestellten oder Techniker (König 1985, insbes. 154-158, 373-376) einerseits, der Gouvernanten und Kindermädchen (Bühler 1985, v.a. 142-145) andererseits weisen auf solche Zusammenhänge hin. In die lateinamerikanischen Länder wanderten insbesondere Kaufleute ein. Sie machten in der Regel den größten Teil der Ausländer in den Städten aus. In einigen Staaten waren Bergbaufachleute zumindest über eine gewisse Zeitspanne hinweg sehr gut vertreten. Daneben lebten auch persönliche Vertraute bzw. Offiziere sowie auch Dienstboten in der Umgebung der kolonialen und nachkolonialen Verwaltungen. In den Hauptstädten, aber auch in wichtigeren Städten der Provinz hatten sich schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Handwerker sowie Unternehmer kleinerer Manufaktur- oder Industriebetriebe niedergelassen. Die Anzahl der Angehörigen dieser Berufszweige war und blieb aber meist gering. Einzig in den Staaten, in denen Deutsche, Schweizer und Österreicher auch massenweise einwanderten, gab es eine sekundäre Wanderung in die Städte. Dort kann von größeren Zahlen bei Handwerkern und Gewerbetreibenden ausgegangen werden (Bernecker 1988b). Handwerker stehen im übrigen am Rande der beiden Wanderungstypen, der Massen- und der Elitenwanderung. Ihre Herkunft und soziale Stellung stellen sie in den meisten Fällen mitten in die Massenwanderung (Schuhmacher, Wagner, Gerber vor allem ländlichen Ursprungs u.a.). Insbesondere Handwerker städtischer Herkunft gehörten jedoch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts oft völlig anderen sozialen Kreisen an. So entstammten nicht wenige reich gewordene Kaufleute städtischem Handwerkerstand.

"Vgl. Waldmann 1988; für offene Fragen vgl. Tobler/Waldmann 1980.

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Neben diesen Gruppen finden sich auch Wissenschafter und Künstler unter den Fremden in Lateinamerika. Wenn ihr Lebensweg Beachtung gefunden hat, dann allerdings kaum als Beispiel im Rahmen der Historischen Wanderungsforschung, sondern als singuläre Erscheinung. Sie wird mit den Geistesströmungen des Auswanderungs- und des Gastlandes verknüpft, aber nicht gemeinsam mit anderen Künstlern als Angehörige einer bestimmten sozialen Gruppe untersucht.

Kaufleute: Teil nationaler Eliten oder Vertreter imperialistischer Interessen Die zahlenmäßig bedeutendste Gruppe innerhalb der Elitenwanderung sind im 19. Jahrhundert, wie bereits erwähnt, die Kaufleute. Ihre oft herausragende soziale Stellung und die vergleichsweise zahlreichen Erfolgsgeschichten ziehen die Aufmerksamkeit auf sich. Trotzdem ist auch diese Gruppe noch kaum untersucht. Meist wanderten junge Kaufleute, die in ihrer Heimat über ein Netz wirtschaftlicher Beziehungen verfügten, ja oftmals Kaufmannsfamilien entstammten, in Städte, wo eine reiche Oberschicht sowie die entstehende Urbane Mittelschicht über Kaufkraft verfügten. Vielfach traten sie in ein bestehendes Handelshaus (oft schon mit Prokura) ein und arbeiteten sich rasch zum Partner des Inhabers empor, der den jungen Mann meist auch in dieser Absicht angeworben hatte. Der Kaufmann wurde in die besseren Gesellschaftskreise eingeführt, er lernte die Ausländerkolonien der Stadt kennen und festigte seine Stellung und die des Geschäftes nicht nur mit seiner kaufmännischen Tüchtigkeit, sondern auch mit seinem sozialen Umgang. In gesicherter Stellung verheiratete er sich oftmals auf einer seiner Reisen in Europa oder mit einer Frau der einheimischen Oberschicht. Wenn er auch der deutschen Sprache treu blieb, erlernte er die Landessprache. Seine Reisen sicherten die Kontakte mit seinen Lieferanten, aber auch die sozialen Beziehungen mit den Familien seiner Herkunftsregion. Neben seinem Geschäft, in dessen Hinterräumen er manchmal zunächst auch gewohnt hatte, erwarb er sich schließlich ein Wohnhaus oder sogar ein Landgut. Sein Vermögen legte er zum Teil in Unternehmungen im Gastland an (Aktien/Staatspapiere, Farmen, Eisenbahnbau, Minen, Kolonisationsunternehmen, Industrieanlagen). Er transferierte aber auch Vermögensteile in seine Heimat. Die Kaufleute wurden in der Regel politisch nicht tätig, aber sie machten ihren Einfluß über Handelskammern oder andere Interessenzusammenschlüsse geltend. Untersuchungen haben gezeigt, daß sie in der Regel für eine Entwicklung des Landes im Sinne des Aufbaus von Infrastrukturen (Elektrizität, Eisenbahnbau, Trambetriebe usw.), der Erschließung des Landes nach außen (Hafenanlagen) und geregelter Verwaltung und Rechtssprechung eintraten. Sie gerieten dabei nur selten in Konflikt mit einheimischen Oberschichtsangehörigen. Vielfach bestand eine enge Interessenverbindung zwischen diesen und den ausländischen Kaufleuten, so daß diese Gruppen zuweilen unter dem Stichwort der nationalen Elite als ein Ganzes analysiert werden (Bernecker 1988b; Ziegler 1988).

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Es steht außer Frage, daß diese ausländischen Kaufleute enge Verbindungen nach Europa unterhielten und in Übereinstimmung mit den Interessen der dortigen Exporteure handelten.17 Sie können deshalb gemäß anderen Untersuchungsansätzen als Brückenkopf europäischer Mächte und später der USA gesehen werden. Dies gilt insbesondere für die englischen Kaufleute, die fast das ganze 19. Jahrhundert hindurch in den lateinamerikanischen Ländern eine Vorrangstellung innehatten und von einer Macht geschützt handelten sowie die Handelsinteressen durchaus mit politischem Druck durchzusetzen bereit war.18 Auch wenn die Vormacht der Engländer erdrückend war und die USAmerikaner später ihre Position übernahmen, darf das Gewicht der deutschen oder auch schweizerischen Kaufleute nicht unterschätzt werden. Sie vertraten gewichtige Exportindustrien. Gerade die deutschen Händler in den Ländern des Cono Sur verfügten zusätzlich über Prestige, weil die Zahl ihrer Landsleute im jeweiligen Gastland und deren wirtschaftliche Kraft erheblich waren. Dieses Ansehen brauchte durchaus nicht den tatsächlichen Beziehungen zwischen Kaufleuten und städtischen deutschen oder schweizerischen Kolonien zu entsprechen. Über diese Verbindungen wissen wir zu wenig. Allerdings deuten Angaben der bisherigen Untersuchungen darauf hin, daß die Kontakte ausschließlich beschränkt waren auf feste Anlässe, das heißt auf nationale Feiertage, auf den Jahrestag des Schweizer Vereins oder der Deutschen Kolonie u.ä. Es scheint, daß die soziale Schicht weit eher die Zugehörigkeit bestimmte als nationale Gemeinsamkeit, auch daß die Kolonien stark hierarchisiert waren. So scheint es, daß vor allem Leute aus dem Mittelstand Träger und Organisatoren des Koloniallebens waren, und daß die Kaufleute und andere Oberschichtsangehörige führende Stellungen einnahmen.

Der Fortgang Die Kolonien haben sich im zwanzigsten Jahrhundert nochmals stark verändert. Einerseits ist die Kaufmannsschicht verschwunden, andererseits ist der Handwerker- und gewerbliche Mittelstand in seiner sozialen Stellung bedroht, tendenziell deklassiert und in der Folge nationalisiert worden. Diese Krise der alten Kolonien hat sich mit der Tatsache verbunden, daß die neueren Zuwanderer nur noch für wenige Jahre ins Land kommen, da sie als Kontraktarbeiter großer Firmen Verträge für wenige Jahre unterschreiben und anschließend in ein anderes Land oder in die Heimat gehen. Dies hat dazu geführt, daß solche Einwanderer Fremde bleiben, und daß die so geformten vor allem städtischen Kolonien klar den Charakter von sozialen Enklaven erhalten haben. Was sie auch in dieser Form z.B. im Schulwesen geleistet haben und noch leisten, ist in anderen Essays dieses Sammelwerkes nachzulesen. Desgleichen der in den

"Zu schweizerischen Kaufleuten in Brasilien und Mexiko vgl. auch Veyrassat 1993. "Zur Kaufmannselite in Brasilien vgl. Ridings 1982.

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dreißiger und vierziger Jahren gerade für die Deutschen und Österreicher so schicksalsträchtige Aspekt Lateinamerika als Kontinent der Zuflucht. Insgesamt darf man heute sagen, daß die während rund eineinhalb Jahrhunderten durch deutsche, schweizerische und österreichische Einwanderung in Lateinamerika entstandenen Kolonien ihren einst ziemlich geschlossenen Charakter verloren haben und in den 70er und 80er Jahren altershalber oder durch Integration in die Gastgesellschaft weitgehend untergegangen sind, mit Ausnahme der territorial verwurzelten und geschlossenen Agrarkolonien in Brasilien und Chile. Die Suche nach Brot, Sicherheit und Freiheit muß — für die Lateinamerikaner bedauerlicherweise — seit längerem in umgekehrter Richtung erfolgen.

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Lateinamerika als Zuflucht: 1933 bis 1945 Anne Saint Sauveur-Henn

Allgemein wird Lateinamerika mit der Auswanderung deutscher Nationalsozialisten nach dem II. Weltkrieg in Verbindung gesetzt und die Rolle dieses Kontinentes als Zuflucht deutscher Hitleropfer oder -gegner verkannt. Auch die Forschung endeckte die beträchtliche Bedeutung Lateinamerikas zwischen 1933 und 1945 für die deutschen Emigranten erst kürzlich. Dabei scheinen sowohl die Entstehungsgeschichte der deutschen Lateinamerikaemigration als die Charakteristiken der Emigranten sowie ihre Wirkung — die allerdings in einem eingeschränkten Rahmen nur skizziert werden können — von großem Interesse zu sein. Die Zeitspanne des Nationalsozialismus zwischen 1933 und 1945 hatte eine starke Emigration aus Deutschland von etwa einer halben Million Menschen zur Folge. Schon ab März 1933 wurden die Gegner des Regimes verfolgt, und im Herbst 1933 hatten die meisten gegen Hitler eingestellten Schriftsteller und Politiker das Land verlassen. Ihre Zahl war zwar nicht bedeutend, wohl aber ihre Wirkung im Ausland. Die deutschen Juden nahmen die Gefahr und vor allem die Notwendigkeit einer Emigration langsamer wahr. Bereits im April 1933 wurden die ersten antijüdischen Gesetze verabschiedet, insbesondere auf wirtschaftlicher und beruflicher Ebene. Die Nürnberger Gesetze vom 15. September 1935 verschärften die zivilen und politischen Einschränkungen im Leben der deutschen Juden, die nicht mehr als Bürger des Reiches galten und keine Arier mehr heiraten durften. Den Wendepunkt in den antijüdischen Gesetzen und infolgedessen in der Emigration, da bis dahin nur etwa ein Drittel der deutschen Juden emigriert war, bildete das Jahr 1938, insbesondere das Dekret vom 9. und 10. November 1938 nach der Kristallnacht, nach dem die Juden eine Sühnesteuer bezahlen mußten, weder studieren noch ihren Beruf als Arzt, Zahnarzt oder Händler ausüben durften. Die Politik Hitlers zielte bis 1941 auf eine Emigration der deutschen Juden ab, wenn sich auch die materiellen und finanziellen Emigrationsbedingungen, insbesondere ab 1937, verschärften, und die Fluchtmöglichkeiten durch den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges sehr stark eingeschränkt wurden. Für die Aufnahme dieser Emigration bot sich Lateinamerika an, zumal die Chancen in Europa, insbesondere in Frankreich, den Niederlanden und der Tschechoslowakei immer geringer wurden. Zwei Drittel der jüdischen Emigranten fanden 1933 noch Zuflucht in Europa, ab 1937 blieb nur ein Viertel in Europa, 60 % gingen nach Übersee und 15 % nach Palästina. Innerhalb der Überseeländer stieg die Emigration nach Lateinamerika ständig: Sie wurde im Juni 1935 auf 3,7 % der gesamten Emigration geschätzt, im März 1936 auf

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11,3 % und im Dezember 1937 auf 13,4 %, wobei die meisten Emigranten erst ab 1938 Lateinamerika erreichten.1 Viele lateinamerikanische Länder, insbesondere die La Plata-Staaten, waren von jeher Einwanderungsländer und hatten schon vor 1933 viele Europäer, darunter Deutsche, aufgenommen. Alle betrieben eine liberale Einwanderungspolitik, wenn auch ab 1938 Restriktionen die Einwanderung erschwerten. Als großes Land mit äußerst niedriger Bevölkerungsdichte (4,5 Bewohner pro km2 1939), mit einem Ungleichgewicht zwischen Stadt und Land (ein Viertel der Bevölkerung lebte in der Hauptstadt), mit vielen wirtschaftlichen Möglichkeiten und einem dringenden Bedarf an Arbeitskräften, war Argentinien ein Einwanderungsland par excellence. So betrieb Argentinien schon seit der Verfassung von 1853 eine sehr liberale Einwanderungspolitik, die das Recht auf Immigration verankerte und ab 1876 den Immigranten gewisse Vorrechte gewährte, da sie die ersten fünf Tage nach der Ankunft vom Staat unterhalten wurden, die Arbeitsämter bei der Arbeitssuche halfen, und die Kolonisten kostenlos in die Provinz befördert wurden. Diese Gesetze blieben nach 1933 gültig, aber einige Einschränkungen im Dekret vom 26. November 1932 erschwerten die Einwanderung, da die Ankömmlinge den Beweis erbringen mußten, daß sie sich selbst versorgen konnten, und weil nun das Nachkommen von Verwandten durch die llamada neu gerregelt wurde: Die bereits Eingewanderten mußten schon seit zwei Jahren in Argentinien leben und sich dazu verpflichten, für die Verwandten aufzukommen. Diese für die deutsche Emigration oft folgenreichen Restriktionen führten zu heftigen Debatten im Parlament.2 Die Entwicklung war in allen lateinamerikanischen Ländern ähnlich: Auch in Brasilien war die Einwanderung ursprünglich durch das Gesetz sehr einfach geregelt, es wurden Dauervisen erteilt. Ab Mai 1934 konnten Verwandte bis zum dritten Grade, Landarbeiter, Vertragsangestellte sowie Techniker durch die chamadas ins Land geholt werden. Doch wurde die Einwanderung eingeschränkt, vor allem ab Juli 1937, als fast keine Visa mehr ausgestellt wurden; ab Ende 1938 regelte ein neues Gesetz die Quoteneinteilung von 80 % Landwirten unter den Immigranten und die Sperrung von Touristenvisen für Europäer. Ähnlich verlief die Immigrationspolitik in Kolumbien, wo die liberalen Einwanderungsgesetze im Oktober 1938 verschärft wurden und sich vor allem gegen die Juden auswirkten, aber doch die Möglichkeit der llamada bestand. In Paraguay konnte den Einwanderern, trotz der gesetzlichen Beschränkung der Immigration von Juden ab 1937, weiterhin der Zutritt ermöglicht

'Die Prozentsätze wurden errechnet nach den Angaben von Rosenstock 1956, 379-381, 385 und Simpson 1939, 563. 2 Siehe z.B. Congreso Nacional, Cámara de diputados (Buenos Aires), 9. und 10. August 1939, 839, 844, 847, 849; s.a. Jackisch 1989, 121-126.

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werden. In Ecuador wurde nach dem neuen Gesetz von 1941 jede Einwanderung ohne Rücksicht auf Rasse und Herkunftsland zugelassen, ähnlich in Mexiko.3 Wenn davon ausgegangen werden kann, daß etwa 16 % der deutschen Emigranten Zuflucht in Lateinamerika fanden, so stößt der Versuch einer genaueren statistischen Erfassung der Emigration nach Lateinamerika auf viele Schwierigkeiten. Für diese Zeitspanne sind nämlich die offiziellen deutschen Statistiken kaum auszuwerten, da sie nur einen Bruchteil der Emigration erfassen und die Emigration nach Lateinamerika oft nicht direkt erfolgte. Die südamerikanischen Statistiken sind entweder Einwanderungsstatistiken von den verschiedenen Einwanderungsämtern oder Schätzungen von deutschen Hilfsvereinen in Südamerika. Beide Quellen weichen voneinander ab, geben aber — bei aller Vorsicht gegenüber den genauen Zahlen — Auskunft über die unterschiedliche Rangordnung der einzelnen lateinamerikanischen Länder. Die gesamte jüdische Emigration nach Lateinamerika wurde nach dem Jewish Joint Distribution Committee von 1933 bis 1941 auf 83.150, nach dem Hilfsverein deutschsprechender Juden in Argentinien von 1933 bis 1943 auf 111.250 Personen geschätzt.4 Beide Quellen stufen Argentinien als erstes Einwanderungsland ein (35.000 bzw. 45.000), gefolgt von Brasilien (16.000 bzw. 25.000) und Chile (13.000 bzw. 12.000). Uruguay und Bolivien nahmen jeweils etwa 6.000 Emigranten auf, die übrigen lateinamerikanischen Länder spielten eine untergeordnete Rolle (zwischen 2.800 und 500 Emigranten). Alle Schätzungen führen insgesamt zu dem Ergebnis, daß über 90 % der Emigranten in den La Plata-Staaten Zuflucht fanden, wobei Argentinien 30 bis 40 % der Lateinamerika-Emigranten aufnahm, Brasilien etwa 20 % und Chile zwischen 11 und 15 %. Zu der jüdischen Emigration kommt die politische hinzu, die noch schwieriger zu ermessen ist. Allgemein wird sie auf zwischen 8 und 10 % der Gesamtemigration geschätzt, wobei der Prozentsatz im liberalen Mexiko höher ist. Insgesamt dürfte die deutsche Emigration nach Lateinamerika zwischen 1933 und 1945 etwa 100.000 betragen haben.5 Der Weg in die Emigration nach Lateinamerika war oft rein zufällig. Viele Emigranten kamen indirekt nach Lateinamerika: So wohnten 30 % der vom Hilfsverein in Argentinien unterstützten Emigranten vor ihrer Ankunft in einem anderen Land als Deutschland oder Österreich, zum Beispiel Frankreich, Spanien,

'Siehe die verschiedenen Berichte über einzelne Länder in Zehn Jahre... 1943,208, 210, 252, 276, 292 und Vernant 1953, 613. 4 Mitteilungsblatt 1941 (VII, 91, Oktober, 12, 13); Zehn Jahre... 1943, 8, 9. 'Strauß in Röder/Strauß (1980, II: XXII) schätzt die Zahl der Emigration nach Lateinamerika auf zwischen 70.000 und 93.000. Gr schätzt die Emigranten nach Argentinien niedriger ein, doch die Rangordnung der Länder Lateinamerikas wird von ihm bestätigt. V. z. Mühlen (1988, 49) schätzt die Gesamtzahl auf zwischen 75.000 und 90.000 Emigranten.

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Holland, Jugoslawien und der Schweiz (Zehn Jahre... 1943, 47). Der Erwerb eines Visums entschied oft zufallig für ein bestimmtes Land: Z.B. hatte eine Gruppe von deutschen Juden ein Visum für Brasilien in Aussicht gestellt bekommen und lernte zur Vorbereitung Portugiesisch, erhielt aber letztendlich ein Visum für Bolivien. Eine Frau suchte mit allen Mitteln ein Visum, um ihren Mann aus dem KZ herauszuholen; sie konnte eines für Paraguay kaufen, doch erfuhr sie, daß der Übergang nach Paraguay geschlossen war, daraufhin erwarb sie ein bolivianisches Visum und gelangte später nach Argentinien. Verschiedenste Zufälle konnten das Reiseziel bestimmen: So hatte eine junge Frau ein Visum für die Vereinigten Staaten, ihr Bruder eines für Neuseeland, doch als sie erfuhren, daß die Einreise mit einem Fahrschein erster Klasse nach Argentinien sofort möglich war, emigrierten sie beide dorthin. Auch die sogenannte llamada, d.h. die Möglichkeit in Argentinien nach zwei Jahren Verwandte nachkommen zu lassen, vorausgesetzt, man konnte ihren Unterhalt bestreiten, entschied nach manchmal sehr schwierigen administrativen und finanziellen Problemen über den Weg in die Emigration. Manchmal kamen aber die llamadas zu spät: So konnte es geschehen, daß die nötigen Dokumente nicht rechtzeitig vorgelegt werden konnten und die Verwandten im KZ starben.6 Die Schwierigkeiten hingen auch mit den Transportmitteln zusammen. So blieb die frühere Reiseroute nach Ecuador über Kuba und Panama geschlossen, als Kuba den Achsenmächten den Krieg erklärte. Auch der Weg über Venezuela und Kolumbien erwies sich als sehr schwierig, wenn nicht vorher ein Transitvisum für Kolumbien oder ein Flug nach Ecuador beschafft wurde. Eine Regelung dieses Problems erfolgte erst spät, so daß viele Einwanderungsvisa für Ecuador, die schon zu Beginn des Jahres 1941 erteilt worden waren, nicht verwendet werden konnten (Zehn Jahre... 1943, 280). Die Emigranten waren manchmal dem Betrug gewisser Mittelsmänner ausgesetzt, die gegen Geld ein Visum versprachen, welches sich später als wertlos erwies. So wuchs die illegale Immigration. Emigranten nahmen z.B. ein Visum nach Bolivien oder Paraguay an, wanderten dann nach Argentinien illegal ein, so daß Länder wie Bolivien, Uruguay, Paraguay viele Durchwanderer aufnahmen. Andere Emigranten kamen als Touristen an und versuchten, durch Bestechung nach ein paar Jahren ihre Papiere legalisieren zu lassen. Dies war in Brasilien nach der Einschränkung der Einwanderungsmöglichkeiten öfters der Fall. Die Probleme der Legalisierung verschärften sich dort so, daß Ende 1936 70, Ende 1937 80 Touristen-Einwanderer zurückgewiesen und nach Uruguay, Paraguay oder Argentinien abgeschoben wurden. Einigen gelang es, später nach Brasilien zu kommen.7

'Interviews mit jüdischen Emigranten in Buenos Aires, vgl. Saint Sauveur-Henn 199S, 223-236. 'Fragebogen an Deutsche in Buenos Aires, Saint Sauveur-Henn 1982, 213; und Zehn Jahre... 1943, 208.

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Die deutsche Emigration nach den verschiedenen lateinamerikanischen Ländern weist gemeinsame strukturelle Merkmale auf. Sie ist allgemein eine städtische Immigration: 95 % der zwischen 1936 und 1940 in Argentinien eingewanderten Deutschen blieben in Buenos Aires, in Lima war der Prozentsatz genauso hoch, in Asunción 70 %, in La Paz und Bogotá etwas mehr als die Hälfte. 8 Die Kolonisten unter den Emigranten waren eine Minderheit, die man auf höchstens S % schätzen kann. Dies hängt mit der Berufsstruktur der Emigranten zusammen: Nur 3 % der zwischen 1933 und 1943 in Argentinien eingewanderten Emigranten waren Landwirte, 30 % dagegen Kaufleute.9 Allgemein unterschied sich die Emigration nach Lateinamerika von der früheren Struktur der deutschen Auswanderung, wie es das Beispiel Argentiniens zeigt, das die meisten Emigranten aufnahm. Die Emigration war nicht mehr vorrangig ein männliches Phänomen: Bis 1932 betrug der Prozentsatz der Männer 60 bis 70 %, zwischen 1933 und 1938 nur noch 50 % bis 55 % und ab 1938 waren es überwiegend Frauen. Es war auch keine junge Einwanderung mehr: 1923 war die Hälfte der männlichen deutschen Immigranten zwischen 18 und 30 Jahren alt, 1938 nur ein Viertel. Die Emigration ist nun eine Familienemigration geworden: 1923 verließ nur ein Drittel der Auswanderer Deutschland mit der Familie, ab 1938 stieg dieser Anteil auf mehr als die Hälfte. Diese charakteristische Struktur hängt natürlich mit den Umständen der Emigration zusammen.10 Um die Anpassungsschwierigkeiten der Emigranten zu mildern, wurden in ganz Lateinamerika Hilfsorganisationen ins Leben gerufen. Die ersten wurden schon 1933-34 gegründet, so der Hilfsverein deutschsprechender Juden in Buenos Aires, das "Comité Israelita de Socorros" in Santiago de Chile, die "Sociedade Israelita Paulista" in Säo Paulo, das "Gomicol" in Peru. In Kolumbien, Ecuador, Uruguay und Paraguay entstanden jüdische Hilfsvereine zwischen 1936 und 1939. Alle Vereine verfolgten ähnliche wirtschaftliche und soziale Ziele, die sich natürlich je nach Land und Umfang des Vereins unterschieden: Den Immigranten wurden Darlehen oder finanzielle Unterstützungen angeboten, sowie Rechtsbeistand bei der Antragstellung oder Legalisierung der Papiere,

'Dirección General de Inmigración (Buenos Aires). Estadística del Movimiento Migratorio. 1936-1940. "Permisos individuales concedidos, capital e interior". Für die anderen Länder wurden die Statistiken errechnet nach den Angaben in Zehn Jahre... 1943, 172, 254, 284, 294, 300. 'Nach dem argentinischen Einwanderungsamt gingen 5 % der zwischen 1936 und 1940 eingewanderten deutschen Immigranten ins Landesinnere, 6 % der Übersee-Immigranten zwischen 1933 und 1941 waren Kolonisten mit einem Vertrag. Dirección General de Inmigración. Estadística del Movimiento Migratorio. "Permisos individuales" und "Pasajeros extranjeros de 2a y 3* clases procendentes de ultramar". S.a. Saint Sauveur-Henn 1994a, 155ff. Von zur Mühlen (1988, 109) schätzt die Zahl der Landwirte unter den Emigranten auf 2 bis 4 % der gesamten Lateinamerika-Emigration. '"Die Ergebnisse beruhen auf einer Analyse verschiedener argentinischen Statistiken. S.a. Saint Sauveur-Henn 1994, 409-424.

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Beratung bei der Arbeitssuche bzw. Umschulung, Sprachkurse zum Erlernen der Landessprache, materielle Hilfe bei der Beschaffung von Wohnung, Kleidern und gegebenenfalls Nahrung. Je nach Land übernahmen die Hilfsvereine ebenfalls kulturelle Aufgaben und unterhielten Kinder- oder Altenheime. Finanziell wurden die Hilfsvereine zum Teil von den schon vor 1933 ansässigen deutschen Juden unterstützt, zum Teil durch zwei in den Vereinigten Staaten bestehenden Dachorganisationen: das American Jewish Joint Committee (Joint) und die Hias-Ica Emigration Association (Hicem).11 Die Minderheit der jüdischen Kolonisten verfügte über eigene Hilfsvereine: so die seit 1891 bestehende "Jewish Colonization Association" in Argentinien oder die "Sociedad Colonizadora de Bolivia". Auch die politischen Emigranten konnten sich an Organisationen wenden, allerdings fast ausschließlich in Buenos Aires, wo am 7. Juni 1937 die Bewegung Das Andere Deutschland gegründet wurde, die zunächst als Hilfsverein für die Opfer des Nationalsozialismus tätig war und ohne Rücksicht auf Rasse oder politische Überzeugung finanzielle und juristische Unterstützung gewährte.12 Trotzdem blieb die Anpassung an das Gastland sehr schwer. Der Emigrant litt unter seiner Situation, er wurde "allem, was ihm teuer war, entrissen, in eine fremde Welt zurückgestoßen und mußte für sein Leben sehr hart kämpfen" {Mitteilungsblatt 1935, II, 21, November, 11). Er war weder physisch noch materiell auf die Emigration vorbereitet gewesen. Die allermeisten besaßen bei der Ankunft keine Kenntnisse der jeweiligen Landessprache, hatten oft ihr Gut in Deutschland zurücklassen müssen und fühlten sich im Gastland deklassiert. Besonders schwierig war die berufliche Lage. Viele Akademiker mußten sich umschulen lassen; so zum Beispiel in Argentinien eine Rechtsanwältin, die zunächst als Hausangestellte, später, als sie Spanisch gelernt hatte, als dreisprachige Sekretärin arbeitete; ein Ingenieur arbeitete als Mechaniker, ein Medizinstudent als Portier. Die Akademiker mußten alle Examina erneut ablegen. Am schwierigsten war die Umgewöhnung für die älteren Leute, die nur schwer die neue Sprache erlernten, unter dem Klima und unter der Abhängigkeit von ihren Kindern litten. Allgemein brauchten die Emigranten mehrere Jahre, um sich eine neue Existenz aufbauen zu können.13 Bei der ersten Emigrantengeneration fand keine Assimilierung statt, wie dies am Beispiel Argentiniens verdeutlicht werden soll.14 Die Emigranten sprachen vorzugsweise Deutsch, vermischt mit spanischen Ausdrücken, so daß eine eige-

"Zehn Jahre... 1943, 22-36, 172, 240, 260, 278, 293, 300, 308; von zur Mühlen 1988, 34-39. 12 Dokumente des Anderen Deutschlands. In: Das Andere Deutschland, X (147/8), 1.8.1947. 10. "Interviews mit jüdischen Emigranten in Buenos Aires, Saint Sauveur-Henn 1995, 292296. Andere Beispiele von Integrationsproblemen in von zur Mühlen 1988, 53-60. '"Die folgende Analyse stützt sich auf Ergebnisse unserer Arbeiten: Saint Sauveur-Henn 1982, 249-276; 1995, 296-329.

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ne Variante entstand, in Buenos Aires "Belgrano-Deutsch" genannt, nach dem Namen eines Viertels, in dem besonders viele Deutsche wohnen. Sie lasen und lesen heute noch deutsche Zeitungen wie das Argentinische Tageblatt, kauften in deutschen Geschäften ein, in denen zum Teil heute noch Deutsch gesprochen wird. Auch im Alltag wird die Nicht-Assimilierung deutlich: Zahlreiche deutsche Traditionen wurden beibehalten, die dem Gastland fremd waren, so z.B. Weihnachtsstollen und frühes Abendbrot. Die Integration erfolgte oft zunächst unter den Emigranten. Nur wenige gingen völlig im argentinischen Milieu auf, die meisten blieben in einem eigenen Kreis, ohne Wurzeln im Herkunftsland und dem argentinischen Umfeld nicht ganz angepaßt. Der Kreis der früher meist aus wirtschaftlichen Gründen aus Deutschland Ausgewanderten, die zu Auslandsdeutschen mit oft sehr starker Neigung zum Nationalsozialismus geworden waren, blieb selbstverständlich den Emigranten verschlossen.13 Balder Olden, 1941 nach Buenos Aires emigriert, sprach sogar von zwei getrennten "Dörfern": "Wir haben nämlich ein Theater, die andern haben auch eins, wir haben jeder eine Zeitung, jeder eine Schule, Vereine, Vorträge [...]. Aber die Trennung ist so absolut, daß man in einem Dorf vergessen kann, daß das andere existiert." (Olden 1980, 73f.) Erst bei der zweiten Generation fand die Assimilierung statt: Im Unterschied zu den Kindern der früheren Auswanderer, die in Buenos Aires heute noch die deutsche Sprache und eine gewisse Beziehung zu Deutschland pflegen, sind die Kinder der Hitlerflüchtlinge im Gastland assimiliert, meist vermitteln sie die deutsche Sprache nicht weiter. Entscheidend waren also für den Assimilierungsprozeß die Gründe der Emigration. Einmal in Lateinamerika Immigranten geworden, hatten die deutschen Emigranten und Exilanten im jeweiligen Gastland eine vielseitige Wirkung. Auffallend ist bei den jüdischen Emigranten der große wirtschaftliche Erfolg, z.B. im Handel, in Textil-, Chemie- und Pharmaunternehmen (Schwarcz 1991, 265-278; von zur Mühlen 1988, 81-88). Im folgenden soll vor allem die politische und die kulturelle Wirkung der deutschen Emigranten an einigen konkreten Beispielen skizziert werden. Auch wenn die politischen Emigranten höchstens 10 % der Auswanderer ausmachten, spielten sie doch eine entscheidende Rolle und organisierten sich in zwei Bewegungen mit Sitz in Buenos Aires und Mexiko. Die erste politische Organisation der deutschen Emigranten in Lateinamerika war die Bewegung Das Andere Deutschland, am 7. Juni 1937 von Dr. August Siemsen, einem ehemaligen SPD-Reichstagsabgeordneten und Gründungsmitglied der SAP, mit zehn anderen Emigranten gegründet. Zunächst reine Hilfsorganisation, setzte sich Das Andere Deutschland, eine "Gruppierung politischer Gegner des Nationalsozialismus", vier Ziele: 1) den politischen Emi-

"Siehe Saint Sauveur-Henn 1995b, 27ff.

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granten zu helfen; 2) alle Antifaschisten zunächst in Argentinien, dann in Südamerika zu sammeln; 3) die Propaganda und die Nazitätigkeit zu enthüllen und sie zu bekämpfen; 4) der öffentlichen Meinung die Nazigefahr aufzuzeigen.16 Zu diesem Zweck gründete die Bewegung, die etwa 60 aktive Mitglieder und 200 interessierte Emigranten in Buenos Aires versammelt haben dürfte, eine Zeitschrift, ebenfalls Das Andere Deutschland genannt, deren Auflage auf zwischen 2.000 und 5.000 geschätzt, und die in fast allen südamerikanischen Ländern verteilt wurde.17 Sie enthielt in ihrem allgemeinen Teil Leitartikel und Berichte über Hitlerdeutschland und die antifaschistischen Aktivitäten in Lateinamerika; eine österreichische Seite unter Leitung von Ernst Lakenbacher betraf vor allem die Probleme Österreichs; "Heute und Morgen" unter der Federführung von Pieter Siemsen wandte sich vor allem an die emigrierte Jugend. Um das Wirkungsfeld zu erweitern, wurde ebenfalls ein Zusatz auf Spanisch, La Otra Alemania, veröffentlicht sowie Informationsblätter Informaciones para la Prensa Sudamericana (unter Leitung von Heinrich Grönewald), die in 200 bis 400 Exemplaren die Presseagenturen, Zeitschriften und Zeitungen über den Nationalsozialismus und die Oppositionsbewegungen informieren sollten. Die Organisation mit Sitz in Buenos Aires verfügte über andere Vereinigungen in ganz Lateinamerika: je drei in Bolivien, Chile und Brasilien, je eine in Paraguay, Kolumbien, Uruguay und Mexiko. Sie folgten, auch wenn sie zum Teil ein eigenständiges Leben führten, den sozialistischen Richtlinien ihrer Gründungsmitglieder. Unter der Leitung der KPD wurde 1942 in Mexiko eine zweite antifaschistische Organisation namens Freies Deutschland gegründet. Am 15. Oktober 1941 wurde sie zunächst als literarisch-politische Zeitschrift Freies Deutschland mit Chefredakteur Bruno Frei gegründet, um "Einheit im Kampf gegen Hitler" zu erzielen, 55 Nummern erschienen im Laufe von viereinhalb Jahren, die Auflage betrug etwa 3.500. Außerdem wurde 1942 eine spanische Beilage eingerichtet, Alemania Libre. Nachdem sich am 7. Januar 1944 die Leitung der KPD neu konstituierte, wurde am 28. Januar die Organisation BFD (Bewegung Freies Deutschland) mit Ludwig Renn als Präsidenten gegründet. Sie erklärte sich als Organisation aller Hitlergegner ohne Unterschied in der politischen und religiösen Herkunft, die auf der Seite der Anti-Hitlerkoalition für die Zerschlagung des deutschen Faschismus eintrat und bekannte sich zur Zusammenarbeit mit allen nationalen Befreiungsbewegungen gegen das faschistische Deutschland CFreies Deutschland, I 4, 15.2.1942; Kießling 1974,1 51-63). Auch in anderen südamerikanischen Ländern konstituierten sich Gruppen in Anlehnung an Freies Deutschland. So begrüßte in Buenos Aires die am 1. November 1941 von den

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Das Andere Deutschland und die antifaschistische deutsche Bewegung in Südamerika. In: DAD VI (58), 1. 1943. 17. ''Interview mit Rudi Levy in Buenos Aires; vgl. Saint-Sauveur-Henn 1982, 27-35; Seelisch 1969, 27.

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KP-Mitgliedern Rudolf Weimann, Adolf Freund und Erich Sieloff gegründete Zeitung Volksblatt den Kampf des Freien Deutschlands, in Uruguay bildete sich um das Deutsche Antifaschistische Komitee (DAK) 1942 ein Freundeskreis FD, in Chile wurde am 2. März 1942 eine BFD gegründet. Aber in all diesen Ländern lagen zwei politische Linien miteinander im Widerstreit: die der Kommunisten und die der Sozialdemokraten (Kießling 1974,158-165). So kam es zu Schwierigkeiten zwischen beiden Emigrantenorganisationen. Nach zahlreichen Diskussionen, in denen August Siemsen den Kommunisten vorwarf, "Chamberlains England und nicht Hitlerdeutschland" als Hauptgegner anzusehen, und die Kommunisten dem DAD eine antikommunistische und antisowjetische Haltung zum Vorwurf machten, wurde im November 1942 ein "Koordinierungsausschuß Deutscher Demokraten in Argentinien" (Comisión Coordinadora de los Alemanes Democráticos en la Argentina) unter der Präsidentschaft von Balder Olden gegründet und ein Aufruf veröffentlicht, um einen Kongreß in Montevideo zu organisieren "unter Zurückstellung aller bestehenden Meinungsverschiedenheiten"18. Der Kongreß, der 50 bis 70 Delegierte aus Argentinien, Uruguay, Brasilien, Bolivien und Paraguay, vor allem von der Organisation Das Andere Deutschland, aber auch Freies Deutschland versammelte, veröffentlichte in Montevideo am 30. Januar 1943 ein "Manifest der deutschen Antifaschisten Südamerikas", um vereint den Nationalsozialismus zu bekämpfen, und sandte einen Radioaufruf an das deutsche Volk, der auch von Moskau, New York und London ausgestrahlt wurde (DAD, VI 60, 3.1943, 15f.). Zwar fanden diese verschiedenen Zeugnisse der deutschen Nazigegner ein breites Echo in der Presse, doch scheiterte der Versuch einer Einigung aller Emigranten. Während des Kongresses wurde ein Kompromiß zwischen beiden Tendenzen gefunden und ein Comité Central Sudamericano gegründet, mit dem Ziel, die inneren Streitigkeiten zu beseitigen, den Kampf gegen die Fünfte Kolonne zu verstärken und die verschiedenen Hilfsorganisationen zu koordinieren. Doch bereits im Juni 1943 scheiterte der Versuch, die Comisión Coordinadora funktionierte bald nicht mehr, einige Gruppierungen verbanden sich mit dem DAD, andere mit dem Lateinamerikanischen Komitee der Freien Deutschen (LAK)". Das LAK war am 12. Februar 1943 mit Ludwig Renn als Präsidenten in Mexiko gegründet worden. Am 8. und 9. Mai 1943 fand dort der Landeskongreß des Freien Deutschlands mit 88 Delegierten statt, dem Appell "an die Deutschen in Lateinamerika" folgten verschiedene Vereinigungen (Pohle 1986,245,274-298). Doch gelang es auch dem LAK nicht, alle antifaschistischen Organisationen zu vereinigen. Trotz dieses Scheiterns beider Emigrantenbewegungen bei der Einigung aller Nazigegner zeugten beide davon, daß es "andere", "freie" Deutsche gab.

"DAD, VI (58), 1.1948,10; FD, II (3), 2.1943, 32; Kießling 1974, 155, 158. "Zu den Hintergründen der Trennung s. Saint Sauveur-Henn, 1995c.

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Lateinamerika war auch eine Zuflucht für zahlreiche deutsche und österreichische Künstler und Schriftsteller, die im Exil ihre kulturelle Arbeit fortsetzten.20 Insgesamt wurden in Lateinamerika etwa 50 Exilzeitschriften veröffentlicht, selbst die kleineren Emigrationszentren spielten auf ihre Art eine kulturelle Rolle, sei es durch Zeitschriften wie z.B. die Rundschau von Illimani, die von 1939 bis 1946 in La Paz von Ernst Schumacher herausgegeben wurde, oder durch Zeitungen wie der Deutsche Morgen in Säo Paulo von 1932 bis 1941 und das Deutsche Buch von Fr. Kniestedt in Porto Alegre, oder Radiosendungen wie die von Hermann Gebhardt gegründete Rundfunkstunde (La Voz del Dia) ab 1938 in Montevideo, bei der deutschsprachige Hörspiele und literarische Programme gesendet wurden.21 Doch die drei Hauptzentren der kulturellen Emigration waren Mexico, Santiago de Chile und Buenos Aires. In Mexiko wirkten an der politisch-literarischen Zeitschrift Freies Deutschland zahlreiche berühmte Schriftsteller mit, so z.B. Anna Seghers, Ludwig Renn, Bodo Uhse, Egon Erwin Kirsch, André Simone. Auch wurden verschiedene Texte von Heinrich und Thomas Mann, Ernst Bloch, Oskar Maria Graf, Paul Tillich abgedruckt. Außerdem wurde im Mai 1942 ein eigener Verlag, "El Libro Libre" gegründet. In den vier Jahren bis zum Juni 1946 veröffentlichte der Verlag 26 Titel, davon 20 in deutscher Sprache, mit einer Gesamtauflage von 54.000 Exemplaren. Etwa die Hälfte der Verlagserzeugnisse gewann bleibende Bedeutung, so z.B. Egon Erwin Kischs Marktplatz der Sensationen, Lion Feuchtwangers Unholdes Frankreich, Anna Seghers Das siebte Kreuz. Auch politische Bücher wurden herausgegeben, so z.B. ein Schwarzbuch mit 56 Schriftstellern, Journalisten und Politikern aus 16 Ländern oder ein Band Deutschland: Sein oder Nichtsein von Paul Merker (Kießling 1974, 220-243). All diese Publikationen stellen eine große kulturelle Leistung in Lateinamerika dar. Chile spielte durch die Deutschen Blätter eine herausragende kulturelle Rolle in Südamerika, obwohl die Emigranten in diesem Land keineswegs zahlreich waren. 1943 von Udo Rukser und Albert Theile gegründet, setzte sich die 1946 erschienene Zeitschrift "für ein europäisches Deutschland, gegen ein deutsches Europa" ein, wie es der Untertitel selbst verdeutlicht. Die Herausgeber, die keiner Partei angehörten, aber dem Anderen Deutschland nahe standen, wollten beweisen, daß "der Nazistaat nicht der Staat der deutschen Menschen" ist (Rukser 1943, 17; Durzack 1973, 53). Ihre Ziele waren aber vor allem literarische; viele Exilautoren wie Werner Bock, Hermann Broch, Oskar Maria Graf, Erich Kahler, Paul Zech, Carl Zuckmayer und Stefan Zweig konnten dort ihre Beiträge veröffentlichen und machten aus der chilenischen Zeitschrift, die auch in den USA gelesen wurde, eine der wichtigsten der Exilpresse.22

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Siehe für die Österreicher: Douer/Seeber 1995, mit vielen biografischen Angaben. 'Bach 1994; Durzack 1973, 52. 22 Zu dem chilenischen Exil überhaupt, s. Wojak 1994. 2

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Buenos Aires stellte auf eine andere Art ein kulturelles Exilzentrum dar, obwohl die Publikationsmöglichkeiten für Exilautoren gering waren. Immerhin gelang es Paul Zech, bereits vor 1933 in Deutschland durch Gedichte, Novellen, Romane, Dramen und Nachdichtungen bekannt, in Argentinien, wo er im Dezember 1933 Zuflucht gefunden hatte, weitere Werke zu veröffentlichen. Ein Jahr lang veröffentlichte Paul Zech Beiträge, vor allem Gedichte, im Argentinischen Tageblatt, von 1943 bis zu seinem Tod 1946 war Zech Redaktionsvertreter der Deutschen Blätter für Argentinien. Das Exilwerk Paul Zechs erstreckt sich von über 14 Dramen, politischer Exil- oder Naturlyrik, bis hin zu Übersetzungen und Nachdichtungen (Spitta 1978a, 83-87). Eine Publikationsmöglichkeit stellte die 1889 durch die Familie Alemann gegründete deutsche Zeitung Argentinisches Tageblatt dar. Liberal und republikanisch von Anfang an, entlarvte das Argentinische Tageblatt ab 1932 das Aufkommen des Nationalsozialismus und dokumentierte sehr genau die Diktatur. Trotz des Boykotts seitens der Botschaft und eines Teils der deutschen Kolonie erhöhte sich die Auflage der Zeitung auf 40.000 und hatte als "Kampfinstrument ein Echo nicht nur in ganz Lateinamerika, sondern auch in den Vereinigten Staaten und Europa". Viele der 1933 nach Buenos Aires emigrierten Journalisten, Politiker und Schriftsteller waren Mitarbeiter dieser Zeitung; auch Emigranten, die in Europa lebten, veröffentlichten Artikel im Argentinischen Tageblatt. Insgesamt sind mehrere hundert Exilautoren mit mindestens einem Artikel vertreten, wenn auch einige als Nachdruck (Saint Sauveur-Henn 1995, 581-603; Spitta 1978b, 17-19). Auch durch sein Exiltheater nahm Argentinien einen besonderen Platz in Lateinamerika ein. Im April 1940 gründete Paul Walter Jacob die Freie Deutsche Bühne, die exilierte Berufsschauspieler versammelte. Neben den deutschen Theatergruppen in New York, London und Stockholm war sie 1946 das einzige ständig spielende deutschsprachige Theater, das in Südamerika zeigen wollte, daß es "ein anderes, freies, die Tradition des wahren deutschen Geistes bewahrendes Deutschtum gibt" (Jacob 1946, 7 u. 21). In sieben Jahren wurden 65 Inszenierungen realisiert mit insgesamt 550 Aufführungen und dabei Stücke von 21 Exildramatikern aufgeführt. Zudem wurden im Teatro Colön Opernaufführungen von wichtigen Persönlichkeiten des deutschen Musiktheaters inszeniert (Durzack 1973, 53). Diese summarische Darstellung der deutschen Emigration nach Lateinamerika zeigt sowohl ihre dramatische Entstehung, die Schwierigkeiten bei der Suche nach einer Zuflucht, ihre eigenen Merkmale, ihre Integrationsprobleme in einer neuen Umgebung als auch ihre positive Leistung. Paul Walter Jacob, als Theaterregisseur nach Buenos Aires emigriert, fragte sich 1943, ob die Geschichte dieser Emigration einst geschrieben würde, ob ein Roman, ein Drama, ein Gesang, ein riesiges Gemälde von ihr künden würde, oder ob ein einziger Satz in einem künftigen Geschichtsbuch sie nur etwa so erwähnen würde: "Auch die Immigration von 1933-43, jene Menschen, die sich aus dem europäischen Chaos

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nach Amerika, in die La Plata-Länder, nach Argentinien retteten, auch sie brachten außer ihrer Not, außer ihrem Leid ihrer neuen Heimat neue Ideen, neue Anregungen, neue Schaffenskraft!" (Jacob 1943, 140f.) Dieser Satz, meinte Paul Walter Jacob, wäre dann ein Trost, vermittle neben den Mühen, den fehlgeschlagenen Hoffnungen, den Enttäuschungen, den Kämpfen, die Idee von der Unverlierbarkeit aller menschlichen, aller geistigen Werte.

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Geschichte der Hitler-Flüchtlinge

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2. Forschungsreisende und Touristen

Forschungsreisende und Naturforscher vor und nach Alexander von Humboldt Franz Tichy

Als erster Forschungsreisender in Lateinamerika mit naturwissenschaftlicher Ausbildung und entsprechender Aufgabenstellung gilt mit Recht Alexander von Humboldt. In der Zeit vor dessen Reise war der spanisch-portugiesische Herrschaftsbereich Deutschen nicht zugänglich, sieht man von wenigen Ausnahmen ab. Dazu gehören die Entdeckungsreisen im Welserland von Venezuela (Ambrosius Ehinger 1531, Nikiaus Federmann 1530, Georg Hohermuth 1535, Philipp von Hutten 1541). In Mexiko betätigte sich Heinrich Martin Ende des 16. Jahrhunderts als vielseitiger Wissenschaftler mit Küstenvermessungen, geographischen Beobachtungen und als Ingenieur, so mit der Planung der Entwässerung des Beckens von Mexiko. Einige Deutsche waren unter den Missionaren, meist Jesuiten, die geographisch arbeiteten, wie in NW-Mexiko Pater Eusebius Franciscus Kühn und andere in den Jesuitenstaaten Südamerikas. "Der gebildetste und ausgezeichnetste landeskundliche Forscher in Südamerika an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert" war aber Thaddäus Haenke, der aus dem Sudetenland stammte (Beck 1971, 118-130). Humboldt nannte ihn den "ausgezeichneten Botaniker der Malaspina'schen Weltumsegelung", an der er von Santiago ab teilgenommen hatte. Deutsche Berg- und Hüttenleute sind oft im spanischen Amerika tätig gewesen; der bedeutendste war F.T. Sonneschmidt Ende des 18. Jahrhunderts in Mexiko. Pionierarbeit leistete Wilhelm Ludwig von Eschwege (1777-1855) nicht nur als "der Vater von Geologie und Bergbau Brasiliens", in dessen Dienst er 1811-1814 stand, sondern auch als Naturforscher im umfassenden Sinn (Beck 1971, 146). Die Hauptaufgaben der Forschungsreisenden bestanden auch noch in der Zeit nach Humboldt in der Sammlungstätigkeit und in topographischen Aufnahmen vor allem des Verlaufs der Ströme, um die hydrographischen Systeme aufzuklären. Das gilt auch für den Zoologen Johann Baptist Spix (1781-1826) und den Arzt und Botaniker Karl Friedrich Philipp v. Martius (1794-1868). Sie standen an der Spitze einer Gruppe von Gelehrten und Malern, die die österrei-

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chische Erzherzogin Leopoldina nach Brasilien begleiteten, welche den künftigen Kaiser Don Pedro I. geheiratet hatte. 1819/20 bereisten sie Amazonien und auch das Stromgebiet des Rio Säo Francisco. Ein großer Teil Zentralbrasiliens wurde durch sie erstmals wissenschaftlich untersucht. Martius schrieb eine dreibändige Reisebeschreibung (1823-31) und legte den Grund zur Flora Brasiliensis in 15 Bänden (1840-1906). In dieser Zeit forschte auch der Zoologe Johann Natterer zusammen mit Johann Baptist Pohl 1817-20 in Brasilien. Georg Heinrich von Langsdorff (1774-1852) war russischer Generalkonsul in Rio de Janeiro und reiste 1825-29 mit Unterstützung der russischen Regierung ins Innere Brasiliens (Becker 1987). Der Arzt Eduard Poeppig (1798-1868) war 1827 als Forschungsreisender in Mittel- und Südchile tätig, und 1831/32 befuhr er von Peru aus den Huallaga, den er kartographisch aufnahm, und schließlich den Amazonas. Er erforschte die Pflanzen- und Tierwelt der Anden und machte geographische Beobachtungen. Sein Reisewerk liegt seit 1960 im Nachdruck vor. Der Botaniker Richard Schomburgk (1811-1891) begleitete seinen Bruder Robert (1804-1865) in Guayana, der dort eine Expedition der britischen Geographischen Gesellschaft leitete. 1835-38 und 1840-44 erforschten sie die Flußgebiete und die Flora und Fauna und kamen bis zum Orinoco. Weil hier nur die bedeutendsten Forschungsreisenden erwähnt werden können, sei auf die ausführliche Behandlung dieser und der folgenden Zeit im 19. Jahrhundert hingewiesen, die Wilhelm Sievers (1903, 23-47) gegeben hat. Während sich die Forschung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf Brasilien konzentriert hatte, blieb Mittelamerika noch ausgespart; aber in Mexiko befaßten sich nach Humboldt weitere Deutsche forschend und beschreibend mit dem Lande, und zwar aus eigener Initiative. Dazu gehören der Bergwerksfachmann Joseph Burkart in den Jahren 1825-34, der Hannoveraner Eduard Mühlenpfordt, der 1827-35 als Direktor des Straßenwesens in Oaxaca tätig war und 1844 eine Gesamtschau der jungen Republik in zwei Bänden vorlegte, und Carl Sartorius, der 1824 nach seiner Auswanderung die Hacienda El Mirador bei Jalapa gegründet hatte. Diese war für Jahrzehnte ein Zentrum der botanischen Forschung in Mexiko (F. Anders im Vorwort zu Mühlenpfordt, Nachdruck 1969). In den Jahren 1853-55 reisten Moritz Wagner (1813-1887) und Karl Scherzer (1821-1903) in Mittelamerika. Moritz Wagner war freier Forschungsreisender und Geograph, der sich für seinen Lebensunterhalt journalistisch betätigte. Nach Reisen in Nordamerika folgten weitere durch die zentralamerikanischen Staaten und zu den Großen Antillen. Obwohl die wissenschaftliche Durchdringung nicht so gründlich war wie geplant, entstand doch mit sechs Bänden "das inhaltsreichste und größte Werk über Nord- und Mittelamerika in der Epoche der klassischen deutschen Geographie" (Beck 1971, 203). 1857-60 untersuchte Wagner im Auftrag des Königs von Bayern die Landenge von Panama und deren Eignung für einen Kanalbau. Eine Reise zu den Vulkanen von Ecuador folgte, wo er allein vier Monate dem Cotopaxi widmete. Sein großes Werk Naturwissenschaftliche Reisen im tropischen Amerika (1870) ist Zeichen dafür.

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daß er die klassische Epoche von Humboldt und Ritter mit der modernen deutschen Geographie von Richthofen und Ratzel verband, in der das genetische Denken in den Vordergrund trat. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und bis zum Ersten Weltkrieg gab es noch immer große Lücken in der bloßen Landeskenntnis zu füllen, auch in Brasilien. Dort reiste 1850-52 der Zoologe Hermann Burmeister (1807-1892) und danach ab 1856 in Argentinien, wo er die naturwissenschaftliche und geographische Forschung und Lehre begründete. Er leitete das Naturhistorische Museum in Buenos Aires und richtete 1870 in Cördoba eine naturwissenschaftliche Falkultät ein. Dabei hatte er mehrere deutsche Professoren als Nachfolger (vgl. Sievers 1903, 31). Im Regierungsauftrag gab A. Seelstrang bis 1890 einen offiziellen Atlas von Argentinien heraus, und L. Brackebusch veröffentlichte die Karte 1:1 Mio. der Republik. Das Hauptforschungsgebiet Burmeisters war ab 1881 aber die Cordillere mit der Puna. Dort beginnt das Arbeitsgebiet von Rudolf Amandus Philippi (1808-1904), der in der Atacama wissenschaftliche Pionierarbeit geleistet hat. Als Professor der Botanik in Santiago begründete er in Chile die naturwissenschaftliche und geographische Forschung. Er war Lehrer an der polytechnischen Schule in Kassel gewesen und besaß in Chile eine Hacienda. Sein Schüler, der Bergeleve Carl Ochsenius, begleitete ihn 1851 bei der Auswanderung und wurde dort zum Montangeologen und Naturforscher. Er erkannte die junge Hebung der Anden und erklärte die Bildungsbedingungen von Salzlagerstätten durch die Barre. Ab 1871 veröffentlichte er von Marburg aus viele wissenschaftliche Arbeiten, darunter 1884 Chile, Land und Leute. Der Schweizer Johann Jakob von Tschudi (1818-1889) unternahm in den Jahren 1857-61 Forschungsreisen in den mittleren und auch den südlichen Provinzen Brasiliens, zuletzt auf Maultierritten quer durch Argentinien, über die Puna de Atacama zum Stillen Ozean, woraus ein fünfbändiges Reisewerk (1866-69) entstand. Es ist die wichtigste Quelle über die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Zustände Brasiliens in der Mitte des 19. Jahrhunderts, daneben auch ein wichtiges Dokument für Argentinien und Peru. Es ist die Reisebeschreibung eines Naturforschers, der sich vom ursprünglichen Zoologen, Sammler und Jäger zum Mediziner, Anthropologen, Kulturhistoriker und Sprachforscher entwickelt hat, somit zu einem Enzyklopädisten, wie sie nur noch das 19. Jahrhundert hervorbringen konnte.1 Woldemar Schultz (1833-1866) war einer der ersten Geographen, die in Südbrasilien wissenschaftlich arbeiteten. Feldstudien und kartographische Aufnahmen mit dem Ergebnis einer Karte der Südprovinzen 1:1 Mio. machte

'Troll u. Beck in der Einführung zum Neudruck Tschudis Reisen durch Südamerika 1971, 5.

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er 1858-60, "um durch geographische Grundlagenstudien die Eignung des Gebietes für die deutsche Einwanderung und Kolonisation zu untersuchen" (Kohlhepp 1968, 225). Zusammen mit Tschudi und Avé-Lallemant leiteten seine Arbeiten eine Epoche deutscher geographischer Forschungsarbeit in Brasilien ein. Robert Avé-Lallemant aus Lübeck (1812-1884) war als Tropenarzt in Rio de Janeiro tätig und hatte sich große Verdienste bei der Bekämpfung des Gelbfiebers erworben. Er gilt als der erste Tropenhygieniker. Nach 18 Jahren kehrte er nach Deutschland zurück, wo ihn Humboldt zur Teilnahme an der Weltumsegelung der österreichischen Fregatte Novara (1857) vorschlug. In Rio de Janeiro trennte er sich aber von ihr und reiste im Norden und im Süden Brasiliens bis zum Uruguayfluß und führte ein Jahr lang vielseitige Forschungen durch, über die zwei Reisewerke (1859 u.1860) berichten. Den Xingú hatte Prinz Adalbert von Preußen 1842 von der Mündung bis zu den Stromschnellen unter 4° südlicher Breite befahren. Karl von den Steinen (1855-1929), ein Arzt und Psychiater, gelangte mit Wilhelm von den Steinen und O. Clauß 1884 zu dessen Quellflüssen und fuhr den gesamten Xingú hinab. Die Geologen und Vulkanologen Wilhelm Reiß (1838-1908) und Alphons Stübel (1835-1904) begannen 1868 in Kolumbien mit der Erforschung der Ost- und Zentralkordillere und schufen die Karte von Ecuador. Topographie und Geologie der Anden standen im Vordergrund. 1875 zogen sie den Mayo in Peru abwärts und fuhren den Huallaga und den Amazonas abwärts, wobei wertvolle Höhenmessungen angestellt wurden. Das Reisewerk umfaßt sieben Bände (1886-1902). Für Ecuador nicht zu vergessen sind die Forschungen von Theodor Wolf (1841-1924), der Lehrer in Quito war. Die Reisen der Naturwissenschaftler wurden im allgemeinen von den Forschern selbst finanziert, durch großzügige Gönner gefördert oder — wie die PanamaUntersuchung von Moritz Wagner — im Auftrag vergeben. Neuartig ist die Finanzierung durch Stiftungsmittel, wie z. B. durch die Humboldt-Stiftung auf Antrag bei der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Berlin. So bekam der Arzt und Physiologe Carl Sachs die Aufgabe, Anatomie und Physiologie des Zitteraales (Gymnotus electricus L.) zu untersuchen und die Beobachtungen Humboldts fortzusetzen. Er tat dies mit geeigneten Instrumenten und an Ort und Stelle in einem dazu rasch improvisierten Laboratorium in Calabozo in den venezolanischen Llanos, wo er von Oktober 1876 bis Juli 1877 tätig war, zahlreiche weitere Beobachtungen anstellte und zoologische Sammlungen anlegte. Dem Zeitgeist entsprechend schrieb auch er eine Reiseschilderung mit seinen Eindrücken von Land und Leuten (Leipzig 1879). Alfred Hettner (1859-1941) erforschte als 23jähriger, soeben ausgebildeter Geograph und Geomorphologe 1884/85 mit besonderem Interesse an geologischem Bau und Oberflächenformen die Ostkordillere Kolumbiens und einen kleinen Teil der Zentralkordillere; zuletzt reiste er von Bogotá nach Maracaibo über Cúcuta. Sein Werk Reisen in den columbianischen Anden (1888) kann man mit Plewe (Vorwort zum Nachdruck 1969, XXII) eine Strukturanalyse eines

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Entwicklungslandes nennen. Die wissenschaftlichen Beobachtungen sind in Die Kordillere von Bogotá (1892) zusammengefaßt. Eine weitere Reise folgte 1888-90 ins peruanisch-bolivianische Grenzgebiet sowie durch Chile, Argentinien und Uruguay zu den deutschen Siedlungen in Südbrasilien. Sein damals akut gewordenes Beinleiden hinderte ihn daran, weiterhin in Südamerika Feldforschung zu betreiben. Hier kann auch Hans Meyer (1858-1929) erwähnt werden, der Besteiger des Kilimandscharo. Er setzte seine dort begonnenen vulkanologischen Studien 1903 in Ecuador fort, wo er Chimborazo, Cotopaxi und Antisana bestieg und in dem Buch In den Hochanden von Ecuador (1907) darüber berichtete. In Venezuela und Kolumbien reiste Wilhelm Sievers (1860-1921) in den Jahren 1884/85 in der Cordillere von Mérida, 1886 erstieg er die Sierra Nevada de Santa Marta bis 4700 m, und 1892-93 bereiste er Coro, Barquisimeto, Zentralvenezuela und erstmals nach Humboldt auch den Osten, wo er durch die Llanos bis zum Orinoco gelangte. In den tropischen Hochgebirgen galt es, topographische und geologische Aufnahmen zu machen und geomorphologische und gletscherkundliche Untersuchungen durchzuführen. Neben zahlreichen Fachpublikationen wandte er sich auch mit einem Erlebnisbuch über die Sierra Nevada an die Öffentlichkeit (Uhlig 1965, 99). 1909 forschte Sievers noch einmal in Peru und Ecuador. Zum besten Kenner Zentralamerikas wurde Karl Sapper (1866-1945) durch seine planmäßigen Reisen zwischen 1888 und 1900, mit denen er als 22jähriger, soeben promovierter Geologe begann und sich zum Geographen entwickelte. Die physische Geographie, der Gebirgsbau und der Vulkanismus, den er auch global bearbeitete, waren seine Hauptinteressen. Wirtschaftsgeographische Fragen kamen dazu. Er trennte klar zwischen wissenschaftlichen Arbeiten und Reiseschilderungen, die 1897 mit Das Nördliche Mittel-Amerika und 1902 Mittelamerikanische Reisen und Studien erschienen. Franz Termer (1966, 62) charakterisierte die Leistungen seines Lehrers unter anderem mit folgenden Worten: Wir erstaunen in unserer Zeit der Spezialisierung aller Disziplinen über den weitgespannten Interessen- und Arbeitsbereich von Karl Sapper, wie er in seiner Bibliographie zutage tritt. Sie offenbart nicht nur in den Unterabteilungen der Geographie, sondern auch in der Geologie, Vulkanologie, Ethnographie, Wirtschaftskunde, ja, sogar in der Amerikanistik eine umfangreiche Palette. Auf allen diesen Teilgebieten hat Sapper neue Erkenntnisse beigesteuert, sei es für Amerika oder für alle Kontinente, etwa seine geomorphologischen und bodenkundlichen Arbeiten für tropische Gebiete, seine allgemeine Wirtschaftsgeographie, seine landschaftskundlich bezogenen Beiträge und seine schöne Arbeit über Geologischer Bau und Landschaftsbild, seine globale Vulkankunde, seine feinen Beobachtungen über den Charakter der Maya-Indianer und ihre

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Beobachtungen über den Charakter der Maya-Indianer und ihre Glaubensvorstellungen. Spricht aus seinen Arbeiten praktische Erfahrung, eigenes Erleben, so werden sie oft durchwirkt von künstlerisch empfundenen Landschaftsschilderungen, kurz, ein so umfassender Rahmen, wie er dem Lebenswerk Friedrich Ratzels eigentümlich war, nur daß Sapper ihm in den langen Tropenjahren an reicher praktischer Erfahrung und in der Technik des Forschungsreisenden mit einfachen Mitteln überlegen war. Er war pragmatisch, weniger theoretisch veranlagt. Neben den Forschungsleistungen in Süd- und Zentralamerika, die durch ausgebildete Fachgeographen erreicht worden waren und durch solche, die sich wie Sapper auf planmäßigen und zielstrebigen Reisen zum Geographen entwickelt hatten, ist Friedrich Ratzel (1844-1904) für Lateinamerika allein durch seine Reiseskizzen "Aus Mexico" zu nennen. Es sind Berichte für die Kölnische Zeitung, die ihn mit einer Amerikareise beauftragt hatte, ihn, den bekannten Reisejournalisten. Die Erlebnisse und Beobachtungen gerade dieser Reise bis in die Tropen veranlaßte ihn aber, sich auf Rat Moritz Wagners und Karl Zittels hin um eine Privatdozentur für Geographie in München zu bewerben. Die deutsche naturwissenschaftliche Forschung in Mexiko trat von nun an gegenüber der völkerkundlichen deutlich zurück, um erst wieder nach dem Ersten Weltkrieg einzusetzen. Der Geologe Hans Lenk (1863-1938), der noch direkt an Humboldt anschließen konnte, reiste 1887-88 mit dem Paläontologen Johann Felix in Mexiko, durch Oaxaca bis zur pazifischen Küste, bestieg den Popocatépetl und den Iztaccihuatl, dessen Gletscher er beschrieb, und forschte in den Becken von México und Puebla. Zur damaligen Diskussion lieferte er den Nachweis, daß Vulkane an große Spaltenzüge gebunden sind. Deutsche Geologen sind besonders häufig in Argentinien tätig gewesen. Das staatliche Bergamt in Buenos Aires stand unter deutscher Leitung mit H. Keidel und mit den Geologen Stappenbeck, Windhausen, Gerth, W. Penck, Groeber u.a. L. Brackebusch hat im ausgehenden 19. Jahrhundert 14 Jahre lang in NWArgentinien geologische und topographische Aufnahmen gemacht und eine bewundernswerte Arbeit geleistet. Kurz vor Ausbruch des Weltkrieges unternahm Walter Penck (1888-1923) zwei große Reisen 1912/13 und 1913/14, eigentlich um Probleme des Vulkanismus zu verfolgen. Auf Expeditionen in die Hochanden zur Puna schrieb er zwei Tagebücher, eines mit Reiseaufzeichnungen. Durch Sandwüsten auf Sechstausender heißt das 1933 erschienene Buch. Die geologischen Ergebnisse und die aufgenommene Karte sind gesondert veröffentlicht. Zu den erfolgreichsten deutschen Geologen gehört Gustav Steinmann (1856-1929). Als Begleiter der deutschen Expedition zur Beobachtung des Venusdurchgangs kam er 1882 nach Südamerika. Von der Magellanstraße gelangte er durch Südpatagonien und Nordchile, blieb 7 Monate in Bolivien und reiste 1884 durch Mato Grosso nach Buenos Aires. 1903/04 arbeitete die Ex-

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pedition Steinmann, Hock und von Bistram in den bolivianischen Anden. "Der geologische Bau des Gebirges, zu dessen Kenntnis die Reisen von D. Forbes, G. Steinmann, R. Hauthal, J. A. Douglas und des Direktors der Minenschule Oruro, R. Kozlowski, beitrugen, wurde von G. Steinmann in kurzen Aufsätzen genial erfaßt" (Troll 1930, 319). Steinmanns Hauptwerk, die Geologie von Peru, erschien 1929. Die Erforschung der Vegetation der Anden und des Amazonasgebietes wurde von deutschen Botanikern intensiv in Angriff genommen. Die Ergebnisse finden sich oft in der Reihe Die Vegetation der Erde, wie die von K. Reiche über Chile (1907), von F. Ule über das Amazonasgebiet (1905) und von Th. Herzog über die bolivianischen Anden (1909, 1923). Vor allem sind die langjährigen Forschungsarbeiten von A. Weberbauer ab 1901 zu erwähnen mit der Pflanzenwelt der peruanischen Anden (1911) und der Vegetationskarte (1922), die ein Standardwerk darstellen. Die starken Eindrücke, die Rudolf Lütgens (1881-1971) während seiner Südamerikareise 1908-09 bei der Beobachtung des Wandels der Naturlandschaft durch den wirtschaftenden Menschen empfing, ließen ihn vom Ozeanographen als Schüler Richthofens zum Wirtschaftsgeographen werden. Er bereiste Argentinien, Chile, Paraguay und Brasilien, 1912 Mittelamerika, Haiti und Panama, 1930 Westindien und Mexiko. Er gehört also zu jenen deutschen Geographen, die nach 1918 die Lateinamerikaforschung weitergeführt haben. Hier ist aber vor allem Oskar Schmieder (1891-1980) zu nennen, dem wir außer physisch-geographischen und vor allem kulturgeographischen Forschungsarbeiten die länderkundliche Darstellung von Süd- und Mittelamerika verdanken, die auch in spanischer Sprache veröffentlicht wurde (1932 u. 1934, Neubearbeitung 1962). 1919 begann er als Professor für Mineralogie an der Universität Cördoba mit Studienreisen in Argentinien und Bolivien. Von der Professur in Berkeley/ Californien aus führte er Reisen in Niederkalifornien (1927) und Oaxaca (1929) durch. Mit H. Wilhelmy besuchte er den Gran Chaco. Nach seiner Emeritierung nahm er eine Gastprofessur in Chile an und konnte den Landschaftswandel nach 44 Jahren studieren, hatte er doch schon 1914 dort mit der Arbeit begonnen, die wegen des Kriegsausbruchs abgebrochen werden mußte. Viele Jahre lebte Oskar Schmieder als Forscher und Lehrer in Lateinamerika und gab seine Erfahrungen an seine Schüler weiter. Bei der Erforschung keines anderen Erdteils steht die deutsche Wissenschaft so sehr im Vordergrund wie bei der Südamerikas. Diese Tatsache ist von den südamerikanischen Staaten stets anerkannt worden. Vertreter deutscher Wissenschaft haben daher hier immer achtungsvolle Aufnahme gefunden. So konnte die deutsche Forschung alsbald nach dem Ende des Weltkrieges in Südamerika wieder ansetzen. [...] In den Staaten, die ihre Neutralität zu bewahren gewußt haben, war es sogar an nicht wenigen Stellen

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möglich gewesen, die deutschen Forschungen auch während der Kriegsjahre fortzusetzen, so daß hier nach Kriegsende unmittelbar an Vorhergehendes angeknüpft werden konnte. (Berninger 1940, 370) Franz Kühn (1876-1945) gehört zu denjenen, für die der Erste Weltkrieg keine Unterbrechung ihrer Arbeit bedeutet hat. Von 1908 bis 1927, ab 1921 von der neugegründeten Universität Paraná aus, hat er auf 16 großen Studienreisen alle Teile Argentiniens erforscht und eine physische Landeskunde verfaßt (1927). Von Kiel aus äußerte er sich zum Steppencharakter der Pampa und trug zur Diskussion um das Pampaproblem bei (1929), wie schon Stappenbeck (1926) und dann Schmieder (1928), Ellenberg (1962) und Lauer, Troll und Walter (1967). Die Naturverhältnisse des Chaco sind durch die biologischen Expeditionen des Zoologen Hans Krieg (1888-1970) untersucht worden. Den Reisen von 1922-25 folgte die Deutsche Gran Chaco-Expedition 1925-27; 1931/32 und 1937/38 wurden weitere unternommen, meist mit Hilfe der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft und von Akademien, zuletzt der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Die Ergebnisse umfassen 5 Bände, ein Reisebuch Zwischen Anden und Atlantik erschien 1948. Von geographischer Seite trug Helmuth Kanter (1891-1976) zur Abrundung des Bildes des Chaco bei (1936). Als Schiffsarzt kam er nach Argentinien und Brasilien, woraus die Untersuchung über das Mar Chiquita entstand (1925). 1930/31 reiste Kanter durch Argentinien, Paraguay, Brasilien und Bolivien. Deutsche Geologen unternahmen über Jahrzehnte hin Forschungen in Südamerika oder machten sie ganz zur Lebensaufgabe wie Heinrich Gerth (1884-1971). Er arbeitete 1932-41 in den Anden und war insgesamt 45 Jahre mit der Geologie Südamerikas beschäftigt. Die dreibändige Geologie Südamerikas (1932-41) wurde vervollständigt durch das Hauptwerk über den geologischen Bau der südamerikanischen Kordillere (1955). J. Brüggen war im chilenischen Staatsdienst und begann mit einer geologischen Exploration in Südchile (1913), stellte die Glazialgeologie der chilenischen Anden dar (1929) und zeigte die Grundzüge der Geologie und Lagerstättenkunde Chiles auf (1934). Fritz Klute (1885-1952) ging in Chile und den angrenzenden Teilen Argentiniens den Erscheinungen der Eiszeit nach. Hans Mortensen (1894-1964) verfolgte in Chile geomorphologische Fragen, vor allem den Formenschatz der nordchilenischen Wüste (1927). Walter Knoche hatte schon vor dem Kriege den meteorologischen Dienst in Chile organisiert und bleibende Erfolge erzielt. Otto Berninger (1898-1991) unternahm mit Hans Mortensen 1925 eine längere Forschungsreise durch ganz Chile und Teile Boliviens. Die Wälder Südchiles veranlaßten ihn zur Bearbeitung des Themas Wald und offenes Land in SüdChile seit der spanischen Eroberung (1929). Carl Troll (1899-1975) brachte für seine große Forschungsreise nach Bolivien (1926-27) die besten Voraussetzungen mit, die ein Naturforscher zu seiner Zeit benötigte. Er war sowohl in Pflanzengeographie wie Geomor-

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phologie ausgebildet und in den Alpen und in Skandinavien erfahren, dazu hatte er die Technik der terrestrischen Photogrammetrie erlernt, um Karten aufnehmen zu können. Zwei Jahre hielt er sich in Bolivien auf, zuletzt als Teilnehmer der Expedition des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins zur Cordillera Real. Als Carl Troll im September 1929 von Südamerika zurückkehrte, hatte er Bolivien, Nordchile und Südperu, das Küstenland von Ecuador, die Tiefländer von Nordwest-Kolumbien und das südliche Panama bereist, 16.000 Bogen Herbar gesammelt und ca. 10.000 km Routenaufnahmen und zahlreiche Höhenvermessungen durchgeführt, Karten auf photogrammetrischem Wege hergestellt und umfangreiche Beobachtungen zur Vergletscherung, zur quartären Geschichte des Hochlandes, zum Klima, zur Vegetation und zur Landwirtschaft der tropischen Anden angestellt. Durch die Flüge mit der SCADTA war er auf das wichtige geographische Hilfsmittel der Luftbilder erstmals aufmerksam geworden und konnte dadurch auf die großen Möglichkeiten der Luftbildinterpretation hinweisen. (Lauer 1976, 2) Die Ergebnisse seiner Reisen führten ihn zum Konzept der Landschaftsökologie und zur Vergleichenden Geographie der Hochgebirge. Für Lateinamerika wichtig ist sein Aufsatz über die Stellung der Indianerkulturen im Landschaftsaufbau der tropischen Anden (1943). Felix und Ingeborg Monheim ist die Bearbeitung seiner Tagebücher zu verdanken, die aufschlußreiche Einblicke in die tägliche Wirklichkeit einer Forschungsreise durch die Anden zu jener Zeit vermitteln, besser als die bisher üblichen Reisebeschreibungen (1985). Hans Kinzl (1898-1979), der österreichische Geograph, hatte sich der Gletscherkunde zugewandt und in den Alpen war er bei Gletschermessungen beteiligt. Von Heidelberg aus brach er 1932 zu seiner ersten Reise nach Peru auf als Teilnehmer an der Andenkundfahrt des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins in die Cordillera Bianca. Fünf weitere Reisen nach Peru folgten 1936, zur weiteren Andenkundfahrt 1939, dann 1952, 1954 und 1964. Die Forschungen in Peru fährten zu dem Ergebnis, daß die Gletscherschwankungen der Cordillera Bianca synchron zu jenen in den Alpen verlaufen und daher auch mit einem alternierenden Wechsel des Klimas zwischen den beiden Hemisphären nicht zu rechnen sei, wie es die damals hoch im Kurs stehende Strahlungskurve von Milankovitch nahelegte. (Leidlmair 1980, 245) Unter den deutschen Botanikern, die sich um die Pflanzengeographie der tropischen Andenländer verdient gemacht haben, wurde schon A. Weberbauer genannt. In den bolivianischen Anden war Theodor Herzog tätig (1923), und Troll brachte weitere, wesentliche Erkenntnisse. Für Ecuador ist auf die

90 Forschungen von Ludwig Diels (1874-1945) hinzuweisen, wohin ihn 1933 eine seiner Reisen führte. Obwohl in Brasilien in zunehmendem Maße einheimische Forscher tätig geworden waren, oft in staatlichen Organisationen, so blieb doch für Ausländer noch genug zu tun, und die deutsche Forschung war weiterhin maßgebend beteiligt. Wesentliche Fortschritte wurden in der geomorphologischen Kenntnis des brasilianischen Berglandes fast ausschließlich von deutscher Seite erzielt. In einer Literaturarbeit hat schon M. Rub die großen Züge des Verlaufs von Schicht- und Bruchstufen im Überblick verfolgt. Zu nur wenig abweichenden Auffassungen kam angesichts eigener Anschauung O. Maull. (Beminger 1940, 375) Otto Maull (1887-1959) reiste in Brasilien mit morphologischer Zielsetzung und mit der Frage nach der Wald-Savannengrenze. Sein Werk Vom Itatiaya zum Paraguay (1930) bringt Ergebnisse und Erlebnisse. Reinhard Maack (1892-1969) wurde vom Landmesser zum Geologen und Geographen. Er konzentrierte sich ab 1911-1921 auf SW-Afrika und dann ab 1923 bis zu seinem Lebensende auf Mittel- und Südbrasilien. Dort führte er als Landmesser und Kartograph die Aufnahme des Eisenerzgebietes von Minas Gerais durch. Von 1928 an studierte er Geographie und Geologie in Berlin. Aus der vergleichenden Betrachtung in Südafrika und Südamerika erwuchs sein wissenschaftliches Interesse an den Problemen des Gondwana-Landes und der Kontinental-Drift, das ihn seitdem beschäftigte und ihm im südlichen Santa Catarina als wichtigsten Beweis der Wegenerschen Theorie die Fortsetzung der GondwanaSchichten des Kaoko-Velds lieferte. (Kohlhepp 1971, 167) Seine Hauptergebnisse sind die pflanzengeographische Karte und die geologische Karte von Paraná, dazu kam 1968 der erste Band seiner Physischen Geographie des Staates Paraná. Der Geologe Bruno von Freyberg (1894-1981) unternahm 1925-26 eine Forschungsreise nach Südamerika, um Lagerstätten kennenzulernen, zunächst nach Minas Gerais, weiter nach Rio Grande do Sul und nach Argentinien sowie über die Kordillere nach Chile. Die zweite Reise 1928-29 diente der Durchquerung von Minas Gerais und führte ihn bis zum Amazonas. Der dritte Aufenthalt 1929 war der Untersuchung einer Itabirit-Eisenerz-Lagerstätte gewidmet, und eine vierte ging 1930 nach Inner-Minas zu ergänzenden Routen-Aufnahmen. In zwei Büchern legte er 1932 und 1934 seine Ergebnisse dar, eine geologische Karte von Minas erschien 1932. "Meine Arbeiten zur Geologie von Minas waren Pionierarbeiten, welche die großen Zusammenhänge klären sollten". Auch die Oberflächenformen der brasilianischen Masse beschäftigten ihn (vgl. v. Freyberg 1977).

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In Zentralamerika waren in der Zwischenkriegszeit nur wenige deutsche Naturforscher tätig. Hier überwog zunehmend das Interesse an den Indianerkulturen, ihren Sprachen und an der vorkolumbischen Architektur und Archäologie. Beispielhaft für diese Entwicklung ist Leonhard Schultze-Jena (1872-1955), ursprünglich Zoologe, der im Laufe der Forschungsreise nach SW-Afrika (1903-05) zum Geographen und Völkerkundler wurde. Ergebnisse seiner 1929-31 durchgeführten Mittelamerikareise liegen in drei Bänden vor (1933-1938). Geographie und Ethnologie verband auch Franz Termer (1894-1968). Auf Reisen und bei seiner Forschung trat er die Nachfolge seines Lehrers Karl Sapper an, so durch Berichte über Vulkane und Erdbeben sowie durch länderkundliche Darstellungen, von Guatemala 1936 und von Yucatán 1954. 10 Reiseberichte erschienen 1927-1930. In Mexiko unternahm Fritz Jaeger (1881-1966), der durch seine Afrikaforschungen insbesondere zum Vulkanismus und zur Hydrographie bekannt gewordene Geograph, im Sommer 1925 Reisen, wo er grundlegende Beobachtungen über ehemalige Seespiegelstände im Becken von México machte und die Ergebnisse seiner Forschungen über das diluviale Klima in Mexiko vorlegte (1926). Leo Waibel (1888-1951) begann ebenfalls seine Forschungsarbeit in Afrika und zwar zur Biogeographie, Geomorphologie und Klimatologie von Südafrika. Ende 1925 reiste er nach Chiapas/Mexiko, wo er die Sierra Madre umfassend sowohl in ihrer Natur als auch in ihrer Wirtschaft erforschte, wozu er eine Karte 1:400.000 aufnahm (1933). Danach reiste er an der pazifischen Küste nach Sinaloa und Sonora, berührte Kalifornien und Arizona, um 1926 nach Kiel zurückzukehren. 1938 weitete er seine Mittelamerikaforschungen auf Guatemala und Costa Rica, jetzt unter wirtschaftsgeographischen Gesichtspunkten, aus. Während des Zweiten Weltkrieges war er in den USA als Hochschullehrer tätig und nahm 1945 eine Einladung einer Regierungsinstitution in Brasilien an, wo er 1946-50 forschen konnte, so über die Vegetation und Landnutzung auf dem Planalto Central, besonders dem Campo Cerrado 1946-47. Arbeiten zur europäischen Kolonisation in Brasilien und ihrer Grundlagen folgten. Er bildete eine ganze Generation brasilianischer Geographen aus, vor allem in Methoden der Feldforschung. Er hat in Brasilien eine außerordentliche Wirkung dadurch erzielt, daß er Leitlinien für eine zukünftige Raumordnung setzte (vgl. Pfeifer/ Kohlhepp 1984, 8). Die Wiederaufnahme der deutschen Forschung in Lateinamerika begann nach dem Zweiten Weltkrieg erst allmählich und in einigen Ländern nur dank der Förderung solcher Wissenschaftler, die dort ihre Heimstatt gefunden hatten. Leo Waibel in Brasilien machte es möglich, daß Gottfried Pfeifer schon 1950 dort reisen konnte, und in Mexiko bemühte sich der Völkerkundler Paul Kirchhoff darum, der deutschen Forschung mit ihrer Tradition die Wege zu ebnen. Deutsche Geologen machten sich ebenso durch die Förderung des Nachwuchses verdient. Schon bald war die Deutsche Forschungsgemeinschaft in der Lage, Reisen zu finanzieren und Projekte zu organisieren, Stiftungsmittel kamen dazu,

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und der Deutsche Akademische Austauschdienst ermöglichte jungen Forschern den Anfang in Lateinamerika. Damit nahm die Zahl der Naturwissenschaftler beträchtlich zu, in dem einen Land mehr, im anderen weniger. Die Zeit der Einzelforscher und der auf sich gestellten Forschungsreisenden ging rasch dem Ende zu. Inzwischen konnte die Forschung in den Ländern von den dort oder im Ausland ausgebildeten Kräften selbst geleistet werden. Dazu kam der Zwang zur Spezialisierung, schon wegen der nun einzusetzenden modernen Methoden und der gestiegenen Kosten für Apparate und Labors. Dank des Flugverkehrs und der Autostraßen war es nun nicht mehr erforderlich, viele Monate oder gar Jahre im Lande zuzubringen und mühsame Fußmärsche und Ritte auf sich zu nehmen. Dennoch gab und gibt es noch Einzelforscher, die dazu bereit sind und den Strapazen trotzen. Ein Beispiel dafür ist Karl Heibig, der nach dem Kriege sein Forschungsfeld von Südostasien nach Mittelamerika verlegt hatte. Nach Einzelstudien und Reisebüchern entstand die umfassende Landeskunde von Chiapas (1976) in völlig unabhängiger und uneigennütziger Arbeit. Nur wenige haben in der Zeit der Spezialisierung und der Forschung in fachspezifischen oder auch interdisziplinären Gruppen und Projekten noch mehrere Länder vergleichend oder zusammenfassend behandelt. So wurde die Bearbeitung der Länderkunde Lateinamerikas auf mehrere Verfasser verteilt (Sandner u. Steger 1973); dennoch sind einige Räume und Länder von Geographen auch auf Grund eigener Forschungen dargestellt worden wie die Westindischen Inseln von H. Blume (1968), Chile von W. Weischet (1970) und Mexiko von H.-G. Gierloff-Emden (1970). In den Beiträgen zur Regionalen Geologie der Erde erschienen die Bände für Brasilien von K. Beurlen (1970), Paraguay von H. Putzer (1962), Ecuador von W. Sauer (1971), Mittelamerika von R. Weyl (1961 u.1980) und Chile von W. Zeil (1964) (vgl. Zeil 1980, 12). Ohne eine ganze Reihe von wirkungsvollen Organisationen zur Forschungsförderung und Koordination wäre der Wiederbeginn in der erforderlichen intensiven Weise nicht möglich gewesen (vgl. Lauer 1976b). Dank der Initiative von Adolf Meyer-Abich entstand das Instituto Tropical de Investigaciones Científicas in El Salvador. Es nahm zwischen 1951 und 1960 etwa 70 Biologen und Erdwissenschaftler auf. Beim Aufbau der Universidad Austral de Chile waren ab 1955 wiederum deutsche Erdwissenschaftler und Biologen maßgebend beteiligt. 1962 begann die Vorbereitung der Arbeiten des Mexiko-Projektes der DFG für deutsch-mexikanische Regionalforschung im Bereich von Puebla und Tlaxcala, an dem bis 1978 105 deutsche und mexikanische Wissenschaftler beteiligt waren (Lauer 1987, 68). 1963 wurde das Instituto Colombo-Alemán de Investigaciones Científicas in Santa Marta gegründet, als Außenstelle des Tropeninstitutes der Universität Gießen und der Universidad de los Andes in Bogotá. Ein weiteres Tropenforschungsinstitut entstand 1969 in Manaus durch ein Übereinkommen zwischen der Max-Planck-Gesellschaft und dem brasilianischen nationalen Forschungsrat. Dort waren deutsche Limnologen tätig mit dem von H. Sioli geleiteten Projekt, der seit 1950 im Amazonasgebiet

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geforscht hat. Seit 1972 besteht eine Arbeitsgruppe bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft Geowissenschafiliche Forschung in Lateinamerika, die die Forschungsaktivitäten koordiniert (Maronde/Miller 1987). Da hier über die Naturforscher zu berichten ist, seien im Gang durch die Forschungsgebiete in regionaler Folge wie für die vorhergegangenen Perioden einige der Forscher mit ihren Arbeiten und deren Erscheinungsjahr genannt. Für die Physische Geographie dient dabei die dankenswerte Zusammenstellung von Gormsen (1987) als Anhalt, für andere Naturwissenschaften fehlen leider gleichwertige Quellen, so daß empfindliche Lücken bleiben werden. In den mittleren und südlichen Anden waren W. Czajka (1898-1987) mit geomorphologischen Forschungen und ebenso G. Fochler-Hauke schon in den 50er Jahren von Tucumän aus tätig. K. Fischer (1976, 1985) arbeitete über die Genese des Gesamtgebietes, G. Abele über schnelle Massenbewegungen und über die Höhenstufung (1981, 1982), H. Stingl u. K. Garleff über tertiäre und pleistozäne Reliefentwicklung (1984) und über Gletscherschwankungen (1985) in den argentinischen Anden, G. Gerold über Badlandentwicklung in Südbolivien (1985), E. Brunotte über Bolsone (1985), C. Ochsenius über die pleistozäne Ökologie der Atacama (1982). F. Monheim (1916-1983) brachte 1965 Beiträge zur Klimatologie und Hydrologie des Titicacabeckens, und A. Kessler führte die Forschungen fort (1966-85). Äußerst detailliert ist das Buch von Schweigger (1959) über die Westküste (vgl. auch Gierloff-Emden 1959). Weischet (1960) hat über die Folgen des großen Erdbebens in Südchile berichtet. Beiträge zur Glazialmorphologie, Vegetation, Klimatologie und Ökologie Chiles wurden 1956 von Schmithüsen (1909-1984), Lauer (1965), Weischet (1955, 1968) und jüngst von seinem Schüler Endlicher (1985) geliefert, auf der argentinischen Seite von Werner (1974) und vor allem 1983 von Eriksen (1935-1985), der sich auch mit der Bedeutung der schon relativ früh eingerichteten Nationalparks (1971) befaßt hat. (Gormsen 1987, 31) In Ecuador arbeiteten C. Stadel (1985) über die Höhenstufung und E. Jordan über Glaziologie (1983). Brasilien, besonders das Amazonasgebiet, ist zum Schwerpunkt naturwissenschaftlicher Forschung von deutscher Seite geworden. Viele Jahre befaßte sich H. Sioli mit einem limnologisch-ökologisch ausgerichteten Projekt (1951-1983), an dem H. Klinge und E. J. Fittkau beteiligt waren. Fittkau gelangte zu einer Gliederung Amazoniens auf geochemischer Grundlage (1971). H. Bremer studierte die Reliefentwicklung (1973, 1987). H. Rohdenburg (1937-1987) und A. Semmel (1978, 1982) machten Untersuchungen zur Boden- und Reliefentwicklung in Nordost- und Südbrasilien. P. Müller legte zahlreiche biogeographische und ökologische Arbeiten vor, über den Artenreichtum der Regenwälder, Verbreitungszentren von Wirbeltieren und zum Problem des Campo Cerrado (1979). K. H. Paffen (1914-1983) führte vegetations-

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geographische Forschungen in Ostbrasilien durch (1956, 1959). Vor allem aus den in Amazonien gewonnenen Erkenntnissen und aus seinen klimatologischen Forschungen hat W. Weischet (1977) die Frage nach den Grenzen der Landnutzung in den feuchten Tropen zu beantworten gesucht und auf das "ökologische Handicap" eindringlich hingewiesen. Bemerkenswert ist die große Beteiligung deutscher Wissenschaftler an dem umfassenden Buch Biogeography and Ecology in South America (1968), herausgegeben von Fittkau, Illies, Klinge, Schwabe und Sioli in zwei Bänden, ein deutliches Zeugnis für den Forschungserfolg in dieser Nachkriegszeit. Neben seinen kulturgeographischen Arbeiten hat sich Herbert Wilhelmy immer wieder als Naturforscher betätigt, auch in Lateinamerika. Die erste Reise 1936/37 ging in den Gran Chaco und in die Regenwälder von Argentinien und Paraguay, wo ihn auch die Agrarkolonisation interessierte. Nach dem Kriege folgte eine zweite Reise über acht Monate nach Kolumbien, wo er neben Städten auch die quartäre Verschiebung der Klima- und Vegetationsgürtel untersuchte. Von besonderer Bedeutung ist die Abhandlung über das große Pantanal von Mato Grosso (1958). 1963 erschien die Länderkunde der La Plata-Länder, die Arbeiten von Rohmeder über Argentinien einschließt. Die Westindischen Inseln sind nach dem Krieg zunächst von Herbert Lehmann (1964) und Schülern (Gerstenhauer 1967, später Pfeffer 1975) zur Untersuchung des Karstformenwandels im Vergleich mit den benachbarten Festlandgebieten (Chiapas, Yucatán, Florida) besucht worden. [...] Eine kontinuierliche Beschäftigung mit der westindischen Inselwelt nach den verschiedensten geographischen Aspekten erfolgte aber durch Blume. (Gormsen 1987, 32) San Salvador wurde für einige Jahre zum Zentrum der deutschen Naturforscher durch das Instituto Tropical u. a. mit H. Feiten, H.-G. Gierloff-Emden, W. Lauer, W. Lötschert und H. Meyer-Abich. Richard Weyl (* 1912) widmete sein geologisches Lebenswerk allen Teilen der Land- und Inselbrücke, den Großen und Kleinen Antillen, Zentralamerika und im DFG-Projekt auch Mexiko, vom geologischen Bau und der Tektonik über den Vulkanismus bis zu Glazialformen. Neben seinem Hauptwerk, Die Geologie Mittelamerikas (1961, 1980), wendet er sich mit seinem Buch Erdgeschichte und Landschaftsbild (1965) nicht nur an Naturwissenschaftler. Das Konzept der Landschaftsökologie wurde u. a. in dem Erdwissenschaftlichen Programm der Mainzer Akademie der Wissenschaften weitergeführt (Lauer u. Troll 1978, Lauer 1984). Lauers Forschungserfahrungen in Mexiko, El Salvador, Bolivien und Chile kommen diesen Programmen zugute. Die Forschungen von Kurt Hueck (1897-1965) von Tucumán aus gipfelten in dem Werk über Die Wälder Südamerikas (1966) und der von Paul Seibert bearbeiteten Vegetationskarte (1972). Ohne alle verdienstvollen Geobotaniker und Vegetationsgeographen nennen zu können, seien doch Schmithüsen (1956) und Oberdorfer

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(1960) für Chile, H. Ellenberg (1959) für Peru, H. Weber für Kolumbien und die Hochanden (1955) erwähnt. Im Rahmen des Mexiko-Projektes der Deutschen Forschungsgemeinschaft spielten die Erdwissenschaften eine bedeutende Rolle. Die Bestandsaufnahme lieferte Kartierungen in den Maßstäben 1:500 000 und 1:200 000 von den geologischen Verhältnissen über die Böden zur Geomorphologie, zum Klima und zur Vegetation. Der Boden- und der Grundwasserhaushalt sowie die Bodenerosion wurden gesondert untersucht. Der Wandel von Klima und Landschaft seit der Eiszeit wurde mit Hilfe von palynologischen, paläontologischen und glazialmorphologischen Forschungen rekonstruiert (vgl. Lauer 1987, 70 und Seele 1988). Auch im Bolivien-Projekt, in dem Ökosystem und Mensch im Gebiet der Kallawaya-Bergbevölkerung erforscht wurden, sind Geographen und Naturwissenschaftler maßgebend beteiligt gewesen und wurden seit 1979 von der DFG unterstützt, und zwar Geobotaniker, Klimatologen, Geomorphologen und Bodenkundler (vgl. Lauer 1987, 76). Über die geologischen Forschungsprojekte informiert der Bericht der Arbeitsgruppe (Zeil 1980). Im Vordergrund stehen Mittelamerika und Mexiko, der nördliche Andenabschnitt, der mittlere und südliche Abschnitt der Anden und das Präkambrium des Brasilianischen Schildes. In der jüngsten Vergangenheit sind an die Stelle der einst allein oder in kleinen Gruppen reisenden Naturforscher mehr oder weniger anonyme Forschungsprojekte getreten, die viele spezialisierte Fachwissenschaftler beschäftigen und auf internationale Zusammenarbeit angewiesen sind. Die Persönlichkeit des Forschers tritt mehr und mehr hinter den Zielen und Ergebnissen des Gesamtprojektes zurück. In einem Überblick wie diesem konnten deshalb die Reisen und Leistungen der einzelnen Forscher nicht mehr in genügendem Maße gewürdigt werden.

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Von Surrogaten und Extrakten: Eine Geschichte der Ubersetzungen und Bearbeitungen des amerikanischen Reisewerks Alexander von Humboldts im deutschen Sprachraum Ottmar Ette

In der internationalen Fachliteratur zu Alexander von Humboldt ist es seit geraumer Zeit zu einer lieben Gewohnheit geworden, das Vergessen zu beklagen, dem der preußische Naturforscher im jeweils eigenen Land bzw. Sprachraum, sehr zum Unterschied zu anderen Ländern und Kulturräumen, anheimgefallen sei. So machte Adolf Meyer-Abich 1967 auf die mangelnde Bedeutung aufmerksam, welche Alexander in der deutschen Geistesgeschichte zuerkannt werde, wohingegen er in Amerika und insbesondere in der "spanischen Welt" "bis in unsere Tage eine lebendig weiterwirkende Tradition"1 darstelle; der mexikanische Forscher Jaime Labastida wiederum sprach 1975 für sein Land von einer Rezeption unter falschen Vorzeichen, deren Folge unter anderem sei, daß der illustre Reisende in Mexiko "bislang mehr bewundert als gelesen" (Labastida 1975, 9) werde und trotz seines Ruhmes letztlich ein Unbekannter geblieben sei — ganz im Gegensatz zu Europa und insbesondere Frankreich; doch klagte auch der Franzose Charles Minguet 1969 über die Unbekanntheit Humboldts bei seinen Landsleuten, wo allenfalls Wilhelm, nicht aber seinem Bruder Alexander jene wissenschaftliche wie geistesgeschichtliche Bedeutung beigemessen würde, wie sie beiden wiederum in (...) Deutschland ganz selbstverständlich zuerkannt werde. 2 Das Erstaunliche an diesem Phänomen ist nun zum einen, daß Alexander von Humboldt gerade in den drei genannten Kulturräumen bereits seit seiner Forschungsreise in die Neue Welt ein erhebliches Prestige genoß: In Frankreich, wo er jahrzehntelang an seinem Reisewerk arbeitete, erwarb er sich den Ruf, "le plus grand savant du siècle" und "l'Aristote moderne" zu sein3; in Mexiko, wo er durch seinen Essai politique sur le Royaume de la Nouvelle-Espagne stark auf das nationale Selbstverständnis und die Unabhängigkeit von Spanien einwirkte, wurde er (als einziger Ausländer) kurz nach seinem Tod, im Juni 1859, von Benito Juárez zum "Benemérito de la Patria" erklärt 4 ; und in

'Meyer-Abich 1967, 7. In ähnlichen Formulierungen äußerte sich in jüngster Zeit zur Wirkung Humboldts im deutschsprachigen Raum auch Pietschmann 1987, 139. 2 Vgl. die Einleitung in Minguet 1969, 7. 3 So die Inschrift einer Gedenkmedaille, die das Institut de France 1859 zu Ehren Humboldts prägen ließ; eine Abbildung der Medaille findet sich u.a. in Nelken 1980, 42. 4 Vgl. das Dekret von Benito Juárez in Nelken 1980, 57.

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Deutschland, wo er schon bald nach seiner Rückkehr als "zweiter Entdecker Amerikas" gefeiert wurde (vgl. Ette 1992), verehrte man in ihm die wissenschaftliche Autorität seiner Zeit. Zum anderen ist es nicht weniger erstaunlich, daß bislang (zumeist ungeprüft) immer wieder eine Behauptung ausgesprochen wurde, die spätestens 1830, also noch zu Lebzeiten des Naturforschers, vom Verfasser einer hier zu besprechenden Bearbeitung formuliert worden war; dieser nämlich hatte Humboldt zu jenen hochverdienten Schriftstellern [gezählt], deren Ruhm weiter als ihre Werke verbreitet ist; und die das Schicksal haben, viel genannt, viel gelobt, und wenig gekannt zu sein. Die Werke des Herrn von Humboldt sind wohl nur einer kleinen Anzahl Sterblicher zugänglich, und diejenigen, denen das Glück die Zugänglichkeit zuwirft, sind selten die, welche es zu gebrauchen wissen.5 Genau genommen warf Wimmer damit gleich zwei Probleme der HumboldtRezeption auf, die ich gerne, wenn auch nicht aus der Perspektive des evangelischen Predigers aus Oberschützen, näher untersuchen möchte. Zum einen soll im folgenden der Frage nachgegangen werden, warum Humboldts Name wie die Titel einzelner Bände seines Reisewerkes überall wohl bekannt waren, sein Corpus Americanum aber dennoch nur eine im Vergleich zu seinen Ansichten der Natur oder zum Kosmos beschränkte Wirkung entfaltete. Und zum anderen soll die Frage nach dem Publikum gestellt werden, waren es nach Wimmer (zumindest 1830) doch nicht nur zu wenige, sondern fatalerweise auch noch die falschen Leser, die Alexanders Werke erreichten. Nur hin und wieder tauchte bisher in der Humboldt-Literatur die vage Vermutung auf, daß das allenthalben konstatierte (wenn auch nur jeweils auf den eigenen Raum bezogene) Problem in der Vermittlung von Alexanders Oeuvre begründet sein könnte.6 Genauere Untersuchungen der zahlreichen Übersetzungen und Bearbeitungen von Schriften Alexander von Humboldts unterblieben. Da in einem kurzen Aufsatz diese Geschichte der Übersetzungen und Bearbeitungen weltweit kaum vertieft darzustellen ist, möchte ich die Aufgabe, die ich mir stelle, in Abstimmung mit dem Konzept des vorliegenden Bandes zweifach begrenzen: Zum einen beschränke ich mich auf den deutschen Sprachraum (wenn auch vor dem Hintergrund der eingangs erwähnten ausländischen

'Wimmer 1830, IX. Ich verdanke die Kenntnis dieses Werkes Frau Prof. Scharlau (Frankfurt) und ihren Studenten, die mich bei meinem Vortrag zur Übersetzungsproblematik bei Humboldt — einer ersten Fassung der vorliegenden Arbeit — auf die Existenz dieser interessanten Bearbeitung aufmerksam machten. 6 Am deutlichsten formulierte dies wohl Beck in seiner Einleitung zu Humboldt (1970, XI). der davon sprach, daß die Wirkungsgeschichte dieses Werkes (in Deutschland) "nicht vom Original, sondern von den Übersetzungen zweiter Hand und regelrechten Surrogaten bestimmt" worden sei.

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Stimmen, die auf eine ähnliche Problematik schließen lassen, der ein oder andere Hinweis auf vergleichbare Phänomene im Ausland nicht unterbleiben darf); und zum anderen gilt mein hauptsächliches Interesse der Vermittlung des eigentlichen narrativen Kernstücks des amerikanischen Reisewerks, Humboldts Relation historique. Diese beiden räumlichen wie inhaltlichen Einschränkungen sollen es im Gegenzug erlauben, wenn auch gewiß nicht alle, so doch besonders charakteristische Beispiele aus dieser Geschichte vertieft zu behandeln. Der Problematik von Übersetzungen war sich Alexander von Humboldt durchaus bewußt. An einer Vielzahl von Stellen kam er in seinem Reisewerk auf Übersetzungsphänomene zu sprechen. Keine dieser Stellen scheint mir aber ein anschaulicheres (wenn auch sicherlich in ganz anderem Zusammenhang formuliertes) Modell — eine wahre mise en abyme des späteren Schicksals von Humboldts eigener Reisebeschreibung in deutscher Übersetzung und Bearbeitung — zu bieten als jene Passage, in der er auf Verständigungsprobleme bei der Expedition von Clark und Lewis aufmerksam machte: pour s'entretenir avec les Indiens Chapunish, le capitaine Clark parla anglois à un des siens; celui-ci traduisit la question en françois à Chabaneau; Chabaneau la traduisit à sa femme, Indienne, en minetarru; la femme la traduisit en shosshonee à un prisonnier, et le prisonnier la traduisit en chapunish. On peut craindre que le sens de la question n'ait été un peu altéré par cinq traductions successives. (Humboldt 1970, 278) Wie sehr der Blick auf Humboldts Darstellung des amerikanischen Kontinents bis zum heutigen Tag durch eine derartige Kette "sukzessiver Übersetzungen" verstellt wird, soll nun im folgenden näher untersucht werden.

Der amerikanische Reisebericht und seine ersten Übersetzungen und Bearbeitungen Wie konnte es überhaupt im deutschsprachigen Raum zum Problem der Übersetzung des Reisewerkes kommen? Humboldt war schließlich ein deutschsprachiger Naturforscher, der in den pré-textes seines Amerikawerkes, d.h. in seinen Reisetagebüchern, zwar auf die französische, spanische und lateinische Sprache zurückgegriffen, sich vorwiegend aber der deutschen Sprache bedient hatte (vgl. Faak 1982, 30f.). Warum erschien dann das amerikanische Reisewerk, und mit ihm die Relation historique, in französischer Sprache? Hierfür waren mehrere Gründe ausschlaggebend. Humboldt fand in Paris buchhändlerische bzw. verlagstechnische Voraussetzungen für die Veröffentlichung seines am Ende 34- bzw. 36-bändigen Werkes vor, wie er sie in Deutschland nicht angetroffen hätte (vgl. bereits Löwenberg 1969, 496f.). Die französische Hauptstadt war neben London das eigentliche europäische Zentrum für wissenschaftliche Aktivitäten und — anders als Berlin — über die zur Verfügung stehenden Bibliotheken und Privatsammlungen hinaus eine Drehscheibe des wissenschaftlichen Informa-

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tionsaustauschs; Alexander konnte in Paris daneben auf viele wissenschaftlich renommierte und einflußreiche Freunde zählen, die ihn bei seinem immensen Vorhaben unterstützten. Dies veranlaßte Humboldt zusätzlich, in der Sprache zu schreiben, "die um mich her gesprochen wird, weil Leben allein das Wort belebt"7, durfte er doch bei der Wahl dieser anerkannten Wissenschaftssprache darüber hinaus hoffen, auch von einer Leserschaft in anderen romanischen Ländern (insbesondere in Lateinamerika) gelesen zu werden, die eine deutschsprachige Publikation nur schwerlich hätte konsultieren können. Ein für die Wirkungsgeschichte8 des amerikanischen Reisewerkes gleichfalls zentraler Faktor war die Tatsache, daß Humboldts kostspieliges Reisewerk nicht nur zumindest einen Verleger in den Bankrott führte und seinen Verfasser um einen Großteil seines Vermögens brachte, sondern in den Anschaffungskosten derart unerschwinglich war, daß Humboldt mitansehen mußte, wie selbst dem preußischen König die Kosten einer Anschaffung der vollständigen Ausgabe für seine Privatbibliothek zu hoch wurden.9 Im selben Brief an Berghaus aus dem Jahre 1830, in welchem er diesen Umstand erwähnte, stellte Humboldt resignierend fest: "Leider, leider! meine Bücher stiften nicht den Nutzen, der mir vorgeschwebt hat, als ich an ihre Bearbeitung und Herausgabe ging; sie sind zu theuer!"10 Es kam hinzu, daß Humboldts eigentlicher Reisebericht, der auf ein breiteres Publikum zielte, keine Darstellung des gesamten Reiseverlaufs lieferte, sondern mit dem Ende des dritten Bandes bzw. mit der Ankunft im heutigen Kolumbien abbrach. Nur ein Drittel der gesamten Reise erschien daher in einer zusammenhängenden Darstellung: Die Relation historique blieb unvollendet."

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Briefan Cotta vom 20.1.1840. Vgl. auch das Verständnis Wilhelms für die Entscheidung seines Bruders und die Gründe hierfür, die er in einem Brief vom 6.10.1818 an seine Frau äußert. 8 Ich spreche hier von einem wirkungsgeschichtlichen Aspekt in Anlehnung an Hans Robert Jauß, der den Begriff der Wirkung als "das vom Text bedingte", von dem der Rezeption als dem "vom Adressaten bedingte[n] Element der Konkretisation oder Traditionsbildung" abgrenzte (Jauß 1979, 383). 9 Nicht einmal Humboldt besaß, wie sich nach seinem Tode herausstellte, ein vollständiges Exemplar seines amerikanischen Reisewerks. Die große (Folio- und Quart-) Ausgabe des Reisewerks kostete ungebunden 9.574 Francs oder 2.SS3 Taler, eine Summe, die angesichts der 1200 Kupferstiche und Herstellungskosten in Höhe von 780.000 Francs verständlich wird (vgl. Biermann 1986, 10). '"Brief an Berghaus, zit. nach Löwenberg 1969, 498. "Und selbst die erwähnten drei Bände begannen erst volle zehn Jahre nach Beendigung der Reise zu erscheinen: der erste Band der Relation historique 1814, ein zweiter Band folgte 1819; der dritte und letzte Band — ein vierter Band wurde mehrfach angekündigt, befand sich wohl teilweise auch schon im Druck, kam aber nie heraus — soll laut Titelblatt 1825 erschienen sein, enthielt aber u.a. auch Materialien aus dem Jahre 1829, so daß Humboldts redaktionelle Arbeit an diesem Band nicht vor Ende der 20er Jahre abgeschlossen gewesen sein dürfte. Eine Vielzahl von Ungeschicklichkeiten Humboldts behinderte darüber hinaus auch den Absatz des Werkes.

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Bedenkt man nun die wirkungsvolle internationale Publicity12, die Alexander von Humboldt schon während seiner Reise geschickt betrieb (und die ihm aufgrund seiner Bekanntheit ebenso vor einer Gefangennahme durch ein englisches Kriegsschiff vor der heute venezolanischen Küste beschützte, wie sie in Lissabon den Befehl der Gefangennahme, sollte der Reisende die portugiesischen Besitzungen betreten, auslöste), so läßt sich die Enttäuschung seines Lesepublikums verstehen. Gerade die deutsche Leserschaft, welche nicht zuletzt durch die literarisch einflußreiche Reise um die Welt Georg Forsters geradezu in eine "Südseetrunkenheit" gestürzt worden war13, hatte sich von Humboldt wie ehedem vom Begleiter Cooks eine rasche Veröffentlichung des Reiseberichts erwartet. Diese hochgesteckten Erwartungen konnten auch die 1808 zuerst erschienenen Ansichten der Natur nicht befriedigen, in denen Humboldt zwar mit großem Erfolg beim Publikum in einzelnen Essays seine literarischen Qualitäten unter Beweis zu stellen vermochte, nicht aber den lange ersehnten Reisebericht vorlegte. So kann es nicht verwundern, daß früh schon einzelne Verleger und Herausgeber eine Chance witterten. Eine erste Phase der Adaptation des Reiseberichts begann. Bereits 1805, also ein Jahr nach Humboldts Rückkehr und noch vor Erscheinen der Ansichten, begann in Hamburg ein immerhin sechsbändiges Werk unter dem verräterischen Titel Reise um die Welt und in Südamerika von Alexander von Humboldt zu erscheinen. Es handelte sich um die erste "Piratenausgabe" von Humboldts Werk. Sie sollte nicht die einzige bleiben.14 Verräterisch war ihr Titel insoweit, als er nicht nur dem eigentlichen Reiseverlauf widersprach — eine Erscheinung, auf die noch zurückzukommen sein wird —, sondern sich fraglos aus verkaufsstrategischen Überlegungen an den erwähnten Bestseller, an Forsters Reise um die Welt, anlehnte. Diese "Bearbeitung" von Humboldts Reise basierte auf bereits veröffentlichten Materialien und vor allem auf den Zeugnissen von Alexanders breit gestreuter Öffentlichkeitsarbeit und war, wie Löwenberg verärgert formulierte, nichts weiter als ein "elendes Machwerk, das [...] der gespannten Erwartung des Publikums geboten wurde" (Löwenberg 1969, 515). Diese Orientierung am Publikumserfolg aber war symptomatisch. Genaue Daten über den Erfolg des Werkes sind mir zwar nicht bekannt; doch scheint nicht nur Löwenbergs grimmiger Hinweis darauf zu deuten, daß die Kalkulation des Hamburger Verlegers und seines anonymen Kompilators aufging: Humboldt

l2

Vgl. hierzu einige Bemerkungen in Beck 1985, 140f., sowie in Humboldt 1987, 21. "Vgl. Steiner 1983, 1015-1039, sowie zu dessen Wirkung Steiner 1977. l4 Im selben Jahr erschien eine Reise der Herren von Humboldt und Bonpland nach den Wendezirkeln, ein Bändchen von gerade 76 Seiten, in Erfurt, in dessen Vorrede zu lesen stand: "Noch nie hat die Unternehmung eines Reisenden eine größere Sensation und noch nie ein lebhafteres Verlangen nach der Erscheinung seines Tagebuches erregt als die des Herrn von Humboldt." Zitiert nach Merbach 1927, 25. Die verlegerischen Interessen bei einer solchen Publikumsnachfrage liegen auf der Hand.

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selbst sah sich noch 1814 genötigt, sich bereits auf der zweiten Seite seines Reisewerks von dieser Publikation nachdrücklich zu distanzieren und jede Kenntnis derselben zu bestreiten.15 Darüber hinaus scheinen im 19. Jahrhundert verschiedene weitere "Bearbeitungen" dieser "Bearbeitung", eines Surrogats im eigentlichen Sinne, in Umlauf gewesen zu sein (vgl. Merbach 1927, 26). Das Interesse von Publikum und Verlegern am Reisebericht blieb in Deutschland Humboldts Unternehmen treu - doch auch verlegerischer Eigennutz und verschiedenerlei Ungeschicklichkeiten. Schon bald nach dem Erscheinen des ersten Bands der französischen Relation historique begann Johann Friedrich Cotta mit der Veröffentlichung einer ersten Übersetzung ins Deutsche, die schließlich zu einer umfangreichen Ausgabe (Humboldt/Bonplandt 1815-1829) anschwoll und wohlgemerkt bis heute die einzige vollständige Übersetzung des Reiseberichts in deutscher Sprache darstellt. Humboldt jedoch stand ihr ablehnend gegenüber. Warum? Der entscheidende Grund ist wohl darin zu sehen, daß diese Übersetzung der Humboldt freundschaftlich verbundenen Witwe Georg Forsters, Therese HeyneForster-Huber, pikanterweise nicht als solche gekennzeichnet war: Auf dem Titelblatt wurde weder auf die Tatsache einer Übersetzung noch auf deren Urheberin aufmerksam gemacht. Das deutsche Publikum, das beispielsweise Cottas Ausgabe der Ideen zu einer Geographie der Pflanzen (1807) oder der Ansichten der Natur (1808) kannte, sollte ganz bewußt hinters Licht geführt und zu der Annahme verleitet werden, daß dieser neuerlich bei Cotta aufgelegte Text aus der Feder Alexanders selbst stamme. Gerade dies aber war nicht der Fall, ja Humboldt scheint von J. F. Cotta nicht einmal zuvor von der geplanten Übersetzung in Kenntnis gesetzt worden zu sein (vgl. Biermann 1986, 16). Verlegerische Überlegungen dominierten. Das große Verdienst dieser Übersetzung — ihre Vollständigkeit — wurde von der bedauernswerten Tatsache überdeckt, daß die Ausgabe unter einer Vielzahl gravierender inhaltlicher Mängel und Übersetzungsfehler sowie unter erheblichen stilistischen Unzulänglichkeiten litt. 1860 ließ Georg von Cotta, in einem Brief recht ungeschickt seinen Vater verteidigend, durchblicken, daß dieser sich nicht einmal die Mühe gemacht hatte, das Manuskript der literarisch alles andere als unerfahrenen Übersetzerin zu lesen. Aufgrund von Humboldts persönlicher Beziehung sowohl zu Johann Friedrich Cotta als auch zu Therese Huber mußte sich der preußische Naturforscher bis zum Tod der beiden16 in

"Humboldt 1970 I: 40: "Cette relation, faite en mon nom, a été rédigée, à ce qui paraît, d'après des notices publiées dans les journaux, et d'après des mémoires isolés que j'ai lus à la première classe de l'Institut. Le compilateur, pour fixer l'attention du public, a cru pouvoir donner à un Voyage dans quelques parties du nouveau continent le titre plus attrayant de Voyage autour du monde." ''Humboldt wußte zudem die Witwe seines einstigen Freundes in ernsten finanziellen Schwierigkeiten. Nach dem Tod Therese Hubers im Jahre 1829 vollendete im übrigen ihr Sohn Victor Aimé die Übersetzung.

104 Verschwiegenheit üben. Danach machte er allerdings um so deutlicher seinem angestauten Ärger Luft. 1 7 Daß Humboldt die Übersetzung anfänglich ignorierte und später dann schroff ablehnte, trug neben den vorhandenen und für jedermann sichtbaren sprachlichen Ungeschicklichkeiten sicherlich dazu bei, daß dieser ersten Übersetzung des Reiseberichts nur ein mäßiger Erfolg beschieden war: Sie ist heute längst in Vergessenheit geraten. 18 Kaum war jedoch diese erste deutsche Ausgabe des Reiseberichts erschienen, so fanden sich schon ihre ersten Bearbeiter ein — auch dies wiederum ein Hinweis auf das unvermindert große Interesse des deutschsprachigen Publikums. 1 9 Unter einer Vielzahl v o n Bearbeitungen scheint mir in mehrfacher Hinsicht eine Publikation bemerkenswert, die in 4 Bändchen 1830 in Wien (in der Reihe "Bibliothek naturhistorischer Reisen für die reifere Jugend") erschien (Wimmer 1830). Sie wies — wie zu zeigen sein wird — bestimmte charakteristische Muster der Anverwandlung von Humboldts Reisewerk auf und stellte gleichzeitig die erste Adaptation dar, die Ziel wie Zielpublikum genau benannte. Denn ihr Verfasser, der evangelische Prediger Wimmer, schrieb nach eigenem Bekunden für Leser zwischen 15 und 24 Jahren, die er "von den verderblichen Romanen [etwa Walter Scotts], die nur die Phantasie erhitzen, abzuziehen" suchte 20 .

"Besonders monierte Humboldt die literarischen Mängel der Übersetzung; so schrieb er in einem Brief vom 20.1.1840 an Georg von Cotta: "eben weil ich eine große Wichtigkeit auf meinen Styl lege, mir selbst eine gewisse Lebendigkeit und Anmuth in Naturbeschreibungen zutraue, ist es mir ein Groll gewesen, mich von anderen in die Sprache übersetzt zu lesen, in der ich das gute und schlechte am lebhaftesten fühle" (zit. nach Biermann 1986, 17). Dessen ungeachtet bestritt Humboldt wiederholt jegliche Kenntnis dieser Übersetzung, obwohl er in den 20er Jahren mitunter in brieflichem Kontakt mit deren Urheberin stand. Das Verzeichnis von Humboldts Privatbibliothek weist zudem unter Nr. 4605 die sechsbändige Ausgabe der Übersetzung aus (vgl. Stevens 1967, 324). 18 Die Übersetzung ist nur noch wenigen Humboldt-Forschern bekannt. Sie erschien in einer relativ kleinen Auflage und wurde später nie mehr aufgelegt. Zu Recht wandte sich H. Beck jedoch gegen die verbreitete (und zumeist in Unkenntnis des Textes vorgenommene) völlige Abwertung dieser Übersetzung, deren Wert er sogar über die noch zu besprechende Übertragung Hauffs setzte (vgl. die Einleitung Becks in Humboldt 1970, IX). Wesentlich zurückhaltender äußerte sich derselbe Autor jedoch 15 Jahre später (vgl. Beck 1985, 12f.). Bei meiner Neuausgabe des Reisewerks habe ich auf bestimmte Passagen dieser um Texttreue bemühten Ausgabe zurückgegriffen. "In einer kurzen Anmerkung wies Löwenberg auf die "wiederholten Auflagen [...] mehr oder minder geschickte[r] Bearbeitungen" hin; es scheint sogar eine "anonyme deutsche Uebersetzung des Reisewerks aus dem Englischen" gegeben zu haben, die mir bislang leider nicht zugänglich war (vgl. Löwenberg 1969, 515). Sie basierte auf der Ausgabe von Macgillivray. 20 Wimmer 1830 I: V. Recht erfolgreich war aber auch eine von H. Kletke bearbeitete Ausgabe, welche die Amerika-Reise sowohl separat als auch in Zusammenhang mit der Asien-Reise vorstellte; die letztgenannte, Alexander von Humboldt's Reisen in Amerika und Asien, lag 1860 bereits in der 3. Auflage vor.

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Die Bearbeitung von Humboldts Werk, welche "im Einverständnis mit dem Freiherrn von Cotta, als rechtmäßigem Verleger, unternommen wurde"21, diente als einflußreiches Erziehungsmittel für ein gottgefälliges Leben und gegen den Einfluß "schlechter Literatur". Vor dem Hintergrund eines so verstandenen "prodesse et delectare" schien Wimmer "nur der unterhaltende Theil der Arbeiten des größten lebenden Naturschauers aufgenommen werden" (Wimmer 1830 I: IX) zu können. Die naturwissenschaftlichen Passagen von Humboldts Reisewerk wurden folglich sehr stark gekürzt. Nur dort, wo sich eigene naturkundliche Interessen des Predigers aus Siebenbürgen mit Humboldts Untersuchungen (etwa beim Vulkanismus) deckten, blieben gewisse Reste bestehen, wobei sich der Bearbeiter nicht scheute, Alexanders Meinungen des öfteren zu verwerfen und seine eigenen Thesen aufzustellen (vgl. ebda. II: 34, 45ff., 110, 131, 347 etc.). Dabei erhielt der "Reisebericht" eine neue Erzählerfigur, die nach einem Ausschnitt aus Humboldts Einleitung in der 1. Person mit dem Beginn der Fahrt nun selbst die Aufgabe des Erzählens übernahm und fortan von Alexander und seinem Begleiter nur mehr in der dritten Person sprach: "Nun ihr Winde, seyd fein höflich, beunruhigt unsre Reisenden nicht, und blaset schön sanft in die lieben Segel, daß ihnen kein Leid geschehe" (ebda. I: 26). Die Einführung einer neuen narrativen Instanz, die Humboldts französisches Original in Text und Bewußtsein des Lesers völlig auslöschte und allein die Übersetzung Therese Hubers gleichsam als untergeordneten Intertext gelten ließ22, bildete die Grundlage für eine stark ideologisierte und ideologisierende "Lektüre". Denn der neue Ich-Erzähler, ausreichend mit Autorität ausgestattet, um Humboldt seiner Bewunderung ungeachtet explizit oder implizit korrigieren zu können, übte nicht nur eine Art moralischer Zensur aus, sondern schob dem preußischen Forschungsreisenden, für den Leser selbstverständlich nicht erkennbar, eigene Wertungen unter. So fiel nicht nur bei der Ankunft in Santa Cruz de Tenerife der von Alexander humorvoll geschilderte Auftritt der Capitana, die die Organisation sexueller Bedürfnisbefriedigung der Seeleute mit den Erfordernissen seemännischer Disziplin zu verbinden hatte, ebenso selbstverständlich wie stillschweigend einem Eingriff des Bearbeiters zum Opfer23; gerade die Rolle

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Wimmer 18301: XI. Wimmer konnte allerdings kaum mit dem Verständnis des von ihm so hoch gelobten Verfassers rechnen, so daß seine Abmachung allein mit Cotta verständlich erscheint. Daß Cotta — einmal mehr ohne Wissen Humboldts — seine Einwilligung nicht nur "mit der liebenswürdigsten Humanität" gab, sondern auch finanziell davon profitierte, darf vermutet werden. 22 Mehrfach wird deutlich, daß Wimmer selbst die Existenz eines französischen Originals wohl unbekannt war. "Vgl. die "Lücke" in Wimmer 1830 I: 53.

106 der Kirche 24 in den spanischen Kolonien wurde entgegen der sehr viel kritischeren Position des Preußen nun gänzlich positiv dargestellt. 25 Die moralisierenden, ideologisierenden und aktualisierenden Einschöbe 26 des evangelischen Predigers schufen ein völlig neues Werk, in dem sich Passagen aus der Übersetzung von 1815ff. wie Fremdkörper ausnahmen. 27 Die völlige Zerstörung der narrativen Strukturen des Originals 28 und der Aufbau gänzlich anders gearteter Erzählmuster schufen einen Text, der nur noch in groben Zügen mit Humboldts Beobachtungen und seinen philosophischen und ideologischen Vorstellungen zu tun hatte. 29 Dieser Text war nicht mehr nur durch eine Übersetzung v o m Original getrennt, sondern entwickelte unter beständiger Berufung auf den "großen Reisenden" zum ersten Mal einen gleichsam parasitären Charakter, der Humboldts Intertext nach Belieben kontextualisierte und manipulierte.

M

Vgl. Wimmer 1830 I: 240f., wo Wimmer nach dem Lob des Las Casas die Funktionsweise von Kirche und Religion in den Kolonien schilderte: "Wie eine Henne ihre Küchlein sammelt unter ihre Flügel, so sammelte sie die Reste zerstreuter Völker in Gemeinheiten, welche Missionen heißen, und gründete unter und mit ihnen Landbau und Häuslichkeit." Entsprechend diente die Existenz von Klöstern Wimmer wiederum dazu, Amerika pauschal mit dem geschichtlichen Stand des mittelalterlichen Europa gleichzusetzen (II: 5) — auch dies eine Position, die keineswegs den Überzeugungen Humboldts entsprach. "Dies war gewiß kein Einzelfall in der Geschichte der Übersetzungen und Bearbeitungen Humboldts. So ließ eine spanische Ausgabe ohne jeden Hinweis einfach alle Passagen Humboldts aus, die sich auf das Missionswesen bzw. die Missionare bezogen (vgl. Minguet 1969, 665). 26 Vgl. etwa den ernsthaften Kommentar des Ich-Erzählers zur Bemalung der Indianerinnen: "Dieselbe Eitelkeit, die in Europa die Männer und ihre Haushaltung zu Grunde richtet, raubt auch am Orinoko den Schweiß der Arbeit, und die Toiletten, diese Götzenaltäre der Wienerinnen und Pariserinnen, sind in den amerikanischen Wildnissen, nicht minder heiß vom Opferfeuer der — Eitelkeit?!" (Wimmer 1830 III: 290). "Besonders lange Passagen aus der Übersetzung finden sich auffälligerweise während der Orinoco-Fahrt — Humboldt hatte dort innerhalb der Mischgattung des Reiseberichts die "spannendere" Form eines Reisetagebuchs gewählt. Allein dies schon hob die Fahrt auf dem Orinoco für die zeitgenössischen Leser vom Hintergrund anderer Schilderungen und Erläuterungen ab. Denkt man an die Wiedergabe des Tagebuchs der ersten Reise von Cristóbal Colón in der Abschrift von Las Casas, so ergeben sich in der Bearbeitung Wimmers gewisse Parallelen hinsichtlich narrativer Strukturen und anachronistischer Einschübe, die an dieser Stelle freilich nicht ausgeführt werden können. M Vgl. zu dieser bislang übersehenen "literarischen Mechanik" des Humboldtschen Reiseberichts das Nachwort des Verfs. "Der Blick auf die Neue Welt." In: Humboldt 1990 II: 1562-1595. Vergleichbar ging auch ein 69 Seiten starkes Bändchen vor, das sich allerdings im wesentlichen nur dem Reiseverlauf von der Abfahrt in La Coruña bis zur Abfahrt von Santa Cruz de Tenerife widmete; vgl. das Werk mit dem nicht gerade bescheidenen Titel Skizzen aus dem Leben und den Reisen des Alexander von Humboldt, zusammengestellt von Kreybich 1840.

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Legte Wimmers Werk — und mit ihm andere deutschsprachige Bearbeitungen — eindeutig den Akzent auf die philosophischerund "allgemein bildenden" Aspekte zuungunsten spezifisch wissenschaftlicher Erläuterungen und Statistiken in Humboldts Reisewerk, so darf an dieser Stelle in Ermangelung eines Beispiels aus dem deutschen Sprachraum auf eine ausländische Adaptation hingewiesen werden, die charakteristischerweise gerade die pragmatische Dimension von Humboldts Werk betonte31. Im Jahre 1856 erschien eine nordamerikanische Ausgabe von Humboldts Essai politique sur l'ile de Cuba, der ursprünglich als 28. Kapitel einen integralen Bestandteil des dritten Bandes der Relation historique gebildet hatte und erst nachträglich von Humboldt, parallel zu seinem Essai politique sur le Royaume de la Nouvelle-Espagne, separat publiziert worden war (Humboldt 1826). Es handelte sich bei dieser Publikation gleichzeitig um eine Übersetzung und eine Bearbeitung. J. S. Thrasher, der für beides verantwortlich zeichnete, gab seine Ausgabe implizit als eine "complete version" aus, eine Behauptung, die ebenso falsch war wie die Tatsache bemerkenswert, daß der lange Zeit in Kuba lebende Nordamerikaner nicht aus dem französischen Original32, sondern aus einer (im übrigen keineswegs textgetreuen) spanischen Übersetzung übersetzte.33 Auch Thrasher hob die Autorität des preußischen Gelehrten hervor, dessen Werk noch immer die beste Publikation zum Thema Kuba darstelle. Und wie Wimmer visierte auch er ein präzise bestimmtes Zielpublikum, hier den nordamerikanischen Leser, an. Sich an dessen Interessen zu orientieren, gab der

^Im Falle Wimmers freilich nur, um sie umso besser manipulieren zu können. Hierzu gehört auch die Überspitzung bestimmter Positionen Humboldts, etwa in der Frage der Verurteilung der Sklaverei, der Wimmer durch eine Vielzahl von Kommentaren und Einfügungen einen wesentlich schärferen Charakter verleiht. Auf die Frage der Sklaverei wird anhand des folgenden Beispieltextes noch zurückzukommen sein. 3l Bei seiner Untersuchung der Wirkungsgeschichte von Raynals Histoire des Deux Indes, jenem Amerika-Bestseller, der mit Humboldts Ruhm zu verblassen begann, konnte HansJürgen Lüsebrink eine spezifische Logik der Auswahl erkennen: Bei der Mehrzahl der Bearbeitungen und Extrakte wurde der politische und philosophische Diskurs priorisiert, während bei einer Minderzahl wiederum der pragmatische Aspekt — Statistiken, Wirtschaftsprognosen etc. — zuungunsten des philosophischen Diskurses verwertet wurde. Diese Aufteilung scheint mir auch für einen Teil der Bearbeitungen von Humboldts Reisewerk pertinent zu sein (ein dritter, für die Wirkungsgeschichte Humboldts sehr wichtiger Aspekt wird später Erwähnung finden). Vgl. Lüsebrink 1988. 32 Es handelte sich hierbei nicht um den einzigen Fall einer solchen "Übersetzungskette": Auf eine deutsche Übersetzung von Humboldts Reisebericht aus dem Englischen wurde bereits aufmerksam gemacht. Von einem weiteren Beispiel wird noch zu berichten sein. 33 Vgl. die Einleitung Thrashers 1969, o.S. In einer recht ungeschickten Rechtfertigung mußte Thrasher später zugeben, daß der Grund hierfür in seiner Unkenntnis des Französischen lag; vgl. Thrashers offenen Brief vom 17.8.1856 an den New York Daily in Ortiz 1960, 382.

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Bearbeiter vor, als er die Anordnung von Humboldts Werk nach Gutdünken veränderte, bestimmte Passagen wegließ, eigene (allerdings als solche gekennzeichnete) Beobachtungen einflocht oder das statistische Zahlenmaterial des preußischen Forschungsreisenden durch neuere Angaben und Untersuchungen ergänzte. All dies gehorchte den Intentionen Thrashers, wie dieser sie in seiner Einleitung zu Papier brachte und wie sie dem zeitgeschichtlichen Kontext seiner Publikation entsprachen. Washingtons Pläne, baldmöglichst Spanien die Insel Kuba abzukaufen, machten zur "Information" der hierauf einzustimmenden nordamerikanischen Bevölkerung eine Lancierung von Literatur über die Karibikinsel notwendig34. Dieser Propagandafunktion, dieser Rechtfertigung und Legitimation des nordamerikanischen Anspruchs auf Kuba entsprach The Island of Cuba, by Alexander Humboldt, in vollem Maße. In seinem einleitenden Essay hob der Übersetzer und Herausgeber daher nicht von ungefähr die enorme geostrategische Bedeutung Kubas für die USA, die politischen Gefahren aufgrund der Einmischung Englands33 sowie die wirtschaftlichen Erfolgsaussichten im Falle einer Eingliederung Kubas in die Union hervor. Darüber hinaus ließ Thrasher keinen Zweifel an seiner positiven Einschätzung der Sklaverei auf Kuba wie in den Südstaaten der USA, trage sie doch lediglich der gottgegebenen Einteilung in überlegene und unterlegene Rassen zum Vorteil aller Rechnung. Jeglichen Reformversuch der Sklaverei durch die spanischen Kolonialbehörden lehnte er scharf ab, verwies mahnend auf die Beispiele "schwarzer Barbarei" auf Haiti und Jamaica und stellte die USA als einzige Macht dar, welche Kuba vor einem drohenden Rassenkrieg und dessen Ursachen, den "bloodthirsty teachings of European philanthropy", noch retten könne (ebda., 89). Thrasher ging hierbei so weit, seine auf machtpolitischen, ökonomischen, sozialen und anthropologischen (d.h. rassistischen) Argumenten ruhende Verteidigung der Sklaverei mit dem Namen Humboldts zu verbinden (ebda., u.a. 55f., 89ff.). Dies war ihm freilich nur dadurch möglich, daß er in seiner folgenden Bearbeitung des Essai politique mit Ausnahme einiger kleinerer Bemerkungen all jene Ausführungen, in denen sich Humboldt unmißverständlich gegen die Sklaverei auf Kuba wie auch in den Südstaaten der USA aussprach, ersatzlos entfernte. Seiner Schere fiel, selbstverständlich ohne jeden Hinweis an den Leser36, insbesondere jene lange Passage zum Opfer, in der Humboldt sei-

^Vgl. zum zeitgeschichtlichen Kontext der Bearbeitung Thrashers denselben Aufsatz des kubanischen Anthropologen Ortiz 1960. ,s Thrasher plädierte hierbei für eine US-Politik der Stärke gegenüber Spanien, da dieses Land durch seine maurische Vergangenheit so orientalisch geworden sei, daß es nur auf Stärke reagiere; vgl. Thrasher 1856, 40ff. •"Mehr noch: Die neue Anordnung des Materials sollte offensichtlich den Leser über das Fehlen bestimmter Passagen hinwegtäuschen.

109 ne ausführlichen statistischen Untersuchungen beendete und zu einer jener grundlegenden philosophischen Erörterungen ausholte, mit denen er jeweils ein bestimmtes Thema von einer übergeordneten Ebene aus abzuschließen pflegte." Die pragmatische nordamerikanische Bearbeitung Humboldts nutzte also vor allem die verwertbaren Daten, Fakten und Statistiken des Originals und sparte dabei genau jenen philosophischen Diskurs aus, den die meisten deutschsprachigen Bearbeitungen zu jenem Zeitpunkt hervorhoben. Gleichwohl lag auch ihr eine starke, am Zielpublikum ausgerichtete Ideologisierung zugrunde, fühlte sich Thrasher doch einer politisch-ideologischen Position verpflichtet, welche "the consequent consolidation of American power on this continent, and of its influence throughout the world" verfolgte (vgl. Thrasher 1856, 95). Auch in dieser pragmatischen Auswahl kam folglich eine ideologische Funktionalisierung zum Ausdruck, deren Gründe Humboldt sofort durchschaute und gegen die er öffentlich und vehement protestierte. 38 Wie in den deutschsprachigen Ländern 39 beruhte auch in den U S A der Anreiz für eine solche Funktionalisierung hauptsächlich auf dem großen Prestige, das Humboldts Name besaß. 40

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Es handelt sich hierbei um die Seiten 445-458 des dritten Bandes von Humboldt 1970; ein ausführlicher Vergleich zwischen dem französischen Original und der nordamerikanischen Übersetzung und Bearbeitung ergab eine Vielzahl von Abweichungen, die hier jedoch nicht darzustellen sind. 3, Sein offener Protestbrief vom Juli 1856 in der Spenerschen Zeitung richtete sich dabei nicht so sehr gegen die imperialistische Zielsetzung dieser nordamerikanischen Publikation, als gegen die Verfälschung seiner unmißverständlich gegen die Sklaverei gerichteten Überzeugungen. Er begrüßte zwar die Einfügung neuen Zahlenmaterials, protestierte aber energisch gegen die unkommentierte Streichung seiner Verurteilung der Sklaverei, des 7. Kapitels der ihm bekannten spanischen Übersetzung, dem er eine weit größere Wichtigkeit als all seinen astronomischen und statistischen Untersuchungen zuerkannte. Die Veröffentlichung von Humboldts Protestschreiben im New York Daily Times erzwang eine recht ungeschickte Verteidigung Thrashers in seinem bereits erwähnten offenen Brief, in dem er seine Haltung mit der falschen Behauptung zu begründen suchte, es handle sich bei den weggelassenen Passagen um einen separaten Essay Humboldts über die Sklaverei. Die ausgelassenen Passagen wurden im übrigen von nordamerikanischen Abolitionisten im New York Herald und im Courrier des Etats-Unis nachträglich veröffentlicht: auch dies natürlich im Sinne einer Funktionalisierung Humboldts. Vgl. hierzu Ortiz 1960, 380-383, sowie Minguet 1969, 534-537. Wie sehr die Frage der Sklaverei Humboldt auch noch im Alter bewegte, ist u.a. den Briefen seiner letzten Jahre an Varnhagen von Ense zu entnehmen. 39 Das Fehlen einer Funktionalisierung mit Hilfe pragmatischer Bearbeitungen im deutschen Sprachraum erscheint mir nach dem bisher Beobachteten allerdings signifikativ. Es hängt mit der Abwesenheit von Interessen (z.B. nationaler, kolonialistischer oder imperialistischer Art) zusammen, die vor allem die Länder des amerikanischen Kontinents zu einer Funktionalisierung von Humboldts Reisewerk bewegen konnten. •"in der Präsidentschaftskampagne von 1856 griff der Abolitionist Buchanan, durchaus im Einverständnis mit dem preußischen Gelehrten, auf dieses Prestige, wenn auch ohne Erfolg, zurück. Vgl. die in den vorangehenden Fußnoten aufgeführten Hinweise.

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Die Übersetzung Hermann Hauffs und ihre Bearbeitungen Eine zweite, im Grunde bis in die Gegenwart andauernde Phase begann mit der Initiative des jungen Cotta und seinem Auftrag an Hermann Hauff, eine Neuübersetzung der Relation historique in Angriff zu nehmen.41 Der von Humboldt mit wohlwollenden Worten (vgl. Biermann 1986, 18) bedachte Bruder des Dichters Wilhelm Hauff legte seine Übersetzung in vier Bänden 1859-60 vor unter dem Titel Alexander von Humboldt 's Reise in die Aequinoctial-Gegenden des neuen Continents. In deutscher Bearbeitung von Hermann Hauff. Nach der Anordnung und unter Mitwirkung des Verfassers. Einzige von A.v. Humboldt anerkannte Ausgabe in deutscher Sprache*1. Sie wurde zur einflußreichsten Übersetzung der Reisebeschreibung und blieb dies bis zum heutigen Zeitpunkt. Wenige Wochen vor seinem Tode hatte Humboldt noch ein Vorwort für diese Ausgabe schreiben können. Die kurze Einleitung, auf den 26. März 1859 datiert, ließ keinen Zweifel an Humboldts grundsätzlichem Festhalten an einer vollständigen Ausgabe43, signalisierte aber gleichzeitig in Hinblick auf das Zielpublikum sein Einverständnis44 mit den Plänen von Verleger und Übersetzer, "einen etwas abgekürzten Text der Reise in die Tropen-Gegenden des Neuen Continents dazubieten". Ziel sollte es nun nach Humboldt sein, sein Werk "einem größeren Kreise gebildeter Leser, die bisher mehr mit der Natur als mit scientifischem Wissen befreundet waren", zugänglich zu machen (Humboldt in Hauff 1861-62 I: VI). Die angestrebte Öffnung des Reisewerks für ein größeres Publikum erreichte die neue Übersetzung zweifellos. Die vollmundige Ankündigung des Titelblatts aber trog: Weder konnte Humboldt an der Ausgabe "mitwirken" (so fehlen die im Vorwort angekündigten Berichtigungen wissenschaftlicher Art), noch konnte er die Übersetzung in ihrer Gesamtheit überhaupt kennen (geschweige denn wirklich "anerkennen"), wurde die Hauffsche Ausgabe doch erst nach seinem

41

Georg von Cotta, der 1833 den Verlag vom Vater übernommen hatte, unterbreitete Humboldt seinen Vorschlag einer auszugsweisen Übersetzung bereits Ende 1839; vgl. Biermann 1986, 17. 42 Schon kurze Zeit später (1861-62) erschien im selben Verlag eine sechsbändige Ausgabe, nach der ich im folgenden zitiere. 43 Humboldt in Hauff 1861-62 I: V: "Einem wissenschaftlichen Reisenden kann es wohl nicht verargt werden, wenn er eine vollständige Uebersetzung seiner Arbeiten jeder auch noch so geschmackvollen Abkürzung derselben vorzieht." Aus diesem Satz sprach versteckt die schlimme Erfahrung der früheren "Bearbeitungen" seines Werks. In seinem Kosmos pflegte er allein seine Originalausgaben zu zitieren, da er — wie er zu Beginn seines Werkes klarstellte — "in Beziehung auf die Sorgfalt der Übersetzer von großem Mißtrauen erfüllt" sei; vgl. Humboldt 1845, Xlllf. Humboldt wußte, wovon er sprach. "Dieses Einverständnis hatte Humboldt Cotta bereits in einem Brief vom 20.1.1840 mitgeteilt; aus schlechter Erfahrung im Hause Cotta klug geworden, fugte er nachdrücklich hinzu, daß auf dem Titelblatt unbedingt festgehalten werden müsse, daß es sich um eine Übersetzung handle.

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Tode veröffentlicht. Gleichwohl erlaubten es die Behauptungen des Titelblatts ihrem Herausgeber, zunächst einmal gegen die "völlig unbrauchbare", "nichtswürdige" und von Humboldt verachtete Übersetzung sowie "verschiedene deutsche Auszüge und Bearbeitungen der Reisebeschreibung [...], die bequemerweise nur jene Uebersetzung zu Grunde legten, und aus ihr zahllose Sprachsünden, Mißverständnisse und Irrthümer herübernahmen", zu polemisieren (Hauff 1861-62 I: X, Vorrede des Hg.). Er nannte Humboldts Reisebeschreibung "ein der höheren Literatur angehörendes Werk, ein eigentliches Kunstwerk" (ebda.), dessen künstlerische Form es zu wahren gelte, und verwies darauf, mit dem Verfasser übereingekommen zu sein, "das Buch als literarisches Produkt möglichst unversehrt zu erhalten, nirgends auszugsweise zu verfahren, sondern im Ganzen überall dem Texte treu zu bleiben und nur die kürzeren und längeren streng wissenschaftlichen Excurse und Abhandlungen [...] abzulösen" (ebda., XVI). Hauffs Polemik trug Früchte. Die Übersetzung von Therese Huber geriet in völlige Vergessenheit, jede weitere Bearbeitung des Reisewerks basierte in Zukunft nur noch auf der Hauffschen Übertragung. Wie aber löste diese ihre Versprechungen selbst ein? Wahrte sie die von Hauff zurecht so genannte künstlerische Form des Reiseberichts? Humboldts Ableben gab Verleger wie Herausgeber freie Hand. Bereits die für das Verständnis von Vorbereitung, Entwicklung und Ablauf der Forschungsreise so wichtige Einleitung des preußischen Gelehrten fiel der Schere des Herausgebers, möglicherweise aber auch des Verlegers, zum Opfer. Die bei Humboldts Veröffentlichungen so substanzreichen Fußnoten wurden größtenteils ausgelassen, die Kapitel- und Bucheinteilungen teilweise völlig verändert, die beiden letzten Kapitel ohne ein Wort der Erläuterung ganz gestrichen: Humboldts Reisebericht endete nun im Hafen von Havanna. Dem zeitgenössischen Leser, dem das kostspielige französische Original nur in den seltensten Fällen zur Verfügung stand, wurde gleichwohl Vollständigkeit suggeriert. Diese aber konnte Hauffs Ausgabe nicht bieten. Allein der Umfang seiner Übersetzung hätte einem unvoreingenommenen Leser zu denken geben müssen.43 Hauff veränderte nicht nur die Einteilung, verzichtete mehrmals auf die Humboldt so wichtigen weltweiten Vergleiche der lateinamerikanischen Phänomene, sondern ließ mitunter ganze Passagen, teilweise von über 250 Seiten, kommentarlos weg, wenn er sie für weniger wichtig erachtete. Mit Hilfe kurzer Überleitungen versuchte er, allzu große Gedankensprünge zu vermeiden. Hinzu kamen eine Reihe von Übersetzungsfehlern und Ungenauigkeiten. Teilweise handelte es sich hierbei um Fehler, für die man entweder eine erstaunliche

45 Die Übersetzung von Heyne-Forster-Huber umfaßte insgesamt ca. 3000 Seiten ä 1750 Anschläge, die Hauffsche in der 6-bändigen Ausgabe hingegen nur ca. 1150 Seiten ä 2000 Anschläge (die identische 4-bändige Ausgabe zählte 1666 Seiten, jedoch auch weniger Anschläge pro Seite).

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Lässigkeit oder die Arbeit eines anonym gebliebenen Hilfsübersetzers verantwortlich machen könnte46. Doch gab es auch eine Reihe von Fehlern, die eher ideologische Motive nahelegten: Betonte Humboldt immer wieder die europäische Perspektive seiner Überlegungen, so verschleierte Hauff, z.B. im 2. Kapitel, diese Perspektivierung, indem er mehrfach das Wörtchen "européen" unübersetzt ließ; sprach Humboldt an einer anderen Stelle von "europäischen Sklavenhaltern" (vgl. Humboldt 19701: 324 oder ähnlich 374), so wurden diese in Hauffs Übersetzung zu Spaniern, zog Humboldt einen Vergleich zwischen der Abhängigkeit der Indianer und der "barbarie de nos institutions féodales", so sprach Hauff lediglich von der "Barbarei des Feudalsystems"47. Humboldts unvollendet gebliebener Reisebericht erschien auf diese Weise über vier Jahrzehnte später in einer deutschen Ausgabe, die nicht nur nicht textgetreu, sondern fragmentarisch und entstellend war. Warum aber konnte sie sich während mehr als hundert Jahren im deutschen Sprachraum nicht nur konkurrenz-, sondern auch widerspruchslos durchsetzen? Mehrere Gründe waren hierfür ausschlaggebend. Die Publicity für diese Übersetzung, deren Original ja nur in einigen Bibliotheken zur Verfügung stand — und wer machte sich schon die Mühe, diese einmal einzusehen —, war überaus effektiv: Sie wurde bereits anhand des Titelblatts und Hauffs Polemik deutlich. Darüber hinaus waren die sichtbaren Mängel der Arbeit von Hauffs Vorgängerin nicht dazu geeignet, einen Übersetzungsvergleich — handelte es sich zudem noch um zwei Übersetzungen aus demselben Verlag — anzuregen. Der vielleicht entscheidende Grund aber lag in der Zielsetzung und Verwirklichung einer Übersetzung, die weniger den naturwissenschaftlichen Aspekt des Werkes, als vielmehr seine spezifisch literarischen und philosophischen Qualitäten hervorheben wollte. Nicht mehr — wie noch Humboldt meinte — die Heranführung eines größeren Publikums an ästhetisch aufbereitetes "scientifisches" Wissen stand im Vordergrund; die literarische Ausgestaltung war nunmehr das alleinige Ziel Hermann Hauffs. Auf diesem Gebiet lagen auch die Stärken seiner neuen Übersetzung, deren große Verdienste keineswegs geschmälert seien. Hauff brachte den Reisebericht dem deutschen Publikum fraglos näher. Die spezifisch literarischen Qualitäten seines Textes sind offenkundig und noch heute beeindruckend. Hermann Hauff (1800-1865) war als Nachfolger seines Bruders Wilhelm in der Redaktion des

" D i e s legt eine Vielzahl hier nicht aufzuzählender "Schnitzer" nahe, die sich in stilistisch anspruchsvolleren Passagen nicht finden und auf einen eher unerfahrenen Übersetzer deuten. Humboldt könnte hierfür, mit seiner wahrlich großen Ungeschicklichkeit in verlagstechnischen Dingen, selbst das Tor geöffnet haben, schrieb er am 15.3.1841 doch an Hauff, er würde sich glücklich fühlen, wenn dieser "wenigstens in den Theilen, die einiges Verdienst lebendigen Naturgefühls haben, die Übersetzung selbst übernehmen" wollte (zit. nach Biermann 1986, 18). 47 Humboldt 1970 II: 269. Derartige Beispiele ließen sich häufen. Zu Beginn meiner Arbeit an der Neuherausgabe von Humboldts Reisebeschreibung glaubte ich noch an Zufälle.

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Cottaschen Morgenblattes48, das unter seiner Leitung zu einer der einflußreichsten und beliebtesten belletristischen Zeitschriften des deutschen Sprachraums wurde, ein stilistisch fraglos erfahrener Mann. Sein an Humboldts Ausdrucksweise in der deutschen Sprache orientierter Stil und seine Gabe, die Humboldtsche Metaphorik zwar nicht immer präzise, aber doch sehr wirkungsvoll nachzubilden, ließen seine Übersetzung zu einer so angenehmen Lektüre werden, daß die deutschen Leser das französische Original schon bald nicht mehr vermißten. Man vergaß es gerne über dem so wohlklingenden und beruhigenden Titelblatt der Hauffschen Übersetzung. Dies sollte Folgen haben. Denn die alles andere als textgetreue Übersetzung und (so darf man getrost hinzufügen) Bearbeitung Hermann Hauffs49 wurde selbst wiederum zur unhinterfragten Grundlage für weitere, noch stärker gekürzte Bearbeitungen bis in die neueste Zeit. Genau das, was Hauff den Bearbeitern von Therese Hubers Übersetzung vorgeworfen hatte, wurde zur Regel bei einer Vielzahl von Bearbeitungen seiner Übertragung: Hauffs Ausgabe nahm die Stelle des Originals ein. Die literarischen Qualitäten, aber auch die von ihm verursachten Veränderungen oder Fehler wurden selbstverständlich tradiert. Ein aussagekräftiges Beispiel aus dieser Kette von Bearbeitungen ist ein 1911 erschienenes Bändchen mit dem Titel Auf dem Orinoko®. Es umfaßte auf insgesamt 117 Seiten ausschließlich die Orinoko-Fahrt Alexanders und rückte einen Teil des Reiseverlaufs in den Mittelpunkt, der in der Relation historique ursprünglich 635 großformatige Seiten, damit aber nur 21% der gesamten Reisebeschreibung eingenommen hatte. Zweifellos stellte dieser Reiseabschnitt einen der Höhepunkte von Humboldts Fahrt dar: Durch die — freilich immer wieder durch Exkurse unterbrochene — Verwendung des Tagebuchschemas hatte Humboldt selbst diesem Abschnitt literarisch einen Sonderstatus innerhalb der Relation historique eingeräumt. Aber er war gewiß nicht von der überragenden Bedeutung, die ihm in der Folge zuerkannt werden sollte. Der Herausgeber des Bändchens wählte die "Erzählung", die "mit Humboldts eigenen Worten"51 erfolge, nach dem Kriterium der Ereignishaftigkeit aus. Fast alle wissenschaftlichen oder naturhistorischen Bemerkungen wurden getilgt, die philosophischen Einschübe Humboldts auf ein Mindestmaß reduziert. Was übrig

^Auch Therese Huber war interessanterweise seit 1819 Redakteurin des Morgenblattes gewesen. 4 ®Nicht umsonst bezeichnete sich Hauff selbst in seiner Vorrede als "Herausgeber". Sein Werk erfuhr im übrigen mehrere Auflagen und erschien, noch immer mit demselben Titelblatt geziert, auch in Cottas populärer 12-bändiger Ausgabe der "Gesammelten Werke" Alexander von Humboldts (Bde. 5-8). '"Humboldt 1911. Das Bändchen war recht erfolgreich; mir ist zumindest eine weitere Ausgabe (von 1923) bekannt. "Humboldt 1911,7. Der Rückgriff auf eine Übersetzung wurde im Grunde verschwiegen, erfahr der Leser doch nur im Nachwort kurz, daß Humboldts Reisewerk in französischer Sprache in Paris erschienen sei (127).

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blieb war eine Kette entlang des Tagebuchschemas aufgereihter Ereignisse, die den Abenteuercharakter der Reise akzentuierten52: Es wimmelte nur so von gefährlichen Situationen, von menschenfressenden Indianern, von Krokodilen, Raubkatzen, Schlangen und Fledermäusen, welche die Reisenden ein um's andere Mal in Lebensgefahr brachten. Sicherlich "existierte" all dies in Humboldts Original; nur waren jetzt die Gewichte so stark verschoben, daß man kaum mehr als ein unvollständiges Skelett des ursprünglichen Textes erkennen konnte. Die in der Geschichte der Humboldt-Bearbeitungen längst selbstverständlich gewordene stillschweigende Streichung kürzerer und längerer Passagen, das Ignorieren von Humboldts Kapiteleinteilungen und die Einführung eigener Kapitelüberschriften, das Einfügen nicht als solcher gekennzeichneten Erklärungen und die Umstellung bestimmter Passagen stellten Eingriffe dar, die gewiß für den Leser nicht mehr so deutlich erkennbar waren wie noch zu Zeiten der Bearbeitung Wimmers. Doch die unmerkliche Einführung einer Textinstanz, die sich hinter der Behauptung verschanzt, es handle sich um "Humboldts eigene Worte", läßt dennoch, nur subtiler als noch bei Wimmer53, den Prozeß einer Intertextualisierung von Humboldts eigenem Werk erkennen: Humboldt, obschon als Autor des Textes angegeben, ist in Wirklichkeit längst seiner Autorschaft verlustig gegangen; sein eigenes Werk dient nur noch als (manipulierbarer) Bezugstext. Schon der Beginn von Gansbergs Bearbeitung, der die ersten vier Monate von Humboldts Aufenthalt in Südamerika auf gerade einer halben Seite (wohlgemerkt: "in Humboldts Worten") abhandelt, legt hiervon ein beredtes Zeugnis ab. Wir können in Gansbergs Publikation Charakteristika eines dritten Typus von Bearbeitungen erkennen, dem es nicht so sehr um die Akzentuierung eines philosophischen oder pragmatischen Aspekts, sondern vielmehr vorrangig um eine Narrativisierung von Humboldts Reisewerk zu tun war. Ließ sich bei den beiden anderen Bearbeitungstypen eine spezifisch ideologische Komponente

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Dies erschien dem Herausgeber wohl darum so wichtig, weil Tropenreisen "in unseren Tagen" nicht mehr "zu den bedeutungsvollen Ereignissen" gezählt werden könnten; die ungewöhnliche körperliche und geistige Leistung der hundert Jahre zurückliegenden Reise galt es daher nach Ansicht des Herausgebers herauszustellen (Humboldt 1911, 6). 53 Dies betrifft insbesondere die Veränderung der Erzählerposition, die noch bei Wimmer, nicht mehr aber bei Gansberg zu beobachten ist. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Vergleich der Wiedergabe einer Erzählung, die weder in der Bearbeitung von 1830 noch in der von 1911 fehlen durfte. Es handelt sich um eine von Humboldt kolportierte Erzählung eines Missionars, der vom Spiel zweier Kinder mit einem Jaguar berichtete (Humboldt 1970 II: 329f.). Während Wimmer noch Humboldt selbst zum Augenzeugen dieses Ereignisses gemacht hatte (Wimmer 1830 III: 346), folgte Gansberg genauer seiner Übersetzungsvorlage und behielt die entsprechende Erzählerposition bei (Humboldt 1911, 54ff.). Doch auch Gansberg ging es um die Erzeugung von Spannung, die er allerdings mit Hilfe einer Ablösung dieses Ereignisses von seinem ursprünglichen Kontext erzielte.

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unschwer nachweisen, so ist eine solche bei diesem Typ auf den ersten Blick nicht auszumachen. Gerade hierin liegt freilich ihre eigene ideologische Konkretisation von Humboldts Intertext verborgen, werden Alexanders weltanschauliche Ansichten, seine so häufig zu beobachtenden "philosophischen Rahmungen", doch zumeist aus dem Text ausgeblendet. Diese "allgemeinen Ansichten" aber bildeten in Humboldts Sinne das Rückgrat seines Reiseberichts: Ihm ging es niemals um vereinzelte Beobachtungen oder eine Anreihung von Details, sondern immer um ein Aufzeigen der "inneren Zusammenhänge" und einen Einbau des Beobachteten in übergeordnete Prozesse und Gesichtspunkte. Gerade hierin also, in der scheinbaren Entideologisierung von Humboldts Intertext, in einer Beschränkung auf "Fakten" und "Ereignisse", wird der ideologische Aspekt dieses Typs von Bearbeitungen deutlich. Die 1911 publizierte Bearbeitung ist nur eine unter mehreren desselben Typs. 1927 erschien bei Brockhaus, charakteristischerweise in der Reihe "Reisen und Abenteuer", ein Bändchen, das auf 127 Textseiten die gesamte Reise von der Abfahrt von den Kanaren bis zur Landung im Hafen von Havanna bot (Humboldt 1927), auch hier mit Humboldts "eigenen Worten" in der Bearbeitung von Hauff. Der Herausgeber Paul Alfred Merbach, der im Vorwort Humboldts Deutschtum, sein Wesen als "der repräsentative Deutsche" (ebda., 20), mehrfach betonte, wollte "das im besten Sinn des Wortes Abenteuerliche dieses ungeheuer erfüllten Lebens [...] zum schärfsten Ausdruck" bringen, wobei "natürlich Wert und Wesen des Werkes völlig unberührt" bleiben sollten (ebda., 27). Gab er auch das Zielpublikum dieses Bändchens nirgends direkt an, so ist sein abschließendes Zitat aus der Bearbeitung des evangelischen Predigers Wimmer doch ein Hinweis auf ein eher jugendliches Publikum. Es zeigt aber auch, wie präsent manche fast ein Jahrhundert zurückliegenden Bearbeitungen des Humboldtschen Textes waren. Die Version Merbachs zeichnet sich durch eine noch größere "Straffung" des Textes aus, mußte schließlich nicht nur die erneut zentral gesetzte OrinocoFahrt, sondern der gesamte Aufenthalt in den Kolonien bis zur Ankunft in Havanna dargestellt werden. Gegenüber Gansbergs Ausgabe fällt allerdings eine geringere Konzentration abenteuerlicher bzw. gefährlicher Situationen auf54, die Merbach schwächer dosierte, um dem Werk eine etwas ruhigere, durch die Auswahl bestimmter Passagen sogar melancholische Grundstimmung zu geben.55 Ein Vergleich der Orinoco-Fahrt, wie sie in beiden Bearbeitungen dargestellt wird, führt vor Augen, wie sehr der jeweilige Herausgeber durch

M

So fehlt nicht nur Humboldts Begegnung mit dem Tiger, sondern auch das Spiel der zwei Indianerkinder mit der Raubkatze, auf das zuvor nie verzichtet worden war; vgl. Humboldt 1927, 88 bzw. 102. "Merbach verzichtet beispielsweise auf den Beinahe-Schiffbruch, nicht aber auf die sich anschließenden melancholischen Anmerkungen von Humboldts Ich-Erzähler; vgl. Humboldt 1927, 92.

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Kapiteleinteilungen, selbstverfaßte Übergänge und vor allem durch seine Selektion ganz verschiedene Texte "Humboldts" ins Werk setzen konnte. Die Relation historique war gänzlich verschwunden, Hauffs Übersetzung und Bearbeitung war der alleinige Intertext oder, um es krasser zu sagen, der Steinbruch, aus dem die jeweils gewünschten Bausteine nach Gutdünken herausgebrochen werden konnten. Das Interesse des deutschen Publikums an Alexander von Humboldt begann seit den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts zu erlahmen. Dies lag nicht nur daran, daß Darwins wissenschaftliches Werk Humboldts Arbeiten in den Hintergrund drängte. Vielleicht noch wichtiger war die Tatsache, daß ein Mittler zwischen Deutschland und Frankreich, wie es Alexander unbestreitbar gewesen war, in den Jahrzehnten wiederholter militärischer Konfrontation nicht opportun war.56 Erst nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches begann eine systematische Beschäftigung mit dem preußischen Forschungsreisenden. Dabei wurde das Humboldt-Gedenkjahr 1959 mit seinen vielfaltigen Aktivitäten zum Ausgangspunkt einer wahren "Humboldt-Renaissance" (ebda., 489). Aus Anlaß dieses Gedenkjahres erschien, einmal mehr im Verlage Brockhaus (West), der von Cotta die Pflege des Humboldtschen Oeuvre gleichsam übernommen hatte, eine Neubearbeitung des Reiseberichts, die für die zahlreichen Bearbeitungen der folgenden Jahre von großer Wichtigkeit werden sollte. Die von Adalbert Plott bearbeitete und von Adolf Meyer-Abich mit einem Vorwort versehene und herausgegebene Publikation war so erfolgreich, daß sie die Wirkungsgeschichte Humboldts in Deutschland seit den 60er Jahren entscheidend mitprägte.37 Handelte es sich aber wirklich um eine so "vorzügliche neue Ausgabe" (Meyer-Abich 1967, 77), wie ihr Herausgeber an anderer Stelle kundtat? Auch hier ist Vorsicht gegenüber allzu werbewirksamen Sprüchen geboten. Gewiß stellte allein schon der Umfang von 344 eng gedruckten Seiten gegenüber den zuletzt veröffentlichten Reisebearbeitungen eine Verbesserung dar58; doch angesichts des knapp 2000 Seiten umfassenden Originals handelte es sich auch hier um einen noch immer reichlich knapp bemessenen Auszug. Gewiß hatte Adalbert Plott bei seiner Neubearbeitung bestimmte Passagen stilistisch

M H. Beck zeigte dies am Beispiel der 1872, also unmittelbar nach dem preußisch-französischen Krieg erschienenen gemeinschaftlichen Biographie Bruhns, die bereits angeführt wurde (vgl. Beck 1969, 485). "Humboldt 19S8; der Erfolg dieser Bearbeitung mag u.a. daran erkennbar werden, daß bereits 1964 die vierte und 198S die neunte (unveränderte) Auflage auf dem Markt war. Diese Wirkung bezog sich nicht nur auf das allgemeine Lesepublikum, sondern erfaßte neben populärwissenschaftlichen auch wissenschaftliche Werke, die schon bald damit begannen, nach dieser Ausgabe zu zitieren. Selbst Bearbeitungen dieser Bearbeitung finden sich bis heute in manchen Fußnoten nicht unbekannter deutschsprachiger Wissenschaftler. "Plott vergaß nicht, in seinen Hinweisen zur neuen Ausgabe darauf aufmerksam zu machen (vgl. Humboldt 1958, 30).

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überarbeitet; doch diese Arbeit beruhte ausschließlich auf der Ausgabe und auf den editorischen Prinzipien Hermann Hauffs, die Plott freilich noch "viel enger faßte", vertrat er ja die Ansicht, es könne "vieles von den Exkursen und Abhandlungen [...] ohne Nachteil noch weggelassen werden" (ebda.). Betrachtet man die Auswahlkriterien des Textes, der einmal mehr ohne jeden konkreten Hinweis auf Kürzungen oder Veränderungen dem Leser dargeboten wurde, so läßt sich die Ausgabe von 1958 innerhalb des beschriebenen Dreiecks von Bearbeitungstypen auf der Mitte einer Linie zwischen einer philosophisch und einer narrativ orientierten Editionsweise anordnen. Das Ziel war eindeutig eine stärker philosophisch-literarische Rezeption des Reiseberichts Alexander von Humboldts. Allein der Haupttitel dieser Bearbeitung hätte allerdings schon zu Vorsicht mahnen müssen. Er verstärkte die längst zur Tradition gewordene Akzentuierung der Orinoco-Fahrt zuungunsten anderer Abschnitte innerhalb des Reiseberichts und fügte gleichzeitig eine Linearität hinzu, die nicht nur in Gegensatz zum eigentlichen Reiseverlauf stand, sondern auch noch grob falsch war: Humboldt erreichte nur den oberen Teil eines Nebenflusses des Amazonas, nicht aber den Amazonas selbst.59 Gewiß war dies nichts Neues: An Titeln, die dem Reiseverlauf widersprechen, hatte es — wie die bisherige Geschichte der Bearbeitungen zeigen konnte — von Beginn an nicht gemangelt. Gleichwohl machte diese Ausgabe und mit ihr auch ihr Titel Schule. Nicht nur in Deutschland. Eine in Spanien 1962 erschienene Ausgabe des Reiseberichts griff nicht etwa auf die französischsprachige Relation historique zurück, sondern bediente sich der inzwischen erschienenen zweiten Ausgabe, deren unveränderten Titel sie übernahm: Del Orinoco al Amazonas™. Damit war einmal mehr Humboldts Reisebeschreibung auf der Grundlage einer Übersetzung übersetzt worden. Selbst im romanischen Nachbarland schien die Existenz eines französischen Originals vergessen zu sein. Für den deutschsprachigen Raum läßt sich sagen, daß alle späteren Bearbeitungen entweder auf die Übersetzung und Bearbeitung Hauffs oder — was häufiger war — direkt auf die zuerst 1958 erschienene Edition zurückgriffen. Auch hier scheint vielen Verlegern und Herausgebern nicht mehr bewußt gewesen zu sein, daß jemals ein französischsprachiges Original existierte. Selbst nach der dankenswerten Publikation dieses Originals durch Hanno Beck bei Brockhaus im Jahre 1970 scheint wenn überhaupt nur wenigen Bearbeitern der

"Erst im weiteren, in Humboldts Relation historique (1970) nicht mehr zusammenhängend geschilderten Verlauf der Reise erreichte er, von den Anden kommend, mit dem Maraiiön den Oberlauf des Amazonas. "Humboldt 1962; als "obra original" wurde ganz selbstverständlich die Ausgabe Plotts und Meyer-Abichs angegeben. Auch die spanische Ausgabe setzte sich durch: Es erschienen mehrere Auflagen, 1981 folgten die erste und 1988 schließlich die zweite Taschenbuchausgabe.

118 Gedanke gekommen zu sein, auf diese seither wieder zugängliche Originalfassung zurückzugreifen: Zu sehr waren die angeführten werbewirksamen Sprüche ins Bewußtsein von Leserschaft wie Bearbeitern gedrungen. Es hätte wenig Sinn, die einzelnen Glieder der Kette von Bearbeitungen, die sich sowohl in der Bundesrepublik 61 als auch in der DDR 6 2 an Hauff oder Plott/Meyer-Abich anschlössen, im einzelnen zu untersuchen und zu bestimmen, auf welche Weise jede Ausgabe in Fortführung der Hauffschen Tradition ihren eigenen, wenn auch nur wenig von anderen verschiedenen Ort zwischen philosophischer und narrativer Akzentuierung ansteuerte. Wesentlich interessanter scheint es mir da, anhand eines Textbeispiels einmal präzise zu analysieren, wie grundlegend Alexander von Humboldts Text bis in die neueste Zeit hinein verändert worden ist. In der so erfolgreichen Ausgabe der Südamerikanischen Reise finden wir unter dem Kapitel "Körperbeschaffenheit und Sitten der Chaymas" die folgenden Sätze:

"Hierzu zählen u.a. Humboldt 1959; 1960 (der Reisebericht nahm hier 125 Seiten ein); Walter-Schomburg 1967, dieser Band wurde später nur unwesentlich verändert — selbst das Register konnte beibehalten werden — im selben Verlag herausgegeben von Jaspert 1979 (1982 waren von dieser Ausgabe bereits 70.000 Exemplare gedruckt worden); Santner 1980 (dem Reisebericht galten etwa 200 Seiten); Gebauer 1985; sowie die schon vom Titel her aufschlußreiche Konglomeration Die Reise nach Südamerika. Vom Orinoko zum Amazonas. Starbatty 1985 (345 Textseiten). Ob die Verantwortung für eine solche Titelgebung (die beiden erfolgreichsten Titel wurden miteinander verknüpft) beim Herausgeber liegt, ist fraglich. Wie attraktiv ein erfolgreicher Titel für manche Verlage ist, mußte ich bei meiner eigenen zweibändigen Ausgabe erfahren, die zunächst und gegen meinen Willen unter dem wohlbekannten Titel Vom Orinoco zum Amazonas angekündigt wurde. Ein Kompromiß wurde erst später gefunden. "Mit gut 330 Textseiten ist die von Dangel herausgegebene Bearbeitung Aufsteppen und Strömen Südamerikas. Reise in die Äquinoktialgegenden des Neuen Kontinents, die soweit ich sehe umfangreichste und zugleich populärste Ausgabe des Reiseberichts; sie lag 1968 in der 4. Auflage mit 38.000 gedruckten Exemplaren vor. Die Herausgeberin berief sich auf den "von Humboldt autorisierten Text" Hermann Hauffs, nahm jedoch — selten genug — nach eigenem Bekunden mehrfach Umstellungen zugunsten einer Anordnung zu bestimmten Themenkomplexen vor und erlaubte sich zu diesem Zweck Eingriffe, "um bruchlose Übergänge zu schaffen" (355). Vgl. weiterhin Humboldt 1971, 56-119 (interessant ist die Beseitigung des groben Fehlers im Titel der bekanntesten bundesdeutschen Ausgabe); oder noch in neuester Zeit, wenn auch unter Einschluß der teilweise publizierten Reisejournale Alexanders den Band von Schäfer 1989. In diesem Zusammenhang sei angemerkt, daß selbst noch M. Faak, die verdienstvolle Herausgeberin von Humboldts Reisetagebüchern in der DDR, den Prinzipien der Hauffschen Ausgabe folgt und diese aus mir unverständlichen Gründen auf die Edition der Reisejournale überträgt.

119 Alle Zahlenverhältnisse fassen die Chaymas außerordentlich schwer. Ich habe nicht einen gesehen, den man* sagen lassen konnte, er sei achtzehn oder aber sechzig Jahre alt. In der Chaymassprache zählen dieselben Menschen nicht über fünf oder sechs. 6 3 Vergessen wir einen Augenblick die Tatsache, daß es sich bei dieser Passage um eine Übersetzung handelt, und konzentrieren uns auf die Auswahlmechanismen, so dürfen wir zunächst festhalten, daß es sich — im Sinne der früheren Bearbeiter — ausnahmslos um "Humboldts eigene Worte" handelt. Nichts wurde hinzugefügt. Ein Vergleich dieser so harmlos aussehenden deskriptiven Passage mit dem französischen Original, mit der Hauffschen Übersetzung und mit der Ausgabe v o n Plott/Meyer-Abich 54 ergibt jedoch einen erschreckenden Befund.

"Ich zitiere nach Jaspert 1979, 140; diese Passage findet sich bereits in der angeführten Ausgabe von Walter-Schomburg. "Die folgende Passage gibt das Original wieder; mit Ausnahme einer Fußnote wurde sie von Hauff komplett übersetzt. Die Auswahl der Ausgabe von 1959 ist durch Kursivschrift, die oben zitierte zusätzlich durch Fettdruck hervorgehoben: "Les Chaymas ont une extrême difficulté à saisir tout ce qui tient à des rapports numériques. Je n 'en ai pas trouvé un seul à qui l'on n'eût fait dire qu'il avoit 18 ou 60 ans. M. Marsden a observé la même chose chez les Malais de Sumatra, quoiqu'ils aient plus de cinq siècles de civilisation. La langue chaymas renferme des mots qui expriment des nombres assez grands, mais peu d'Indiens savent les employer; et comme, par leurs rapports avec les missionnaires, ils en ont senti la nécessité, les plus intelligens comptent, en castillan, avec un air qui annonce un grand effort d'esprit, jusqu'à 30 ou 50. Les mimes hommes ne comptent, en langue chaymas, pas audelà de 5 ou 6. Il est naturel qu'ils emploient de préférence les mots d'une langue dans laquelle on leur a enseigné la série des unités et des dixaines. Depuis que les savans de l'Europe n'ont pas dédaigné d'étudier la structure des idiomes de l'Amérique, comme on étudie la structure des langues sémitiques, du grec et du latin, on n'attribue plus à l'imperfection du langage ce qui appartient à la grossièreté des peuples. On reconnoit que presque partout les idiomes offrent plus de richesses, des nuances plus fines qu'on ne devrait le supposer, d'après l'état d'inculture des peuples qui les parlent. Je suis loin de vouloir placer sur une même ligne les langues du Nouveau-Monde avec les plus belles langues de l'Asie et de l'Europe; mais aucune de celles-ci n'a un système de numération plus net, plus régulier et plus simple que le qquichua et l'aztèque, qui étoient parlés dans les grands empires du Couzco et d'Anahuac. Or, seroit-il permis de dire que, dans les villages où elles se sont conservées parmi les pauvres laboureurs de race péruvienne ou mexicaine, on trouve des individus qui ne savent pas nombrer au-delà. L'opinion bizarre que tant de peuples américains comptent seulement jusqu'à S, 10 ou 20, a été répandue par des voyageurs qui ignoraient que, selon le génie des différens idiomes, les hommes s'arrêtent, sous tous les climats, à des groupes de S, 10 ou 20 unités (c'est-à-dire aux doigts d'une main, de deux mains; des mains et des pieds), et que 6, 13 ou 20 sont diversement exprimés par cinq un, dix trois, et pied dix? Diroit-on que les nombres des Européens ne vont pas au de-delà de dix, parce que nous nous arrêtons après avoir formé un groupe de dix unités?" Humboldt 1970 I: 475f. Dem vorletzten Satz ist die bereits erwähnte Fußnote zugeordnet, in der Humboldt auf seine Monumens américains verweist und eine zusätzliche Erläuterung gibt; aus Gründen der Darstellung mußte ich leider auf eine Wiedergabe dieser Zeilen verzichten.

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Hatte Hauff 1859-60 lediglich auf eine Fußnote verzichtet, so fehlte bei Plott/Meyer-Abich 1958 bereits Humboldts grundlegende Erläuterung des von ihm konstatierten Sachverhalts. Schwierigkeiten der Chaymas-Indianer erschienen auf diese Weise als singuläres Phänomen, die Indianer selbst als etwas minderbemittelt, gelänge es ihnen doch nur mit Mühe, auf 30 oder 50 (wohlgemerkt: in einer fremden Sprache) zu zählen. Die zitierte Passage aus der Südamerikanischen Reise von 1979 (bzw. 1967) ging jedoch noch einen Schritt weiter. Sie griff nicht nur ganz offensichtlich auf die Ausgabe von Plott/MeyerAbich zurück (und vergaß nebenbei wohl aus Nachlässigkeit ein "nicht", dessen Platz ich mit einem Asteriskus markierte), sondern "sparte" einen weiteren Satz ein, dessen Wiedergabe nicht für notwendig erachtet wurde. Nun sind nicht mehr nur ganz konkrete Chaymas-Indianer zu Dummen erklärt worden, ihre ganze Sprache und Kultur erscheint nun im ungünstigsten Licht, erlaube sie doch nicht einmal ein Zählen über fünf oder sechs hinaus! Damit ist aber genau jene "opinion bizarre" vertreten, die - wie Humboldt erläuterte - von unwissenden Reisenden über die Unfähigkeit der Indianer, über 5 hinaus zu zählen, verbreitet worden war, und gegen die sich seine ganzen Ausführungen richteten. Mit einem patchwork aus Humboldts "eigenen Worten" (Hauffs Übersetzung trifft an dieser Stelle keinerlei Schuld) wurde damit eben jenes eingefleischte europäische Vorurteil" wiederholt, gegen welches sich Alexander genau in dieser Passage wehrte! Ist dieses Beispiel auch besonders aussagekräftig, so steht es doch keineswegs allein. An ihm wird nicht nur die Sorglosigkeit, ja Unverantwortlichkeit von Bearbeitungen bis in die jüngste Gegenwart deutlich; es zeigt auch auf, in welchem Maße ideologische Restbestände nicht nur hier, sondern an vielen anderen Stellen in die Arbeit wohlmeinender Bearbeiter einflössen. Ob diese ideologisierende Verfälschung bewußt oder unbewußt erfolgte, soll uns hier nicht beschäftigen. Das Beispiel zeigt nur in aller Deutlichkeit, auf welchen Textgrundlagen im deutschen Sprachraum die Wirkungsgeschichte von Humboldts Relation historique "ruhte".

Schon die frühesten Berichte aus der Neuen Welt wurden im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts häufig in fragwürdigen Auszügen und Kompilationen abgedruckt, welche die Wirkung der Originale bei weitem übertrafen. Am Ende des 18. Jahrhunderts beruhte die immense Wirkung von Raynals Histoire des Deux Indes weniger auf ihrem vielbändigen Original als auf einer Vielzahl von

"Vielleicht dachte Humboldt an die Berichte Thevets und Stadens, die mehrfach die (scheinbare) Unfähigkeit der Indianer, über die Zahl fünf hinaus zu zählen, als Beleg dafür anführten, daß es sich bei diesen Menschen in der Tat um "Wilde", ja um "Kannibalen" handelte; vgl. Fleischmann/Röhrig-Assun?äo/Ziebel-Wendt 1991, 13.

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Auszügen, die ideologisch konträr motiviert dem Leser die immer wieder gleichen Textausschnitte präsentierten (vgl. Lüsebrink 1988). Aus dieser Perspektive einer Vermittlung von "Wissen" über den amerikanischen Kontinent nimmt sich die Geschichte der Übersetzungen und Bearbeitungen des amerikanischen Reisewerks Alexander von Humboldts keineswegs als Besonderheit aus. Denn auch die Wirkung von Humboldts Reisebericht, seiner Relation historique, auf die wir uns hier konzentierten, ging im deutschsprachigen Raum nicht vom Original, sondern von Übersetzungen, Bearbeitungen und Auszügen, wahren Surrogaten und Extrakten, aus. Anlaß hierzu gaben sowohl extra- wie intratextuelle Gründe. Nicht nur die von Humboldt gesteuerte Publicity der Reise und die dadurch ausgelöste Publikumsnachfrage, die kommerziellen Interessen bestimmter Verlage, die Abfassung des Reisewerks in französischer Sprache, das späte und schleppende Erscheinen der einzelnen Bände und nicht zuletzt der große Umfang des Werkes waren hierfür verantwortlich, sondern auch die literarische Struktur der Reisebeschreibung selbst, vor allem die von Humboldt angewandte Exkurs-Technik seines Werkes66, die förmlich zur Streichung ganzer Passagen einlud. Dabei handelte es sich keineswegs allein um Phänomene, die man achselzuckend der Rubrik traduttore — traditore zuordnen dürfte. Vielmehr reichte das Spektrum dieser häufig sehr populären Publikationen von Reiseberichten, die noch vor Alexanders eigenem Werk erschienen, über Bearbeitungen von Bearbeitungen sowie Übersetzungen von Übersetzungen bis hin zu Übersetzungen von Bearbeitungen von Übersetzungen. Neben breit gestreuten separaten Publikationen von Teilergebnissen durch Humboldt selbst (vgl. u.a. die Auflistung bei Löwenberg 1969, 518ff.) waren sie es, die im deutschsprachigen Raum Ausstrahlungskraft und Wirkung der Relation historique in der breiten Öffentlichkeit, aber auch in erstaunlichem Maße in der Wissenschaft bis zum heutigen Tag, ungeachtet der 1970 in Deutschland erschienenen französischen Originalausgabe, wesenüich mitprägten. Warum wurde beispielsweise der literarische Charakter der Relation historique so lange übersehen?67 Wir können an dieser Stelle eine Erklärung dieses Phänomens wagen. Die Betonung philosophischer, mehr aber noch narrativer Aspekte, die Hervorhebung des Gefährlichen, Abenteuerlichen, Exotischen führte dazu, daß das Humboldtsche Werk in einer Zeit, die durch eine zunehmende Arbeitsteilung im Bereich des Wissens wie der Wissenschaften geprägt wurde, in eine Sackgasse geriet. Wie hätte das Interesse eines Literaturfreunds und/oder -Wissenschaftlers durch Ausgaben geweckt werden können, welche weniger als 10 Prozent des ursprünglichen Reiseberichts boten und die

"Vgl. zu den literarischen Techniken der Relation historique Ette 1990. "Symptomatisch hierfür ist, daß van Düsen 1971, der sich ausführlich Humboldts Ästhetik und seinen literarischen Erfolgen widmete, den amerikanischen Reisebericht mit keinem Wort erwähnte.

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literarische Struktur des Reisewerks vollständig zerstörten? Überdies wurde die Zerstörung nur selten wahrgenommen, hatten sich derlei Ausgaben doch längst an die Stelle des Originals gesetzt.68 Zu den großen Verdiensten der Hauffschen Ausgabe gehörte es zweifellos, ein größeres deutschsprachiges Publikum an den Reisebericht herangeführt zu haben. Gleichzeitig aber wurde durch diese Ausgabe und ihre nachfolgenden Bearbeitungen der Weg zu einer wirklichen Auseinandersetzung mit diesem Werk versperrt. Denken wir an die eingangs erwähnte Klage eines frühen "Verarbeiters" zurück, so könnten wir rückblickend sagen, daß diese Publikationen vielleicht nicht ein falsches Publikum erreichten, aber durch ihre Verzerrungen einen wichtigen Teil dieses Publikums von der Erkenntnis der eigentlichen Bedeutung der Relation historique fernhielten. Gewiß waren im 19. und sind im 20. Jahrhundert Bearbeitungen umfangreicher Werke großer Autoren mit verlegerischen Interessen abzustimmen. Handelt es sich dabei um Ausgaben, die nicht an einem überwiegend wissenschaftlichen Zielpublikum ausgerichtet sind, so müssen oft gangbare Kompromisse gefunden werden. Die heute überblickbare Geschichte der Bearbeitungen von Humboldts Reisebeschreibung zeigt jedoch, in welch skandalöser Weise diese Interessen, im Verein mit der Unverantwortlichkeit vieler Herausgeber, lange Zeit hindurch dominierten. Die Lehre, die hieraus zu ziehen wäre, ist einfach: Eine zuverlässige Textgrundlage der im Original fremdsprachigen Werke Alexander von Humboldts muß möglichst bald geschaffen werden.69 Nur sie kann — im Verein mit einer gewissenhaften Beschäftigung mit dem jeweiligen Original — dazu beitragen, daß im deutschsprachigen Raum eine neue, textbezogenere Phase der Auseinandersetzung mit Alexander von Humboldts amerikanischem Reise werk einsetzen kann. Eine solche Auseinandersetzung mit dem "Vater der modernen Amerikanistik" (vgl. Lehmann 1958, 15-23) aber wäre gerade für die deutsche Lateinamerikanistik Herausforderung und Verpflichtung.

"Ähnliches ließe sich auch für andere Bereiche zumindest als Arbeitshypothese formulieren. Einem Geisteswissenschaftler konnten Humboldts philosophische Gedanken, die in den Extrakten wohl abgedruckt wurden, aber aus ihrem Kontext herausgerissen wie simple Aphorismen wirken mußten, gewiß nur wenig Enthusiasmus entlocken. Sprechen wir von der begrenzten Wirkung des Reiseberichts in den Naturwissenschaften und selbst in der Geographie des 20. Jahrhunderts, so liegen die Gründe hierfür meiner Ansicht nach nicht darin, daß die wissenschaftlichen Ergebnisse des Reiseberichts so schnell überholt gewesen wären. Gewiß ist hier nach den einzelnen Disziplinen zu unterscheiden. Dennoch gilt, daß die hier besprochenen Ausgaben des Reiseberichts dem Naturwissenschaftler nur wenig zu bieten hatten, weil in ihnen naturwissenschaftliche Daten und Theorien größtenteils ausgespart blieben. '"Dies gilt selbstverständlich nicht nur für den deutschsprachigen Raum. 1990 schrieb Lepape völlig zurecht: "De l'oeuvre majeure de Humboldt, on ne pouvait guère lire jusqu'à présent que des guenilles, des morceaux choisis."

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Verführungen zum Reisen Touristische Lateinamerikabilder Kuno Eugster Die Branche und die deutschen Reiseführer1 Waren Reisen in ferne Kontinente noch vor 50 Jahren das Privileg einer gesellschaftlichen Elite, so hat die explosionsartige Entwicklung im Tourismus seit 1960 die früher beinahe unüberwindlichen Distanzen zusammenschrumpfen lassen. Nachrichten und Berichte von fernen Kontinenten sind zur Alltäglichkeit geworden, und Reisen in diese Gebiete sind heute auch für die breiten Massen erschwinglich. Warum sind aber gerade die Länder der Dritten Welt als Ferienziele so attraktiv? Worin besteht der besondere Reiz Lateinamerikas? Repräsentativumfragen belegen (61), daß die wichtigste Informationsquelle als Entscheidungshilfe für die Wahl eines Ferienziels Verwandte und Bekannte sind, die — am obligatorischen Dia- oder Filmabend — im Freundeskreis über ihre Ferienerlebnisse berichten und dabei eine eigentliche Schrittmacherfunktion übernehmen. Ebenfalls eine wichtige und eher greifbare Bedeutung kommt den Reiseorganisationen zu, die entsprechende Destinationen anbieten. Sie beeinflussen mit ihrer Werbung und der Beratung im Reisebüro die Vorstellungen über das Reiseziel und damit den Entscheid zur Reise maßgeblich. Reiseführer schließlich spielen eine gewisse Rolle in der eigentlichen Informationsbeschaffung über das Reiseziel. Eben diese Rolle der Tourismusbranche und der Reiseführer wollen wir im folgenden etwas genauer betrachten, indem wir die Impulse untersuchen, die in diesen Informationsmedien das Bild Lateinamerikas im deutschen Kulturraum prägen.

Die Tourismusbranche und Lateinamerika "Wenn wir die Karibik in unseren Katalogen so darstellen würden, wie sie in Wirklichkeit ist, so würden die Touristen nicht mehr hingehen." Diese Aussage eines Reisebüro-Managers zeigt uns den Hintergrund auf, vor dem die Rolle der Tourismusbranche im Kulturaustausch zu sehen ist. Zwar werden Tourismus und Kulturbegegnung oft in einem Atemzug genannt, die Tourismusbranche vertritt aber per definitionem kommerzielle Interessen. Auch wenn die Werbung

'Der vorliegende Artikel basiert auf Eugster 1982. Die Anmerkungen in Klammer verweisen auf die entsprechenden Seiten dieser Quelle.

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oft den Anschein zu erwecken versucht, die vermittelten Informationen seien sachlich und objektiv, so dürfen wir uns nicht über ihre starke Zweckbindung hinwegtäuschen lassen. Im Vordergrund steht das Geschäft, und das Bild, das die Branche von Lateinamerika zeichnet, ist eine gezielte Beeinflussung, die eine Lateinamerikareise schmackhaft machen soll. Betrachten wir diese Werbeaktivitäten in unserem Sprachraum etwas eingehender. Die nachstehenden Überlegungen stützen sich auf rund 11.000 Seiten Fernreisekataloge mit einem Lateinamerikaanteil von 10 bis 20%, die mittels der Kategorien Natur, Kultur, Bewohner, Wirtschaft, Politik und Freizeitwert (55) einer Inhaltsanalyse unterzogen wurden. Dabei fällt zunächst auf, daß die Kataloge Ende der 70er Jahre umfangreicher, luxuriöser und farbiger werden. Andererseits zeigt sich auch eine qualitative Veränderung, indem bei vielen Reiseveranstaltern vermehrt Probleme der Dritten Welt erwähnt werden. Allerdings drängt sich die Vermutung auf, daß diesen nachdenklich stimmenden Passagen in den vor Lebenslust und Ferienfreude strotzenden Katalogen eine Alibifunktion zukommt: Die Tourismusbranche gibt sich problembewußt und aufgeschlossen und trifft damit gleich zwei Fliegen auf einen Schlag — sie kommt Reklamationen von enttäuschten Kunden zuvor und nimmt gleichzeitig jener Tourismuskritik den Wind aus den Segeln, die den Reiseveranstaltern vorwirft, sie kümmerten sich nur ums Geschäft und nicht um die Probleme der Dritten Welt. Diese Vermutung wird dadurch gestützt, daß Hinweise dieser Art in der Regel nur im einleitenden Teil oder im Kleingedruckten bei den allgemeinen Geschäftsbedingungen zu finden sind, im farbigen Bildteil hingegen werden Probleme kaum erwähnt. Nicht selten beinhaltet der kritische oder sachliche Teil in Reisekatalogen eigentliche Entgleisungen, so etwa wenn zynisch festgestellt wird: "Betonklötze der Neuzeit [...] und die vielen Elendsviertel rund um die Hauptstädte wollen wir nicht totschweigen, beide sind aber nicht unbedingt fotogen" (158). Fotogen sind dann allerdings die braunen und schwarzen Tangamädchen an der Copacabana, die fröhlichen Einheimischen, die bunten Märkte und die unberührte, tropische Natur. Andere Beispiele zeigen gar, daß Armut und Elend als besondere Attraktion in den Reiseprogrammen geschickt vermarktet werden. "Es kann passieren [!], daß man plötzlich Armut und Elend gegenübersteht" (158), und die nebenstehenden Fotos zeigen ein Elendsviertel, daß aus der Ferne malerisch aussieht.

Die Schwerpunkte in der Darstellung Lateinamerikas Erwartungsgemäß kommt dem Freizeitwert in den Reisekatalogen eine überragende Bedeutung zu. Zentrale Begriffe sind Entspannung, Unterhaltung, Sport, Kontakte, neue Eindrücke usw.; und die Reiseprospekte gehen auf die mutmaßlichen Wunschvorstellungen der Kunden ein: "Ihre Wünsche... von allem weg — Sonne, Sand, Meer — Romantik — Komfort — Kulinarische Genüsse — Faszinierende Ausflüge — Dolce far niente — Shopping — Nahtlos

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Bräunen — Hobbies Pflegen — Spiel und Sport — Surfen — Tennis — Reiten — Abenteuer ... gehen in Erfüllung" (163). Im Mittelpunkt der Reisekataloge stehen somit nicht die Ferienländer, sondern v.a. die Wünsche, Sehnsüchte und Erwartungen der Touristen, wobei je nach Art des Angebotes unterschiedliche Bedürfnisse angesprochen werden: "Wenn Sie dann bei der Abenddämmerung auf der Terrasse Ihren Cocktail trinken und bei Mondschein und Kerzenlicht dinieren, werden Sie von der richtigen Wahl Ihres Ferienziels überzeugt sein". — "Traumreise für Eisenbahnfans". — "Lassen Sie sich gehen". — "Samtweiche Nächte bis der Tag anbricht". — "Barbados — schäumende Exotik". — "Bahamas — Treffjpunkt der deutschen Urlauber". (163) Angesichts dieser Versprechungen, welche kaum etwas mit den einzelnen Ländern zu tun haben, werden die verschiedenen Ferienziele austauschbar. Zentrales Moment sind in all diesen Zitaten die Wünsche der Touristen, und die Veranstalter versuchen, diesen in ihrem Angebot möglichst entgegenzukommen. Indem sie paradiesische Tage unbeschwerter Heiterkeit und aktiven Erlebens — kurz, ein erfülltes Leben in vielfältigster Form — verheißen, verkaufen sie etwas, was allgemein nicht als käuflich angesehen wird: Glück. Neben dieser Kulisse, welche die Rahmenbedingungen für das Ferienglück liefert, werden je nach Region natürliche oder kulturelle Gegebenheiten in besonderem Maße hervorgehoben. Daneben kommt den Bewohnern allenfalls die Funktion zu, das von Natur und Kultur gezeichnete Bild zu ergänzen, während Politik und Wirtschaft Lateinamerikas nur gelegentlich und am Rande erwähnt werden. Sie sind in der Tat auch kaum geeignet, die Ferienträume geplagter Europäer zu versüßen. Anders bei der Natur. Sie ist prädestiniert dazu, dem Touristen all das zu bieten, was er in seiner industrialisierten, vom Klima nicht eben begünstigten Heimat vermißt: "Bezauberndes Westindien — tausenderlei sonnige Inseln, tiefblaues Meer, weiße Sandstrände, farbenprächtige Korallenriffe, unzählige tropische Fische — einmalige Schönheit". — "Noch heute bringt eine Südamerikareise abseits des großen Touristenstromes wirkliche Abenteuer und Entdeckungen. Dem Bergwanderer erschließen sich einzigartige Landschaften, Natur- und Tierfreunde begegnen einer einmaligen, noch weitgehend unberührten Tier- und Pflanzenwelt". — "Surinam, das tropische Land mit seiner exotischen Flora und Fauna — 17 Tage Dschungelsafari". — "Guatemala ist das Land der Indios und der Vulkane. Dreiunddreißig Vulkane — mindestens einer raucht immer — von denen vier über 4.000 m hoch sind, bilden das Hochland. Die Lavaasche ermöglicht eine Flora von verschwenderischer Pracht, der Norden Guatemalas ist undurchdringlicher Urwald". (165) Interessant in diesem Zusammenhang ist das Selbstverständnis der Touristenbranche: Durch die Anpreisung von Reisen in immer neue, noch unberührte Regionen und Expeditionen in noch abgelegenere Winkel des Kontinents bekennen sich die Reiseveranstalter indirekt zu den von ihnen verursachten Schäden: "Guatemala ist noch bedeutend weniger touristisiert als Mexiko, die Indianer-

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märkte noch unverdorben, und die zahlreichen Mayabauten können noch relativ unbehelligt besucht werden". (167) Ein zweites Element, dem in der Kulisse für den Freizeitwert Lateinamerikas neben der Natur eine zentrale Bedeutung zukommt, ist die Kultur. Die stärksten Anziehungspunkte sind hier in den Ländern der klassischen Indiohochkulturen zu finden: "[...] für geschichtlich Interessierte birgt Lateinamerika eine Vielzahl von eindrucksvollen Zielen, denken wir nur an die imposanten Zeugen der Inka-, Maya- und Azteken-Kulturen." Aber auch die Kolonialzeit und etwas seltener die Errungenschaften der Moderne werden gewürdigt: "Antigua — Sie fühlen sich in die Zeit um 1700 zurückversetzt, wenn Sie in diese altertümliche Stadt mit ihren herrlichen, im Kolonialstil erbauten Kirchen, Palästen, Brunnen und Plazas kommen". Und: "Erleben Sie eine andere Welt [...]: Uralte InkaMetropole Machu Picchu hoch oben in den Anden und ultramodernes Brasilia. Stahl- und Glas-Wolkenkratzer in Säo Paulo und eine pittoreske Kolonialromantik in Asunciön". Diese Schwerpunkte tauchen vor allem in allgemein orientierten Rundreisen auf und erfahren eine markante Verstärkung durch die zahlreichen Illustrationen. Ruinen von Inka- und Mayatempeln, Fotos von kolonialen Kirchen und modernsten Gebäudekomplexen sind in den Katalogen ein unentbehrlicher Bestandteil der Darstellung Lateinamerikas. Demgegenüber haben kulturelle Attraktionen bei spezifischen Reisen wie Badeferien, Treckingtouren, Expeditionen etc. eine untergeordnete Bedeutung. Hier werden farbige Indiomärkte, der Hexenmarkt von La Paz, das sagenumwobene Reich der Azteken oder Indios hervorgehoben. Peru steht für "Erinnerung an Jugendträume von Inkagold und Andenbesteigungen, bedeutet ständige Gegenwart lebendiger Folklore, die Faszination der indianischen Kultur, geheimnisvolle, vergessene Inkastätten, wo heute noch im Morgengrauen nach altem Ritus den Göttern geopfert wird" (168).

Nicht so wichtig in der Lateinamerika-Freizeit-Kulisse sind die Bewohner des Kontinents. Ihr Bild fügt sich nahtlos in die oberflächliche, auf das eigene Ferienerlebnis ausgerichtete Darstellung des Kontinents ein: Der Lateinamerikaner als Statist in unserer Ferienwelt, gönnerhaft beschrieben als frohes, naturverbundenes und kindliches Wesen: "Bei Musik und Tanz fühlt sich der Karibik-Bewohner überglücklich." Und es sind alles fröhliche Menschen, unkompliziert und lebenslustig, die ihren eigenen Lebensrhythmus haben und den Besucher mit traditionellen Volkstänzen begrüßen. Zwar erfährt dieses Bild manchmal gewisse Korrekturen: "Die Insulaner sind lebensfrohe, auf ihre Eigenständigkeit stolze Menschen", "was sich auf die Dienstleistungen nicht unbedingt positiv auswirkt". Sie seien eher zurückhaltend gegenüber Weißen und ließen sich nicht gerne fotografieren. Wer jedoch der Bevölkerung mit "Takt und Einfühlungsvermögen begegnet, wird auf ein positives Echo stoßen" (169). Für Takt und Einfühlungsvermögen ist dann allerdings kein Platz mehr bei den Fotos von Einwohnern Lateinamerikas. Hier wird der Bewohner — ins-

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besondere die Bewohnerin — vollends zum Objekt voyeuristischer Betrachtung: Die Nacktheit der Urwaldindios — es werden mehrheitlich Frauen abgebildet — soll ihre zivilisatorische Unverdorbenheit hervorheben. Die Strände von Rio werden ebenso wie der Karneval und die verschwiegenen Buchten der Karibik auf die Abbildung von exotischen Mädchen in knappsten Bikinis oder durchsichtigen Blusen reduziert; unmißverständliche Anspielungen auf eine positive Sexualbilanz, wobei der im Bangkok-Tourismus übliche Konkretisierungsgrad allerdings (noch) nicht erreicht wird. Sinngemäß das gleiche gilt für die übrige Darstellung der Bewohner: Seien dies die Uros auf den schwimmenden Inseln des Titicacasees oder die Indios in ihren bunten Trachten auf den Märkten, der Koch am langen Büffet, der Strandverkäufer oder der reizende kleine Schuhputzer — ihre wichtigste Funktion liegt im exotischen Aussehen, und sie tragen zur Erhöhung des Freizeitwertes bei. Wirtschaftliche und politische Gesichtspunkte schließlich finden kaum Eingang in die Reisekataloge; ein Ergebnis, das nicht überrascht: Wirtschaftliche und politische Themen sind denn auch kaum dazu geeignet, das durch die Tourismusbranche propagierte Lebensgefühl und den Erholungswert der "kostbarsten Tage des Jahres" zu steigern. Dennoch treffen wir auf vereinzelte Hinweise: "Heute begegnet man so vielen verschiedenen Schattierungen zwischen Abhängigkeit und Unabhängigkeit, wie kaum anderswo, doch daß die mehrheitlich afrikanische Bevölkerung [Jamaicas] nach politischer und wirtschaftlicher Freiheit strebt, ist mehr als verständlich." Oder es gelingt sogar, aus der politischen Unterdrückung Kapital zu schlagen: "Haiti ist eines der ärmsten Länder der Welt — und über die Staatsführung [1981] kann man rahig geteilter Meinung sein. Tatsache ist aber, daß die in der Karibik allgemein übliche hohe Kriminalität auf Haiti fast Seltenheitswert hat und daß die einheimische Bevölkerung, obschon größtenteils bettelarm, durchwegs freundlich, liebenswert und zuvorkommend ist und einen erstaunlich zufriedenen Eindruck macht". (171) Hier ist auch die Rede von ständig wachsenden Slums, die man besser aus der Ferne betrachtet, von Arbeitslosigkeit, sozialen Spannungen und Kriminalität, aber auch davon, daß trotz der offiziell nicht vorhandenen Rassendiskriminierung in Brasilien die Aufstiegschancen für Farbige und Schwarze geringer sind. Indessen, "trotz dieser großen Verschiedenheiten der Rassen verstehen sich alle recht gut. Natürlich gibt es enorme soziale Unterschiede. Aber gerade die Ärmsten sind auch die Fröhlichsten." — Womit die Ferienstimmung wieder gerettet ist. Ein zusammenfassender Überblick zeigt, daß die Informationen in den Reisekatalogen im großen und ganzen zwar richtig sind, die ausgewählten Inhalte bilden jedoch das Resultat einer systematischen Informationsreduzierung im Dienste der kommerziellen Interessen der Reiseveranstalter. Als Folge dieser Verfremdung wird Lateinamerika so präsentiert, wie es sich am besten ver-

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kaufen läßt. Dies erklärt sich aus der dominanten Rolle des Freizeitwerts: die Tourismusbranche verspricht nach allen Regeln der Kunst ein neues Lebensgefühl, Glück und Wohlbefinden, die Erfüllung von Sehnsüchten und geheimen Wünschen. Damit werden die Reiseziele innerhalb Lateinamerikas und im interkontinentalen Raum weitgehend untereinander austauschbar. Die inhaltliche Beschreibung des Kontinents verschwindet hinter der Verpackung des Ferienangebots. Dieselben feststehenden Etiketten und Wendungen für die verschiedenen Reiseziele machen die Karibik mit den Seychellen, Peru mit Thailand austauschbar und machen deutlich, daß dem eigentlichen Bestimmungsort nur eine untergeordnete Bedeutung zukommt. Im Vordergrund steht damit nicht die sachliche Darstellung eines Kontinents, sondern das klischeehafte Bild des "Konsumguts Lateinamerika", in dem viel öfter von den Wünschen der Urlauber die Rede ist als vom Kontinent Lateinamerika.

Die Reiseführer und Lateinamerika Die Karikatur des Touristen, der — die Nase im Reiseführer vergraben — touristische Sehenswürdigkeiten absolviert, wird oft belächelt. Die Kritiker lassen aber die Frage offen, wie sich der Reisende sonst über sein Ziel informieren soll. Für die oft beklagte Standardisierung des Reisens ist jedenfalls nicht der — bei vernünftigem Gebrauch wertvolle — Reiseführer verantwortlich, sondern die Unselbständigkeit seiner Benutzer. Obwohl Reiseführer bei weitem nicht so häufig benutzt werden, wie man annehmen könnte — nur 10 bis 20% der Ferntouristen greifen auf dieses Hilfsmittel zurück (109) —, haben sie doch eine wichtige Funktion in der Darstellung Lateinamerikas in unserem Kulturraum: Sie sind es, die erste Vorstellungen konkretisieren, Hintergrundinformationen liefern und die Erwartungen ebenso beeinflussen wie die Reisevorbereitungen. Aufgrund dieser Informationen setzt der Tourist die Schwerpunkte seiner Reise und bringt schließlich auch entsprechende Eindrücke mit nach Hause. Die Vielfalt der im Buchhandel erhältlichen Reiseführer macht es unmöglich, ein für diese Literaturgattung allgemeingültiges Bild des lateinamerikanischen Raums nachzuzeichnen. Vielmehr wird bei der genaueren Betrachtung des Angebots deutlich, daß sich die verschiedenen Bücher je nach Absichten der Verfasser bzw. je nach Zielpublikum stark voneinander unterscheiden. Stellvertretend für die zahllosen Lateinamerika-Führer sollen anhand von drei Beispielen die Unterschiede in der Darstellung des Kontinents veranschaulicht werden. (109)

Lateinamerika im Po/yg/otf-Reiseführer Die sieben analysierten Pofyg/oW-Reiseführer (1978-1981) umfassen je 63 Seiten und beschreiben die Länder bzw. Großregionen Mexiko, Mittelamerika, Brasilien, Peru/Bolivien/Ecuador, Argentinien/Uruguay, Kolumbien/Venezuela und die Karibik. Sie leisten bei einer ersten Reisevorbereitung gute Dienste, indem sie den Touristen in knapper Form mit den wichtigsten technischen und touristi-

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sehen Informationen entlang der bekanntesten Routen versorgen. Daneben wird der Reisende in einem allgemeinen Teil gewissermaßen mit dem Grundwissen für seine Reise versehen. Die Autoren legen dabei Wert darauf, die lateinamerikanischen Staaten auch im Rahmen der Kurzreiseführer in ihrer Vielfalt zu beschreiben und die klischeehaften Vorstellungen zu korrigieren: "Brasilien wird in der Vorstellung der meisten Europäer versinnbildlicht v.a. durch Rio de Janeiro mit seinem Karneval und seinem Strand von Copacabana einerseits, und durch die 'grüne Hölle am Amazonas' andererseits. Diese Vorstellung ist zweifellos sehr zufällig und bruchstückhaft, aber sie ist insofern doch zutreffend, als sie die schroffen Gegensätze des Landes und damit auch die tiefgehende Unterschiedlichkeit der brasilianischen Reiselandschaften wenigstens erahnen läßt". (114) — Selbstverständlich ist auch ein objektivierendes Bild nicht unberührt von stereotypen Vorstellungen, was die folgende Analyse der Polyglott Reiseführer anhand unseres Kategoriesystems aufzeigt. Kulturelle Leistungen der Vergangenheit — die Indio-Hochkulturen und die Kolonialzeit — finden im Polyglott die stärkste Beachtung. Von kulturellen Leistungen der Gegenwart ist hingegen selten die Rede, die Ausnahmen von dieser Regel bilden die Folklore, die Architektur und geheimnisvolle Bräuche (z.B. Macumba in Brasilien). Neben diesem eigentlichen Informationsschwerpunkt kommt den übrigen Kategorien eine recht geringe Bedeutung zu: Die Beschreibung von natürlichen Gegebenheiten beschränkt sich auf einige Naturschönheiten, wobei sehr eindrückliche und treffende Vergleiche die Größe und Weite Lateinamerikas dokumentieren. Besonders ausgeprägt sind die Naturbeschreibungen in jenen Gegenden, in denen kulturelle Attraktionen eine eher bescheidene Rolle spielen. Der Freizeitwert Lateinamerikas kommt vorwiegend in der Beschreibung von Sport-, Vergnügungs- und Shoppingmöglichkeiten zum Ausdruck, während sich die Beschreibung der Bewohner im wesentlichen auf die Wiedergabe neutraler demographischer Daten und Fakten beschränkt. Seltenheitswert haben glücklicherweise Hinweise folgender Art: "Die überwiegende Mehrzahl der schwarzen und dunkelhäutigen Inselbewohner ist unkompliziert, freundlich und heiter wie die strahlende Sonne über dem Karibischen Meer, liebenswürdig und gastfreundlich und dem Devisen bringenden ausländischen Touristen durchaus gewogen". (117) Die Informationen über die Wirtschaft des Reiselandes sind recht vielfältig und legen die grundlegenden Strukturen anhand von Kennzahlen oft im Vergleich mit der Bundesrepublik dar (Volkseinkommen, Produktionsstruktur, Arbeitslosigkeit etc.). Demgegenüber beschränken sich die Angaben zur Politik auf einige formale Hinweise zu "Verfassung und Verwaltung" und kommen damit über die nichtssagende Etikettierung des Regierungssystems selten hinaus. Insgesamt ist die Suche nach Lateinamerika-Stereotypen in den Polyglott Reiseführern jedoch wenig ergiebig. Es gelingt den Autoren, ein erstaunlich vielfältiges Lateinamerika zu schildern. Eher einfältig wirken hingegen viele der

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gutgemeinten Ratschläge an das Zielpublikum, einen offenbar verwöhnten und dümmlichen Touristen, so etwa, daß wegen der langen Dauer und der schlechten, über größere Strecken wenig reizvollen Straßen eine Fahrt von Cuzco nach Lima nicht zu empfehlen sei, daß man Fahrten in Stadtomnibussen vermeiden sollte oder daß europäische Dienstleistungsbetriebe — die Hotels "Bruno" und "Oberholzer" in San Salvador oder die Restaurants "Wienerwald" in Mexico City und "Zur Eiche" (deutsche Küche) in Buenos Aires — eine gewisse Sicherheit (inkl. Handtücher und Toilettenpapier) versprechen. (119) — Trotzdem, der Polyglott ist für den oberflächlichen Touristen besser als gar nichts, der Aufmerksame findet darin zahlreiche Angaben, die ihm helfen, Lateinamerika besser zu verstehen, der Interessierte wird sogar auf Fragen und Probleme stoßen und versuchen, diese anhand ausführlicherer Reiseführer und Sachbücher zu beantworten. The South American Handbook von John Brooks Der klassische Reiseführer für Lateinamerika hieß schon immer The South American Handbook (Brooks 1979) und, das sei gleich vorweggenommen, er ist es auch bis heute geblieben. Das South American Handbook wird daher auch von deutschsprachigen Reisenden gerne konsultiert und ist mit seinen 1200 Seiten ein zuverlässiger Begleiter, der sachlich informiert und Angaben auch für Reisen in die abgelegensten Winkel des Kontinents enthält. Ergänzende Informationen bereichern eine Reise, indem wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Zusammenhänge und geschichtliche Hintergründe aufgezeigt werden. An diesen allgemeinen Teil schließt im Hauptteil die Beschreibung der einzelnen Länder an, die wir im folgenden etwas genauer auf ihre Bildinhalte untersuchen wollen. Ein immer wiederkehrendes Merkmal bei der Natur ist die Größe und Weite Lateinamerikas. Insbesondere die detaillierten Streckenbeschreibungen mit Angaben über Fahrzeiten und Distanzen führen dem aufmerksamen Leser diese Tatsache deutlich vor Augen. Die zahlreichen Naturbeschreibungen beschwören die Schönheit der Landschaft und ihre ursprüngliche Wildheit. Neben der Natur spielen kulturelle Gesichtspunkte eine besondere Rolle in der Präsentation Lateinamerikas. Den Zeugen der Vergangenheit wird beachtlich viel Raum gewährt, desgleichen auch den folkloristischen Veranstaltungen oder Festen mit ihrer exotischen Farbenpracht und Ursprünglichkeit. Von den Bewohnern Lateinamerikas ist meist in ethnologischem Zusammenhang die Rede, indem z.B. die Anteile der verschiedenen Rassen an der Gesamtbevölkerung dargestellt werden. In den übrigen gelegentlichen Hinweisen auf die Bewohner ist die Stimmung freundlich, auch wenn Stichworte wie Korruption, Kriminalität usw. einige Schatten auf dieses positive Bild fallen lassen. Öfter ist hingegen die Rede von Mentalitätsunterschieden: Ehrbegriffe, Pünktlichkeit usw. hätten in Lateinamerika oft eine andere Bedeutung als bei uns.

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In jedem Länderkapitel gibt uns das Handbuch eine Beschreibung der gesamtwirtschaftlichen Situation, einen Überblick über die wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre, über Erfolge und Schwierigkeiten und Probleme, wie etwa Inflation oder Umweltschutz. Sofern nötig ergänzen Betrachtungen über Teilregionen die makroökonomische Situationsbeschreibung. So wird beispielsweise der Nordosten Brasiliens nüchtern anhand einiger Zahlen beschrieben: Anteil an der Gesamtbevölkerung 30%, Kindersterblichkeit 60%, Analphabeten 50-96%. Das Bild dieser Problemregion Brasiliens ist realistisch und ungeschminkt, es ist jedoch leblos und würde mit etwas mehr Anteilnahme an Aussagekraft gewinnen. Der Leitsatz "it is not the custom of this Handbook to offer value-judgements on the political and social Situation in the countries..." wird in allen Beschreibungen der politischen Lage peinlich genau befolgt. — Wir stehen vor einer unvoreingenommenen, steril anmutenden Darstellung der politischen Herrschaftsverhältnisse, die weder positiv noch negativ kommentiert werden. Es ist wohl ein zentrales Anliegen, daß ein Reiseführer auch in der Kategorie Freizeitwert den Touristen mit den notwendigen Informationen versorgt. Besonders bei Reisen auf eigene Faust und abseits der touristischen Trampelpfade ist das South American Handbook ein unentbehrliches Hilfsmittel, denn es liefert eine Fülle von Hinweisen auf Interessantes und Sehenswertes, Kulinarisches, Shopping, Nachtleben usw. In diesem Sinne läßt sich auch das Bild Lateinamerikas charakterisieren, das uns das South American Handbook vermittelt: Lateinamerika, ein vielfaltiger und faszinierender Kontinent, der auf 1200 Seiten minuziös und sachlich beschrieben wird. Das Handbuch wird damit zum ebenso zuverlässigen wie sachlich-trockenen Reisebegleiter. Südamerika von Martin Velbinger Martin Velbingers Südamerika (1981) ist der erste Band einer dreiteiligen Reihe über Lateinamerika, und, wie er selber sagt, kein Reiseführer im üblichen Sinn, sondern eine Zusammenstellung der wichtigsten Informationen, von lebensnotwendigen Hinweisen und ausgefallenen Geheimtips für unkonventionelle Südamerika-Fahrer. Auf den ersten Blick ist Südamerika ein informatives und attraktives Handbuch — ein Taschenbuch mit 670 Seiten, salopp in der Schreibweise, lebendig und humorvoll illustriert, im Eigenverlag herausgegeben — ein originelles Buch, das sich alternativ gibt und nicht nur informieren, sondern auch unterhalten will. Eine genauere Betrachtung zeigt, daß bei Velbinger der Freizeitwert im Mittelpunkt der Überlegungen steht. Südamerika wird als Kontinent dargestellt, in dem Abenteuer an der Tagesordnung sind. Zwar stellt der Reiseführer eine Reihe wenig bekannter Routen in allen Gegenden Lateinamerikas vor, ergänzt sie mit Wegskizzen, Kartenausschnitten und Karikaturen. Die zahlreichen "Geheimtips" sind so geheim allerdings auch wieder nicht, gehören sie doch oft

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auch zum "alternativen Standardprogramm" organisierter Touristen. — Abenteuer, das seien nicht nur Fahrten durch unberührte Gegenden und reizvolle Landschaften; Abenteuer, das heiße auch überfüllte Busse, aufgeschlitzte Rucksäcke, Warten auf Anschlußverbindungen, endlose Tagesreisen. Abenteuer, das sind bei Velbinger besonders die extremen Urwaldtrips, die in Details beschrieben werden, immer garniert mit einem Schuß kräftigen Humors: "Ein Freund von mir, der als einer der wenigen von Machu Picchu auf dem Rio Urubamba runterfuhr, kam in Pucallpa mit 25 cm dicken Füßen an..." (134). Die eindrucksvolle Kulisse für diesen vom Abenteuer dominierten Freizeitwert Lateinamerikas liefert die Natur, eine wilde, ursprüngliche Umgebung des Menschen, des Abenteurers: Den Fahrten durch die Bergurwälder der AndenOstabhänge bis zum Amazonasurwald wird in Natur- und Streckenbeschreibungen die stärkste Bedeutung eingeräumt. Daneben, gewissermaßen im Schatten des Urwaldes, treffen wir auch die übrigen Naturräume Lateinamerikas — das Andenhochland, die Pampa, das argentinisch-chilenische Seengebiet, den Mato Grosso oder den Chaco. Auch sie werden sorgfältig beschrieben, treten aber weniger oft in Erscheinung als der Urwald. Informationen über die Kultur des jeweiligen besprochenen Gebietes finden sich, wie dies auch bei den übrigen Kategorien der Fall ist, gleichsam im Text versteckt. Interessantes und Wissenswertes aus dem kulturellen Bereich ist bei verschiedensten Gelegenheiten zu erfahren: Bei den Ruinen von Machu Picchu stoßen wir auf einen Exkurs über die Geschichte der Inkas; Nazca gibt Anlaß zur Darstellung der Theorien Maria Reiches und — sarkastisch kommentiert — von Dänikens; anläßlich der Märkte von Huancayo und Pisco wird die Ritztechnik bei Kürbisschnitzereien beschrieben, während wir im Brasilienteil eine lebendige Macumba-Schilderung vorfinden. Die Bewohner Lateinamerikas spielen bei Velbinger eine marginale Rolle. Auch wenn das — meist abenteuerliche — Bild, das er von den Einheimischen zeichnet, im großen und ganzen positiv ausfällt, so wirken die Oberflächlichkeit, oft auch die Geschmacklosigkeit schockierend für alle, die Lateinamerikaner und Europäer als gleichwertige Partner betrachten. Bemerkungen über die Indios mit ihren "dreckigen Fingernägeln" und "herrlich dreckigen Zehen" machen deutlich, daß bei aller ungeschminkter Darstellung der Verhältnisse es für Velbinger nicht immer einfach ist, die Grenzen des guten Geschmacks zu erkennen. So offenbart z.B. der Transamazonica-Geheimtip für Leute, die Milieu und Abenteuer suchen, ein fragwürdiges Kulturverständnis: "Trampt auf einem der Mercedes LKWs. Wenn's dem Fahrer zu langweilig wird, stoppt er an einer der Brettersiedlungen. Hier vermieten die Siedler in ihrem Elend ihre Töchter, — oft erst 13/14 Jahre alt. Bei genügend Alkohol geht's auch umsonst! Unter Umständen findet sich der Fahrer am nächsten Morgen wieder, neben sich das Mädchen, halbnackt und angekotzt". (136) Die wirtschaftlichen Überlegungen bei Velbinger beschränken sich weitgehend auf die Sorgen des Reisenden mit kleinem Geldbeutel. Selten macht er sich Gedanken über die Lebensverhältnisse in Lateinamerika: Nur gelegentlich

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ist die Rede von Landwirtschaft, Industrie, Entwicklungsproblemen oder Slums, öfter hingegen von Farmern mit Privatflugzeugen — "zum Anfreunden". Überlegungen zur Politik sind kaum anzutreffen, und wenn, dann im Zusammenhang mit Kriminalität, Korruption und Beamtenwillkür. Bewaffnete Raubüberfälle sind laut Velbinger in gewissen Gegenden an der Tagesordnung, und sein Ratschlag für solche Situationen lautet: "Keep Cool! Ruhig bleiben, freundlich lächeln. Besser ohne Unterhose aber heil, statt Messer im Bauch und trotzdem ohne Unterhose". In diesem Sinne ist für Velbinger Lateinamerika ein Kontinent des Abenteuers, des malariaverseuchten Urwaldes, Tummelplatz für zivilisationsmüde, abenteuerhungrige und sensationslüsterne Touristen. Bedenklich ist allerdings die Einstellung, die hinter diesem zwar einseitigen, aber doch erfrischend unkonventionellen und informativen Reiseführer steht: Südamerika wird in oberflächlicher, oft voyeuristischer und menschenverachtender Weise dargestellt, als El Dorado für Leute mit viel Appetit und wenig Geld, ein Paradies für Touristen, die in allen Situationen möglichst viel Genuß erleben möchten, ohne eine Gegenleistung zu erbringen.

Anstelle einer Zusammenfassung "Jeder von uns hat ein Bild von der Südsee oder von der Safari im afrikanischen Busch, von den ewig 'ola-ahe' singenden Hawaii-Mädchen und von indischen Tempeltänzerinnen. Bilder, die wir hinter den versteinerten Fassaden unserer modernen, unromantischen Welt aufgehängt haben, von denen wir wissen oder mindestens ahnen, daß sie nicht stimmen. Dennoch trennen wir uns nicht von ihnen. Schließlich wird die schöne Scheinwelt so wichtig, daß kein Mensch mehr auf sie verzichten kann, was dazu führt, daß tatsächlich auf Hawaii die Mädchen 'ola-ahe' singen und die indischen Tempeltänzerinnen tanzen, die Askaris durch den afrikanischen Busch marschieren und Südseeinseln für uns noch echter aussehen als in unseren Phantasien. Denn mit Klischees läßt sich Tourismus ins Land holen, Geld verdienen." (Bensmann 1976)

Bibliographie Reiseführer Polyglott-Reiseflihrer. Nr. 773. 1980/81. Mexiko. München. —. Nr. III. 1978/79. Mittelamerika. München. —. Nr. 798. 1980/81. Brasilien. München, —. Nr. 814. 1980/81. Peru/Bolivien/Ecuador. München. —. Nr. 815. 1980/81. Argentinien/Uruguay. München. —. Nr. 818. 1979/80. Kolumbien/Venezuela. München. —. Nr. 819. 1980/81. Karibik. München. Brooks, John. 1979. The South American Handbook. Bath. Velbinger, Martin. 1981. Südamerika. München.

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Weiterführende Literatur Adler, Christian. 1980. Achtung Touristen. Frankfurt a.M. Arbeitskreis für Tourismus und Entwicklung (Hrsg.). 1981. Reisen in die 3. Welt. Basel. —. 1982. Fluchthelfer Tourismus: Wärme in den Ferien. Zürich. Armansky, Georg. 1978. Die kostbarsten Tage des Jahres. Berlin: Rotbuchverlag. Bensmann, Hans. 1976. Die Reisegesellschaft. Düsseldorf. Bergmann, Klaus; Winfried Hammann und Solveig Ockenfuss (Hgg.). 1981. abhauen — flucht ins glück. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Eugster, Kuno. 1982. Lateinamerika — Das Bild eines Kontinents aus der Sicht des Tourismus. Bern/Stuttgart: Paul Haupt. Homberg, Erentraud. 1977. Tourismus — Funktionen, Strukturen, Kommunikationskanäle. München. Imfeid, AI. 1980. Tourismus, die profitable Reise. In: Hans Pestalozzi (Hg.). M-Frühling. Bern, 204-214. Schmidt, Karin. 1992. Untersuchungen zum Südamerikabild in den südamerikanischen Meditationen von Graf Hermann Keyserling. Diss. Aachen. Strzelewicz, Willy. 1970. Das Vorurteil als Bildungsbarriere. Göttingen. Tourismus und Kulturwandel. 1978. In: Zeitschrift für Kulturaustausch, Jg. 28, 3. Vj. Stuttgart.

3. Die Rezeption der deutschen Kultur in Lateinamerika

Die deutschsprachige Literatur in Spanisch-Amerika Wege der kulturellen Begegnung in Auswahl Nicolas Jorge Dornheim 1. Die Beschäftigung mit der deutschsprachigen Literatur in Lateinamerika Erst mit dem Abfall der amerikanischen Kolonien vom spanischen Mutterland am Anfang des 19. Jahrhunderts erweitert die intellektuelle Schicht zwischen Mexiko im Norden und den beiden Metropolen Buenos Aires und Santiago de Chile im Süden ihren Gesichtskreis in Richtung Nordeuropa. Für die langen Jahrhunderte der Kolonialzeit gilt die Klage Wilhelm von Humboldts, die er während seiner berühmten Spanienreise 1799-1800 in Madrid so formulierte: "No hay aquí ninguna literatura alemana."1 Dieses Zitat belegt eindringlich, warum die deutsche Literatur, trotz der nicht unbedeutenden Anzahl deutschsprachiger Jesuiten in den transatlantischen Besitzungen, in Amerika unbekannt war: Die europäische Metropole kannte sie auch nicht, heterodoxes und freidenkerisches Gedankengut sollte ferngehalten werden... In den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts wird jedoch im Zuge der Zusammenarbeit von Befreiungsideologie und importierter Romantik jene eingangs erwähnte Horizonterweiterung programmatisch gefestigt. (1830 ist der erste argentinische Romantiker Esteban Echeverría nach fünfjährigem Aufenthalt in Paris wieder in Buenos Aires.) So schreibt etwa der Mitherausgeber Andrés Lamas in der ersten Ausgabe der uruguayischen Zeitung El Iniciador vom 15. April 1838: "Trabajemos para la sociedad: su orizonte [sie] intelectual es muy estrecho: — veamos si podemos dilatarlo I-..]." 2

'"Hier gibt es keine deutsche Literatur", Rückübersetzung der spanischen Fassung von Justo Gärate. 2 "Arbeiten wir für die Gesellschaft: Ihr intellektuelles Blickfeld ist sehr beschränkt; versuchen wir, es zu erweitern [...]."

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Deutlicher wird der erste argentinische Literaturkritiker Juan Maria Gutiérrez. Er entdeckte bei der Lektüre von Shakespeare, Byron, Schiller und Goethe eine "neue Welt", so daß er sich in seinem Aufsatz "Fisonomía del saber español" (1837) dafür einsetzte, die Kulturleistungen des nordeuropäischen Raumes einzubürgern ("aclimatar el pensamiento y el genio de las lenguas del norte de Europa, como medio para dar seriedad e independencia a la razón"), wobei er in erster Linie an die Vermittlerrolle der Literatur dachte. Diese Gedanken setzte die junge romantische Generation in die Tat um: Esteban Echeverría übersetzte den "Prolog im Himmel" aus Goethes Faust und verfaßte einen Werther-Roman, die Cartas a un amigo (Briefe an einen Freund). Wie sah es darüberhinaus in Spanisch-Amerika mit dem berufsmäßigen Umgang mit der deutschsprachigen Literatur, mit der Germanistik aus? In Mexiko setzte sie besonders früh ein: Oloardo Hassey veröffentlicht 1850 eine deutsche Grammatik, zwei Jahre später die erste im Subkontinent bekannte Einführung in die Geschichte der deutschen Literatur. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß Germanistik in der Regel auch heute noch an den Universitäten kein gleichberechtigtes Fach ist, sondern eben, um auf Andrés Lamas zurückzugreifen, ein mehr oder weniger exotisches Fach im Dienste der "kulturellen Horizonterweiterung", was in erster Linie Übersetzung und Aneignung und weniger wissenschaftliches Fortschreiten bedeutet. Diese Vermittlungsaufgabe wird bezeichnenderweise nicht nur von den eigentlichen Germanisten wahrgenommen, auch herausragende Schriftsteller, Kritiker, Übersetzer und Philologen in Nachbarfächern, ja sogar Diplomaten fördern die Kenntnis der Literatur aus den Ländern jenseits der romanischen Welt. Andererseits äußert sich das germanistische Fachbewußtsein in der Existenz einer Lateinamerikanischen Germanistenvereinigung (ALEG), die 1965 in Argentinien gegründet worden ist und im Oktober 1994 ihren achten Kongress in Mexiko abgehalten hat, dann auch in zahlreichen nationalen Tagungen, sowie in Verzeichnissen der Hochschullehrer, die es inzwischen für Chile, Argentinien, Brasilien und Mexiko gibt. Daß auch die Germanistik in den Strudel der in Europa für typisch angesehenen Erscheinungsformen des .politischen Alltags in Lateinamerika geraten kann, beweisen die äußeren Umstände des in der argentinischen Stadt Córdoba im Mai 1969 abgehaltenen III. Lateinamerikanischen Germanistenkongresses, zu dem Vertreter aus der Bundesrepublik, Mexiko, Brasilien, Peru und Chile angereist waren. Das Treffen hatte planmäßig in den Räumen der Universität begonnen, mußte aber bald wegen umstürzlerischer Straßenkämpfe — es waren die Tage des sogenannten "Cordobazo", der Anfang vom Ende der Militärregierung des Generals Ongania — zuerst in das örtliche Goethe-Institut und schließlich in ein zentral gelegenes Hotel verlegt werden, wo die Kongreßteilnehmer trotz der Isolierung und bedrohlich wirkender Außenwelt das wissenschaftliche Programm lückenlos durchführen konnten... (Um nicht der Nestbeschmutzung bezichtigt zu werden: Der VIII. Kongress, im Oktober 1994, hatte internationales Format!)

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2. Wichtige Vermittler der deutschsprachigen Literatur Die "Horizonterweiterung" in Richtung deutschsprachige Literatur soll im Folgenden auch bei großen Schriftstellern und Literaturkritikern des 20. Jahrhunderts dokumentiert werden. Besonders aufschlußreich in diesem Zusammenhang ist die Überwindung des vornehmlich an Frankreich orientierten literarischen "Modernismus" ab etwa 1890, als die germanische Dichtung in einem zweiten Schub nach der Romantik des 19. Jahrhunderts wieder stärker rezipiert wurde. Ich möchte diese Entwicklung anhand von drei im lateinamerikanischen Raum wohlbekannten Persönlichkeiten verdeutlichen. In Mexiko hat sich Alfonso Reyes, prominenter Vertreter der sogenannten "Generación del Ateneo" (um 1910) zeitlebens mit Goethes Leben und Werk befaßt, so daß er 1954 eine vielbeachtete Goethe-Biographie als Endergebnis mehrerer Einzeluntersuchungen vorlegen konnte. Der Dominikaner Pedro Henríquez Ureña aus Santo Domingo fühlte sich jener von Reyes geprägten Generation verwandt und formulierte 1914 in seiner Rede "La cultura de las humanidades" programmatisch: "Nos falta todavía estimular el acercamiento [...] a la inagotable fuente de la cultura alemana [...]." Eine solche Annäherung an den unerschöpflichen Brunnen der deutschen Kultur wird auch am anderen Ende des Subkontinents betrieben, als sich der noch junge Jorge Luis Borges während des ersten Weltkriegs in Europa aufhält. Mit Recht stellt G. Hoffmeister in seinem Buch Spanien und Deutschland (1976) fest: "Am meisten hat Jorge Luis Borges für die Verbreitung deutscher Literatur getan [...]." Der heute wohl bekannteste argentinische Schriftsteller, der 1919 in seinem "Ultraismus-Manifest" für die Beseitigung des für ihn überlebten literarischen Modernismus plädiert hatte, erlernte, den Boden vorbereitend, schon früh in der Schweiz die deutsche Sprache, übersetzte expressionistische Gedichte von Wilhelm Klemm und August Stramm und wagte sich anschließend an die Übertragung von Kafkas Verwandlung, die er, wie Oscar Caeiro bewiesen hat, 1925 anonym in der spanischen Zeitschrift Revista de Occidente veröffentlichte. Sein geradezu professoraler Umgang mit der deutschen Literatur, sogar mit altgermanischen Sprachzeugnissen, hat ihn jedoch nicht davor gerettet, sich gelegentlich ungerecht und unscharf etwa zu Goethes dichterischer Produktion zu äußern, etwa wenn er 1979 gegenüber der Kritikerin Maria Esther Vázquez den Werther als fades, geschmackloses ("insípido") Buch abqualifiziert, oder wenn er ebendann vom Faust behauptet, es sei ein Werk, das ihn kaum gerührt habe, und das erst durch die Übersetzung in fremde Sprachen als Kunstwerk hervorleuchte. Im Jahr 1932 wurde in Lima ein Festakt zum Andenken an den 100. Todestag Goethes veranstaltet, und der bekannte Historiker und Intellektuelle José de la Riva Agüero hielt die Festrede, in der er dessen Werk würdigte. Neben solchen Koryphäen der literarischen Produktion und Kritik gab und gibt es zahlreiche weniger bekannte Vermittler der deutschsprachigen Literatur, die, von ihren jeweiligen Berufen ausgehend, dazu beitragen, zwischen eigentlich weit entfernten Kulturkreisen Brücken zu schlagen. Stellvertretend erwähnt

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seien Ernesto Volkening in Kolumbien und Alberto Haas in Argentinien. Volkening (1908-1983) hat sich hauptsächlich als Übersetzer hervorgetan, war ein vorzüglicher Kenner der deutschen und lateinamerikanischen Literatur und wirkte, zeitweise als Herausgeber, in der hervorragenden literarischen Zeitschrift Eco. Revista de la Cultura de Occidente. Haas (1873-1930), seit 1919 in der argentinischen Hauptstadt ansässig, ist in Buenos Aires in wenigen Jahren "ein Kenner Argentiniens geworden wie wenige und hat sich zugleich darum bemüht, den Argentiniern den Zugang zum inneren Leben des deutschen Volkes zu erschließen" (Fittbogen 1931), was er insbesondere durch seine Übertragungen deutscher Lyrik und seiner 1928 erschienenen Geschichte der deutschen Literatur erreichte.

3. Die literarische Übersetzung Germanisten, Nicht-Germanisten, Schriftsteller: Alle Vermittler deutschsprachiger Literatur in Lateinamerika waren und sind gerade auch Übersetzer; Borges, Volkening, Haas zeugen davon. Mit den Übersetzungen, "Garanten für die Einheit und Universalität der Kultur" (so der spanische Emigrant Francisco Ayala), steht und fällt die Quantität und Qualität der Rezeption einer wegen der "sprachlichen Entfernung" (Vicente García Yebra) schwer erschließbaren Literatur. Wenn wir von einem Syntheseversuch von María Luisa Punte beim IV. Lateinamerikanischen Germanistenkongreß 1973 in Säo Paulo absehen, gibt es wohl keine Gesamtuntersuchung zu diesem in seiner bibliographischen Weitläufigkeit kaum erfaßbaren Thema. Daher beschränke ich mich zunächst auf die Lage in Argentinien. Im 19. Jahrhundert wird wenig und schlecht übersetzt, meist aus zweiter Hand über die damals nahezu alleinherrschende französische Sprache. So überträgt Miguel Cañé 1866 Goethes Gedicht "Der Erlkönig" mit "El rey de las almas" (Der König der Seelen). Erst in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts, in der Folge einer tiefer greifenden Aneignung der literarischen Werte Nordeuropas, zeichnet sich eine Reihe von guten, ja meisterhaften direkten Übertragungen deutscher Literatur ab. Neben dem schon erwähnten Borges sei hier nur verwiesen auf zwei bedeutende Faust /-Versionen, von Augusto Bunge 1926 und Norberto Silvetti Paz 1970, auf die einfühlsamen Rilke-Übertragungen von Angel J. Battistessa, auf Alfredo Cahns Übersetzungen von Stefan Zweig — die Symbiose zwischen beiden ging soweit, daß jener unter Eingeweihten zum Scherz Alfredo Zweig oder auch Stefan Cahn genannt wurde —, auf M.A. Oliveras hispanisierte Version der Iphigenie auf Tauris (1947), schließlich auch auf die Leistung argentinischer Germanisten, die für ihre Vorlesungen in spanischer Sprache auf möglichst genaue Übertragungen angewiesen sind. Einen weiteren Fortschritt bedeuten die europäischen Exilwellen in Südamerika (Spanischer Bürgerkrieg 1936-1939, Hitlerregime und Zweiter Weltkrieg). Unter den in die argentinische Hauptstadt Verschlagenen kann hier der spanische Soziologe und Schriftsteller Franciso Ayala hervorgehoben werden. Er hatte zwischen 1929 und 1930 in Deutschland

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studiert, kam dann infolge des spanischen Bruderzwistes nach Argentinien und übersetzte dort meisterhaft Rilkes Malte und Thomas Manns Lotte in Weimar, auch revidierte er eine spanische Prosafassung von Goethes Faust I. Als Theoretiker verfaßte er daneben 1943 eine Breve teoría de la traducción, in der er, im Fahrwasser von Friedrich Schleiermachers klassischer Abhandlung Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens (1813), die Forderung des Breslauer Denkers nach der sprachlichen Biegsamkeit der Zielsprache zum Originaltext hin übernimmt, wie ja auch andere profilierte Übersetzer aus dem spanischen Sprachraum, etwa der Philosoph José Ortega y Gasset 1937, M.A. Oliviera 1947, Jorge Luis Borges 1957, Ernesto Volkening 1970 und Vicente García Yebra 1982, in der Auseinandersetzung mit Schleiermachers Ausführungen zur theoretischen und praktischen Überwindung einer allzu freien und sorglosen Übersetzungstradition hinfanden. Bei dem baskischen Arzt und Philologen Justo Gárate, auch ein Exil-Spanier in Argentinien, kommt übrigens nicht einmal Ayalas Lotte in Weimar ungeschoren davon: Er entdeckt in einer "ansonsten ausgezeichneten" ("espléndida") Übertragung, daß Friederike Brion aus Sesenheim bei Ayala zu einer adeligen "Federica von Sesenheim" umgewandelt wird! Eine reizvolle Aufgabe wäre in diesem Zusammenhang eine Geschichte grober Übersetzungsfehler, die auch in so manchem Fall eine öffenüich ausgetragene Polemik veranlaßt haben. Friedrich Hölderlins spätes Gedicht "Hälfte des Lebens" etwa wurde im spanischen Südamerika mindestens fünfzehnmal übersetzt. Eine Reihe von Übertragungen gibt das Substantiv im letzten Vers, "Klirren der Fahnen" (gemeint sind die Wetterfahnen), richtig mit "veletas" wieder, so bei Haas (Argentinien), Suescún (Kolumbien), Volkening, Modern (Argentinien), Helberg/Huenefeldt (Peru), Alvarez (Argentinien) u.a. Eine zweite Gruppe, zu der zunächst auch der spanische Dichter Luis Cernuda zählte, überträgt irrtümlich "banderas" (Flaggen). Hier stehen wir also vor einem bemerkenswerten Kapitel der trotz aller Entfernung doch reichen Rezeption der deutschsprachigen Lyrik.

4. Deutschsprachige Autoren reisen nach Lateinamerika Zugegeben: Weder Heinrich Boll noch Günter Grass haben (abgesehen einmal von einer kurzen Informationsreise Grass' in das sandinistische Nicaragua) jemals den Subkontinent bereist, und auch Goethe hat bekanntlich nur über Amerika geschrieben. Boll hat sich immerhin als Präsident des PEN-Klubs für die Freilassung des argentinischen Schriftstellers Antonio di Benedetto aus der harten, von der Militärregierung Videla auferlegten Gefangenschaft in lobenswerter Haltung eingesetzt. Und doch war und ist die Vielfalt dieser transatlantischen Länder ein lockendes Reiseziel für Autoren wie Horst Bienek, Ernst Kreuder, Uwe Timm oder Reiner Kunze gewesen. Die Allerersten kamen nicht für die Dauer einer Vortragsreise, wie jene vier, sondern als Entdecker und Naturerkunder, in Zeiten, als Wissenschaft und Literatur noch nicht so weit auseinanderklafften wie heutzutage. Nichts Poetischeres als die Beschreibung der letzten Lichter Europas, die Alexander von Humboldt auf seiner berühmten

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Lateinamerika-Reise 1799-1804 vom Schiff aus bei einbrechender Dunkelheit als Abschied vom Heimatkontinent erahnt, und nichts Außergewöhnlicheres, wenn Adelbert von Chamisso, der Verfasser von Peter Schlemihls wundersame Geschichte (1814), im Jahre 1816 als Naturwissenschaftler an Bord der Brigg "Rurik" chilenischen Boden betritt, und neben seinen sachlichen, im Tagebuch seiner Reise um die Welt niedergeschriebenen Beobachtungen auch noch Zeit und Stoff findet für sein schönes Gedicht "Salas und Gomez", welches, in späteren Jahren veröffentlicht, ein ergreifendes Robinsonschicksal auf der nackten, öden, gleichnamigen Insel in der Nähe der chilenischen Küste schildert. Freilich haben dann auch Autoren wie Heinrich von Kleist — Das Erdbeben in Chili — und Karl May — Am Rio de la Plata, Das Vermächtnis des Inka usw. — den Schauplatz ihrer Erzählungen und Romane nie mit eigenen Augen gesehen. Andererseits glaubt sich der schweizerische Gesandte Johann Jakob von Tschudi schon 1866 für den Druck seines eigenen Buches entschuldigen zu müssen, denn, so heißt es im Vorwort, "die umfangreiche Reiseliteratur über Südamerika durch ein neues Werk zu vermehren dürfte manchem überflüssig erscheinen [...]". Zum Glück läßt er sich nicht davon abhalten, seine Reisen durch Südamerika bei Brockhaus in Leipzig zu veröffentlichen und in dieses spannende Reisetagebuch zum Beispiel die vielleicht früheste europäische Darstellung der jungen argentinischen Literatur einzuflechten (Band IV: 198). Neben Vortrags- und Erkundungsreisen gibt es aber auch eine unfreiwillige, für unser eigenes Jahrhundert bedeutende Art des Reisekontaktes: das literarische Exil. Da es sich um einen seit den siebziger Jahren besonders stark durchpflügten Forschungsbereich handelt, seien hier nur einige charakteristische Beispiele angeführt. Der Germanist und Schriftsteller Egon Schwarz hat 1979 seine Autobiographie Keine Zeit fiir Eichendorff. Chronik unfreiwilliger Wanderjahre der Öffentlichkeit übergeben. Darin schildert er, in bewußter Anlehnung an den Schelmenroman, seine zehnjährige "Pikaro-Existenz" in den Anden-Staaten Bolivien, Chile und Ecuador, die er als jüdischer Exilant, aus Hitlers Europa vertrieben, mit wechselndem Glück zu durchleben gezwungen ist, bis er den rettenden Ruf in die Vereinigten Staaten bekommt. Wie sehr das gesamte Lateinamerika von dieser massiven Präsenz der deutschsprachigen Emigration betroffen war, beweist die Tatsache, daß Schwarz sogar noch in der bolivianischen Kleinstadt Sucre Flüchtlinge antrifft, wohin "ein paar von Hitlers Vertriebenen verschlagen worden [waren], etwa zwanzig oder fünfundzwanzig an der Zahl, Juden und Nichtjuden, Deutsche, Österreicher und Böhmen [...]". Wiener von Geburt wie Egon Schwarz war auch Stefan Zweig. Er hat bekanntlich 1942 in Brasilien seinem unerträglich gewordenen Emigrantendasein ein Ende gesetzt. Weniger bekannt ist, daß er 1936 und 1940 zu Kongressen und Vortragsreisen in Argentinien und Uruguay weilte. Zweig genoß in Südamerika den größten Publikumserfolg, den ein deutschsprachiger Autor dort jemals zu verzeichnen hatte. Am 12. September 1936 gesteht er in einem spontan formulierten Brief an seine erste Frau Friderike: "[...] die Zeitungen

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verfolgen einen von früh bis nachts mit Photographien und Stories [...]." Das ist auch 1940 nicht anders, als der Journalist Peter Bussemeyer im Argentinischen Tageblatt vom 29. Oktober bezeugt, daß die Vertreter der englischen, deutschen und argentinischen Presse von Buenos Aires sich in Zweigs Hotel die Türklinke seines Zimmers buchstäblich in die Hand reichten.

5. In Lateinamerika geschriebene deutschsprachige Literatur Seit den siebziger Jahren, besonders durch die Untersuchungen und Dokumentationen von Alexander Ritter in der Bundesrepublik Deutschland und von Helmut Fröschle in Kanada, ist auslandsdeutsche Literatur — d.h. in unserem Fall die von den deutschsprachigen Auswanderern und deren Nachkommen im Spanisch sprechenden Amerika verfaßte literarische Produktion — als literarische, sprachliche und interkulturelle Erscheinung wieder ernstgenommen worden, nachdem sie in Europa als in den Hitlerjahren mißbrauchtes Beweisstück pangermanischen Volksgutes in Verruf geraten war. Diese deutschsprachige Literatur im spanischen Amerika, von der es leider noch keine neuere, kommentierte Anthologie gibt, spielt in mehreren Ländern mit beträchtlicher deutscher Einwanderung, wie Chile und Paraguay, aber besonders in Argentinien eine bedeutende Rolle, so daß wir uns auf dieses letztgenannte Land beschränken können. Der Korpus der in Argentinien geschriebenen Literatur — in seiner literarästhetischen Bedeutung selbstverständlich nicht mit der Jahrhunderte währenden europäischen Tradition vergleichbar — umfaßt Lyrik, erzählerische Kurzformen und Romane, Theater, Essays, Reisebeschreibungen, Nachdichtungen und Übertragungen, und beginnt 1870 mit Bert Amelans am Río de la Plata geschriebenen Roman Malón. Der Schrecken der Pampas! Die Zeitspanne größter Produktionsdichte und Selbstreflexion sind die zwanziger bis fünfziger Jahre dieses Jahrhunderts. Im Sog zunehmender europäischer Attraktivität und internationaler Medienvernetzung kommt die lokale Schaffenskraft seitdem fast gänzlich zum Erliegen. Obwohl es sich also im wesentlichen um eine abgeschlossene, historisch gewordene Entwicklung handelt, ist dieser lateinamerikanische Ableger der deutschsprachigen Literatur wegen seiner komparatistischen und interkulturellen Relevanz nicht aus dem uns hier gesetzten Rahmen wegzudenken, schöpft er doch thematisch weitgehend aus dem Erlebnis der südamerikanischen Umwelt: Landschaft, Geschichte, Andersartigkeit in jeder Gestalt. Zwei konkrete Beispiele mögen dies verdeutlichen: Max Tepp, 1891 in Hamburg geboren, schrieb bereits in Deutschland aus der Erfahrung des Ersten Weltkriegs literarische Prosa, wanderte 1924 nach Argentinien aus und betätigte sich dort bis zu seinem Tode als Pädagoge, zuerst im südargentinischen Patagonien und dann jahrzehntelang in der Hauptstadt Buenos Aires. Tepp war daneben auch Mitherausgeber der deutschsprachigen Zeitschrift Phoenix, Verleger (Verlag Die Umwelt, Buenos Aires), Essayist, Lyriker, Herausgeber deutscher Literatur und vor allem ein unermüdlicher Erzähler.

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Werner Hoffmann, bedeutender argentinischer Germanist (Publikationen über Clemens Brentano und Franz Kafka), 1907 in Deutschland geboren, wanderte 1934 nach Buenos Aires aus. Auch er fand neben seiner pädagogischen Arbeit den Weg zur literarischen Ausformung der neuen, endgültigen Heimat, deren Geschichte und Gegenwart er in Gedichten, Erzählungen und Bühnenstücken spiegelte. Als Literaturwissenschaftler reizte ihn aber auch die komplementäre Aufgabe der Darstellung eben derjenigen Literaturgeschichte, zu deren Korpus er einen entscheidenden Beitrag geleistet hatte. In dem von H. Fröschle herausgegebenen Buch Die Deutschen in Lateinamerika (1979) hat er das Argentinien-Kapitel übernommen (Fröschle 1979, 40-145), das neben anderen Aspekten auch die literarische Szene beleuchtet.

6. Die Rezeption der europäischen deutschsprachigen Literatur Zum Beispiel Goethe: Wer sonst als Johann Wolfgang Goethe bietet das ergiebigste Exemplum für den Beleg eines deutschsprachigen Autors im gesamten hispanoamerikanischen Raum. Freilich könnte hier auch von Heine, Rilke, Kafka oder Thomas Mann die Rede sein: Sie alle haben in literarischen Bewegungen, bei Dichtern, Denkern und Kritikern ihre nicht selten überdeutliche Spur hinterlassen. Nur Goethe ist einer der wenigen, der zu einer eigenen Untersuchung dieser Spur in Buchform Anlaß gegeben hat: Udo Ruksers Goethe in der hispanischen Welt, das 1958 in Stuttgart erschien. Bezeichnend ist, daß die Idee zu diesem umfassenden Werk schon 1949 entstand — so Rukser im Vorwort —, also im Zusammenhang mit der weltweiten Zweihundertjahrfeier von Goethes Geburt, denn immer wieder sind es ja gerade die Gedenktage, die Anregung für Autoren und Leser bieten. Die Goethejahre 1932, 1949 und 1982 sind in der Tat in Lateinamerika Marksteine intellektueller Auseinandersetzung mit deutscher Kultur überhaupt. Den Anfang machte 1932 allerdings Spanien mit dem 36. Band der damals führenden Zeitschrift Revista de Occidente, mit Beiträgen von in Deutschland geschulten Denkern wie José Ortega y Gasset und Manuel Garcia Morente. Letztgenannter behandelte in seiner Untersuchung über Goethe en el mundo hispänico Goethes Präsenz im spanischen Mutterland, trotz des Titels kaum einen Ausblick auf die amerikanischen Tochterrepubliken eröffnend. In der lateinamerikanischen Länderkette geschah aber in jenem Jahr durchaus Merk-Würdiges, bis zu dem Bug des kontinentalen Schiffes hinunter, wie Ortega Argentinien einmal benannte. In der Metropole Buenos Aires brachte die international bekannte Zeitschrift Sur, mit ihrem Namen symbolisch den südlichsten Sammelpunkt der hispanischen Kulturwelt bezeichnend, in ihrem fünften Heft einen Beitrag des Mexikaners Alfonso Reyes, "Rumbo a Goethe" (In Richtung Goethe), mit dem die Herausgeberin Victoria Ocampo 1932 an Goethe erinnerte. Neben dieser weltoffenen Zeitschrift sollte aber auch das Organ der Studenten der Philosophischen Fakultät der Universität Buenos Aires erwähnt werden. Ein damals noch sehr junger Dozent, Angel J. Battistessa — er ist kürzlich gestorben, als Nestor

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der argentinischen Literaturkritik anerkannt — sorgte dafür, daß Verbum — eben dieses Studentenblatt — eine Goethe-Sondernummer herausgab, die in der hispanischen Welt nicht ihresgleichen hatte. Die Beiträge stammten von führenden Literaturwissenschaftlern in Europa — wie Karl Vossler, Fernand Baldensperger und Arturo Farinelli — und wieder taucht, im Inhaltsverzeichnis des reich bebilderten Bandes, der Name des Mexikaners Alfonso Reyes auf, diesmal mit einer Studie über "Goethe y América". Überqueren wir jetzt die Anden: Die chilenische Beschäftigung mit Goethe hat Hugo Montes erst kürzlich aufgezeichnet in seiner Untersuchung Literatura alemana en Chile. Wir erfahren dort, daß die Nobelpreisträgerin Gabriela Mistral in ihrem Gedicht "Recado terrestre" den deutschen Dichter in der Form einer Vater-Unser-Litanei ehrt: "Padre Goethe que estás en los cielos [...]. 10 Auf die Rezeptionslage in Peru hat sich der Komparatist Estuardo Núñez spezialisiert. Ich folge hier teilweise seinen Ausführungen. Seine Würdigungen haben mit einem im Juli 1949 in der Zeitschrift Mar del Sur erschienenen Aufsatz "Goethe en el Perú" ihren Anfang, ihren vorläufigen Abschluß im letzen Gedenkjahr 1982 mit dem Beitrag "La recepción de Goethe en el Perú". Auch in Peru, und noch vor der Jahrhundertwende, gehen aktive Rezeption und Übersetzung Hand in Hand. Wir erinnern uns, daß Miguel Cañé 1866 in Buenos Aires "Der Erlkönig" mit "El rey de las almas" (Der König der Seelen) übertragen hatte (vgl. Abschnitt 3). Nun gut: "Erl" war auch in der peruanischen Hauptstadt Lima im Kontext der schönen Ballade aus Goethes Sturm- und Drang-Zeit ein unverständliches Wort, das die im 19. Jahrhundert kaum des Deutschen mächtigen Übersetzer (sie waren auf Helfer in ihrem Umkreis oder auf französische Vermittlung angewiesen) zusätzlich unsicher machte. So entsteht in Lima eine weitere ungewöhnliche Titelvariante, die von Manuel González Prada 1885 in der Zeitung El Progreso: "El rey de los alcos".4 Dieser Fehlgriff forderte dann auch wenige Tage später einen neuen Versuch heraus, diesmal in dem Blatt La Opinión Nacional, den Juan de Arena mit der Titelgebung "El rey de los alisos"5 einleitete und mit einem polemischen Kommentar begleitete. Die Übersetzung "Erl", "Erlen", bekanntlich schon bei Herder und Goethe im 18. Jahrhundert ein Irrtum — sie verstanden in der dänischen Quelle von Goethes Ballade "elver" wie "eller", Erle, und nicht richtig wie Elfe —, war verständlicherweise den Südamerikanern Cañé, González Prada und Arena erst recht ein Rätsel, da ja so gar kein Zusammenhang mit dem Inhalt der Ballade aufzuspüren war. Umso größer war die Leistung von Juan de Arena, als er sich schließlich in seiner späteren Übertragung des Gedichtes von tierischen und pflanzlichen Irrwegen entfernte und, Herder und Goethe verbessernd, die Überschrift "El rey de los elfos" (Der

'Von der Ehrung Goethes 1932 in Lima war oben bereits die Rede. "Der König der Hunde"; quechua "alco": Hund. '"Der König der Erlen"; also mit den Birken verwandte Gewächse.

4

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König der Elfen) einsetzte. Das war damals eine germanistische Pionierleistung. Im 20. Jahrhundert ist es dagegen in diesen Breiten doch besser um die Kenntnis der deutschen Sprache bestellt. In Argentinien las der philologisch genau arbeitende Angel J. Battistessa dann auch "El rey de los elfos" in einer meisterhaften, erläuterten Übertragung, die seinem Buch El poeta en su poema (1965) enthalten ist. Auch der Kolumbianer Otto de Greiff bevorzugt diese Überschrift, in der Goethe-Nummer der Revista de Indias (Bogotá, Nr. 110, Juli-September 1949), ja er erläutert darüber hinaus die Geschichte der Titelproblematik (S. 8 des Supplements). Die auf der Landkarte Lateinamerikas eingeschlagene Richtung führt uns schließlich nach Mexiko. Die Goethe-Rezeption in diesem nördlichsten Staat des spanischen Amerika ist von Marianne 0 . de Bopp in ihrem Buch Contribución al estudio de las letras alemanas en México (1961) untersucht worden. Eine Polemik signalisiert stets eine besonders eindringliche Rezeptionsphase: daher hier nur der Hinweis auf die von Frau Bopp hervorgehobene mexikanische Diskussion um Goethes Werther. Noch 1842, also über 60 Jahre nach der Veröffentlichung seines frühen Welterfolgs, wird Werther in Mexiko als Aufforderung zum Selbstmord verworfen, in einem in der Zeitung El Mosaico Mexicano unter dem Titel "El suicidio" (Der Selbstmord) erschienenen Aufsatz, der so viel später immer noch den Roman als Todesstoß für die Moral Deutschlands verdammt! Die auf diesen Seiten angeführten Beispiele der Goethe-Rezeption in Spanisch-Amerika sind freilich nur Bausteine einer noch ausstehenden Gesamtuntersuchung der literarischen Wechselbeziehungen zwischen dem Subkontinent und dem deutschsprachigen Europa, wobei zu bezweifeln ist, ob ein solches Unternehmen noch aus der Feder eines einzelnen Wissenschaftlers stammen kann, wie es Gerhart Hoffmeister in der spanischen Dimension mit seinem Werk Spanien und Deutschland 1976 versucht hat. Mögen meine Ausführungen ihr Ziel erreicht haben, in Ansätzen zu veranschaulichen, wie vielfältig und nuanciert die Präsenz der deutschsprachigen Literatur in Spanisch-Amerika seit dem 19. Jahrhundert trotz aller geographischen, sprachlichen und kulturellen Distanz in kaum überschaubarer Fülle ihre Wege gefunden hat, durchaus keine "verpaßte Begegnung" zu sein, wie es einmal der argentinische Arzt und Schriftsteller Marcos Victoria zu formulieren für richtig hielt, sondern ein vielmaschiges Netz im Rahmen einer seit der politischen und geistigen Befreiung für notwendig und richtig erkannten Horizonterweiterung, die in den besten, noch heute gültigen Träumen und Taten der geistigen Väter Lateinamerikas verankert ist.

Bibliographie Der vorliegende Aufsatz hat lediglich, wie der Untertitel verspricht, "Wege der kulturellen Begegnung in Auswahl" aufzeichnen wollen. Eine ausführlichere Darstellung der Verflechtung deutschsprachigen Schrifttums mit Lateinamerika

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würde — wie bereits angedeutet — den vorgegebenen Rahmen eines Artikels sprengen. Was die Rezeption der Schriftsteller betrifft, so sind für das 19. Jahrhundert über Goethe hinaus Namen wie Chamisso, Heine, Hölderlin, Keller, Kleist und Schiller anzuführen, für das zwanzigste insbesondere Benn, Boll, Brecht, Enzensberger, Grass, Hesse, Kafka, Rilke und Thomas Mann. Die Exilliteratur, die Philosophie und die literarische Kritik (etwa Benjamin) würden gewiß in diesem noch zu schreibenden Buch gesonderte Kapitel verdienen. Die folgende Bibliographie möchte daher versuchen, den Lesern eine erste Orientierung zu bieten.

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Die deutschsprachige Literatur in Brasilien Erwin Theodor Rosenthal

Schon in den Berichten aus den ersten Jahrzehnten des neuentdeckten Landes (1500) werden deutsche Namen erwähnt; bereits 1515 erscheint in Augsburg die Copia der Newen Zeytung ausz Presillg Landt, die erste Kenntnisse brasilianischer Gegebenheiten in Deutschland vermittelt. Hans Staden aus Homberg (Hessen) ist 1548 zum erstenmal in Brasilien (Olinda, Pernambuco) an Land gegangen und hat später in Marburg (1557) seine Wahrhaftig' Historia und beschreibung eyner Landtschafft der Wilden/Nacketen/Grimmigen Menschenfresser Leuthen/in der Newenwelt America gelegen geschrieben, mit Erlebnissen zweier Brasilienreisen, während der er Heliodor Eoban Hesse, Sohn des Humanisten Helius Eobanus Hessus, und einen Peter Rösel kennenlernte, beide in Säo Vicente (Säo Paulo) angesiedelt und in einer portugiesischen Zuckermühle beschäftigt. Immer wieder, so auch im Gefolge der Holländer, die in Nordbrasilien zwischen 1630 und 1654 ein ausgedehntes Kolonialreich errichteten, und besonders ab 1637, als es vom Fürsten Moritz von Nassau-Siegen geführt wurde, sind deutsche Reisende, Soldaten und Abenteurer ins Land gekommen, doch erst als der Iusitanische Hof nach Rio de Janeiro verlegt worden war (D. Joäo VI residierte von 1807-1821 in Brasilien), erfolgte ein geordneter Ansiedlungsversuch von Deutschen (im Jahre 1818), der als erster "fremdländischer", d.h. nicht-portugiesischer Kolonialversuch in der brasilianischen Geschichte gelten darf. Ab 1824 (und der 25. Juli jenes Jahres ist als "Tag deutscher Einwanderung" bekannt geworden) wurden deutsche Niederlassungen offiziell von brasilianischer Seite aus gefördert, indem das brasilianische Kaiserpaar Siedler in Deutschland, Österreich und der Schweiz anwerben ließ. (Das Land war seit 1822 unabhängig und die Kaiserin eine Habsburgerin.) Den beiden ersten Gruppen (43 und 81 Personen), die in jenem Jahr in Brasilien eintrafen, wurden Grundstücke in Säo Leopoldo, im Süden des Landes angewiesen, jeweils 70 bis 75 Hektar groß. Die angesiedelten Familien bestanden in der Mehrzahl aus Landarbeitern und Handwerkern, doch waren auch Kaufleute, zwei Ärzte, ein Apotheker und ein Pfarrer dabei; alle waren bestrebt, ihr Leben den neuen Umständen anzupassen, aber auch die Verbindung mit der Heimat aufrechtzuerhalten. Somit fanden ihre neuen Erfahrungen Ausdruck in Briefen, Berichten, tagebuchartigen Aufzeichnungen, aber auch — wenig später — in literarischen Darstellungen (Gedichten, Erzählungen und Novellen), die als Grundstein der deutschsprachigen Literatur in Brasilien betrachtet werden können. Allerdings muß Carlos Fouquet beigepflichtet werden, wenn er feststellt:

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Weitaus schwächer als Musik und Wissenschaften wirkt sich als verbindende Kraft die deutsch-brasilianische Dichtung aus, die deutschsprachige der Einwanderer und ihrer Nachkommen und derjenigen Ausländer, die Eindrücke eines zeitweiligen Aufenthalts im Lande dichterisch gestaltet haben. Dem Brasilianer portugiesischer Sprache blieb sie so gut wie unbekannt. Romane, Erzählungen, epische und dramatische Versuche, Gedichte, Erinnerungsschriften und Plaudereien liegen zwar in Fülle vor, in erstaunlicher Fülle, wenn wir sie an dem verhältnismäßig kleinen Kreis der Deutschsprechenden messen, die als Verfasser und Leser in Betracht kamen. Aber den Dichtern und Schriftstellern fehlten von Anbeginn die Mittel, den Leser zu erreichen. Die Periodika, deren sie sich bedienten, erfaßten, wie bekannt, in der Regel nur regionale Gruppen, und manche Redaktionen schadeten zudem dem Ansehen des dichterischen Wortes, indem sie kritiklos aufnahmen, was ihnen vorgelegt wurde. Nur wenig kam in Büchern und Heften heraus, zumeist im Selbstverlag. Noch weniger gelangte hier oder gar in Europa in den Buchhandel. Selten gelang es einem der nebenberuflich oder im Ruhestand schreibenden Autoren, mehr als einmal hervorzutreten, und die Beschränkung auf vereinzelte Werke verschafft einem Autoren keine Lesegemeinde und damit keinen bleibenden Widerhall und keine Aufmunterung. (Fouquet 1974) Kulturhistorisch handelt es sich bei dieser Dichtung um eine wenig beachtete Erscheinung, die überhaupt erst spät zur Kenntnis genommen wurde, als sich ihr gewisse Entfaltungsmöglichkeiten boten, dank der Gründung des Deutschen Volkskalenders im Jahr 1874. Viele der deutschsprachigen literarischen Texte, die in Brasilien zu Papier kamen, wurden in den Hauskalendern gedruckt (auf den erwähnten Volkskalender folgte im Jahre 1881 der Kalender für die Deutschen in Brasilien, herausgegeben von Wilhelm Rotermund, und später als Rotermund-Kalender bekannt geworden. Weitere fast hundert Titel folgten im Laufe der Jahrzehnte, bis hin zum Serra-Post Kalender, der noch nach dem Zweiten Weltkrieg regelmäßig erschienen ist), die damit ein beliebtes Forschungsobjekt denjenigen bieten, die sich mit dieser Literatur befassen. Die zahlreichen Autoren, die vorübergehend oder häufiger zur deutschsprachigen Dichtung in Brasilien beigetragen haben, können nicht einzeln erwähnt werden. Es sollen in der Folge nur allgemeine Merkmale der so entstandenen Literatur angeführt werden, und am Ende soll eine knappe Liste über Titel informieren, die beispielhaft für das Ganze stehen. Die Abgeschlossenheit der ersten Einwanderer in einzelnen Siedlungen war verantwortlich für eine stoffliche Einengung der dort produzierten Texte, deren Folgen noch Ende des neunzehnten Jahrhunderts spürbar sind. Ganz anders, doch dem hier vorgegebenen Thema nicht zugehörig, verhielt sich die Lage der damals in Europa veröffentlichten Bücher, Aufsätze oder Abhandlungen, verfaßt

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von Gelehrten, Reisenden, Künstlern und Wissenschaftlern, die sich nur zeitweilig in Brasilien aufgehalten hatten und deren Anschluß an die Heimat nie in Frage gestellt war. Vom Ende des vorigen Jahrhunderts an zeichnet sich bei der in Brasilien produzierten deutschsprachigen Dichtung der Versuch des Anschlusses an die brasilianische Gesellschaft ab, was neue Gesichtspunkte zeitigt und auch gleichzeitig eine ganz andere Sprachführung bedingt. Vieles gehört hierher, was schon in akademischen Abhandlungen und gelehrten Büchern (Fausel, Willems u.a.) untersucht worden ist und allgemein unter der Benennung der "Sprachmischung" in Erscheinung tritt. Sie geschieht bewußt, wenn der vom deutschsprachigen Raum abgetrennte Dichter nach individuellem Ausdruck drängt, und unbewußt, wenn fremde Sprechgewohnheiten die eigenen überlagern. Die behandelten Motive bewegen sich weiterhin im traditionellen Kreis: Heimat und Fremde, Liebe und Natur. Gattungsmäßig geht es um kleine lyrische Erzeugnise, Gelegenheitsgedichte in viele Fällen, um Kurzprosa und Novellen, auch manchmal um Romane und dramatische Versuche. Häufig wird auch — spannend oder amüsant — die Einfügung der "Deutschländer" (Einwanderer) in das schon bestehende deutschbrasilianische Ambiente behandelt, oder es kommt — seltener — die einmal mehr und ein anderes Mal weniger geglückte Mischung von "deutschbrasilianischen" und "lusobrasilianischen" Familien zur Sprache. Die Daseinserfahrung "zwischen zwei Welten" (Martin Fischer) ist die große Herausforderung für die Dichter deutscher Zunge in Brasilien, der sie sich nur selten gewachsen fühlen, aus Gründen der sozialen, politischen und kulturellen Distanzierung. Die Lyrikerin Juanita SchmalenbergBezner gelangte zur Erkenntnis, daß "unsere Halbheit uns zu einer meist von tragischen Hintergründen ummauerten Beschränkung führt"1. Natürlich gibt es auch hier ehrenvolle Ausnahmen, so Edith Freyse, die noch im letzten Jahrzehnt drei Romane herausgebracht hat, die diesem spezifischen Problem des deutschsprachigen Autors gerecht werden: Brasilianische Sinfonie, 1982, Das Geheimnis der Campos, 1984 und Pionier am Paraná, 1985, alle in Heilbronn erschienen. Marion Fleischer sieht in Freyses Werk "ein seltenes Beispiel der literarisch gestalteten Verschmelzung der brasilianischen und der deutschen Kultur, in dem Assimilation und Integration als natürlicher Vorgang dargestellt wird, der zwar das Traditionsbewußtsein einbezieht, dieses aber nicht zu einer Quelle leidvollen Zwiespalts werden läßt" (Fleischer 1989). Doch ist nicht zu übersehen, daß sowohl Sprache als Darstellungstendenzen von der Trennung vom eigenen Sprachgebiet bestimmt werden, weshalb Kritik an der Sprache noch unmittelbarer Kritik an der Sache impliziert als anderswo. In der eigenen Sprache existierend, kann jeder aus einem ständig sich erneuernden, scheinbar unerschöpflichen Vorrat wählen. Er sichtet, lehnt ab oder er nimmt an, er berichtet oder ahmt nach. Innerhalb einer fremden Sprachgemeinschaft allerdings wird er mit Problemen anderer Art konfrontiert.

'Aus e i n e m Brief, zititert in: Fleischer 1989.

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Er muß auf seinen früheren Wortschatz zurückgreifen, und der ist oft überholt und längst nicht mehr so ergiebig wie vormals. Fremdeinflüsse bleiben nicht aus, und wenn er sich auch bemüht, neue Konstruktionen, Spracheigenheiten und ein Vokabular aufzunehmen, das dem jeweiligen Stand im eigenen Sprachgebiet entspricht, so gelingt es ihm doch nicht, überalterte Sprachzustände zu überwinden. Mit dieser Problematik ist eine weitere, ausschlaggebende Fragestellung der deutschbrasilianischen Dichter angeschnitten, nämlich die nach der eigenen Identität, eng verbunden mit der Stellungnahme zur Erhaltung der deutschen Sprache in Schrift und Wort innerhalb deutschstämmiger Familien, die heute vielerorts lässiger behandelt wird als noch vor wenigen Jahren. Hier sollen einige wenige Werke zur deutschsprachigen Literatur in Brasilien genannt werden, geordnet nach den Ersterscheinungen der jeweiligen Autoren. Doch zuvor müssen zwei Arbeiten zur Sozialgeschichte der Menschen deutschsprachigen Ursprungs erwähnt werden, beide von Karl Heinrich Oberacker Jr., der sich um die Erforschung dieses Themas in Brasilien sehr verdient gemacht hat: Der deutsche Beitrag zum Aufbau der brasilianischen Nation (in deutsch und portugiesisch erhältlich) und Die Deutschen in Brasilien.

Lyrik: Kissner, Joseph. 1946. Südlich der Sterne. Regensburg. —. 1959. Mond über der Stadt. Berlin. —. 1961. Welle und Wolke. Düsseldorf. —. 1977. Die zeitlose Zeit. Darmstadt. Breslau-Hoff, Luise und Carl Fried. 1954. Gedichte. Säo Paulo. Aust, Benno A. 1961. Brasilianisches Tagebuch. Säo Paulo. —. 1979. Die fliehenden Tage der Zeiten. Säo Paulo. Körber, Gustav Friedrich. 1960. Gedichte. Säo Paulo. Hamann, Dora. 1964. Trocano e Atabaque. Säo Paulo. —. 1967. ...und Stille im Kreis. Säo Paulo. Sigrid, Karin. 1968. Keine Blume blüht wie sie. Curitiba. —. 1970. Primavera aeterno. Curitiba. —. 1978. Diese schweigende Stunde. Curitiba. Quast, Erich. 1969. Der Hase im Unterrock. Curitiba. Hunsche, Carlos H. 1977. Neue Gedichte zwischen Herbst und Winter. Porto Alegre. Budweg, Hans. 1981. Der Ruf. Säo Paulo. —. 1983. Hoffnung. Säo Paulo.

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Prosa: Gross-Hering, Gertrud. 1922. Durch Irrtum zur Wahrheit. Blumenau. —. 1938. Ein guter Kern. Rotermund-Kalender. —. 1950. Der Sonnenhof. Säo Paulo. —. 1954. Der Weg der Frau Agnes Bach. Curitiba. Ammon, Wolfgang. 1927. Die ersten Jahre als Kolonist. Curitiba. Sanders, Ricardo. 1949. Sünder im Sonnenland. Rio de Janeiro. Lenard, Alexander. 1963. Die Kuh auf dem Bast. Stuttgart. Schauff, Karin. 1970. Brasilianischer Garten. Pfullingen. —. 1974. Ein Sack voll Ananas. Pfullingen. Wiedemann, Hilde. 1980. Der Weg ist das Ziel. Rio de Janeiro. Freyse, Edith. 1982. Brasilianische Sinfonie. Heilbronn. —. 1984. Das Geheimnis der Campos. Heilbronn. —. 1985. Pionier am Paraná. Heilbronn. Schimmelpfeng Paschen, Gisela. 1983. Zwischen Regenzeit und Dürre. Säo Leopoldo.

Bibliographie Fleischer, Marion. 1989. Die deutsch-brasilianische Literatur. In: Deutschsprachige Literatur im Ausland. Bern: Lang. Fouquet, Carlos. 1974. Der deutsche Einwanderer und seine Nachkommen in Brasilien. Säo Paulo/Porto Alegre: Instituto Hans Staden und Federadlo dos Centros Culturáis "25 de Julho". Oberacker Jr., Karl Heinrich. 1955. Der deutsche Beitrag zum Aufbau der brasilianischen Nation. Säo Paulo. —. 1975. Die Deutschen in Brasilien. Tübingen.

Zur Rezeptionsgeschichte der deutschen Musik in Südamerika am Beispiel des Opernhauses von Buenos Aires (Teatro Colon) Kurt Pahlen

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts fand sich der Reisende auf der Fahrt durch Lateinamerika nicht nur mit den unterschiedlichsten Gegebenheiten in Klima, Lebensgewohnheiten, Wirtschaft, sozialen Verhältnissen konfrontiert; mindestens ebenso scharfen Kontrasten begegnete er auf dem Gebiet der Kultur. Neben - allerdings wenigen - Orten mit ausgeprägtem Kulturleben fanden sich weite Landstriche, in denen der Ruf nach Musik, Theater, bildender Kunst noch niemals ertönt war. Zwischen dem Leben einiger Weltstädte und den unermeßlichen, spärlich von letzten Indios bevölkerten Urwäldern des Amazonas oder den von Schwarzen belebten Hafenorten aller tropischen Breiten bestand kein anderer Zusammenhang als die Zugehörigkeit zum gleichen Kontinent. Die Ära des Rundfunks, Fernsehens und des Massentourismus hat die Gegensätze gemildert und Angleichungen eingeleitet. Auf dem Gebiet der Kultur aber hat sie mindestens ebenso viele neue Probleme geschaffen wie alte gelöst. Die Frage nach der Identität des Erdteils, nach der Zielsetzung seiner Kultur stellt sich heute akzentuierter denn je. Viele meinen, Abbild und Erbe Europas zu werden, Hort des christlichen Abendlandes, sei das anzustrebende Ideal. Andere, vor allem in den stark von Indios geprägten Ländern wie Mexiko, Guatemala, Bolivien, Paraguay und Peru halten den entgegengesetzten Weg für richtig: die vielleicht heute noch mögliche Bewahrung der indianischen Hochkulturen, wie sie vor dem Eindringen der Europäer bestanden. Einen Mittelweg zu finden, der beiden Idealen gerecht werden könnte, darin wird wahrscheinlich die wahre Aufgabe Lateinamerikas im kommenden Jahrtausend bestehen. Der unterschiedliche Weg der Europäisierung soll uns auf den nächsten Seiten beschäftigen. Als die Entwicklungslinie der eingeborenen Kulturen zu Ende des 15. Jahrhunderts brutal unterbrochen wurde, stand den indianischen Reichen eine konzentrierte, weitgehend einheitliche Macht gegenüber: iberische Völker aus Spanien und Portugal, miteinander verwandt, vom Lateinischen abstammende Sprachen sprechend, auf ähnlichem Kulturniveau, zeitweise sogar unter einer - Madrider - Zentralgewalt vereinigt, deren Ziel "Gold, Macht, Christentum" lautete. Diesen Zwecken gehorchten alle Anstrengungen der nächsten drei Jahrhunderte. Erst um 1800 erfolgte eine Öffnung der bis dahin eher abgeriegelten "Neuen Welt". Mit dem schrittweisen Verlust dieser Kolonien begann eine mächtige Einwanderungswelle, die von neuen unabhängigen Regierungen stark

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gefördert wurde. Unter den Einwanderern waren vor allem Bauern willkommen, dann Handwerker. Autarkie und Aufbau waren die wichtigsten Ziele. Die vorliegende Untersuchung richtet sich auf einen geographischen Punkt innerhalb des Subkontinents, den man Südamerika, Lateinamerika oder Indoamerika nennt: auf die Stadt Buenos Aires, Hauptstadt Argentiniens, die, trotz des starken Aufholens von México D.F., Rio de Janeiro, Säo Paulo und Santiago de Chile immer noch als eines der bedeutendsten lateinamerikanischen Kulturzentren gelten muß. Die dort gepflegte Kultur ist allerdings nur bedingt als repräsentativ für den gesamten Erdteil anzusehen: sie ist rein europäisch, durchaus mit jener der großen europäischen Metropolen (und ihren Ablegern in den USA) zu vergleichen. Innerhalb dieser bewußten Einengung nimmt diese Arbeit noch weitere Begrenzungen auf sich. Sie will den Einfluß deutscher Musik im Kulturleben der Stadt Buenos Aires untersuchen und erklären. "Deutsch" darf hier keineswegs in einem nationalistischen Sinne verstanden werden, sondern bezieht sich auf eine in jeder Beziehung heterogene Masse deutschsprachiger Menschen, deren interne Probleme hier auch in ihrer ganzen Schärfe angesprochen werden müssen. Als Brennpunkt wurde das Opernhaus gewählt, das berühmte Teatro Colón, das nicht nur unter Kennern einen weltweiten, legendären Ruf besitzt, sondern als kultureller Mittelpunkt einer Stadt, ja eines ganzen Landes, vielleicht sogar ganz Südamerikas angesehen wird. Es ist also etwas mehr als das bloße Opernspiel in diesem Haus, das wir betrachten wollen. "Musiktheater" im heute üblichen Sinne hat es in Südamerika nach dem Vordringen der Weißen kaum gegeben. Während der Kolonialzeit fanden Theateraufführungen, oft auch mit Musik, in den Palästen der Vizekönige statt. Die Tatsache des frühen Einbaus von Orgeln in die ersten Gotteshäuser der Neuen Welt - die der Kathedrale von México wurde schon 1525 durch den Eroberer Cortés gestiftet - beweist, daß die Kirche auch hier nach ihren alten Grundsätzen verfuhr: Sie setzte Musik als Mittel der Christianisierung ein. Zu den frühesten europäischen Ankömmlingen in Amerika gehörten vor allem Krieger, Verwaltungsbeamte und Priester. Unter den beiden erstgenannten Gruppen finden sich nur Spanier und Portugiesen. In Mönchskutten aber steckten auch gelegentlich Angehörige anderer europäischer Völker, so einige Deutsche. Ihre Sprache war Lateinisch, ihre Musik einheitlich die auf der Iberischen Halbinsel um 1500 gepflegte: der gregorianische, aber auch der polyphone Kirchengesang. Vom eigentlichen Gegenstand unserer Untersuchung befinden wir uns noch weit entfernt. Erst die Aufhebung der Einwanderungsbeschränkungen nach der Erkämpfung der Unabhängigkeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts sollte hier einen Wandel schaffen. Bernardino Rivadavia, der erste Präsident (1826-1827) der "Vereinigten Staaten des Südens", des späteren Argentiniens, öffnete die Tore weit für den Zustrom von Italienern, denen er wohl die rassisch und kulturell besten Chancen für eine schnelle Assimilation zugestand. Buenos Aires, das 1785 etwa 30.000 Einwohner zählte, wuchs nach 1810 schnell auf eine Bevölkerungsanzahl von

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50.000 an. Die stärksten Immigrationswellen brachte die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, als eine lange Periode von Frieden und Wohlstand nach dem Sturz der Diktatur wie ein Fanal auf breite Schichten von arm und unterdrückt lebenden Europäern wirkte. Kurz nach der Jahrhundertwende wurde in Buenos Aires die erste Million gezählt, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts, allen Krisen, Schwierigkeiten, Stagnationen und Umstürzen zum Trotz mehr als verzehnfachen sollte. Es war klar, daß sich unter den frühen Ankömmlingen aus Italien auch Musiker befanden und so können wir den Beginn eines "Musiklebens" ungefähr mit dem großen politischen Umschwung ansetzen. Allerdings hatte bereits der letzte Vizekönig am Río de la Plata der Bevölkerung kulturellen Fortschritt ermöglichen wollen. 1778 erstand die Stadt ihr erstes Theater, offiziell Casa de Comedias (Schauspielhaus) genannt, im Volksmund Teatro de la Ranchería (was sich wahrscheinlich auf die Lage des Theaters in einem Bezirk ärmerer, kleiner Häuser bezog). 1792 erlitt das Haus das Schicksal vieler Bühnen jener Zeit: es brannte ab. Man ging 1802 an den Bau eines Coliseo Grande (Großes Theater), das aber nicht fertiggestellt wurde. Stattdessen wurde ein Coliseo Provisorio bezogen, das zum Schauplatz musikalischer Ereignisse in der aufstrebenden Stadt werden sollte. Hier spielte 1813 erstmals ein - sehr bescheidenes Orchester. Neben längst vergessenen Stücken dürften bereits "klassische" Werke aufgetaucht sein, wie aus etwas späteren Programmen geschlossen werden darf; wahrscheinlich kamen, neben italienischen Barockkomponisten, Händel, Haydn und Mozart zu Gehör.1 Ein italienischer Dirigent konnte 1823 in Buenos Aires eine Nationale Akademie für Musik und Gesang einrichten. Und im Buch eines unbekannten englischen Reisenden lesen wir folgenden Bericht aus den zwanziger Jahren: "Die Musik hat in Buenos Aires beachtenswerte Fortschritte gemacht [...] Zwischen den Akten hört man im Theater sinfonische Musik, nicht anders als in London [...] Bruchstücke aus Rossinis Opern werden hier gerade so bejubelt wie in Europa. Man spricht von einem Plan, bald ganze Opern zu geben, und zwar will man mit Don Giovanni beginnen [...]." Doch dann wurde die erste Oper, die am Río de la Plata (und damit in Lateinamerika) gehört werden konnte, Rossinis Barbier von Sevilla, - mit dem übrigens, zum gleichen Zeitpunkt, das Opernspiel in der nördlichen Hälfte des Erdteils, in New York begann. Ein wahres Opernfieber ergriff Argentiniens Hauptstadt. Im Laufe der nächsten Jahrzehnte wurden hier nicht weniger als fünf Musiktheater eröffnet, von denen fast ständig mindestens drei in Betrieb waren und die einander oft harte Konkurrenz machten. Am 25. Mai (dem

'Es sei hier auf eine weitgehend unbekannte Tatsache verwiesen: erste Orchester im europäischen Sinne existierten bereits Generation früher, im parguayischenHinterland, in den sogenannten "Missionen", die von unter den Indios lebenden Jesuiten errichtet worden waren. Bei der Zerstörung dieser wahrhaft großartigen Siedlungen fand man Notenmaterial mit Werken Händeis und anderer deutscher Musiker.

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Staatsfeiertag Argentiniens) des Jahres 1857 wurde endlich das seinerzeit im Bau unterbrochene Coliseo Grande unter dem Namen Teatro Colon eingeweiht. Über die Bretter ging ein hochmodernes Werk, Verdis vier Jahre zuvor in Venedig uraufgeführte Traviata. 1872 kam das Theater La Opera dazu, später Politeama und San Martin sowie das zeitweise sehr bedeutende Coliseo. Da es noch kaum einheimische Sänger gab, wurden die Opernvorstellungen durchwegs durch zumeist in Italien zusammengestellte - Gasttruppen bestritten, die zudem eigenen Chor und eigenes Orchester mitzubringen hatten. Zieht man die damaligen Reiseverhältnisse in Betracht, so nötigt dem heutigen Betrachter die Organisation damaliger Spielzeiten in einem fernen Kontinent größte Hochachtung ab. Zu den Opernfreunden der rasch wachsenden Stadt gehörten, neben einem Hauptkontingent von Italienern, auch deutsche Familien. Man weiß es aus alten Büchern, in denen die abonados der einzelnen Theater verzeichnet sind: Es wurde in Buenos Aires bald Sitte, daß die "eingesessenen" und begüterten Familien ihre festen Logenplätze abonnierten, manche von ihnen auf Jahrzehnte hinaus, so daß der Opernbesuch sich von Generation zu Generation "vererbte". Reste dieses patriarchalischen Systems sind selbst heute noch im Teatro Colon spürbar. Etwa um die Mitte des 19. Jahrhunderts verstärkte sich die Einwanderung aus Mitteleuropa, und sie diversifizierte sich gleichzeitig: Waren es zuerst vor allem Bauern gewesen, die aus der Enge ihrer europäischen Verhältnisse herausstrebten in die ungeheure Weite der Neuen Welt, so kamen mit dem Erblühen der Hauptstadt vermehrt Kaufleute, Gewerbetreibende oder einfach Unternehmungslustige. Auch Intellektuelle waren unter ihnen - die ersten deutschen Zeitungen wurden gegründet, die sich um einen Zusammenhalt der "Kolonie" ihrer Landsleute bemühten. Sie wurden auch zu Mittlern deutschsprachiger Kultur, indem sie über Theater- und Musikereignisse in Deutschland, Österreich und der Schweiz berichteten. Schließlich kamen Musiker. Abgesehen von reisenden Virtuosen, die hier ein aufgeschlossenes und überaus gastfreundliches Publikum vorfanden, landeten nicht wenige unbekanntere Musiker und fanden einen Wirkungskreis: als Lehrer, als Leiter von Chören und Orchestern. Die frühesten Institutionen dieser Art entstanden zumeist innerhalb der "Landsmannschaften": Spanier, Italiener, Deutsche, Engländer, Araber, Juden, Polen, Russen usw. bildeten eine Vielzahl eigener Vereine, die sich des Lebens "ihrer" Leute annahmen, von der Krankenpflege über den Sport bis zu Theater und Musik. Diese Veinigungen florierten, solange jedes im Hafen anlegende Passagierschiff neuen Zuzug brachte; die starke Assimilationskraft der jungen, vorwärtsdrängenden Länder aber bewirkte, daß zumeist schon die zweite, sicher aber die dritte Generation der Abgrenzung überdrüssig wurde und sich in eine gemeinsame argentinische Lebensweise integrierte. Daß die mitteleuropäischen Kulturvereine trotzdem in einzelnen Fällen auf jahrzehntelangen Bestand und beträchtliche Leistungen hinweisen können, sei rühmend hervorgehoben. Sie wurden in ihrem Bestand erst erschüttert, als mit

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dem Aufstieg des Hitlerregimes eine tiefgreifende, nicht zu überbrückende Spannung im Leben dieser "Kolonie" entstand. Die Pflege "deutschen" Repertoires in der Musik hing aber längst nicht mehr - wenn überhaupt jemals - von dieser Entwicklung allein ab. Mochte armenische Musik nur im Rahmen eines Armeniervereins zu Gehör kommen, griechische nur von Vertretern dieses Landes gefördert werden, so war die Musik der Deutschen und Österreicher stets von der Gesamtheit der Stadtbewohner als allgemeines Kulturgut empfunden worden. Es soll nicht unerwähnt bleiben, daß bereits um die Wende zum 20. Jahrhundert bedeutende argentinische Musiker sich begeistert des "deutschen" Repertoires annahmen. Der bedeutende Musikwissenschaftler Ernesto de la Guardia unternahm es, nicht nur grundlegende Bücher in spanischer Sprache über Beethovens Sinfonien und Klaviersonaten zu veröffentlichen, er brachte auch die erste Übersetzung der meisten Musikdramen Richard Wagners ins Spanische heraus und trug so wesentlich zur Bildung einer Gruppe von "Wagnerianern" in Südamerika bei, denen die überraschend starke Pflege dieses Musikdramatikers im späteren Teatro Colón zu nicht geringem Teil zu verdanken ist. Vorläufig aber, im ausgehenden 19. Jahrhundert, erfolgten die noch seltenen Aufführungen deutscher Opern durchwegs in italienischer Sprache. Man muß es den Sängern dieses Landes sicherlich hoch anrechnen, daß sie so schwierige Werke wie Tristan und Isolde, Lohengrin, Tannhäuser, Teile des Rings des Nibelungen musikalisch zu bewältigen suchten, um sie im eigenen Lande wie auf ihren Tourneen durch Südamerika zu Gehör zu bringen. Schwächer war es um jene Zeit mit der Pflege von Mozarts Werk bestellt. Hier drückt sich die merkwürdig gespaltene Einstellung der italienischen Opernwelt zum Genie von Salzburg aus, das seinen Landsleuten oft als geradezu "italienisch" erscheint. Daß es noch lange dauern sollte, bis Die Entfiihrung aus dem Serail und Die Zauberflöte auch am Río de la Plata "heimisch" werden konnten, mag eher verständlich sein, aber daß Mozarts italienisch komponierte Opern (vor allem Figaros Hochzeit, Don Giovanni und Cosifan tutte) erst weit in unserem Jahrhundert ihren Platz im Repertoire des Teatro Colón eroberten, stimmt nachdenklich. Von diesem "neuen" Teatro Colón soll im folgenden die Rede sein. Die älteren Theater gingen nach und nach ein; nicht aus Mangel an Publikum, sondern weil sie baufällig geworden waren oder in ihren technischen Einrichtungen nicht mehr den Anforderungen moderner Bühnentechniken entsprachen. Da entschloß sich die Stadt Buenos Aires, als das alte Teatro Colón im Jahre 1888 seine Pforten schloß (um in den Besitz der Nationalbank überzugehen), zu einem ihrem Rang und ihrer Weltgeltung angemessenem Neubau. Mit den Plänen wurde der italienische Architekt Victor Meano betraut. Als dieser im Verlauf des Baus starb, sprang der französische, seit langem in Argentinien lebende Julio (Jules) Dormal ein. Es entstand ein klassizistisches Haus, das bis heute, seiner Größe, Schönheit und herrlichen Akkustik wegen, zu den vollendetsten der Welt gehört. Daß hier auch Leistungen vollbracht wurden, die es unter die

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drei oder vier hervorragendsten des internationalen Opernlebens einreihen, ist weit über die Fachkreise hinaus bekannt. Dieses Theater wurde am 25. Mai 1908 eröffnet. Wieder mit einer VerdiOper, Aida. Eine italienische Truppe war zu Gast gekommen, denn immer noch wäre Argentinien nicht imstande gewesen, aus eigener künstlerischer Kraft eine solche Bühne über eine ganze Spielzeit auszufüllen. Bald stand das neue Haus im Mittelpunkt des Musiklebens der Stadt, des Landes und, in gewissem Sinne, ganz Lateinamerikas. Es wurde zum Reiseziel manches Musikliebhabers aus den Provinzen oder anderen Ländern des Subkontinents, wo Opernspiel ein selten gebotener Genuß war. In jenen Jahren war auch das Teatro Colón ein Privatunternehmen, das ein empresario vom Hauseigentümer, der Stadt, pachten mußte. Es gehört zu den heute unbegreiflichen, unglaublich anmutenden Dingen, daß es immer wieder Männer gab, die sich um diese Tätigkeit bewarben und damit sogar viel Geld zu verdienen wußten. Die erste temporada (Spielzeit) brachte den Opernliebhabern ein wahres Fest: Nicht weniger als 17 Werke standen auf dem Repertoire, eine selbst für heutige Spitzentheater unerreichbare Anzahl, zu deren Bewältigung mehr als 50 Sänger nötig waren. Die Aufschlüsselung der Werke nach Ursprungsländern ergibt folgendes Bild. Neben 12 italienischen Werken (Aida, Troubadour, Othello, La Gioconda, Der Barbier von Sevilla, Rigoletto, Tosca, Madame Butterfly, Der Bajazzo, Mefistofele von Boito, Paolo e Francesco von Mancinelli, dem Hauptdirigenten der Spielzeit, Aurora des in Argentinien geborenen Italieners Panizza) standen zwei französische (Hamlet von Thomas und Cendrillon von Massenet) sowie drei deutsche (Mozarts Don Giovanni, Wagners Tristan und Isolde und Siegfried) auf dem Programm. Man kann den geringen Anteil deutscher Werke am Gesamtspielplan bemängeln, aber man sollte auch die Aufnahme der wahrhaft schwierigen Wagner-Dramen bewundern, die an Ausführende wie Publikum ungewöhnliche Anforderungen stellten. War der Anteil der "deutschen" Bevölkerung am Publikum des Theaters größer als diese ungefähr 20 Prozent "deutscher" Werke? Wichtiger aber: Ist der Anteil "deutscher" Opern am Weltrepertoire des Jahres 1908 höher? Beide Fragen haben nur theoretische Bedeutung. Niemand maß im damaligen Musikleben Argentiniens Spielpläne nach "nationalen" Gesichtspunkten. Besonders nicht im damaligen Opernbetrieb, der noch einige Zeit hindurch für alle Werke die italienische Sprache vorsehen sollte. Zu den Besuchern der frühen temporadas im Teatro Colón zählte bereits eine nicht zu übersehende Gruppe "Deutscher". Sie war den Besuch ihrer Stadttheater in Mitteleuropa gewohnt gewesen und erlebte nun in Buenos Aires eine gewaltige Ausdehnung des dort gebotenen Repertoires. In diesem waren, statt Lortzing, Nicolai, Goetz, Marschner usw., zahlreiche italienische Autoren vertreten, ferner Werke aus anderen Ländern, die auf mittleren oder kleinen Bühnen selten oder gar nicht zu hören waren. Die "deutschen" Werke eroberten, durch ihre rein künstlerischen Qualitäten und unbeschadet ihrer "nationalen"

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Eigenschaften, sehr bald einen weit überdurchschnittlichen Rang im Spielplan. Zu den Mitgliedern des Musikvereins Asociación Wagneriana gehörten bald, trotz einer vornehmlich deutsch beeinflußten Gründungsphase, mehr Argentinier (jeglicher Herkunft, nach der hier niemand fragte) als Deutsche. Gerade die deutschen Werke erfuhren in dieser ersten Spielzeit eine starke Anziehungskraft. Tristan und Isolde stand mit sechs Aufführungen - gemeinsam mit Hamlet und Mefistofele - an der Spitze. Siegfried, von der Presse als wichtigste Neuheit gefeiert, erzielte vier Aufführungen. Die Presse - wir sprechen von den großen argentinischen Blättern, nicht von den Zeitungen der Landsmannschaften - zeigte sich übrigens enttäuscht von den (drei) Aufführungen des Don Giovanni. Sie bemängelten den "fehlenden Mozartstil" der Sänger. Diese Aussage überrascht aus zwei Gründen: einmal, weil sie das Vorhandensein einer Fachkritik bedeutet, und zweitens, weil diese eine feste Meinung zum - heute noch heftig umstrittenen - Thema eines Mozartstils gehabt zu haben scheint. Die erste Spielzeit im neuen Teatro Colón dauerte vom 25. Mai bis 11. September 1908, also dreieinhalb Monate; es gab insgesamt 76 Aufführungen. Es sei dem Leser in Erinnerung gerufen, daß auf der südlichen Hemisphäre also auch in Buenos Aires - die Jahreszeiten genau umgekehrt zu den europäischen liegen. Der 25. Mai ist ein Tag des zuendegehenden Herbstes und der 11. September liegt zehn Tage vor dem Beginn des Frühlings. Der Vorteil dieses Unterschiedes für europäische Künstler liegt auf der Hand: Sie können ihre Spielzeit an den "Stammhäusern" nahezu termingerecht beenden und hernach die dreimonatigen Theaterferien zur Reise nach Buenos Aires ausnützen, um zum Saisonbeginn wieder "daheim" zu sein. Im Laufe der folgenden Jahre sollte die Spielzeit des Teatro Colón immer weiter ausgedehnt werden. Die Premiere wurde in den April zurückverlegt, die letzten Vorstellungen konnten im November stattfinden, also schon im vorgerückten Frühling. Und es sollte (in den dreißiger Jahren) zu Organisation von Sommerspielzeiten kommen, entweder auf Freiluftbühnen in einer der schönen Parkanlagen der Stadt oder in den kühlen Räumen der inzwischen errichteten zweiten städtischen Bühne, des Teatro General San Martin. Neunzehn Werke standen sogar in der folgenden Spielzeit (1909) auf dem Spielplan des Opernhauses. Ein Blick auf das Ensemble zeigt, daß hier keine Kosten gescheut wurden, um viele der bekanntesten Sänger der Welt zu vereinigen: Fjodor Schaljapin, Titta Ruffo, Adam Didur, Guiseppe de Luca, Amelia Galli-Curci, Rosina Storchio, im Tenorfach Alessandro Bonci, eine der schönsten Stimmen seiner Zeit und ein Rivale Carusos, der bald selbst im Teatro Colón erscheinen sollte. Die deutsche Oper war in dieser zweiten Saison wieder gut vertreten: es erklangen Lohengrin (sechsmal), Die Meistersinger von Nürnberg (fünfmal) und Tannhäuser (viermal), jedoch keine Mozartoper. Andere deutsche Komponisten waren um jene Zeit in Lateinamerika noch unbekannt.

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Unterbrechen wir die Chronologie für einen Augenblick und notieren wir wichtige Erstaufführungsdaten deutscher Werke im Teatro Colon: 1910: 1912: 1913: 1914: 1915: 1922: 1923: 1925: 1926: 1927: 1928: 1931: 1934: 1935: 1937: 1938: 1939: 1941: 1942: 1943: 1948: 1949: 1952: 1959: 1961: 1965: 1967: 1968: 1969: 1970: 1971: 1973: 1980: 1981: 1987:

Wagner: Die Walküre und Rheingold Wagner: Götterdämmerung, Humperdinck: Königskinder Weber: Oberon, Richard Strauss: Salome und Feuersnot Wagner: Parsifal, Mozart: Don Giovanni Richard Strauss: Der Rosenkavalier Weingartner: Die Dorfschule Richard Strauss: Elektro Flotow: Martha Weber: Der Freischütz Beethoven: Fidelio, Humperdinck: Hansel und Gretel Mozart: Figaros Hochzeit Johann Strauß: Die Fledermaus Wagner: Der fliegende Holländer, Richard Strauss: Arabella Gluck: Alceste Gluck: Iphigenie auf Tauris Mozart: Die Entführung aus dem Serail Johann Strauß: Der Zigeunerbaron, Gluck: Orpheus und Eurydike Mozart: Die Zauberflöte Richard Strauss: Ariadne auf Naxos Gluck: Armida Richard Strauss: Daphne, Mozart: Cosifan tutte Richard Strauss: Die Frau ohne Schatten Berg: Wozzeck Schönberg: Erwartung Richard Strauss: Die schweigsame Frau Berg: Lulu Orff: Die Kluge, Hindemith: Hin und zurück Mozart: La finta giardiniera, Händel: Julius Caesar Mozart: La clemenza di Tito Schönberg: Moses und Aaron Händel: Xerxes Weber: Abu Hassan Johann Strauß: Eine Nacht in Venedig Mozart: Idomeneo Weill: Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny

(Nicht berücksichtigt werden in dieser Aufstellung die Werke des Deutsch-Italieners Ermanno Wolf Ferrari sowie Operetten, die ausschließlich während der Sommerspielzeit gegeben wurden.)

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Die Spielzeiten des Teatro Colón ähnelten einander während vieler Jahre. Mit der Inszenierung des Rheingolds tat die temporada des Jahres 1910 einen weiteren Schritt zu Vervollständigung von Wagners Nibelungenring, der begreiflicherweise einen Wunschtraum vieler Musikliebhaber bildete: Es fehlte nur noch Götterdämmerung, die zwei Jahr später folgen sollte. Diese Aufführung von Wagner-Werken interessierte aber nicht nur die aus dem mitteleuropäischen Raum stammenden Immigranten. Auch die einheimischen und anderssprachigen Musikliebhaber wollten diese Opern kennenlernen, die seit Jahrzehnten die Musikwelt in Aufruhr brachten. Doch konnten sie am Río de la Plata immer nur italienische Versionen davon hören, was einerseits den Genuß der Deutschsprachigen einschränkte, andererseits aber den Hörerkreis vergrößerte. Der bis dahin ungeteilten Spielzeit wurde nun eine temporada de primavera, eine Frühlingssaison angefügt, bei der in steigendem Maße einheimische Kräfte auftraten. In diesen im allgemeinen sechs bis acht Wochen dauernden Perioden gab es oftmals auch Oratorienaufführungen - bei denen das deutsche Repertoire (Mozarts Requiem, Haydns Jahreszeiten und Schöpfung, Brahms Deutsches Requiem) oft im Mittelpunkt stand - sowie Konzertreihen. Inzwischen war das Haus-Orchester des Teatro Colón zum wichtigsten sinfonischen Klangkörper Argentiniens, ja ganz Lateinamerikas geworden. An Chören stand nicht nur der hauseigene zur Verfügung, sondern die anderen Konzertvereinigungen, in denen die verschiedensten Nationen einträchtig zusammenwirkten. Die sich steigernder Beliebtheit erfreuenden, sinfonischen Programme wurden zum Teil von einheimischen Dirigenten geleitet, doch für die Frühlingskonzerte des Teatro Colón holte man europäische, später auch amerikanische Dirigenten von Rang und Namen, die durchwegs das "deutsche Repertoire" (Bach, Händel, Mozart, Haydn, Beethoven, Schubert, Schumann, Mendelssohn, Liszt, Brahms, später auch Bruckner, Mahler, Richard Strauss usw.) aufführten. Die Frühlingsspielzeit galt stets als volkstümlich, die Eintrittspreise betrugen nur einen Bruchteil von jenen, die aus der gran temporada ein gesellschaftliches Ereignis machten; aber sie bot gute Vorstellungen und Konzerte, trug also wesentlich zur Volksbildung bei. Sie gab zudem reisenden Virtuosen die Gelegenheit, zu einer Zeit nach Buenos Aires zu kommen, in der das Hauptinteresse der Musikliebhaber nicht nahezu Abend für Abend von großen Opernvorstellungen absobiert wurde. Bald kam es zu den im Laufe der folgenden Jahrzehnte oft aufgeführten Zyklen, an denen sich später auch einheimische Künstler beteiligten: "Sämtliche Sinfonien Beethovens", "Sämtliche Streichquartette Beethovens", "Das gesamte Klavierwerk Beethovens", "Das romantische Lied" (Schubert, Schumann, Mendelssohn, Liszt, Brahms, Hugo Wolf u.a.). Pietro Mascagni, seinerzeit einer der berühmtesten Komponisten, kam 1912 zu Besuch und dirigierte, nach seinen umjubelten eigenen Opern, auch zwei Sinfoniekonzerte, deren Höhepunkt Beethovens Fünfte Sinfonie bildete. Das Jahr 1914 brachte eine Sensation: Wagners Parsifal erklang zum ersten Mal in Süd-

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amerika. Wagner hatte dieses - sein letztes - Werk dem eigenen Hause vorbehalten, "für alle Zeiten", wie sein Wunsch an König Ludwig II. von Bayern lautete. Aber auch ein König konnte nicht verhindern, daß ein Werk nach Ablauf der gesetzlichen Schutzfrist der Allgemeinheit gehörte: Die Schutzfrist betrug damals nach internationaler Konvention 30 Jahre nach dem Tode des Autors (heute schwankt sie in verschiedenen Ländern zwischen 50 und 70 Jahren). Parsifal mußte also im Jahre 1913 freigegeben werden. Vergeblich wandte sich damals die New Yorker Metropolitan Opera an alle größeren Theater der Welt - die kleineren konnten dies überaus schwierige Werk ohnedies nicht aufführen - um sie zum Verzicht auf Parsifal zu bewegen. Alle witterten eine Sensation und ein Geschäft. So begann gleich nach Ablauf der Schutzfrist ein Wettrennen unter den namhaften Opernhäusern. Die Weltpresse war monatelang gefüllt mit Nachrichten über die verschiedenen Aufführungen. Auch das Teatro Colón wollte das wichtige Werk so schnell wie möglich auffuhren, doch wegen der zeitlich anders gelagerten Spielzeit in diesem Haus war der Saisonbeginn des Jahres 1914 das frühestmögliche Datum. Und so brachten die italienischen Künstler, die für diese temporada engagiert waren, mit dem ersten Heben des Vorhangs Parsifal zu Gehör, unter einem kaum zuvor verzeichneten Ansturm des Publikums. Das Werk steht - mit Aida - an der Spitze der Werke im Spielplan jenes Jahres: Parsifal wurde nicht weniger als achtmal aufgeführt. Das bedeutete eine Gesamtzahl von ungefähr 30.000 Hörern ... Auch bei anderen Gelegenheiten ließ das Theater es sich angelegen sein, aktuell zu bleiben. Nur vier Jahre nach der Uraufführung in Dresden brachte es Richard Strauss' Rosenkavalier, natürlich italienisch gesungen. Als Caballero de la rosa (im spanisch angekündigten Titel) blieb er, inzwischen längst zu seiner deutschen Muttersprache zurückgekehrt, eine der meistgespielten Lieblingsopern des Publikums von Buenos Aires. Der Erste Weltkrieg (1914-1918) ging an Argentinien nahezu unbemerkt vorüber. Man war - ähnlich sollte es sogar noch im Zweiten sein - im wahrsten Sinne des Wortes - "weit vom Schuß". Eine glänzende Wirtschaftslage unterstützte das kulturelle Leben des Landes beträchtlich. Zwar kam es gegen Ende des Krieges zu Boykott-Aufrufen gegenüber "feindlichen" Theater- und Musikstücken, aber die Wirkung blieb gering. Schwieriger wurde nur das Engagement europäischer Künstler, die als Folge des U-Boot-Krieges vor einer langen Seereise zurückschreckten. Sie wurden teilweise durch Sänger aus den USA ersetzt, und seit damals ist die engere kulturelle Zusammenarbeit der beiden Hälften des Kontinents nicht mehr abgerissen. 1919 stand keine deutsche Oper auf dem Spielplan. Doch die Wagnergesellschafl (Asociación Wagneriana) organisierte ein Konzert mit Auszügen aus Musikdramen dieses Meisters, der einheimische Dirigent Ernesto Drangosch dirigierte Beethovens Neunte mit dem Schlußchor in deutscher Sprache: Der Jubel war gewaltig, aber keineswegs demonstrativ. Argentiniens Bevölkerung - selbst eine kulturelle Mischung kennt im Grunde keinen rassischen oder nationalen Chauvinismus. Die

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Akzeptanz deutscher Werke - oder deren Ablehnung - beruht auf rein künstlerischen Gründen, die kaum etwas mit politischer Sympathie oder Antipathie zu tun haben. Die furchtbaren Zerwürfnisse, die Europa in den folgenden Jahren erschütterten, gelangten nur gedämpft an den Río de la Plata. Doch vorher stand der Stadt Buenos Aires ein Ereignis bevor, das ihr Verhältnis zur deutschen Musik entscheidend beeinflussen sollte. Als Vorläufer darf das Gastspiel Arthur Nikischs im Jahre 1921 betrachtet werden. Der berühmte deutsche Dirigent leitete, trotz der schon sichtbar gewordenen tödlichen Erkrankung, eine Reihe großartiger Konzerte, die große Begeisterung auslösten und in deren Mittelpunkt Werke von Beethoven, Weber, Schubert, Liszt, Brahms und Richard Strauss standen. Im Jahre 1922 reiste zum ersten Mal ein deutsches Ensemble nach Südamerika. Der auf dem Gipfel seiner langen Laufbahn stehende Dirigent Felix von Weingartner stand an seiner Spitze, die Wiener Philharmoniker, damals das namhafteste Orchester der Welt, begleiteten ihn und garantierten den zumeist der Wiener Staatsoper angehörigen Sängern die Möglichkeit, ihre volle Leistungsfähigkeit in dem weit enfernten Lande zu erreichen. Es kam zum ersten deutsch gesungenen Ring des Nibelungen, der nicht weniger als sechsmal aufgeführt werden mußte - insgesamt also in 24 Vorstellungen! Ferner wurden noch Parsifal und Richard Strauss' Rosenkavalier aufgeführt. An gesonderten, vom Publikum bestürmten "Galaabenden", wurden viele der bekanntesten Stücke aus Wagners Werken bejubelt. Winterstürme wichen dem Wonnemond, Wotans Abschied, Feuerzauber, Brünhildes Erwachen, der Walkürenritt und viele andere riefen Begeisterungsstürme hervor, die man bis dahin dem Einzugsmarsch aus Aida, dem Trinklied aus Traviata, der Stretta aus dem Troubadour vorbehalten hatte. Noch war das Echo des Wiener Besuchs nicht verhallt - der mit Lotte Lehmann, Helene Eildbrunn, Emil Schipper, Rudolf Bandler, Walter Kirchhoff und vielen anderen eine Reihe großer Sänger des deutschen Sprachraums in Südamerika bekannt gemacht hatte - , da kam in der folgenden Spielzeit (1923) der größte, damals lebende deutsche Komponist zu Gast: Richard Strauss. Er erschien übrigens nicht zum ersten Male in Argentinien: Bei einem früheren Besuch hatte er Konzerte mit eigenen sinfonischen Werken dirigiert. Jetzt aber galt seine Anwesenheit dem Teatro Colón. Er saß bei der schon seit zehn Jahren dort gespielten Salome am Pult und leitete die mit Spannung erwartete Erstaufführung seiner Elektra. Es wurde ein reiches Jahr für die deutsche Musik. Strauss bot in mehreren Konzerten eigene sinfonische Dichtungen, die Siebente Sinfonie von Beethoven, die vierte von Brahms und die erste von Gustav Mahler, dazu Stücke von Max von Schillings, Franz Schmidt und Erich Korngold. Sein Mitdirektor an der Wiener Staatsoper, der ausgezeichnete Dirigent Franz Schalk leitete mehrere Wagner-Opern: je fünfmal Lohengrin, Die Walküre und Tristan und Isolde. Wenn auch die deutsche Sprache nun Einzug in Argentiniens Opernhaus gehalten hatte, so waren damit doch keineswegs die italienischen Wagner-

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Aufführungen ausgemerzt. Immer wieder griff man auf sie zurück, wenn die Mitwirkung von deutschen Sängern unmöglich war. Das Publikum strömte stets in Massen zu diesen Abenden und machte kaum einen Unterschied der Sprache wegen. Stark war das Aufgebot deutschsprachiger Künstler in der Saison 1926: Alexander Kipnis, Friedrich Schorr, Meta Seinemeyer, Karin Branzell waren einige der großen Namen. Sie standen unter der Stabführung von Fritz Reiner, einem gebürtigen Ungarn, der in den USA zu den führenden Dirigenten aufgestiegen war. Carl Maria von Webers 100. Todestag wurde mit der zweimaligen Aufführung seines Freischütz begangen. Dieses Werk bietet Anlaß zu einem kurzen sprachlichen Exkurs. Die deutschen Werke werden in den Programmen Lateinamerikas (und Spaniens) mit ihren ins Spanische übersetzten Titeln angekündigt. Mozarts Figaro wird zu Las bodas de Figaro, die Zauberflöte zur Flauta mágica, Wagners Fliegender Holländer seltener in wörtlicher Übersetzung zum Hollandes errante als zum Buque fantasma, dem Gespensterschiff, wie Wagner sein Werk ursprünglich betitelt hatte. Das Rheingold heißt El oro del Rhin-, die Walküre wird zur Walkiria, über deren Orthographie die spanischen Puristen uneins sind, so daß man auch die Schreibweise La valquiria findet; Götterdämmerung kann mit Crepúsculo de los dioses oder Ocaso de los dioses übersetzt werden. Die Meistersinger von Nürnberg heißen Los maestros cantores de Nuremberg. Richard Strauss* Caballero de la rosa wurde schon erwähnt, Ariadne auf Naxos heißt Ariadna en Naxos, Die Frau ohne Schatten La mujer sin sombra. Seine meistgespielten sinfonischen Gedichte heißen Las alegras travesuras de Till Eulenspiegel (Till Eulenspiegels lustige Streiche), Muerte y transfiguración (Tod und Verklärung), Don Juan (nicht italiensch Don Giovanni wie Mozarts Oper) usw. 1927 tauchte zum ersten Mal der Name des Dirigenten Erich Kleiber in Buenos Aires auf. Er dirigierte zuerst Konzerte mit Brahms' Deutschem Requiem, Werke von Haydn, Mozart, Beethovens Neunte Sinfonie, Schubert, Mendelssohn, Wagner, Nicolai, Johann Strauß (dem er in diesen Breiten gewissermaßen das Siegel der "Klassizität" aufprägen mußte), Schreker, Mahler. 1927 - das Gedenkjahr von Beethovens 100. Todestag - brachte im Teatro Colón das Zusammenwirken des deutschen Pianisten Wilhelm Backhaus mit Kleiber in des Meisters Fünftem Klavierkonzert. 1931 kam, nach einigen Jahren Pause, wieder ein deutsches Ensemble von Spitzensängern zu Gast. Ihm gehören vor allem Frida Leider und Lauritz Melchior an, das ideale Wagnerpaar einer Generation - und der Historie. Otto Klemperer dirigierte. Doch schon ein Jahr später wurde auch hier die weltweite Wirtschaftskrise spürbar, die bisher reichlichen Mittel des Teatro Colón flössen spärlicher. Und dazu gesellte sich die schwerste politische Krise, die weite Teile Europas für lange Zeit erleben sollten. Italien war vorangegangen: Schon in den zwanziger Jahren war dort die faschistische Bewegung unter Benito Mussolini an die Macht gekommen.

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Zahlreiche politische Gegner emigrierten nach Südamerika, was die italienischen Institutionen des Landes spaltete. Im Teatro Colón zeigten sich zunächst noch keine Folgeerscheinungen. Schärfer polarisierte sich die Lage erst durch den Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland. Von 1933 an begann die Einwanderung von Flüchtlingen aus diesem Lande zuzunehmen. Hitlergegner, Antifaschisten, Juden, Linksradikale ergriffen scharenweise die Flucht, die bald als letzte Chance der Rettung vor Konzentrationslager und Tod erkannt wurde. Die scharfen Restriktionen, mit denen viele Länder auf diese Massenbewegung reagierten, wurden in den folgenden Jahren auch von Argentinien ergriffen. Neben Landarbeitern, deren Einwanderung nach wie vor willkommen war, zeigte das Land sich auch Geistesarbeitern, Musikern, Künstlern im allgemeinen liberal aufgeschlossen. Nun fanden sich im Auswandererstrom aus der "Alten Welt" nicht mehr vorwiegend Durchschnittsbürger, Zivilsationsmüde, Abenteurer; es gehörten ihm namhafte, zum Teil berühmte, hervorragende Kulturträger an. Von den Flüchtlingen Italiens hatte Argentinien nicht nur in der Person Arturo Toscaninis viel gewonnen, der häufig und intensiv zu Gast kam; es nahm zahlreiche Instrumentalisten auf, die das Cotó/i-Orchester verstärkten und zur Bildung einiger anderer, neuer beitrugen. In dem Jahrzehnt zwischen Hitlers Machtergreifung und dem Höhepunkt (und Wendepunkt) seines Krieges, fanden Dutzende von Dirigenten, Sängern, Musikern, Musikwissenschaftlern aus deutschen, später auch aus österreichischen Theatern und Tätigkeitsgebieten den oft schmerzlichen Weg nach Lateinamerika, das ihnen Asyl bot. Von Deutschlands führenden Musikern seien hier nur zwei genannt, deren Präsenz sich im Musikleben von Buenos Aires als äußerst wirksam und fördernd erweisen sollte: Erich Kleiber und Fritz Busch. Sie wurden aus politischen Gründen aus Berlin bzw. Dresden vertrieben. Buenos Aires machte sich ihre längere Anwesenheit zunutze. Sie dirigierten nicht nur im Opernhaus und in zahlreichen Konzerten, sie brachten nicht nur neue Werke aus dem bisherigen Wirkungsbereich, den ihnen die Heimat entzogen hatte, sie setzten sich auch mit höchster Sachkenntnis für den Aufbau eines eigenen Ensembles ein. Beide waren universell gebildete Musiker, aber sie wurzelten selbstverständlich in der deutschen Tradition; und das bedeutete, daß sie ihren jungen Schützlingen im Land, vor allem durch den Aufbau eines dem Teatro Colón angegliederten Opernstudios, die Welt Mozarts, Glucks, Webers, Wagners und Richard Strauss' ebenso erschlossen wie die Verdis und Puccinis, Bizets und Massenets, Smetanas und Mussorgskis. Dabei fanden sie entscheidende Hilfe bei einem bereits im Lande ansässigen, ebenfalls aus der mitteleuropäischen Opernwelt gekommenen Korrepetitor, Studienleiter und Kapellmeister, Roberto Kinsky, dessen jahrzehntelange Tätigkeit aus dem Teatro Colón in seiner Aufbauphase nicht wegzudenken ist. Viele andere können hier nicht namentlich aufgeführt werden, aber in den dreißiger Jahren fand sich am Río de la Plata eine bedeutende Kolonie mitteleuropäischer Künstler zusammen. Von weiteren Prominenten seien erwähnt: die Regisseure Dr. Georg Pauly, Otto Erhardt, Margarita Wallmann (die bedeutende Choreographin und Regisseurin der Wiener Oper), Dr. Josef Gielen (der spätere Direktor des

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Wiener Burgtheaters), Lothar Wallerstein, Carl Ebert, Otto Erhard, H. GeigerTorel. Als mit dem Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges im Jahre 1936 eine dritte - und die zahlenmäßig stärkste - Immigrationswelle über Südamerika hereinbrach, erhielt das Kulturleben Argentiniens eine weitere wichtige Anregung. Es war wahrscheinlich das Theater, das die größte Zahl von Zuzüglern erhielt, was durch die gleiche Sprache noch erleichtert wurde. Aber auch im Musikleben gab es Neuankömmlinge, deren prominentester 1939 Manuel de Falla wurde. Argentinien hat einer beträchtlichen Zahl von Künstlern und Intellektuellen während der dreißiger Jahre die Freiheit und oft das Leben gerettet. Aber es wäre ungerecht, nicht anzuerkennen, daß umgekehrt auch die Einwanderer einen äußerst wertvollen Beitrag zur Entwicklung des geistigen und künstlerischen Lebens leisteten. Das war in Argentinien ebenso der Fall wie in anderen Republiken des Erdteils, wo die Impulse zum Teil noch stärker fühlbar wurden, da die Ausgangslage keineswegs so günstig war wie in Argentinien. Mit der starken Einwanderung kam es in den Zielländern zu Spannungen und bald zum unvermeidlich gewordenen Bruch zwischen jenen Mitgliedern der "Kolonien", die - zumeist in Unkenntnis der wahren Lage in ihren Ursprungsländern und durch die laute Propaganda von deren Regierungen - die neuen Regimes aus "patriotischen" Gründen unterstützten, und den täglich anwachsenden Gruppen der exilierten Gegner. Die Trennung wurde bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges (1939) noch verschärft und reichte in vielen Fällen tief in das Leben der betroffenen Landsmannschaften. Trotzdem kam es auf künstlerischem Gebiet zu keiner völligen Spaltung. Besonders das Teatro Colón blieb, was es sein sollte: eine argentinische Institution zur Pflege der Kunst, aus der private Animositäten ausgeschlossen blieben. Noch während mehrerer Jahre wirkten aus Deutschland verpflichtete Sänger mit Dirigenten, Regisseuren und Kollegen zusammen, die aus dem gleichen Land vertrieben worden waren; Mozart, Beethoven, Weber, Wagner einten sie wenigstens während der Stunden der Zusammenarbeit. Als der Weltkrieg sich zu einem immer blutigeren Geschehen entwickelte und im nationalsozialistischen Deutschland Mord und Holocaust sich zu entsetzlichen Höhepunkten steigerten, wurde die Mitwirkung deutscher Künstler in den alljährlichen Spielzeiten des Teatro Colón ohnedies durch die Macht der Umstände unmöglich gemacht. Viele an deutschen Bühnen tätige Künstler wären nur gar zu gerne der Hölle entronnen, aber es gab keine Reisemöglichkeiten mehr. Wer, wie der Verfasser dieser Zeilen, jene tragischen Jahre in Argentinien verbracht und verantwortliche Positionen im Musikleben auf beiden Ufern des Río de la Plata eingenommen hat, wird sich vor allem anderen zu einer wichtigen Feststellung bereit finden: in keinem Augenblick führte eine antifaschistische, antinationalsozialistische, Anti-Franco-Gesinnung zur Ablehnung, zum Boykott oder zur Feindschaft gegen italienische, deutsche, spanische Kultur. Aufrufe, wie sie im Ersten Weltkrieg an Parteigänger der Alliierten gerichtet wurden, Kompositionen aus den "Feindländern" zu unterdrücken, und

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umgekehrt die Versuche deutscher Stellen, französische, englische, russische Musik von allen Programmen zu entfernen, solche Absurditäten wiederholten sich im Zweiten Weltkrieg nicht. Die Musik Deutschlands und Österreichs hatte sich längst einen festen Platz im Herzen der Südamerikaner erobert; es war undenkbar, sie daraus je wieder entfernen zu wollen. Argentinien blieb ein - auch innerlich - neutrales Land. Als es gegen Ende der Kämpfe doch noch auf Druck der USA den Achsenmächten den Krieg erklärte, hatte dies keinerlei Folgen im friedlichen Zusammenleben der Angehörigen von Dutzenden von Völkern. Und schon gar nicht in der Gestaltung der Pläne des Teatro Colón und in den musikalischen Programmen an mittlerweile zahlreichen Kunststädten der Stadt und des Landes. Um die weitere Entwicklung der deutschen Oper im Teatro Colón nachzuzeichnen, greifen wir zur Methode einer sachlichen Auflistung2 der Ereignisse. Das Teatro Colón stellt bis zum heutigen Tag die bedeutendste Einrichtung des lateinamerikanischen Musiklebens dar. Zwar besitzt Buenos Aires heute eine Vielfalt bedeutender musikalischer Institutionen, namhafte Musikverlage, Kunstund Musikzeitschriften, musikalische Lehranstalten usw.. Doch rechtfertigt das außerordentliche künstlerische Niveau des Teatro Colón auch heute noch, es zum Gradmesser des künstlerischen Fortschritts in Lateinamerika zu machen und an seinen Spielplänen die Rezeption deutscher Musik zu dokumentieren. Seit den sechziger Jahren befindet sich Argentinien allerdings in schwerster politischer wie wirtschaftlicher Krise. Das einst blühende, reiche, sorglose Land ist nicht wiederzuerkennen. Seine Musikliebe hat darunter nicht gelitten, der enorme Zustrom zu allen seinen Formen läßt sogar darauf schließen, daß eine breite Schicht sich gerade in der Musik jene letzte Zuflucht aufrecht erhält, die imstande sein könnte, es vor dem äußersten Kollaps, dem psychischen, zu retten.

Spielzeit

Deutsche Werke im Repertoire des Teatro Colon

Anmerkungen

1935

Alceste (Gluck), Don Giovanni (Mozart), der komplette Ring des Nibelungen, Tannhciuser (Wagner)

Der Ring: Dirigent Fritz Busch, Regie Carl Ebert

1936

Alceste (Gluck), Die Hochzeit des Figaro (Mozart), Fritz Busch, Lohengrin (Wagner), Fledermaus (J. Strauß), Parsi- Carl Ebert fal, Der fliegende Holländer (Wagner), Rosenkavalier (R. Strauss)

2

In der Kolumne Anmerkungen Dirigenten und Regisseure.

sind vor allem die "Leiter" der Spielzeit aufgeführt:

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1937

Hansel und Gretel (Humperdinck), Fidelio (Beethoven), Iphigenie auf Tauris (Gluck), Tannhäuser, Meistersinger (Wagner)

Erich Kleiber, Lothar Wallerstein, Josef Gielen

1938

Entführung (Mozart), Rosenkavalier (R. Strauss), Tristan, Siegfried (Wagner)

Erich Kleiber, Joseph Gielen

1939

Elektro, Rosenkavalier (R. Strauss), Der Zigeunerbaron (J. Strauß), Orpheus und Eurydike (Gluck)

Erich Kleiber, Joseph Gielen

1940

Alceste (Gluck), Salome (R. Strauss), Walküre, Fliegender Holländer, Parsifal (Wagner), Hansel und Gretel (Humperdinck), Zigeunerbaron (J. Strauß)

Erich Kleiber, Joseph Gielen

1941

Figaro, Zauberflöte (Mozart), Lohengrin, Meistersinger (Wagner), Iphigenie auf Tauris (Gluck), Fledermaus (J. Strauß), Hansel und Gretel (Humperdinck)

Erich Kleiber Otto Erhard, Joseph Gielen

1942

Zauberflöte (Mozart), Tannhäuser, Lohengrin, Parsifal (Wagner), Ariadne, Zigeunerbaron (R. Strauss)

Fritz Busch, Joseph Gielen, Otto Erhardt

1943

Armida (Gluck), Figaro (Mozart), Fidelio (Beethoven), Tristan, Götterdämmerung (Wagner), Elektro (R. Strauss), Hansel und Gretel (Humperdinck), Fledermaus, Zigeunerbaron (J. Strauß)

Fritz Busch, Joseph Gielen

1944

Feuersnot (R. Strauss), Fledermaus (J. Strauß)

Fritz Busch, Joseph Gielen

1945

Armida (Gluck), Oberon (Weber), Hansel und Gretel (Humperdinck), Fledermaus (J. Strauß)

Durchwegs italienisch und spanisch gesungen.

1946

Iphigenie auf Tauris (Gluck), Meistersinger, Parsifal (Wagner), Fledermaus, Zigeunerbaron (J. Strauß)

Erich Kleiber, Otto Erhardt

1947

Der komplete Ring des Nibelungen (Wagner), Rosenkavalier (R. Strauss), Hansel und Gretel (Humperdinck), Boccaccio (Suppe), Fledermaus (J. Strauß)

Fritz Busch, Otto Erhardt, Joseph Gielen

178

1948

Figaro, Cosi fan tutte (Mozart), Armida (Gluck), Tristan, Götterdämmerung (Wagner), Freischätz (Weber), Daphne (R. Strauss), Boccaccio (Suppe), Zigeunerbaron (J. Strauß)

1949

Don Giovanni, Zauberflöte (Mozart), Meistersinger Erich Kleiber, (Wagner), Frau ohne Schatten (R. Strauss) Otto Eiiiardt, Joseph Gielen

1950

Zauberflöte (Mozart), Fidelio (Beethoven), Walküre Karl Böhm, Otto Erhardt (Wagner), Fledermaus (J. Strauß)

1951

Orpheus und Eurydike (Gluck), Entfuhrung (Mozart), Lohengrin (Wagner), Elektro (R. Strauss)

1952

Armida (Gluck), Cosi fan tutte (Mozart), Holländer Karl Böhm, (Wagner), Salome (R. Strauss), Wozzeck (A. Berg) Otto Erhardt, D. Yannopoulos

1953

Orpheus und Eurydike (Gluck), Fidelio (Beethoven), Rosenkavalier (R. Strauss), Wozzeck (A. Berg)

Karl Böhm, Otto Eihardt

1954

Alceste (Gluck), Meistersinger (Wagner), Ariadne auf Naxos (R. Strauss), Don Giovanni (Mozart), Hansel und Gretel (Humperdinck)

Karl Eimendorff, Otto Eihardt,

1955

Tristan, Parsifal (Wagner)

Fritz Rieger, Otto Erhard

1956

Figaro, Don Giovanni (Mozart), Rosenkavalier (R. Strauss), Hansel und Gretel (Humperdinck)

Ferdinand Leitner, Joseph Gielen

1957

Figaro (Mozart)

1958

Zaubeiflöte (Mozart), Fidelio (Beethoven), Meistersinger (Wagner), Wozzeck (Berg), Fledermaus (J. Strauß)

1959

Erwartung (Schönberg)

1960

Cosi fan tutte (Mozart), Tannhäuser, Walküre (Wagner)

Ferdinand Leitner, Otto Eihardt

1961

Entfuhrung (Mozart), Parsifal (Wagner), Rosenkavalier, Schweigsame Frau (R. Strauss)

Heinz Wallber, F. de Quell

Erich Kleiber, Otto Eiiiardt, Joseph Gielen

Karl Böhm, Otto Erhardt

Ferdinand Leitner, Otto Erhardt, J. Pöttgen

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Der komplette Ring des Nibelungen (Wagner)

Heinz Wallberg, Ernst Pöttgen

Idomeneo, Don Giovanni (Mozart), Tristan und Isoide (Wagner)

Ferdinand Leitner, Hans SchmidtIsserstedt, Ernst Pöttgen, H. Hartleb

Figaro (Mozart), Lohengrin (Wagner), Ariadne auf Naxos (R. Strauss)

Istvan Kertesz, Lovro von Matacic, Emst Pöttgen

Figaro (Mozart), Holländer (Wagner), Salome, Frau ohne Schatten (R. Strauss), Lulu (Berg), Fledermaus (J. Strauß)

Ferdinand Leitner, G. Sebastian, Ernst Pöttgen, D. Yannopoulos

Orpheus und Eurydike (Gluck), Don Giovanni (Mozart), Fidelio (Beethoven), Elektro (R. Strauss), Tristan und Isolde (Wagner), Zigeunerbaron (J. Strauß)

Lovro von Malade, Ernst Pöttgen, Joachim Herz

Der komplette Ring des Nibelungen (Wagner), Die Ferdinand LeitKluge (Orff), Hin und zurück (Hindeinith), Cosifan ner, Peter Maag, tutte (Mozart) Ernst Pöttgen, Joachim Herz Julius Caesar (Händel), Finta giardiniera, Zauberflöte (Mozart), Meistersinger (Wagner), Schweigsame Frau (R. Strauss)

Ferdinand Leitner, O. Suitner, Karl Richter, Ernst Pöttgen, Martin Eisler

Titus (Mozart), Freischütz (Weber), Parsifal (Wagner), Rosenkavalier (R. Strauss), Wozzeck (Berg)

E. Leinsdorf, Peter Maag, Ernst Pöttgen, Joachim Herz, P. Hager

180

Entführung, Figaro (Mozart), Fidelio (Beethoven), Frau ohne Schatten (R. Strauss), Moses und Aaron (Schönberg)

Ferdinand Leitncr, Peter Maag, J. Kulka

Xerxes (Händel), Tristan (Wagner), Arabella (R. Strauss)

Karl Richter, Horst Stein, Emst Pöttgen, G. Reinhardt

Don Giovanni (Mozart)

Ferdinand Leitner, Martin Eisler

1973

Figaro (Mozart), Holländer (Wagner), Abu Hassan (Weber), Hansel und Gretel (Humperdinck)

J. Kulka, Leif Segerstam, Wolfgang Zoerner

1974

Hansel und Gretel (Humperdinck), Salome (R. Strauss), Moses und Aaron (Schönberg)

1975

Salome, Elektro (R. Strauss), Pinocchio (K. Pahlen) Leopold Hager, Martin Eisler

1976

Figaro (Mozart), Hansel und Gretel (Humperdinck)

1977

Orpheus und Eurydike (Gluck), Tristan und Isolde (Wagner), Figaro (Mozart)

1978

Don Giovanni (Mozart), Tannhäuser (Wagner), Rosenkavalier (R. Strauss)

Peter Maag, G. Reinhardt

1979

Cosifan tutte (Mozart), Lohengrin (Wagner), Frau ohne Schatten (R. Strauss)

Peter Maag, G. Reinhardt

1980

Titus (Mozart), Fidelio (Beethoven), Meistersinger (Wagner), Arabella (R. Strauss), Eine Nacht in Venedig (J. Strauß)

Leopold Hager, Hans Walat, Ernst Pöttgen, G. Reinhardt

1981

Idomeneo (Mozart), Rheingold, Walküre (Wagner)

Hans Wallat, Julius Rudel, Frederick Mirdita

1982

Ariadne auf Naxos (R. Strauss)

Franz-Paul Decker, Margarita Wallmann

1970

1971

1972

181

Zauberflöte (Mozart), Siegfried (Wagner), Salome (R. Strauss), Hansel und Gretel (Humperdinck), Fledermaus (J. Strauß)

Leopold Hager, Gabor Otvos, Margarita Wallmann

Zauberflöte (Mozart), Hansel und Gretel (Humperdinck), Fledermaus (J. Strauß)

Margarita Wallmann

Cosifan tutte (Mozart), Götterdämmerung (Wagner), Rosenkavalier (R. Strauss) Figaro (Mozart), Parsifal (Wagner) Entführung (Mozart), Holländer (Wagner), Elektro Ferdinand Leitner, (R. Strauss), Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny (K. Weill) Uwe Mund Das nicht zu übersehende Nachlassen der Aufführungen deutscher Werke, etwa von den Anfangen der siebziger Jahre an, hat seine Gründe ausschließlich in der starken Reduktion des gesamten Opernbetriebes infolge der schlechten Wirtschaftslage und der schwerwiegenden inneren und äußeren Ereignisse ("schmutziger Krieg", Falkland-Krieg). Das Fehlen von Devisen macht das Engagement internationaler Künstler unmöglich. Die jungen, ausgezeichneten, einheimischen, Sänger beherrschen vorläufig vor allem das "italienische Fach", das ihnen näherliegt als das deutsche, allein schon der Sprache wegen.

Bibliographie Guardia, Ernesto de la und Roberto Herrera. 1933. El arte lírico en el Teatro Colón. (Zum 25. Jahrestag seiner Eröffnung). Buenos Aires. Mujica Lainez, Manuel und Aldo Sessa. 1983. Vida y gloria del Teatro Colón. Buenos Aires. Rodríguez Gomes, Juana de und Nestor J. Echevarría. 1969. Historia de los teatros líricos del mundo. Buenos Aires.

Deutsche Institutionen und Schulen in Lateinamerika Vielfalt und Wechselfälle des 19. und 20. Jahrhunderts Harry Werner

Wenngleich sich schon während der Kolonialzeit häufig Deutsche in Lateinamerika aufhalten, so setzen erst nach Erlangung der Unabhängigkeit als souveräne Staaten ab 1810 fortdauernde Einzel- und Gruppeneinwanderungen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz mit dem Ziel dauerhafter Niederlassung ein. Seit Ende des 19. Jahrhunderts kommen in steigendem Maße deutschsprachige Einwanderer aus Ost- und Südosteuropa hinzu, auch finden Binnenwanderungen statt. In ihrem Streben nach Herstellung und Sicherung angemessener Lebensbedingungen sind die Immigranten nicht nur auf die individuellen Kräfte und Leistungen, sondern meistenorts zugleich auf vereinte Hilfen aus der in Herkunft, Sprache und Sitte verbundenen Gemeinschaft angewiesen. Aus solcher sozialen Einbettung und Anstrengung werden zu bestimmten Zwecken Einrichtungen geschaffen, den örtlichen und zeitlichen Bedürfnissen entsprechend, in Art und Umfang ihres Wirkens auf gemeinsam erkannte Zielfelder eingerichtet, z.B. zur Schaffung einer Kirche, einer Schule, eines Krankenhauses oder einer kulturellen Vereinigung. Die Errichtung und die Aufrechterhaltung derartiger Institutionen setzen konstante kollektive Bereitschaft zur Selbsthilfe, demokratisches Geschick bei der Selbstverwaltung sowie die verläßliche Bereitstellung eines Eigenbeitrages zur Trägerschaft voraus. Anfänglich werden damit deutliche Zeichen der Abwendung von noch vorhandenen kolonialgesellschaftlichen Relikten gesetzt — heute würde man wohl von alternativer Lebensweise sprechen! Da die neue Heimat vorerst kaum Verhaltens- und Organisationsformen als brauchbare Vorbilder bereithält, folgt man weitgehend den aus den Herkunftsländern überkommenen Praktiken und Satzungen. Auf Seiten der Landesbehörden in Lateinamerika herrschen gegenüber derartigen Aktivitäten zunächst Unwissenheit und Desinteresse, die von einem Stadium bewußter Duldung und des Zugeständnisses abgelöst werden, bis im Zuge der landesweiten Fortentwicklung staatlicher Aufsicht und Verwaltung gleichfalls für diesen Bereich des sozialen Engagements bürokratische Reglementierung und Kontrolle mächtiger werden. Indes gewähren spätere Rechtsvorschriften fast durchweg die Vorzüge der Gemeinnützigkeit. Erst das 20. Jahrhundert bringt eigentlich politisch begründete Gegenmaßnahmen mit bedrohlichen An- und Zugriffen auf Gemeinschaftseinrichtungen deutscher Einwanderer; sie stehen in Zusammenhang mit Ereignissen der beiden Weltkriege von 1914 bis 1918 und von 1939 bis 1945, einzelne werden auch zur Abwehr des in den 30er Jahren infiltrierten nationalsozialistischen Gedankenguts getroffen. Zu ihnen gehören Suspendierungen, fristlose Betätigungsverbote,

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Beschlagnahme und Enteignung von Institutionen genauso wie die Verbannung auf schwarze Listen und die Internierung, Inhaftierung und Ausweisung von Personen, deren Tätigkeit behördlicherseits als unerwünscht erachtet wird. In den meisten Staaten erfahren die betroffenen Institutionen nach Kriegsende ihre Rehabilitierung, wozu die Rückerstattung von Besitz und Eigentum, Entschädigungszahlungen und die Erneuerung der Betriebsgenehmigung genauso gehören wie die Befreiung von generellem Verdacht und Argwohn, Teil einer Fünften Kolonne, d.h. einer feindlichen Untergrundorganisation, gewesen zu sein. Bereits die frühe Geschichte der deutschen Einwanderung läßt mit dem Beginn gemeinschaftlicher Selbsthilfen deren große Mannigfaltigkeit erkennen. Da eine Reihe von ihnen nach erreichter Konsolidierung ein eigenes Haus oder Heim besitzen, werden solche Sammel- und Treffpunkte gern mit dem Begriff "Deutsches Haus" belegt. Doch kann eine Casa Alemä in Brasilien auch der Name eines großen deutschen Geschäftshauses sein! Die ersten Vereinigungen sind die schon 1821 in Rio de Janeiro hervorgetretene Schweizer Société Philanthropique und die im gleichen Jahr gegründete, heute noch existierende Gesellschaft Germania, ein Zusammenschluß vornehmlich von Kaufleuten, der zum Wegbereiter der späteren binationalen Handelskammer wird. Überhaupt gilt das Wort "Germania" als zeitgebundenes Markenzeichen für deutsche Einrichtungen, so gleichfalls 1868 in Säo Paulo, das dort 1954, dem international gestimmten Zeitgeist längst unterlegen, dem Namen Club Transatlántico weichen muß. Daß protestantische Friedhofsvereine wie 1857 in Curitiba, 1885 in Imbituva und 1890 in Lapa, sämtlich im Staate Paraná gelegen, häufig zum Vorläufer späterer evangelischer Kirchengemeinden werden, hat seine Ursache in der damaligen Gesetzeslage Brasiliens, nach der es verboten war, Nichtkatholiken, Selbstmörder und an ansteckenden Krankheiten Verstorbene auf katholischen Friedhöfen zu beerdigen. Zur Sonderung der Begräbnisplätze tritt zur Zeit des Kaiserreichs insofern eine unterschiedliche Behandlung der Glaubensbekenntnisse, als daß Nichtkatholiken nur erlaubt wird, Gottesdienste ausschließlich in Wohnhäusern oder hierfür eigens bestimmten Gebäuden abzuhalten, die nicht die äußere Form einer Kirche aufweisen, d.h. keinen Turm und keine Glocken besitzen dürfen. Auch in Argentinien fördern vorhandene Gesetze und die Macht gesellschaftlicher Gewohnheit anfänglich eher die Koloniebildung der Einwanderer als deren soziokulturelle Integration. In Buenos Aires schaffen sich zunächst Engländer die ihnen eigentümlichen Institutionen. 1841 vereinigen sich dann Kaufleute verschiedener Nationen in der Sala de Residentes Extranjeros, einem Mittelding zwischen einer Börse und einem Klub, der als solcher noch jetzt besteht. 1842 erfolgt die Gründung einer deutschen evangelischen Gemeinde, die erst 1853 ihr eigenes Gotteshaus erhält. 1843 nimmt die deutsche evangelische Gemeindeschule ihre Tätigkeit auf unter dem heute weltfremd wirkenden staatlichen Verbot von Unterricht in der Landessprache. Dies sind die Anfänge deutscher

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Institutionen in der argentinischen Metropole, wo knapp einhundert Jahre später 125 solcher Vereinigungen registriert sind. Gegenwärtig gibt es in Stadt und Provinz Buenos Aires etwa 50 Institutionen überwiegend deutscher, einige österreichischer und schweizerischer Provenienz mit selbstverständlich gewordenem mehrsprachigem Umgang in breiten sozialen Entfaltungsräumen. Herausragende Beispiele hierfür sind der Deutsche Klub (hervorgegangen aus dem 1855 gegründeten Deutschen Turnverein), der jetzt kulturelle und gesellschaftliche Tradition in einem modernen Hochhaus der City weiterpflegt, und das vom Deutschen Krankenverein — mit dem Gründungsjahr 1857 die erste gemeinnützige Vereinigung Argentiniens — getragene große Hospital Alemán mit Poliklinik und Schwesternschule. Dort fanden sich kürzlich Patienten von über 60 Nationalitäten — das Angebot der Daseinsvorsorge reicht längst weit über die örtliche deutschsprachige Bevölkerungsgruppe hinaus. Auch für das dritte große Einwanderungsland, Chile, gilt, daß die ethnische Herkunft der Einwanderer den Ausgangspunkt besonderer institutioneller Entwicklungen darstellt. Da dort die Abläufe der Integration und die damit verbundenen Handlungen insgesamt weniger störenden staatlichen Einflußnahmen als in den meisten anderen Ländern Lateinamerikas unterlagen, sind an zentralen Orten die frühen Bestände überwiegend erhalten geblieben, so bis jetzt in Valparaiso der Deutsche Verein als ältester dieser Eigenart in Chile seit 1838, die Deutsche Schule seit 1875, die Evangelische Kirchengemeinde seit 1867 (mit eigener Kirche ab 1893), der Deutsche Turnverein — überhaupt der erste Turnverein im Lande — seit 1870, das Deutsche Krankenhaus seit 1877. Diese Gründungen sind im wesentlichen Werke der Kaufmannschaft. Echo, Anteilnahme und Bemühungen um Betreuung erfahren die jungen Institutionen häufig aus der alten Heimat; bei den familiären Beziehungen reicht die Spanne von herkömmlich weltaufgeschlossenen Patriziern der Hansestädte bis hin zu sogenannten kleinen Leuten in Hessen und Schwaben, Bayern und Schlesien, im Hunsrück und an der Ostsee, eben in den Herkunftsregionen der Einwanderer. Die Schaffung des neugeeinten Deutschen Reichs von 1871 bringt mit dem nationalen und dem damit verbundenen weltwirtschaftlichen Aufschwung eine institutionelle Hochkonjunktur mit sich; von 1871 bis 1914 werden allein etwa 600 Neugründungen deutscher Schulen im Ausland verzeichnet. Ausdruck innerdeutscher Gemeinschaftsbestrebungen und -Verpflichtungen sind die finanziellen und materiellen Hilfen des Gustav AdolfVereins für Einrichtungen evangelischer Gemeinden in der Diaspora, der Caritas-Organisationen für ausgewanderte Katholiken und des ab 1881 tätig werdenden Vereins für das Deutschtum im Ausland (VDA) — so der spätere Name — zur Pflege der kulturellen Beziehungen zu den Auslandsdeutschen. In die gleiche Epoche fällt der Beginn deutscher auswärtiger Kulturpolitik: ab 1878 mittels finanzieller Förderung und ab 1906 mit der amtlich vorgenommenen personellen Unterstützung von Schulen. Bis 1913 werden insgesamt etwa 200 Lehrer aus dem innerdeutschen Schuldienst nach Lateinamerika vermittelt, 70 Prozent davon in die ABC-Staaten.

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Trotz einiger Einbußen an Institutionen infolge ethnischer Assimilation, der Auswirkung egalisierender Tendenzen aus dem gesellschaftlichen Umfeld und kriegsbedingter Maßnahmen sind auch die zwei Jahrzehnte zwischen den beiden Weltkriegen durch institutionelle Expansion gekennzeichnet. Hauptursache hierfür sind neue Gruppen, aber auch zahlreiche Einzeleinwanderungen; die Ansiedlung deutschsprachiger Mennoniten in Mexiko, Paraguay und Südbrasilien sowie die von Kolonisten deutscher Sprache in Nordargentinien stellen Ereignisse dieser Dekaden dar. Zum anderen führt die nach den Bestimmungen des Versailler Vertrages von 1919 vollzogene Abtretung von Gebieten des Deutschen Reichs bei vielen Binnendeutschen zu einem verstärkten Gefühl besonderer Verbundenheit mit den Grenz- und Auslandsdeutschen; ein behördliches Kennzeichen hierfür ist die Neueinrichtung einer Abteilung für Deutschtum im Ausland und für kulturelle Angelegenheiten im Auswärtigen Amt. Zwar engen Inflation und daran noch anschließende Haushaltsschwierigkeiten den fiskalischen Förderungsrahmen der Weimarer Republik ein, doch erbringt gerade die Schaffung spezieller Mittlerorganisationen eine bis heute auch für deutsche Institutionen in Lateinamerika ertragreiche Zusammenarbeit. 1925 erfolgen die Gründungen der Alexander von Humboldt-Stiftung zur Entwicklung der Forschungskooperation auf weltweiter Basis, des Deutschen Akademischen Austauschdienstes zur Förderung internationaler Hochschulbeziehungen und der Deutschen Akademie in München, aus der 1932 das Goethe-Institut zur Pflege der deutschen Sprache und Kultur im Ausland hervorgeht. Der 1917 gegründeten und jetzt unter dem Namen Institut für Auslandsbeziehungen arbeitenden Einrichtung obliegt gleichfalls die Wahrnehmung interkultureller Beziehungen und Information. Schließlich wird in Deutschland der in Südamerika wachsenden Zahl von Zusammenschlüssen deutschsprachiger Lehrer — in Chile bereits seit 1903 — mit der Gründung des Verbandes deutscher Lehrer im Ausland im Jahr 1929 entsprochen; beide Organisationen sind noch jetzt von Bestand. So entwickelt sich zwischen deutschen Institutionen in Lateinamerika und einer Vielzahl von staatlichen, kirchlichen, halbamtlichen und privaten Stellen, Vereinen und Verbänden im Deutschen Reich ein engmaschiges und sachlich reich gegliedertes Beziehungsgeflecht. Zu den in Mittel- und Südamerika entwicklungsbedingten Bruchlinien zwischen Hauptstadt und Provinz, Stadt und Land, gesellschaftlich arrivierten, begüterten Kreisen und sozioökonomisch benachteiligten oder zurückgebliebenen Gruppen tritt in den 20er Jahren unseres Jahrhunderts bei zahlreichen Landesbewohnern deutscher Abkunft eine neue, als Abbild innerdeutscher politischer Auseinandersetzungen begriffene Divergenz hinzu: die Scheidung in Republikaner als Anhänger der 1919 geschaffenen Weimarer Republik und deren Gegner, meist bleibende ferne Getreue des Bismarckschen Reiches. Symbolisch treten diese Auseinandersetzungen bei deutschen Institutionen mit dem Flaggenstreit zwischen Schwarz-Rot-Gold und Schwarz-Weiß-Rot an die Öffentlichkeit. Dieser politische Antagonismus wird an einzelnen Hauptorten institutionell

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fixiert, z.B. in Buenos Aires einerseits mit dem Republikanischen Schutzbund und dem Arbeiter-Verein Vorwärts von 1882, dessen Mitglieder übrigens 1890 zum erstenmal auf amerikanischem Boden öffentlich eine Feier des 1. Mai veranstaltet haben, sowie dem Stahlhelm und dem Kyffhäuser-Bund auf der anderen Seite. Daß nunmehr zu den verschiedenartigen institutionellen Bezugnahmen auf Deutschland eine Spaltung in den grundlegenden politischen Außenorientierungen hinzutritt, macht nicht wenige Deutschstämmige anfällig für eine Weltanschauung, die die Sammlung aller vaterländisch gesinnten Kräfte und die Schaffung einer großen Volksgemeinschaft unter Einschluß der Auslandsdeutschen tatendurstig verheißt. Nach Hitlers Machtübernahme im Deutschen Reich Anfang 1933 breitet sich die bereits 1931 gegründete Auslandsorganisation der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) mit den ihr angeschlossenen Organisationen wie der Deutschen Arbeitsfront, dem Deutschen Hilfswerk, den Außenhandelsstellen u.a. auch in Lateinamerika weiter aus — 1937 verfügt sie bereits über 600 Ortsgruppen in aller Welt. Ungeachtet des verspäteten Vorhabens, die parteiliche Betreuung auf Reichsdeutsche zu beschränken, bieten sich ihr vielfache institutionelle Einflußmöglichkeiten. So geraten z.B. die in Chile aus völkischem Gedankengut vor 1933 entstandenen deutschen Jugendbünde und Pfadfindergruppen danach unter den Einfluß von Ideenträgern der reichsdeutschen Hitlerjugend. In Mexiko wird die 1935 als Organisation ins Leben gerufene Deutsche Volksgemeinschaft zum Multiplikator der aus Deutschland importierten weltanschaulichen Kampfbegriffe eines nationalen Fanatismus und rigorosen Rassismus; sie wird 1942 von der Regierung verboten. In Deutschland selbst macht die Gleichschaltung der Institutionen auch vor Einrichtungen und Vorgängen mit Auslandskontakten nicht halt, so erfolgt 1935 die Eingliederung der reichsdeutschen Auslandslehrer in den NS-Lehrerbund, und 1938 wird die Unterwerfung des VDA unter Hitlers Außenpolitik erzwungen. Gegenüber der auf Vorherrschaft gerichteten Kulturarbeit gibt es im Ausland auch Barrieren: Sie sind z.B. vorhanden mit den verbindlichen Lehrplänen bei allen weitgehend in das nationale Schulsystem inkorporierten Schulen oder werden als unerläßliche Gegenwehr zügig errichtet, wie z.B. 1939 mittels Dekrete in Argentinien, die dort u.a. zur Auflösung der Landesgruppe der NSDAP führen. Doch kommt es in dieser konfliktgeladenen Zeit gleichfalls zu freien Entscheidungen institutioneller Abgrenzung von der NS-Ideologie; hierzu gehört der 1938 vom Deutsch-Chilenischen Bund (als Dachverband 1916 geschaffen) gefaßte Beschluß, daß künftig seine Amtsträger chilenische Staatsbürger sein müssen. Selbst bei den Kolonien der in weitgehender Autonomie lebenden Mennoniten in Paraguay entstehen ernsthafte Konflikte. Zum Kern der Auseinandersetzungen wird dort der Glaubensgrundsatz der Wehrlosigkeit, dem eigens in dem von der Regierung gewährten Privilegium als Befreiung vom Militärdienst entsprochen worden ist. Schließlich überwinden die Glaubenskräfte sittenstrengen Mennonitentums die dem militanten Zeitgeist aus Deutschland

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zuneigenden Tendenzen. Desgleichen manifestiert sich der Widerstand gegen das Dritte Reich in einigen Gegengründungen, meist unter Beteiligung von Neueinwanderern als rassisch und politisch verfolgte Menschen, zu den sich der NS-Ideologie als anfällig erweisenden Institutionen. Beständige Beispiele hierfür sind aus dem Bereich der Bildungseinrichtungen die Pestalozzi-Schule (1934) in Buenos Aires, die Schweizer Schule (1939) in Santiago de Chile und eine Privatschule für deutsche Emigrantenkinder in Guayaquil/Ecuador, aus der 1957 das vereinsgetragene Colegio Alemán Humboldt hervorgeht. Von kurzfristig beachtlicher Öffentlichkeitswirkung, jedoch als wenig eingewurzelt erweisen sich die von Exilgruppierungen als revolutionäre, ideologische Gegenkräfte bestimmten Zusammenschlüsse; so verschwinden die Liga Pro-Cultura Alemana, die Bewegung Freies Deutschland und die Federación de Residentes Anti-NaziFascistas Extranjeros, allesamt Gründungen der Jahre 1937 bis 1942, mit Kriegsende wieder aus Mexiko. Dauerhafter sind dagegen die Einrichtungen der aus Europa emigrierten Juden, ihre Gemeinden, Hilfsvereine und Heime ebenso wie die Organisationen zur Pflege von Wissenschaft und Kunst (so z.B. in Buenos Aires das Collegium Musicum von 1946 und die Konzertgesellschaft Amigos de la Música von 1947). Die von den Regierungen der lateinamerikanischen Staaten in jenen Jahren getroffenen Gegenmaßnahmen spiegeln zwischen dem Zwang zu weiterer Anpassung und der Vernichtung von deutschen Institutionen viele Grade staatlicher Machtausübung wider. Zu diesem dornenvollen Kapitel lateinamerikanischdeutscher Beziehungen gehört das von der brasilianischen Bundesregierung 1938 erlassene Dekret zur Nationalisierung fremdländisch orientierter Einrichtungen, mit dem die deutschen Lehranstalten beinahe restlos dem Untergang ausgeliefert werden. Die Zahl jener institutionellen Verluste liegt zwischen 1.200 und 1.500 mit insgesamt ungefähr 50.000 Schülern, sie umfaßt in der Mehrheit kleine Landschulen, weiters Volks-, Mittel- und Höhere Schulen, Internate, Haushaltungs-, Handels- und Landwirtschaftsschulen in Städten wie auch eine Handwerker-Akademie und zwei Lehrerseminare. 1943 werden in Brasilien der öffentliche Gebrauch der deutschen Sprache (außer an Universitäten) und deutsche Gottesdienste sowie jede Art deutschsprachiger Veröffentlichungen untersagt. Dieses Verbot ist praktisch bis einige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg in Kraft, und erst 1961 erhält Deutsch wenigstens als fremdsprachliches Wahlpflichtfach im Sekundarbereich schulrechtliche Anerkennung. Dagegen bleiben in Chile — im Gegensatz zu anderen Staaten Lateinamerikas nicht kriegführend — die deutschen Institutionen fast vollständig erhalten, die Schulen sogar vollzählig unter Einordnung in das nationale Bildungswesen ab 1943. Überleben, Wiederbeginn, Neuanfang — nach der Zeitenwende von 1945 beginnt auch unter Berücksichtigung der Bedürfnisse frischer Einwanderer und der Ansprüche der sich an zentralen Orten vermehrt und zunehmend längerfristig aufhaltenden deutschen Staatsangehörigen eine Phase gruppenhaften Tätigseins mit neu ausbalancierten Beziehungen zu Deutschland, von dessen

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beiden 1949 entstandenen Staaten sich die Bundesrepublik als in hohem Grade geeignet und leistungsfähig für partnerschaftliche Beziehungen erweist. Mit welcher gesellschaftlichen Menge und welcher kulturellen Substanz kann nunmehr bei der Neugestaltung der Verbindungen unter menschlichen und weltfreundlichen Maßstäben gerechnet werden? Beläuft sich die Gesamtzahl der aufgrund des Selbstverständnisses in Lateinamerika als "deutsch" zu bezeichnenden Institutionen vor dem Zweiten Weltkrieg auf mehrere tausend, so erbringt eine überschlägige Schätzung für die Gegenwart eher weniger als tausend solcher Positionen. Mit ihnen stellt sich aber nicht bloß ein Restbestand an Traditionen dar, sondern in Zusammenhang mit einer Reihe von Neugründungen ein Fundus, der sowohl tief eingewurzelten Interessen von hüben und drüben entsprechen kann, als auch infolge der Integration zu gesamtgesellschaftlicher Bezugnahme vermehrt bikulturelle und binationale Aktionsfelder eröffnet, meistens jedoch verbunden mit einer Reduktion im Gebrauch der deutschen Sprache. Dabei tritt ein zeitlich und thematisch außerordentlich breites Spektrum von Originalität und Eigenständigkeit zutage. Unter den bodenständigen deutschen Institutionen nehmen weiterhin die Einrichtungen der sozialen Selbsthilfe, des Gesundheitsdienstes, der Wohlfahrt und Wohltätigkeitseinrichtungen einen wichtigen Platz ein in Ergänzung oder als Ersatz fehlender entsprechender Dienstleistungen des Staates. Die breite Spanne reicht von Krankenversicherungen, Ruhegehalts- und Hinterbliebenenkassen, auch privaten Stiftungen für karitative Zwecke, Hilfsvereinen über Ferien-, Kinder-, Waisen-, Alters-, Pflege- und Übernachtungsheime sowie Deutsche Krankenhäuser bis hin zu dem Sozialwerk der Deutschsprechenden in Mexiko von 1963 mit Mütterberatungsstelle und Mütterschule für bedürftige Einheimische, der alten Deutschen Wohltätigkeitsgesellschaft von 1916 in Buenos Aires u.a. mit Beteiligung an der argentinischen Lepra-Fürsorge oder den jungen SOSKinderdörfern in mehreren Staaten. Ein anderes für den Subkontinent anfangs fremdartiges Beispiel der Selbstverpflichtung zur Hilfeleistung stellen die auf vereinsmäßiger Grundlage geschaffenen Freiwilligen Feuerwehren dar. In Chile gibt es gegenwärtig in 14 Städten traditionsbewußte deutsche Feuerwehrkompanien — in Frutillar sind bis 1936 noch alle Kommandos in deutscher Sprache erteilt worden! Selbst im südbrasilianischen Joinville ist eine von Deutschen 1892 gegründete Freiwillige Feuerwehr erhalten geblieben, zu deren früher Geschichte wie auch bei manchen deutschen Schützenvereinen dortzulande der Einsatz als bewaffnete Bürgerwehr gehört. Desgleichen sind zahlreiche gesellige Zusammenschlüsse Beleg für Eigeninitiative und mobile Handlungsweisen geblieben. Widerfuhr ihnen in der zurückliegenden Blütezeit der Vorwurf deutschtümelnder Vereinsmeierei, so ist in der gegenwärtigen Kritik von der Gefahr populistischer oder folkloristischer Erstarrung die Rede. Indes leisten sie gerade in unserer Zeit der Massengesellschaft einen beharrlichen Beitrag zur Herstellung und Stärkung menschlicher Beziehungen über sprachliche und kulturelle Grenzen hinweg. Ihr breites Angebot an Kommunikation reicht von Kurzweil und Unterhaltung über landsmannschaft-

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liehe Brauchtumspflege, Musizieren, Theaterspiel, Lesezirkel bis zu Vortragsund Diskussionsveranstaltungen. Von geringer allgemeiner Bedeutung, doch bemerkenswert wegen der Eigenart deutschsprachiger Tradition im Geiste der Urbanität, sind Freimaurerlogen wie z.B. Humanitas und Sokrates, 1877 bzw. 1950 in Buenos Aires gegründet, und die schon 1870 eingerichtete Germania, später mit der Lessing-Loge in Valparaiso vereinigt. Gleichfalls stellen die deutschsprachigen Studentenverbindungen in Chile eine marginale Besonderheit dar, z.B. die Burschenschaften Araucania (gegründet 1896, Wahlspruch "EhreZucht-Einigkeit") und Andinia (gegründet 1926, Wahlspruch "Libertas-VeritasFraternitas") in Santiago. Dagegen zeigen die nach innerdeutschen Vorbildern geschaffenen Berufsvereinigungen stärker den Aufbruch in neue sozioökonomische Verhältnisse. Die berufsständischen Interessenverbindungen der Kolonisten, Pflanzer und Bauern sind jetzt weitgehend durch genossenschaftliche Zusammenschlüsse abgelöst, zu deren Tätigkeitsgebieten soziale Dienste, Klubs, auch berufliche Fortbildung gehören können. Den durch die zunehmende Industrialisierung, die Ausweitung des Handels und den weltweiten technischen Fortschritt entstandenen überstaatlichen Belangen ist organisatorisch durch die Einrichtung von 14 bilateralen Industrie- und Handelskammern in Lateinamerika entsprochen. Doch fallen in unserer Zeit schon einzelnen Berufsverbänden stark erweiterte Aufgaben zu, so beispielsweise dem Argentinischen Verein Deutscher Ingenieure von 1913 mit seinem landesweit verfügbaren Beratungsdienst in Normungsfragen. Desgleichen geben Turn- und Sportvereine sowie Gesang- und Musikvereine als überseeische Erben unserer Traditionen den Wandel der Zeiten zu erkennen. Zwar verkünden alte Vereinsfahnen noch das Motto "Frisch-Fromm-FröhlichFrei", doch ist dort wie hier das Leitbild des Turnvater Jahn von allumfassender Körperschulung unmodern geworden. Dafür wird manchen neuen Sportarten erst der Weg bereitet, so z.B. in Argentinien dem Rudersport durch den 1890 in Buenos Aires gegründeten Ruderverein Teutonia und dem Skisport durch den 1931 geschaffenen Club Andino Bariloche. Gleichfalls hat die alte Wertschätzung gemeinschaftlichen Singens Einbußen erlitten, doch scheinen dafür einige der der weltlichen Chormusik dienenden Organisationen durch weitere Diversifizierung ihrer europäischen Programme und deren Ergänzung mit lateinamerikanischen Werken breitere öffentliche Aufmerksamkeit zu gewinnen. Hierzu zwei Beispiele verschiedener Ansätze und Zielsetzung: Der 1894 in Säo Paulo gegründete Deutsche-Männer-Gesangverein Lyra fördert jetzt als Sociedade Filarmònica Lyra nicht nur Gesang und Konzert im eigenen Vereinshaus, sondern weiträumig in Verbindung mit anderen Chören, Orchestern und Instrumentengruppen bis hinein in ferne Siedlungsgebiete, und die 1930 gebildete Gesellschaft Pro Arte führt u.a. neben Konzertveranstaltungen Ferienkurse für Musik und Musik-Seminare zur Aus- und Fortbildung junger einheimischer Künstler durch. Wie der Überblick zeigt, ist es trotz aller Unterschiede in der Zweckbestimmung bei vielen bodenständig gewordenen Institutionen schwierig, säuber-

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liehe Trennungen zwischen den jeweiligen Aktionsfeldern vorzunehmen. Hinzu kommt, daß sowohl der Breite als auch der Bündigkeit freier kultureller Tätigkeiten mit organisatorischer Differenzierung der Landesvereinigungen entsprochen werden muß. So ist für Brasilien typisch, daß neben dem 1938 in Säo Paulo gegründeten Hans-Staden-Institut für Wissenschaft, Schrifttum und brasilianisch-deutschen Kulturaustausch, jetzt gestärkt von der 1951 ins Leben gerufenen Martius-Stiftung zur Förderung interkultureller Verbindungen, gleichfalls der 1951 geschaffene Verband der Kulturvereine vom 25. Juli steht (dies ist im Jahr 1824 der Ankunftstag der ersten deutschen Einwanderergruppe im Süden des Landes), dem fast 300 Vereine verbunden sind. Inmitten dieser Vielzahl und Vielfalt institutioneller Ansiedlungen deutschen Einschlags stellen gegenwärtig die Goethe-Institute als Mittlerorganisation das markanteste Instrument bundesdeutscher auswärtiger Kulturpolitik dar. In ihrer kurzen Geschichte, die erst Mitte der 50er Jahre beginnt, sind indes die Wandlungen in den politischen Konzeptionen ablesbar, so vor allem die Verlagerung vom Primat der kulturellen Selbstdarstellung zum Vorrang des Kulturaustausches und der Zusammenarbeit sowie die in den 70er Jahren vorgenommene Ergänzung des Kulturbegriffs um die gesellschaftspolitische Komponente. Paradiesgärtlein für schöngeistigen Zeitvertreib — Vermittler klassenkämpferischer Ideologie, so etwa lauten die Schreckworte veröffentlichter Meinungen von gestern und heute. Die Zahl der Goethe-Institute in Lateinamerika beläuft sich zur Zeit auf insgesamt 19, verteilt auf Argentinien (3), Bolivien, Brasilien (7), Chile, Costa Rica, Kolumbien, Mexiko (2), Peru, Uruguay und Venezuela. Darüber hinaus bestehen zu zahlreichen einheimischen Institutionen substantielle Verbindungen sowohl im Bereich der Sprachkurse als auch bei Kulturprogrammen. Dabei können länderübergreifende Aktivitäten entstehen wie z.B. jetzt bei der Betreuung Guatemalas und Kubas durch das Goethe-Institut in Mexiko-Stadt. 1993 betrug die Gesamtzahl der Teilnehmer an Deutschlehrgängen ca. 16.000. Die überwiegend landessprachige Programmarbeit wird durch eine bunte Angebotspalette bei den Vorträgen, Symposien, Seminaren, Workshops, Ausstellungen, Konzerten, Theater- und Filmaufführungen gekennzeichnet. Dem Publikum stehen gut ausgestattete Bibliotheken und Videotheken zur Verfügung. Schließlich beinhaltet die pädagogische Verbindungsarbeit verschiedenartige Bemühungen zur Förderung von Deutsch als Fremdsprache — eine auf dem Subkontinent immer dringlicher werdende Aufgabe in Anbetracht des dortigen Rückgangs von Deutsch als Mutter- oder Erstsprache und der beinahe unumstößlichen Dominanz von Englisch und Französisch als Fremdsprachen im Bildungswesen. Dennoch können für Deutsch vielschichtige Lernbedürfnisse genutzt werden: immer noch die Traditionen von Einwandererfamilien und -gruppen, sodann spezifische Interessen an Fach- und Wissenschaftssprachen genauso wie das Streben nach Vertrautheit mit dem inhaltlichen Reichtum und der Schönheit des Deutschen als Kultursprache. Hierbei können auch rasch eigenwillige Wechsel in den Interessenlagen auftreten

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wie jüngst von der emotionalen Rezeption der Dichtungen Hermann Hesses durch die Hippie-Generation der 60er Jahre hin zur politisch starken Resonanz der dramatischen Lehrstücke von Bertolt Brecht ein/zwei Jahrzehnte später. Andere bundesdeutsche Mittlerorganisationen folgen bei ihren Aktivitäten dem Subsidiaritätsprinzip, sie besitzen keine eigenen institutionellen Leistungsträger im Ausland. Demgemäß unterhält z.B. der Deutsche Akademische Austauschdienst dort nur Regionalbüros, die konkrete Arbeit vollzieht sich im Rahmen einheimischer Institutionen, so gegenwärtig u.a. mit der Entsendung von Deutsch-Lektoren an 21 Hochschulen in acht lateinamerikanische Staaten. Auch die amtliche Förderung der Auslandsschulen durch die Bundesrepublik Deutschland, die in personeller, finanzieller und materieller Unterstützung bestehen kann, stellt als Verwaltungshandeln eine derartige subsidiäre Maßnahme dar. Gerade die deutschen Schulen in Lateinamerika geben auf außerordentliche Weise von Werk und Leistung der Einwanderer als freie Träger von Bildungseinrichtungen Kunde, deren Wertschätzung als gesichertes pädagogisches Wirkungsfeld sich in den amtlichen deutschen Förderungsmaßnahmen seit hundert Jahren ausdrückt. Bei den frühen Ankünften fallt die Aufgabe der Unterweisung der Kinder zumeist der Familie oder dem Nachbarschaftsverbund zu, vereinzelt unter Mithilfe von Wanderlehrern oder Reisepfarrern. Die gemeinschaftlich vorgenommene Einrichtung planmäßigen Unterrichts mit dauerhafter Unterbringung an fester Stätte — im Urwald anfangs in Lehmhütten, später in Bretterund schließlich in Steinhäusern — führt zur Institution Deutsche Schule. Den Auftakt bilden die Schulinitiativen evangelischer Pastoren: 1824 in Säo Leopoldo und 1826 in Très Forquilhas, die erste Riograndenser Einrichtung auf katholischer Seite folgt 1846 in Santa Catalina da Feliz. Das innerdeutsche Ringen um die Konfessions- oder Simultanschule wird auf die Auslandsschulen in Lateinamerika übertragen, wo sich nach dem Vorbild in Chile, dort beginnend 1854 in Osorno, 1857 in Valparaiso und 1858 in Valdivia, die von einem Schulverein getragene Gemeinschaftsschule mehrheitlich durchsetzte. Doch richten weiterhin auch Orden und Kongregationen der katholischen Kirche Schulen nach dem Landessystem mit anteiligem Deutschunterricht ein, so z.B. Steyler Patres 1910 das Liceo Aleman in Santiago, die Kongregation der Dominikanerinnen zur Hl. Magdalena aus Speyer 1939 die Deutsche Schule Beata Imelda in Lima, die Ursulinenschwestern 1939 das Colegio Santa Ursula sowie die Schönstattschwestern 1954 das Colegio Mariano gleichfalls in Santiago. Infolge der starken Milieuabhängigkeit der Privatschulen entstehen bei den Integrationsvorgängen viele Varianten. Im allgemeinen wird zunächst der deutschsprachige Elementarunterricht durch Unterricht in der Landessprache, Landeskunde und -geschichte ergänzt, doch können solchen Anspruch viele der als Notbehelf gewonnenen Lehrer an den kleinen Landschulen nicht erfüllen. Überhaupt kommt es dort häufig zu beschwerlichen pädagogischen Verhältnis-

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sen, zumal wenn auf Seiten des Schulträgers ungelenke Einsichten bestehen, wie folgender Auszug aus dem Anstellungsprotokoll einer südbrasilianischen Pikadenschule im Jahr 1898 ahnen läßt: "(Der Lehrer) hat von morgens 7 bis 11 Uhr Schule zu halten und sonntags in der Kirche vorzusingen. Außerdem hat er bei Beerdigungen mit den Schulkindern auf Wunsch einen Choral zu singen... krank werden darf er nicht, auch nicht montags. Heiraten darf er auch vorläufig nicht... Die Kinder hauen darf er, aber nicht an den Kopf und nicht mit einem Seil oder Zügeln. Zum Tanz gehen darf er... Neue Schulbücher darf er aber nicht einführen... Wenn er's leid ist, kann er jederzeit gehen". Dagegen gewinnen Stadtschulen nach der Jahrhundertwende vor allem mit dem Aufbau der Sekundarstufe für ihre Mischung von einheimischen und deutschen Lernstoffen an Ordnung, Niveau und Zielorientierung. Vorzugsweise streben sie landesübliche Abschlüsse an, und nur sehr vereinzelt folgen sie innerdeutschen Bildungszielen — eine Relation, die sich bis heute nicht verändert hat. Die Ouvertüre für deutsche Examina bilden das "Einjährige" von 1906, d.h. die Erlangung der Berechtigung zum einjährig-freiwilligen Militärdienst im Reich, an der Germania-Schule in Buenos Aires und die deutsche Reifeprüfung von 1913 an der Deutschen Schule Mexiko. Die Zahl solcher Prüfungsschulen bleibt gering: 1918 sind dies 7 für die mittlere und 1 für die Hochschulreife, 1938 allenfalls 8 bzw. S. Die Gesamtentwicklung bei den hauptsächlich durch die Ereignisse der Jahre 1939 bis 1945 zahlenmäßig stark reduzierten deutschen Schulen ist durch deren unwiderrufliche Einbeziehung in die nationalen Bildungssysteme und das unvermindert starke Anwachsen des nicht deutschsprachigen Schüleranteils gekennzeichnet. Aus einstigen Ausländer- bzw. Fremdschulen sind einheimische Bildungseinrichtungen geworden mit einem allerdings eigenen sprachlichen und pädagogischen Gepräge. Vorrangig zeigen diese Besonderheit die in 15 Staaten von der Bundesrepublik Deutschland intensiv geförderten 40 Institutionen. Dabei unterscheidet die amtliche Typologie zwischen 20 Begegnungsschulen, d.h. bikulturell orientierten, weitgehend bzw. sektoral zweisprachig geführten Vollanstalten, 18 Schulen mit verstärktem Deutschunterricht und zwei Verbänden von Sprachgruppenschulen. Besondere staatliche Statusregelungen wie z.B. in Argentinien, Bolivien, Chile, Paraguay und Peru erleichtern den leistungsfähigen Schulen einen bilingualen Aufbau. Die Erlangung einer deutschen Allgemeinen Hochschulreife ist jetzt in der Regel als Ergänzung zu derjenigen des Landes möglich mittels eines seit Ende der 60er Jahre eingespielten Verfahrens, das einen gewissen binationalen Aufbau der Curricula sowie eine zusätzliche 13. bzw. 12.-13. deutsche Jahrgangsstufe voraussetzt wie an den großen Schulen in México D.F., Guatemala C.A., San José, Quito, Bogotá, Lima, La Paz, Rio de Janeiro, Säo Paulo, Montevideo und Buenos Aires. Ein Nebeneinander des inländischen und des deutschen Abschlusses besteht für die Sekundarstufe I noch in Puebla, für die Sekundarstufe II in Caracas. Außerdem gelten etwa 100 weitere Siedler- und sonstige Schulen mit Deutschunterricht

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sowie Sprachkurse als ständige Zuwendungsempfänger, aufgrunddessen sie dem deutschen Auslandsschulwesen zugerechnet werden, das damit eine ungewöhnlich breite, in Teilen unscharfe Facettierung erfährt. Die Gesamtzahl der Schüler an allen amtlich in Lateinamerika geförderten Schulen beträgt etwa 60.000 (davon kaum 10 % deutscher Staatsangehörigkeit), die der Lehrer fast 4.500, wovon nur 400 amtlich vermittelt sind — dies ist ein Drittel der von der Bundesrepublik für das Auslandsschulwesen bereitgestellten beamteten Fachkräfte. Übrigens zeigen auch die sieben Auslandsschweizerschulen (mit insgesamt 3.200 Schülern, davon ein Drittel Schweizer) und die einzige österreichische Schule in Lateinamerika untereinander innerhalb des Typs Begegnungsschule größere strukturelle Verschiedenheiten. Dagegen hatte sich die DDR von Anbeginn mit der bedarfsorientierten Einrichtung von Botschafitsschulen für die Kinder der eigenen Staatsangehörigen in die Exterritorialität begeben. Um die deutschen Schulen inmitten ihrer internationalen Bezugs- und Spannungsfelder nicht zum pädagogischen Treibgut werden zu lassen, sind deutscherseits Information, Beratung und systemimmanente Lenkung intensiviert worden, dies insbesondere durch die 1968 neu geschaffene Zentralstelle für das Auslandsschulwesen. Desgleichen hat die für die Zeugnisanerkennung und die Abhaltung deutscher Prüfungen im Ausland zuständige Kultusministerkonferenz der deutschen Länder zunehmend differenzierte Regelungen getroffen, die der pluralen Struktur des gegenwärtigen Auslandsschulwesens entsprechen. Hierzu gehört als Novum das Angebot zum Erwerb des Deutschen Sprachdiploms der Kultusministerkonferenz in zwei Stufen (Klasse 10 und 12). Das Diplom der Stufe II bedeutet den Nachweis der für ein Studium in der Bundesrepublik Deutschland erforderlichen Deutschkenntnisse. Die praktischen Impulse für eine derartig zentral gesteuerte Sprachprüfung, die seit 1974 regelmäßig stattfindet, kommen aus Chile — dort aus großer Sorge um das Niveau des fremdsprachlichen Deutschunterrichts entstanden. Die Sicherung eines Minimalanspruchs für Deutsch hat vor allem bei deutschen Schulen in Lateinamerika breite Zustimmung gefunden, diese stellen im Jahr 1994 bei der Gesamtzahl von 106 Prüfungsschulen in aller Welt allein 54 Institutionen. Weitere von deutschen Instanzen in jüngerer Zeit geförderte Neueinführungen sind die berufsbildenden Ausbildungsgänge als Sekundarschulzweige. Hierbei übernehmen Schulen in Bogotá, Villa Ballester/Buenos Aires, La Paz, México D.F., Montevideo, Osorno, Quito, Santiago und Säo Paulo das deutsche duale System, wobei die Ausbildungssprache im Unterricht überwiegend Deutsch, im Betrieb Spanisch bzw. Portugiesisch ist. Einen anderen gegenwärtig bedeutsamen Schwerpunkt bildet die Aus- und Fortbildung einheimischer Lehrer an Pädagogischen Instituten und Seminaren in Buenos Aires, Bogotá, Säo Paulo, San José, Filadelfia/Paraguay und Santiago im Rahmen des jeweiligen nationalen Systems unter Ausprägung bikultureller Studieninhalte und ambitionierter Zweisprachigkeit. Zur Verbesserung des Ausbildungs- und Sprachstands dieser Lehrer tragen Fortbildungsprogramme in

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der Bundesrepublik Deutschland bei, von amtlicher und privater Seite gefördert, wie dies auch bei Studienaufenthalten lateinamerikanischer Schülergruppen geschieht. Das große Ansehen, das die deutschen Schulen in den lateinamerikanischen Ländern generell genießen, beruht nicht allein auf ihrem Sozialprestige als Privatschule, sondern vor allem auf ihrer nach landesüblichen Bewertungen unterrichtlichen Leistungsstärke und ihren meist fortschrittlich wirkenden Erziehungsverfahren. Wenn die Zahl der Schulplätze hinter der aktuellen Nachfrage zurückbleibt, liegt dieses Angebotsdefizit in den Haushaltsumgrenzungen sowohl der örtlichen Schulträger als auch des Auswärtigen Amtes begründet, das zum Ausgang der 80er Jahre etwa die Hälfte der für die Kulturpolitik in Lateinamerika vorgesehenen Mittel zur Förderung der dortigen Auslandsschulen verwendete. Der heutige Betrachter der Gesamtheit der in Mittel- und Südamerika heimischen deutschen Institutionen und Schulen kann indes nicht ausschließen, daß die kommende Entwicklung zu weiteren Verlusten als Folge der Assimilation führen kann, im einzelnen vorbereitet mit den Verlockungen einer Dekorationskultur, in der das Kennwort "deutsch" zum bloßen Epitheton ornans verdirbt. Doch steht noch für die größere Zahl der Einrichtungen die Legitimation der Partikularinteressen und deren selbstbewußte Wahrnehmung nicht in Frage, auf die sich staatliches Handeln unter kulturpolitischen Zielsetzungen einstellen kann, entweder mit institutioneller Eigenständigkeit wie bei den GoetheInstituten oder mittels Einflußnahmen, die der Förderung angemessen sind, wie z.B. bei den Schulen zwecks deren stärkerer sozialer Offenheit oder deren Einbeziehung in Reformansätze des einheimischen Bildungswesens, die das eigene bikulturelle Einübungsfeld der Schüler nicht gefährden. Wer die verwickelte Geschichte der Institutionen kennt, wird gegenwärtig nicht nur ihre Vielzahl und die Weite ihrer geographischen Verstreuung im zeitgenössischen Vordergrund mit Interesse bemerken, sondern vor allem die Unverwechselbarkeit ihres dauerhaften Beitrags zu den Beziehungen und Verbindungen zwischen Iberoamerika und dem deutschen Kulturraum erkennen.

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II Lateinamerika in Deutschland

4. Der Beginn der Rezeption Lateinamerikas

Die Austauschbarkeit der Bilder Frühe Darstellungen der Neuen Welt* Helga von Kügelgen Die Unschuld des goldenen Alters (sagt er) wovon die Dichter aller Völker so reitzende Gemähide machen, ist unstreitig eine schöne Sache: aber sie ist im Grunde weder mehr noch weniger als — die Unschuld der ersten Kindheit. (Wieland 1911, 366) Wielands auf Sagen und Chronisten (wie Acosta) zurückgreifende Liebesgeschichte auf dem Hochland von Mexiko, nach der Sintflut, relativiert Ansichten und schildert Details, die mit Beginn der ersten Nachrichten aus der Neuen Welt immer wieder in Wort und Bild geäußert wurden. Primär die Ansichten über die Unschuld, das Nackte, das Wilde, die Entwicklungsfähigkeit, über den Gegensatz zwischen Kunst und Natur: Der Aufkärer bittet die Europäerinnen um Verständnis für das Betragen, für das Empfinden der Mexikanerin. Relativieren und offen für den anderen sein, das war den Journalisten und Multiplikatoren der Nachrichten über die Entdeckungen, Inbesitznahme und Eroberung nicht gegeben. Im deutschen Sprachgebiet des 16. Jahrhunderts wurde die Kunde aus den neuen Landen dank der zahlreichen Buchdrucker und Illustratoren besonders schnell verbreitet. Überliefert sind uns zwar nur Bruchteile der Druckerzeugnisse (Adams 1976 II, 530), darin überwiegen jedoch zunächst die Sensationsmeldungen.

*Klaus Kropfinger danke ich für geduldige Kritik. Das Manuskript wurde im Juni 1989 druckreif abgeliefert. Die bis Ende Dezember 1994 (dem Datum der Zusendung der Fahnen) erschienene Literatur zur Alten und Neuen Welt wurde nicht eingearbeitet. Sie hätte ohnehin keine Änderung des Textes bewirkt, denn die ikonographische Ableitung und Austauschbarkeit der Bilder ist auch in der inzwischen gedruckten Literatur so nicht dargestellt worden. Dennoch sei auf folgende Titel hingewiesen: Grafton 1992; Kügelgen 1992; Leinkauf 1993; Massing 1991; Mesenhöller 1992; Sebastián 1992.

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Der mittlerweile sattsam bekannte Einblattdruck (Abb. 1) führt Abschnitte aus der 1505 gedruckten Übersetzung des Vespucci-Briefes an Lorenzo Pedro de Medici an (Baginsky 1939; Sixl 1966). Ist der Text unter dem foliogroßen Holzschnitt aus Augsburg oder Nürnberg selbst nur ein Ausschnitt, so verengt der bislang anonyme Holzschneider noch einmal die Sicht. Der Text lautet: Dise figur anzaigt uns das volck und insel die gefunden ist durch den cristenlichen künig zu Portigal oder von seinen underthonen. Die leüt sind also nackent hübsch, braun wolgestalt von leib, ir heübter[,] halß, arm, schäm, füß, frawen und mann ain wenig mit federn bedeckt. Auch haben die mann in iren angesichten und brüst vil edel gestain. Es hat auch nyemantz nichts sunder sind alle ding gemain. Und die mann habendt weyber welche in gefallen, ca sey mutter, schwester, oder freündt, darinn haben sy nit underschayd. Sy streyten auch mit ainander. Sy essen auch ainander selbs die erschlagen werden und hencken das selbig fleisch in den rauch. Sy werden alt hundert und fünfftzig iar. Und haben kain regiment.

Abb. 1. Illustration zu Auszügen aus dem Vespucci-Brief an Lorenzo Pedro de Medici. Augsburg oder Nürnberg 1505. Holzschnitt. München: Bayerische Staatsbibliothek.

Im Bild hervorgehoben werden das Fressen und Räuchern menschlicher Gliedmaße unter einem Holzverschlag vor einer Meereskulisse mit zwei Karavellen und die mit Federn und Edelsteinen ein wenig bedeckten Leute samt Maispflanze und Waffen. Sturtevant (19761, 420) hat nachgewiesen, daß der Federschmuck, insbesondere die enduape genannte Federrosette (am Hinterteil der Frau am linken Blattrand) den Tupinambas aus Brasilien eigen war, jenen

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Menschenfressern, denen der hessische Söldner Hans Staden entrinnen und dem deutschen Publikum davon 1557 einen Bericht liefern konnte (Staden 1557). Durch wen allerdings die Feldbeobachtungen von 1505 übermittelt wurden, entzieht sich vorläufig noch unserer Kenntnis. Wie Menschenfresser darzustellen waren, dürfte den Holzschneidern geläufig gewesen sein. Sie brauchten nicht ikonographische Studien zu treiben, um festzustellen, daß in der Antike selten, im Mittelalter öfters — z.B. auf der Hereford-Weltkarte und in den Bestiarien — Antropophagen bildfest gemacht wurden. Sie hatten im frühen Buchdruck genügend Beispiele aus "Bestsellern", wie Mandevilles Reisen eines Ritters durch das gelobte Land, Indien und China (Montevilla 1483; vgl. Kügelgen 1989). Dieses schon in über dreihundert Manuskripten in verschiedenen Sprachen kursierende Reisebuch gehörte nachweislich zur Lektüre von Kolumbus. Aus ihm gewannen er und seine Zeitgenossen ihre Vorstellungen des anderen. Es fand ein Übertragungsprozeß statt, der besonders gut in der Graphik greifbar wird. Es geht auch nicht nur um Mandeville und seine vielfach illustrierten Schilderungen von wunderlichen Dingen, die auf die Neue Welt übertragen wurden, es geht nicht nur um den Kopflosen, den anthropophagen Hundsköpfigen, den Riesen, den Wilden, den Jungbrunnen und all die tatsächlich zu findenden Entsprechungen: Es geht vielmehr auch um die Triebkräfte der Übertragungen, die Voreingenommenheit, Fiktionen, Wünsche und die Tendenz, Fremdes zu parallelisieren. Briefe, Augenzeugenberichte und Chroniken waren nicht nur durch die Brille des Informanten mit seinem ihm eigenen Beobachtungssinn und/oder Vorurteil bestimmt, sondern diese wurden darüber hinaus bei der Illustrierung durch das bereits bildlich Geformte gemodelt. Hier wird weiterhin die spezifische Vorformung in einem anderen ikonographischen Bereich wirksam.

Abb. 2. Illustration zum VespucciBrief an Soderini (1509). Holzschnitt.

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So sehen wir bei einem der Holzschnitte, die die deutsche Oktavausgabe des Vespucci-Briefes an Soderini begleiten (Abb. 2) (Vespucci 1509), wie im Mittelgrund das Hackebeil über den auf einem quadratischen Block liegenden menschlichen Gliedmaßen geschwungen wird; ein Motiv aus dem Repertoire der Heiligenlegenden (Abb. 3) (Virraggio 1471; Schramm 1920, Abb. 118), das dem Holzschneider bei Johannes Grüninger in Straßburg — bei dem 1509 der auch Quatuor Navigationes genannte Brief erschien — geläufig war, das aber auch zum Fundus der Reiseliteratur gehörte (Abb. 4)'.

Abb. 3. "Sant Jacob der zerschnitten ward" (Viraggio 1471).

Abb. 4. Ein Toter, von Priestern zerstückelt (Montevilla 1483).

Die langhaarigen, nackten Gestalten im Vordergrund (Abb. 2) mit ihren Waffen (Pfeil und Bogen) werden ebenfalls — inklusive dem Pissenden rechts außen — im Vespucci-Brief beschrieben. Sie entsprechen im Typus den wilden Männern und Frauen oder Adam und Eva in den Weltchroniken, Reise- und Fabelbüchern des frühen Buchdruckes. Die bunkerartigen Hütten mit den vernuteten Streifen sind jedoch ebensowenig der Schilderung zu entnehmen wie die Hackebeilszene. Letztere ist auf der Grynaeus-Karte, Basel 1532 (Abb. 5) (Honour 1976) neben Aufhängungs-, Brat- und Röstarten menschlicher Fleischteile wiederzufinden — wie in allen Kosmographien Sebastian Münsters (Abb. 6) — und steht für Amerika, bei Münster auch für Asien (Münster 1550). Eine weitere Kannibalismusformel, die auf Portolankarten bis hin zu späten Münsterkosmographien (Abb. 7) für die Region der Neuen und Alten Welt anzutreffen ist, in denen "Leute gefressen werden", taucht als Motiv bereits in der Bebilderung des

'Montevilla 1483: In Riboch wird ein Toter von Priestern zerstückelt und Vögel tragen die Stücke hinweg. In: Schramm 1937 XX, Abb. 1178.

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sogenannten Heldenbuches auf, das bei Grüningers Zeitgenossen Johann Prüss gedruckt wurde (Abb. 8) (Heldenbuch...; Schramm 1937 II, Abb. 1399), wie in der Hölle auf dem Jüngsten Gerichts-Triptychon, das Bosch zugeschrieben wird (Abb. 9)2.

Abb. 5. Ausschnitt aus der

Grynaeus-Karte,

Basel 1532.

Traf der Kannibalismus, der nur als Bezeichnung von den Antillen stammt, für die Tupinambas zumindest zu, so sind die menschenfressenden Hundsköpfigen eine reine Phantasiegeburt aus der Neuen Welt. Kolumbus notiert schon am 4. November 1492 in seinem Tagebuch, daß er Anthropophagen und Kynozephalen gesehen habe, so daß selbst Cortés in den Instruktionen gebeten wird, darauf zu achten (Navarrete 1842, 403). Johannes Grüninger in Straßburg druckte 1525, 1527 und 1530 erneut Texte über Amerika in seinem Verlag und ließ Holzschnitte anfertigen für die Auslegung der Carta Marinei3. Die "Cartha Marina/zu tütsch die Merkart von der gantzen weit [...] ist ein beschreibung des meres sampt aller ding so darin beschlossen und begriffen werden". Sie ist eine in der Karte reduzierte Ausgabe derjenigen Waldseemüllers von 1516, aber ergänzt durch einen Kommentar des Philosophen Lorenz Fries (Binder Johnson 1974). Amerika wird in diesem Kommentar mehrfach in Bild und Wort angeführt als "new lant", als "Canibalien", als "land Prasilia". Der im Kommentar zu "Canibalia" verwendete Holzschnitt (Abb. 10), mit der Menschenfleisch anschleppenden, zerhackenden und fressenden hundsköpfigen Sippe ist

2

Detail aus der Mitteltafel des Jüngsten Gerichts-Triptychon, Wien, Galerie Akademie der Bildenden Künste. Poch (1961, 57) schreibt das Triptychon Bosch zu und datiert es vor 1490; anders Tolnay (1973, 359f.). 'Bei Fries (1972), Fol. XV (Cii) verso ist der 10 x 14 cm große Holzschnitt zu "Cannibalien" abgebildet.

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Abb. 6. Illustration zu Asien und "den neüwen Inseln" (Münster 1550, 1588, 1628).

Abb. 7. Illustration zu Asien und America (Münster 1550, 1588).

Abb. 8. "Hie kam Wolfdieterich und fant den risen seinen Schifmann braten" (Heldenbuch...).

Abb. 9. Ausschnitt aus der Mitteltafel des Jüngsten Gerichts-Triptychon, Hieronymus Bosch zugeschrieben. Wien: Akademie der Bildenden Künste.

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keine Erfindung für das "Neue Land" wie noch jüngst geschrieben wurde (Honour 1982, 24f.; Thomsen 1983, 39). Eben diese drastische Szene hatte Grüninger schon 1522 in Ptolomaeus Opus Geographiae für Asien schneiden lassen (Kügelgen 1989). Ob der Holzschneider aus der Werkstatt von Hans Baidung Grien stammt, soll hier nicht entschieden werden.4 Auf der Merkart selbst charakterisieren bereits bei Waldseemüller die nunmehr vertrauten kannibalistischen Kürzel bestimmte Gegenden der Alten und Neuen V/elt.

Abb. 10. Illustration zu Asia: Ptolomaeus. Opus Geographiae. Strassburg 1522; Illustration zu "Canibalia": Carta Marina. Strassburg 1525, 1527, 1530.

So hartnäckig wie sich das Kannibalenkürzel hält und zwischen den Kontinenten ausgetauscht wird, so auch das der Monster und Hundsköpfigen, nicht nur bei einem Humanisten wie Sebastian Münster, der selber zwar nicht daran glaubte, jedoch offensichtlich seine Leser damit füttern wollte, sondern auch bei seinem Basler Kollegen, dem Ordinarius für Grammatik und Dialektik Conrad Wolffhart, alias Lycosthenes. In seinem 1557 erschienenen Wvnderwerck oder Gottes unergründliches vorbilden (...) begleiten den bekleideten Hundskopf (Abb. 11) folgende Zeilen:

4

Binder Johnson 1974, 19, 66, 107; Kristeller 1898. Es fehlt eine kritische Studie über die Grüninger Werkstatt.

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Abb. 12. Hans Burgkmair. "Kalikutisch leut". Holzschnitt 130 aus: Triumphzug Maximilians I.

Kaiser

Abb. 13. Hans Burgkmair. "Kalikutischleut". Holzschnitt 131 aus: Triumphzug Maximilians I.

Kaiser

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Abb. 11. Illustration zur "Newgfundnen welt" (Lycosthenes 1557).

IN der Newgfundnen weit/dort gegen Mitnacht/zum Heyligen Creütz/hatt der künig uß Portugall durch sein schiffung leüth fanden/ die rauhe hundßköpff mit langen esels ohrn hattend/der mittelleyb ist mentsch/mit armen und händen /die hufft und schenckel wie ein pferd/klauwen wie ein khu Reden nit/bellen aber lauth/seind rauber/man nennt sie Baratrie/stäths füren sie krieg mit den nachbauren. Sie fressen die leuth/wo sie die ankommen/sonst gläben sie des gwilds.5

Die Austauschbarkeit der Vorstellung vom anderen erstreckte sich auch auf Kleidung, Waffen, Geräte und Pflanzen. Tupinamba-Kleidung und -Waffen sowie die Pflanze aus der Neuen Welt, den Mais, tragen im Triumphzug von Kaiser Maximilian I die "Kalikutisch leut" (Abb. 12 und 13), die Hans Burgkmair in Holz geschnitten hat (1516-1519).6 Burgkmair hat genaue ethnographische Details wiedergegeben, die Altdorfer in seinen Entwürfen für das vom Kaiser mit erarbeitete Programm für eben diesen Triumphzug im Heerestroß nicht gemalt hatte (Sturtevant 1976, 420-422; Mielke 1988, 180). Trotz der größeren Genauigkeit in der Wiedergabe bleiben die Bewohner mit Federkleidern für Burgkmair in der südwestlichen Küstenstadt Indiens wohnen, gleich wie für Jörg Breu d.Ä. die Bewohner Sumatras, als er die deutsche Ausgabe von Ludovico Varthemas Reise zu den Gewürzinseln (Augsburg 1515) illustrierte (Abb. 14) (Knefelkamp/König 1988, 59, 291). Hinrich Sieveking führt jüngst erneut als Vorbild der herrlichen DürerZeichnung im Gebetbuch Kaiser Maximilians I (Abb. 15) den Holzschnitt von Jörg Breu d.Ä. aus Varthema an (Honour 1982, 26; Sieveking 1987, XXIIIXXIV). Wo immer Dürer 1515 seinen zum Psalm 24 gehörenden Erdbewohner eingekleidet haben mag, ob bei Breu, Varthema oder einem gemeinsamen Vorbild, es bleiben brasilianische Kleidungsstücke und Federszepter. Dürer zeichnete auf fol. 41 recto einen zum Psalmtext passenden friedlichen Fremden.

'Lycothenes 1557, fols. dlx. Der Kynozephale geht sicherlich auf den Hans Burgkmair zugeschriebenen Holzschnitt zurück; s. Colin 1988, 35f., Abb. 22. Für den Hinweis auf die Dissertation danke ich Frauke Steenbock. 'Appelbaum 1964, 18f„ Holzschnitte 129-131; Quetsch 1983, 77-79; Falk 1987, 49f.

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/WPf Abb. 15. Albrecht Dürer. Zeichnung zu Psalm 24 im Gebetbuch Kaiser Maximilians I. München: Bayerische Staatsbibliothek.

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Wo er ihn seiner Vorstellung nach angesiedelt hat — in Ost- oder Westindien — ist vorläufig nicht exakt nachzuweisen, für beide Regionen lassen sich Argumente anführen (Kügelgen 1989; Sieveking 1987). Dürer zeichnete die Gestalt im Federrock fünf Jahre vor seiner schriftlich festgehaltenen Begeisterung über "[...] die dieng, die man dem könig auß dem neuen gülden land hat gebracht [...]".— "Und ich hab aber all mein lebtag nichts gesehen, das mein hercz also erfreuet hat als dise ding. Dann ich hab darin gesehen wunderliche künstliche ding und hab mich verwundert der subtilen jngenia der menschen jn frembden landen" (Rupprich 1956, 155).

Abb. 16. Christoph Weiditz, Aztekischer Jongleur aus dem Trachtenbuch (Tafel XV). Zeichnung, Aquarell. Nürnberg: Germanisches Nationalmuseum.

Das waren die Schätze, die Cortés 1519 mit sechs Indianern nach Europa geschickt und die Dürer 1520 in Brüssel ausgestellt gesehen hatte. 1528 kehrte Cortés persönlich mit einem Hofstaat nach Spanien zurück, um vor Karl V. seine Anliegen vorzutragen (Cline 1969). Die von Cortés mitgebrachten aztekischen Aristokraten und eine Gruppe von Gauklern aus Tlaxcala sah und zeichnete der Portrait-Medailleur Christoph Weiditz aus Straßburg am Hofe Karls V. 1529 in Toledo (Hampe 1927, 6, 24, Tafeln XV-XVII; Cline 1969). Die von Weiditz gezeichneten, aquarellierten und mit Inschriften versehenen Blätter sind von hohem ethnohistorischen Wert, gleichwohl dienen auch sie als Versatzstücke in der geographischen Übertragung des anderen, des Fremden. Die im Trachtenbuch festgehaltenen Jongleure beschreibt Weiditz selbst folgendermaßen (Abb. 16): "Das Ist ain Indianer, der ligt auff dem Rucken vnnd Wirfft ain Holtz auf der versten Herumb, Ist aines mans lang vnnd So schwer, hat auf der Erdt ain lötter ( = Leder) vnder Im, Ist als gros als ain kalbsvell."

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Abb. 17und 18. Christoph Weiditz, Aztekischer Jongleur aus dem Trachtenbuch (Tafel XVI). Zeichnung, Aquarell. Nürnberg: Germanisches Nationalmuseum.

Abb. 19 und 20. Anonymus "Arabischer Mor" aus dem Trachtenbuch von 1580. Aquarell. Staatliche Museen zu Berlin. Preußischer Kulturbesitz. Kunstbibliothek. Lipperheidesche Kostümbibliothek.

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Die zweite und dritte Phase des Kunststückes verlaufen laut Inschrift (Abb. 17): "Allso Würfft Er das Holtz über sich mit den fiessen." (Abb. 18): "Allso empfachtt Er Wider das holtz auf die vies, so ers auffgeworffen hat. "7 Schon Hampe stellte fest, daß Sigmundt Hagelsheimer alias Heidt in seinem zwischen 1560 und 1580 zu datierenden, unpublizierten Trachtenbuch von Weiditz die aztekischen Akrobaten übernimmt.8 Auch der Anonymus des Trachtenbuches von 1580 entlehnt von Weiditz zwei Phasen der "Holzklotznummer".9 Hier werden die aquarellierten, bislang unpublizierten, quartgroßen Blätter gleichfalls beschriftet, aber gemäß der veränderten Hautfarbe hat sich ihr Herkunftsland verlagert (Abb. 19 und 20). Der Indianer ist nun ein "Arabischer Mor". Details, die sich von denen bei Weiditz unterscheiden, werden kaum auf eine andere Vorlage zurückzuführen sein.10 Wie die Aquarelle kursierten, wissen wir nicht. Der Anonymus kannte sich in den zeitgenössischen Trachtendarstellungen aus." Wurden die Gaukler aus Tlaxcala 1580 zu arabischen Mohren, so 1596 zu Bewohnern von Cuzco (Abb. 21).

Abb. 21. Ausschnitt aus dem Stadtplan von Cuzco (de Bry, VI. Teil des Amerika-Weikes. Frankfurt 1596).

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Hampe 1927. Die aquarellierten Zeichnungen sind ca. 19,6 x 14,5 cm groß. "Heidt unpubliziert, fol. 374 recto, fol. 374 verso, fol. 375 recto. 9 Trachtenbuech... 1580, 30, 31. 26 x 18.5 cm große Aquarelle. l0 Der Anonymus kopiert sicherlich direkt von Weiditz und nicht von Heidt, die Kopf und Beinhaltung sowie die Streifen auf der Unterlage sprechen u.a. dafür; eine Antwort auf Colin 1988, 358. "Auf Seite 32 hat der Anonymus "Ain Fürnember Prasillianer" aus Jost Ammans schöner Radierung (1577) kopiert; s. The illustrated Bartch... 1985, 234.

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Auf dem Stadtplan von Cuzco, den de Bry für den sechsten Teil seines Amerika-Werkes gestochen hat, begegnen sie uns links im Vordergrund (de Bry 1596, 62 verso; Colin 1988, 275f.). Sie haben lediglich eine andere Spielhaltung eingenommen. Statt mit Kopf und Rücken auf der Matte liegend, die Arme angewinkelt unterm Gesäß und aus dieser Position heraus den Holzklotz balancierend, stehen beide jetzt Kopf auf ein und derselben Unterlage. Etwas von ihnen entfernt spielen links zwei kahlköpfige Athleten das nach dem Spielplatz tlachtli genannte aztekische Ballspiel. Die Ballspieler stammen, wiederum etwas abgewandelt — aus Weiditz' Trachtenbuch (Abb. 22). Die Inschrift schildert das Spiel:12

Abb. 22. Christoph Weiditz, Aztekische Ballspieler aus dem Trachtenbuch (Tafel XÜI-XIV). Zeichung. Aquarell. Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum.

Auf soliche manier spielen die Indianer mit ainem aufgeblassenen bal mit dem Hindern On die Hend an zu Rieren auf der Erdt, Haben auch ain hardt leder vor dem Hindern, darmit er vom bal den widerstreich Entpfacht haben auch solich lederin hentschuh an.

Der eigentliche Stadtplan von Cuzco stammt aus dem großen Reisewerk des Ramusio oder von dem Plan bei Braun/Hogenberg, der seinerseits auf Ramusio zurückgeht, bei beiden variieren die Figuren im Vordergrund.13 Im großen amerikanischen Reisewerk des Kupferstechers und Verlegers Theodor de Bry und seiner Söhne — erschienen in Frankfurt am Main 1590 bis 1632 — sind Texte und Illustrationen kompiliert und aufbereitet, die weit bis ins 18. Jahrhundert hinein das Amerikabild in ganz Europa beeinflussen sollten. Eine kritische Ausgabe des Werkes wäre dringend erforderlich! Die im Vordergrund stehende Anklage der Greueltaten der Spanier in Amerika war, wie Duviols und jüngst Duchet unterstreichen, vor allem von protestantischer Seite gesteuert.14 Es ging de Bry nicht so sehr um historische Authentizität als eben vielmehr

,2

Hampe 1927, 24, Tf. XÜI-XIV; Heidt unpubliziert, fol. 372 verso, 373 recto. ''Ramusio 1550-1556,3.Bd.; Palm 1979; Braun/Hogenberg 1572, Bd.I, 59f.; Kohl 1982, 348f. l4 Duviols 1985, 187-200; Duchet 1986. Volker Manuth verdanke ich die Angabe dieses Titels.

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darum, die Grausamkeiten der katholischen Spanier ebenso im Bild vor Augen zu führen wie die der Indianer. So erweiterte de Bry die Ikonographie der Torturen — verglichen mit seinen unmittelbaren Vorbildern, nämlich den von ihm verwendeten Texten und Illustrationen eines Hans Staden, Jean de Lery und Girolamo Benzoni — um ein beträchtliches. Nicht umsonst edierte de Bry 1598 in Frankfurt — mit Kupferstichen von Jode de Winghe — auch Las Casas' Narratio und verstärkt damit die Leyenda Negra, die Vorstellung vom durchweg unmenschlichen Verhalten der Spanier in der Neuen Welt (Las Casas 1598). De Brys Kupferstiche sind nicht zuletzt eine Antwort auf das 1587 in Antwerpen erschienene Werk gegen die Hugenotten: Richard Verstegens Theatrum crudelitatum haereticorum nostri temporis und die im Anschluß daran kursierenden Flugblätter (Duviols 1985, 191, 201). Verstegens mehrfach wieder aufgelegtes Werk behandelt [...] in vier Kapiteln in rein pamphletistischer Weise die Greueltaten von Protestanten gegen Katholiken in England, den Niederlanden und Frankreich [...] mit dem Ziel, den Haß auf die zu reinen Unmenschen und brutalen Mördern abgestempelten Hugenotten zu schüren. Der Anlaß der Publikation des Theatrum war die Hinrichtung Maria Stuarts in England (8.2.1587), die unter den exilierten englischen Katholiken, zu denen auch Verstegen zählt, große Empörung hervorgerufen hatte. (Hofmann 1983, 288)

Abb. 23. "Wie die Wilden jhre Gefangene halten/was für Ceremonien sie haben/dieselbige zuschlachtenu. zu essen" (de Bry, III. Teil des Amerika-Werkes. Frankfurt 1593).

Abb. 24. Ausschnitt aus einer Illustration zu Verstegen (1587).

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De Bry greift direkt mehrere Motive aus Verstegen auf oder wandelt sie ab wie im Kupferstich zu Teil III, Kapitel XV seines Amerika-Werkes: "Wie die Wilden jhre Gefangene halten/was für Ceremonien sie haben/dieselbige zuschlachten und zu essen [...]" (Abb. 23). Im Vordergrund rechts wird einem auf dem Bauch liegenden Gefangenem nicht nur von einer knieenden nackten Frau der Rücken aufgeschnitten — eine öfter in de Brys Quellen zu findende Handlung — wobei ihr zwei Hockende behilflich sind, sondern eine vierte, nur mit einer Kette bekleidete Frau schiebt dem Gefangenen einen Stab in den Anus. Dieses "Pfählmotiv" ist weder im Text noch in den Illustrationen bei Lery oder Staden belegt (de Bry 1593, 195; Colin 1988, 263). Es ist dem Motiv des über ein Seil Ziehens in Verstegens Werk (Abb. 24) sehr verwandt (Verstegen 1587; Lestringant 1986, 94). Die übrigen Figuren bei de Bry (Abb. 23) beweinen links im Mittelgrund einen Toten und umkreisen und bewachen den in der Mitte stehenden nackten, bärtigen Europäer (Duchet 1986, 33f.). Derselbe Stich bei Verstegen (Abb. 24) zeigt im Hintergrund an Pfähle gebundene, nur mit Hosen bekleidete Opfer der Hugenotten, die bei lebendigem Leibe verbrannt werden, beaufsichtigt von drei rechts stehenden Bewaffneten. Stehen die Opfer hier noch nebeneinander an den lodernden Pfählen, so sind sie in de Brys Las CasasAusgabe (Abb. 25) schon kreisförmig angeordnet, das Feuer lodert hell und das Wach- und Feuerschürpersonal — nun auf beiden Seiten — ist näher gerückt. Der Las Casas-Text kommentiert: "Spanier lassen die Indianische Herrn lebendig verbrennen"15.

Abb. 25. "Spanier lassen die Indianische Herrn verbrennen" (Las Casas 1613; Cloppenburg 1620).

"Las Casas 1613, 52f. Kupferstichgröße: 10,8 x 14,8 cm. Derselbe Stich ist zu finden in Cloppenburg 1620; vgl. Held 1985, 81.

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Der Übertragungsvorgang, die Austauschbarkeit der Bilder fand auf verschiedenen Ebenen statt. Weit entfernte geographische Zonen standen durch konvertible ikonographische Motive plötzlich nebeneinander — zumeist freilich noch ohne die Intention des Vergleichs, sondern eher wegen des geschäftigen Umgangs mit verfügbaren Bildprägungen. Bewußt konvertibel wurde die ikonograpische Bildmünze indes da, wo sie gezielt zur wechselseitigen Brandmarkung und Verteufelung im Schlagabtausch der religiösen Überzeugungen eingesetzt wurde. Freilich werden die hier präsentierten weiterwirkenden Beispiele aus dem deutschsprachigen Bereich durch andere ergänzt. Die Neue Welt war nicht allein Ort des Monströsen, Ungewöhnlichen und Grausamen, sondern ebenso Ort der außergewöhnlichen Städte und Kulturen. Diese Vorstellung klingt schon im zweiten Brief Cortés' an. Das Echo hiervon pflanzte sich fort in den Stadtplänen und Stadtansichten (Abb. 21) (Budde 1982, 173-182) wie auch in den Kunst- und Wunderkammern, wo die mannigfaltigsten Objekte, vorspanische eingeschlossen, gesammelt wurden (Heikamp 1982, 126146; Feest 1985, 237-244). Eine Parallelisierung besonderer Qualität, die bis in die Tourismus-Prospekte unserer Tage hinein weiterwirkt, findet sich in den vergleichenden Studien des Jesuiten Athanasius Kircher, dem überragenden Gelehrten aus der Umgebung von Fulda. Im ersten und dritten Band seines 1652-1654 erschienenen Werkes Oedipus Aegyptiacus widmet er je ein Kapitel der mexikanischen Religion und Schrift, die Parallelen zur ägyptischen habe.16 So bringt Kircher zwei Abbildungen, die eines Tempels (Abb. 26) und die eines mexikanischen Götzenbildes (Abb. 27). Der "amerikanische[r] Tempel des Gottes Horcholivos" ist — im fünfstufigen Aufbau mit der seitlichen Treppenführung und den Doppeltürmen auf der obersten Plattform — der großen Reisekompilation des Giovanni Battista Ramusio, leicht abgeändert entnommen (Abb. 28) (Ramusio 1606, 256 verso). Ramusios Illustration zum Bericht des sogenannten anonymen Eroberers, einem Begleiter von Cortés, soll eine Pyramide in Tenochtitlan darstellen. Der Text des Anonymus — nur durch Ramusio überliefert — wurde falsch ins Bild umgesetzt, dennoch hat sich diese mißverstandene Ansicht eines aztekischen Tempels weit über das Jahrhundert Kirchers hinaus gehalten (Bustamante 1986). Kircher kopiert aber nicht allein variierend den Holzschnitt zum Tempel, sondern weitgehend auch den Text des Anonymus und gibt ihn als Cortés-Text aus. Die Verballhornung des Namens ihres "Hauptgottes", Huitzilopochtli, beginnt schon beim Anonymus: Kircher (Abb. 26) stellt ihn mit Schild und Zepter auf einem Thron sitzend, nicht im Tempelturm, wie der Text lautet, sondern außerhalb auf der Horizontlinie des welligen Geländes dar, die knieenden Figuren rechts und links am Rande opfern mit ausgebreiteten Armen das frische Blut der gerade herausgeschnittenen Herzen Sonne und Mond. Ausdrück-

"Kircher 1652, 4 1 7 - 4 2 4 ; 1654, 2 8 - 3 6 . Über Kircher s. zuletzt Leospo 1989, 5 8 - 7 1 , 3 9 1 - 3 9 4 ; Leinkauf 1993.

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Abb. 27. Mexikanischer Götze "Chuvenil" (Kircher 1652).

Abb. 29. 20 Tageszeichen, Hirsch, aus: Codex Vaticanus Nr. 3773, 96. Rom: Vatikanische Bibliothek.

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lieh weist Kircher auf die Vergleichbarkeit der Pyramidenform bei den Ägyptern und "Amerikanern" hin, ferner auf den zu vergleichenden Phallus- und Götzenkult sowie die "Hieroglyphen" in diesen Kulturen. Als Quelle seines Götzenbildes nennt er "ein mexikanisches Buch in der Bibliothek des Vatikan" (Abb. 29). Tatsächlich stammt der grob umrissene breitbeinig und mit erhobenen Armen in die Fläche geklappte mexikanische Götze "Chuvenil" (Abb. 27) aus dem Codex Vaticanus Bn. Daß Kircher den Gott aus dem tonalpohualli, dem 260 Tage übergreifenden Wahrsagekalender, dem Hauptinhalt dieses vorspanischen Codex, verkehrt bezeichnet und charakterisiert, verwundert nicht. Erst Eduard Seier gelang es 1902, die Zeichen dieses Bildes zu analysieren und den gesamten Codex zu kommentieren (Seier 1902; Nowotny 1961, 205-214). Die Hieroglyphen der Ägypter stuft Kircher weit höher ein als die Schriftzeichen der Azteken, deren echten Geheimcharakter er negiert (Kircher 1654, 28-36; Keen 1971, 207f.). Aufschlußreich ist die von Kircher postulierte "Affinität", sind die "Parallelen": er postuliert keine Abhängigkeit, wie so manche Diffusionistendes 19. und 20. Jahrhunderts (Keen 1971, 347f.). Immerhin, mit Kircher öffnet sich die Bewertungsperspektive für den deutschsprachigen Bereich, wenn auch das Verständnis für den anderen, das Wieland anspricht, trotz Alexander von Humboldt und einer ihm vielfältig verpflichteten, breitgefacherten Forschung noch heute seiner tätigen und umfassenden, seiner eigentlichen Umsetzung harrt.

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Lateinamerika im Bild Die deutschen Maler und Zeichner Renate Löschner

Das von europäischen Naturforschern, Künstlern und Reisenden im Laufe der Jahrhunderte fixierte Lateinamerikabild ist facettenreich — so bunt und schillernd wie der Kontinent. Deutsche Maler und Zeichner haben dabei schon bald nach der Konquista eine wesentliche Rolle gespielt. Einigen von ihnen fiel später dank Alexander von Humboldt eine Schlüsselposition zu. Sein Einfluß wirkte bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein bahnbrechend. Fast alle zwischen 1810 — dem Erscheinungsjahr seines Bildwerkes Vues des Cordillères — und 1860 — ein Jahr nach Humboldts Tod — entstandenen Gemälde, Aquarelle und Zeichnungen gehen in Motiven und gedanklicher Anregung auf Humboldt zurück. Nur wenig authentisches Material bestimmte die frühen Amerikadarstellungen. Ausnahmen waren die Kostümstudien von Christoph Weiditz aus Augsburg, der wohl im Jahre 1529 Indianer in der Gefolgschaft von Cortés am Hofe Karls V. gesehen und skizziert hatte. Mit seinem Trachtenbuch fanden diese Motive Verbreitung und regten zur Nachahmung an. Außerdem orientierte man sich an den Holzschnitten in der 1557 herausgegebenen Reiseschilderung des deutschen Landsknechtes Hans Staden. Girolamo Benzoni gab 1565 seiner Historia del Mondo Nuovo Motive aus Amerika bei. Vor allem diesen drei Werken entnahmen der einflußreiche Frankfurter Verleger Theodor de Bry und seine Söhne ab 1590 Anregungen für ihre Kupferstiche, die formalästhetisch europäischen Stilrichtungen angepaßt waren und bis weit in das 18. Jahrhundert hinein das Amerikabild beeinflußten. Das Hauptinteresse galt den Eingeborenen und ihren Sitten und Gebräuchen. Dabei spielten europäische Vorstellungen von "Barbaren" eine Rolle. Man verinnerlichte Stadens Buchtitel, und die Phantasie entzündete sich an den "wilden, nacketen, grimmigen Menschenfresserleuten" (Staden 1557). Die exotische Landschaft bot meist nur einen schmückenden Rahmen. Sie spielte in der europäischen Malerei kaum eine Rolle. Einige Blüten und Blätter tropischer Pflanzen identifizierte Humboldt in Stilleben von Jan Brueghel d.Ä. Beispiele für frühe realistische Amerikadarstellungen gab es im 17. Jahrhundert mit den brasilianischen Landschafts- und Indianerbildern von Frans Post und Albert van der Eeckhout. Ihre Werke boten künstlerische Anregungen neben de Brys Darstellungen. Dennoch blieb die tropische Wirklichkeit in ihrer Vielfalt unbekannt. Noch zu Humboldts Zeit war die orientalische Dattelpalme in stark stilisierter Form der Prototyp für Palmendarstellungen in der bildenden Kunst. Erst nachdem La Condamine 1735 seine Südamerikaexpedition im Auftrag der

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spanischen Krone begonnen und für diesen Subkontinent die Epoche wissenschaftlicher Reisen eingeleitet hatte, richtete sich der Blick der Europäer verstärkt auf die Tropenlandschaft. Getreue, kunstvolle Naturstudien wurden angefertigt, wie etwa die Pflanzenbilder von der botanischen Expedition ab 1783 im Vizekönigreich Neu-Granada unter dem Spanier José Celestino Mutis. Diese Studien blieben damals aber unveröffentlicht. Tropische Landschaftsbilder fanden erst mit den von Humboldt initiierten künstlerisch-physiognomischen Naturbildern Verbreitung. Grundlage war Humboldts Erleben der tropischen Landschaft und sein Verlangen, dies in künstlerischen Darstellungen verwirklicht zu sehen. Eigene zeichnerische Befähigung ließ ihn erste Schritte in dieser Richtung tun. Im Verlauf seiner großen Forschungsreise 1799 bis 1804 hielt er — landeskundliche Untersuchungen ergänzend — Berge, Pflanzen und Tiere in Skizzen fest. Es waren Momentaufnahmen, oft mit Randnotizen versehen. Zur graphischen Reproduktion waren diese Studien so nicht geeignet. Daher suchte Humboldt zur Illustration seiner Werke in Europa nach fähigen Zeichnern. Die Landschaftstafeln in den Vues des Cordillères stellten ein besonderes Problem dar: Es gab keine tropenkundigen Maler, denen die abzubildenden Motive oder ähnliche Natureindrücke aus eigener Anschauung bekannt waren. Humboldt wählte daher die Illustratoren nach ihren stilistischen Besonderheiten aus. So ließ er zum Beispiel die Felsen von Icononzo und Inti-Guaicu, den Wasserfall des Rio Vinagre und die Andenkulisse am Quindio-Paß bei Ibagué in Kolumbien von Joseph Anton Koch zeichnen, dem Meister heroischer Landschaften. Eine ästhetische Überhöhung im Stile Kochs stand nicht im Widerspruch zum monumentalen Eindruck, den diese Gegenden auf den Reisenden machen. Da man um 1810 im allgemeinen für freie Landschaftsauffassung noch kein Verständnis hatte, war Humboldt mit seinem Vorschlag, "hochbegabte" Maler in ferne Regionen reisen und vor Ort exotische Motive darstellen zu lassen, der Zeit voraus. In seiner Schrift Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse (1806) und im zweiten Band des Kosmos (1847) hat Humboldt ausführlich darüber geschrieben. Ihm war die künstlerische Darstellung der Tropennatur zeitlebens ein Anliegen. Standen dabei auch wissenschaftliche Erkenntnisziele im Vordergrund — der Künstler sollte dem Naturforscher bei der Erschließung ferner Erdregionen zuarbeiten —, so hoffte er gleichzeitig, der europäischen Malerei damit Anregungen zu geben. Die Auseinandersetzung mit der Landschaft und den Gestalten der Natur war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts für viele Künstler wichtig. Das gilt besonders für die deutschen Romantiker. Carus hatte Humboldts Ansichten der Natur (1808) ausgewertet, die als eigenes Kapitel die "Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse" enthalten, und sich in seiner Publikation Briefe über Landschaftsmalerei (1835) ausführlich zur Physiognomie der Gebirge geäußert. Wie Goethe empfahl er den Malern gründliches Naturstudium. Während das wissenschaftliche Bemühen für beide aber eine Voraussetzung war, um

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künstlerische Absichten zu verwirklichen, ging es Humboldt um die Verwissenschaftlichung der Kunst. Mit Goethe übereinstimmend, forderte Humboldt eine ganzheitliche Sichtweise der Natur. In Bildern sollte das Zusammenwirken der Naturerscheinungen ablesbar sein. Vegetationsbedingungen und klimatische Voraussetzungen waren zu berücksichtigen. Das Typische einer Gegend, die Physiognomie einer Landschaft, sollten herausgestellt werden. Nach Humboldts Beobachtungen waren Gebirgssilhouetten ebenso landschaftsprägend wie Pflanzen, die durch massenhaftes oder isoliertes Auftreten "Fülle und Mannigfaltigkeit" oder "Armut und Einförmigkeit" einer Region kennzeichnen. Auch die individuelle Pflanzengestalt spielte dabei eine wichtige Rolle. Tiefer in diese Zusammenhänge eindringend, suchte Humboldt in Übereinstimmung mit Goethes Gedanken zur Morphologie unter den vielfältigen Gewächsen der Erde nach gewissen "Urformen". Darunter verstand er Pflanzen, die das Wesentliche, Gesetzmäßige einer Gruppe verkörpern und darüber hinaus in der Landschaft eine dominierende Rolle spielten. Er bestimmte zunächst siebzehn, später neunzehn Formen, darunter Palmen, Pisang, Farne, Orchideen, Kakteen und Mimosen, von denen ihm die meisten in den artenreichen Wäldern Südamerikas aufgefallen waren. Auf die Wiedergabe solcher Haupttypen sollten sich die Maler konzentrieren und in den Bildern Wuchs und Gestalt der Pflanze herausarbeiten. Pflanzenkollektive waren nach Humboldts Vorgaben stets so darzustellen, daß sie über den Lokaleindruck hinaus bestimmte Klimate zeigten, wie den Regenwald, die Savanne, die Páramos usw. Die wissenschaftliche Grundlage hierfür erläuterte Humboldt in seiner Schrift Ideen zu einer Geographie der Pflanzen. Darin wird der Pflanzenwuchs nach typischen Gemeinschaften gegliedert und der Nachweis erbracht, daß sich auf Gebirgshängen in den Tropen Wachstumszonen überlagern, wie sie sich ebenfalls vom Äquator aus in Polarrichtung über die Erde ausbreiten. Auch diese Überlegungen beruhen auf den von Goethe entwickelten morphologischen Prinzipien. Bildlicher Ausdruck der Ideen zu einer Geographie der Pflanzen ist das berühmte Naturgemälde der Tropenländer, das Humboldt am Fuße der Vulkane Cotopaxi und Chimborazo in der Real Audiencia de Quito entworfen hatte. Die danach detailliert ausgeführte Tafel zeigt einen Schnitt durch die hohen Anden mit den beiden Vulkanen. Da hier vom Tiefland bis in die Regionen des Schnees unendlich viele Pflanzen wuchsen, konnte Humboldt ihre wichtigsten Gruppen in den Massiven schriftlich markieren. Er schloß die Fauna in seine Untersuchungen ein und andere Faktoren, die das Leben auf der Erde beeinflussen. Die von Humboldt angeregten künstlerisch-physiognomischen Naturbilder stellen in der Malerei des 19. Jahrhunderts etwas Besonderes, Eigenständiges dar. Es ist Humboldts Verdienst, daß künstlerische Gesichtspunkte damals die Konzeption wissenschaftlicher Reisewerke bestimmten. Vorbild für diese Publikationen waren seine schon erwähnten Vues des Cordillères mit den Abbildungen altindianischer Kulturzeugnisse, den Landschaftsbildern, der Ansicht von México D.F. und den Trachtenstudien. Kunstvoll illustrierte Reisewerke

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krönen die Unternehmungen malender und zeichnender Forscher. Nach der Unabhängigkeit der lateinamerikanischen Länder wurden bedeutende Expeditionen unternommen. Schon 1815 bis 1817 reiste Maximilian Prinz zu WiedNeuwied in Brasilien. Zehn Jahre später begann Eduard Poeppig seine Expedition durch Chile, Peru und auf dem Amazonas. Chamisso, Choris und Kittlitz nahmen an Weltumseglungen teil. Martius und Ender, die 1817 die österreichische Erzherzogin Leopoldine nach Rio de Janeiro begleiteten, blieben fast zwei Jahre in offizieller Mission in Brasilien. Die Forscher richteten das Augenmerk auf Motive, die jeweils in ihr Interessengebiet fielen. Poeppig, Martius und Kittlitz ging es um die Landschaft. Immer mußte eine angemessene Form für die künstlerische Niederschrift der Natureindrücke gefunden werden. Als ausgebildeter Landschaftsmaler hielt Ender in Brasilien Impressionen fest, die Claude Lorrain als künstlerisches Vorbild nicht verleugnen. Für Bilder, die den tropischen Regenwald darstellen, kristallisierte sich ein festes Kompositionsschema heraus, das in niederländischer Tradition wurzelt und auf Roelant Savery zurückgeht. Quelle unmittelbarer Anregung dafür war im 19. Jahrhundert der berühmte Kupferstich vom brasilianischen Urwald, 1822 von Fortier nach einem Aquarell des Grafen Clarac gestochen. Ein hoher Repoussoirbaum mit Brettwurzeln und ein schräg in den Bildraum hineinführender Fluß, überbrückt von einem Baumstamm, gehörte seitdem zum ikonographischen Repertoire für Urwaldansichten. Man fand auch Gefallen an der einheimischen Bevölkerung, malte und zeichnete Indianer und Neger. Maximilian zu Wied richtete sein Hauptaugenmerk auf die Eingeborenenstämme. Außerdem hat er andere Motive, oft in eigenwilliger, origineller Darstellungsweise fixiert. Die aus heutiger Sicht so lebendigen Darstellungen berücksichtigen keine akademischen Gestaltungsprinzipien. Daraus ergaben sich Probleme bei der künstlerischen Umsetzung. Dies ist an Wieds Werk gut nachweisbar, da der Vergleich mit seinen Originalstudien möglich ist. Ein Widerspruch zwischen Vorlage und Reproduktion offenbart sich in den meisten frühen Reisewerken. Sogar in der vollendet konzipierten Voyage pittoresque dans le Brésil (1835) von Rugendas haben Zeitgenossen im Detail einige Unrichtigkeiten von der Hand der Lithographen bemängelt. Zutreffende Beobachtungen gingen verloren, weil man die Motive dem geltenden Kunstgeschmack anglich. Bei figürlichen Szenen wurde häufig ein Attribut herausgestellt, um dem Abgebildeten eine aus europäischer Sicht typische Note zu geben. Gesichts- und Körperbemalungen der Eingeborenen wurden verändert oder weggelassen. So bildete man Indianer in vielen Büchern als "schöne Wilde" ab. In Haltung und Körperbau klassizistischen Schönheitsvorstellungen nachempfunden, stehen sie in malerischer, realitätsfremder Urwaldkulisse, die gewiß Vorstellungen von einem "tropischen Arkadien" aufkommen ließen und damit dem Empfinden der Zeit entsprachen. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts hing man in Europa einem romantisch verbrämten Klischee von Amerika nach, zu dem Chateaubriand mit seinen Indianergeschichten aus dem Mississippi-Gebiet, besonders mit Atala (1801), und Bernardin de

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Saint-Pierre mit der von Humboldt so anerkennend erwähnten Erzählung Paul et Virginie (1787) wesentlich beigetragen haben. Der erste deutsche Maler, der lateinamerikanische Motive unvoreingenommen wiedergegeben hat, war Johann Moritz Rugendas aus Augsburg. Humboldt fand durch ihn seine Erwartungen voll erfüllt und bezeichnete ihn später als den "Urheber wie Vater aller Kunst in der Darstellung der Physiognomie der Natur"1. Rugendas hatte in München eine gründliche künstlerische Ausbildung erhalten und trotz akademischer Unterweisung den Blick für unkonventionelle Wiedergabe nicht verloren. Nur die Wirklichkeit war für ihn maßgeblich, als er sich 1821 bis 1824 zunächst als vertraglich gebundener wissenschaftlicher Zeichner, dann als freier Künstler in Brasilien aufhielt. Sein mit 100 lithographierten Tafeln illustriertes Reisewerk belegt, was er gesehen und als darstellungswürdig empfunden hatte. Rugendas unterschied nach Landschaften, Genreszenen, Kostümstudien, Motiven aus dem Leben der Indianer und der Schwarzen sowie nach Bevölkerungsphysiognomien. Daß er dieses Werk herausgeben konnte, hatte Humboldt persönlich bewirkt. Die beiden waren sich 1824 in Paris erstmals begegnet, und ihrer künstlerisch-wissenschaftlichen Zusammenarbeit hat Lateinamerika die schönsten Bilder aus dem 19. Jahrhundert zu verdanken. Humboldt hat Rugendas auf die Darstellung der Tropennatur gelenkt. Endlich gab es einen Maler, der in seinem Sinne "mit der ursprünglichen Frische eines reinen jugendlichen Gemüthes" (Humboldt 1847, 87) die Vielfalt der tropischen Natur im Bilde darzustellen vermochte. Rugendas schuf seine überzeugendsten Arbeiten während seiner zweiten Amerikareise, die ihn 1831 bis 1834 nach Mexiko und anschließend — bis 1847 — nach Chile, Peru, Bolivien, Argentinien, Uruguay und Brasilien führte. Am Werk von Rugendas läßt sich feststellen, was Humboldt anstrebte, als er an die Verschmelzung von Wissenschaft und Kunst dachte. Mit farbenprächtigen Ölstudien, die er auf Karton gemalt hat, ist Rugendas in den Kreis der besten Freilichtmaler der Zeit einzuordnen. In seiner Landschaftsauffassung spiegeln sich französische und englische Einflüsse wider. So verweisen die genaue Wiedergabe des unmittelbaren Natureindrucks und die Klarheit des Lichtes in vielen seiner Skizzen auf Corots italienische Studien; wie Bonington und Constable das Licht, die Luft und die Frische der Natur malten, gab auch Rugendas das Saftige der Vegetation und die von Licht und Nässe durchtränkte Landschaft wieder. In satten Grüntönen gemalte Impressionen erinnern an frühe Ölstudien Turners. In Deutschland steht Karl Blechen mit seinen malerischen Skizzen dieser Auffassung am nächsten.

'Humboldt an Rugendas vom 20. Juli 1855. In: Richert 1959, 70.

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Rugendas betonte, daß ihn bei seiner künstlerischen Arbeit nicht geniale Absichten, sondern "Liebe und Enthusiasmus für die Wissenschaft" leiteten2. Wie Humboldt es ihn gelehrt hatte, machte er in seinen Darstellungen das "Naturgesetzliche" deutlich. Zusammenhänge in der Landschaft wie wachstumsmäßige und klimatische Voraussetzungen sind in seinen Bildern ablesbar, geologische Strukturen sind erkennbar, Berge werden naturgetreu konturiert. Auf Gebirgshängen sind Wachstumsgrenzen, Schneelinie und Gipfelregion angedeutet. Pflanzenkollektive kennzeichnen in seinen Bildern stets ein bestimmtes Klima. So lassen sich die von ihm wiedergegebenen mexikanischen Hochtäler nur durch markante Berggipfel topographisch eindeutig bestimmen. Gleichzeitig charakterisieren sie die Eigenart aller Hochflächen im entsprechenden Klimabereich. Mit der Farbe stellte Rugendas landschaftliche Eigentümlichkeiten heraus. Die Kahlheit einer Gegend unterstrich er durch kalte, das Sonnendurchglühte einer Region durch besonders warme Farbtöne. Seine Landschaftsbilder haben so hohen wissenschaftlichen Aussagewert, daß Martius sich bei seinen botanischen Studien auch daran orientierte und einige Bilder als Illustrationen für seine botanischen Werke übernahm. Abbildungen von Rugendas finden sich im Werk von Carl Christian Sartorius über Mexiko (1856) und in der Historia fisica y politica de Chile (1866), die Claude Gay erarbeitet hat. Drei anderen in Berlin ansässigen Malern hat Humboldt ebenfalls beratend und fördernd zur Seite gestanden. Es waren Ferdinand Bellermann, Albert Berg und Eduard Hildebrandt, förderen Schaffen die Darstellung Lateinamerikas ebenfalls von großer Bedeutung war. Bellermann bereiste auf Betreiben von Humboldt und mit finanzieller Unterstützung des preußischen Königs 1842 bis 184S Venezuela. Er ging als "Urwaldmaler" in die Kunstgeschichte ein. Die Auseinandersetzung mit der tropischen Vegetation stand für ihn im Vordergrund. Sensibilität für die freie Natur hatte wohl hauptsächlich sein Lehrer Karl Blechen in ihm geweckt. In Venezuela profitierte Bellermann von der Sachkenntnis des deutschen Botanikers Karl Moritz, in dessen Gesellschaft er landeskundliche Expeditionen unternahm. So gingen Kunst und Wissenschaft auch in Bellermanns südamerikanischen Landschaftsdarstellungen eine glückliche Synthese ein. Mit zarten Lasuren arbeitete er auf der Leinwand die natürlichen Farben der Landschaft vielfach abgestuft heraus. Wild verwachsene Baumriesen und reißende Urwaldströme verweisen auf Ruisdael und Everdingen als künstlerische Vorbilder. Während seine Gemälde oft zu konventioneller Schönheit tendieren, sind die malerischen Ölskizzen Ausdruck des unmittelbaren künsderischen Erlebnisses. Seine routiniert ausgeführten Landschafts- und Vegetationszeichnungen stehen wissenschaftlichen Illustrationen an Aussagefähigkeit nicht

'Rugendas an Johann Friedrich von Cotta vom 20. Februar 1831. In: Löschner 1976, 184.

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nach. Dabei sind die Motive so überzeugend nachempfunden und mit sicherer Linienführung konturiert, daß sie auch als Kunstwerke zu werten sind. Ein Musterbeispiel für die Darstellung von Pflanzenarealen ist die Physiognomie der tropischen Vegetation Süd-America's (1854) von Albert Berg. Er reiste 1849/50 auf Humboldts Wegen in Kolumbien. Am Rio Magdalena und in den Anden fertigte er Zeichnungen und Aquarelle an. Eine Auswahl der feinen Skizzen wurde später für sein erwähntes Tafelwerk zusammengestellt. Vor der Drucklegung hatte Humboldt empfohlen, die Originale möglichst unverändert wiederzugeben. Alles, was man später aus der Erinnerung hinzufüge, raube einer Zeichnung etwas von ihrer Lebendigkeit. Die Ausarbeitung einer Studie sollte möglichst gleich an Ort und Stelle erfolgen. Ratschläge anderer Art, wiederum ganz auf die Befähigung des Künstlers ausgericht, erteilte Humboldt dem meisterhaften Aquarellisten und Koloristen Eduard Hildebrandt. Ihn wies er auf die Lichtphänomene in der Tropennatur hin. Außerdem vermittelte er ihm eine Auftragsarbeit für den preußischen König, die in Brasilien auszuführen war. Dort sollte Hildebrandt eine Küstenansicht von Rio de Janeiro malen. Das Bild war als Geschenk für Prinz Adalbert gedacht, der 1843 nach längerem Brasilienaufenthalt mit reich gefüllter Skizzenmappe nach Europa zurückgekehrt war. Hildebrandt zeichnete und aquarellierte von 1844 bis 1845 vor allem in und um Rio de Janeiro. In später ausgeführten Atelier-Gemälden hielt er die durch atmosphärische Einwirkungen hervorgerufenen farblichen Veränderungen in der Landschaft fest. Hildebrandt arbeitete auch als Illustrator für Humboldt. Er zeichnete nach fremder Vorlage für dessen Atlas zu den Kleineren Schriften eine Ansicht des Pico de Orizaba in Mexiko und nach einer Skizze von Humboldt die Berge von Illiniza in Ecuador. Da es bis in die späten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts hinein wohl keinen Lateinamerikareisenden gab, der nicht über Humboldt persönlich oder sein wissenschaftliches Werk Zugang zu diesem Kontinent gefunden hätte, soll noch einiger herausragender Persönlichkeiten gedacht werden, deren Arbeiten zu den Glanzpunkten der amerikanischen Ikonographie zählen. Dazu gehören Carlos Nebel und Graf Waldeck, die sich in Mexiko hauptsächlich um die Darstellung altamerikanischer Baudenkmäler verdient gemacht haben. Nebel hat viele dieser Ruinen vermessen, bevor er sie gezeichnet hat. Darunter befindet sich die Hauptpyramide von Xochicalco und die Nischenpyramide von El Tajin. Daß der Künstler dabei dem landschaftlichen Umfeld Beachtung geschenkt hat, hob Humboldt im Vorwort zu Nebels Reisewerk lobend hervor. Nebels Voyage pittoresque et archéologique dans la partie la plus intéressante du Mexique kam 1836 in Paris heraus. Dieses Werk trug besonders zum Bekanntwerden der vorkolumbischen Kulturen in Europa bei. Das gleiche gilt für die zwei Jahre später — 1838 — herausgegebene Voyage pittoresque et archéologique von Graf Waldeck. Er hat vorspanische Ruinenstätten in den mexikanischen Bundesstaaten Yucatán und Chiapas erforscht.

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Otto Grashof hatte Humboldt in Berlin persönlich kennengelernt, bevor er nach Südamerika ging. 1852 bis 1857 reiste er durch Uruguay, Argentinien, Chile und Brasilien. Er fertigte Bleistiftskizzen und Aquarelle sowie eine Anzahl von Ölgemälden an. Dabei demonstrierte er vorbildlich die auf das Detail gerichtete Malweise der Düsseldorfer Akademie. Grashof ist in Rio de Janeiro mit den Brüdern Franz und Ferdinand Keller zusammengetroffen. Beide haben in Urwaldregionen am Amazonas und am Rio Madeira gezeichnet. Ferdinand Keller wertete sein Südamerikaerlebnis noch Jahre später für einige großformatige Atelierbilder aus, darunter zeigt ein Gemälde Humboldt am Orinoko. Franz Keller-Leuzinger brachte 1874 Skizzen und Beschreibungen "aus dem Tagebuche einer Explorationsreise" heraus. Zu Beginn der fünfziger Jahre hatte sich auch der Naturforscher Hermann Burmeister erstmals nach Südamerika begeben. Die ihn interessierenden Motive hielt er in routiniert ausgeführten Zeichnungen fest. Eine Auswahl erschien unter dem Titel Landschaftliche Bilder und Portraits einiger Urvölker. Außerdem gab er 1856 ein reich illustriertes Werk zur Fauna Brasiliens heraus, das den zehn Jahre zuvor erschienenen Untersuchungen über die Fauna peruana von Johann Jacob von Tschudi ebenbürtig zur Seite steht. Etwas später, 1866, reiste Anton Goering im Auftrag des Britischen Museums nach Venezuela. Seine Landschaiitsaquarelle können als letzter Höhepunkt der von Humboldt angeregten künstlerisch-physiognomischen Bilder angesehen werden. Nachfolgende Generationen zog es verstärkt in andere Regionen der Erde. In Europa rückten Afrika und Indien mehr in den Blickpunkt des allgemeinen Interesses. Nur bisweilen wurden lateinamerikanische Motive aufgenommen. Der Berliner Marinemaler Carl Saltzmann reiste 1878 als künstlerischer Illustrator im Gefolge von Prinz Heinrich von Preußen um die Welt. Eine Ansicht von Acapulco und einige Bilder von der chilenischen Küste dokumentieren die Berührung mit Lateinamerika. Die exotische Landschaft war nun keine Sensation mehr. Sie wurde kaum noch um ihrer selbst willen dargestellt, sondern diente wieder häufiger als Kulisse. Wo keine wissenschaftlichen Absichten für die Reiseillustrationen existierten, gewannen anekdotenhafte Aspekte die Oberhand, wie in vielen von Theodor Ohlsen in Chile angefertigten Bildern. Wissenschafdiche Amerika-Illustrationen konzentrierten sich nun immer mehr auf Spezialgebiete. Wilhelm von den Steinen, Absolvent der Düsseldorfer Akademie, begleitete seinen Vetter Karl von den Steinen noch als "künstlerischer Berichterstatter" zu den Naturvölkern Brasiliens. Wilhelm Kuhnert, ein Schüler Bellermanns, zeichnete 1896 südamerikanische Eingeborenenporträts für Paul Ehrenreichs Anthropologische Studien nach fotografischen Vorlagen. Bald sollte die Fotografie die Bilder von Künstlerhand verdrängen. Viele Amerikadarstellungen aus dem 19. Jahrhundert sind verloren gegangen, die Namen der Künstler sind in Vergessenheit geraten. So wissen wir wenig

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über das Werk des Dresdner Malers Wilhelm Heine, der um 1850 den Diplomaten und Altertumsforscher Ephraim Squier auf seinen Reisen in Lateinamerika "aus Liebe zur Kunst und aus Freude an wissenschaftlichen Forschungen" (Heine 1857, 45) begleitete. Der Maler Robert Krause hat fünf Jahre in Chile, Peru und Bolivien gelebt und mehrere Exkursionen gemeinsam mit Rugendas unternommen. Seine Bilder sind bislang nicht auffindbar. Die als verschollen geltenden Brasilienbilder von Bernhard Wiegandt, bekannt aus Abbildungen im Reisewerk von Prinzessin Therese von Bayern, wurden dagegen kürzlich wiederentdeckt. Heute wächst das Interesse an solchen Darstellungen. Das künstlerisch gestaltete Amerikabild vergangener Zeiten erfahrt neue Deutungen und hohe Aufwertung.

Bibliographie Berg, Albert. 1854. Physiognomie der tropischen Vegetation Süd-America's; dargestellt durch eine Reihe von Ansichten aus den Urwäldern am Magdalenenstrome und den Anden von Neu-Granada, nebst dem Bruchstück eines Briefes von Alexander von Humboldt an den Verfasser, und einer Vorrede von Friedr. Klotzsch. Düsseldorf. Choris, Louis. 1820. Voyage pittoresque autour du monde, avec des portraits de sauvages d'Amérique, d'Asie, d'Afrique, et des Iles du grand Océan; des paysages, des vues maritimes, et plusieurs objets d'histoire naturelle. Paris. —. 1826. Vues et paysages des Régions Equinoxiales, recueillis dans un voyage autour du monde, par Louis Choris, pouvant servir de suite au Voyage Pittoresque autour du Monde, en six livraisons, composées chacune de quatre planches avec une introduction et une description des planches. Paris. Gay, Claude. 1866. Atlas de la Historia fisica y polîtica de Chile. 2 Bde. Paris. Hahlbrock, Peter. 1969. Alexander von Humboldt und seine Welt. Ausstellungskatalog des Ibero-Amerikanischen Instituts Preußischer Kulturbesitz. Berlin. Hein, Wolfgang-Hagen (Hg.). 1985. Alexander von Humboldt. Leben und Werk. Mit Beiträgen von Hanno Beck, Klaus Dobat, Wolfgang-Hagen Hein, Werner Friedrich Kümmel, Renate Löschner, Peter Schoenwaldt und einem Vorwort von Pierre Bertaux. Ingelheim am Rhein. Heine, Wilhelm. 1857. Wanderbilder aus Centrai-Amerika. Skizzen eines deutschen Malers. Leipzig. Humboldt, Alexander von. 1806. Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse. Berlin. —. 1807. Essai sur la géographie des plantes; accompagné d'un tableau physique des régions équinoxiales, fondé sur des mesures exécutées, depuis le dixième degré de latitude boréale jusqu'au dixième degré de latitude australe, pendant les années 1799, 1800, 1801, 1802 et 1803. Avec une planche. Paris.

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—. 1992b. Alexander von Humboldt als Initiator eines künstlerisch-wissenschaftlichen Amerikabildes. In: Amerika 1492-1992. Neue Welten — Neue Wirklichkeiten. Essays hg. vom Ibero-Amerikanischen Institut Preußischer Kulturbesitz und Museum für Völkerkunde Staatliche Museen zu Berlin. Braunschweig. 247-256. —. 1992c. Johann Moritz Rugendas in Mexiko. Ein Maler aus dem Umkreis von Alexander von Humboldt. Ausstellungskatalog. Ibero-Amerikanisches Institut Preußischer Kulturbesitz zu Berlin. Berlin. Maximilian Prinz zu Wied-Neuwied. 1820-1821. Reise nach Brasilien in den Jahren 1815 bis 1917. 2 Bde. und 1 Tafelband. Frankfurt/M. Muthmann, Friedrich. 1955. Alexander von Humboldt und sein Naturbild im Spiegel der Goethezeit. Zürich u. Stuttgart. Nebel, Carlos. 1836. Voyage pittoresque et archéologique dans la partie la plus intéressante du Mexique. Paris. Poeppig, Eduard. 1835-1836. Reisen in Chile, Peru und auf dem Amazonensstrome während der Jahre 1827-1832. 2 Bde. Leipzig. —. 1835. Atlas zu Eduard Poeppig's Reise in Chile, Peru und auf dem Amazonenstrome. Leipzig. Richert, Gertrud. 1959. Johann Moritz Rugendas. Ein deutscher Maler des XIX. Jahrhunderts. Berlin. Rugendas, Johann Moritz. 1835. Voyage pittoresque dans le Brésil. Paris. —. 1985. El México luminoso de Rugendas. Textos: Renate Löschner y Xavier Mqyssen. Edición privada de Castón y Papel de México, S.A. de C.V. Mexiko. Sartorius, Carl Christian. 1856. Mexiko. Landschaftsbilder und Skizzen aus dem Volksleben. Darmstadt. Spix, Johann Baptist von und Carl Friedrich Philipp von Martius. 1823-1831. Reise in Brasilien auf Befehl seiner Majestät Maximilian Joseph I. Königs von Baiern in den Jahren 1817 bis 1820 gemacht und beschrieben. 3 Bde. München. —. um 1830. Atlas zur Reise von Dr. von Spix und Dr. von Martius. München. Staden, Hans. 1557. Warhaftige Historia und beschreibung eyner Landtschajft der wilden nacketen grimmigen Menschenfresser-Leuthen in der Newenwelt America gelegen. Marpurg uff Fastnacht.

Wie die Europäer satt und süchtig wurden Franz Mathis

Vorbemerkung Das Thema des folgenden Beitrages verlangt zunächst nach einigen abgrenzenden Vorbemerkungen. Obwohl sich die Expansion Europas seit dem Spätmittelalter auf fast die gesamte nicht-europäische Welt erstreckte, sollen sich die nachstehenden Erörterungen allein auf Lateinamerika und auf die Frage beschränken, inwiefern gerade dieser Kontinent seit seiner Entdeckung durch die Europäer dazu beigetragen hat, daß diese satt und süchtig wurden. Es werden daher nicht nur die anderen Kontinente weitgehend ausgeklammert, auch die tiefgreifenden Auswirkungen der europäischen Eroberung Lateinamerikas auf Mittel- und Südamerika selbst können im hier gesteckten Rahmen nicht behandelt werden. Die zentrale Frage lautet daher: Wie und in welchem Ausmaß trug Lateinamerika zur Deckung des europäischen Bedarfs an Nahrungs- und Genußmitteln vom 16. bis zum 20. Jahrhundert bei? Die landwirtschaftlichen Produkte — und nur um sie geht es in diesem Zusammenhang —, die Europa aus Lateinamerika bezog, lassen sich demnach in zwei Gruppen unterteilen, von denen die eine eher satt, die andere dagegen eher süchtig machte. Zu den satt machenden Nahrungsmitteln zählen insbesondere Getreide und Schlachtvieh bzw. Fleisch; zu den im engeren wie im weiteren Sinn süchtig machenden Genußmitteln vor allem Tabak, Zucker, Kaffee und Kakao. Andere Produkte wie etwa Bananen, Tomaten, Kokain oder die nur vorübergehend nach Europa exportierten Düngemittel Guano und Salpeter, die in ihrer Bedeutung für die europäischen Konsumenten deutlich hinter den genannten zurückblieben, sollen — falls überhaupt — nur am Rande miteinbezogen werden.1 In jeder der beiden Gruppen finden sich Produkte, die entweder bis zur Entdeckung Amerikas durch Kolumbus nur auf jenem Kontinent bekannt waren und erst danach auch in anderen Erdteilen Verbreitung fanden, und solche, die erst von den Europäern nach Lateinamerika gebracht, in der Folge jedoch vor allem dort angebaut wurden. Zu ersteren gehören Mais, Kartoffeln, Tomaten sowie Tabak und Kakao, zu letzteren etwa Weizen, Rinder, Schafe sowie Zuckerrohr und Kaffee. Eine weitere, insgesamt wohl bedeutsamere Unterscheidung läßt sich zwischen Produkten treffen, die — wie der Mais, die Kartoffel und die Tomate —

'Auf den Verbrauch bzw. die illegale Einfuhr von Kokain, die gerade in den letzten Jahren zusehends für Schlagzeilen sorgten, kann hier nicht im Detail eingegangen werden. Zu Bolivien vgl. Dirmoser 1981.

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von den Europäern in Lateinamerika kennengelernt, dann jedoch hier angebaut und nicht mehr weiter aus Lateinamerika bezogen wurden, und den Produkten, die auch danach in Lateinamerika erzeugt und nach Europa exportiert wurden. Gerade der Mais und die Kartoffel trugen — wie im folgenden zu zeigen sein wird — in hohem Maß dazu bei, daß die Europäer des 18., 19. und 20. Jahrhunderts satt wurden.2

1. Nahrungsmittel 1.1 Mais Der Mais, zusammen mit Weizen und Reis eines der drei Hauptnahrungsmittel des Menschen, wird von Fernand Braudel als "Wunderpflanze" bezeichnet, die sich durch einen hohen Nährwert, ergiebige Hektarerträge und relativ geringen Arbeitsaufwand auszeichnet.3 Als im 15. Jahrhundert die Kulturen der Azteken und Inkas in voller Blüte standen, konnte der Mais in Amerika bereits auf eine lange Geschichte zurückblicken. Kolumbus brachte ihn schon von seiner ersten Reise nach Europa mit, wo die Maispflanze zunächst als Gartenkuriosität betrachtet wurde. Erst allmählich, im wesentlichen seit dem 17. Jahrhundert, fand der Mais auch als Feldfrucht zunehmend Verbreitung, zunächst in Südeuropa, dann auch in Teilen Mitteleuropas und seit dem 19. Jahrhundert insbesondere in den Donauländern und in Rußland.4 Insbesondere für die ärmeren Bevölkerungsschichten auf dem Land, deren Zahl infolge des speziell seit dem 18. Jahrhundert rascheren Bevölkerungswachstums ständig zunahm, war der Mais eine willkommene Nahrung. Seine volkswirtschaftliche Bedeutung lag vor allem darin, daß er nicht etwa traditionelle Produkte ersetzte, sondern auf den bis dahin brachliegenden Feldern als zusätzliches Nahrungsmittel angebaut werden konnte. Zu einer Zeit, als die Möglichkeit weiterer Nutzbarmachung des Bodens durch Rodung in weiten Teilen Europas nicht mehr gegeben war, half er ganz wesentlich mit, die Nahrungsmittelproduktion auf den bereits genutzten Böden zu erweitern und auf diese Weise die wachsende Bevölkerung zu ernähren. Gemeinsam mit anderen Feldpflanzen ermöglichte er die Überwindung der lange Zeit üblichen Dreifelderwirtschaft und den allmählichen Übergang zur Fruchtwechselwirtschaft, bei der, im Unterschied zu ersterer, auf die alle drei Jahre notwendige Brache verzichtet werden konnte (Braudel 1971, 173; Bairoch 1985, 304f.). Für den Übergang zur Fruchtwechselwirtschaft war jedoch außer dem Anbau neuer Feldfrüchte vor allem eine wesentlich stärkere Düngung des Bodens notwendig, was zunächst durch eine Intensivierung der Viehwirtschaft zu erreichen versucht wurde. Auch als wichtiges Futtermittel leistete und leistet

J

Darauf hat zuletzt auch Reinhard (1985, 266) hingewiesen. Braudel 1971, 170; Sandgruber 1982, 44f.; Reinhard 1985, 266. 4 Braudel 1971, 169 u. 173; Masefield 1967, 276f.; Dovring 1965, 635.

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der Mais bis heute einen wesentlichen Beitrag. Es braucht daher nicht zu überraschen, wenn der Maisanbau speziell von den Agrarwissenschaftlern des 18. Jahrhunderts stark propagiert wurde, da sie in ihm die Möglichkeit zur Lösung aller Ernährungsprobleme sahen (Sandgruber 1982, 44f.; Bairoch 1985, 304f.). Naturgemäß waren der Anteil der Ackerfläche, der auf den Maisanbau entfiel, und damit auch der Anteil des Maises an der gesamten Getreideproduktion in den einzelnen Ländern unterschiedlich hoch. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges etwa spielte der Mais in Rumänien, Bulgarien und Ungarn eine größere, in Spanien, Frankreich, dem damaligen Österreich und in Rußland eine kleinere Rolle. Gemessen an der Anbaufläche für Weizen, Roggen, Gerste und Mais zusammen sowie an dem darauf erzielten Gesamtertrag des Jahres 1913 kam der Mais in Rumänien etwa für die Hälfte, in Ungarn und Bulgarien ungefähr für ein Drittel und in Italien für ein Viertel bis ein Drittel auf, während er in Spanien, Frankreich, Österreich und Rußland 10 Prozent der Anbaufläche und des Ertrags nicht überstieg (Mitchell 1975, 21 Off.). In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Maisproduktion gegenüber 1913 drastisch gesteigert wurde, entfielen in ganz Europa ohne Sowjetunion rund ein Fünftel der Anbaufläche und des Ertrags der oben genannten vier Getreidearten auf den Mais.5 Die Zone der Mais anbauenden Länder erstreckt sich nach wie vor von Portugal und Spanien einschließlich Frankreichs im Westen, über Italien, Griechenland, die Balkanländer und die restlichen Gebiete der ehemaligen Habsburgermonarchie bis nach Rußland. 1.2 Kartoffel Eine in vielerlei Hinsicht ähnliche Wirkung wie vom Mais ging von der Kartoffel aus, deren wirtschaftliche Bedeutung — meint Paul Bairoch — "nie genug gewürdigt wurde" (1985, 305). Wie der Mais eignete sich die Kartoffel für die Bebauung der Brache und erweiterte auf diese Weise ganz entscheidend das Angebot an Nahrungsmitteln. Und wie der Mais regte sie darüber hinaus die Intensivierung der Landwirtschaft an, indem sie außer als menschliche Nahrung auch als tierisches Futtermittel diente. Weiters verlangte sie reichliche Düngung, was wiederum den bewirtschafteten Böden ganz allgemein zugute kam. Außerdem brachte eine Kartoffelernte pro Flächeneinheit etwa den doppelten Nährwert der herkömmlichen Getreidesorten Roggen und Weizen. Im Unterschied zum Mais stellt die Kartoffel an Klima und Bodenbeschaffenheit wesentlich geringere Ansprüche, verlangt jedoch umgekehrt einen höheren Arbeitseinsatz, was im positiven Sinn zur Beseitigung der ländlichen Unterbeschäftigung beitragen konnte. So half auch die Kartoffel — und zwar mehr noch als der Mais —, die rasch wachsende europäische Bevölkerung zu

'Mitchell 1975, 237ff.; HdSW IV, 469; StHd 1987, 555.

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ernähren und zu beschäftigen.6 Wie der Mais ernährte sie vor allem die ärmeren Bevölkerungsschichten, weshalb dann im 20. Jahrhundert mit steigenden Realeinkommen ihre Bedeutung als Nahrungsmittel etwas abnahm und sie zusehends als Futtermittel speziell für die Schweinehaltung und als industrieller Rohstoff für die Stärkegewinnung Verwendung fand (vgl. auch Dovring 1965, 634; Slicher van Bath 1977, 78). Im 18., 19. und frühen 20. Jahrhundert jedoch wird ihre Bedeutung für die Ernährung Europas sogar mit der des Reises in asiatischen Ländern verglichen und etwa von Hintze als "wesentlichste Bereicherung der Nährfrüchte im 18. Jahrhundert" bezeichnet (Hintze 1934, 98f.; HdStW V, 630). Allerdings erfolgte die Übernahme der Kartoffel von Amerika nach Europa etwas später, als dies beim Mais der Fall war. Erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurde sie in Spanien angebaut und in anderen Ländern wie Italien, Deutschland und Österreich zunächst noch als Gartenfrucht gehalten. Fast zur selben Zeit gelangte sie direkt aus Amerika auch auf die britischen Inseln, wo sie speziell in Irland rasche Verbreitung fand und noch im 17. Jahrhundert zum Hauptnahrungsmittel wurde, bevor sie in der Folge auch in Schottland und England selbst — dort allerdings in größerem Ausmaß erst im 19. Jahrhundert — verbreitet wurde. Auf dem Kontinent setzte sich die Kartoffel, die anfangs gegen Vorurteile der Gelehrten anzukämpfen hatte, im allgemeinen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch, in Frankreich etwas später als in Deutschland, wo ihr ebenso wie in der Schweiz und in Österreich insbesondere die Hungersnöte um 1770 zum Durchbruch verhalfen. Der Raum Deutschland-Tschechien-Slowakei-Polen sollte schließlich zum Zentrum der europäischen Kartoffelproduktion werden. Insgesamt spielte die Kartoffel in keinem Kontinent eine so überragende Rolle wie in Europa, wo im 20. Jahrhundert — und zwar diesmal einschließlich des europäischen Teiles der Sowjetunion — rund 85 bis 90 Prozent der jährlichen Weltkartoffelernte eingebracht wurden.7 In Altösterreich, der westlichen Hälfte der ehemaligen Habsburgermonarchie, wurden bereits in den frühen 40er Jahren des 19. Jahrhunderts — gemessen am Gewicht — mehr als halb soviel Kartoffeln wie Getreide geerntet, in den letzten zehn Jahren vor dem Ersten Weltkrieg fiel die Kartoffelernte im Schnitt sogar um die Hälfte höher aus als die Getreideernte. In Ungarn konnte die Kartoffelproduktion von weniger als 10 auf über 40 Prozent der Getreideproduktion gesteigert werden, in Frankreich von etwa 16 Prozent zu Beginn des 19. auf fast 70 Prozent zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In Irland schließlich wurden vor dem Ersten Weltkrieg fast dreimal so viel Kartoffeln wie Getreide geerntet, während im Deutschen Reich die Kartoffelernte der letzten Vorkriegs-

6

HdSWV, 558ff.; HdStW V, 630ff.; Hintze 1934, 98f.; Sandgruber 1982, 48ff.; Masefield 1967, 300f. 1 HdStW V, 638; HdSWV, 559; Hintze 1934, 98f.; Masefield 1967, 277f. u. 299f.

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jähre im Durchschnitt um zwei Drittel höher ausfiel als die Getreideernte (HdStWIV, 915; V, 638; Mitchell 1977, 492ff.). Auch in Europa insgesamt allerdings ohne die Sowjetunion — lag die Kartoffelernte gewichtsmäßig bis in die 50er Jahre über jener der Hauptgetreidesorten Weizen, Roggen, Gerste, Hafer, Mais und Reis, dann jedoch verschob sich das Verhältnis zusehends zugunsten des Getreides, so daß 1985 rund zweieinhalbmal soviel Getreide wie Kartoffeln erzeugt wurde.8 1.3 Weizen Aus dem bisher Gesagten dürfte klar geworden sein, daß der Anbau von Mais und Kartoffeln ganz grundlegend zur Revolutionierung der europäischen Landwirtschaft beitrug, daß sie "two spectacular breaks in the médiéval pattern of field crop cultivation" (Dovring 1965, 633) bedeuteten, daß "without the American crops Europe might not have been able to carry such heavy populations as she later did" (Masefield 1967, 276) und daß "die wirtschaftliche Entwicklung der nördlichen Länder Europas ohne die Kartoffel schwer vorstellbar ist" (Reinhard 1985, 267). Im Unterschied zum Mais und zur Kartoffel, die zwar ursprünglich aus Amerika nach Europa gebracht wurden, in der Folge jedoch kein Handelsgut zwischen den beiden Kontinenten mehr darstellten, wurden der Weizen und verschiedene europäische Nutztiere zunächst von den Europäern in Lateinamerika heimisch gemacht und zu einem späteren Zeitpunkt in großen Mengen von dort nach Europa geliefert, um die wachsende europäische Nachfrage nach Fleisch und Getreide zu decken. Beim Getreide war es vor allem der Weizen, der seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts aus Argentinien und anderen La Plata-Staaten infolge stark verbilligter Transportkosten in zunehmendem Maße nach Europa gelangte (Léon 1969, 74ff.). In Argentinien, dem mit Abstand wichtigsten Produzenten, machte die Saatfläche für Weizen noch um 1870 erst etwa 70.000 ha aus, stieg dann jedoch bis 1913 auf nicht weniger als 6,9 und bis 1929 sogar auf 9,1 Mio. ha an. Die Weizenernte vervielfachte sich zwischen 1885 und 1913 von weniger als einer Million auf 5,1 und bis 1929 auf 9,5 Mio. t (Léon 1969, 82ff.). Ähnliche Produktionssteigerungen lassen sich in Uruguay und auch in Chile beobachten. Allerdings war mit den Ernten des Jahres 1929 der Höhepunkt erreicht; die Weltwirtschaftskrise hatte einen drastischen Rückgang der argentinischen Weizenproduktion um 30 bis 50 Prozent zur Folge, der auch in den folgenden Jahrzehnten nicht mehr wettgemacht werden konnte. Noch dramatischer waren die Einbrüche bei den Exporten, die zwischen der Mitte der 30er Jahre und den späten 50er Jahren noch einmal um die Hälfte zurückgingen (Léon 1969, 155 u. 312; StHd 1987, 555). Wie hoch ist nun aber der Anteil der Weizenexporte Südamerikas — die relativ geringen Maisexporte des späten 19. Jahrhunderts spielten daneben eine

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StHd i960, 369ff.; 1970, 473ff.; 1987, 555ff.

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nur geringfügige Rolle — bei der europäischen Versorgung mit Grundnahrungsmitteln zu veranschlagen?9 Wie sehr halfen sie mit, die Europäer des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts satt zu machen? Zwar fehlen genaue Angaben über die speziell lateinamerikanischen Weizenexporte nach Europa, doch erlauben die Produktionswerte allein bereits interessante Aufschlüsse. In den letzten fünf Jahren vor dem Ersten Weltkrieg erreichte die gesamte südamerikanische Weizenproduktion im Schnitt nur rund neun Prozent der europäischen Erzeugung einschließlich Rußlands (HdStW IV, 929). Und wenn man berücksichtigt, daß nur ein Teil der südamerikanischen Weizenernte exportiert wurde, bleibt der Beitrag des südamerikanischen Weizens für die Versorgung Europas relativ gering, und es erscheint angesichts dieser Relationen wohl übertrieben und den tatsächlichen Verhältnissen keinesfalls entsprechend, wenn etwa Pierre Leon die Meinung vertritt, daß die lateinamerikanischen Exporte für Europa unentbehrlich geworden seien (vgl. Leon 1969, 72). Außerdem gilt es zu bedenken, daß gerade Großbritannien, das zum Hauptimporteur südamerikanischen Weizens wurde, durchaus in der Lage gewesen wäre, seinen Weizenbedarf in stärkerem Ausmaß selbst zu decken als es tatsächlich der Fall war, und in erster Linie aus Kostengründen überseeischen Weizen importierte, statt ihn selbst anzubauen. Denn wie sonst wäre es zu erklären, daß die Anbaufläche für Weizen im Vereinigten Königreich allein zwischen den späten 60er und den späten 90er Jahren des 19. Jahrhunderts um rund die Hälfte eingeschränkt wurde (HdStW IV, 915). In den Jahrzehnten nach dem Ersten Weltkrieg und insbesondere seit der Weltwirtschaftkrise ging die Bedeutung lateinamerikanischer Weizeneinfuhren nach Europa schon allein deswegen noch weiter zurück, weil Europa selbst seine Pro-Kopf-Produktion weit über das Vorkriegsniveau hinaus anheben konnte. Während nämlich die europäische Bevölkerung — ohne Rußland bzw. die Sowjetunion — bis Mitte der 80er Jahre um nur etwa zwei Drittel zunahm, konnte die Weizenproduktion mehr als verdreifacht werden, was in etwa einer Verdoppelung der Pro-Kopf-Produktion gleichkam.10 Es braucht daher nicht zu überraschen, wenn die Weizenimporte, die die europäischen Marktwirtschaften bzw. das kapitalistische Europa in den 60er Jahren aus Lateinamerika — und zwar fast ausschließlich aus Argentinien — bezogen, nur noch weniger als fünf und um die Mitte der 70er Jahre sogar nicht einmal einem Prozent ihrer Eigenproduktion gleichkamen." Resümierend kann daher festgehalten werden, daß die Weizenimporte aus Lateinamerika — im Unterschied zu den in

'Mais wurde zwar ebenfalls in großen Mengen produziert, jedoch in erster Linie als Viehfutter für die heimische Rinderwirtschaft und nur in weitaus geringerem Maße für den Export. Randall 1977 II, 102. xa HdStW IV, 921 u. 929; StHd 1987, 511 u. 555; Armengaud 1985, 16. "WTA 1963 I; WTA 1976 I, 31; StHd 1970, 474; StHd 1987, 555.

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Europa selbst angebauten Produkten Mais und Kartoffel — weit weniger und insgesamt wohl nur marginal dazu beitrugen, daß die Europäer satt wurden.

1.4 Fleisch Wie aber verhielt es sich mit dem zweiten Grundnahrungsmittel, das ebenfalls seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in großen Mengen aus Lateinamerika importiert wurde, nämlich dem Fleisch? Zwar wurde schon früher von den eingewanderten Europäern und ihren Nachkommen in Lateinamerika Viehzucht betrieben, doch standen die Produktion und der Export von Häuten und Schafwolle eindeutig im Vordergrund, während der Export von Dörr- und Salzfleisch für den europäischen Markt nicht in Betracht kam (HdStW VIII, 71 lf.). Erst dank der von US-amerikanischen Fleischverarbeitungsfirmen in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts in Argentinien errichteten Kühlhäusern zur Lagerung und Aufbereitung des Fleisches nahm nunmehr auch die Schlachtvieherzeugung einen gewaltigen Aufschwung.12 Mit entsprechenden Kühleinrichtungen versehene Spezialschiffe ermöglichten den Transport des Gefrierfleisches über den Atlantik. Von Argentinien und Uruguay griff der neue Wirtschaftszweig auf Paraguay, Brasilien, Chile, Kolumbien und Mexiko über, von wo sich die Viehzuchtgebiete über den Rio Grande in die USA hinein erstreckten. 1910 zählte man in Argentinien, Brasilien und Uruguay zusammen rund 68 Mio. Rinder, während sich der Schafbestand Argentiniens und Uruguays auf 93,5 Mio. Tiere belief. Bis 1929 erhöhten sich die Bestände in Argentinien, Uruguay, Paraguay und Brasilien auf 84 Mio. Rinder, während sie bei den Schafen auf 77 Mio. zurückgingen (Léon 1969, 85 u. 144). Trotz der imponierenden Zahlen ist auch hier zu fragen, welcher Stellenwert den Fleischimporten aus Lateinamerika für die Versorgung Europas tatsächlich zukam. Mangels entsprechender Daten über das tatsächliche Verhältnis zwischen den Fleischexporten nach Europa und der europäischen Eigenproduktion müssen wir uns mit einigen Andeutungen begnügen. Zunächst einmal war der Rinder- und Schafbestand Europas um 1910 zwar deutlich umfangreicher als der Lateinamerikas, doch sagt dies über den tatsächlichen Fleischverbrauch nur wenig aus (Mitchell 1975, 296ff.). Wichtiger scheint die Tatsache, daß dem Fleischkonsum keine so grundlegende Bedeutung für die menschliche Ernährung zukommt wie den Ackerfrüchten, so daß ein höherer Fleischkonsum weniger als Gradmesser dafür anzusehen ist, ob eine Bevölkerung satt wurde oder hungern mußte, sondern vielmehr dafür, ob sie satter wurde als andere. Wenn daher der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch an Fleisch in Großbritannien deutlich über jenem Kontinentaleuropas lag, heißt dies nicht etwa, daß die Briten satt wurden, während die anderen hungerten, sondern lediglich daß die einen eine reichhaltigere Nahrung zu sich nahmen als die anderen (Minchinton 1985, 84). Dies wird indirekt von Hans J. Teuteberg bestätigt, wenn er in

l2

Léon 1969, 75f.; Randall 1977 II, 100; HdStW VIII, 712.

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seiner Untersuchung der Nahrungsgewohnheiten insbesondere der Deutschen zum Schluß gelangt, daß man die Fleischversorgung vor dem Ersten Weltkrieg, obwohl sie "noch nicht ganz an unsere heutigen Wohlstandsverhältnisse heranreicht, schon als weitgehend zureichend bezeichnen muß" (Teuteberg/Wiegelmann 1972, 132). Wenn nun aber der britische Mehrverbrauch fast ausschließlich auf die Fleischimporte Großbritanniens zurückgeführt wird, die in diesem Ausmaß auf dem Kontinent fehlten13, folgt daraus, daß die Fleischeinfuhr aus Übersee tatsächlich dazu diente, das Nahrungsangebot der Briten über das Notwendige hinaus zu erweitern und sie auf diese Weise satter zu machen als ihre Zeitgenossen auf dem Kontinent. Allerdings — und dies relativiert die Bedeutung der Fleischimporte aus Lateinamerika noch zusätzlich — stammte nur ein Teil der Einfuhren aus Süd- und Mittelamerika, da die Briten auch Dosenfleisch aus den USA und Gefrierfleisch aus Australien und Neuseeland bezogen (Minchinton 1985, 84f.). Im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts und insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg stieg der Pro-Kopf-Verbrauch an Fleisch in Europa weiter an, und zwar auf dem Kontinent rascher als in Großbritannien. Hier wie dort nahm die Eigenproduktion jedoch noch schneller zu als der Verbrauch, so daß die relative Bedeutung der Fleischimporte aus Übersee und damit auch aus Lateinamerika langfristig zurückging.14 Wenn daher die Europäer der Nachkriegszeit — zumindest gemessen an ihrem Fleischkonsum — satter wurden als ihre Vorfahren im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, verdankten sie dies weniger den Fleischeinfuhren aus Lateinamerika als vielmehr der gesteigerten Eigenproduktion, die sich in Europa ohne die Sowjetunion allein zwischen der zweiten Hälfte der 30er Jahre und 1985 vervierfachte (ebda.), während etwa die Fleischexporte Argentiniens, die neben Großbritannien vor allem nach Italien, Deutschland und den Niederlanden gingen, zwischen 1934/38 und 1958/60 sogar um 10 Prozent fielen (Léon 1969, 312; Waldmann 1982, 92). Mitte der 50er Jahre wiesen die Länder der späteren EWG zusammen einen Selbstversorgungsgrad von 99 und die der späteren EFTA einen solchen von 92 Prozent auf (HdSWIII, 750). Mitte der 70er Jahre entsprachen die Fleischeinfuhren der marktwirtschaftlich orientierten Länder Europas aus Lateinamerika nur etwa einem Prozent ihrer eigenen Produktion (WTA 19761, 10f.; StHd 1987, 561). 1.5 Tomate / Banane Konnte schon beim Fleisch gezeigt werden, daß es weniger der Deckung der unbedingt notwendigen Grundbedürfnisse als vielmehr der Bereicherung des Nahrungsmittelangebotes diente, so trifft dies erst recht für zwei weitere,

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1914 gelangten nicht weniger als 94 Prozent des in der ganzen Welt produzierten Gefrier- und Kühlfleisches allein nach Großbritannien (HdStW VIII, 713). 14 StHd 1960, 378 u. 381; 1970, 436, 483 u. 539; 1987, 561; HdSW ffl, 749.

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allerdings ganz anders geartete Nahrungsmittel aus Lateinamerika zu. Gemeint sind die Tomate und die Banane, von denen erstere seit dem 16. Jahrhundert zunächst als Zierpflanze und seit dem 20. Jahrhundert in Europa auch als Nutzpflanze gehalten wurde (Brockhaus Enzyklopädie XXII, 234). Die Banane diente schon in vorkolumbischer Zeit als allgemeines Nahrungsmittel im westlichen Süd- und Mittelamerika, war aber auch in Europa bereits seit der Antike bekannt. Wie das Zuckerrohr gelangte sie über die Kanarischen Inseln nach Santo Domingo und von dort später nach Brasilien (Brockhaus Enzyklopädie II, 533). Umfangreichere und ständig zunehmende Bananeneinfuhren aus dem tropischen Lateinamerika nach Europa lassen sich jedoch ebenfalls erst seit knapp hundert Jahren beobachten. Beide Produkte stellten keinen grundlegenden Bestandteil der europäischen Nahrung dar, sondern lediglich eine zusätzliche Bereicherung und fanden daher erst parallel zu den steigenden Realeinkommen der Europäer größere Verbreitung.15 Von den Bananen, die 1963 in die marktwirtschaftlich orientierten Länder Europas eingeführt wurden, stammten etwa 43 Prozent, von denen des Jahres 1976 dagegen fast 90 Prozent aus Lateinamerika. Die Hauptlieferanten waren zunächst Kolumbien und Ecuador sowie für Frankreich und Großbritanien vor allem ihre Kolonien Guadeloupe und Martinique bzw. das inzwischen unabhängige Jamaica, später auch Panama, Costa Rica, Honduras und die damals noch britische Kolonie Dominica.16

2. Genußmittel Muß schon der erhöhte Fleisch-, Tomaten- und Bananenkonsum zumindest im dicht besiedelten Europa als Spiegelbild einer reicheren Volkswirtschaft angesehen werden, so gilt dies erst recht für die zweite der oben unterschiedenen Gruppen, die die eigentlichen Genußmittel umfaßt. Obwohl auch ihnen ein gewisser Nährwert nicht abzusprechen ist, dienten sie eher dazu, süchtig als satt zu machen. 2.1 Tabak Wohl eines der folgenreichsten Ereignisse in der Geschichte der europäischen Bevölkerung war die Entdeckung der Tabakpflanze.17 Ursprünglich auf Amerika beschränkt, wurde sie von Spaniern und Portugiesen sowie später auch von Engländern nach Europa gebracht und in der Folge rund um den Erdball ange-

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Während noch 1900 erst 300.000 t Bananen geerntet wurden, waren es 1972 fast 34 Millionen, davon 60 Prozent in Lateinamerika, ein Anteil, der allerdings bis 1985 auf etwa 40 Prozent fiel (Bairoch 1975, 15; Fischer Weltalmanach 1975, 285; 1988, 803). I6 W7M 1963-, 1976 I, 47f. Von der Weltproduktion entfielen in den 50er Jahren noch über 70, in den 80ern dagegen nur noch knapp 50 Prozent auf Lateinamerika. FAO Production Yearbook 1958, 105; FAO Production Yearbook 1986, 174. "Das Folgende nach Böse 1957, passim; Sandgruber 1982, 210ff. u. 1989, 110f.; Masefield 1967, 277 u. 283; Braudel 1971, 280ff.; Kulischer 1971, 28 u. 259ff.

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baut. In Europa wurde die Tabakpflanze zunächst als Zierpflanze und als Arzneimittel verwendet, als Genußmittel setzte sich der Tabak erst allmählich und gegen den Widerstand der Geistlichkeit und zeitweise auch der Regierungen durch. Letztere änderten ihre Haltung vielfach erst im 17./18. Jahrhundert, als sie den fiskalischen Nutzen erkannten, der aus der Besteuerung bzw. der staatlichen Monopolisierung der Tabakwirtschaft zu ziehen war. Im Unterschied zu anderen Genußmitteln drang der Tabakkonsum schon früh außer in städtische auch in ländlich-bäuerliche Schichten vor. Die Verwendungsmöglichkeiten des Tabaks sind überaus vielfältig; sie reichen vom Kauen, Schnupfen und Trinken des Tabaks bis zu den verschiedenen Formen des Tabakrauchens und wurden schon von den Einheimischen Amerikas in diesen Formen praktiziert. In Europa fand der Tabak zunächst vor allem als Schnupfmittel Verbreitung, während das Rauchen vorerst auf die Seeleute und die Landsknechte beschränkt blieb. Erst als Sir Walter Raleigh in den 80er Jahren des 16. Jahrhunderts das Pfeifenrauchen in der höheren englischen Gesellschaft bekannt machte, fand genannter Brauch auch in diese Schichten Eingang und griff noch zu Beginn des 17. Jahrhunderts auf Holland und Deutschland über. In Frankreich und Altösterreich soll dagegen noch am Vorabend der Französischen Revolution der weit überwiegende Teil des Tabaks zum Schnupfen und nur relativ wenig zum Rauchen verwendet worden sein. Nur geringe Verbreitung erlebte dagegen das Tabakkauen. Beim Rauchen selbst drängte seit Beginn des 19. Jahrhunderts die Zigarre die Pfeife immer mehr in den Hintergrund, nachdem bereits 1788 in Hamburg die erste deutsche Zigarrenfabrik errichtet worden war. Als letzte der verschiedenen Tabakmoden kam nach gelegentlichen früheren Ansätzen ebenfalls im 19. Jahrhundert das Zigarettenrauchen auf, das sich speziell nach dem Krimkrieg, als es die englischen, französischen und sardinischen Soldaten den Türken und Russen abschauten, endgültig durchsetzte und im Laufe des 20. Jahrhunderts für fast 97 Prozent des gesamten Tabakkonsums verantwortlich zeichnete. Obwohl Tabak — wie bereits erwähnt — schon bald auch in Europa selbst und auf anderen Kontinenten angepflanzt wurde, kam ein Großteil des in Europa konsumierten Tabaks noch lange Zeit aus Amerika, wo sich allerdings im Laufe der Zeit der Schwerpunkt vom Golf von Mexiko und der Karibik in den Südosten Nordamerikas verlagerte. Dennoch war Lateinamerika nicht nur Heimat, sondern bis in die Gegenwart auch Lieferant von in Europa verwendetem Tabak. Allerdings waren es nicht etwa die Indianer, die den Tabakanbau größeren Stils in der Karibik verbreiteten, sondern die britischen, französischen und niederländischen Siedler, die sich jenseits des Atlantiks niederließen. Der Tabakanbau verlangte wenig Anfangskapital und konnte daher auch von kleineren Bauern betrieben werden. In der Folge blieb er jedoch deutlich hinter dem Anbau anderer Genußmittel zurück bzw. wurde durch diese ersetzt (Rieh 1967, 339f; Reinhard 1985, 136).

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Länger konnte sich der Tabakanbau lediglich auf Kuba und Puerto Rico sowie in Mexiko, Brasilien und Paraguay halten. Allerdings produzierten diese fünf Länder am Vorabend des Ersten Weltkrieges nicht einmal halb so viel Tabak wie Europa selbst. Und da nur ein Teil des lateinamerikanischen Tabaks nach Europa exportiert wurde, und dieses selbst einen Großteil seiner Tabake außer aus der eigenen Produktion aus anderen Teilen der Welt bezog, stellten die Tabakimporte aus Lateinamerika nur noch eine Randerscheinung dar (HdStW VII, 1198). Daran sollte sich auch im 20. Jahrhundert nichts ändern, in dem sich Lateinamerika hauptsächlich als Lieferant von Spezial- und zwar insbesondere Zigarrentabaken behaupten konnte, die es unter anderem auch nach Europa exportierte (Böse 1957, 223; Staatslexikon VII, 909). Rein quantitativ machten die lateinamerikanischen Tabake etwa 1963 nur noch 15 Prozent und 1976 25 Prozent der in die kapitalistischen Länder Europas importierten Tabake aus. Sie stammten zu zwei Fünfteln aus Brasilien, das in den letzten Jahrzehnten zum mit Abstand größten Produzenten Lateinamerikas avancierte (WTA 1963 I und 1976 I, 118f.; Fischer Weltalmanach 1988, 827). 2.2 Zucker Im Unterschied zum Tabak war der ursprünglich aus Ostindien stammende Rohrzucker zum Zeitpunkt der Entdeckung Amerikas in Europa bereits seit längerem bekannt und als Honig ersetzender Süßstoff — allerdings auf die Wohlhabenden beschränkt — in Verwendung.18 Außer im Mittelmeerraum wurde das Zuckerrohr inzwischen auch auf Madeira und den Kanarischen Inseln angebaut, und es lag nahe, die Produktion auf die durch Klima und Bodenbeschaffenheit noch begünstigteren Inseln der Karibik und den Nordosten des südamerikanischen Festlandes zu verlegen. Von der Karibik aus gelangte das Zuckerrohr wenig später auch nach Louisiana, Mexiko und Peru. Es verbreitete sich derart rasch, daß man später sogar die Urheimat des Zuckerrohrs in Amerika vermutete. Für die Verbreitung auf dem späteren Santo Domingo, auf Kuba, Puerto Rico, in Mexiko und Peru zeichneten die Spanier, für die Übertragung nach Brasilien die Portugiesen verantwortlich. Gemeinsam mit dem Zucker wurde auch die von Madeira, den Kanarischen Inseln und Säo Tomé her bekannte Form der Plantagen übernommen, die von aus Schwarzafrika kommenden Sklaven bearbeitet wurden. Eine weitere entscheidende Ausdehnung erfuhr die Zuckerproduktion Lateinamerikas und damit auch der Sklavenhandel ab der Mitte des 17. Jahrhunderts, als die aus dem Norden Brasiliens vertriebenen Holländer die Technik des Zuckerrohranbaus auf einige nichtspanische Inseln der Antillen übertrugen, wo in der Folge neue Zentren der Zuckerproduktion entstanden, die vielfach die an

Das Folgende nach Kulischer 1971, 259ff.; Baxa/Bruhns 1967, passim; Sandgruber 1982, 2051T.; Andrews 1978, 12ff.; Randall 1977 in, 6ff.; Hintze 1934, 105; Masefield 1967, 279f. u. 290ff.; Rieh 1967, 312f.; Braudel 1979, 325ff. 18

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Überproduktion leidende Tabakerzeugung ersetzte (Reinhard 1985, 137 u. 141). Die ursprünglichen Anbaugebiete im Mittelmeerraum und im Atlantik verloren inzwischen gänzlich an Bedeutung, so daß Europa seit dem 17. Jahrhundert neben den ostasiatischen in hohem Maße auf die amerikanischen Zuckerimporte angewiesen war. Die Verlagerung der Hauptproduktionsgebiete hatte auch eine Verschiebung der Zentren der Rohzuckerraffination zur Folge, indem zunächst im 16. Jahrhundert Venedig von Antwerpen sowie einige Jahrzehnte später dieses von Amsterdam abgelöst wurde. Im Zuge der merkantilistischen Bestrebungen diverser europäischer Regierungen entstanden noch im 17. Jahrhundert auch in anderen Ländern wie Frankreich, Deutschland oder Großbritannien zahlreiche Zuckerraffinerien, die den in Amerika selbst erzeugten Rohzucker mittels besonderer Läuterungsverfahren weiter veredelten und ihm vor allem seine weiße Farbe verliehen.19 Die Errichtung weiterer Zuckerraffinerien erfolgte vor dem Hintergrund eines wachsenden Zuckerkonsums, der durch eine relative Verbilligung seit der Wende zum 17. Jahrhundert und vor allem auch durch die zunehmende Verbreitung von Tee, Kaffee und Schokolade sowie die verschiedensten Formen aufwendigen Zuckerwerkes stimuliert wurde. Da der Zucker und seine Verwendung noch im 18. Jahrhundert ein besonderes Statussymbol darstellten, wurden — wenn auch fast ausschließlich von der städtischen Bevölkerung — alle möglichen Speisen, wie auch Fleisch, Fisch oder Eier, gezuckert. Im bäuerlichen Speiseplan dagegen war der Zucker erst seit dem 19. Jahrhundert stärker vertreten. Dennoch wird für 1730 der Zuckerverbrauch in Europa auf rund 75.000 t und für 1800 bereits auf über 200.0001 geschätzt, wobei Großbritannien abermals einen höheren Pro-Kopf-Verbrauch aufzuweisen hatte als Kontinentaleuropa (Hintze 1934, 105; Kulischer 1971, 259ff.). In Amerika war inzwischen der westliche Teil des ehemaligen Hispaniola, das heutige Haiti, unter der Herrschaft Frankreichs mit einer Ausfuhrmenge von rund 65.000 t im Jahre 1790 zum größten Zuckerproduzenten der Welt aufgestiegen (Baxa/Bruhns 1967, 84). Allerdings bedeutete der in den 90er Jahren ausbrechende Unabhängigkeits- und Befreiungskrieg der überwiegend schwarzen Bevölkerung einen argen Rückschlag für die Zuckerwirtschaft Haitis, von der sie sich nie mehr ganz erholen sollte, so daß andere Produzenten an Haitis Stelle traten.20 Parallel dazu wurde anstelle der bisherigen, dünneren, sogenannten kreolischen Zuckerrohrsorten ein dickeres und wesentlich ertragreicheres Zuckerrohr aus Tahiti nach Westindien gebracht, was drastische Ertragssteigerungen zur Folge hatte. Vor allem auf dem britischen Jamaika konnte die Produktion im Jahrzehnt 1792/1802 auf 92.000 t angehoben und damit fast verdoppelt werden. Auf dem Festland wurde damals mit etwa 21.0001 in Brasi-

"Masefield 1967, 293; Baxa/Bruhns 1967, 38ff. u. 62ff. Zum Aufstand auf Haiti vgl. Reinhard 1985, 242f.

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lien, 16.0001 in Mexiko und insgesamt 44.0001 in Peru, Surinam und Britisch Guayana deutlich weniger Zucker produziert (Baxa/Bruhns 1967, 120ff.). Obwohl sich die Rohrzuckerproduktion der Welt im Laufe des 19. Jahrhunderts etwa alle 20 bis 30 Jahre verdoppelte, trat seit dem zweiten Drittel desselben Jahrhunderts der in Europa selbst hergestellte Rübenzucker als ständig mächtiger werdender Konkurrent für den amerikanischen Rohrzucker in Erscheinung. Insbesondere in der zweiten Jahrhunderthälfte dehnte sich die Rübenzuckerwirtschaft rasch über ganz Europa aus und verdrängte 1884 den Rohrzucker sogar als führende Sorte vom Weltmarkt. Zwar konnte der Rohrzucker im 20. Jahrhundert seine Vorrangstellung weltweit wieder zurückgewinnen und sich vor allem auf dem US-amerikanischen Markt behaupten, für die Versorgung Europas jedoch war seine Bedeutung weit hinter die des Rübenzuckers zurückgefallen.21 Sogar England, lange Zeit Hauptabnehmer des karibischen Zuckers, war seit den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts zu einem Hauptabsatzgebiet für kontinentalen Rübenzucker geworden, und ab den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts deckte es rund ein Drittel seines Zuckerverbrauchs aus der eigenen Rübenproduktion (Baxa/Bruhns 1967, 267). Am Vorabend des Ersten Weltkrieges produzierte Europa selbst bereits mehr als doppelt so viel Zucker wie Lateinamerika (HdStW VIII, 1178u. 1181). In den steigenden Produktionszahlen spiegelt sich naturgemäß die zunehmende Verbreitung des Zuckers als Genußmittel und als Kalorienträger wider, wobei in den letzten Jahrzehnten insofern ein gewisser Wandel zu beobachten war, als an die Stelle des Direktkonsums in den Haushalten immer mehr der Verbrauch von Zucker in Form von Süßwaren, Getränken, Gebäck usw. trat. Der Pro-Kopf-Verbrauch als solcher war nach wie vor in Großbritannien am höchsten, obwohl sich im Laufe des 20. Jahrhunderts die Abstände zu Kontinentaleuropa verringerten. Während er zwischen 1900 und 1930 in Großbritannien von 39 kg pro Jahr auf 46 kg anstieg, nahm er etwa in Deutschland von 15 auf 25 kg und in dem noch weit zurückliegenden Italien von 3,5 auf 9 kg zu (Staatslexikon VIII, 1002; HdSW XII, 480). Die darin zum Ausdruck kommenden innereuropäischen Unterschiede insbesondere zwischen dem höher entwickelten Nord- und West- und dem in der wirtschaftlichen Entwicklung nachhinkenden Süd- und Osteuropa verwischten sich nach dem Zweiten Weltkrieg zusehends:22 Während noch in den 30er Jahren der westeuropäische Zuckerverbrauch mit 25 kg pro Kopf und Jahr rund doppelt so hoch war wie in Osteuropa einschließlich der Sowjetunion, lagen die entsprechenden Zahlen etwa im Jahre 1961 bei 34 und 33 kg (HdSW XII, 481).

2,

Baxa/Bruhns 1967, 191, 202 u. 302; Sandgruber 1982, 205ff.; Léon 1969, 89 u. 145. Vgl. dazu auch die Unterschiede in der Habsburgermonarchie, wo am Vorabend des Ersten Weltkrieges auf dem Gebiet des heutigen Österreich im Schnitt etwa 20 kg pro Kopf verbraucht wurden, in den östlichen Kronländern Galizien und Bukowina dagegen nur etwa 6,5 kg (Sandgruber 1989, 108). 22

247

Der sich daraus ergebende Zuckerbedarf in der Höhe von rund 22 Mio. t hätte damals theoretisch zu etwa drei Viertel aus der eigenen europäischen Produktion einschließlich der Sowjetunion gedeckt werden können, so daß Europa nur noch zu einem kleinen Teil auf Importe angewiesen war, die ihrerseits wiederum nur zum Teil aus Lateinamerika kamen.23 Die Länder der Europäischen Gemeinschaft allein produzierten etwa 1968 sogar um ein Viertel mehr Zucker als sie selbst konsumierten, wofür neben der fortgesetzten Produktionssteigerung auch der in den letzten Jahren zu beobachtende Rückgang des Zuckerverbrauchs zugunsten anderer Süßstoffe verantwortlich zeichnete (Fischer Weltalmanach 1988, 831). Somit kann resümierend festgehalten werden, daß Lateinamerika zwar in der frühen Neuzeit — also vom 16. bis zum 18. Jahrhundert — ganz wesentlich zur Verbreitung des Zuckers in Europa beitrug, in der Folge jedoch, als sich der Zucker zum Massenkonsumartikel entwickelte, wie beim Tabak nur noch eine marginale Rolle spielte. 2.3 Kaffee Ganz anders dagegen verhielt es sich mit dem Kaffee. Auch der Kaffee wurde — allerdings wesentlich später als das Zuckerrohr — erst von den Europäern nach Amerika verpflanzt, doch blieb Lateinamerika in diesem Fall bis zuletzt der wichtigste Produzent. Der Kaffee hatte sich zunächst über die arabische Welt verbreitet und gelangte erst im 17. Jahrhundert nach Europa, wo er etwa ab 1650 in privaten Kreisen ebenso gern getrunken wurde wie in den nun der Reihe nach entstehenden Kaffeehäusern der europäischen Metropolen. Um 1740 lag der europäische Verbrauch bei etwa 2.0001, nahm jedoch in der Folge stark zu und lag am Vorabend der Französischen Revolution bereits bei rund 65.000t. 24 Inzwischen war der Kaffeeanbau von den Holländern in Java eingeführt worden, von wo um 1700 einige Pflänzlinge in den botanischen Garten von Amsterdam gelangten. Sie sollten die Mutterpflanzen fast aller lateinamerikanischen Kaffeesorten werden, nachdem die Kaffeepflanze von Amsterdam zum einen direkt in das niederländische Surinam (1714) und zum anderen indirekt über den Jardin Royal in Paris auf das französische Martinique (1723) gelangte (Masefield 1967, 284). Allerdings hatten die Franzosen ebenfalls bereits 1715 auf Haiti Kaffee angepflanzt (Heise 1987, 19f.). Von Surinam aus fand der Kaffee um 1726 Eingang nach Brasilien, das jedoch als Kaffeeproduzent noch längere Zeit nur von untergeordneter Bedeutung blieb. Sehr viel rascher verbreitete sich dagegen der Kaffeeanbau in der Karibik, und zwar insbesondere auf Jamaika, Santo Domingo und Guadeloupe. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts setzte der Kaffeeanbau in den später so bedeutenden Ländern Costa Rica und Kolumbien ein (Masefield 1967, 297; Kulischer 1971, 259ff.).

»Fischer Weltalmanach 1988, 763; HdSW XII, 481; StHd I960, 384. "Braudel 1971, 277; HdSWV, 455; Masefield 1967, 296; Kulischer 1971, 26ff.

248

Im 19. Jahrhundert nahm der Kaffeekonsum weiter zu, indem er von den oberen allmählich in die mittleren und schließlich auch in die unteren Schichten vordrang, was wie bei anderen Genußmitteln sowohl durch die relative Verbilligung — verursacht durch ein größeres Angebot und später auch durch die Revolutionierung des transatlantischen Transportes — als auch durch die ebenfalls ab der zweiten Jahrhunderthälfte steigenden Realeinkommen in Europa ermöglicht wurde (vgl. auch Heise 1987, 46ff.). Dementsprechend stark variierte der Pro-Kopf-Verbrauch der einzelnen Länder, da ihre Pro-Kopf-Einkommen infolge des phasenverschobenen Beginns ihres Industrialisierungsprozesses am Vorabend des Ersten Weltkrieges noch stark auseinanderklafften. Am höchsten war der Kaffeekonsum mit ungefähr 7 kg pro Kopf und Jahr in den Niederlanden, gefolgt von den skandinavischen Ländern und Belgien. Am unteren Ende fanden sich mit nur etwa 1 kg die industriell weniger entwickelten Länder Österreich-Ungarn und Italien, während Frankreich und Deutschland mit 3 und 2,4 kg eine mittlere Position einnahmen. Der noch niedrigere und keineswegs dem Entwicklungsstand seiner Wirtschaft entsprechende Pro-Kopf-Verbrauch von nur 0,3 kg in Großbritannien erklärt sich aus der sehr viel stärkeren Vorliebe der Briten für den Tee (HdStWV, 547). Die zunehmende Beliebtheit des Kaffees auf dem Kontinent war unter anderem darauf zurückzuführen, daß er gleich mehrere Funktionen und Wirkungen auf sich vereinigte. Er vermittelte Gefühle der Belebung und der Sättigung bzw. täuschte sie zumindest vor. Außerdem bot er sich zur Eindämmung des weit verbreiteten Alkoholgenusses an, so daß "in der Ernüchterung vom Alkoholrausch der frühen Neuzeit" eine seiner wichtigsten Auswirkungen zu sehen ist. Der Kaffee erwies sich sowohl "als hochgeschätztes Konsumgut kaufkräftiger Ober- und Mittelschichten" wie auch als "letzte Zuflucht eines pauperisierten Proletariats" (Sandgruber 1982, 204f.). Die Möglichkeit seiner schnellen Zubereitung und "nicht zuletzt seine mit Prestigewert besetzte stimulierende, genußbringende und geselligkeitsfördernde Wirkung" ließen den Kaffee "vom Modetrank einiger weniger zum Alltagsgetränk von Millionen Menschen werden" (Heise 1987, 47). Obwohl inzwischen auch in anderen Teilen der Erde Kaffee angebaut wurde, bezog Europa den allergrößten Teil seines Bedarfes — wie schon im 18. Jahrhundert — aus Lateinamerika, das um 1910 etwa neun Zehntel der Welternte beisteuerte. Brasilien war mittlerweile zum mit Abstand führenden Produzenten aufgestiegen, während die westindischen Inseln ihre frühere Bedeutung einbüßten. Verschiedene günstige Bedingungen werden für den spektakulären Aufschwung der brasilianischen Kaffeewirtschaft, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts an die erste Stelle rückte, in den 50er Jahren bereits für die Hälfte und 1910 für nicht weniger als fünf Sechstel der Welternte aufkam, verantwortlich gemacht (HdSWV, 455; Léon 1969, 84): Reduzierte Verdienstmöglichkeiten in der Zuckerproduktion, gute natürliche Voraussetzungen mit besonders hoher Fruchtbarkeit und günstigem Klima, speziell in der Region von Säo Paulo, die Einwanderung von Sklaven und freien Brasilianern aus dem Norden des Landes

249

sowie von Italienern, Spaniern und Portugiesen aus Europa und schließlich die zunehmende Verwendung von Spezialmaschinen für Produktion und Ernte (Leon 1969, 78ff.). Von Brasilien aus griff der Kaffeeanbau auf eine Reihe weiterer Länder Süd- und Zentralamerikas wie etwa Venezuela, Guatemala, El Salvador, Kolumbien und Mexiko über, die zusammen mit Brasilien, Haiti und der Dominikanischen Republik um 1909 die ersten acht Plätze der Kaffeeproduzenten der Erde belegten (HdSW V, 455). Die Expansion der lateinamerikanischen Kaffeeproduktion setzte sich auch im 20. Jahrhundert zunächst ungebrochen fort und erreichte 1930 mit einem Anteil von mehr als neun Zehnteln an der weltweiten Produktion einen ersten Höhepunkt. Erst die anschließende Weltwirtschaftskrise brachte einen drastischen Einbruch, der in Brasilien mit einem Rückgang der Kaffee-Ernte um 45 Prozent zwischen 1930 und 1939 am dramatischsten ausfiel, ein Rückschlag, von dem es sich auch in der Folge, als es zwischen ein und zwei Millionen Tonnen pro Jahr produzierte, nicht mehr erholen sollte.25 Obwohl inzwischen auch Costa Rica, Ecuador, Honduras, Kuba und Peru größere Mengen Kaffee produzierten, ging der Anteil Lateinamerikas an der Welternte ständig zurück, bis er sich schließlich Ende der 60er Jahre bei rund 60 Prozent einpendelte, in den 80er Jahren jedoch auf nur noch etwas mehr als die Hälfte der Weltproduktion fiel (ebda.; FAO Production Yearbook 1986, 179). Auch Europa bezog seinen Kaffee immer mehr aus anderen als den lateinamerikanischen Ländern, die 1963 noch über 60, 1976 jedoch nur noch 52 Prozent des Kaffeebedarfs der kapitalistischen Länder Europas deckten. Allerdings bestanden, was die Herkunft des in Europa konsumierten Kaffees betrifft, unter den europäischen Ländern große Unterschiede, kamen doch noch knapp 70 Prozent des 1976 in der Bundesrepublik getrunkenen Kaffees aus Lateinamerika, in Frankreich dagegen nur 25 Prozent (WTA 1963 I; 19761, 81ff.). 2.4 Kakao Noch drastischer fiel der Bedeutungsverlust Lateinamerikas für die Versorgung Europas mit Kakao aus, dem letzten der hier zu behandelnden Produkte. Kakao, wie Tabak, Mais und Kartoffeln "ein Geschenk Amerikas", wurde schon von den Indianern sowohl getrunken als auch in Tafelform konsumiert.26 Die ersten Kakaobohnen wurden 1528 von Mexiko nach Europa gebracht, wo das Trinken von Schokolade in den oberen Gesellschaftsschichten zunächst in Spanien und seit dem 17. Jahrhundert auch in Italien, Frankreich, den Niederlanden und England üblich wurde (Kulischer 1971, 28f.; Masefield 1967, 295). Der Kakao stieß insgesamt auf weniger Widerstand als der Kaffee, da er in stärkerem Maße auch als Heilmittel geschätzt wurde (ebd.). Obwohl Spanien die Schokoladeproduktion zu monopolisieren versuchte, entstanden allmählich

"Léon 1969, 145 u. 155; StHd 1960, 376; 1970, 479; 1987, 559. "Braudel 1971, 264; Hintze 1934, 260; Masefield 1967, 295.

250

auch in anderen europäischen Ländern eigene Schokoladefabriken. Außer in Spanien jedoch, wo die Schokolade in verschiedenen Bevölkerungsschichten verbreitet war, blieb sie in Europa als ausgesprochenes Luxusgetränk lange Zeit auf relativ wenige Konsumenten beschränkt, so daß noch gegen Ende des 18. Jahrhunderts nach Großbritannien kaum mehr als 1001 Kakaobohnen importiert wurden.27 Lange Zeit war Mexiko der einzige Exporteur von Kakaobohnen, die im übrigen auch in hohem Maße dem Eigenkonsum dienten. Erst im 17. Jahrhundert begannen Venezuela und mehrere westindische Inseln, Kakao zu exportieren. Allerdings wurden die auf Trinidad, Martinique, Hispaniola und Jamaika angelegten Kakaoplantagen, die wie die Kaffeeplantagen von Negersklaven bewirtschaftet wurden, 1727 von einem Hurrikan zerstört und teilweise erst im 19. Jahrhundert wieder aufgebaut (Masefield 1967, 296). Eine deutliche Steigerung der Nachfrage nach Kakao setzte in Europa erst nach der Mitte des 19. Jahrhunderts ein, wobei der Kakao seine Beliebtheit vor allem "seinem Wohlgeschmack in Verbindung mit Milch und Zucker" sowie seinem Nährwert, der von einem "hohen Gehalt an Fett, Eiweißstoffen und Kohlehydraten" herrührt, verdankte (HdSW V, 459; Leon 1969, 80). Da es sich jedoch auch beim Kakao und den damit hergestellten Produkten wie bei Zucker und Kaffee um für das Leben keineswegs unerläßliche Güter handelte, hing sein Konsum in hohem Maße vom Pro-Kopf-Einkommen in den einzelnen Ländern ab. Unter Berücksichtigung des Außenhandels mit Kakaohalbwaren und mit Schokoladeerzeugnissen läßt sich daher für die frühen SOer Jahre des 20. Jahrhunderts ein jährlicher Pro-Kopf-Verbrauch an Kakao errechnen, der in der Schweiz und in Großbritannien mit rund 3 kg am höchsten war, gefolgt von den Niederlanden mit etwa 2 kg sowie Belgien und der BRD mit ungefähr 1,5 kg, während die insgesamt weniger entwickelten Länder Spanien und Italien mit weniger als einem halben Kilo am unteren Ende der Skala rangierten ( H d S W V , 460). Angeregt durch die wachsende Nachfrage in Europa und den USA wandten sich immer mehr Länder der Kakaoproduktion zu, und zwar außer in Lateinamerika zusehends auch in anderen Teilen der Erde, vor allem in Afrika. Allerdings vermochte Lateinamerika, wo nun insbesondere Brasilien, Ecuador, Venezuela, Trinidad, Haiti und Grenada für den Export produzierten, seine führende Stellung vorerst noch zu behaupten, indem es 1900 rund 81 Prozent der Welternte bestritt (HdSWV, 459; HdStWV, 561). In der Folge jedoch ging sein Anteil rasch zurück, und zwar bis Mitte der 30er Jahre auf nur noch ein Drittel, womit Lateinamerika trotz absoluter Produktionssteigerung lediglich halb so viel Kakao erntete wie Afrika (HdSWV, 459). Auch nach dem Zweiten Weltkrieg kamen relativ immer weniger Kakaobohnen aus Lateinamerika — in den 80er Jahren noch rund ein Viertel der Welternte —, wobei Brasilien mit über 400.000 t zuletzt fast doppelt so viel produzierte wie die restlichen vier

"Braudel 1971, 266; Masefield 1967, 295f.; Mueller 1957, 106f.

251

Hauptproduzenten Ecuador, Kolumbien, Mexiko und die Dominikanische Republik zusammen. Allerdings gingen etwa 1985 nur noch zwei Fünftel der brasilianischen Produktion in den Export.28 Auch Europa bezog inzwischen den allergrößten Teil seines Kakaobedarfs aus anderen als den lateinamerikanischen Ländern. Die tropischen Länder Lateinamerikas steuerten — angeführt von Brasilien und Ecuador — 1963 nur noch 8,5 und 1976 lediglich sechs Prozent der Rohkakaoeinfuhr in die kapitalistischen Länder Europas bei (WTA 1963 I; WTA 19761, 84).

Resümee Worin lag nun aber tatsächlich der Beitrag, den Lateinamerika leistete, damit die Europäer satt und süchtig wurden? 1. Unter den sättigenden Nahrungsmitteln ist die Rolle der zwar in Amerika kennengelernten, dann jedoch in Europa selbst angebauten Produkte — Mais und Kartoffel — für die Versorgung Europas ungleich höher zu veranschlagen als die der Weizen- und Fleischimporte im späten 19. und 20. Jahrhundert. 2. Von den süchtig machenden bzw. über das Lebensnotwendige hinausgehenden Genußmitteln verdanken die Europäer den Indianern Amerikas zwar die Kenntnis des Tabaks und des Kakaos, ihren Bedarf deckten sie jedoch immer weniger aus Lateinamerika, sondern in zunehmendem Maße aus anderen Teilen der Erde bzw. aus Europa selbst. 3. Das von den Europäern nach Amerika verpflanzte Zuckerrohr trug bis ins 19. Jahrhundert ganz wesentlich zur Ausweitung des Zuckerkonsums in Europa bei, welcher jedoch in der Folge fast ausschließlich dem eigenen, europäischen Rübenzucker zugute kam. 4. Der erst im 18. Jahrhundert nach Amerika gebrachte und in der Folge hauptsächlich dort angebaute Kaffee förderte die Entwicklung des Kaffees zum Massenkonsumartikel, der von den Europäern im Unterschied zu den anderen Genußmitteln bis zuletzt zum Großteil aus Lateinamerika bezogen wurde. 5. Die Tabak-, Zucker-, Kaffee- und Kakaoimporte dienten fast ausschließlich der Befriedigung des europäischen Bedarfs nach letztlich entbehrlichen Genußmitteln, die zudem — wenn auch von den Europäern nicht notwendigerweise so gewollt — vielfach um den Preis der Ausbeutung zahlloser Plantagenarbeiter (vgl. Wirz 1984, 210) erstanden wurden und darüber hinaus einer einseitigen Orientierung auf den Außenhandel, die eine eigenständige Entwicklung der lateinamerikanischen Wirtschaften behinderte, Vorschub leisteten. 6. Der seit der Entdeckung Amerikas bis heute anhaltende Export landwirtschaftlicher Erzeugnisse aus Lateinamerika nach Europa zeigte daher für ersteres zum Teil fatale Auswirkungen, zur Sättigung der Europäer trug er hingegen nur am Rande bei. Dies heißt schließlich:

24

Fischer Weltalmanach 1988, 819; FAO Production Yearbook 1986, 181.

252

7. daß für die Ernährung der Europäer der Handel mit Lateinamerika praktisch ohne, die Kenntnis der ursprünglich amerikanischen Nahrungsmittel Mais und Kartoffel dagegen von großer Bedeutung waren.

Abkürzungen FAO HdStW HdSW StHd WTA

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5. Die Präsenz Lateinamerikas im 20. Jahrhundert

Lateinamerika in den Medien: Zeitungen und Zeitschriften Jürgen Wilke

I. Die Entdeckung Amerikas und die Entwicklung gedruckter Informationsmedien vollzogen sich annähernd gleichzeitig, an der Wende vom IS. zum 16. Jahrhundert. Dies ist kein Zufall, denn hinter beiden Vorgängen standen ähnliche Antriebe, nämlich jener Forscher- und Erfindergeist, der die Menschheit in die Neuzeit führte. Es ist somit von mehr als nur anekdotischer Bedeutung, daß das erste, mit Gutenbergs Verfahren hergestellte Druckwerk, das den uns geläufigen Begriff "Zeitung" im Hauptitel trägt, die Copia der Newen Zeytung auß Presillg Landt ist (Bockwitz 1920). Sie stammt aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts und berichtet von der Rückkehr zweier Schiffe, die mit Genehmigung des Königs von Portugal ausgefahren waren. Geschildert werden die Reise selbst, die Gefahren sowie Land und Leute von "Presillg Landt", von Brasilien, das erst wenige Jahre zuvor entdeckt und in Besitz genommen worden war. Man hat deshalb bei diesen und ähnlichen Druckwerken, von denen es noch zahlreiche andere gab (Hirsch 1978), sogar von "Entdeckerzeitungen" gesprochen. Was die Weltreisenden erlebten, wurde den "Daheimgebliebenen" in gedruckter Form bekannt gemacht, zumindest so weit sie lesen konnten oder ihnen vorgelesen wurde. So bemerkenswert dieser Sachverhalt ist, in seiner gesellschaftlichen Wirkung sollte er doch nicht überschätzt werden. Denn es handelte sich hier noch um Einzeldruckwerke, die zwar im Prinzip allgemein zugänglich waren, aber wegen der geringen Auflagen in ihrer Verbreitung eng begrenzt blieben. Mehr als ein Jahrhundert sollte es noch dauern, bis Zeitungen in einer Erscheinungsfolge herauskamen, die eine regelmäßige Berichterstattung ermöglichte. Zwar enthielten die periodischen (Wochen-)Zeitungen dann in erheblichem Anteil Auslandsnachrichten, ja diese dominierten lange Zeit, zumindest in

256

Deutschland (Wilke 1984; 1986), doch diese Meldungen stammten so gut wie ausschließlich aus Europa. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, daß regelmäßige Berichterstattung die Regelmäßigkeit eines organisierten Nachrichtenverkehrs voraussetzte, wie ihn in Mitteleuropa die Familie Thum und Taxis mit ihrer Reichspost betrieb. Wo es an einem solchen fehlte — und das galt lange Zeit gerade für die überseeischen Gebiete —, kam auch keine fortlaufende Übermittlung von Nachrichten zustande. Informationen über Lateinamerika konnte man allenfalls aus Reiseberichten entnehmen, die in Zeitschriften oder als eigenständige Schriften publiziert wurden. Das schließt nicht aus, daß gelegentlich eine Meldung aus der exotischen Ferne Südamerikas auch in die Zeitungen gelangte.1 Im Laufe des 19. Jahrhunderts verbesserten sich — durch technische Neuerungen — die Umstände der Nachrichtensammlung, ja diese dehnte sich mehr und mehr über den Erdball aus. Dafür entstanden jetzt auch eigene Unternehmen, die Nachrichtenagenturen. Folgenreich war die Kartellvereinbarung, mit welcher die Nachrichtenagenturen seit den siebziger Jahren die Welt unter sich aufteilten. Dadurch erhielt die französische Agence Havas das ausschließliche Recht, Nachrichten in Lateinamerika zu sammeln und zu verbreiten. Die Zugehörigkeit zum romanischen Kulturkreis war begreiflicherweise für diese Zuteilung ausschlaggebend. Das Wolffsche Telegraphenbureau (WTB), die deutsche Nachrichtenagentur, mußte sich hingegen mit einer kontinentalen Rolle begnügen und erhielt Nord- und Osteuropa als Interessengebiete zugewiesen. Nur mittelbar, im Ringtausch mit der Agence Havas konnte das Wolffsche Telegraphenbureau Nachrichten aus Lateinamerika beziehen oder deutsche dort verbreiten. Hier blieb folglich immer das Interesse einer ausländischen Agentur als Filter vorgeschaltet. Zu den langfristigen Konsequenzen dieser Kartellabsprachen, die wiederholt verlängert wurden und erst 1924 ausliefen, gehört es, daß die Agence France Presse (AFP), die Nachfolgerin der Agence Havas, bis heute eine starke Stellung auf dem lateinamerikanischen Nachrichtenmarkt hat und bezüglich der Meldungen von dort als ausgesprochen zuverlässig gilt. Von der eigenständigen Beschaffung und Verbreitung von Nachrichten in Übersee abgeschnitten zu sein, wurde in Deutschland bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs als eminenter Nachteil empfunden. "Los von Reuter und Havas!" — so lautete jetzt die Devise (Rotheit 1915). Da das Wolffsche Telegraphenbureau aber an die Kartellverträge gebunden war, lag die Chance dazu nur darin, eine

'Zwei stichprobenweise untersuchte Hamburger Zeitungen brachten 1622 unter 434 Meldungen (10 Ausgaben), 1674 unter 399 Meldungen (18 Ausgaben), 1736 unter 517 Meldungen (17 Ausgaben) und 1796 unter 662 Meldungen (12 Ausgaben) jeweils keine Meldung aus Südamerika. Im Jahre 1856 waren es unter 1224 Meldungen (11 Ausgaben) zwei Meldungen aus Mexiko, eine aus Nicaragua und eine aus Valparaiso. Im Jahre 1906 waren es unter 1222 Meldungen (14 Ausgaben) eine Meldung aus Blumenau (Brasilien) und eine aus Santiago de Chile. Vgl. Wilke 1984.

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neue, ihnen nicht unterworfene Nachrichtenagentur aufzubauen. Noch während des Kriegs wurde das Unternehmen Transocean (TO) gegründet, mit der ausdrücklichen Zielsetzung, Nachrichten international abzusetzen, die im Interesse der deutschen Politik und Wirtschaft lagen (Klee 1991). Erste Erfolge stellten sich bald und in den zwanziger Jahren zunehmend ein. Die Aktivitäten konzentrierten sich außer auf Asien bevorzugt auf Lateinamerika. Hier bemühte man sich insbesondere darum, Abnehmer unter den Zeitungen Argentiniens und Brasiliens zu finden. In Brasilien gründete die TO 1928 die Agencia Brasileira sogar als eine Art Tarnunternehmen, über das sie ihren Nachrichtendienst der brasilianischen Presse anbot. Außer in Argentinien und Brasilien wurde der spanische TO-Dienst gegen Ende der Weimarer Republik in Lateinamerika noch in Uruguay, Chile, Kolumbien, Venezuela und Mexiko abgedruckt. Konnten die Vertretungen von Transocean und die Absatzzahlen bis 1940 weiter verstärkt werden, so setzte mit dem Fortschreiten des Zweiten Weltkrieges ein Niedergang ein. Die Büros von TO in Lateinamerika mußten nach und nach geschlossen werden. Der 1942 auf der Konferenz von Rio de Janeiro beschlossene Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu den Achsenmächten und der Kriegseintritt auf seiten der Alliierten, dem sich bis auf Argentinien und Chile alle lateinamerikanischen Staaten anschlössen, machte jedenfalls die weitere Arbeit von TO-Vertretern in diesen Ländern unmöglich (Klee 1991). Ohnehin war diese wirtschaftlich und politisch motivierte Nachrichtenverbindung im wesentlichen einseitig geblieben.

II. Im vorliegenden Zusammenhang auf die Nachrichtenagenturen einzugehen ist deshalb unumgänglich, weil sie für die Presse gewissermaßen die "Grundversorgung" mit Information liefern. Dies gilt zumal im internationalen Bereich. Nur wenige Zeitungen und Zeitschriften können sich eigene Auslandskorrespondenten leisten, die exklusiv für sie berichten. Die Mehrzahl der Blätter ist vielmehr auf "fremdbeschaffte" Nachrichten angewiesen, die sie vorzugsweise von den Nachrichtenagenturen beziehen. Dies ist in der Bundesrepublik heute in erster Linie die Deutsche Presse-Agentur (dpa) mit Sitz in Hamburg. Sie beliefert die Medien mit verschiedenen "Diensten", unter denen der rund um die Uhr gesendete "Basisdienst" am wichtigsten ist. Er enthält je etwa zur Hälfte Inlands- wie Auslandsmeldungen (Wilke/Rosenberger 1991). Von den Auslandsmeldungen der dpa entfällt nur ein begrenzter Teil auf Lateinamerika. Immerhin unterhält die Agentur dafür 17 Niederlassungen in verschiedenen Ländern des Subkontinents. Sie ist dort damit sogar besser vertreten als in manchen anderen Teilen der Welt. Dies hat auch insofern seine Bedeutung, als die dpa unter ihren Auslandsdiensten, die sie zusätzlich zu den deutschen Diensten anbietet, auch einen eigenen, spanischsprachigen Lateinamerika-Dienst herausgibt. Er ist mit täglich rund 35.000 Wörtern nach dem deutschsprachigen Europa-Dienst sogar der größte Auslandsdienst. Daß dieser Dienst Abnehmer findet, obwohl er in Konkurrenz zu den Weltagenturen AFP,

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AP, Reuters und vor allem der spanischen Agentur Efe steht, dürfte noch mit der zuvor genannten, weiter zurückreichenden Präsenz Deutschlands auf dem lateinamerikanischen Nachrichtenmarkt zusammenhängen. Dabei liefert die dpa den mehr als 100 Kunden ihres Dienstes in Lateinamerika vornehmlich Nachrichten aus Lateinamerika selbst und befriedigt damit die primäre Nachfrage der Medien auf dem Subkontinent. Eine Auswertung des Dienstes von einer Woche zeigte vor Jahren, daß 53 Prozent der Meldungen über Ereignisse in Lateinamerika berichteten, 27 Prozent über solche in Westeuropa und 6 Prozent über solche in Nordamerika (Bechtold 1982). Auf die anderen Regionen der Welt entfielen geringere Anteile. Dabei ist jedoch zu bedenken, daß sich die 53 Prozent auf eine ganze Reihe von lateinamerikanischen Ländern verteilten und sich der Anteil von Nachrichten aus der Bundesrepublik auf 8 Prozent (innerhalb der 27 Prozent für Westeuropa) belief. Insofern dürfte die Bundesrepublik in der Nachrichtengebung des dpa-Dienstes für Lateinamerika doch etwas bevorzugt werden, dominiert aber keineswegs.

III. Obwohl die Deutsche Presse-Agentur in Lateinamerika durch eine ganze Reihe von Büros und Korrespondenten vertreten ist und auch die deutschsprachigen Dienste der großen Weltagenturen Nachrichten von dort bringen, ist die Berichterstattung über Lateinamerika in den Zeitungen hierzulande bisher noch immer recht gering. Eine 1979 durchgeführte Inhaltsanalyse erbrachte für den Anteil von Meldungen aus Lateinamerika Werte zwischen 5,4 Prozent bei der Frankfurter Rundschau und 2,5 Prozent bei der Bild-Zeitung (Schulz 1986). Dazwischen lagen die Süddeutsche Zeitung mit 5,1, die Frankfurter Allgemeine mit 4,4 und Die Welt mit 4,0 Prozent. Die Werte für die regionalen Abonnementzeitungen dürften im Durchschnitt noch darunter liegen. Der Anteil lateinamerikanischer Nachrichten im Basisdienst der dpa betrug übrigens 4,7 Prozent und stellte demnach einen Mittelwert dar. Zehn Jahre später waren es rund zwei Prozent, d.h. knapp 50 Meldungen pro Woche. Zur gleichen Zeit wurde über Asien mehr, über Afrika weniger berichtet (Wilke/Rosenberger 1991). Ergebnisse einer anderen Inhaltsanalyse haben gezeigt, daß der Löwenanteil der Mittelamerika-Berichterstattung im Jahre 1984 in den überregionalen Tageszeitungen Frankfurter Allgemeine, Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Rundschau und Die Welt erschien (Lotze 1985). Dies sind jene großen Blätter, die sich auch eigene Korrespondenten in Lateinamerika leisten können. Denn die dpa liefert zumeist nur kurze Ereignismeldungen und weniger Hintergrundberichte. Letztere wären aber für eine komplexere Darstellung und für ein besseres Verständnis der dortigen Vorgänge vonnöten. Wer als Leser daran interessiert ist, muß also zu diesen Qualitätszeitungen greifen. Doch erreichen diese nur einen begrenzten Leserkreis. Ihre Tagesauflage beträgt zusammengenommen nicht viel mehr als eine Million Exemplare, ihre Reichweite gut 5 Prozent der Bundesbevölkerung. Die genannten Zeitungen vertreten überdies in der Regel unterschiedliche politische Positionen von links (FR), gemäßigt links (SZ),

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gemäßigt rechts (FAZ) bis rechts (Die Welt). Diese politischen Positionen schlagen sich durchaus in der Lateinamerika-Berichterstattung nieder.2 Hier kann der Leser folglich auch zwischen verschiedenen Sichtweisen lateinamerikanischer Probleme wählen (vgl. auch von Roemeling-Kruthaup 1991). Daß der oben quantitativ umrissene Anteil der Lateinamerika-Berichterstattung in den bundesdeutschen Zeitungen zu geringfügig sei, läßt sich unschwer kritisieren und dies geschieht denn auch immer wieder. Dabei geht man meistens von der Überzeugung aus, dieser Subkontinent habe sehr wohl eine größere Aufmerksamkeit verdient. Allerdings fragt es sich, welcher Umfang denn wünschenswert wäre, um als "angemessen" gelten zu können. Soll die Berichterstattung etwa der Größe der eingenommenen Erdoberfläche (ein Sechstel) oder dem Anteil an der Weltbevölkerung (ein Zwölftel) entsprechen? Eine derartige Gleichverteilung der Medieninhalte zu fordern, ginge aber an den eigentlichen Funktionsweisen der Massenmedien vorbei. Denn diese bilden nicht vorgegebene Sachverhalte und Relationen ab, sondern konstruieren ein Bild der Wirklichkeit nach eigenen Regeln, ja sie konstruieren Realität, wie man sich heute zu sagen angewöhnt hat. Um die Chancen der Lateinamerika-Berichterstattung in deutschen Zeitungen realistisch abzuschätzen, muß man sich mehrere Dinge vor Augen führen: 1. Die Informationskapazität der Zeitungen ist begrenzt, wenngleich ihr Umfang mehr Berichterstattung erlaubt als die entsprechenden Nachrichtensendungen in Funk und Fernsehen. Das Mißverhältnis zwischen dem verfügbaren Platz in der Zeitung und dem großen Angebot an Nachrichten bzw. an potentiell berichtbaren Ereignissen zwingt zu einer rigiden Auswahl. Jede Nachricht, die in den Zeitungen Aufnahme finden will, steht in Konkurrenz zu zahlreichen anderen, die das auch möchten. 2. Die Zeitungs-Journalisten orientieren sich — wie die Medien überhaupt — bei der Nachrichtenauswahl am Leserinteresse. Auch wenn dieses nur vermutet oder unterstellt werden mag, so haben doch — zumindest in einem freien politischen System — die Nachfrage und Nutzung einen Einfluß auf das Nachrichtenangebot. Graduelle Unterschiede treten dabei je nach Zeitungstyp und nach der Konkurrenzlage auf. Die Verteilung der Nachrichten auf die verschiedenen Regionen und Länder der Welt muß somit auch als ein Indikator für das jeweilige Interesse an ihnen gewertet werden. Woran sich die Frage anschließt, ob und wie dieses Interesse beeinflußt und gefördert werden kann. Da Aufgeschlossenheit für Informationen aus dem Ausland vom Bildungsgrad abhängt, läßt sich damit auch der überdurch-

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Die Untersuchung von Lotze (1985) zeigte, daß die Tendenzen der MittelamerikaBerichterstattung 1984 in den vier überregionalen Zeitungen dem angenommenen LinksRechts-Spektrum entsprach. Die inhaltsanalytisch erhobenen Mittelwerte der Tendenzen schwankten zwischen -3,16 (FR), -1,38 (SZ), +2,41 (FAZ) und +3,27 (Die Welt), wobei positive Werte gleichbedeutend sind mit einer Tendenz pro USA.

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schnittliche Anteil von Berichten über Lateinamerika gerade in den Qualitätszeitungen erklären. 3. Die Weltoffenheit der deutschen Zeitungen ist im internationalen Vergleich durchaus bemerkenswert. Der Anteil der Auslandsberichterstattung ist beträchtlich, zudem beziehen sich im Durchschnitt rund zwei Fünftel der einschlägigen Meldungen auf Ereignisse, die sich außerhalb von Europa zutragen. Das ist wesentlich mehr als z.B. in der Presse der Vereinigten Staaten. Dort beschränkt man sich in der Berichterstattung viel stärker auf das eigene Land, mag Lateinamerika wegen der größeren Nähe auch besser wegkommen als andere Regionen der Welt. 4. In der Auslandsberichterstattung gibt es weltweit ein ziemlich ähnliches Muster (Schenk 1987): Vorrangig bringen die Medien zunächst einmal Nachrichten aus den umliegenden Ländern, man spricht hier von Regionalismus als Grundprinzip. Dies gilt nicht nur für Europa, sondern auch in der Dritten Welt. Dementsprechend dominieren, wie schon erwähnt wurde, im Lateinamerika-Dienst der dpa z.B. auch Meldungen aus Lateinamerika selbst. Die Berichterstattung folgt vor allem dem Kriterium der Nähe, und zwar in der Annahme, daß sich die Menschen eher mit dem Nahegelegenen als mit dem Fernliegenden beschäftigen und identifizieren. Allerdings ist nicht so sehr die geographische als die politische und kulturelle Nähe ausschlaggebend. An zweiter Stelle der Auslandsberichterstattung stehen in der Regel Nachrichten über westliche Industrieländer und sogenannte "Elite-Nationen". Maßgeblich für die Aufmerksamkeit der Medien sind hier politische Macht und wirtschaftliche Bedeutung. Drittens folgen in der Berichterstattung die jeweiligen Krisen- und Konfliktgebiete, seit Jahren z.B. der Nahe Osten oder das ehemalige Jugoslawien. Schließlich kommt erst an vierter Stelle die Berichterstattung über sonstige Regionen der Welt, insbesondere die Entwicklungsländer. Für sie bleibt in der Regel nur noch wenig Platz in den Medien übrig. Man mag dieses Muster ungerecht finden und selbstkritisch Defizite einräumen, darf aber die Sachlogik, die dahinter steckt, nicht übersehen. Es ist eine Logik, die mit individuellen und kollektiven Aufmerksamkeitsstrukturen, aber auch mit politischen und wirtschaftlichen Machtfaktoren zu tun hat, die nicht so leicht zu verändern sind. Was die Chancen für die Berichterstattung über Lateinamerika in unseren Massenmedien betrifft, so läßt sich nach dem zuvor Gesagten feststellen: Lateinamerika ist, von der Bundesrepublik her gesehen, weit weg. Es fehlt die geographische Nähe, wie sie zwischen Nord- und Südamerika besteht. Auch die politische Nähe, die vor allem durch Bündnisse hergestellt wird, entfällt. Darüber hinaus ist die kulturelle Nähe zur Bundesrepublik eher gering, da es sich in Lateinamerika um romanische, von den spanischen und portugiesischen Kolonialherren geprägte Kulturen handelt, auch wenn es gewisse Wellen deutscher Emigration dorthin gegeben hat. Schließlich sind die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu den Ländern Lateinamerikas für die Bundesrepublik nicht von

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vorrangiger Bedeutung. Der Handel mit allen Ländern des Subkontinents zusammengenommen erreichte 1993 nur ein Viertel des Handels mit den Vereinigten Staaten (Statistisches Bundesamt 1994). Ferner lassen sich die lateinamerikanischen Staaten kaum als politisch einflußreiche "Elite-Nationen" bezeichnen. Somit sind wesentliche Voraussetzungen nicht vorhanden, die für eine intensivere Berichterstattung über Lateinamerika in den deutschen Zeitungen und Medien gegeben sein müßten. Lateinamerika tritt bisher erst an dritter, wenn nicht vierter Stelle der oben gezeichneten "Nachrichten-Hierarchie" in den Blick, und zwar mit entsprechend reduziertem Umfang: An dritter Stelle dann, wenn es um weiterreichende Krisen und Konflikte geht. Dies war in den achtziger Jahren vor allem in Mittelamerika der Fall, weshalb vergleichsweise viel über Nicaragua und El Salvador berichtet wurde. Der Nachrichtenwert der Vorgänge dort hatte aber auch mit dem gleichzeitigen, zumindest mittelbaren Bezug zu den "Elite-Nationen" Vereinigte Staaten und Sowjetunion zu tun. Wo solche internationalen Konfliktsymptome und Bezüge fehlen, kommt Lateinamerika nur an vierter Stelle der "Nachrichten-Hierarchie" in Betracht.

IV. Nachdem bisher mehr über die Rahmenbedingungen gesprochen wurde, die für die Lateinamerika-Berichterstattung maßgeblich sind, soll nun von dieser selbst die Rede sein — so weit sie also vorhanden ist. Dabei ist zunächst zu bedenken, daß Lateinamerika ein Sammelbegriff für eine größere Anzahl von Ländern ist und insofern bereits einer ungerechtfertigten Generalisierung Vorschub leistet. Wenn schon die Präsenz des Subkontinents insgesamt (zu) geringfügig ist, so muß dies erst recht für die Länder im einzelnen gelten. Denn natürlich wird nicht über alle lateinamerikanischen Länder gleichmäßig berichtet. Dies bemerkt man schon bei der eigenen Zeitungslektüre, es bestätigt sich aber auch in empirischen Erhebungen auf breiterer Basis. Nach einer Untersuchung Anfang der siebziger Jahre konzentrierte sich die Information auf wenige Länder, und zwar vor allem auf Brasilien, Chile und Argentinien sowie außerdem noch auf Bolivien, Guatemala, Peru und Mexiko (Wöhlcke 1973). Im darauf folgenden Jahrzehnt trat Mittelamerika mit Nicaragua, El Salvador und Honduras zeitweise stärker ins Blickfeld der Aufmerksamkeit. Generell gibt es wenig Kontinuität und viel Fluktuation: Neben wenigen Ländern Lateinamerikas, über die mit einer gewissen Regelmäßigkeit berichtet wird, steht die Mehrzahl der Länder, die nur aus besonderen Anlässen bei den Medien Beachtung finden. Solche Anlässe können einmal außergewöhnliche und mit hohem Nachrichtenwert ausgestattete Vorkommnisse sein, aber auch Ereignisse, die eine bilaterale Verbindung herstellen (z.B. der Staatsbesuch eines hochrangigen Politikers). Auch Gedenktage können solche Anlässe schaffen, was insbesondere 1992 mit der fünfhundertsten Wiederkehr der Entdeckung Amerikas der Fall war. Auch thematisch hat die Lateinamerika-Berichterstattung ihre Schwerpunkte. Wie die bereits erwähnte Studie vom Anfang der siebziger Jahre zeigte,

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berichteten die untersuchten Zeitungen vor allem über Politik (zu 60 bis 80 Prozent), gefolgt von der Wirtschaft (Wöhlcke 1973, 22 ff.). Berichte über Gesellschaft, Kultur, Religion, Recht und Kriminalität sowie über "Vermischtes" fielen hingegen kaum ins Gewicht. Eine andere, Mitte der achtziger Jahre durchgeführte Inhaltsanalyse der Lateinamerika-Berichterstattung deutscher Qualitäts-Zeitungen (SZ, Die Welt, FAZ, ZEIT) bestätigte, daß es sich bei der Lateinamerika-Berichterstattung vornehmlich um Krisenschilderungen handelte (von Roemeling-Kruthaup 1991). Die Information ist danach weitgehend auf Politik und Wirtschaft sowie auf Vorgänge in den Metropolen beschränkt, während kulturelle und historisch-kulturelle Themen kaum ins Gewicht fallen. Auch überwiegen monofaktorale Erklärungen gegenüber solchen, die der komplexen Vielschichtigkeit der lateinamerikanischen Länder gerecht zu werden suchen. Mit der steigenden Rezeption lateinamerikanischer Literatur hat es vermehrt einschlägige Beiträge und Rezensionen in den Feuilletons gegeben. Zumindest gelegenüich werden, dem weltweiten Ausgreifen des Tourismus folgend, in den Reiseteilen der Zeitungen attraktive Reiseziele in Lateinamerika behandelt. Und auch der Sportteil ist nicht zu vergessen: Die bei uns ebenso wie in den dortigen Ländern vorhandene Popularität, insbesondere des Fußballs, ist Motiv für ein entsprechend großes Interesse. Daß in der Lateinamerika-Berichterstattung deutscher Zeitungen ganz bestimmte Themen und Ereignistypen vorherrschend sind, ist offensichtlich. Wie ist dies aber zu erklären? Nicht der böse Wille der Journalisten, sondern deren berufsspezifische Selektionsregeln sind dafür ausschlaggebend. Den Nachrichtenwert von Ereignissen bemessen Journalisten mitunter zwar danach, was sie selbst subjektiv für wichtig halten, häufig aber auch nach objektiven Ereignismerkmalen, die man als Nachrichtenfaktoren bezeichnet (Schulz 1976; Staab 1990). Dazu gehören außer der früher bereits erwähnten Nähe und dem Bezug zu "Elite-Nationen" auch der Bezug zu "Elite-Personen" sowie Überraschung, Konflikt und Negativismus. Geringer Nachrichtenwert hinsichtlich bestimmter Faktoren muß durch entsprechende Stärke bei anderen Faktoren wettgemacht werden. Nur so gelingt es einer Nachricht, die Selektionsschwelle zu überwinden. Wegen der geringen Entfernung müssen Nachrichten aus Lateinamerika andere aufmerksamkeitsträchtige Aspekte aufweisen, um in den deutschen Zeitungen abgedruckt zu werden. Dies trifft, wie wir bereits gesehen haben, vor allem auf Krisen und Konflikte zu. Die Entwicklung in Lateinamerika war in den achtziger Jahren politisch durch Vorgänge der Redemokratisierung und wirtschaftlich durch Probleme bedingt, die sich aus der hohen Auslandsverschuldung ergaben. Über beides haben die deutschen Zeitungen, wenn auch zugegebenermaßen nur in dem angegebenen begrenzten Umfang, informiert. Allerdings sind, der spezifisch journalistischen Optik entsprechend, eher die Gefährdungen als die Fortschritte der Redemokratisierung betont worden. Jedenfalls wurde z.B. über Argentinien oder Chile immer dann berichtet, wenn das nach der Demission der Militärs aufgebaute demokratische System innenpolitisch bedroht schien. Eingang in die

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Zeitungen fanden in diesem Zusammenhang auch Artikel über die Repression und die Menschenrechtsverletzungen, die bei der Aufarbeitung der Vergangenheit aufgedeckt wurden. Kristallisationspunkte der journalistischen Berichterstattung sind Situationen, in denen politische Veränderungen eintreten (können). Diese können gewaltsam herbeigeführt werden in einem Putsch, wovon zahllose in der lateinamerikanischen Geschichte vorkamen. Zumeist wurden dadurch autoritäre politische Verhältnisse begründet. Gewaltsame Machtenthebung kann aber durchaus am Anfang einer Redemokratisierung stehen. Doch nicht nur auf diesem Wege kann es zu politischen Veränderungen kommen, die dann Gegenstand der Berichterstattung sind, sondern sie werden in demokratischen Verhältnissen auch durch Wahlen eingeleitet. Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in den Ländern Lateinamerikas werden von den deutschen Zeitungen daher zumeist behandelt, zumal sie ja wiederum "Elite-Personen" betreffen. Häufig, zumindest in den überregionalen Qualitätsblättern, bilden solche Wahlen auch den Aufhänger, bei dessen Gelegenheit die Korrespondenten weitere Informationen über die gegenwärtigen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse eines Landes mitliefern. Über dergleichen wird folglich nicht an sich, sondern nur bei Vorliegen eines konkreten Ereignisbezugs berichtet. Dies hat mit der Ereignishaftigkeit des journalistischen Nachrichtenverständnisses zu tun. Es wurde schon gesagt, daß wirtschaftlich die Schuldenkrise einen Schwerpunkt der Lateinamerika-Berichterstattung bildet(e). Dies geschah auch deshalb, weil die Weltwirtschaft im ganzen und die Bundesrepublik als Kreditgeber im besonderen davon betroffen sind. Seit Anfang der achtziger Jahre hat die hohe Auslandsverschuldung die lateinamerikanischen Länder in große finanzielle Nöte gebracht. Die Unfähigkeit, die entstandenen Zinslasten abzutragen, die Umschuldungsaktionen sowie die damit zusammenhängenden Probleme wurden von den Zeitungen immer wieder geschildert, zumindest so weit sie über einen umfangreicheren Wirtschaftsteil verfügen wie die Frankfurter Allgemeine, die Süddeutsche Zeitung, Die Welt und die Frankfurter Rundschau. Anfang der neunziger Jahre wurden Anzeichen der wirtschaftlichen Erholung registriert, bis 1995 die Mexiko-Krise neuerlich Erschütterungen auslöste. Gemäß der Art des Wirtschaftsjournalismus, wie er in der Bundesrepublik bisher vorwiegend betrieben wird, geht es in den jeweiligen Berichten aber mehr um die finanzund volkswirtschaftlichen Dimensionen dieser Probleme und weniger um die sozialen Begleiterscheinungen und Konsequenzen, nämlich eine weitere Verelendung der Bevölkerung. Artikel dazu bilden eher die Ausnahme. Daß es auch vergleichsweise konsolidierte, im Aufschwung befindliche Wirtschaftssysteme gibt (zuletzt etwa Chile), wird allerdings nicht unterschlagen, sondern ist gerade als Kontrast nachrichtenwürdig. In den Wirtschaftsteilen der Zeitungen kommt Lateinamerika schließlich dann noch vor, wenn es um Sachverhalte geht, die bundesdeutsche Unternehmen betreffen (z.B. die Tochtergesellschaften der Automobilfabriken in Brasilien). Einen Anlaß wiederholter Berichterstattung stellte auch der in der Europäischen Union

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ausgetragene Streit um die Kontingentierung der Einfuhr von Bananen dar, von der mehrere lateinamerikanische Länder empfindlich betroffen waren. Welche anderen Themen sind in der Lateinamerika-Berichterstattung deutscher Zeitungen noch anzutreffen? Vor allem der Drogenhandel, in dessen Zusammenhang vor allem Kolumbien in die Schlagzeilen geriet. Was über den Anbau und die Geschäfte mit dem Kokain bekannt wurde, läßt sich zudem leicht unter dem Thema Kriminalität verbuchen. Generell ist die politische Kriminalität ein besonders wichtig erscheinender Komplex. Mit der Ausschaltung der Guerillas in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern seit den siebziger Jahren hat dieses Thema zwar an Bedeutung eingebüßt. Dies gilt selbst für Peru, wo die Macht der Terror-Organisation Sendero Luminoso inzwischen gebrochen scheint. Allerdings darf man nicht annehmen, daß über alle terroristischen Aktivitäten in Lateinamerika hierzulande auch berichtet wird. Die "Konjunktur" dieses Themas hat nicht rein objektive Gründe, sondern dürfte auch von seiner Aktualität bei uns abhängig gewesen sein. Da Kriminalität grundsätzlich einen hohen Nachrichtenwert besitzt, wird auch aus Lateinamerika immer wieder über Verbrechen berichtet. Allerdings passieren diese nur dann die Selektionsschwelle, wenn sie eine bestimmte Intensität besitzen, für die etwa die Zahl der Opfer ein Indikator ist. Ahnliches gilt auch für Unglücke und Katastrophen. Über all dies wird in den Zeitungen auch aus anderen Ländern und naturgemäß aus der Bundesrepublik Deutschland selbst berichtet. Nur ist der Grad des Spektakulären, den solche Ereignisse aufweisen müssen, um Beachtung in den Medien zu finden, doch — der jeweiligen Nähe bzw. Entfernung entsprechend — ganz unterschiedlich. Ein Bezug zu Themen, die uns hierzulande beschäftigen, kann dazu führen, daß diese auch in Lateinamerika entdeckt und in der Berichterstattung aufgegriffen werden. Dies geschieht in jüngerer Zeit z.B. bei ökologischen Fragen. So wurde häufiger über den Raubbau an den Regenwäldern im brasilianischen Amazonas-Gebiet berichtet, aber z.B. auch über die Luftverschmutzung in Mexiko City. Einen Höhepunkt bildete hier gerade der Umweltgipfel in Rio de Janeiro 1992. Folkloristische Elemente, wie sie zum Klischee Lateinamerikas gehören (Hauptbeispiel: brasilianischer Karneval), sind in den Zeitungen eher selten zu finden. Diese eignen sich als Wortmedien zu ihrer Darstellung auch weit weniger als das Bildmedium Fernsehen. Daß die einzelnen Länder Lateinamerikas in den deutschen Zeitungen unterschiedliche Aufmerksamkeit genießen, findet übrigens seine spiegelbildliche Entsprechung, wenn man die Gegenrichtung betrachtet, nämlich die Präsenz der Bundesrepublik in den lateinamerikanischen Medien. Eine Untersuchung von 46 spanischsprachigen Zeitungen mehrerer Länder Lateinamerikas im Juni 1985 wies für die Bundesrepublik einen Anteil zwischen 5,2 und 39,2 Prozent an der jeweiligen Auslandsberichterstattung nach (Baumhauer 1987). Die Bundesrepublik gehörte, wenngleich in wechselnder Rangposition, zu den fünf Ländern Europas, über die am meisten berichtet wurde. Die Motive, welche die Aufmerksamkeit bedingen, scheinen durchaus ähnlich zu sein: Vorherrschend

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sind Politik und Wirtschaft, vor allem wenn wechselseitige Kontakte vorliegen. Die Auslandsbeziehungen der Bundesrepublik, ihre internationale Rolle interessieren ebenso wie die Notierungen des Dollar an der Frankfurter Börse und die deutsche Wirtschaftshilfe. Aber auch Erfolge oder Mißerfolge im Fußballsport (insbesondere der Nationalmannschaft) werden registriert. Schießlich wirken die Schatten der Vergangenheit weiter: Da manche Nazigrößen nach 1945 in Lateinamerika Unterschlupf fanden, ergaben sich von daher immer wieder Anlässe, Vorgänge aus dem Dritten Reich und ihre Folgen "aufzuwärmen". Ist der Anlaß danach — wie 1985 der Fall des KZ-Arztes Mengele —, so schlägt sich dies überdies in den deutschen Zeitungen nieder. Auch in diesem Zusammenhang geht die wechselseitige Wahrnehmung auf bilaterale Berührungspunkte zurück. y. Da der überwiegende Teil der Bundesbevölkerung keine Möglichkeit hat, Lateinamerika aus eigener, unmittelbarer Anschauung kennenzulernen, schafft die Medienberichterstattung für sie den einzigen Zugang, über den eine Vorstellung von diesem Subkontinent zustandekommt. Dies macht die große Bedeutung der Medien, ja ihre konstitutive Rolle bei der Imagebildung in den internationalen Kommunikationsbeziehungen aus (Wilke/Quandt 1987; Wilke 1989). Hieran sind außer den Zeitungen und Zeitschriften auch die Funkmedien, insbesondere das Fernsehen beteiligt. Das Ausmaß ihrer Wirkung hängt freilich davon ab, inwieweit die Berichte über Lateinamerika auch genutzt und zur Kenntnis genommen werden. Fassen wir zusammen: Über Lateinamerika wird in den deutschen Zeitungen einerseits zwar nur in begrenztem Umfang informiert, andererseits aber doch umfangreicher als je zuvor. Langfristig gesehen, hat die Berichterstattung folglich zugenommen. Ob sie weiter zunehmen wird, entsprechend einer weltpolitisch wichtiger werdenden Rolle des Subkontinents, ist ungewiß. Der sich seit Mitte der achtziger Jahre in der Bundesrepublik vollziehende Wandel des Mediensystems könnte eine Reduzierung der Auslandsinformation nach sich ziehen. Zwar dürfte dies primär für Hörfunk und Fernsehen gelten, doch Rückwirkungen davon auf die Presse werden nicht auszuschließen sein. Das Bild Lateinamerikas in den deutschen Zeitungen ist diskontinuierlich, fragmentarisch, verzerrt. Man erhält aus ihnen kein zulängliches Bild der lateinamerikanischen Wirklichkeit, aber wie sollte ein solches Bild auch aussehen? Die quantitativen und inhaltlichen Defizite werden vor allem diejenigen bedauern, die über engere Beziehungen zu Lateinamerika verfügen oder sich für diesen Subkontinent besonders interessieren. Sie neigen von daher freilich leicht zu überzogenen Erwartungen, welche die Zeitungen und die anderen Medien, die sich an ein Massenpublikum wenden, oft kaum erfüllen können. Auch anderswo sind die Massenmedien kein getreuer Spiegel der Realität oder dessen, was man dafür hält. Dies heißt jedoch nicht, daß die Lateinamerika-Berichterstattung nicht zu verbessern wäre. Doch Forderungen, wie sie auch in der jahrelangen Debatte um eine "neue Weltinformationsordnung" aufgestellt

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wurden, sind nicht selten illusorisch oder wirklichkeitsfremd. Allenfalls in einem längeren Prozeß läßt sich eine "umfassendere und besser ausgewogene" Verbreitung von Informationen aus der Dritten Welt erreichen, von der in dieser Debatte die Rede war. Wer sich für Lateinamerika interessiert und ein fundierteres Bild erhalten will, darf und braucht sich mit den hier behandelten Informationen nicht zu begnügen. Ohnehin war hier primär nur von Tageszeitungen, nicht von Zeitschriften die Rede. Diese zweite Gattung des Pressemediums unterscheidet sich von der ersteren durch ein weniger häufiges Erscheinen sowie durch eine mehr oder weniger starke inhaltliche Spezialisierung. Der Tagesaktualität noch am nächsten stehen Wochenblätter wie Die Zeit oder der Rheinische Merkur, aber auch das Nachrichtenmagazin Der Spiegel und neuerdings Focus. Nicht die Ereignismeldungen, sondern der Hintergrundbericht, die interpretierende Reportage oder Story sowie die Bewertung und Kommentierung sind ihre Sache. Verglichen mit den Tageszeitungen sind in ihnen Berichte über Lateinamerika zwar seltener zu finden, dafür sind sie dann, wenn sie gebracht werden, in der Regel ausführlicher. Auf dem deutschen Zeitschriftenmarkt gibt es ein breites Spektrum zwischen den allgemeinen Publikumszeitschriften auf der einen und hochspezialisierten Organen auf der anderen Seite. Die Unterschiede zwischen ihnen in Inhalt, Erscheinungsweise und Aufmachung ergeben sich vor allem aufgrund der unterschiedlichen Zielgruppen. Während sich die einen an ein breites Leserpublikum wenden, richten sich die anderen an Leser mit speziellen (Vor-) Kenntnissen und Interessen. Dabei wächst mit der Spezialisierung in der Regel auch die Systematik der Information. In den außer auf Unterrichtung auch auf Unterhaltung angelegten Publikumszeitschriften wird man demnach auch nicht mit einer hinlänglicheren Schilderung Lateinamerikas rechnen können. Dazu sind allenfalls Fachzeitschriften in der Lage. Sie sind gewöhnlich wissenschaftlich aufgezogen und somit für einen entsprechend vorgebildeten, eng begrenzten Kreis von Lesern bestimmt. Gleichwohl gehört ein Hinweis auf sie an das Ende des vorliegenden Beitrags. Zu nennen sind in der Bundesrepublik Ibero-Amerikanisches-Archiv, Iberoromänica, Iberoamericana und Lateinamerikanische Studien.

Abkürzungen AFP Agence France Presse AP

Associated Press

dpa FAZ FR SZ TO UPI

Deutsche Presse-Agentur Frankfurter Allgemeine Zeitung Frankfurter Rundschau Süddeutsche Zeitung Transocean United Press International

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Der lateinamerikanische Film in Deutschland Eine quantitative Erhebung Peter B. Schumann

I Das bundesdeutsche Verständnis von Lateinamerika haben seit den 60er Jahren vor allem zwei Medien geprägt: die Literatur und der Film. Oder sollte man sagen: der Film und die Literatur? Denn bevor uns der bekannte literarische Boom einen García Márquez, Guimaräes Rosa, Vargas Llosa oder Asturias bescherte, hatten längst Filme aus Mexiko und Argentinien für Verwirrung gesorgt und im Heimat-Mief der prüden Adenauer-Republik einen Schuß Exotik (Mulatta, Königin des Mambo, 1954) und einen Hauch des Unsittlichen (Sklavinnen der Peitsche, 1957) verbreitet. Seither galt Lateinamerika als Produzent filmischer Freizügigkeit. Wer jedoch bedenkt, daß überall auf dem Subkontinent die Katholische Kirche über die primären Geschlechtsmerkmale und ihre bildliche Darstellung wachte, der kann sich leicht vorstellen, daß da nichts Pornografisches verbreitet wurde (wie immer wieder kolportiert wird), sondern die offizielle Züchtigkeit in Deutschland die in Lateinamerika weit übertraf und die hiesigen Produzenten sich nicht an die entsprechenden Stoffe wagten. (Erst in den späteren Phasen demokratischer Sitten mußte die Katholische Kirche den sexuellen Bedürfnissen nachgeben.) So entstand jedenfalls früh ein klischeebehaftetes Lateinamerika-Bild von einem Kontinent der gewalttätigen Männer und gefallenen Frauen, der Verbrechen aus Gier und Lust, der Sucht nach Reichtum und der Sehnsucht nach Höherem, Reinerem, nicht selten nach Gott. Denn der Blick auf das verderbliche Milieu war meist nur gestattet, wenn dem Laster eine anständige Sühne zuteil wurde bzw. wenn es der christlichen Erbauung oder der bürgerlichen Erziehung diente. Der Mexikaner Emilio Fernández war mitunter solchem Sozialkitsch verhaftet, aber es war immerhin der gleiche Fernández, der zusammen mit großen Darstellern wie Dolores del Río oder Pedro Armendáriz und einem Kameramann wie dem genialen Gabriel Figueroa zu bedeutenden filmischen Leistungen fähig war, die alles übrige weit in den Schatten stellten. Bei der Mischung, die den 50er Jahren bis weit in die 60er hinein aus Lateinamerika auf westdeutsche Kinoleinwände kam, war exotische Unterhaltung vorherrschend. Nur selten verirrte sich etwas Anspruchvolleres ins Angebot, wie Raíces von Benito Alazraki (1955), der die Situation der mexikanischen Indios schilderte, oder Los olvidados (1951), Luis Buñuels erstes sozialkritisches Meisterwerk. Sie dürften Deutschland nur erreicht haben, weil sie zuvor in Cannes ausgezeichnet worden waren, und wurden in ihrer Bedeutung erst

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wahrgenommen, als Filmkunst-Verleiher wie Atlas und Kirchner sie in den 60er Jahren im richtigen Umfeld erneut herausbrachten. Es ist kaum anzunehmen, daß andere frühe Buñuels wie Susana, Tochter des Lasters (1951) oder Für ihn verkaufe ich mich (1959) ihrer besonderen filmischen Qualitäten wegen aufgeführt wurden, denn seine bedeutenderen Filme wie Nazarin (1958) oder Das junge Mädchen (1960) brauchten fast ein Jahrzehnt, bis ein (Filmkunst-)Verleiher sich fand. Noch vor Emilio Fernández ist übrigens Buñuel mit sieben Beiträgen der meistgespielte hispano-amerikanische Regisseur der 50er/60er Jahre. Doch erstaunlich bleibt, daß in den Kinos der Bundesrepublik niemals mehr Spielfilme aus Lateinamerika liefen als zwischen 1950 und 1965, nämlich genau 90, darunter zwei Drittel mexikanische und der Rest etwa gleichmäßig auf argentinische und brasilianische Produktionen verteilt.1 Und das zu einer Zeit, als noch niemand vom "lateinamerikanischen Film" sprach, sondern nur seine exotischen Ingredienzien geschätzt waren und dabei ein eher beklagenswertes filmisches Niveau in Kauf genommen wurde.

II Es waren zwei Institutionen, die mit ihrem Engagement das Interesse verstärkten und zugleich verlagerten: Die Berliner Filmfestspiele und das Femsehen. Die Berlinale hat seit ihrem Beginn in unterschiedlichen Schüben, doch kontinuierlich Filme aus Lateinamerika präsentiert. Anfangs ist sie offensichtlich dem Modetrend gefolgt und hat beim ersten Festival 1951 gleich vier mexikanische Beiträge vorgestellt. Dann wurde ihr Leiter Alfred Bauer zwar etwas zurückhaltender, hat es aber vermocht, neben dem kommerziell Erfolgversprechenden immer wieder kinematographisch Bemerkenswertes zu zeigen: La red von Emilio Fernández (Mexiko 1953), O cangaceiro von Lima Barreto (Brasilien 1953), La mano en la trampa von Leopoldo Torre Nilsson (Argentinien 1958), von dem danach eine ganze Reihe von Filmen lief, Os cafajestes (Brasilien 1962) und Os fuzis (Brasilien 1964) von Ruy Guerra, der dafür als erster Lateinamerikaner einen Silbernen Bären erhielt. Einen ersten Durchbruch erlebte das lateinamerikanische Kino 1966 bei den Filmfestspielen durch die Retrospektive des brasilianischen Cinema Novo. Darin waren erstmals in Deutschland zehn Spiel- und ebensoviele Kurzfilme aus einem Filmland zu sehen, dessen junge Regisseure gerade die Avantgarde des Subkontinents bildeten. Zwei Jahre später strahlte das Dritte Fernsehprogramm des WDR eine vierteilige Dokumentation und ein halbes Dutzend Filmbeispiele aus, was ohne den Paukenschlag der Berlinale sicher nicht geschehen wäre. Und noch ein zweites Mal bemühte sich das Festival: 1970, im

'Errechnet aus dem Filmtitel-Verzeichnis des Verleih-Katalogs. Hier sind sämtliche Filme aufgelistet, die seit 1945 in den gewerblichen Kinos der BRD gelaufen sind.

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Jahr seiner tiefsten Krise, widmete es seine "Woche des jungen Films" Lateinamerika, dabei unterstützt von dem inzwischen auch interessierten ZDF. Die Neustrukturierung der Filmfestspiele im folgenden Jahr war für das lateinamerikanische Kino von großem Gewinn: Parallel zum Wettbewerb wurde das Internationale Forum des Jungen Films gegründet, das von nun an regelmäßig die neuen filmischen Entwicklungen des Subkontinents in seinem Hauptprogramm wie in verschiedenen Länderpanoramen (Brasilien, Argentinien, Venezuela, Mexiko) und Genreüberblicken (Tangofilme, mexikanische Melodramen) vorstellte, insgesamt 150 Spiel- und Dokumentarfilme von 1971 bis 1995.2 Zum Vergleich: Im offiziellen Programm der doppelt so alten Berlinale, also in den Bereichen Wettbewerb, Panorama, Kinderfilmfest, liefen von 1951 bis 1995 insgesamt 110 Beiträge aus Lateinamerika.3 Zählt man beide Bereiche zusammen (260 Filme), dann läßt sich wohl sagen, daß es kein größeres internationales Filmfestival der Welt geben dürfte (ausgenommen speziell diesem Thema gewidmete), auf dem so kontinuierlich der Film Lateinamerikas in fast all seinen Schattierungen gepflegt wird wie auf der Berlinale.

III Das Fernsehen hat meist nur die Entwicklungen nachvollzogen, die auf der Berlinale vorgezeichnet wurden: Auf die Retrospektive des Cinema Novo von 1966 folgte 1967 eine Reihe von vier Arbeiten im ZDF und 1968 die Präsentation in WDR 3; die Woche des lateinamerikanischen Films von 1970 verstärkte das Interesse bei ARD und ZDF. Vorreiter war dabei die Filmredaktion des ZDF, die die "glorreichen Jahre" des lateinamerikanischen Kinos (1967-1972) mit regelmäßigen Aufführungen, kleinen Filmreihen, begleitenden Dokumentationen und Einführungen würdigte. Danach vernachlässigte sie den Kontinent wieder und zeigt erst seit der zweiten Hälfte der 80er Jahre etwas regelmäßiger Lateinamerikanisches: von 1966 bis 1993 insgesamt 82 Ausstrahlungen.4 Im "Kolumbus-Jahr", in dem das lateinamerikanische Kino flächendeckend präsent war, unternahm das ZDF eine außerordentliche Anstrengung, die an seine Bemühungen vor zwanzig Jahren erinnerte, und präsentierte über das Jahr verstreut gleich 16 Spielfilme, fast alle in Erstaufführung, darunter einige der bedeutensten der letzten Zeit wie Tangos — El exilio de Gardel von Fernando Solanas (Argentinien 1985), La nación clandestina von Jorge Sanjinés (Bolivien

Errechnet nach dem Index 1971-1989 sowie den Programmheften des "Forums" 19901995. 'Errechnet nach Filme, Namen, Zahlen sowie den Katalogen der Berlinale 1985-1995. 4 Zah!en nach dem Filmstatistischen Taschenbuch. Ich benütze im folgenden nur den Begriff "Ausstrahlungen", wenn ich von den gezeigten Spielfilmen rede, da die hier ausgewertete Fernsehstatistik die Anzahl der Ausstrahlungen zählt und nicht, wie die Filmstatistik, die Erstaufführungen, d.h. auch die üblichen Wiederholungen mitrechnet, so daß die effektive Anzahl erstausgestrahlter Filme wesentlich niedriger ist.

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1989), La luna en el espejo von Silvio Caiozzi (Chile 1990), Cabeza de Vaca von Nicolas Echevarría (Mexiko 1990) und Yo, la peor de todas von María Luisa Bemberg (Argentinien 1990). Das Bemühen des ZDF ist verglichen mit dem relativen Desinteresse der ARD (nur 37 Ausstrahlungen im selben Zeitraum von 1966 bis 1993) sehr beachtlich. Es wird aber vom Engagement bei WDR 3 (96 Ausstrahlungen — die dritten Programme insgesamt 234) übertroffen, dem eigentlichen Promotor des lateinamerikanischen Kinos im westdeutschen Fernsehen, der lange Länderreihen zeigte (Brasilien, Argentinien, Kuba und immer wieder Mexiko) und eine konstante Auseinandersetzung mit Lateinamerika betrieb, obwohl auch hier ein deutlicher Rückgang in den 80er Jahren festzustellen ist. Das allgemeine Vorurteil, das lateinamerikanische Kino habe sich zu stark popularisiert und internationalisiert und dadurch an filmischer Qualität eingebüßt, ist richtig und falsch zugleich. Zwar haben die Regisseure seit Mitte der 70er Jahre dem starken Druck der ökonomischen Zwänge nachgegeben und sich mehr am Publikumsgeschmack und an den Marktgesetzen orientiert als an politischen oder ästhetischen Kriterien, die sie früher bewegten und zu einer stolzen Reihe überragender Filme führten. Aber andererseits laufen im deutschen Fernsehen nun auch nicht ständig Meisterwerke, sondern zu 90 Prozent Dutzendware. Warum kommen also nicht wenigstens die attraktiven Produktionen aus Lateinamerika, von denen es eine ganze Menge gibt, auf den Bildschirm? Weil die Einschaltquote bei einem viertklassigen (und noch dazu billig als Paketware zu kaufenden) US-Film wesentlich höher liegt als bei einem zweitklassigen (und wesentlich teureren) Film aus Lateinamerika; weil die Quote das einzige Kriterium für die Fernsehredakteure ist; und weil das Publikum lieber zur einfachen Kost aus bekannter Küche als zu etwas Exotischem aus unbekannten Landen greift. Über die Motive für die Mexiko-Begeisterung im Kino der 50er und 60er Jahre und dann im Fernsehen, vor allem bei WDR 3, läßt sich nur spekulieren. Beim Fernsehen hat es sicher mit der Angebotspolitik westdeutscher Zwischenhändler und gewissen redaktionellen Vorlieben zu tun. Aber insgesamt dient das mexikanische Kino zum Teil als US-Ersatz, denn es ist durch dem Hollywood-Kino ähnliche Genres geprägt, vor allem dem Western. Das Melodram der ersten beiden Jahrzehnte war zunächst als Zeiterscheinung gefragt, als Flucht aus der heimatseligen Enge der Adenauer-Republik, und ist heute eher von historisch-nostalgischer Bedeutung. Auch lassen sich dabei noch immer cineastische Entdeckungen machen und gesellschaftliche Einblicke gewinnen. Und schließlich dürfte in keiner anderen Kinematografie die Exotik so extrem entfaltet worden sein wie in der mexikanischen. Doch kehren wir noch einmal zu den Zahlenspielen zurück: In die Kinos kamen von 1950 bis 1965 90 lateinamerikanische Spielfilme, pro Jahr rund 6, und danach bis 1993 nur noch 60, pro Jahr rund 2. Das Fernsehen strahlte von 1966 bis 1993 insgesamt 427mal einen lateinamerikanischen Film aus, pro Jahr

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rund 15mal. Das heißt: Das Fernsehen hat das Interesse am lateinamerikanischen Kino auf sich gezogen — ich möchte sogar behaupten: überhaupt erst geweckt. Vor seiner TV-Verbreitung ist der lateinamerikanische Film in den Kinos meist nur als anspruchslose Unterhaltungsware, als irgendetwas austauschbar Erotisches präsentiert worden. Erst mit dem Eintritt des "lateinamerikanischen Films" ins Fernsehen fand ein Qualitätswandel statt, wurde die Film-Kunst, das "Neue Kino" dieses Kontinents bei uns bekannt. Zwar ist der Anteil lateinamerikanischer Produktionen am gesamten Filmprogramm des öffentlich-rechtlichen Fernsehens verschwindend gering: 1992 — dem Jahr mit der bisher stärksten Präsenz — machten die 62 gezeigten Beiträge des Subkontinents nur 1,6 Prozent (von insgesamt 3.817 ausgestrahlten Titeln) aus. Aber bei jeder TV-Aufführung in den überregionalen Programmen werden die Filme von 1 bis 3 Millionen Zuschauern gesehen (bei einer Sehbeteiligung von 3 bis 10 Prozent), sogar in den Dritten Programmen sind es noch Hunderttausende. Das Fernsehen hat das lateinamerikanische Kino an die Massen gebracht und damit ganz entscheidend zu einem differenzierteren Lateinamerika-Bild beigetragen. Inzwischen besinnen sich sogar die kommerziellen Fernsehsender auf ihrer konstanten Suche nach einfacher Unterhaltung gewisser filmischer Erzeugnisse des Subkontinents, die nur ganz selten ins öffentlich-rechtliche Fernsehen gelangten und aus den Kinos längst verschwunden sind: In den ersten beiden Jahren ihrer statistischen Relevanz (1989/90) haben RTL, SAT 1 und Pro 7 bereits 13 lateinamerikanische Filme ausgestrahlt. Ein ganzer TV-Bereich blieb bisher ausgeklammert: das Fernsehen der ehemaligen DDR. Statistisches Zahlenmaterial war nicht zugänglich. Aber so viel läßt sich sagen: Der Deutsche Fernsehfunk hat sich über viele Jahre redlich bemüht, das Neue Kino Lateinamerikas vorzustellen, hat dabei oft mehr Kontinuität und soziales Engagement bewiesen als die westdeutschen Pendants. Dabei war die Auswahl — anders als bei den Sendern der alten BRD — weniger von künstlerischen als von politischen Kriterien geprägt. Viele der kinematografisch interessanten Filme waren auch nicht zu erwerben, weil die Lizenzen für höhere Summen nach Westdeutschland verkauft worden waren. Erst im Zuge der verstärkten Wirtschaftsbeziehungen der 80er Jahre kam es hier zu einem gewissen Austausch. Doch im Vordergrund standen nach wie vor ideologische Motive oder schlichter Unterhaltungsbedarf. Besonders gefördert wurde natürlich der kubanische Film, der im westdeutschen Fernsehen nach der Anfangsbegeisterung von 1969/70 so gut wie keine Rolle mehr spielte (nach 11 Ausstrahlungen 1969/70 waren es in den folgenden zwei Jahrzehnten nur noch 17). Viele dieser Filme wurden übrigens nach ihrer Fernsehauswertung durch den Progreß-Verleih in den ostdeutschen Kinos gezeigt. So läßt sich rückblikkend sagen: Auch in der DDR hat es eine kontinuierliche, aber eher ökonomisch bedingte und ideologisch orientierte Beschäftigung mit dem lateinamerikanischen Film gegeben.

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IV Was aus Lateinamerika auf der Berlinale lief und vom Fernsehen verbreitet wurde, war von eher flüchtigem Bestand. Kaum einer dieser Filme blieb danach zugänglich. Das änderte sich erst, als die Freunde der Deutschen Kinemathek in Berlin Ende der 60er Jahre einen Verleih gründeten, der ab 1971 viele Beiträge des Internationalen Forums übernehmen konnte. Sie besitzen inzwischen ein Archiv von einigen tausend Titeln, darunter 124 lateinamerikanische Kurz- und Spielfilme. Im Verleih befinden sich außerdem 65 Kopien: Die meisten stammen aus Kuba und Mexiko, darunter viele politische Dokumentarfilme, gesellschaftskritische Spielfilme und innovative Arbeiten, von denen es in der lateinamerikanischen Filmkunst nicht allzu viele gibt, die aber im "Forum" besonders gepflegt werden. Wenn heute eine der vielen kommunalen Spielstellen ein Lateinamerika-Programm gestalten will, dann ist sie auf das Angebot der "Freunde" angewiesen. Daneben gibt es seit 1978 den CON-Film-Verleih in Bremen, der aus der Solidaritätsbewegung entstanden ist. Seine Aktivitäten sind zielgerichtet. Er hat sich auf Filmreihen spezialisiert, weil für sie besser zu werben ist als für einzelne Filme, und hat sich dabei besonders für die Verbreitung des kubanischen und nicaraguanischen Kino eingesetzt. Das Nicaragua-Programm lief Mitte der 80er Jahre beispielsweise an 60 westdeutschen Orten. CON ist eng mit SUR-Films in Köln liiert, einer Agentur für Produktion und Projekte mit dem Schwerpunkt Lateinamerika. Schließlich verdient es das EZEF in Stuttgart, erwähnt zu werden, das Evangelische Zentrum für entwicklungsbezogene Filmarbeit mit dem angeschlossenen Matthias-Film-Verleih. Hier wurden immer wieder wichtige Spielfilme coproduziert wie z.B. Juliana (1988) von der peruanischen Gruppe Chaski oder La nación clandestina (1989) von Jorge Sanjinés. Die zähe kontinuierliche Arbeit dieser wenigen Verleiher hat das lateinamerikanische Kino greifbar gemacht für den großen, sog. nicht kommerziellen Bereich von etwa 150 Spielstellen mit einem Potential von mehr als einer Million Zuschauern pro Jahr. Doch selbst hier, in diesem von den Kommunen unterstützten Sektor, in dem früher viel Solidaritätsarbeit geleistet wurde, herrscht inzwischen Anpassungsdruck. Die Subventionen sind knapp, also wird auch hier bevorzugt, was die Kasse füllt, und das sind nur selten Filme aus Lateinamerika. Selbst im traditionsreichsten dieser nicht-gewerblichen Kinos, im Berliner Arsenal der Freunde der Deutschen Kinemathek, sind die Kinogänger nicht besonders begierig auf neue filmische Arbeiten oder Entwicklungen des Kontinents. Sie schätzen eher Bekanntes wie die Filme Glauber Rochas, der als einziger lateinamerikanischer Regisseur eine gewisse Fama erlangte und zwar schon vor seinem Tod. Doch selbst von ihm laufen am besten die längst zu Klassikern gewordenen Beiträge Deus e o diabo na terra do sol (1964) und Antonio das Mortes (1969).

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Das hängt damit zusammen, daß der lateinamerikanische Film Ende der 70er Jahre wesentlich an Interesse eingebüßt hat und bis heute das verlorene Terrain nicht zurückgewinnen konnte — aus verschiedenen Gründen. Zum einen ist die Neugier auf Lateinamerika allgemein gesunken, seit der Kontinent keinen politischen Ersatz für revolutionäre Träume mehr bietet, seit die Solidarität mit den unterdrückten Demokraten erlahmte (und in den Diktaturen das Filmschaffen erstarb) und später die wiedergewonnenen Demokratien wenig Anlaß für begeistertes Engagement boten (und wie im Argentinien und Brasilien der 90er Jahre das einheimische Kino ruinierten). Zum anderen hat der lateinamerikanische Film einen tiefen Wandel vollzogen, hat damit auf die gesellschaftliche Transformation kohärent reagiert und sucht nicht mehr mit großen rebellischen Gesten nach rascher sozialer Veränderung. Mit dem Schwinden der revolutionären Utopien und dem Einzug des Pragmatismus sind auch die filmischen Töne stiller und die Mittel zurückhaltender geworden. Bis heute steht dieses Kino unter einem Anpassungsdruck an gesellschaftliche und ökonomische Zwänge. Und dennoch ist vieles, was so entstand, aufregender als das, was sonst Bildschirme und Leinwände füllt. Und es sind — trotz allem — große Filme und sogar Meisterwerke geschaffen worden, die durch die Aktivitäten im Jubiläumsjahr 1992 erneut ins Bewußtsein gebracht wurden. V Nach einem langen Jahrzehnt des Desinteresses haben die 500 Jahr-Feiern das Augenmerk so massiv auf den lateinamerikanischen Film gelenkt, daß von einem kurzzeitigen Boom gesprochen werden kann. Das Kino des Subkontinents wurde sozusagen flächendeckend angeboten, z.B. in kommunalen und Programmkinos. Für sie hatten CON- und SUR-Films unter dem Titel 500 Jahre Entdeckung, Eroberung, Widerstand eine 16-teilige Reihe aus älteren und neuen, in Deutschland oft wenig bekannten Beiträgen zusammengestellt. Von 1972 (Reed — México insurgente von Paul Leduc) bis 1990 (Cabeza de Vaca von Nicolás Echevarría) reichte der zeitliche Bogen dieses Pakets. Noch nie war ein derart umfangreiches Programm über Land geschickt worden. Ein Zentrum der Aktivitäten bildete sich in Berlin, wo das Haus der Kulturen der Welt und die Freunde der Deutschen Kinemathek rund 140 Filme aus und über Lateinamerika in der zweiten Jahreshälfte vorstellten: Länderprogramme (Kolumbien und Venezuela), thematische Zyklen ("Utopien und Gesellschaftsentwürfe", "Mythen und Legenden", "Eroberer und Befreier") sowie eine Reihe neuer, von Frauen gedrehter Filme und Videos ("Frauen-Blicke"). Auch das Fernsehen — das öffentlich-rechtliche wie das private — widmete sich dem weltweit gewürdigten Jubiläum der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus. Neben einer Vielzahl von Dokumentationen und Informationssendungen boten ARD und ZDF 62 Ausstrahlungen an — dreimal so viel wie 1991 und mehr als jemals zuvor innerhalb eines Jahres, wobei das ZDF nicht nur die

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meisten Filme (insgesamt 14, darunter ein Zyklus mit 7 argentinischen Beiträgen), sondern auch das vielfaltigste Programm offerierte. Ihm folgte mit 10 Ausstrahlungen (vor allem eine Reihe mexikanischer Filme) WDR 3. Erstmals beteiligte sich auch das Privatfernsehen in nennenswertem Umfang: Die 29 Ausstrahlungen verteilten sich auf den Kabelkanal (16, vor allem Beiträge aus Brasilien und Kuba), Premiere (9, ausschließlich aus Argentinien) sowie das nicht mehr existierende Tele 5 (6, aus Mexiko). Insgesamt strahlte das Fernsehen in diesem Jahr des gezielten Interesses 91 mal lateinamerikanische Filme aus, ein Drittel davon die privaten Sender. Diese letzte Zahl darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß der lateinamerikanische Anteil bei den Privaten aufgrund ihres wesentlich höheren Spielfilmangebots (9.857 im Jahr 1992) verschwindend gering ist, nämlich nur 0,3 Prozent. Es war nicht anzunehmen, daß diese starke Nachfrage andauern würde. Sie sank bei ARD und ZDF um ein Drittel (auf 56), wobei sich der Ostdeutsche Rundfunk Brandenburg (ORB) und 3SAT mit 17 bzw. 15 Ausstrahlungen hervortaten, meist Wiederholungen von anderen Sendern. WDR 3 und ZDF, die Spitzenreiter des Voijahres, versanken mit nur 2 Ausstrahlungen in Lethargie. Bei den Privaten ging das Angebot auf weniger als die Hälfte (insgesamt 12) zurück. Tendenz weiter sinkend. Ins Kino gelangten dagegen zwei erstaunliche Highlights. Bisher konnte von den lateinamerikanischen Regisseuren im kommerziellen Verleih lediglich Fernando Solanas reüssieren: Sur/Süden erreichte 193.000 Zuschauer, sein letztes Werk El viaje/Die Reise aber nur noch 61.000. Im Sommer 1993 startete nun Bittersüße Schokolade (Como agua para chocolate) von Alfonso Arau, nachdem er einen sensationellen Triumph in den USA erlebt hatte und inzwischen als der erfolgreichste mexikanische Film aller Zeiten gilt. In den deutschen Filmtheatern mochten über 300.000 Zuschauer die manchmal etwas schwülstige Literaturverfilmung sehen. Noch eindrucksvoller verlief der Siegeszug des kubanischen Spielfilms Erdbeer und Schokolade (Fresa y chocolate) von Tomás Gutiérrez Alea und Juan Carlos Tabío. Die Geschichte über Homosexualität und Toleranz erhielt den Silbernen Bären auf der Berlinale 1994 und wurde danach wie kein anderer Beitrag der Insel in viele Länder verkauft, sogar in die USA. Selbst in Deutschland fand sich ein Verleiher, der das Werk gleich mit drei Dutzend Kopien startete und immerhin eine Viertelmillion Zuschauer erzielte. Die deutsche Fassung existiert inzwischen sogar als Videokopie. Keine anderen Filme des Subkontinents waren in den letzten Jahrzehnten, seit man vom Neuen Lateinamerikanischen Kino spricht, so erfolgreich wie diese beiden höchst unterschiedlichen Produktionen. Allerdings kommen auch sie an die Millionen-Zahlen wirklicher Hits bei weitem nicht heran. Viele deutsche Regisseure wären jedoch froh, wenn ihre Werke jemals von einem so großen Publikum bei uns gesehen würden. Weder solche einmaligen Erfolge noch die massive Verbreitung lateinamerikanischer Filme in den kommunalen und in den Programmkinos oder im

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Fernsehen des Jahres 1992 haben die Nachfrage auf Dauer steigern können. Daraus ist zu schließen, daß das lateinamerikanische Kino in Deutschland nach wie vor nur auf ein begrenztes Interesse stößt, das von Konjunkturen wie der 500 Jahr-Feier angeregt werden kann und das auch den unkalkulierbaren Erfolg einzelner Werke ermöglicht.5

Bibliographie Filme, Namen, Zahlen. Internationale Filmfestspiele Berlin 1951-1984. 1985. Berlin. Filmstatistisches Taschenbuch 1966-1991. 1991. Hg. v. d. Spitzenorganisation der Filmwirtschaft. Wiesbaden. Index 1971-1989. 20 Jahre Internationales Forum des Jungen Films. 1990. Hg. von den Freunden der Deutschen Kinemathek. Berlin. Verleih-Katalog. 1990. Hg. von Film-Echo/Filmwoche. 36. Ausgabe. Wiesbaden.

'Bei diesen Betrachtungen nicht berücksichtigt ist der gesamte Video-Bereich, der vom Fernsehen auf Video mitgeschnittenen Spielfilme, die zu Hause, in Film- und Videoclubs und vor allem auch in Bildung und Wissenschaft eine große Rolle spielen und natürlich auch zum Thema der Verbreitung des lateinamerikanischen Kinos in Deutschland gehören. Doch darüber existieren keinerlei statistische Daten.

Die Diskussion um die Theologie der Befreiung in Deutschland* Claus Bussmann

I. Einleitung Die bundesdeutschen Medien gehen auf Belange der römisch-katholischen Kirche immer dann besonders intensiv ein, wenn es nach Skandal riecht: Unregelmäßigkeiten bei der Bischofsernennung, Teufelsaustreibung, Entzug der kirchlichen Lehrerlaubnis für eine(n) Professor(in) der Theologie. So fand auch der Versuch vatikanischer Behörden, den brasilianischen Theologen Leonardo Boff zum Schweigen zu bringen, große Resonanz in Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen. Nun erlebte die interessierte Öffentlichkeit, die durch die Vorgänge um Hans Küng für solche Auseinandersetzungen sensibilisiert war, ein aufschlußreiches "Schauspiel": Hatte man bei Küngs Zug über die Alpen von einer irgendwie gearteten Unterstützung durch die bundesdeutschen Bischöfe nichts gehört (einige sollen sich sogar die Hände gerieben haben), so erfuhr man jetzt, daß zwei brasilianische Kardinäle den angeklagten Boff begleiteten und "ihrem" Theologen den Rücken stärkten. (Boff selbst hatte bei seiner Landung auf ein "Zeichen der Zeit" hingewiesen: Der Tag der Landung, der 7. September, sei der Tag der brasilianischen Unabhängigkeit.) Neben vielem anderen wurde durch diesen markanten Unterschied für den aufmerksamen Beobachter klar, daß der Sachverhalt, um den es zwischen Boff und der Glaubenskongregation ging, auf höchster — nicht allerhöchster — Ebene innerhalb der katholischen Kirche umstritten ist; dieser Sachverhalt aber heißt "Theologie der Befreiung". Darunter verstehe ich zunächst einmal eine theoretisch diffuse und praktisch sehr vielgestaltige kirchliche Bewegung in Lateinamerika, die allerdings in zwei Punkten klare Position bezieht: 1. Lateinamerika ist wirtschaftlich, militärisch und kulturell abhängig; die Folge davon ist die Verelendung großer Bevölkerungsgruppen. 2. Die Kirche bzw. die Christen müssen, wenn sie glaubwürdig bleiben wollen, mit dazu beitragen, die Abhängigkeit zu überwinden, anders formuliert, ihren Beitrag zur Befreiung Lateinamerikas leisten. Sowohl in der theoretischen Begründung wie in der praktischen Umsetzung unterscheidet sich dieser Ansatz von der Art und Weise, wie Kirchen und Christen in der Bundesrepublik ihr soziales Engagement weithin verstanden haben. Eine Diskussion um diesen Neuansatz war also unvermeidlich. Sie soll im folgenden

"Das Manuskript wurde 1989 abgeschlossen.

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skizziert werden. Am Ende wird sich die Frage wie von selbst beantworten, ob durch die Diskussion über die Theologie der Befreiung bzw. in ihr Lateinamerika den Deutschen begegnet ist; und wenn ja, wie diese Begegnung aussah und welche Folgen sie hatte bzw. hat. Oder aus der anderen Perspektive gefragt: Haben die Deutschen die Theologie der Befreiung wahrgenommen? Und wenn ja, was haben sie gesehen und wie haben sie darauf reagiert? Denn wenn man auch heute im strengen Sinne nicht mehr sagen kann, Theologie der Befreiung sei ein ausschließlich lateinamerikanisches Phänomen, so gilt doch zweierlei: 1. Sie ist in Lateinamerika entstanden. 2. Sie ist dort am weitesten entwickelt worden und hat dabei einen typisch lateinamerikanischen Charakter behalten, auch wenn sie von weltweiten Problemen spricht.

II. Vorstellung Bei der Frage, welches der beste Weg sein könnte, dem Leser die Diskussion um die Theologie der Befreiung vorzustellen, habe ich lange gezögert; man kann verschiedene Ebenen der Diskussion unterscheiden (akademisch, kirchenpolitisch, weltpolitisch), auch verschiedene Personen oder Personengruppen treten auf (Theologen, Bischöfe, Sozialwissenschaftler, Solidaritätsgruppen); man kann die Diskussion in mehrere Phasen (bis 1975, bis 1984, ab 1984) unterteilen oder nach den Motiven (Besorgnis, Begeisterung) der Diskussionsbeiträge fragen; aber schließlich habe ich mich entschlossen, die Ziele der Diskussion als Gliederungsprinzip zu wählen; denn dabei kommen, so scheint mir, auch die übrigen Aspekte zur Sprache. Erstes Ziel: Die Theologie der Befreiung soll verworfen werden. Wenn auch markige Sprüche wie "Die Theologie der Befreiung führt ins Nichts" selten geworden sind, so gibt es doch einen deutlich faßbaren Strang der einschlägigen Beiträge, der diese Theologie für falsch, schädlich, gefährlich oder zumindest überflüssig hält. Das prominenteste Zeugnis dieses Stranges ist die Instruktion der Kongregation für die Glaubenslehre von 1984 mit der Unterschrift von Kardinal Ratzinger, der damit eine Flut von Stellungnahmen und Untersuchungen provoziert und — gewollt oder ungewollt — der inkriminierten Befreiungstheologie zu ungewohnter Publicity verholfen hat. Die Gründe, die für die Verwerflichkeit der Befreiungstheologie genannt werden, sind sehr verschiedener Natur; sie werden schlagwortartig ("praxeologischer Obskurantismus", marxistisch) oder analytisch-abwägend vorgetragen. Die Verwerfungsthese lautet im Kern: Die Theologie der Befreiung ist theoretisch falsch und praktisch gefährlich. Mit der theoretischen Ebene werden sowohl philosophische wie theologische Argumente vorgetragen: Sie sei in sich widersprüchlich, sie vertrete eine falsche Anthropologie, ihr Bild von der Geschichte sei mechanistisch, sie verkürze den christlichen Erlösungsbegriff auf eine innerweltliche, politische Befreiung, sie mache den alten Fehler der

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messianischen Bewegungen, ihre Handlungsanweisungen aus dem Bild von der erhofften Zukunft (Eschatologie) statt aus einer philosophisch oder theologisch argumentierenden Ethik zu gewinnen, sie basiere auf einer rationalistischen Bibelkritik. Auf der praktischen Ebene, die wegen des Selbstverständnisses der Befreiungstheologie als Reflexion der kirchlichen Praxis sehr eng mit der Theorie verbunden ist, wird eine einseitige Parteinahme für die Armen beanstandet ("die kirchliche Arbeit ist für alle da, auch für die Reichen"), überhaupt sei eine in Westeuropa glücklicherweise überwundene Vermischung von kirchlicher und politischer Praxis die Konsequenz des befreiungstheologischen Ansatzes, es drohe, da ja die Führer der Bewegung nicht Laien, sondern Priester seien, ein neuer "Klerikalismus von links". Hinzu kommen einige Argumente, die zwischen der theoretischen und der praktischen Ebene anzusiedeln sind: Der hohe Stellenwert, den man den Sozialwissenschaften anstelle der Philosophie einräume, wie es die traditionelle europäische Theologie getan habe, führe zu einer nicht zu wünschenden Abhängigkeit von sozialwissenschaftlichen Theoriebildungen, vor allem aber führe die Hereinnahme marxistischen Denkens in die Theologie notwendig zu Atheismus und Kollektivismus, da es unmöglich sei, angesichts des Weltanschauungscharakters des Marxismus einzelne Elemente herauszugreifen und zu instrumentalisieren. Das könne man gut daran erkennen, daß aus den Armen der Bibel in der Interpretation der Befreiungstheologie unversehens das Proletariat werde, an dessen Kampf kirchliche Gruppen nur noch teilnehmen müßten, um ihrer Aufgabe als Christen gerecht zu werden. Zweites Ziel: Die Theologie der Befreiung soll verstanden werden. Diesem Ziel dienen einerseits jene Veröffentlichungen, die lateinamerikanische Theologen der Befreiung übersetzen und dem deutschen Publikum vorstellen. Daneben gibt es die Versuche, diesen neuen Ansatz in der Theologie zu beschreiben. Die überwiegende Mehrheit dieser Publikationen ist aus dem Geist kritischer Sympathie entstanden. Man kann in diesem Strang der Diskussion mehrere Bereiche unterscheiden. Zunächst geht es darum, die historischen Bedingungen für die Entstehung der Befreiungstheologie herauszustellen: Die wirkungsgeschichtlich bis ins 20. Jahrhundert reichende Einbindung der katholischen in das zumeist von der kreolischen Oligarchie bestimmte Machtgefüge (Erbe aus der Zeit der spanischen bzw. portugiesischen Herrschaft; danach Bündnis der Kirche mit den Konservativen, "systemstabilisierende" Rolle); die Wiederentdeckung der sozialen Verantwortung der Kirche im Gefolge des Zweiten Vatikanums; die v.a. durch die Dependenztheorie geförderte Einsicht in die wirtschaftliche, militärische und kulturelle Abhängigkeit Lateinamerikas von den sogenannten Industrienationen und die damit verbundene Diskussion um eine gerechtere Verteilung wirtschaftlicher Gewinne auf Weltebene ("neue Weltwirtschaftsordnung", Nord-Süd-Gefälle). Zum zweiten wird die für westeuropäische Theologen ungewohnte Methode der Befreiungstheologie erläutert. Man hat versucht, diese mit den Kurzformeln "Sehen, Urteilen, Handeln" oder "Kritische

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Reflexion der kirchlichen Praxis" zu bestimmen. Fest steht, daß der Ausgangspunkt bei einer Analyse der gesellschaftlichen Zustände und die befreiende kirchliche Praxis als Ziel in der akademischen Theologie hierzulande unüblich sind. Man muß erst einmal begreifen, daß die lateinamerikanischen Christen, die sehr häufig in großer Armut leben, wirklich "eine neue Art, Theologie zu treiben" brauchen, um das Christentum glaubwürdig zu machen. Dazu gehört drittens ein neuer Umgang mit der Bibel: Die Entdeckung bzw. Wiederentdeckung von befreienden Impulsen der biblischen Überlieferungen und eine dem hermeneutisch geschulten Leser manchmal vorschnell erscheinende typologische Interpretation. Wie in der fundamentalistischen Exegese wird eine unmittelbare Beziehung zwischen Bibeltext und Lage des Einzelnen bzw. der Gemeinde hergestellt. Diese drei Punkte zusammenschauend darf man zum Verständnis der Befreiungstheologie die folgende Kurzformel wagen: Befreiungstheologie entsteht dort, wo a) die Dependenztheorie in der knappen Formulierung "Die Armen sind arm, weil die Reichen reich sind" angenommen und b) die Frage: Wer sind die Armen, denen Jesus das Reich Gottes verheißen hat? mit "Wir" beantwortet wird. Der Strang der Diskussion, der die Theologie der Befreiung verstehen will, ist weit davon entfernt, jede Einzelheit gutzuheißen oder nachzubeten. Auffällig ist, daß die kritischen Anfragen bzw. die Zurückweisungen fast sämtlich die Theorie betreffen, aber weder den Ansatz noch die Praxis. In Einzelpunkten gibt es sogar Übereinstimmungen zwischen denen, die die Befreiungstheologie verwerfen und denen, die sie verstehen wollen. Allerdings finden auch die Hauptkontroversen zwischen diesen beiden Positionen statt, wobei von Dialog bis Polemik alle Register gezogen werden. Titelwahl und Gestaltung der Titelseiten lassen dabei einen Hang zum Plakativen erkennen, wie z. B. "Gott ist Brasilianer, doch der Papst ist Pole"; "Der Schrei nach Gerechtigkeit"; "Gottesreich und Revolution"; "Daß Gott den Schrei seines Volkes hört"; "Gott schwitzt in den Straßen Lateinamerikas"; "Die Götzen der Unterdrückung und der befreiende Gott"; "Das Lehramt der Kirche und der Schrei der Armen"; "Befreiungstheologie als Herausforderung"; das Orozco-Gemälde "Christus zerstört sein Kreuz" als Umschlagbild, was nicht unproblematisch ist, da leicht eine Parteinahme vor dem Verstanden-haben erfolgt. Vielleicht ist die Polarisierung in Pro und Contra das Auffälligste an der Diskussion um die Theologie der Befreiung in Deutschland. Das könnte immerhin andeuten, daß es in dieser Diskussion um einen neuralgischen Punkt geht. Drittes Ziel: Die Theologie der Befreiung soll nach Deutschland/Europa übertragen werden. Bei strenger Betrachtung gehört dieser Strang der Publikationen nicht zur "Diskussion über...", denn für die Verfechter dieses Zieles ist die Diskussion in der Sache entschieden: Die Theologie der Befreiung ist der richtige Weg für die Christen in der Welt von heute, und da es nicht eine Theologie für die reichen Länder und eine andere für die armen Länder geben darf, will man an

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der Einheit der Kirche festhalten, dann müssen Kirche und Christen in Deutschland bzw., da den meisten Vertretern dieser Auffassung eine rein deutsche Perspektive zu eng ist, in Europa, der Kirche Lateinamerikas auf ihrem befreienden Wege folgen. Das kann sehr verschiedene Gestalten annehmen: Einsatz für die Randgruppen hier, Sensibilisierung für die Nord-Süd-Problematik, Kapitalismuskritik, Überwindung innerkirchlicher Befreiungshemmnisse, Wiederentdeckung des christlichen Sozialismus, befreiende Spiritualität. Vielleicht ist das deutlichste Ergebnis dieses Stranges der Diskussion die Einsicht, wie begrenzt die Themenauswahl der akademischen Theologie in Deutschland ist.

III. Bewertung Für den aufmerksamen Beobachter der Diskussion um die Theologie der Befreiung stellt sich die Frage, worum denn im Kern eigentlich gestritten wird. Man nehme zwei profilierte Kontrahenten in diesem Disput, Joseph Ratzinger und Norbert Greinacher; beide stehen auf dem Boden desselben katholischen Bekenntnisses, beide erklären — und es gibt keinen Grund, an der Wahrhaftigkeit eines von ihnen zu zweifeln —, daß die Not der Menschen in Lateinamerika sie bedrücke und daß die Kirche verpflichtet sei, an der Überwindung der Not mitzuwirken. Völlig verschieden aber ist ihre Auffassung in der Frage, ob die unter dem Namen "Theologie der Befreiung" in Lateinamerika bekanntgewordene Bewegung dem katholischen Bekenntnis und der Verpflichtung zum sozialen Engagement gerecht wird. Liegt hier etwa nur ein Mißverständnis vor? Das ist ganz unwahrscheinlich, da sich beide gründlich informiert haben. Wo also liegt der Dissens? Der sehr sachkundige protestantische Beobachter Frieling sagt: "Die Inspirationen der Befreiungstheologen und die 'Option für die Armen' haben der katholischen Kirche in Lateinamerika eine Reformation beschert, die innerhalb der römisch-katholischen Kirchengeschichte kaum eine Parallele hat." (Frieling 1983, 216) Ist es die Angst vor einer neuen Reformation, die Ratzinger zur Ablehnung der Befreiungstheologie führt? Aber die überwiegende Mehrheit der führenden Köpfe innerhalb dieser Bewegung ist treu katholisch; und von einer "Los-von-Rom-Bewegung" im historisch-reformatorischen Sinne ist nichts zu erkennen. Wohl gibt es Vorbehalte gegenüber dem Vatikan, aber die beziehen sich mehrheitlich auf die traditionelle Vormachtstellung Europas in Lateinamerika, die sich eben auch auf den kirchlichen Bereich erstreckt. Manchmal werden sie mit dem ständigen prozentualen Anstieg der lateinamerikanischen Katholiken gegenüber allen übrigen in Verbindung gebracht, und das kann natürlich einen hohen Kirchenmann im Vatikan beunruhigen; aber dieses Problem stellt sich auch bei einer ganz traditionell orientierten Kirche in Lateinamerika. Es muß also noch einen anderen Aspekt geben. "Der Konflikt spielt sich einzig und allein auf dem praktischen Boden ab, nämlich um die Frage, wie man sich die heutige Situation Lateinamerikas erklärt und wie sich

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die Christen in einer solchen Situation verhalten sollen"1, urteilt der AdveniatMitarbeiter F. Galindo. Der Kern der Diskussion um die Theologie der Befreiung ist theoretisch und praktisch zugleich: Wie verhalten sich Glaube und Politik zueinander? Welche politische Praxis ist für Christen geboten, vertretbar, unzulässig? Der Nachdruck, mit dem lateinamerikanische Autoren auf die Mitverantwortung der industrialisierten Länder am Elend in der "ZweidrittelWelt" hinweisen, müßte nach Auffassung der Befreiungstheologie eine völlig neue vatikanische Politik zur Folge haben. Diesem Votum könnte N. Greinacher folgen, J. Ratzinger sieht das anders. Die Diskussion wird also noch weitergehen. Aber man darf auch einige Erträge der bisherigen Diskussion in Deutschland nicht übersehen. Das Interesse an Lateinamerika und der dortigen Kirche ist erheblich gewachsen; die Bereitschaft, sich gründlich mit der dortigen Lage und deren Ursachen zu befassen, ist gestiegen; der Versuch, sich ein eigenes Bild zu machen und eine Zeitlang in einer Basisgemeinde ("Selbsthilfegruppe mit biblischer Rückkoppelung") zu arbeiten, ist vor allem bei engagierten jungen Christen vorhanden. Deutlich ist auch eine Versachlichung der Diskussion zu beobachten, seit der Vatikan seine erste überzogene und unqualifizierte Instruktion von 1984 durch eine neuere von 1986 ersetzt hat. Während zu Beginn der 80er Jahre die Befreiungstheologie und die katholische Soziallehre wie zwei verschiedene Welten erschienen, werden heute Berührungspunkte und Gemeinsamkeiten entdeckt. Die Sympathisanten der Befreiungstheologie konnten mehr als einmal Äußerungen Johannes Pauls II. zur sozialen Verantwortung der Christen gegen übervorsichtige Stellungnahmen deutscher Bischöfe ausspielen. Auch das Gespür für mögliche politische Konsequenzen einer scheinbar nur kirchlichen Verurteilung eines lateinamerikanischen Theologen scheint im Vatikan gewachsen zu sein; "ein aus unserer Sicht so trauriger Fall [gemeint ist das Verfahren der Glaubenskommission gegen L. Boff] kann nur den Feinden des Evangeliums und jenen mächtigen Besitzenden in unserem Land nutzen, die sich weigern, Brot und Land zu teilen", schrieb die brasilianische Kommission Pastoral da terra 1984 an Ratzinger. Und die Befreiungstheologen selbst haben ein deutlicheres Gespür für die Unklarheiten und Zweideutigkeiten ihres Entwurfes bekommen. Es ist also nicht auszuschließen, daß nach einer Phase der polemischen Diskussion eine sachlichere Auseinandersetzung beginnt, in der das Kernproblem in den Vordergrund gerückt wird: die ungerechte Verteilung des Reichtums auf der Welt und die Rolle der Kirche bzw. der Christen bei der Überwindung dieser Ungerechtigkeit. In diesem Punkte aber steckt die Diskussion noch in den Anfängen.

'Brief der Kommission Pastoral da terra an Kardinal Ratzinger, 3. September 1984; in: Greinacher 1985, 230.

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Bibliographie Boff, Leonardo. 1985. Bedrohte Befreiung. Zur lateinamerikanischen und katholischen Kontroverse um politische Praxis im Christentum. Rheinfelden: Schäuble. Frieling, R. 1983. Die Ursachen der Elendssituation in Lateinamerika. In: Viola Schmid. Gott schwitzt in den Straßen Lateinamerikas. Frankfurt a. M.: Otto Lembeck, 183-200. Greinacher, Norbert (Hg.). 1985. Konflikt um die Theologie der Befreiung. Diskussion und Dokumentation. Zürich: Benzinger. Gutierrez, Gustavo. 1973. Theologie der Befreiung. Mainz. Ratzinger, Joseph. 1986. Politik und Erlösung. Zum Verhältnis von Glaube, Rationalität und Irrationalem in der sogenannten Theologie der Befreiung. Opladen. Theologie der Befreiung. Option für die Armen oder Ideologie. 1987. Bensberg.

6. Die Rezeption der lateinamerikanischen Kultur

Die großen Multiplikatoren: Autorentreffen, Festivals, Messen und andere Zusammenkünfte Michi Strausfeld

Geburts- und Todestage, Jubiläen und Gedenkstunden bestimmen in zunehmendem Maße den Literatur- und Kulturbetrieb. Eifrig werden die Kalender studiert, um nur ja rechtzeitig ein Symposium zum Fest zu veranstalten oder eine Sondernummer zum Ereignis vorzulegen. Ob zehn, fünfundzwanzig, hundert oder fünfhundert Jahre der Anlaß sind: Grund sind sie allemal, um die Aufmerksamkeit des Lesers auf das jeweilige Thema oder die Person zu lenken. Und so wird eifrig gefeiert: überall, immerzu. Manchmal wird allerdings auch eine ungewöhnliche Idee zum Anlaß für eine Kulturveranstaltung: So 1976, als der Direktor der Frankfurter Buchmesse, Peter Weidhaas, die Geschäftsroutine der "größten Bücherschau" der Welt durchbrach und die Schwerpunktthemen erfand. Das erste hieß, für alle überraschend, Lateinamerika. Während der Vorbereitung - die länger als ein Jahr dauerte - wurde er daher immer wieder, vor allem aus der Branche, gefragt: "Warum ausgerechnet Lateinamerika und nicht ein anderes Land, das auf dem Buchsektor mehr zu bieten hat, die USA etwa oder die Sowjetunion?" Damals, 1975, galt die lateinamerikanische Literatur in Deutschland als ein Exotikum, als Steckenpferd einiger Experten und Passion der wenigen Liebhaber, war ansonsten jedoch unbekannt: ein weißer Fleck in der Literaturlandkarte. Die übersetzten Romane der an zwei Händen aufzuzählenden Autoren verstaubten längst wieder in den Lagern oder im Modernen Antiquariat, und selbst der gebildete Leser hätte vermutlich höchstens Borges und vielleicht noch Pablo Neruda oder García Márquez unter den lateinamerikanischen Literaten nennen können. Beliebtester Schriftsteller war Jorge Amado, dessen "sinnlich verführerische, exotisch unterhaltsame Romane" beim Publikum aus eben diesen Gründen Anklang fanden. Alle anderen Versuche der Verleger (vor allem während der 60er Jahre), die zeitgenössische Literatur des Kontinents zu ver-

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breiten, konnten höchstens einige Achtungserfolge verbuchen, weitaus häufiger stießen sie jedoch auf gelangweiltes Desinteresse. Aus diesem Grund konnte Peter Weidhaas, der mehrfach nach Lateinamerika gereist war, Spanisch spricht und liest, überzeugend argumentieren, daß die lateinamerikanische Literatur bei uns fast unbekannt ist. Sie scheint uns aber stellvertretend zu sein für das, was heute in der Dritten Welt gedacht wird. [...] Sinn und Ziel dieses Buchmessenschwerpunkts ist es, ein öffentliches Interesse an den Themen Lateinamerikas zu erzeugen. (Buchhändler heute 1976) Und so häuften sich dann die Aktivitäten in Frankfurt: kulturelle Rahmenprogramme, ein literarisches Kolloquium zur Rezeption der Literatur mit Autoren, Journalisten und Kritikern aus Lateinamerika und einigen "Experten" aus Deutschland, Buch- und Kunstausstellungen und eine Filmwoche. Einzelne Verlage hatten auch besondere Anstrengungen unternommen, um ein paar Bücher zum Schwerpunktthema rechtzeitig zu publizieren. Eröffnet wurde die Messe von Mario Vargas Llosa (damals auch Präsident des internationalen PEN-Clubs) und Egon Bahr (damals Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit), die beide von der Notwendigkeit sprachen, Lateinamerika endlich ernsthaft zur Kenntnis zu nehmen: seine Krisen und Probleme, aber auch seine Leistungen, die vor allem im kulturellen Bereich augenfällig seien, kurzum: den Reichtum und die Armut eines Kontinents. Wie schwer damals noch der Umgang mit allem Lateinamerikanischen fiel, wird deutlich, wenn man sich daran erinnert, daß Vargas Llosa seine Rede auf Englisch hielt - der Bitte der Organisation folgend, jedoch zum Mißfallen der meisten Zuhörer, die dies empörend fanden. Die Presse stellte sich auf das Ereignis ein und berichtete ausführlich: im Vorlauf und zum Kennenlernen, begleitend während der Messe und zuletzt rückblickend und als Bilanz. Nie zuvor hatten der Kontinent und seine Literatur in Deutschland so viel Beachtung gefunden (dokumentiert in einem 200seitigen Dossier, das die Messeleitung anschließend zusammenstellte). Acht Verlage präsentierten aus Anlaß des Schwerpunktthemas insgesamt rund dreißig lateinamerikanische Novitäten, so daß dem interessierten oder neugierig gewordenen Leser ein breitgestreutes Angebot zur Verfügung stand. Suhrkamp allein publizierte neunzehn Titel, da der Verlag seit 1974 systematisch mit dem Aufbau eines lateinamerikanischen Programms begonnen hatte und daher jetzt sowohl Neuentdeckungen wie Ausgrabungen präsentieren konnte. Desgleichen stellte er ein Dossier "Zum lateinamerikanischen Programm" für die Presse und Buchhändler zusammen und legte eine Messe-Zeitung (Auflage: 100.000 Exemplare) vor, die ähnlich gestaltet war wie die Samstag-Tiefdruckbeilage der FAZ. Dann erschien noch ein Materialienband zur lateinamerikanischen Literatur, so daß den unterschiedlichen Informationsbedürfnissen Rechnung getragen wurde. Auch der Peter Hammer Verlag aus Wuppertal, der sich seit Jahren engagiert um die Verbreitung der Literatur Lateinamerikas bemühte, mit dem Schwerpunkt Nicaragua

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(insbesondere die Lyrik Ernesto Cardenals), publizierte mehrere Anthologien aus diesem Anlaß, wies jedoch vor allem auf seinen Verlagsfond zum Thema hin (ca. 50 Titel) (Buchreport 1976). Das Börsenblatt gab eine Sondernummer zur Literatur und zum Buchhandel Lateinamerikas heraus, damit das Sortiment auch wirklich ausreichend informiert sei und zufriedenstellende Auskünfte erteilen könne (Börsenblatt, Oktober 1976). Das Schwerpunktthema der Buchmesse regte auch außerhalb der deutschen Grenzen die Verleger und die Presse zu verstärktem Engagement an: Times Literary Supplement wartete mit einer umfangreichen Sondernummer auf, und Gallimard verwies auf seine legendäre Reihe "La croix du Sud", herausgegeben von Roger Caillois, wo seit 1948 rund sechzig bedeutende Autoren des Kontinents vorgestellt worden waren. Die Schriftsteller des Booms - Cortázar, Fuentes, García Márquez, Vargas Llosa - zählten in Frankreich längst zu den lebenden Klassikern der Weltliteratur und wurden intensiv gelesen, wie man auch das Werk der jüngeren Lateinamerikaner aufmerksam verfolgte. In Deutschland hingegen war der Großteil ihrer Werke nicht einmal publiziert (erinnert sei hier an Rayuela), und von einer Rezeption konnte schon gar nicht die Rede sein. Hans Magnus Enzensberger bezeichnete die Deutschen auf einem gemeinsamen Empfang der acht beteiligten Verleger zu Ehren der lateinamerikanischen Gäste daher auch ironisch als "letzte Entdecker" des Kontinents. Die Lateinamerikaner hingegen verwiesen auf Alexander von Humboldt, den sie liebevoll als ihren zweiten Entdecker ehren — jenen, der zu erforschen und bewahren kam, nicht jedoch um zu erobern und auszubeuten. Ein kurioses Mißverhältnis: Deutschland, in der Nachfolge des genialen Wissenschaftlers eigentlich prädestiniert zur Erkundung Amerikas — man denke auch an die berühmten Altamerikaforscher der Berliner Schule um die Jahrhundertwende —, mußte jetzt das ABC in Sachen Lateinamerika buchstabieren, benötigte elementare Auskünfte und Basisinformationen. Dazu gehörte zum Beispiel der Satz von Octavio Paz (inzwischen unzählige Male wiederholt und daher allgemein bekannt), daß die lateinamerikanische Literatur ein Spätankömmling unter den Literaturen der Welt sei. Im vergangenen Jahrhundert sei die russische hinzugestoßen, im ersten Drittel dieses Jahrhunderts dann die hispanoamerikanische/brasilianische. Weil sie die jüngste sei, erkläre dies vielleicht auch ihre überraschende Vielfalt und Lebendigkeit. In fünf Messetagen sollten nun Versäumnisse von Jahrzehnten aufgeholt werden. Schließlich hatte die Modernisierung und Revolutionierung der lateinamerikanischen Literatur ja bereits um die Jahrhundertwende mit Rubén Dario und José Martí begonnen, war in der Lyrik durch Borges, Pablo Neruda, Vicente Huidobro oder César Vallejo fortgeführt worden, bevor in den 40er Jahren die ersten Erzählungen und Romane publiziert wurden: von Borges, Bioy Casares, Carpentier, Onetti, später dann von Rulfo und José Maria Arguedas, die lediglich deutschen Insidern bekannt waren. Dies jetzt alles zugleich vorstellen zu wollen, Interesse und Anteilnahme zu wecken, war ein Kraftakt, den Dieter E. Zimmer in einem Rückblick würdigte, zugleich jedoch die Schwierigkeiten

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aufzeigte, die dieses Unterfangen begleiteten und während einiger Veranstaltungen zum Vorschein gekommen waren. Der deutsche Leser, auf den in diesen Tagen nun Namen über Namen lateinamerikanischer Autoren niederprasseln, die er nicht behalten und nicht aussprechen kann und bei denen er oft nicht einmal weiß, wo der Vorname aufhört und der Nachname beginnt [...], wird sich irritiert fragen: Muß er denn? Muß er das nun alles lesen? Wo soll er anfangen? [...] All die Anstrengungen, der lateinamerikanischen Literatur zum späten Durchbruch im deutschen Sprachbereich zu verhelfen, haben in der Tat eine stillschweigende Prämisse: daß die Literatur Lateinamerikas nicht auf einen Gnadenerweis angewiesen ist, daß es kein karitativer Akt ist, sie zur Kenntnis zu nehmen, daß sie es nicht nötig hat, dem deutschen Publikum als Pflichtpensum verordnet zu werden [...], daß nicht sie den Schaden davonträge, wenn sie weiter als irgendein Exotikum von oben herab abgefertigt würde, sondern daß den Schaden der deutsche Leser selber hätte. [...] Sind wir inzwischen so saturiert und sklerotisch, daß wir, um nur zwei Namen zu nennen, Carpentier und García Márquez nicht mehr in der gleichen Weise [wie die amerikanischen und französischen Autoren] absorbieren können? Die Lateinamerika-Veranstaltungen während der Buchmesse selbst, so gut sie gemeint waren, so schwierig es gewesen war, sie überhaupt zustande zu bringen — diese Veranstaltungen waren ein Fiasko. [...] Die beiden Diskussionsveranstaltungen am Sonnabend, die den Höhepunkt des Lateinamerika-Programms bilden sollten, wurden sein Tiefpunkt. [...] Warum mußte man zwei Diskussionsleiter bemühen, von denen der erste, bei der Diskussion unter Lateinamerika-Experten, nämlich Carl Amery, eingestandenermaßen von der Sache nichts verstand und der zweite, bei der Diskussion unter lateinamerikanischen Schriftstellern, Curt Meyer-Clason, zu gutmütig war, rhetorische Tiraden irgendwann zu unterbrechen? (D.E. Zimmer, Die Zeit, 24.9.1976) Nach dieser Diskussion waren in der Tat alle aufgebracht oder entgeistert: die Autoren auf dem Podium, das Publikum, die Organisatoren. Zum Glück verrauchte der Zorn auf dem bereits erwähnten Verlegerempfang am Abend und die Depression schwand angesichts der gelungenen Kontakte, die sich zwischen Deutschen und Lateinamerikanern anbahnten. Heute, mit zeitlicher Distanz, darf allerdings behauptet werden, daß der "Kraftakt" der Frankfurter Buchmesse mit seinem Schwerpunktthema den Auftakt gebildet hat zu einem neuen Kapitel in der Rezeption der lateinamerikanischen Literatur in Deutschland. Seit 1976 verläuft sie zwar weiterhin langsam, aber kontinuierlich und insgesamt erfolgreich.

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Dies war durchaus keine Selbstverständlichkeit. Viele Kritiker prophezeiten damals, daß die ganze Lateinamerikawelle schnell wieder abklingen und durch neue Tendenzen und Themen ersetzt werden würde. Im besten Falle könnten sich drei oder vier Namen im Buchhandel durchsetzen. Die Verleger würden ihr Engagement bald einstellen und das Interesse verlieren, zumal generell keine aufsehenerregenden Verkaufserfolge zu erwarten und die Schwierigkeiten der Übersetzungen weiterhin enorm waren. Zum Glück bestätigten sich diese Unkenrufe nicht, und die lateinamerikanische Literatur eroberte sich von Jahr zu Jahr mehr Fans, wozu viele Dinge beitrugen: Die Besuche von Autoren zogen enorme Aufmerksamkeit der Medien und des Publikums auf sich, beispielsweise beim Besuch von Octavio Paz, der 1979 erstmals (!) auf Einladung seines Verlages für zehn Tage in die Bundesrepublik reiste, oder als Alejo Carpentier 1979 die Buchmesse besuchte und dort genau am 12. Oktober, dem "Tag der Hispanität", sein Kolumbusbuch Die Harfe und der Schatten vorstellen konnte. Auch die Publikationen bahnbrechender Romane, wie Paradiso von José Lezama Lima (1979), Rayuela. Himmel-und-Hölle von Julio Cortázar (1981) oder Drei traurige Tiger von Guillermo Cabrera Infante (1987) - alle drei seit Jahren bzw. Jahrzehnten überfällig —, zogen große Aufmerksamkeit der Medien auf sich und wurden von vielen Rezensenten bewundert, die solche Leseerlebnisse für seltene Glücksfalle hielten. Andere wichtige Werke wurden inzwischen schneller übersetzt, so Terra Nostra von Carlos Fuentes 1982 (spanisch 1977) oder Der Krieg am Ende der Welt von Mario Vargas Llosa 1982 (spanisch 1981), wie natürlich alle Romane von García Márquez. Die Aufgabe deutscher Verlage bestand darin, wichtige Versäumnisse aufzuholen und zugleich dem Rhythmus der Neuerscheinungen zu folgen. So erschienen nun regelmäßig aktuelle und ältere Titel, und dies, obwohl die Rezeption auch weiterhin keine spektakulären Fortschritte zu verzeichnen hatte und der Mangel an guten Übersetzern in jenen Jahren noch eine zusätzliche Hürde für die Verbreitung der zumeist schwierig zu übertragenden Literatur darstellte. Aber die Lust auf die neuen Bücher zog stetig weitere Kreise: Buchhändler empfahlen ihren Kunden manchen Titel, Kritiker widmeten den Novitäten mehr Platz in den Feuilletons, die Leser teilten einander die letzten Entdeckungen mit. Vor allem die jüngeren gerieten zusehends in den Bann dieser Romane, die ihnen so viele Kenntnisse von dem faszinierenden Kontinent vermittelten, der auch durch die politischen Ereignisse — Chile, Nicaragua — stärkere Beachtung in den Medien fand. Der zweite, enorme Anstoß zur Beschäftigung mit der lateinamerikanischen Kultur erfolgte dann in Berlin mit dem Festival Horizonte, das vom 29. Mai bis zum 20. Juni 1982 Musik, Theater, Film, Ausstellungen und Literatur aus dem Kontinent präsentierte. Im Vorwort der zweibändigen Pressedokumentation der Berliner Festspiele (insgesamt mehr als 1000 Seiten) wird wiederum Bilanz gezogen:

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Horizonte '82: fast 170.000 Besucher haben die über 200 Veranstaltungen des Festivals gesehen und gehört. Über 300 Journalisten, darunter 40 aus Lateinamerika, waren akkreditiert. [...] Das Lateinamerika-Festival hat versucht, mit Veranstaltungen in den Bereichen Musik, Theater, Literatur, Film und Bildende Kunst Einblicke in einige Aspekte der aktuellen kulturellen Situation der Länder und Völker Lateinamerikas zu geben. [...] In einem Mittelpunkt des öffentlichen Interesses standen die Literaturveranstaltungen, zu denen 35 lateinamerikanische Autoren eingeladen waren. Mit der Beteiligung auch deutscher Autoren und Literaturwissenschaftler konnte mit dieser Veranstaltungsreihe über fünf Tage hin in der Staatsbibliothek die Situation der lateinamerikanischen Literatur erläutert werden. 7.000 Besucher haben teilgenommen. Liest man die Presseberichte, so wird das Bild von der außerordentlichen Vitalität, von der Phantasie und der Weltbedeutung der lateinamerikanischen Literatur deutlich. Als Höhepunkt wurde allgemein die Lesung von Günter Grass aus Werken von Juan Rulfo bezeichnet. [...] Umfangreich ist auch die Berichterstattung in der lateinamerikanischen Presse: Mehrfach wurde die Eröffnungsrede von Octavio Paz vollständig abgedruckt; Musik- und Literaturveranstaltungen, die Ausstellungen wurden in ausführlichen Berichten rezensiert. Einige der lateinamerikanischen Autoren berichteten nach ihrer Rückkehr in mehrseitigen Artikeln über ihre Erfahrungen in Berlin. "Wir hoffen, die Bande der Freundschaft, des Zusammenlebens und der Brüderlichkeit mit dieser schönen Stadt Berlin zu knüpfen, wo wir mit so großer Herzlichkeit und Gastfreundschaft empfangen worden sind, wie sie uns bislang von keinem anderen Kulturkreis zuteil geworden ist", schrieb Juan Rulfo am 6. Juni an die Veranstalter.1 Es war, als ob sich in Berlin ein Kreis geschlossen hatte: Hier hatte 1962 ein erstes Kolloquium zwischen deutschen und lateinamerikanischen Autoren stattgefunden, 1964 ein zweites, dokumentiert in Humboldt und in einer Publikation der Humboldt-Stiftung, die vor allem von den Schwierigkeiten der Begegnung zeugt. Weitere Treffen folgten, organisiert von Günter W. Lorenz vom Institut für Auslandsbeziehungen (Stuttgart), nämlich 1970 in Darmstadt, 1974 in Stuttgart, 1976 in Sprendlingen/Frankfurt und 1978 in Aachen. Hochsubventioniert, standen sie doch zumeist unter keinem günstigen Stern - Garcia Márquez, der 1970 teilgenommen hatte, fand den Verlauf eine Zumutung und erklärte im Anschluß kategorisch: "Nie wieder". Die Akten dieser Symposien

'Vorwort der Presseberichte des In- und Auslands zu Horizonte

'82.

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sind (zum Teil) als Sondernummern der Zeitschrift fiir Kulturaustausch (Stuttgart) erhältlich. Da auch die Begegnung auf der Frankfurter Buchmesse 1976 manche negative Erinnerungen und Assoziationen hinterlassen hatte, dürfen die Literaturveranstaltungen des Horizonte Festivals als "Durchbruch", als Neuanfang der Treffen zwischen Deutschen und Lateinamerikanern bezeichnet werden. Hier wurden neue Maßstäbe gesetzt, und so äußerten sich die Teilnehmer zufrieden oder spendeten sogar großzügiges Lob. Bei den Podiumsdiskussionen (Mittelamerika, Brasilien, Andenländer, Cono Sur) wurden die Fehler von früher (cf. die Mängelliste von Dieter E. Zimmer) vermieden: Es gab kundige (deutsche) Moderatoren, ein festumrissenes Thema, Berufsdolmetscher und nur vier oder fünf (miteinander harmonierende) Autoren auf dem Podium. Dies erklärt sicherlich den Erfolg dieser Gesprächsrunden, auf die sich alle Teilnehmer auch vorbereitet hatten. Ihre kurzen Statements sowie andere Festival-Beiträge sind nachzulesen in der Zeitschrift die hören (1983, Nr. 129) und zeugen von der Lebendigkeit der Auseinandersetzungen. Neben den Diskussionen, zumeist kulturell-politischen Inhalts, las jeder Schriftsteller Gedichte oder Erzählungen, erläuterte und beantwortete Fragen, damit sein literarisches Werk ausreichend bekanntgemacht werde. Es schien, als fühlten sich alle Gäste wohl in Berlin, und dies erklärt vielleicht auch, warum es seitdem sehr viel leichter geworden ist, lateinamerikanische Autoren nach Deutschland einzuladen. Offensichtlich wurde der Teufelskreis des Nichtverstehens und Desinteresses hier endlich durchbrochen. Die Vorbereitung des Berliner Festivals dauerte mehr als zwei Jahre, und unzählige politische, persönliche und finanzielle Schwierigkeiten mußten überwunden werden. Die Fülle gedruckten Materials war beeindruckend: Abgesehen vom Magazin zum Festival (270 Seiten), gab es hervorragende und oft sehr umfangreiche Kataloge zu den zahlreichen Kunstausstellungen: Wand-BildMexiko, Mythen der Neuen Welt, Fotografie: Lateinamerika 1860-1980, Tina Modotti und Frida Kahlo, Juan Rulfo — Fotos, Siete Portafolios (Mexico), Neue Kunst aus Lateinamerika, Nicaragua — Vor uns die Mühen der Ebene, Tango, Architektur, Modernisierung des Elends usw. Desgleichen erschienen drei Taschenbücher, die Basisinfomationen in Form von Anthologien lieferten: Die Neue Welt. Chroniken Lateinamerikas von Kolumbus bis zu den Unabhängigkeitskriegen; Der lange Kampf Lateinamerikas. Texte und Dokumente von José Martí bis Salvador Allende und Lateinamerika. Gedichte und Erzählungen 1930-1980. Jeder Besucher, jeder Neugierige konnte Informationsmaterial über die unterschiedlichsten Themen — Musik, Theater, Politik etc. — finden und sich in das jeweilige Thema einlesen. Die sorgfaltige und langjährige Vor-

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bereitung ermöglichte alle diese Publikationen, die über das Festival hinweg ihre Gültigkeit bewahren und wichtige Wissenslücken füllen konnten.2 Natürlich gab es heftige Polemiken vor, während und nach dem Festival — zu wenig oder zu viel politisiert sei es, der Eröffnungsredner Octavio Paz sei eine Zumutung oder ein Ereignis, warum keine Kubaner der Insel anwesend seien oder warum García Márquez nicht käme und so fort. Selbstverständlich gibt es dafür Erklärungen, und der Wunsch, alle lateinamerikanischen Autoren in Berlin zu versammeln, ist als solcher ohnehin illusorisch. Schließlich treten die bedeutenden deutschen Schriftsteller auch nicht alle gemeinsam im Ausland auf. Die Pressedokumentation spiegelt diese Debatten ausführlich wider und vermittelt zugleich einen aufschlußreichen Einblick in die Reaktion der Deutschen auf die lateinamerikanische Präsenz, die ja auch eine Herausforderung in doppeltem Sinne bedeutete: künstlerisch und politisch. Während des Festivals herrschten in Berlin tropische Temperaturen, die die Besucher jedoch nicht an den Wannsee, sondern unverdrossen in die Veranstaltungsräume führten. Konzerte gerieten zu Festen, die brasilianische Theatergruppe "Macunaima" konnte dem Andrang kaum standhalten und mußte bald eine neue Tournee durch Deutschland beginnen, Besucherschlangen vor den Ausstellungen - die Liebe der Bundesbürger zu Lateinamerika schien in nur drei Wochen endgültig erwacht zu sein. Die Veranstalter (Berliner Festspiele GmbH mit dem Indendanten Dr. Ulrich Eckhardt), besonders jedoch Gereon Sievernich, Leiter dieses intelligent und effizient geordneten Festivals, hatten wirklich Grund zur Freude: Horizonte '82 brachte nicht nur Teilnehmerrekorde, sondern hinterließ vor allem ein nachhaltiges und durchweg positives Echo. So schrieb Antonio Cisneros nach seiner Rückkehr nach Lima: Ich glaube, daß es seit dem Kultur-Kongreß in Havanna keine so große Veranstaltung zur lateinamerikanischen Kultur in ihrer Vielschichtigkeit mehr gab wie diese in Berlin. Es war eine, wie sprichwörtlich nur von den Deutschen möglich, sehr gut organisierte Veranstaltung, was man eigentlich von dieser überaus vielseitigen Konfrontation praktisch nicht erwartet haben konnte. Die in letzter Zeit gemachten lateinamerikanischen Filme habe ich genauso wenig zuvor gesehen wie Willie Colon; Willie Colon nämlich trat, als er hier war, im Country-Club auf, wohin ich niemals gehen könnte. Also sah ich Willie Colon, Rubén Blades, Celia Cruz und Tito Puente, die ganze Salsa-Elite hier in Berlin. Schon allein deswegen hätte ich nach Berlin reisen müssen. ( L I M A - K u r i e r ) Es erstaunt nicht, daß das Berliner Vorbild nachgeahmt wurde, zog es doch so viel Interesse auf sich. Die Nachfrage nach Veranstaltungen mit lateinamerikani-

2

Vgl. Berliner Festspiele 1982b; Kohl 1982; Nicaragua 1982; Rodriguez Monegal 1982; Rama 1982.

1982; Reichardt 1982; Oviedo

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sehen Autoren stieg sprunghaft an, die Verbreitung der Literatur konnte ebenfalls einen spürbaren Anstieg verzeichnen. Die Verleihung des Nobelpreises an Gabriel García Márquez im Herbst 1982 bedeutete eine erneute Beschäftigung mit dem Kontinent und füllte seiten- und wochenlang die Feuilletons. In Köln organisierte das Kulturamt (in Verbindung mit zwei Nachbarstädten) im Herbst 1984 eine vielbeachtete Veranstaltungsreihe ("Gesichter Lateinamerikas"). Gast war (gemeinsam mit 14 anderen Autoren) Juan Rulfo, dessen Lesung von Erzählungen wiederum zu einem Höhepunkt geriet. Der Erfolg veranlaßte den federführenden Organisator, Dr. Winfried Gellner, die Reihe "Gesichter Lateinamerikas" in den nächsten Jahren fortzusetzen (1988 mit einem Schwerpunkt Brasilien, an dem 15 Autoren teilnahmen). In fünf Jahren reisten etwa 40 Schriftsteller nach Köln, und alle Veranstaltungen waren stets überfüllt. Ebenfalls 1984 erhielt Octavio Paz den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, was zu einer ausgiebigen Beschäftigung mit dem essayistischen Werk des Autors führte - und damit auch zu einer Analyse der politisch-wirtschaftlichen wie der kulturellen Situation Lateinamerikas beitrug. Im gleichen Jahr eroberte sich Isabel Allende mit ihrem Roman Das Geisterhaus in wenigen Monaten die Herzen der Deutschen: Nie zuvor hatte ein lateinamerikanisches Werk die Leser in dieser Schnelligkeit und Intensität für sich gewonnen. Seitdem ist das "Phänomen" Isabel Allende längst Gegenstand zahlreicher Untersuchungen und Magisterarbeiten geworden, da man unbedingt die Gründe dieses Erfolgs ausfindig machen möchte. Ob es eine besondere Werbekampagne des Verlags gegeben habe (nein), was man gemanagt habe (nichts). Die Buchhändler waren begeistert von dem Roman, und die Empfehlung lief immer schneller weiter von Leser zu Leser, bevor überhaupt die ersten Rezensionen erschienen waren. Als die Autorin 1984 zur Buchmesse nach Frankfurt reiste, wurde sie vom Publikum stürmisch gefeiert, und alle Veranstaltungen mit ihr waren stets ausverkauft. Das Geisterhaus blieb gleich für Jahre auf der Bestsellerliste des Spiegel und trug ganz entscheidend dazu bei, das Interesse für lateinamerikanische Literatur bei Verlegern und beim Publikum immens zu stärken. Auch der zweite und dritte Roman Isabel Allendes erzielten sogleich sechsstellige Verkaufsziffern, standen monatelang auf dem ersten Platz der von der Branche so gefürchteten und geliebten Bestsellerliste des Spiegel und erhielten so viele Pressestimmen, daß man leicht ein umfangreiches Buch davon drucken könnte. Im September 1986 veranstaltete die Kulturbehörde von Hamburg eine umfangreiche "Iberoamericana" — mit Konzerten, Ausstellungen, Film und Literatur. Einen Monat lang stand die Hansestadt im Zeichen Lateinamerikas und besann sich auf ihre traditionellen Handelsbeziehungen mit dem Kontinent. Der literarische Teil wurde gemeinsam mit dem Iberoamerikanischen Forschungsinstitut (Meyer-Minnemann) gestaltet, ein 190 Seiten dicker Almanach Iberoamericana. Literatur Spaniens, Portugals und Lateinamerikas gab Hintergrundinformationen zum Werk und zur Person der Gäste, die auch diesmal zahlreich anreisten. Inzwischen war es schon fast selbstverständlich, daß alle Lesungen und Podiumsdiskussionen immer bestens besucht wurden.

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Höhepunkt war diesmal die Lesung von Isabel Allende im ausverkauften Schauspielhaus der Stadt. Neben diesen fünf wichtigsten Punkten der Verbesserung der Rezeption lateinamerikanischer Kultur in den zehn Jahren - Buchmesse 1976, Horizonte '82, Nobelpreis García Márquez 1982, das "Phänomen" Isabel Allende 1984 und das Lateinamerikaprogramm des Suhrkamp-Verlages (inzwischen über 200 Titel seit 1974) - möchte ich zumindest kurz die beiden einschneidenden politischen Entwicklungen der 70er Jahre erwähnen: der Sturz Allendes 1973 sowie die Diktaturen des Cono Sur, die zahllose Lateinamerikaner ins Exil trieben; die Revolution in Nicaragua 1979 sowie der Versuch der USA, die neue Regierung durch die von ihnen finanzierte Contra gewaltsam zu stürzen. Beide führten dazu, daß sich breite Kreise der (vor allem jugendlichen) Bevölkerung mit den Chilenen und Nikaraguanern solidarisierten und die Ereignisse gespannt verfolgten. Wenn man will, beanspruchten in den 80er Jahren die Schulden- und Drogenkrise die Aufmerksamkeit der Medien in puncto Lateinamerika. Auch die Kandidatur von Mario Vargas Llosa für das Präsidentenamt seines Landes hat dazu geführt, daß sich die Presse intensiver mit peruanischen Verhältnissen, vor allem mit dem Sendero Luminoso auseinandersetzt, desgleichen aber auch das Werk des Romanciers aufmerksamer zur Kenntnis nimmt. Wieder einmal, wie es ja Tradition in Lateinamerika ist, hingen Politik und Literatur eng zusammen. Zehn Jahre nach der Frankfurter Buchmesse mit dem Schwerpunkt Lateinamerika hatte sich das Verhältnis zwischen Deutschen und Lateinamerikanern von Grund auf gewandelt: verbessert. Rückblickend wirken einige Artikel oder Rezensionen der 70er Jahre schon fast antik oder kurios, und es erscheint kaum vorstellbar, daß man damals so wenig über die Literatur des Kontinents und seine Verfasser wußte. Heute sind vielen Lesern die komplizierten Autorennamen vertraut, in Literatenzirkeln spricht man kenntnisreich über selbst so "schwierige" Romanciers wie Juan Carlos Onetti oder Lezama Lima, zahlreiche deutsche Autoren sind begeistert von der lateinamerikanischen Literatur. Inzwischen lassen sich bereits Einflüsse dieser Werke auf die jüngeren deutschen Autoren aufzeigen (auch diese Spuren werden bereits in akademischen Untersuchungen erforscht). Viele Lateinamerikaner nehmen heute gerne ein Stipendium des DAAD für einen Aufenthalt in Berlin an und fürchten sich nicht länger vor der Kälte oder der Sprachlosigkeit, die sie sonst so erschreckt hatte.3 Wiederum zehn Jahre später ist die lateinamerikanische Literatur in Deutschland noch fester verankert: Alle weiteren Großereignisse — der Nobelpreis an Octavio Paz 1990, der Mexiko-Buchmessenschwerpunkt 1992 sowie die ausführlichen Berichte zur Fünfhundertjahrfeier der Entdeckung Amerikas, die auch zu zahlreichen Publikationen führten und die deutschen

3 Das Berliner Künstlerprogramm des D A A D wurde 1963 gegründet, und es erlaubte seither, eine bemerkenswerte Anzahl von Künstlern für eine gewisse Zeit nach Berlin einzuladen. S. dazu Endlich/Höynck 1988.

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Feuilletons füllten, schließlich die Schwerpunkte der Buchmesse 1994 mit Brasilien, dazu ein ausführliches Besuchsprogramm der Autoren in vielen deutschen Städten — haben dazu beigetragen, daß die Deutschen ihre Verspätung in der Rezeption weitgehend wettgemacht haben. Heute herrscht z.B. in französischen und deutschen Verlagen nahezu Gleichzeitigkeit in der Akzeptanz der neuen Bücher aus Lateinamerika. Das darf zweifelsohne als ein Meilenstein gewertet werden, war doch zuvor das Mißverhältnis eklatant: In Frankreich kannte man sozusagen alles, in Deutschland sozusagen nichts. Bleibt lediglich der Unterschied, daß es in Deutschland immer noch große Wissenslücken gibt, wir viele klassische Meisterwerke noch nicht kennen. Hierfür nur zwei Beispiele: Euclides da Cunhas Os Sertöes wurde in Deutschland erst 1994 publiziert. Und auf Graciliano Ramos' Gefängnistagebücher warten wir weiterhin vergeblich. Diese Liste kann man — leider — mühelos verlängern, hier muß noch viel geschehen. An den Universitäten hat der sprunghafte Anstieg von Studenten der Hispanistik, die sich vor allem für die Literatur Lateinamerikas interessieren, dazu geführt, daß in den 80er Jahren einige neue Professuren eingerichtet wurden und daß die "Lateinamerikanistik" in allen wichtigen Universitäten einen (kleineren oder größeren) Platz gefunden hat. In Eichstätt organisiert Prof. Dr. Kohut regelmäßig Symposien, die einer bestimmten Region oder einem Land gelten, um einen Überblick über die jüngsten — literarischen und kulturpolitischen — Ereignisse zu ermöglichen; die Akten dieser Seminare werden anschließend gedruckt, damit auch andere Studenten Einblicke in die jeweilige Problematik nehmen können. Man darf also damit rechnen, daß der Vormarsch des Spanischen in Deutschland andauern wird, daß das Interesse an der Literatur des Kontinents sich weiterhin verstärken wird. Die Präsenz vieler lateinamerikanischer Autoren auf den deutschen Bestseller- und Bestenlisten ist ein deutliches Indiz dafür, wie sich vieles in zwei Jahrzehnten positiv verändert hat. Das 1988 gegründete Haus der Kulturen der Welt in Berlin lädt seit Jahren lateinamerikanische Autoren ein, veranstaltet Lesungen und Diskussionsrunden. Meist sind es junge und bislang unbekannte Namen, die man dort hört und sieht, und natürlich die immer in den Hintergrund verdrängten Lyriker. Oft werden einzelne Länder und ihre aktuelle Literatur schwerpunktmäßig vorgestellt — so Chile, Cono Sur, Kolumbien, Peru oder Brasilien —, und man bemüht sich darum, gleichzeitig eine Anthologie mit Texten der Gäste zu publizieren, damit die deutschen Leser auch außerhalb Berlins sich einen eigenen, wenngleich nur kleinen Eindruck verschaffen können. Zusammenfassend läßt sich die Entwicklung der letzten zwanzig Jahre vielleicht in einem Satz zusammenfassen: Wir sind von der "Exotik" zu einer gewissen "Normalität" vorgestoßen. Und das könnte der Beginn einer deutschlateinamerikanischen Verständigung sein, die sich nicht nur auf die Faszination der neuen Literatur beschränken mag, sondern Kunst, Musik, Wirtschaft, Politik, Archäologie usw. umfassen will, damit endlich ein reger "Austausch" auf allen Ebenen erfolgen kann.

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Bibliographie Berliner Festspiele (Hg.). 1982a. Presseberichte des In- und Auslands zu Horizonte '82. Berlin. - . 1982b. Magazin. Horizonte '82. Berlin. Buchhändler heute. Nr. 5. 1976. Buchreport. Nr. 27. 1976. Börsenblatt. Nr. 70. 1976. Endlich, Stefanie und Rainer Höynck (Hgg.). 1988. Blickwechsel. 25 Jane Berliner Künstlerprogramm. Berlin: Argon. Kohl, Karl-Heinz. 1982. Mythen der Neuen Welt. Zur Entdeckungsgeschicite Lateinamerikas. Berlin: Fröhlich u. Kaufmann. LIMA-Kurier. September 1982. Lima. Meyer-Minnemann, Klaus (Red.). 1986. Iberoamericana. Literatur Spaniels, Portugals und Lateinamerikas. Hg. von der Kulturbehörde der Freien ind Hansestadt Hamburg. Hamburg: Michael Keller. Nicaragua. Vor uns die Mühen der Ebene. (Ausstellung vom 1. Juni - 6. August 1982, Kunstamt Kreuzberg, Berlin). 1982. Wuppertal: Pe:er Hammer. Oviedo, José Miguel. 1982. Lateinamerika. Gedichte und Erzählungen 19301980 (suhrkamp taschenbuch, 810). Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Rama, Angel (Hg.). 1982. Der lange Kampf Lateinamerikas. Texte und Lokumente von José Martí bis zu Salvador Allende, (suhrkamp taschenbuch, 812). Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Reichardt, Dieter (Hg.). 1982. Tango. Frankfurt a.M.: Vervuert. Rodríguez Monegal, Emir (Hg.). 1982. Die Neue Welt. Chroniken Laténamerikas von Kolumbus bis zu den Unabhängigkeitskriegen, (suhrkaxip taschenbuch, 811). Frankfurt a.M.: Suhrkamp. HORIZONTE '82 — Zweites Festival der Weltkulturen: Dokumente zur Lite-atur, Malerei, Kultur und Politik Lateinamerikas. Zusammengestellt \on Michi Strausfeld. 1983. In: die hören. Nr. 129.

Sind die Deutschen die letzten Entdecker Amerikas? Zur Rezeption der lateinamerikanischen Literaturen* Gustav Siebenmann

Für die Geschichte der Beziehungen zwischen dem deutschsprachigen Kulturraum und Lateinamerika sind die Wirtschaft, die Politik, die Religion entscheidende Faktoren, weil sie mit Macht, mit Vormacht zu tun haben. Auf andere Weise aufschlußreich für die Beziehungsgeschichte sind die Sektoren der Wissenschaft, der Künste und der Literatur, denn sie haben mit den Machtgefügen nur mittelbar zu tun. Im Bereich des Kulturaustausches spielen nämlich Angebot und Nachfrage ein subtiles dialektisches Spiel miteinander, das man nachgerade als autonom und selbstregulierend qualifizieren könnte. Zwischen Indifferenz, Abneigung und Attraktion entstehen Schwankungen, die sich einer eindeutigen Kausalität und damit dem Eingriff von Machtstrukturen längerfristig entziehen, zumal beim literarischen Austausch zwischen Kulturen. Beobachtet man ihn über längere Zeiten hin, so ergibt er einen interessanten, wenn auch sehr sorgfältig zu interpretierenden Indikator für den Zeitgeist, für die Sensibilität des Kollektivs, für Sorgen, Ängste und Sehnsüchte sowie für ästhetische Vorlieben in den beiden Kulturen: der produzierenden wie der rezipierenden. Literatur bildet im eigenen Kulturraum nicht nur ein Kunst- und Geschichtsbewußtsein aus und ab, sondern auch das spezifische und epochale Selbstbewußtsein, mit anderen Worten die jeweilige kulturelle Identität. In dieser Funktion sind ihre Auswirkungen auf den kulturellen Binnenraum, auf das Inland ausgerichtet. Die Rezeption einer bestimmten National- oder Kontinentalliteratur außerhalb ihres eigenen Raumes ist hingegen ein nicht intendierbarer und auch kein zwangsläufiger, selbsttätiger Vorgang. Er kann durch auswärtige Kulturarbeit nur in engen Grenzen beeinflußt werden. Wenn die Literatur Brücken in einen anderen Kulturraum schlägt, so werden diese zunächst vom Empfangerland gebaut und erst nach und nach in beiden Richtungen begangen. So lag denn auch im Falle der literarischen Kontakte zwischen dem deutschen Kulturraum und Lateinamerika die Rezeptionserwartung über Jahrhunderte in der Neuen Welt. Der Grund für diese Fremdorientierung der lateinamerikanischen Kulturen ist in der Geschichte zu suchen. In der frühen Neuzeit setzte die koloniale Abhängigkeit Herkunft und Richtung des Kulturtransfers gesetzlich und damit apriorisch fest: Von der Iberischen Halbinsel — und nur

'Eine erste Fassung dieses Artikels erschien in Spanisch: "La literatura hispanoamericana en los países de habla alemana", in: Revista Hispánica Moderna, año XLIV, núm. 1 (junio 1991): 124-137.

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von dieser — nach Übersee. Doch schon im 18. Jahrhundert setzte die Abwendung der sich in zunehmendem Maße ihrer Unabhängigkeit nähernden Kolonien von den damaligen Mutterländern Spanien und Portugal ein, und im gleichen Zuge die konsequente Zuwendung der Vizekönigtümer bzw. der neu entstandenen Republiken zu anderen, nicht-iberischen Kulturen. Während zur Zeit der Aufklärung namentlich die französischen Philosophen mit ihrem revolutionären Gedankengut die überseeischen Unabhängigkeitsbestrebungen nährten, sind seit dem frühen 19. Jahrhundert dann auch einzelne Dichter und Denker Deutschlands rezipiert worden. Die Namen der wichtigsten Einflußnehmer sind bekannt: Goethe, Heine, Nietzsche, später dann Rilke, Thomas Mann und in den letzten Jahrzehnten Brecht. In einem jüngeren, ungleich kürzerfristigen Zeitverlauf ist diese Brücke dann auch in umgekehrter Richtung begangen worden: von Lateinamerika in den deutschen Kulturraum. Von dieser Rezeptionsphase wird hier hauptsächlich die Rede sein. Der Unterschied gegenüber den Beziehungen zwischen dem deutschen Kulturraum und Spanien, Katalonien und Portugal ist ebenso auffällig wie banal. Während von der Iberischen Halbinsel schon seit der Renaissance, dann vor allem im Barockzeitalter und intensiv in der Romantik (vgl. Blanco Unzué 1981) Texte wie die Celestina, der Amadls, Schriften der Mystiker, sodann der Abenteuer- und der Schelmenroman, Cervantes, in ganz besonderer Weise Calderón und andere Dramatiker des Siglo de Oro, danach der Romancero, in viel zu geringem Maße die Autoren des 19. Jahrhunderts und dann erst wieder Federico García Lorca übersetzt und auch gelesen wurden, sind Übersetzungen von Werken aus Lateinamerika jahrhundertelang nur vereinzelt erfolgt und erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts quantitativ relevant geworden. Weshalb nun haben die spanisch- und portugiesischsprachigen Kulturen im deutschsprachigen Raum eine von Epoche zu Epoche unterschiedliche Beachtung gefunden, mit Schwankungen, die von totaler Indifferenz bis zur kollektiven Begeisterung reichten? Daß insgesamt, namentlich seit der Reformation, eine Marginalität alles Spanischen — und damit auch alles Lateinamerikanischen — zu vermerken ist, wird vor allem im internationalen Kulturvergleich deutlich: Die Einflüsse aus Italien, Frankreich, England und auch Russland waren, jeder zu seiner Zeit, ungleich stärker. Wie kommt es eigentlich zu solchen Hin- und Abwendungen? Der Grad von Fremdeinflüssen wird erkennbar an der Menge der übernommenen Meinungen, der eingeführten ästhetischen Maßstäbe, der Projektion existentieller Optionen, der Vorliebe für bestimmte Bücher, wobei das Gesamte im Empfängerland für die Dauer von vielleicht einer Generation wirksam bleibt und laufend durch die Neuerungen der heranwachsenden Generation verändert und durch andere Fremdeinflüsse bereichert wird. All dies wird Teil des kulturellen Kanons und dieser ist, ähnlich etwa dem sogenannten Zeitgeist, ein soziales Phänomen, das sowohl in seinen Neigungen wie in seinen Abneigungen möglicherweise im Nachhinein erklärbar ist, während das ihm eigene Beharrungsvermögen wie auch seine Wandlungen im Grunde unvorhersehbar sind. Keine Autorität vermag es auf Dauer, einen kulturellen Kanon zu

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verordnen oder das Wünschbare verbindlich zu umschreiben. Faßbar wird ein kultureller Kanon allerdings anhand gewisser Symptome, in denen sich die mehrheitliche Einstellung einer Gesellschaft öffentlich und institutionell niederschlägt. Anhand solcher Einstellungen kann man ablesen, in welchem Verhältnis zwei einander fremde Kulturen zueinander stehen. Im Falle der Haltung der deutschsprachigen Kulturen gegenüber den spanisch und portugiesischsprachigen verraten diese Symptome, wie gesagt, eine unleugbare Randstellung. Unschwer lassen sich dafür Beispiel finden: Die Unkenntnis von Namen, Werken und Sachverhalten von der Iberischen Halbinsel oder aus Lateinamerika gehörte bis vor wenigen Jahren in Deutschland, in Österreich und in der Schweiz zur Norm, selbst unter Gebildeten. (Von den Berufsleuten ist hier natürlich nicht die Rede.) Solches Nichtwissen wird deshalb für verzeihbar gehalten, weil der kulturelle Kanon diese partielle Ignoranz zuläßt. Eine gebildete Person in unseren Landen wird sich nicht bloßgestellt vorkommen, wenn sie nicht weiß, wer beispielsweise Alfons der Weise ist, oder Quevedo, oder Clarín, oder José Martí, oder Vicente Aleixandre, oder Julio Cortázar, um lediglich literarische Beispiele zu bringen. Das Attribut "gebildet" wird offenbar aufgrund gewisser Erfordernisse zuerkannt, die vom kulturellen Kanon gesteuert werden. Da der unsere, nebst dem kulturell Eigenen, bestenfalls Elemente der griechisch-römischen Antike, der räumlich nahestehenden Kulturen, also der englischen, der französischen, der italienischen, der slawischen, der skandinavischen, aber auch der nordamerikanischen umfaßt, entzog sich bis vor kurzem, einer nur zeitweise unterbrochenen Tradition gemäß, alles Iberische und Iberoamerikanische der "sozialen Kontrolle" durch den Bildungskanon (vgl. Siebenmann 1989). Zu einer institutionellen Ungunst (Bildungskanon der Deutschen, Gesamtromanistik an den Universitäten, Spanisch als späthinzukommende Fremdsprache) gesellt sich die bekanntermaßen dilettantische Rolle der professionellen Vermittler, der einschlägigen Literaturwissenschaft und -kritik also. Die bis etwa 1950 spärliche wissenschaftliche Beschäftigung mit spanischen und erst recht mit lateinamerikanischen Themen an den deutschsprachigen Universitäten war nur die konsequente Folge der kulturellen Randstellung der Iberoromania. Die früheste lateinamerikanistische Publikation eines deutschen Romanisten ist Max Leopold Wagners Büchlein über Die spanisch-amerikanische Literatur in ihren Hauptströmungen (Leipzig 1924). Erst vierzehn Jahre später veröffentlicht der Hamburger Romanist Helmut Petriconi einen wenig verbreiteten Überblick über die im ersten Drittel unseres Jahrhunderts erschienenen Romane: Spanischamerikanische Romane der Gegenwart (Hamburg 1938). Die Auswahl der Texte war für Übersetzer wie für Hochschullehrer im Bereich der deutschen Hispanistik noch lange geprägt von den Vorlieben der Romantik und des 19. Jahrhunderts: die Hochliteratur des Siglo de Oro, mit besonderer Berücksichtigung Calderóns und Graciáns. Als sich Karl Vossler mit dem Primero sueño der zehnten Muse von Mexiko, Sor Juana Inés de la Cruz (Die Welt im Traum, Berlin 1941) erstmals einem überseeischen Autor bzw. Autorin zuwandte, als

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fünf Jahre später Ludwig Pfandl sein Buch über Die zehnte Muse von Mexiko (München 1946) veröffentlichte, fielen beide in die ungünstige Zeit der Kriegsund Nachkriegsjahre. Erst 1969 lag mit dem Standardwerk von Rudolf Grossmann im deutschen Sprachraum eine breite, wohldokumentierte Geschichte der Literaturen Lateinamerikas vor. Seither haben sich die Vorlesungen und Seminare, die Dissertationen und Habilitationsschriften zu lateinamerikanischen Themen und Autoren exponentiell vermehrt. So gelten z.B. in den Heften 1 bis 30 (1969-1989) der Zeitschrift Iberoromania (Tübingen: Niemeyer) 38 % der literaturwissenschaftlichen und 21 % der sprachwissenschaftlichen Aufsätze lateinamerikanischen Themen. Aufschlußreich ist ferner die Forschungstätigkeit an den Universitäten (vgl. dazu Kohut 1992, Drekonja-Kornat 1992, Bernecker/López 1992). Allein im Zeitraum von 1980 bis 1993 sind 13 Habilitationsschriften und 59 Dissertationen zu Sprachen und Literaturen Lateinamerikas entstanden. Allerdings gilt für die akademische Kritik hierzulande noch immer, daß sie kaum an Kulturvermittlung außerhalb der engen Grenzen des Fachs denkt, wie Frauke Gewecke (1988, 561) am Schluß ihres vorzüglich recherchierten Beitrags zur Rezeptionsgeschichte zu Recht moniert. Soviel in Kürze zur Geschichte des Kulturaustausches mit der Iberoromania. Wenn wir Rezeptionsvorgänge genauer analysieren wollen, dürfen wir die Präsenz einer fremden Literatur im anderen Land nicht allein am Angebot von übersetzten Texten messen, wir müssen darüber hinaus auch deren Erfolg sowohl beim normalen (nicht professionellen) Leser als auch vor der Literaturkritik erkennen. Darüber hinaus wären auch noch die möglichen Einwirkungen der Fremdliteratur auf das einheimische literarische Schaffen zu untersuchen. Als erstes gilt es festzustellen, was aus einer Sprache in die andere übersetzt wurde und was nicht; darauf kann die Analyse des Verständnisses dieser (gut, schlecht, falsch) übersetzten Werke folgen1, und zwar bei den Fachleuten einerseits, beim gewöhnlichen Leser andererseits; erst an dritter Stelle wären sodann die eventuellen Einflüsse fremder literarischer Modelle auf die Literaturschaffenden im eigenen Kulturraum zu untersuchen. Ich muß mich in den nachfolgenden Ausführungen allein schon aus Platzgründen auf die beiden ersten Aspekte des Rezeptionsvorganges beschränken. Und zunächst gilt es zu unterscheiden zwischen der statistischen Beobachtung und dem kulturellen Hintergrund.

1. Der quantitative Aspekt Den hauptsächlichen Anhaltspunkt für den quantitativen Rezeptionsvorgang bildet zunächst die Veröffentlichung übersetzter Literatur aus Lateinamerika. Erneut wird hier die geschilderte Marginalität erkennbar an der Zahl der ins

'Ein interessanter Vergleich der deutschen Übersetzung von Werken Juan Rulfos mit deren Original, unter Einbezug der jeweiligen Erwartungshorizonte in Mexiko und Deutschland, ist bei Vital 1994 nachzulesen.

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Deutsche übersetzten Bücher. Für das Spanische als Ausgangssprache sind die Statistiken nach wie vor entmutigend. Vom Gesamt der 9.854 Titel, die 1993 aus einer der 59 erfaßten Fremdsprachen ins Deutsche übersetzt worden sind, entsprechen nur 231 der Herkunftssprache Spanisch, das sind 2,3 %, etwas weniger als in den Voijahren. Die höheren Anteile entsprechen dem Englischen mit 69,4 %, dem Französischen mit 11,0 %, dem Italienischen mit 3,3 %, dem Russischen mit 2,8 % und dem Niederländischen mit 2,4 %. Sogar das Lateinische als Herkunftssprache erzielt 1,3 %. Dabei muß berücksichtigt werden, daß die Bundesrepublik Deutschland gemäß UNESCO-Statistik mit den Übersetzungen von Titeln der Schönen Literatur jeweils weltweit an der Spitze steht, also höchst übersetzungsfreudig ist. Der Anteil der Übersetzungen an der Gesamttitelproduktion hatte im Jahr 1992 den bisherigen Höchststand von 15,5 % erreicht und betrug 1993 noch 14,7 %, absolut 9.854 Titel. 41,7 % davon entfallen auf die Sachgruppe Belletristik.2 In unserer Bibliographie der Übersetzungen aus dem Spanischen, Portugiesischen und Katalanischen ins Deutsche (Siebenmann/Casetti 1985) haben wir von 1945 bis 1983 insgesamt 1.548 Titel registriert, die aus dem Spanischen übersetzt worden sind, nebst 276 aus dem Portugiesischen und 24 aus dem Katalanischen. Von diesem Total der spanischsprachigen Titel gehören 710 zu Spanisch-Amerika (45,9 %), von den 275 portugiesischsprachigen sind 184 (66,9 %) brasilianischen Ursprungs, ein signifikanter Unterschied zwischen den beiden iberischen Ländern. Die Verteilung der gedruckten Übersetzungen nach ihren Ursprungsregionen ist zudem auffallend ungleich. Von den zwischen 1945 und 1983 ins Deutsche übersetzten lateinamerikanischen Titeln betreffen regional ganz Lateinamerika 39, Hispano-Amerika 2, Südamerika 13, Zentralamerika 1, die Karibik 8; für die einzelnen Länder lauten die Zahlen: Argentinien 137, Bolivien 12, Chile 123, Costa Rica 4, Dominikanische Republik 1, Ecuador 15, El Salvador 7, Guatemala 24, Honduras 3, Kolumbien 42, Mexiko 96, Kuba 86 und Nicaragua 37 (auch hier war vermutlich ein politischer Multiplikator wirksam), Paraguay 7, Peru 48, Uruguay 21, Venezuela 23. Diese Teilsummen sind, wie man sieht, zu der Größe der betreffenden Länder in keiner Weise proportional. Trotz dieser schwachen Präsenz der Iberoromania in der deutschsprachigen Belletristik bleibt festzustellen, daß tendenziell der Anteil der aus dem Spanischen übersetzten Titel rasch ansteigt. Die betreffende Bilanz der Statistiken ist im Kulturenvergleich für den deutschsprachigen Raum zwar noch heute defizitär, doch ist die Wende seit dem Zweiten Weltkrieg nicht zu übersehen. Sie kann aus allen Registern der veröffentlichten Werke deutlich

J

Vgl. Buch und Buchhandel in Zahlen, hg. v. Börsenverein des Deutschen Buchhandels e.V., Frankfurt a.M., Ausgabe 1994.

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abgelesen werden.3 Man erkennt im Rückblick, daß in der Zeit zwischen 1945 und 1983 mit Sicherheit mehr Titel aus den lateinamerikanischen Literaturen ins Deutsche übertragen worden sind als in der gesamten vorausgegangenen Zeit. Auch statistisch läßt sich die expansive Tendenz mühelos belegen. Reichardt (1972) zählt für die Zeit zwischen der Florida des Inka Garcilaso de la Vega (1753), der vermutlich ersten gedruckten Übersetzung, bis 1954, also über zwei Jahrhunderte hin, nur etwa 140 übersetzte Titel, dann jedoch 145 allein für das Jahrzehnt nach 1955 und 155 weitere Titel zwischen 1965 und 1970. Bei der Untersuchung des Zeitraumes 1945-1983 (Siebenmann/Casetti 1985), in dem das eigentliche Anschwellen übersetzter Literatur aus Lateinamerika zu beobachten war, ist uns einiges aufgefallen: a) Die Prädominanz gewisser Autoren aus eindeutig literarischen Gründen, wie etwa in den Fällen Machado de Assis, Pablo Neruda, Jorge Amado; b) das Fehlen bedeutender Autoren wie José Enrique Rodó, José Martí, Alfonso Reyes, Pedro Henríquez Ureña, alles Essayisten, sowie der Romanciers Agustín Yáñez, Leopoldo Marechal, Eduardo Mallea und anderer mehr; von den 34 bedeutendsten Lyrikern lagen bis 1992 keine monographischen Übersetzungen vor, so im Falle von Julio Herrera y Reissig, Carlos Pellicer, Sara de Ibáñez, Juan Liscano, Cintio Vitier, Carlos Germán Belli, Enrique Lihn, Guillerme de Almeida, Mário de Andrade, Jorge de Lima, Cassiano Ricardo, Murilo Mendes, Cecilia Meireles, Augusto Federico Schmidt, Carlos Nejar (vgl. Siebenmann 1993); c) die starke Präsenz historischer Texte, von den Schriften aus der Zeit der Eroberer (Las Casas) bis zum Jesuitenstaat in Paraguay; d) der ideologische Einfluß auf die von den Verlegern veranlaßten Übersetzungen, z.B. von Che Guevara, Fidel Castro, Eduardo Galeano, den Tupamaros in Uruguay. Yolanda J. Broyles (1981) hat zum Beispiel die Rezeption von Borges bzw. von Neruda in der BRD bzw. in der DDR verglichen und deren Unterschiedlichkeit ideologisch zu begründen versucht. Aufschlußreich ist auch, daß der afrokubanische Lyriker Nicolás Guillén, ein Freund Fidel Castros, fünfmal in der DDR und nur zweimal in der BRD verlegt wurde, während sein Namensvetter, der liberale Exilspanier Jorge Guillén viermal in der Bundesrepublik und einmal in der Schweiz ediert wurde. Allerdings ist zu bedenken, daß die Buchproduktion in

'Das Literaturlexikon von Reichardt (1972) erfaßt die übersetzte Literatur von den Anfängen bis 1970, mit Autorenporträts und Werkbeschreibungen. Von 1945 bis 1983 sind die übersetzten Titel bibliographisch erfasst in Siebenmann/Casetti 1985. Seither werden regelmässig in den Halbjahresheften der Zeitschrift Hispanorama (Nürnberg) die übersetzten Neuerscheinungen nachregistriert. Ferner veröffentlichte Der andere Buchladen (Köln) zusammen mit der Informationsstelle Lateinamerika (Bonn) ein Gesamtverzeichnis der in deutscher Sprache lieferbaren Übersetzungen lateinamerikanischer Autoren (Elskamp u.a. 1992). Das von Reichardt herausgebene Autorenlexikon Lateinamerika (1992) registriert nicht mehr nur jene Autoren, von denen Texte ins Deutsche übersetzt wurden (wie 1965 und 1972), sondern alle, "die erkennbar bedeutende Leistung im Rahmen der jeweiligen nationalen Literaturgeschichte" erbracht haben (VII).

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der DDR bis 1989 staatlich gelenkt war und nicht dem Markt zu gehorchen hatte, so daß die Vergleiche diesbezüglich prinzipiell hinken; e) ferner fallt eine überproportionale Berücksichtigung der indigenistischen Literatur in Europa auf, zumal im deutschen Sprachraum. Sie steht sicherlich im Zusammenhang mit der Sensibilisierung besonders der Deutschsprachigen für Rassen- und Minderheitenprobleme und der entsprechenden humanitären Anteilnahme; f) eine temporär intensive Übersetzertätigkeit im Bereich der Theologie der Befreiung, nämlich 14 Titel zwischen 1971 und 1975 (Escrivá, Gutiérrez, Cabestrero, Helder Cámara, Leonardo Boff). Ähnliches gilt für den Bereich der Pädagogik der Unterdrückten (Paulo Freire und Iván Ilich) zwischen 1976 und 1979; g) ein momentanes Interesse bei internationalen Großanlässen (1968: Olympiade in Mexiko; 1969: 200. Geburtstag von Alexander von Humboldt). Ebenso interessant sind die Angaben über jene Titel, die infolge einer guten Rezeption Neuauflagen erfahren haben. Große und mehrfache Auflagen haben (bis 1983) nur Jorge Amado, Joaquim Maria Machado de Assis, Miguel Angel Asturias, Jorge Luis Borges, Ernesto Cardenal, Carlos Luis Fallas, Jorge Icaza, Pablo Neruda, Joäo Guimaräes Rosa und Erico Verissimo erzielt. Erst der Rezeptionsboom in den 80er Jahren hat vorübergehend zu Bestsellern aus Lateinamerika geführt, wie wir noch sehen werden. Es fällt schwer, genauere Angaben zu ermitteln, denn die Auflagen- und Verkaufszahlen von Büchern sind ein von den Verlegern nach Möglichkeit gehütetes Geheimnis und auf die Zahlen im Impressum ist wenig Verlaß. Wie schon angedeutet, sind bisher fast alle (quantitativen) Untersuchungen der Rezeption spanisch- und portugiesischsprachiger Literatur im deutschen Sprachraum zu dem Eindruck gelangt, es sei hierzulande eine besondere Ungunst bzw. Verspätung in der Rezeption festzustellen. Neuerdings hat nun Maarten Steenmeijer (1990) Vergleiche unter den sechs Ländern Frankreich, Italien, BRD, USA, England und Holland angestellt, um damit den Einwanderungsweg und den zeitlichen Verzug gewisser Übersetzungen aus der neueren lateinamerikanischen Literatur in Europa zu eruieren. Er wählt dazu zehn Autoren (J.M. Arguedas, Asturias, Borges, Carpentier, Cortázar, Donoso, Fuentes, García Márquez, Rulfo und Vargas Llosa). Indem er u.a. das zeitliche Gefälle zwischen der Erstveröffentlichung des Originals und jener der entsprechenden Übersetzung berücksichtigt, ermittelt er eine Reihung nach der Raschheit bzw. Verzögerung. Dabei ergibt sich unerwarteterweise für Deutschland (zusammen mit den USA) der dritte Rang nach Frankreich und Italien, vor England und Holland. Dasselbe bei der Übersetzung des Hauptwerkes von fünf Autoren des sogenannten Post-Booms (I. Allende, Galeano, Puig, Scorza, Skármeta): An erster Stelle der Reaktionsskala steht diesmal Italien, gefolgt von Frankreich, Deutschland, den USA, Holland und England. Diese Untersuchung ergibt somit, daß zwar die "Pionierländer" in Europa hinsichtlich der raschen Rezeption, wie zu vermuten, Frankreich und Italien waren. Daß ihnen jedoch der deutsche Sprachraum an dritter Stelle folgt, noch vor den angelsächsischen Ländern, stellt den deutschsprachigen Verlegern ein besseres

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Zeugnis aus als früher gemeinhin üblich. Insofern hat Steenmeijer bestätigt, was ich in einer früheren Untersuchung schon festgestellt hatte: Vor allem die bundesdeutschen Verleger haben schon früh eine beträchtliche Risikobereitschaft bewiesen (Siebenmann 1972). Einschränkend muß allerdings gesagt werden, daß bei Weltbestsellern — und um solche handelt es sich gezielt bei Steenmeijer — das Verlegerrisiko viel geringer war als noch in den Pionierjahren vor 1970. Indes, ein verlegtes Buch ist noch längst nicht immer ein verkauftes, und ein solches wird zudem auch nicht immer (zu Ende) gelesen. In der Tat ist das Buch eine "Ware" sui generis, der Leser ein Käufer besonderer Art. Er ist mit hoher Wahrscheinlichkeit das Glied in der Rezeptionskette, das im deutschen Kulturraum das hemmende, retardierende, gelegentlich auch verzerrende Moment darstellt. Vom eigentlichen Rezeptionsboom nach 1982 wird weiter unten die Rede sein, denn er ist ebenso eine Funktion des oben erwähnten Kulturkanons wie die bislang zu beobachtende Abschirmung. Wenden wir uns nun den kulturellen Faktoren zu.

2. Der qualitative Aspekt Die Gründe für die sich abzeichnende Verbesserung des Rezeptionsvorgangs liegen nun nicht allein in einer größeren kulturellen Offenheit der Deutschsprachigen gegenüber dem Fremden, sie sind zunächst zweifellos eine Folge der weltweiten Zunahme und Intensivierung der interkulturellen Beziehungen seit 1945. Hinzu kommt bei Lateinamerika allerdings, daß sich durch die politischen und wirtschaftlichen Problemfalle die Medien seit etwa 20 Jahren in erheblich größerem Umfang mit Lateinamerika befassen als früher. Für die literarischen Kontakte kommt etwas Entscheidendes hinzu: In jenem Raum hat sich etwa seit der Mitte unseres Jahrhunderts eine sensationelle kulturelle Blüte entwickelt. Dank der universal wie subkontinental erleichterten Kommunikation hat diese kulturelle Konjunktur Lateinamerikas die wachsende Aufmerksamkeit einer weltweiten Öffentlichkeit geweckt. In der gebotenen Kürze müssen wir dieses Ereignis hier kurz würdigen, denn es ist auch für die Rezeption höchst relevant. Das Phänomen äußert sich vor allem in einer qualitativen Veränderung der in Lateinamerika entstehenden Literatur. Eine lange Reihe bedeutender Autoren, von Jorge Luis Borges (1899-1986), Joäo Guimaräes Rosa (1908-1967) bis Reynaldo Arenas (1943), über Juan Carlos Onetti (1909-1994), Ernesto Säbato (1911), Ciarice Lispector (1917-1977), Juan Rulfo (1918-1986) und viele andere mehr, hat Werke von einer literarischen Originalität und erzählerischen Kraft geschaffen, die unübersehbar neue ästhetische Maßstäbe setzten. Die Erneuerung jener Literaturen hatte sich seit langem angekündigt, doch erst seit Beginn der 60er Jahre entstanden in rascher Folge Werke, in denen die künstlerische Verarbeitung eines zumeist skandalösen, dramatischen oder für Außenstehende exotischen Stoffes zur schicksalshaften Transparenz gelungen ist, in einzelnen Fällen bis zur Perfektion. Das Gesamt dieser innovierten Werke stellt ein Korpus dar, das man als den Neuen Roman Lateinamerikas bezeichnet, als Novela nueva. Einige dieser Autoren haben Bücher geschrieben, die rasch zu

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Weltbestsellern geworden sind. Sie haben den sogenannten Boom hervorgebracht. Gemeint sind Werke des Argentiniers Julio Cortázar (1914-1984), des Mexikaners Carlos Fuentes (1928), des Kolumbianers Gabriel García Márquez (1928) und des Peruaners Mario Vargas Losa (1936). Alle diese Autoren, nicht nur die zuletzt genannten, haben — jeder auf seine Weise — eine Erzähltechnik angewandt, die souverän, wenn auch zumeist mit andernorts schon erprobten Verfahren, den in Lateinamerika angesiedelten Stoff dazu bringt, universale Gehalte zu vermitteln und so auch außerhalb Lateinamerikas zu interessieren. Es sind hier offene, gelegentlich totalisierende Romanformen entstanden, die selber Entscheidendes aussagen und dabei dem Leser als verstehendem Partner einen persönlichen Spielraum belassen, ihm nicht selten gar eine aktive Interpretenrolle zuweisen. Man hat nicht zu Unrecht von einer Poetisierung der lateinamerikanischen Erzählprosa gesprochen. So darf ohne Einschränkung von einer literarischen Renaissance die Rede sein. Sie ist zweifellos das herausragende Kulturereignis im Lateinamerika des 20. Jahrhunderts. Und — wie oben dargelegt — der Umfang der daraus auch ins Deutsche übersetzten Titel hat potentiell jedem Leser in Deutschland, Österreich und der Schweiz den Schluß nahegelegt, daß in Lateinamerika eine wichtige Komponente der Weltliteratur unserer Zeit entstanden ist. Hans-Jürgen Heise hat 1987 seinem Buch aufgrund dieses Befundes einen vielsagenden Titel gegeben: Die zweite Entdeckung Amerikas. Die Kunde einer solchen Blütezeit hat sich bei der damals hierzulande noch herrschenden Indifferenz gegenüber der Kultur Lateinamerikas nicht selbsttätig verbreitet. Mit den von Inter Nationes und Albert Theiles Zeitschrift Humboldt organisierten Berliner Treffen (1962, 1964) von Autoren aus Lateinamerika mit deutschen Übersetzern und Verlegern wurde in der Bundesrepublik eine wirksame Aufklärungskampagne eingeleitet, die über den LateinamerikaSchwerpunkt an der Frankfurter Buchmesse (1976), über das erfolgreiche Berliner Festival Horizonte '82 bis zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Octavio Paz (1984) reicht. Man findet Näheres dazu in dem Aufsatz von Michi Strausfeld in diesem Essayband. Namhafte Verlagshäuser gingen teils hohe Risiken ein mit der Publikation lateinamerikanischer Autoren. Noch 1976 meinte Siegfried Unseld, der Leiter von Suhrkamp, die Einführung dieser Literatur im deutschen Sprachgebiet sei bisher gescheitert. Dennoch hat sein Verlag im Lateinamerika-Programm bis 1989 etwa 200 Titel publiziert. Im Herbst 1990 wurden in einem Sonderprospekt Bücher von 57 Autoren aus Lateinamerika angeboten, darunter 19 aus Brasilien. Der Anteil der belletristischen Übersetzungen aus dem Spanischen ins Deutsche ist zwischen 1978 und 1987 um 186,5 % gestiegen. Der Nobelpreis für Literatur im Jahr 1982 an Gabriel García Márquez hat den seit Vorliegen der deutschen Fassung von Hundert Jahre Einsamkeit (1970) ohnehin gewaltigen Erfolg dieses Kolumbianers noch gefestigt und damit auch die Aufmerksamkeit der Leser auf weitere Lateinamerikaner gelenkt.

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So bahnte sich ein eigentlicher Rezeptionsboom an. Einzelne Titel aus Lateinamerika haben Auflagen im Bereich sechsstelliger Zahlen erreicht. Zwischen 1945 und 1965 war solches nur Jorge Amado und Erico Verissimo vergönnt gewesen (vgl. Siebenmann 1972, 75 f.). Meg Brown (1994, 121) hat bei den Verlagshäusern Suhrkamp bzw. Kiepenheuer & Witsch im Frühjahr 1990 die folgenden Zahlen in Erfahrung gebracht:4 G. García Márquez: Hundert Jahre Einsamkeit —: Chronik eines angekündigten Todes I. Allende: Das Geisterhaus —: Von Liebe und Schatten G. García Márquez: Die Liebe in den Zeiten der Cholera A. Mastretta: Mexikanischer Tango I. Allende: Eva Luna M. Vargas Llosa: Lob der Stiefmutter G. García Márquez: Der General in seinem Labyrinth

(K&W 1970) 99.230 (K&W 1981) 68.200 (S 1984) 560.0005 (S 1986) 300.000 (K&W 1987) 426.800 (S 1988) 37.000 (S 1988) 315.000 (S 1989) 80.000 (K&W 1989) 129.400

Dieser quantitative Sprung betrifft freilich allein die wenigen Bestseller. Doch auch er ist die Folge einer qualitativen Veränderung. Der deutsche Erwartungshorizont hat sich infolge der verbesserten kulturellen Vorbereitung anders eingestellt. Zudem hat die bekannte Sogwirkung eingesetzt: ein Bestseller kommt selten allein. Margaret Brown sieht bei den vier oben erwähnten Autoren und Autorinnen eine besondere, die Erwartung steuernde Einflußnahme. Allerdings darf man diesen quantitativen Aspekt, so wie er sich in den Produktionszahlen niederschlägt, nicht überbewerten, denn man kann daraus umgekehrt auch Schlüsse ziehen auf die Erwartungshaltung einer majoritären deutschsprachigen Leserschaft. In Kreisen des Fachs und der Literaturkritik jedenfalls schüttelt man angesichts des vor allem im deutschen Sprachraum zu beobachtenden "Phänomen Allende" den Kopf. In der Tat hat man für den Produktionsboom in Lateinamerika wie für die wachsende Rezeptionsfreudigkeit außerhalb sehr früh schon schmälernde Gründe beigebracht: Die lateinamerikanischen Autoren hätten über die Köpfe ihres heimischen Publikums hinweggeschrieben und nach einem ausländischen Zielpublikum geschielt. Dieses wiederum habe sich in den letzten Jahrzehnten — namentlich im deutschen Sprachraum — vor einer blutleeren Durststrecke der eigenen Literatur befunden und sich deshalb begierig auf die kraftvolle, unver-

4 In Klammern steht das Jahr der ersten deutschen Ausgabe. S bedeutet Suhrkamp (Frankfurt), K&W Kiepenheuer & Witsch (Köln). In der Anzahl verlegter Exemplare wurden die Taschenbuchausgaben nicht mitgezählt. 'Inzwischen ist die Auflage auf über 1 Million gestiegen.

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brauchte, an mündlicher Tradition orientierte Erzählweise der Lateinamerikaner gestürzt, und im Land der Blinden sei bekanntlich der Einäugige König... Auch werde im Zeichen eines mehr oder weniger magischen Realismus eine kulturelle Andersheit zelebriert oder phantastische Literatur gepriesen, die letztlich Exporte aus dem Okzident seien, lauter Anleihen bei E.A. Poe, E.T.A. Hoffmann, Mérimée oder den Expressionisten. Da an all dem etwas Wahres ist, war die Euphorie nicht ungetrübt. Am ehesten leuchtet noch die These von Carlos Fuentes ein: Der Zustand nicht zu findender Identität, der für die Lateinamerikaner seit je bestand und daher in der dortigen Literatur mit besonderer Insistenz zur Darstellung gelangt, sei in jüngster Zeit universell geworden; daher die neue Koinzidenz der weltweiten Rezeptionserwartung mit der dort verbreiteten Identitäts-Thematik. Einen interessanten, kulturgeschichtlichen Erklärungsversuch für diese unerwartete Rezeptionsfreudigkeit hat Michael Rössner (1988) vorgeschlagen: Die Verbindung einer Hinwendung zum Indio mit der Suche nach einer tragfahigen kontinentalen Identität stelle in Lateinamerika eine ganz eigenständige Variante der Suche nach einem verlorenen Paradies des Denkens dar, "die in vielen Belangen über die europäische Konkretisation dieser Denkfigur hinausgeht" (180) und damit der latenten Paradiessehnsucht der Europäer auf neuartig verfremdete Weise entgegenkomme. Während nun aus diesen und anderen Gründen die Rezeptionsfreudigkeit in allen westlichen Ländern immer manifester wurde, begannen Kritiker hüben und drüben vor allem dem deutschen Vermittler, aber auch dem deutschsprachigen Leser lateinamerikanischer Literatur ein besonders schlechtes Zeugnis auszustellen. Ich möchte als gewichtiges Beispiel dafür Rafael Gutiérrez Girardot (1978, 1989a, 1989b) heranziehen. Als in Deutschland wirkender Hochschullehrer kolumbianischer Herkunft kennt er sowohl die Ursprungs- wie die Zielregion dieser Literatur aus langjähriger Erfahrung. Über die abwegige, nur im Aufsatz von 1978 vorgetragene These dieses Bonner Kollegen, wonach sich in den deutschen Rezeptionsvorgängen wieder eine "nazistoide" Ideologie im Vormarsch befinde, wollen wir hinweglesen und ihm auch den Rundumschlag auf fast alle europäischen Fachgelehrten nachsehen, die nämlich angeblich alles wissen und ihre Allwissenheit schlicht aus ihrem Unwissen herleiten. Gutiérrez Girardot verschont auch seine Landsleute nicht, die Literaturkritiker und Autoren in Lateinamerika, denen er wegen ihrer apologetischen Haltung gegenüber der europäischen Literatur eine tüchtige Schelte verabreicht. Gewiß hat Gutiérrez Girardot recht, wenn er die Verschwommenheit etwa des Begriffes "magischer Realismus" und den übertriebenen hermeneutischen Wert kritisiert, den manche europäische Lateinamerikanisten ihm zubilligen. Indessen kann nicht geleugnet werden, daß der Welterfolg des Neuen Romans aus Lateinamerika großenteils auf den ebenso verschiedenartig wie gekonnt eingesetzten Entrealisierungsverfahren beruht, gleichviel ob man diese als magisch, mythisch, wunderbar oder phantastisch bezeichnet. Eine weitere Konstante, nicht nur in Gutiérrez' kritischen Ansätzen, ist die Verurteilung des "Exotischen" als Erwartung des deutschen Lesers. Natürlich

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wird durch die Vorliebe für phantastische oder indigenistische Texte eine diskutable, verzerrende Selektion aus dem Gesamt der lateinamerikanischen Literaturen übersetzt und werden diese im Empfangerland nicht in ihrer tatsächlichen Vielfalt vorgeführt. Darf man aber deswegen fordern, die kulturelle Befindlichkeit der Rezeptoren sei auszublenden? Wie soll denn ein Leser oder ein Literaturkritiker, der — hoffentlich — in seiner eigenen Kultur verwurzelt ist, eine fremde Literatur, beispielsweise die lateinamerikanische, wahrnehmen und werten, wenn nicht von seinem eigenen Kulturraster her? Die Andersheit ist eine vorgegebene und unausweichliche Bedingung des Rezeptionsprozesses. Wenn Gutiérrez (1978) als Modell für richtiges Verhalten den Humanisten Pedro Henríquez Ureña (1884-1946) aus Santo Domingo vorführt, so ist das ein untaugliches Paradigma, denn dieser lateinamerikanische Gelehrte urteilte über seine eigene Kultur, während die Europäer ja nicht umhin können, eine transkulturelle Wertung vorzunehmen. Daß lateinamerikanische Autoren wie Miguel Angel Asturias und Octavio Paz in Anbetracht ihrer guten Rezeption in Europa von Gutiérrez Girardot gewißermassen als Kulturverräter hingestellt werden, ist das komplementäre Gegenstück zur Generalschelte an die Adresse der europäischen Lateinamerikanistik. Dieser bei uns retardierten, ideologisch befrachteten und epistemologisch unsicheren literaturwissenschaftlichen Forschung wird auf diese Weise wenig geholfen, im Gegenteil. Mit seiner Kritik an der institutionellen Schwäche namentlich der literaturwissenschaftlichen Lateinamerikanistik hat unser kolumbianischer Kollege jedoch leider recht. Im Vergleich zu den Leistungen etwa der Forschungen in den Bereichen Geschichte, Wirtschafts- und vor allem Naturwissenschaften hat die Literaturwissenschaft international wenig zum Erkenntniszuwachs im Bereich der Lateinamerikanistik beigetragen. Dies mag auch der Grund sein dafür, daß die Literaturprofessoren vom Fach wenig Einfluß nehmen konnten auf die Selektion und Einführung der zu übersetzenden Texte. Der Hanser Verlag beispielsweise hat für die Kommentierung und Herausgabe des Gesamtwerkes von Borges bezeichnenderweise — bis auf eine Ausnahme — lauter Nicht-Hispanisten beigezogen (vgl. dazu Siebenmann 1992). Die entscheidende Instanz beim Rezeptionsprozeß ist, wie gesagt, schließlich der normale, nicht professionelle Leser. Sein Verhalten entspricht dem in unserem Raum für Lateinamerika ungünstigen kulturellen Kanon. Es kommt hinzu, daß es auch Themenkreise gibt, die den deutschsprachigen Leser weniger interessieren. Bezüglich der in der lateinamerikanischen Literatur nach wie vor reichlich vertretenen realistischen Komponente — die Anklage der spanischen oder portugiesischen Kolonisatoren oder der Imperialisten gemeinhin oder der Besitzenden und Mächtigen im eigenen Lande, zum Beispiel — darf wohl behauptet werden, daß sie für einen Teil des deutschsprachigen Publikums eine rezeptionshemmende Thematik darstellt. Geht nicht die Kunde von der angeblich spezifischen Unbeliebtheit von Problemliteratur hierzulande? Mit dem Begriff ist wohl jenes Schrifttum gemeint, das die in Lateinamerika leider so verbreiteten problematischen Verhältnisse in Natur oder Gesellschaft aufzeigt, jene

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Bücher, die aus dem altbekannten Ethos und Telos des Realismus heraus geschrieben wurden, d.h. in der Absicht aufzurütteln, die Gewissen zu bewegen, zur abhelfenden Tat anzureizen. Die sozialen Verhältnisse in Lateinamerika bedingen beim Autor, der solche Intentionen verfolgt, eine starke Drastik und eine selbst die Brutalität nicht ausschließende Erzählhaltung. Dadurch wird just bei dem puritanischen und zur Karitas neigenden Leser deutscher Sprache Entsetzen und Empörung ausgelöst über Dinge, die er nicht verschuldet hat, die er auch bei gutem Willen nicht ändern kann, über Verhältnisse zudem, die oft so weither historisch bedingt sind, daß seine eigene Verantwortung nicht mehr angesprochen ist. Der gewissensempfindliche und sensible Einzelleser wird durch die Realistik eines Teils dieser Erzählliteratur zwar aufgerüttelt, es mag auch zur Weckung eines zweifelhaften Ersatzzorns kommen, letztlich aber wird er hilf- und tatenlos zurückgelassen im Zustand eines sittlichen Unbehagens, eines frustrierten Handlungsdrangs. Die Gewissenserwägungen über das eigene Land und den persönlichen Verantwortungsbereich hinaus, die übernationale Solidarität, die Frage nach der Wahrung der Menschenrechte in fremden Ländern und Erdteilen, das sind Gedankengänge, die bei den internationalen Organisationen und in den politischen Instanzen und inzwischen auch bei der breiten Öffentlichkeit eine gewichtige Rolle spielen. Indes, die Komplexität der Entwicklungsproblematik und ihre gleichzeitige Alltäglichkeit lassen diesen Stoff als immer weniger für fiktionale Literatur geeignet erscheinen. Übernatürliches, Irrationales, Exotisches, Humanitäres, die Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies oder — im besten Falle — der Genuß einfallsreicher, epischer Erzählkunst oder schlichte Neugier auf Fremdes mögen unseren Leser dazu bewegen, Werke lateinamerikanischer Autoren in die Hand zu nehmen. Indes, einen objektiven Überblick und eine umfassende Kenntnis jener Kulturen wird er anhand belletristischer Lektüre nicht suchen. Insofern zielt der Vorwurf mancher Kritiker, die Übersetzungsproduktion unserer Verleger sei partiell und einseitig auf die vermutete Publikumserwartung ausgerichtet, viel zu weit, auch wenn er berechtigt ist. So argumentierende Rezeptionskritik verfehlt im Grunde genommen ihren Gegenstand. Ihr haftet als Geburtsfehler an, daß sie den realen Vorgang der Rezeption nicht als stattgehabtes Vorkommnis beschreibt, daß sie dieses wertend vergleicht mit der Ursprungsliteratur, auch mit der Rezeption in anderen Kulturräumen. Es wird übersehen, daß eine rezipierte Kultur nie dekkungsgleich sein kann mit der originären, denn dazwischen schalten sich die Bilder, die man sich von der Fremde macht, die Sehnsüchte, die man projiziert, der Übergang von der fremden in die eigene Sprache. Die Rekonstruktion einer anderen Kultur in ihrer Befindlichkeit kann nicht die Aufgabe der Literaturvermittlung über die Grenzen sein, nicht also Produkt der Handlungskette "bookscout", Literaturagent, Verlagslektorat, Übersetzer, Verlagswerbung, Buchhandel, Käufer bis hin zum Leser. Das Ziel einer möglichst objektiven Erkennung eines auswärtigen Kulturzustandes muß sich die \ÄitTdX\iTwissenschaft stellen und sich dabei mit der autochthonen Kritik und mit dem Gesamt der originären Texte auseinandersetzen. Inwieweit die Erkenntnisse der Literaturwissenschaft

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dann auf den Rezeptionsvorgang Einfluß gewinnen, ist eine andere Frage. Ich meine, er ist geringer und mit Sicherheit träger als wir es uns wünschen. Am Befund jedoch, daß auch die Rezeptionsvorgänge ihre eigene Tatsächlichkeit haben und somit als solche Objektivität beanspruchen dürfen, ändert dies nichts. Von solchen Einwänden unangefochten darf man festhalten, daß die vergangenen 30, 40 Jahre in Europa allgemein, in Deutschland intensiv erst von 1982 an, im Zeichen deutlicher Rezeptionsfreudigkeit gegenüber einer ausgewählten Literatur Lateinamerikas standen, wenn wir darunter ein breiteres Angebot zumeist gut übersetzter Werke, eine angemessene, zunehmend kompetente Aufmerksamkeit der Literaturkritik in den Medien und der Literaturwissenschaft an den Universitäten und vor allem eine gewisse Neugier des Leserpublikums verstehen. Dieses Interesse war begleitet und gestützt von einem allgemein besseren Verständnis der Öffentlichkeit für die Probleme des Subkontinents. Daß sich in den letzten Jahren dieser Boom wieder etwas abschwächt, hat mit dem Wettbewerb der importierten Literaturen untereinander zu tun, namentlich mit der Wiederbeachtung Spaniens und Portugals seit deren Beitritt zur EG. Der Schwerpunkt Spanien an der Frankfurter Buchmesse 1991 war von den Madrider Kultusbehörden mit großem Aufwand zur eindrücklichen Selbstdarstellung genützt worden. Etwas bescheidener ist der Schwerpunkt Brasilien an der Buchmesse 1994 ausgefallen, doch wurden zu diesem Anlaß 27 Titel erstmals deutsch publiziert. Aber sind dadurch die Leser von ursprünglich spanisch- oder portugiesischsprachiger Literatur zahlreicher geworden? Es mag eine gewisse Verlagerung des Interesses von Iberoamerika zum iberischen Europa gegeben haben, doch eine neuere Verlagsumfrage hat ergeben, daß der über die Jahre 1946 bis 1969 erreichte Durchschnitt (25 übersetzte Titel im Jahr) zwischen 1985 und 1991 weiterhin jährlich erreicht oder gar überschritten wurde; im Jahr 1990 soll sich sogar der stolze Rekord von 39 erschienenen Titeln aus dem lateinamerikanischen Sprachraum feststellen lassen. Diese Zahlen sind allerdings nur auf den ersten Blick erfreulich, denn bei näherem Zusehen zeigt sich deutlich, "daß die Präsenz dieser Literatur im deutschen Sprachraum sich seit den 70er Jahren beträchtlich verringert hat" (Rössner 1993, 14f.). Für den Fortgang der Rezeption lateinamerikansicher Literatur stellt Rössner eine interessante These auf: "Wir brauchen keine Fortsetzung des alten Booms, sondern einen ganz neuen, einen 'Post-Boom', der Lateinamerika in seiner Eigenheit zur Kenntnis nimmt und verstehend vermittelt" (22). Nachdem die Verlage von dem Erwartungsdruck, einen neuen "Lateinamerikaner" herauszubringen, inzwischen befreit sind, könnten sie fortan ihre verlegten Werke etwas mehr nach Qualität auswählen, die verschiedenen Schreibweisen ausgewogener berücksichtigen und — vor allen Dingen — sorgfältiger übersetzen lassen. Sei dies nun ein Postulat oder eine Prognose Rössners: Die Aussage von Michi Strausfeld, wonach bei uns heute weitgehend "Normalität" in der Rezeption dieser Literaturen herrsche (Strausfeld 1993, 3), wird dadurch zu Recht relativiert.

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Zum Schluß bleibt daran zu erinnern, daß die schlichten Verführungen der elektronischen Medien die für das Lesen denkbare Freizeit inzwischen weiter geschmälert haben. Bislang weist nichts daraufhin, daß diese Schrumpfung etwa durch vermehrte Vorführung lateinamerikanischer Filme wettgemacht würde. Wenn Kulturelles in den Gesellschaften gemeinhin ein Auf und ein Ab kennt, so haben wir in den Jahren seit der Jahrhundertmitte ein ausgeprägtes Auf erlebt, das gegenwärtig in eine Seitwärtsbewegung mündet. Ein nicht zu unterschätzender Grund dafür ist die Anziehungskraft kulturellen "Neulandes", wie es sich dem Westeuropäer nach der Wende 1989 in der ehemaligen Zweiten Welt und immer stärker in der übrigen Dritten Welt zeigt. Als Fazit bleibt, daß man wie im übrigen Europa nunmehr auch in unserem Sprachraum nicht nur gerüchteweise, sondern endlich gesicherte Kunde davon hat, daß es in Lateinamerika eine weltweit zu beachtende Kultur gibt. Die von Hans Magnus Enzensberger vor bald vier Jahrzehnten spöttisch geäußerte Diagnose, die Deutschen seien die letzten Entdecker Amerikas, trifft inzwischen nicht einmal mehr für die Kultur Lateinamerikas zu. Dafür allerdings, daß man diese in ihrem ganzen Spektrum wahrnehme, sollten die Mittler auf allen Ebenen sich weiterhin einsetzen. Vor allem obliegt es ihnen allen, darauf hinzuwirken, daß die inzwischen geschlagene Bresche sich nicht wieder schließe, daß die reichen kulturellen Werte, die in Lateinamerika geschaffen wurden und weiterhin entstehen, in unseren Bildungskanon breiteren Einlaß finden als bisher.

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Die Romanistik als Vermittlerin der lateinamerikanischen Kultur und Literatur* Karl Kohut Das Bild Lateinamerikas war im deutschen Sprachraum bis in jüngste Zeit von Klischees geprägt. Die sogenannten "Bananenrepubliken" bestimmten das politische, Rio de Janeiro das touristische und Tango und Samba das folkloristische Bild. Kultur und Literatur hingegen blieben fast unbekannt. Die Romanistik trug nur wenig dazu bei, dieses Bild zu ändern. Erst spät — um 1960 — und von außen angestoßen, "entdeckte" sie den südamerikanischen Kontinent. Dieser von heute her gesehen mehr als merkwürdige Befund läßt sich nur aus der Sonderentwicklung des Fachs erklären. Im Unterschied zu allen anderen Philologien hat die Romanistik im deutschsprachigen Raum weitgehend die Gestalt des 19. Jahrhunderts bewahrt. Ihr Gegenstandsbereich wurde und wird von den romanischen Sprachen und Literaturen gebildet. Im Vordergrund stand das Französische, gefolgt vom Italienischen, Spanischen, Portugiesischen, Katalanischen, Rumänischen und einigen kleineren Sprachen. Im Prinzip sollte ein Vertreter der Romanistik diesen ganzen Bereich beherrschen, wobei bis in die 60er Jahre Linguistik und Literaturwissenschaft institutionell nicht getrennt waren. In der Praxis setzten die Romanisten jedoch verschiedene Schwerpunkte, wobei die bedeutendsten unter ihnen meist mehrere Sprachen bzw. Literaturen der Romania vertraten. Lateinamerika gehörte jedoch nicht dazu. Die Romanistik war ein europäisches Fach.1 Wenn die lateinamerikanische Kultur und Literatur dennoch nicht völlig unbekannt blieb, so ist dies dem Wirken einiger Einzelgänger zu verdanken, deren Interesse in der Regel durch persönliche Umstände bedingt war. Dies gilt besonders für die beiden Deutsch-Lateinamerikaner Rudolf Grossmann, der aus Rosario (Argentinien) stammte, und den in Hamburg als Sohn eines Peruaners italienischer Herkunft geborenen Hellmuth Petriconi. Grossmann und Petriconi lehrten von den 20er Jahren ab an der Universität Hamburg, die dadurch innerhalb der Geschichte des Fachs eine Sonderstellung einnimmt.2

"Der vorliegende Essay basiert auf dem Aufsatz im Handbuch der deutschsprachigen Lateinamerikakunde (1992). Der Text wurde erheblich umgearbeitet, aktualisiert und um die nur für die interne Forschungsdiskussion interessierenden Passagen gekürzt. 'Den Stand um die Jahrhundertwende hat Gustav Siebenmann (1987, 13f.) unter Hinweis auf die repräsentative Selbstdarstellung des Fachs in dem von Gustav Gröber herausgegebenen Grundriss der romanischen Philologie (1888-1906; Reprint Berlin 1985) eindrucksvoll dokumentiert und kommentiert. Das bei weitem größte Gewicht erhält die französische Literatur, während Lateinamerika nicht einmal erwähnt wird. 'Diese Sonderstellung wurde durch die Gründung des Ibero-Amerikanischen Instituts 1917, des ersten Lateinamerika-Instituts in Deutschland, zusätzlich gestützt.

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1. Lateinamerika in der deutschen Romanistik, 1860-1960 In Deutschland ist die portugiesische Sprache in den gebildeten Kreisen fast so unbekannt wie die persische und das Sanskrit, daher sind es auch die brasilianischen Werke der schönen Literatur, so sehr eine große Zahl von ihnen die weiteste Verbreitung verdiente. Wohl aber ist die Geschichte der brasilianischen Literatur in neuester Zeit durch ein vortreffliches Werk des berühmten Kenners der romanischen Sprachen, Herrn Dr. Ferdinand Wolf, Custos an der k.k. Hofbibliothek in Wien, jedem Gebildeten zugänglich geworden. Möchten doch all jene, die der brasilianischen Nation auch nicht das geringste Gute lassen, dieses Werk [...] lesen (Tschudi 1971, I: 162). Die Sätze stehen in dem umfangreichen Reisebericht, den der Schweizer Naturforscher Johann Jakob von Tschudi in den Jahren 1866-1869 veröffentlichte.3 Sie lassen sich auch auf Hispanoamerika übertragen. Tschudi hatte 1838-1842, 1857-1859 und 1860-1861 den südamerikanischen Kontinent bereist und dabei auch die zeitgenössische Kultur und Literatur genau beobachtet. Er hätte gerne — wie er schreibt — der Literatur einen eigenen Abschnitt gewidmet, wenn er dadurch nicht die selbstgezogenen Grenzen seines Berichts weit hätte überschreiten müssen. So beschränkt er sich darauf, die Namen von Domingos José Gongalves de Magalhäes, Manoel de Araujo Porto Alegre, Antonio Gon?alves Dias und anderer zu nennen und im übrigen auf Wolf zu verweisen (I: 162164). Darüber hinaus bezieht er aber auch das Theaterleben in Rio de Janeiro, das Schulwesen, sowie Buchmarkt und Verlage in seinen Bericht mit ein.4 Weitaus kürzer behandelt Tschudi die hispanoamerikanische Literatur. Unter den argentinischen Autoren hebt er José Marmol hervor, "den sinnigen Dichter der 'Cantos del peregrino* und des 'Divino infierno' [...], zugleich auch Begründer des historischen Romans, in der spanisch-südamerikanischen Literatur berühmt durch seine 'Amalia', der eine Episode aus Rosas' Schreckensherrschaft zum Vorwurfe dient und die nicht nur von historischem, sondern auch von literaturgeschichtlichem Standpunkte aus eine bedeutende Erscheinung ist". Weiterhin nennt er "den Sänger der Pampa Echeverría", Sarmientos Civilización y barbarie und andere mehr. Allerdings bescheinigt er der "argentinischen Dichterschule", daß es ihr "noch so ziemlich an geläutertem Geschmacke und vollendeter Formgebung" fehle (IV: 196). In seinen Eintragungen zu Chile und Peru fehlt die Literatur (V: 128, 148f., 380-383).

3 Auf Tschudi bin ich durch den Aufsatz Dornheims in diesem Band (144) aufmerksam geworden; vgl. a. Tichy 83. Der Reisebericht bezieht sich auf seine beiden letzten Reisen. 4 I: 141-153. Weitere Beobachtungen gelten dem Theater in Diamantina (II: 103f.), der Jagdliteratur (ü: 304), dem Schulwesen in Porto Alegre (IV: 57f.) sowie den universitären Fakultäten (Universitäten im eigentlichen Sinn gab es zu dieser Zeit in Brasilien noch nicht) in Rio de Janeiro (I: 149f.) und Säo Paulo (IE: 325-327).

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Die kurzen Notizen Tschudis lassen eine erstaunlich genaue Kenntnis der Literatur Brasiliens und Argentiniens erkennen. Die von ihm gepriesene brasilianische Literaturgeschichte Ferdinand Wolfs ist das erste Werk eines deutschsprachigen Romanisten zur lateinamerikanischen Literatur. Ferdinand Wolf gilt neben dem primär linguistisch orientierten Friedrich Diez als einer der Begründer der Romanistik. 1859 kam der brasilianische Dichter Domingos José Gongalves de Magalhäes als Botschafter seines Landes nach Wien und brachte dort 1862 einen Gedichtband heraus (Jeschke 1935, 375). 1861 widmete Wolf ihm eine Monographie, der zwei Jahre später eine umfassende Geschichte der brasilianischen Literatur folgte, die auf Drängen des Berliner Verlags in französischer Übersetzung erschien (Wolf 1955, 5). Wolf stellt die brasilianische Literatur in ihren wichtigsten Epochen dar, wobei die Gegenwart (ab 1840) fast die Hälfte des Werks einnimmt. Hinzu kam eine Anthologie mit Werken aus allen Epochen, die dem europäischen Publikum zum ersten Mal eine konkrete Vorstellung von der brasilianischen Literatur vermittelte. Im Schlußwort bescheinigt Wolf der brasilianischen Literatur, den Status einer Nationalliteratur erreicht zu haben, die einen hervorragenden Platz unter den Literaturen der zivilisierten Welt einnehme (355). Seine Literaturgeschichte war in ihrer Zeit in Europa einzigartig und wird noch heute in Brasilien geschätzt, wie die Neuausgabe in portugiesischer Übersetzung beweist. Für die hispanoamerikanische Literatur erschien erst mehr als ein halbes Jahrhundert später ein vergleichbares Werk. Der Sprachwissenschaftler Max Leopold Wagner (1922-1925 ao. Prof. an der Universität Berlin) lernte während eines Aufenthalts in Mexiko und Kuba (1913-14) die hispanoamerikanische Literatur kennen und schätzen (Wagner 1924, III) und publizierte 1924 die Ergebnisse in einem Buch, das die erste deutsche Gesamtdarstellung der hispanoamerikanischen Literatur war und bis 1969 die einzige bleiben sollte. Allein der schmale Umfang des Werks deutet darauf hin, daß es sich eher um eine essayistische Gesamtschau als um eine fundierte Auseinandersetzung handelt. Wagner sieht die Literatur der ersten Jahrhunderte als eine "Fortsetzung und Nachahmung" der europäischen Strömungen, die in Lateinamerika auch dann noch lebendig blieben, als sie in Europa längst der Vergangenheit angehörten. Diese geistige Abhängigkeit von Europa ist nach seiner Meinung selbst noch im modernismo Rubén Daríos spürbar. Erst im americanismo der Jahrhundertwende sieht er den Versuch, eine eigenständige, von Europa unabhängige Kunst zu schaffen. In den weltumspannenden Plänen des Nationalsozialismus hatte auch Lateinamerika seinen — wenn auch bescheidenen — Platz. Im Bewußtsein Nachkriegsdeutschlands ist Lateinamerika vor allem als Fluchtort ehemaliger Nazigrößen präsent; die Problematik hat in den Romanen der Mexikaner Carlos Fuentes (Cambio de piel, 1967), José Emilio Pacheco {Morirás lejos, 1967) und Luis Arturo Ramos {La casa del ahorcado, 1993) sowie des Argentiniers Abel Posse (Los demonios ocultos, 1988) auch in die lateinamerikanische Literatur Eingang gefunden. Weniger bekannt ist, daß in den zwölf Jahren zuvor Latein-

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amerika zahlreichen Verfolgten des Naziregimes Zuflucht bot (vgl. Pohle 1986; Kohut/von zur Mühlen 1993). Die literaturwissenschaftliche Lateinamerikanistik war wie alle anderen Disziplinen der Verführung durch die rassisch-völkische Ideologie ausgesetzt. Bereits 1933 gab der Divisionsgeneral Wilhelm Faupel einen deutlich vom Nationalsozialismus geprägten Band zu den deutsch-lateinamerikanischen Beziehungen heraus, an dem auch Romanisten beteiligt waren. Die wichtigsten Publikationen dieser Jahre beweisen jedoch, daß man selbst in dieser Zeit über Lateinamerika schreiben konnte, ohne sich auf die herrschende Ideologie einzulassen, so daß man Hausmanns auf die Gesamtromanistik bezogenes Fazit mit geringen Einschränkungen auf die Lateinamerikanistik ausdehnen darf, demzufolge "die deutsche Romanistik, gemessen an anderen Disziplinen, in der Nazizeit noch einmal glimpflich davongekommen ist"5. Karl Vossler hielt 1934 in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften einen Vortrag über Sor Juana Inés de la Cruz, was sicher nicht im Sinne der Machthaber gewesen sein dürfte. 1941 (bzw. 1946) ließ er eine zweisprachige Ausgabe des Primero Sueno folgen; 1938 stellte er dem deutschen Publikum die Gaucho-Dichtung Argentiniens in einem Artikel vor ("Heldensang und Nationalgefühl in Argentinien", in 1948, 258-266) und berichtete 1939 begeistert von einem siebenwöchigen Aufenthalt auf Kuba, ohne deshalb die Augen vor der Realität zu verschließen ("Plauderei über Cuba", in 1948, 267-275). Die beiden Artikel von Jeschke in Walzels Handbuch der Literaturwissenschaft sind die erste Gesamtdarstellung der lateinamerikanischen Literatur im Kontext der Romanistik. Der erste Artikel setzt 1840 ein; die Kolonialliteratur hat auch in diesem Handbuch noch keinen Platz. Jeschke bevorzugt die Lyrik und die Epik gegenüber dem Roman, was besonders im zweiten, der Gegenwart gewidmeten Artikel deutlich wird, in dem die Entwicklung der zeitgenössischen Lyrik dargestellt ist. Die Vernachlässigung des Romans in den Artikeln Jeschkes wurde für das deutsche Publikum dadurch kompensiert, daß fast zur gleichen Zeit Petriconi (1938) ein Werk über den lateinamerikanischen Roman publizierte, dem das Verdienst zukommt, dem deutschen Publikum zum ersten Mal den Reichtum der lateinamerikanischen Erzählprosa vorgestellt zu haben. Die Grenzen des Möglichen in dieser Zeit werden an Ludwig Pfandls Buch über Sor Juana Inés de la Cruz sichtbar, bei dem gleich zwei Faktoren zusammenkamen, die es mißliebig machen mußten: die Beschäftigung mit dem Religiösen und die Verwendung der geächteten Psychoanalyse. Das Werk war 1937 beendet, wurde aber erst 1946 postum von Hans Rheinfelder herausgegeben (Pfandl 1946, Vorwort des Hg.: 5f.).

'Hausmann in Christmann u.a. 1989, 47. Im Gegensatz dazu hat Martin Franzbach in mehreren Publikationen die Verstrickungen der deutschen Lateinamerikanistik mit dem Nationalsozialismus betont. S. bes. 1978, 18-27 sowie 1992.

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Auch nach dem zweiten Weltkrieg nahmen die deutschen Romanisten Lateinamerika zunächst nur am Rande wahr. Die wenigen Arbeiten befaßten sich vorzugsweise mit der Lyrik. 1952 promovierte Erika Lorenz mit einer Arbeit über Rubén Dario (veröff. 1956). 1954 publizierte Janheinz Jahn unter dem Titel Schwarzer Orpheus, vermutlich angeregt von der gleichnamigen französischen Anthologie Senghors und Sartres (1948), eine Anthologie afrikanischer Dichtung, in die er auch hispanoamerikanische Dichter aufnahm. Mit einigem zeitlichen Abstand folgte 1966 die Dissertation Horst Rogmanns zum gleichen Thema (veröff. 1967). 1955 stellte Hans Rheinfelder die chilenische Dichterin und Nobelpreisträgerin Gabriela Mistral dem deutschen Publikum vor, wobei er den religiösen Gehalt ihrer Dichtung betont, die er als einen "Dienst für Gott" deutet (154). Ebenfalls Gabriela Mistral sowie Rómulo Gallegos ist eine Studie gewidmet, die Kurt Wais im gleichen Jahr 1955 veröffentlichte. Die uns heute etwas kurios anmutende Kombination begründet Wais damit, daß es sich bei beiden um "klassische Dichter" des Kontinents handle, die in Deutschland unbekannt seien: "Der Ruf ihrer Meisterschaft ist zu den wenigsten Lesern in unseren Breiten anders als dem Hörensagen nach gedrungen" (Wais 1955, 7). Rheinfelder stellt die "wirklich volkstümliche" katholische Dichterin dem "Kommunisten Pablo Neruda" gegenüber, der allerdings auch "internationale Ovationen" (1955,20f.) erhalten habe: "Freilich bringen viele Gedichte Gabrielas, und gerade ihre schönsten und bedeutendsten, die Menschenseele in Unruhe zu Gott und verlangen vom Leser Entscheidungen, die in ein jenseitiges Leben hineinreichen. Wem solche Unruhe nicht geheuer ist, der wird sich lieber an Pablo halten" (21). Die deutsche Lateinamerikanistik hielt sich in den folgenden Jahren mehr an Pablo, während Gabriela in den Hintergrund rückte. Wesentlichen Anteil daran hatte der folgenreiche Essay von Hans Magnus Enzensberger "Der Fall Pablo Neruda" (1955), zu dessen Beginn er den "europäischen Provinzialismus" beklagt, "dessen literarische Topographie sich immer noch auf die maßgeblichen Cafés einiger europäischer Kapitalen beschränkt", während "Südamerika, von Rubén Darío bis zu Jorge Luis Borges, [...] allen Einbürgerungsversuchen zum Trotz, die terra incógnita der modernen Poesie geblieben [ist]" (1976, 92).

2. Lateinamerika in der deutschen Romanistik nach 1960 In den sechziger Jahren begannen die deutschen Romanisten zunächst vereinzelt, dann in immer größerer Zahl, die terra incógnita Lateinamerika zu erschließen. Dies korrespondiert mit der Entwicklung in anderen Fächern, die 1965 zur Gründung der Arbeitsgemeinschaft Deutsche Lateinamerika-Forschung führte. Die Literatur und damit auch die Literaturwissenschaft waren in diesen Jahren vielen fragwürdig geworden. Daraus resultierte eine doppelte Fluchtbewegung: Die erste ging in Richtung Linguistik, die gegenüber einer als schwammig empfundenen Literaturwissenschaft naturwissenschaftliche Festig-

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keit verhieß, die zweite in Richtung Gesellschaftswissenschaften, wobei das Interesse deutlich von der Hoffnung auf revolutionäre Veränderungen geprägt war. In diesem Zusammenhang ist die Entdeckung Lateinamerikas durch die deutsche Romanistik zu sehen: Kuba war für viele ein leuchtendes Modell, und Lateinamerika galt als revolutionärer Kontinent schlechthin. Zu der politischen Motivation kam der Aufstieg der lateinamerikanischen Literatur zu einer Weltliteratur. Gustav Siebenmann (1987, 15) bringt das auf die prägnante Formel, daß das neuerwachte Interesse "die Folge von zwei synchronen Bewegungen [war], eines Schubes und eines Soges. Der Schub kam vom sog. 'Boom' der lateinamerikanischen Literatur, dessen Kunde mehr oder weniger gerüchtweise in unseren Kulturraum gedrungen war. Der Sog andererseits war politisch und ging von Kuba und den anderen Befreiungsbewegungen in Lateinamerika aus." Politisches, Literarisches und fachinterne Momente wirkten in kaum zu unterscheidender Form zusammen. Die Entwicklung an den Universitäten folgte mit einer gewissen Verzögerung dem Buchmarkt, dem sie umgekehrt wieder Impulse verlieh. Die Romane von García Márquez, Fuentes, Vargas Llosa und Cortázar erschlossen den deutschen Lesern eine neue Welt. Eine besondere Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang Mechtild Strausfeld, die 197S mit einer Arbeit über García Márquez promovierte und danach im Suhrkamp-Verlag entscheidenden Anteil daran hatte, daß sich der deutsche Buchmarkt Lateinamerika öffnete. 6 Nicht zu vergessen ist die Leistung der Übersetzer, von denen nur wenige, wie Curt Meyer-Clason oder Fritz Rudolf Fries, die ihnen gebührende öffentliche Anerkennung erfahren haben. Die gewachsene, wenn auch vergleichsweise bescheidene Popularität der lateinamerikanischen Literatur in Deutschland läßt sich auch daran ablesen, daß die Frankfurter Buchmesse mehrfach Lateinamerika bzw. ein lateinamerikanisches Land als Schwerpunktthema wählte, so 1978 "Lateinamerika", 1992

'Zur Aufnahme der sog. ßoom-Romane in Deutschland s. Wiese 1992 und Brown 1994. Dieter Reichardt publizierte bereits 196S eine erste bibliographische Zusammenstellung der Übersetzungen lateinamerikanischer Literatur ins Deutsche, der 1972 das Lexikon lateinamerikanischer Autoren folgte. 1971 veröffentlichte A. Menen Desleal in der in Paris verlegten Zeitschrift Mundo Nuevo eine Studie zur Rezeption der lateinamerikanischen Literatur im deutschen Sprachraum seit dem zweiten Weltkrieg, und 1972 legte Siebenmann eine systematische Untersuchung des Buchmarkts vor, die zum ersten Mal statistische Daten enthielt. Die Untersuchung Siebenmanns wird durch die späteren Arbeiten von Reichardt (1977), Lopez de Abiada (1982), Briesemeister (zur brasilianischen Literatur, in Lopez de Abiada/Heydenreich 1983, I: 165-192), Gewecke (1988) und Meyer-Clason (in Strosetzki u.a. 1991, 88100) fortgeführt bzw. ergänzt. Zu einem Vergleich mit der ehemaligen DDR lädt das Verzeichnis der dort veröffentlichten Romane in Herlinghaus (1989, 319-330) ein. Die lateinamerikanische Literatur ist in der DDR stärker und in anderer Auswahl rezipiert worden als in der BRD, wobei auf beiden Seiten politische Motive eine Rolle gespielt haben.

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"Mexiko" und 1994 "Brasilien". Schließlich ist noch auf das "Festival Horizonte '82" in Berlin hinzuweisen (s. dazu Magazin Horizonte '82). Der bereits erwähnte Hans Magnus Enzensberger und der Publizist Günter Lorenz gaben in diesen Gründeljahren der universitären Lateinamerikanistik entscheidende Anstöße. Letzterer veröffentlichte 1967 eine Anthologie lateinamerikanischer Literatur des 20. Jahrhunderts, 1970 Interviews mit zwölf Autoren, 1971 eine Gesamtdarstellung der zeitgenössischen Literatur, 1976 und 1979 organisierte er im Institut für Auslandsbeziehungen (Stuttgart) zwei Lateinamerika-Kolloquien (veröff. 1977 und 1980). Besondere Bedeutung kommt dem Interview-Band zu, da Lorenz hier Autoren vorstellte, die in den folgenden Jahren den lateinamerikanischen Roman entscheidend prägen sollten: Jorge Amado, Miguel Angel Asturias, Antonio Di Benedetto, Augusto Roa Bastos, Joäo Guimaräes Rosa, Ernesto Sábato, Mario Vargas Llosa. Innerhalb der Romanistik spielten etwa zur gleichen Zeit Pollmann, Siebenmann und Gutiérrez Girardot eine ähnliche Pionierrolle. Pollmann, dessen Interesse bis dahin vor allem dem Mittelalter gegolten hatte, publizierte 1968 sein bahnbrechendes Werk über den neuen Roman in Frankreich und Lateinamerika. Er benutzte den nouveau roman — der damals das intellektuelle Interesse in aller Welt auf sich zog — gleichsam als Brücke zu dem noch kaum bekannten Roman Lateinamerikas und zeigte auf, daß dort ein Roman entstanden war, der es in formaler Meisterschaft und Experimentierfreudigkeit durchaus mit dem französischen Produkt aufnehmen konnte. Einige Jahre lang wurden nueva novela und nouveau roman als analoge Phänomene gesehen, bis sich die Erkenntnis durchsetzte, daß die Unterschiede größer waren als die Gemeinsamkeiten. Die lateinamerikanischen Romanciers wehrten sich bald vehement gegen diesen Vergleich. Heute ist der nouveau roman fast vergessen, während der lateinamerikanische Roman lebendig geblieben ist. Zwei Artikel zu Jorge Luis Borges, beide 1966 erschienen, stehen am Anfang der reichen Publikationstätigkeit des Schweizers Siebenmann (der lange Jahre an der Universität Erlangen lehrte, bevor er in die Schweiz nach St. Gallen zuückkehrte) zur lateinamerikanischen Literatur (s. die Bibliographie in López de Abiada/Heydenreich 1983). 1972 legte er eine Untersuchung der Rezeption der neuen lateinamerikanischen Literatur im deutschen Sprachraum vor. Seine Leistung fand 1983 in der von López de Abiada/Heydenreich herausgegebenen Festschrift öffentliche Anerkennung. Eine Arbeit über Borges (1959) markiert auch den Beginn der wissenschaftlichen Arbeit des Kolumbianers Gutiérrez Girardot, der Mitte der 60er Jahre in der Bundesrepublik zu publizieren begann und 1970 auf den hispanistischen Lehrstuhl an der Universität Bonn berufen wurde. In der DDR waren Adalbert Dessau, Kurt Schnelle und Hans-Otto Dill die Entdecker der ersten Stunde. Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre begannen zahlreiche junge Romanisten, sich für Lateinamerika zu interessieren. An den Universitäten hörten sie darüber nichts, einmal abgesehen von den Ausnahmen Hamburg, Bonn und Erlangen. Die Generation der heute etwa 50jährigen, die die Lateinamerika-

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nistik innerhalb der Romanistik vertritt, hat sich ihr Fach in der Regel autodidaktisch erarbeiten müssen. Das Informationsbedürfnis war groß und sollte schnell befriedigt werden. Bereits 1972 schuf Reichardt mit seinem Literaturlexikon eine solide Grundlage. In den folgenden Jahren erschienen mehrere Reader, die die von Lorenz begonnene Vorstellung der lateinamerikanischen Literatur fortführten. Den Anfang machte 1976 Strausfeld mit den Materialien zur lateinamerikanischen Literatur. Der Titel verrät eine bis heute zu beobachtende Unschärfe, insofern als der Band nur hispanoamerikanische Autoren enthält. Auch in Fachkreisen wird bis heute häufig "Lateinamerika" synonym mit "Hispanoamerika" gebraucht; erst in neuester Zeit setzt sich eine genauere Differenzierung durch — auch dies ist ein Zeichen für den Fortschritt der Wissenschaft. Der folgende Reader Strausfelds (1984) ist im Titel genauer und stellt die brasilianische Literatur vor. Beide Bände enthalten fast ausschließlich Beiträge ausländischer, vor allem lateinamerikanischer Wissenschaftler. Im Gegensatz dazu kann der 1978 von Wolfgang Eitel herausgegebene Band Lateinamerikanische Literatur der Gegenwart als Selbstdarstellung der jungen deutschen Lateinamerikanistik bezeichnet werden. Angesichts der oben geschilderten Ausbildungssituation im Fach wird es nicht verwundern, daß die Qualität der einzelnen Beiträge sehr unterschiedlich ist. Der 1980 von Meyer-Clason edierte Band ist eine Anthologie lateinamerikanischer Autoren unter politischen Vorzeichen, zu der der Herausgeber nur ein kurzes Vorwort beigesteuert hat. Diesen Sammelbänden ist das von Wolf-Dieter Lange seit 1984 herausgegebene Kritische Lexikon der romanischen Gegenwartsliteraturen vergleichbar und zugleich überlegen, da die Lieferung in Faszikeln und im Loseblattsystem eine fortlaufende Aktualisierung der jeweils einem Autor gewidmeten Artikel erlaubt. Bis jetzt ist Lateinamerika allerdings nur durch wenige Artikel vertreten (Allende, Arguedas, Borges, Neruda, Säbato, Vargas Llosa). Dem Roman schließlich gelten die beiden neuesten Sammelbände: für die DDR Herlinghaus 1989, für die BRD 1992 Wentzlaff-Eggebert/Roloff. In den 70er Jahren nahm die Forschungstätigkeit immer stärker zu. Der Glanz des sog. Boom faszinierte zahlreiche junge Wissenschaftler, und bis heute ist der Roman aus dieser Zeit der wichtigste Forschungsschwerpunkt geblieben. Der oben angesprochene revolutionäre Sog machte sich in politisch motivierten Studien bemerkbar. Häufig überlagerten sich die beiden Forschungsrichtungen. Etwas boshaft kommentiert Siebenmann (1987, 19) die Ideologisierung "eine[r] ganzen[n] Reihe von überstürzt entstandenen Dissertationen [...], deren Verfasser sie heute wahrscheinlich am liebsten einstampfen würden". Besonders stark macht sich dies in den Arbeiten über Kuba bemerkbar. In der DDR führte die Politisierung zu einer Konzentrierung auf eine Literatur, die sich als progressiv, revolutionär und antiimperialistisch interpretieren ließ.

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3. Ein systematischer Abriß der nach 1960 publizierten Arbeiten Gesamtdarstellungen Die 1969 veröffentlichte Geschichte und Probleme der lateinamerikanischen Literatur Rudolf Grossmanns stellt die Summe seiner mehr als 40jährigen Arbeit dar. Er nimmt die Debatte um Euro- und Amerozentrismus vorweg und fordert dezidiert, die lateinamerikanische Literatur aus der Perspektive Amerikas zu betrachten und damit aufzuhören, sie als eine Fortsetzung europäischer Traditionen zu sehen (31 f.). Grossmann löst dies insofern ein, als er in einem weitausholenden Einleitungsteil die besonderen Bedingungen Amerikas diskutiert und dabei auch auf die präkolumbinischen Literaturen eingeht. Die Darstellung der literarischen Entwicklung selbst ist allerdings methodisch fragwürdig. Er behandelt die lateinamerikanische Literatur (unter Einschluß Brasiliens) als eine Einheit, die er nach Epochen unterteilt. Innerhalb der Epochen untergliedert er die riesige Materie nach disparaten Kriterien: Gattungen, Themen, Tendenzen, wodurch ein verwirrend fragmentiertes Bild entsteht. Vor allem aber wird dadurch die Entwicklung der einzelnen nationalen literarischen Szenen nicht sichtbar, die man bei aller Betonung des gesamt-lateinamerikanischen Zusammenhangs nicht vernachlässigen darf. Die Literaturgeschichte Grossmanns wurde nach dem Erscheinen kontrovers diskutiert; sie stellt zweifelsohne eine große Leistung dar, die aber durch die gerade zu dieser Zeit einsetzende Forschung rasch überholt worden ist. Es dauerte mehr als zwei Jahrzehnte, bis sich wieder ein Romanist an eine Gesamtdarstellung wagte. In der Zwischenzeit waren Interessierte auf spanischoder englischsprachige Werke angewiesen. 1992 legte Dieter Reichardt das Autorenlexikon Lateinamerika vor, das anders als die früheren Ausgaben des Werks nicht nur die deutschen Übersetzungen aufnimmt, sondern die gesamte Literatur Lateinamerikas erfaßt, dabei aber auch die deutschen Übersetzungen vermerkt und so zu einer unentbehrlichen Arbeitsgrundlage wurde. 1992 publizierte Dieter Janik (als Vorstufe zu einer geplanten Literaturgeschichte) eine Sammlung seiner Aufsätze, die zwar "keine durchgängige Literatur- und Kulturgeschichte [bietet...], jedoch in geschichtlicher Abfolge markante Stationen und Positionen auf dem Weg Spanischamerikas zu einer selbstbewußten Literatur und Kultur" präsentiert (7). Nach Abschluß dieses Aufsatzes, aber noch 1995, kommt die von Michael Rössner herausgegebene Literaturgeschichte Hispanoamerikas heraus. Epochen I: Kolonialzeit und 19. Jahrhundert Bis in die 80er Jahre blieb die Literatur der Kolonialzeit eine Domäne der Historiker, die als erste erkannten, daß eine literaturwissenschaftliche Interpretation für ihre Wissenschaft wichtige, aber mit ihren Mitteln nicht erschließbare Erkenntnisse bringen konnte. Die beiden bisher erschienenen Bände des Handbuchs der Geschichte Lateinamerikas bilden auch für den Literaturwissen-

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schaftler eine unentbehrliche Arbeitsgrundlage. Zuerst in den USA, dann auch in Deutschland wurde die Kolonialzeit auch in der Literaturwissenschaft entdeckt (s. dazu Kohut in Kohut u.a. 1991, 32-36). Den Auftakt bildete Frauke Gewecke, die sich 1982 in Köln mit der Arbeit Amerika und die Amerikaner in Frankreich (1493-1660). Zur Genese und Rezeption literarischer Stereotypen habilitierte. Die Studie wurde 1986 unter dem griffigeren, aber weniger genauen Titel Wie die neue Welt in die alte kam publiziert. 1986 beendete die Kommission für Humanismusforschung der DFG ihre Arbeit mit einem Blick auf Amerika (Reinhard 1987). Zwei Anthologien zeitgenössischer Texte erschließen dem deutschen Leser den historischen Hintergrund: Janik/Lustig (1989) betonen stärker die Eroberungsgeschichte, Strosetzki (1991) den Untergang der indianischen Kulturen. Das Jubiläumsjahr 1992 hat eine ganze Reihe von Initiativen ausgelöst. An der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel bildete sich 1986 ein interdisziplinärer Kreis, der eine Reihe von bereits bestehenden Projekten bündelte bzw. neue initiierte. Pünktlich zum Kolumbus-Jahr publizierte Titus Heydenreich (der dem Wolfenbütteler Kreis angehört) die Ergebnisse seines langfristigen Forschungsprojekts über das Nachleben Kolumbus' in der Literatur (1992a, b, c). Bereits 1988 hatte die ADLAF ihre Jahrestagung der Problematik der conquista gewidmet (Kohut u.a. 1991; spanische Version 1992). Strosetzki hat einige seiner Aufsätze im Hinblick auf 1992 zusammengefaßt (1989). Schließlich muß auf einige Publikationen hingewiesen werden, die außerhalb der Romanistik entstanden sind. Bereits 1973 veröffentlichten Helga von Kügelgen-Kropfinger und Efrain Castro Morales im Rahmen des sog. Mexiko-Projekts der Deutschen Forschungsgemeinschaft die Studie Europäische Bücher in Neuspanien zu Ende des 16. Jahrhunderts. Hans Galinsky publizierte 1991 den ersten Teilband einer großangelegten Geschichte der Nordamerikanischen Literatur, in dem er die spanischen Anfange aufarbeitet; Urs Bitterli (1992) bietet eine breit angelegte Darstellung der Kulturkontakte zwischen Deutschland und Lateinamerika. In zwei von König/Siebenmann (1992) sowie Kohut (1995) herausgegebenen Sammelbänden schließlich wird das Bild Lateinamerikas in Deutschland behandelt. Unter den Autoren der Kolonialzeit hat bisher allein Sor Juana Inés de la Cruz ein größeres Interesse gefunden (Merkl 1986; Janner 1988), wenn vermutlich auch nur deshalb, weil ihr Werk als Ausläufer des spanischen siglo de oro gesehen wird, das traditionell eine der Domänen der deutschen Hispanistik darstellt. Den Predigten des portugiesischen Jesuiten Antonio de Vieira galt ein langfristiges Forschungsprojekt Hans Flasches, aus dem 1972 (veröff. 1973) die Habilitationsschrift von Heinz Willi Wittschier sowie mehrere Dissertationen hervorgegangen sind, die den Autor aber durchweg in den europäisch-kirchlichen und nicht in den brasilianischen Kontext stellen. Die übrige Literatur der Kolonialzeit ist bis jetzt noch kaum bearbeitet. An der Schwelle zwischen Kolonialzeit und der Entstehung der lateinamerikanischen Staaten liegt das Werk Alexander von Humboldts, das traditionell im

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Kontext von Geographie, Biologie und Ethnologie gesehen wird. Ottmar Ette hat in der Neuausgabe der Reise in die Àquinoktial-Gegenden (1991b) eine literarische Interpretation des Werks versucht. Damit liegt er in einem Trend, in dem Reiseberichte zu einem bevorzugten Thema der internationalen Lateinamerikanistik geworden sind. Die wenigen Arbeiten zum 19. Jahrhundert konzentrieren sich weitgehend auf den Roman. Die bis jetzt einzige Gesamtdarstellung bietet der erste Band der 1982-1984 von Pollmann vorgelegten Geschichte des lateinamerikanischen Romans. Der Roman vom Ende des Jahrhunderts ist Gegenstand der Habilitationsschrift von Klaus Meyer-Minnemann (1976, veröff. 1979). Einige wenige Einzeluntersuchungen gelten Werken, die die Romantradition in den verschiedenen Ländern begründet haben. Kennzeichnend für diese Tendenz ist der neue Sammelband zum lateinamerikanischen Roman von Wentzlaff-Eggebert/Roloff, der im Unterschied zu früheren Readern auch Werke des 19. Jahrhunderts aufnimmt. Nur wenig ist über den Roman hinaus gearbeitet worden, mit einer gewissen Ausnahme Argentiniens, dessen politisch-literarische Szene vor allem dank Sarmiento zum Gegenstand der Forschung geworden ist. Die Entstehung der literarischen Szene dieses Landes hat Janik in einem Werk von 1995 behandelt. Auch für den Literaturwissenschaftler interessant ist die im gleichen Jahr publizierte Studie des Historikers Michael Riekenberg zum Problem der Nationbildung. Die Literatur vom Ende des 19. Jahrhunderts ist in einigen zentralen Gestalten bzw. Phänomenen präsent. Der modernistische Roman wurde in der oben genannten Habilitationsschrift von Meyer-Minnemann erstmals Gegenstand einer breit angelegten Untersuchung. Ottmar Ette hat 1994 ein zentrales Werk des modernismo, den 1900 erschienenen Essay Ariel des Uruguayers José Enrique Rodò, übersetzt und kommentiert. Vor allem politischen Gründen hat der zum kubanischen Nationalhelden aufgestiegene José Marti die Aufmerksamkeit der deutschen Wissenschaft zu danken, was die Zahl der in der DDR entstandenen Ausgaben bzw. Arbeiten erklärt (Dill 1974b; Schnelle 1981; Gross/Kumpf 1985). Eine umfassende Geschichte und Analyse der Rezeption Maitis bietet die Dissertation von Ette (1991a). Die geringe Forschungsdichte zur hispanoamerikanischen Literatur dieser Jahrhunderte wird noch wesentlich dünner, wenn es um Brasilien geht. Die Habilitationsschrift von Dieter Woll über den zentralen brasilianischen Dichter der Jahrhundertwende, Machado de Assis, (1970, veröff. 1972) sowie die Dissertation von Erhard Engler über Euclides da Cunha (1975) sind isolierte Phänome geblieben. Epochen II: Das 20. Jahrhundert Die Literatur des 20. Jahrhunderts bildet im deutschsprachigen Raum den bei weitem wichtigsten Bereich der lateinamerikanischen Forschung, wobei deutliche Schwerpunkte erkennbar sind. 1994 hat Christoph Stosetzki eine erste

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Gesamtdarstellung der Literatur des 20. Jahrhunderts gewagt. Für die Literatur der ersten Jahrhunderthälfte gilt mit gewissen Abstrichen das, was über die Forschung zum 19. Jahrhundert gesagt wurde. Die Entwicklung des Romans ist in dem zweibändigen Werk von Pollmann (1982/1984) dargestellt worden. Parallel dazu erschien 1984 eine Darstellung des brasilianischen Romans im 20. Jahrhundert von Heinz Willi Wittschier mit 16 Einzelanalysen. Neben diesen Gesamtdarstellungen ist vor allem die Habilitationsschrift Dessaus zum mexikanischen Roman zu nennen (1963, veröff. 1967), der auch deshalb besondere Bedeutung zukommt, als es sich um die erste deutsche lateinamerikanistische Habilitation handelt. Ebenfalls Mexiko war Gegenstand des von Karl Hölz organisierten Trierer Kolloquiums (1987, veröff. 1988). Insgesamt bleibt die Forschung zur ersten Hälfte des Jahrhunderts jedoch weitgehend punktuell. Erst die Literatur ab etwa der Mitte des Jahrhunderts zieht das Forschungsinteresse in größerem Maße auf sich, das sich aber auch hier wieder ungleichmäßig auf die verschiedenen Gattungen und bestimmte Themenstellungen verteilt. Im Mittelpunkt der Forschung standen und stehen die Romane der Jahre zwischen 1950 und 1975, von Miguel Angel Asturias bis Augusto Roa Bastos, die den sog. Boom der lateinamerikanischen Literatur bilden, auch wenn sich international inzwischen ein Konsens herausgebildet hat, zum Boom nur Gabriel García Márquez, Julio Cortázar, Mario Vargas Llosa und Carlos Fuentes zu zählen, womit zahlreichen anderen Autoren jedoch Unrecht getan wird. Da zum Boom nur Romanciers gerechnet werden, wird die diesbezügliche Forschung weiter unten im Abschnitt "Gattungen" behandelt. Die auf den sog. Boom folgende Literatur wurde bisher nur ansatzweise behandelt. Die Fülle der jungen Autoren erschwert die Orientierung, und ein Konsens über die wichtigen Autoren dieser Generation (von ganz wenigen Ausnahmen einmal abgesehen) ist noch nicht in Sicht. Ein langfristig angelegtes Forschungsprojekt in Eichstätt zielt darauf ab, die junge Literatur in einer Reihe von Symposien vorzustellen, die jeweils auf eine Nationalliteratur ausgerichtet sind. Bis jetzt fanden Symposien zu Argentinien (1987 und 1993), Mexiko (1989 und 1992), Kolumbien (1991) und Peru (1994) statt, deren Ergebnisse vom Veranstalter publiziert wurden.7 Zum argentinischen Roman der 80er Jahre hat Roland Spiller 1991 einen Sammelband publiziert, 1994 folgte seine Dissertation. Vereinzelt sind auch schon monographische Arbeiten zu Autoren dieser Generation erschienen: dem Kolumbianer Gustavo Alvarez Gardeazábal (Paschen 1991), dem Argentinier Mempo Giardinelli (Kohut 1990) und dem Kubaner Reinaldo Arenas (Ette 1992). Die in den letzten Jahren sehr intensiv geführten Diskussionen um die Kulturtheorie und die Postmoderne werden von Hermann Herlinghaus (1994), Birgit Scharlau (1994) und Carlos Rincón (1995) aufgegriffen.

'Siehe in der Bibliographie die Bände von Kohut und Kohut/Pagni. Die Akten des PeruSymposiums sollen 1996 folgen.

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Die literarischen Gattungen Im Vordergrund stehen Arbeiten über den Roman des sog. Boom, im Westen bevorzugt unter der Perspektive des magischen, im Osten des sozialistischen Realismus, wie die Promotionen und Habilitationen der 70er Jahre belegen. Der zentralen Rolle von Borges für die moderne lateinamerikanische Erzählprosa gilt eine ganze Reihe von Studien, wie etwa die Sondernummer der Iberoromania (Siebenmann 1975). 1974 habilitierten sich Janik und Rogmann mit den Arbeiten Magische Wirklichkeitsauffassung im hispanoamerikanischen Roman des 20. Jahrhunderts (veröff. 1976) bzw. Narrative Strukturen und "magischer Realismus" in den Romanen von Miguel Angel Asturias (veröff. 1978). Dem Werk von García Márquez galt die o.g. Dissertation von Strausfeld, dem Alejo Carpentiers die von Claudius Armbruster (1981, veröff. 1982). 1993 hat HansOtto Dill zwei Monographien zu den beiden Autoren publiziert. Obwohl der magische Realismus inzwischen viel von seinem Zauber verloren hat, inspiriert er immer noch eine — wenn auch kleiner werdende — Zahl von Arbeiten, so zuletzt die Habilitationsschriften des Wieners Michael Rössner (1986, veröff. 1988) und von Vittoria Borsò (1990). Beiden Autoren gelingt es, dem scheinbar ausgelaugten Thema neue Aspekte abzugewinnen: Rössner durch einen komparatistischen Ansatz, der die lateinamerikanischen Werke der europäischen Literatur gegenüberstellt, und Borsò durch die Ausweitung auf in diesem Zusammenhang nur selten genannte, aber dessen ungeachtet wichtige Autoren wie José Revueltas und Elena Garro. Zu den zentralen Gestalten des sog. Boom war und ist die Forschungstätigkeit unterschiedlich dicht. Ihre Aufnahme in Deutschland hat Claudia Wiese (1992) verfolgt. Roa Bastos war 1982 Gegenstand eines deutsch-französischen Kolloquiums (Schräder 1984). Ebenfalls in deutsch-französischer Zusammenarbeit entstand das Projekt eines Doppelkongresses über Cortázar, dessen erster Teil 1985 in Poitiers, der zweite 1986 in Mannheim stattfand.8 1987 habilitierte sich Walter Bruno Berg mit einer Arbeit über den gleichen Autor (veröff. 1991), über dessen späte Erzählungen Peter Fröhlicher 1995 ein Buch vorlegte. Zu Fuentes liegen mehrere Dissertationen vor, zu Vargas Llosa hat Scheerer (1991) eine Einführung veröffentlicht. Die Lyrik, die anfangs in den gegensätzlichen Gestalten Gabriela Mistrals und Pablo Nerudas das Interesse auf sich gezogen hatte, wurde in den folgenden Jahren vom Roman des sog. Boom in den Hintergrund gedrängt. Neruda blieb zwar der vergleichsweise am meisten bearbeitete Autor, aber zwei Dissertationen seit 1945 deuten nicht eben auf ein überragendes Interesse (Siefer 1968, veröff. 1970; Ch. Schnelle 1975). Ein bezeichnendes Indiz ist der 1981 von Garscha u.a. herausgegebene Sammelband, in dem Garscha zugleich der einzige deutschsprachige Mitarbeiter ist. Ein weiteres (und entscheidendes) Indiz ist der Umstand, daß nur bei einigen wenigen Lateinamerikanisten die

'Siehe Berg/Kloepfer 1985/86; zum Kongreß in Poitiers ebda., vii.

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Lyrik einen Schwerpunkt der Publikationstätigkeit bildet. Hier sind vor allem Gisela Beutler und Siebenmann zu nennen. Erstere hat seit ihrer Habilitationsschrift über den spanischen romancero in Kolumbien (1969) kontinuierlich auf diesem Gebiet gearbeitet; 1979 organisierte sie zusammen mit Losada ein Kolloquium über César Vallejo (Beutler/Losada 1981) und publizierte 1990 eine eine Sammlung von Aufzätzen zur zeitgenössischen Lyrik. Siebenmann hatte sich mit einer Arbeit über die moderne Lyrik in Spanien habilitiert (veröff. 1965) und danach seine Forschungen auch auf Lateinamerika ausgeweitet. 1991 hat er ein Sonderheft der Iberoromania über die Neue Lyrik in der hispanischen und luso-brasilianischen Welt herausgegeben, dem er 1993 ein Buch über hundert Jahre lateinamerikanischer Lyrik folgen ließ. Der mexikanischen Avantgarde im Kontext der Revolution gilt die Anthologie, die Meyer-Minnemann 1987 herausgegeben hat. Zu Roberto Juarroz und der argentinischen Lyrik hat Pollmann (1987) einen Band publiziert, der ebenfalls eine knappe Anthologie enthält. Die frühe Lyrik des Peruaners Emilio Adolfo Westphalen hat José Morales Saravia 1995 in einer kommentierten Ausgabe herausgegeben. In diesem Kontext muß das von Harald Wentzlaff-Eggebert 1989 in Berlin organisierte Kolloquium "Europäische Avantgarde im lateinamerikanischen Kontext" gestellt werden, auch wenn die Lyrik nicht der alleinige Gegenstand des Bandes ist (1991a; siehe dazu auch die Bibliographie 1991b). Die auffällige Häufung der Arbeiten zur Lyrik in den letzten Jahren deutet auf eine Schwerpunktverlagerung des Forschungsinteresses hin, die die alleinige Vorherrschaft des Romans beenden könnte. Das Theater ist bis jetzt die am stärksten vernachlässigte literarische Gattung. Wie bei der Lyrik sind es auch hier nur wenige, bei denen das Theater einen Forschungsschwerpunkt bildet. 1981 promovierte Henry Thorau mit einer Arbeit über Augusto Boals Theater der Unterdrückten in Theorie und Praxis (veröff. 1982), 1991 folgte seine Habilitation mit dem Thema "Politisches Theater in Brasilien von 1950 bis 1980"9. Ausgehend vom spanischen Theater hat Klaus Pörtl seine Arbeit auf das lateinamerikanische Theater ausgeweitet. Ende der 80er Jahre begann Alfonso de Toro das Theater in den Mittelpunkt seiner Arbeit zu stellen. 1989 organisierte er zusammen mit Karl Alfred Blüher ein Kolloquium über "Semiòtica teatral y teatro latinoamericano", bei dem die deutsche Beteiligung allerdings minimal war. Ein entscheidender Anstoß kam von außerhalb der Universität. Hedda Kage hatte in Stuttgart die "Theater- und Mediengesellschaft Lateinamerika" gegründet, deren erklärtes Ziel es ist, lateinamerikanische Theaterautoren an deutsche Bühnen zu vermitteln. Ihrer Initiative ist es zu verdanken, daß 1991 in Berlin ein internationales Symposium zum Thema "Das moderne Theater Lateinamerikas im Blick der deutschen Forschung" stattfand, an dem im Unterschied zu Kiel deutsche Wissenschaftler in

'Die Arbeit soll 1996 im Reimer-Verlag, Berlin, erscheinen.

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weit höherem Maße beteiligt waren, und dessen Ergebnisse von Floeck/Kohut 1993 publiziert wurden. Rechtzeitig zum Symposium war das von Heidrun Adler herausgegebene Handbuch Theater in Lateinamerika erschienen (1991). Mit dem Kollektiven Theater Kolumbiens behandelt Kati Röttger (1992) ein zentrales Phänomen des lateinamerikanischen Theaters der letzten Jahrzehnte. Auf Hedda Kage geht auch ein groß angelegtes Publikationsprojekt zurück, das von dem Verlag diä betreut wird. Das Theater der wichtigsten lateinamerikanischen Länder soll in Anthologien dem deutschsprachigen Theaterpublikum vorgestellt werden; zu jedem Band erscheint ein wissenschaftlicher Begleitband, in dem die dem deutschsprachigen Publikum praktisch unbekannte Theaterszene Lateinamerikas dargestellt wird.10 Interdisziplinäre Ansätze Der sozialwissenschaftliche Ansatz hat eine große Zahl von Arbeiten bestimmt, die man ganz allgemein dem Problemkreis von Literatur und Gesellschaft zuordnen kann. Das ehrgeizigste Projekt dieser Art ist die von Alejandro Losada konzipierte Sozialgeschichte der lateinamerikanischen Literatur11, die nach seinem Tod (1985) von einigen seiner Schüler weitergeführt wird (Morales Saravia 1986, 1989; Phaf 1986). Für die von Siebenmann (1987, 15) behauptete methodische Umorientierung der Literaturwissenschaft hin zu den Sozialwissenschaften ist Zorniges Lateinamerika von Ronald Daus (1973) ein außerordentlich zeittypischer Beleg. Der Autor dieses Werkes, dessen Titel ganz offensichtlich von dem in jenen Jahren viel diskutierten Werk von Eduardo Galeano inspiriert ist, geht von sozialwissenschaftlichen Begriffen aus (Hacienda, Industrie, Revolution, Bürgerkrieg, Imperialismus) und illustriert diese mit literarischen Interpretationen, die durch zahlreiche Zitate konkretisiert werden. Die Literatur wird zu einem Instrument der Sozialwissenschaft. Siebenmann selbst ist gelegentlich diesem Trend gefolgt, wie das von ihm organisierte Symposium über die Hacienda (1979) erkennen läßt. In diesem interdisziplinären Kontext ist auch auf den von Felix Becker 1985 herausgegebenen Sammelband hinzuweisen, der die deutsche sozial- und literaturwissenschaftliche Lateinamerikanistik dem lateinamerikanischen Publikum vorstellt. Auch für den Literaturwissenschaftler nützlich ist das von dem Journalistik-Professor Jürgen Wilke initiierte Projekt einer auf drei Bände angelegten Darstellung der Massenmedien in Lateinamerika, von dem bisher zwei Bände vorliegen (1992 u. 1994).

10 Bis jetzt erschienen sind die Anthologien zu Argentinien (Kage/Tahan 1993), Mexiko (Adler 1994) und Brasilien (Thorau 1995). "Siehe die theoretische Grundlegung 1980 sowie die Bibliographie in Morales Saravia 1986, 9-12.

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Die Politik war in den zahlreichen Arbeiten über den Diktatorialroman der 70er Jahre allgegenwärtig. Die Diktaturen trieben viele Autoren ins Exil, wodurch vor allem Paris zeitweise zu einem Zentrum der lateinamerikanischen Literatur wurde. Die Wirkungen des Exils sind Gegenstand der Interviews, die Kohut (1983) mit Cortázar, Roa Bastos und Severo Sarduy geführt hat. Die Phase der Redemokratisierung wird in den Kongreßakten zu Argentinien (Kohut/Pagni 1989) und Brasilien (Kohut 1991a) sowie in den Dissertationen von Roland Spiller (Argentinien) und Ellen Spielmann (Brasilien) thematisiert. Zentrale Bedeutung für die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen der argentinischen Militärdiktatur hat der Bericht der vom Präsidenten Alfonsin eingesetzten Kommission, die 1987 in deutscher Übersetzung unter dem Titel Nie wieder! erschienen ist. Das Nachwort von Thomas M. Scheerer erschließt die Hintergründe dieser düsteren Epoche, über die das deutsche Publikum durch die Presse nur unzureichend informiert war. Die Gewalt als literarischer Gegenstand war Thema der Dissertationen von Erna Pfeiffer zu Kolumbien (1981, veröff. 1984). Vollends in den Mittelpunkt rückte die Politik in den Arbeiten, in denen es um das Verhältnis von Literatur und Revolution ging. Die Problematik ist in den 60er und 70er Jahren von den lateinamerikanischen Autoren und Intellektuellen heftig diskutiert worden. Die Auswirkungen auf das Theater haben Heidrun Adler und Henry Thorau (beide 1982) dargestellt. Natürlich spielt Kuba in diesem Kontext die entscheidende Rolle. An dem Castro-Regime schieden und scheiden sich auch in Deutschland die Geister, und das nicht erst seit dem berühmt-berüchtigten Fall Padilla. Ganz ohne Zweifel ist in Deutschland (West und Ost) Franzbach der beste Kenner der kubanischen Literatur und Kultur (1984, 1988). Welche Leiden der kubanische Sozialismus für gesellschaftliche Außenseiter bedeuten konnte und kann, hat Ette am Fall von Arenas (1992) überzeugend nachgewiesen. Neben den sozialwissenschaftlich orientierten Arbeiten bilden Forschungen im Grenzgebiet zur Ethnologie einen zweiten Schwerpunkt. Zu nennen sind hier vor allem die Arbeiten von Gisela Beutler, Birgit Scharlau und Martin Lienhard. Beutler hat im sog. Mexiko-Projekt der DFG zwei Arbeiten zur Volkskultur Mexikos vorgelegt (1979, 1984). In diesen Zusammenhang ist auch die umfangreiche Märchen-Forschung Felix Karlingers (1986) zu stellen. Scharlau publizierte zusammen mit dem Ethnologen Mark Münzel 1986 ein grundlegendes Werk über die mündliche Kultur und Schrifttradition bei den Indianern Lateinamerikas. Der Schweizer Lienhard hat 1989 seine Forschungen zur oralen Tradition der Indianer in den Anden in dem Werk La voz y su huella zusammengefaßt, das 1990 den Premio Casa de las Américas erhielt. An der Universität Freiburg ist ein Sonderforschungsbereich der DFG zum Thema "Übergänge und Spannungsfelder zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit" eingerichtet worden, bei dem neuerdings auch die Lateinamerikanistik durch Walter Bruno Berg vertreten ist. Die Dissertation von Brigitte Simon de Souza (1987) muß allein schon deshalb genannt werden, weil sie Indianertraditionen

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in Bolivien bearbeitet hat und Bolivien vermutlich das Land des Subkontinents ist, dessen Kultur und Literatur unter allen Ländern am seltensten in das Blickfeld der deutschen Forschung kommt. Für Brasilien schließlich ist auf die Dissertation von Daus über den epischen Zyklus der Cangaceiros in der Volkspoesie Nordostbrasiliens (1967) hinzuweisen. In den letzten Jahren hat auch die Forschung über Frauenliteratur vor allem dank der Arbeiten Erna Pfeiffers (bes. 1991) Eingang in die Lateinamerikanistik gefunden. Regionen und Länder Bildet die Literatur Lateinamerikas eine Einheit, oder haben wir es mit einer Summe von Nationalliteraturen zu tun? Die Frage ist in der internationalen Forschung umstritten (Kohut 1991b, 9-12). Verständlicherweise ist die Literaturkritik in Lateinamerika primär auf das jeweilige eigene Land ausgerichtet. Auch in der internationalen Forschung außerhalb des Subkontinents ist die Spezialisierung auf einzelne Länder bzw. Regionen weit fortgeschritten. Die deutsche Forschung neigte bisher dazu, die lateinamerikanische Literatur als eine Einheit zu betrachten. Ein extremes Beispiel ist die Literaturgeschichte von Grossmann, der sogar Hispanoamerika und Brasilien als eine Einheit behandelt hat. Inzwischen ist die Tendenz erkennbar, zumindest Hispanoamerika und Brasilien zu trennen. Aber auch für Hispanoamerika werden neuerdings die Arbeiten häufiger, die einen Autor oder ein Phänomen im nationalen Kontext betrachten. Bei den in Erlangen publizierten Lateinamerika-Studien sind mehrere Bände auf ein Land bzw. eine Region ausgerichtet. Zu den Buchmessen 1992 und 1994 mit den Schwerpunkten Mexiko und Brasilien publizierte Dietrich Briesemeister in Zusammenarbeit mit zahlreichen Wissenschaftlern zwei Begleitbände, in denen Kultur und Literatur breiter Raum gegeben wird (Briesemeister 1992; 1994). Es liegt nahe, daß die beiden größten und wichtigsten hispanoamerikanischen Literaturen am häufigsten im nationalen Kontext behandelt werden, weshalb sie hier stellvertretend herausgegriffen werden sollen. Für Argentinien sind u.a. Pollmann, Berg und Janik zu nennen. Pollmann hat sich in den letzten Jahren weitgehend auf die Region des Cono Sur spezialisiert und 1990 in Regensburg den 3. Kongreß des in Paris beheimateten "Centro de Estudios de Literaturas y de Civilicaciones del Río de la Plata" (CELCIRP) zum Thema "Discurso historiográfico y discurso ficcional en las literaturas del Río de la Plata" organisiert. Für Mexiko sind es neben der bereits genannten Beutler u.a. Borsö, Hölz und Meyer-Minnemann. Den beiden Arbeiten von Beutler (1979, 1984) kommt insofern besondere Bedeutung zu, als sie der einzige literaturwissenschaftliche Beitrag zum sog. Mexiko-Projekt der DFG waren (zur konzeptuellen Planung des Projekts siehe Tichy 1968). Die Literatur der Chícanos ist bisher weitgehend die Domäne der (nord-)amerikanistischen Forschung geblieben (Binder 1979; Herms 1990).

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Die Forschungen zur brasilianischen Literatur des 20. Jahrhunderts sind zwar etwas dichter als für die davor liegenden Epochen (s.o.), bleiben aber immer noch punktuell. Allerdings ist in letzter Zeit ein steigendes Interesse zu erkennen, das eine größere Repräsentanz dieser Literatur bei uns erhoffen läßt. Die meisten hierher gehörenden Werke sind bereits in anderem Zusammenhang erwähnt worden, so daß ich mich hier auf wenige Zusätze beschränken kann12. Dem oftmals als "Gründerwerk" der brasilianischen Literatur unseres Jahrhunderts bezeichneten Os Sertöes (1902) von Euclides da Cunha galt die Dissertation von Erhard Engler von 1975; erst vor kurzem (1994) ist es von Berthold Zilly ins Deutsche übertragen und kommentiert worden. Besondere Beachtung hat die Reaktion der Literatur auf die Militärdiktatur gefunden, die Thorau in seiner Habilitationsschrift von 1991 für das Theater und Ellen Spielmann 1994 in ihrer Dissertation für den Roman untersucht haben. Der Rolle der Intellektuellen bei der Redemokratisierung gilt der bereits erwähnte Tagungsband (1991a) des Verfassers. Einen Sonderfall stellt schließlich die Karibik dar, deren Literatur und Kultur das Forschungsinteresse eines kleinen, aber engagierten Kreises von Romanisten und (Nord-)Amerikanisten auf sich gezogen hat (Fleischmann/Phaf 1987; Gewecke 1988), in dessen Kontext auch die Arbeiten zu Kuba gestellt werden müssen.

4. Bilanz und Ausblick Bildeten romanistische Arbeiten zur lateinamerikanischen Kultur und Literatur bis in die sechziger Jahre unseres Jahrhunderts eine seltene Ausnahme, so ist das Fach seither zu einer wichtigen Vermitderin der lateinamerikanischen Kultur und Literatur geworden. Allerdings ist das Bild noch immer nicht ungetrübt, was teils an fachinternen, teils an fachexternen Faktoren liegt. Hinzu kommt die Konkurrenz des Spanischen mit dem Portugiesischem, in der sich das Spanische weitgehend durchgesetzt hat. Die universitäre Lehre wendet sich an Studierende, die in ihren späteren Berufen als Multiplikatoren wirken: Lehrer, Journalisten und Angehörige einiger anderer Berufe. Komplizierter wird es, wenn es um die Wirkung außerhalb der Hörsäle geht. Hier wirken vor allem die Publikationen, die man grob in Forschungsliteratur und an ein weiteres Laienpublikum gerichtete Werke unterteilen kann, wobei die Grenzen zwischen den beiden Bereichen unscharf sind. Die Forschung im engeren Sinn wendet sich in erster Linie an andere Forscher: Professoren also und Studierende, wohl nur in Ausnahmefallen auch an interessierte Laien. Die auf ein enges Publikum ausgerichtete Wirkung wird durch das Sprachdilemma weiter eingegrenzt, in dem sich alle Professoren fremdsprachiger Philologien befinden: publizieren sie auf Deutsch, werden sie von der internationalen Forschung

,2 Siehe Briesemeister 1994 als Gesamtdarstellung, Wittschier 1984 für den Roman, Thorau/Magaldi 1995 für das Theater und Siebenmann 1991 und 1993 fiir die Lyrik.

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kaum wahrgenommen, weil Deutsch keine internationale Wissenschaftssprache mehr ist; publizieren sie auf Spanisch, werden sie im deutschen Sprachraum nur in Ausnahmefallen außerhalb der Universitäten gelesen. Aber selbst wenn sie auf Deutsch publizieren, ist ihre öffentliche Wirkung in der Regel gering, weil sich viele Professoren einer Fachsprache verschrieben haben, die vielleicht der Erkenntnis, nicht aber der Lesbarkeit dient. Es gibt deshalb nur wenige Werke, die Wissenschaftlichkeit und Lesbarkeit miteinander vereinen. Die Ausstrahlung auf die Medien ist dementsprechend gering, was jedoch nicht nur am Fachjargon der Wissenschaftler, sondern auch am Wahrnehmungshorizont der Feuilletons der überregionalen Zeitungen und Zeitschriften liegt, deren Redakteure die spanisch- und portugiesischsprachige Literatur nur selten wahrnehmen. Eine Ausnahme bildet darin die Neue Zürcher Zeitung, in der Romanisten regelmäßig lateinamerikanische Bücher vorstellen. Nicht weniger problematisch sind die Wechselbeziehungen zwischen den Universitäten und den Verlagen. Die Geschichte der lateinamerikanischen Kultur und Literatur ist im deutschen Sprachraum eine Erfolgsgeschichte, an der auch die Romanisten mitgewirkt haben. Lateinamerika ist nun auch bei uns zu einer Provinz der Weltliteratur geworden. Aber sie liegt immer noch am Rande, ihre Größe wird mehr erahnt als gewußt. Für die Romanistik bleibt noch viel zu tun.

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III Deutsch-lateinamerikanische Beziehungen

7. Die Entwicklung der Beziehungen vom 19. Jahrhundert bis zum 2. Weltkrieg

Die Handelsbeziehungen zwischen Deutschland und Lateinamerika (bis 1871) Hermann Kellenbenz (t) I. Von den Entdeckungen zur Kolonialwirtschaft' a. Der karibische Raum Es lag nahe, daß sich die ersten Handelsverbindungen zwischen Deutschland und dem neuentdeckten Kontinent, den die Spanier "Las Indias" nannten, auf jenen Routen anbahnten, die die spanischen Entdecker und Eroberer von Andalusien aus eingeschlagen hatten. Dies war allerdings erst möglich, als der Habsburger Karl das Erbe seiner spanischen Großeltern übernommen hatte. Im Februar 1524 erlaubte er NichtSpaniern, von Sevilla, der Zentrale des Amerikageschäfts, aus, Handel mit dem Kontinent zu treiben. Es ist bezeichnend für die damaligen Verhältnisse, daß die Kaufleute, die sich für Amerika interessierten, aus Oberdeutschland kamen. Sie hatten bereits Handelsbeziehungen zu Ostspanien und zu Lissabon geknüpft, und nun waren sie auch die ersten in der andalusischen Metropole. Dem aus Neustadt an der Aisch stammenden Lazarus Nürnberger gelang es innerhalb kurzer Zeit, ein weit ausgreifendes Unternehmen aufzubauen, wobei ihm die Einheirat in die Familie des angesehenen deutschen Druckers Jakob Cromberger den Weg bahnte. Im Juli 1525 erwirkten er und sein Schwiegervater von Karl V. die Erlaubnis, mit den "Indias" Handel

'Aus Platzgründen kann hier nur eine knappe Bibliographie der weiterführenden Literatur gegeben werden. Eine zusammenfassende Darstellung der Handelsbeziehungen zwischen Deutschland und Lateinamerika auf dem heutigen Forschungsstand fehlt. Nützliche Überblicke liefern aber immer noch Baasch 1892, Baumgarten 1937, Schramm 1950 und 1963. Bibliographische Angaben über die Jahrzehnte nach den Entdeckungen finden sich in der Literatur zu den Fuggern und Welsern. Nach Panhorst 1927 und 1928, Friede 1961 und 1967 und Otte 1962 und 1963/64 arbeiten darüber zuletzt Walter 1987, Großhaupt 1987 und Kellenbenz 1989. Weitere Angaben finden sich in den einzelnen Länderkapiteln bei Fröschle 1979.

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zu treiben, und im selben Jahr reisten in diesem Zusammenhang der Ulmer Ambrosius Dalfinger (oder Talfinger), Jörg Ehinger aus Konstanz und der Elsässer Jörg Koch nach Santo Domingo, dem aufblühenden Verwaltungs- und Handelszentrum im karibischen Raum, und noch im selben Jahr schickte Nürnberger Luxusartikel, Gebrauchsgegenstände und Bücher auf die Insel Hispaniola. Wenn er 1538 auch vier Orgeln nach Santo Domingo sandte, so zeigt dies, wie weit der Katalog der Waren reichte, mit denen die Bewohner der Neuen Welt ihre kulturelle Umgebung gestalteten, wurde doch in derselben Zeit die erste Kathedrale in der Neuen Welt gebaut. Der Rücktransport der Geschäfte, die sich daraus entwickelten, bestand aus Gold, Perlen, Zucker, Häuten, tropischen Drogen wie Cañafistula und Guajak, das man zur Bekämpfung der Syphilis gebrauchte. Diese Waren gingen nicht nur nach Andalusien, sondern zum Teil auch nach Flandern, und mit dem Warenhandel wurden Bankgeschäfte kombiniert. Ein Teil der Fracht nach Santo Domingo war für Santa Marta bestimmt, wo der Gouverneur Rodrigo de Bastidas eine Goldschmelzerei eingerichtet hatte. Dalfinger und Ehinger schickten Lebensmittel und Pferde nach Santa Marta. Unter den deutschen Handelsgeschäften mit Santo Domingo heben sich am deutlichsten diejenigen der Welserschen Faktorei ab, die, allerdings als Fehlspekulation, deutsche Bergleute hinüberbrachte. Der Export von Negersklaven kam hinzu. In einer eigenen Mühle wurde Zucker produziert. Mit der Ausweitung des spanischen Machtbereichs entwickelten sich auch Verbindungen zum amerikanischen Festland, nach Neuspanien und nach dem für die südamerikanischen Eroberungen wichtigen Isthmus von Nombre de Dios. Hauptvertreter der Welserschen Faktorei war zunächst der schon erwähnte Dalfinger. Dieser ging dann als Gouverneur nach Venezuela, worauf den Posten der ebenfalls aus Ulm stammende Sebastian Renz übernahm. 1532 folgte ihm der aus Mailand stammende Pedro Jacome Gazio. Er und sein Nachfolger Juan Soderini, ebenfalls ein Italiener, wickelten die in den dreißiger Jahren auslaufenden Faktoreigeschäfte vollends ab. Nürnberger und die Cromberger ließen sich eine Zeitlang neben Juan Francisco vom Nürnberger Bartholomäus Blümel vertreten, der dann nach Südamerika ging, wo er als Bartolomé Flores in der Schar des Pedro de Valdivia zum Mitbegründer von Santiago de Chile wurde. Besonders lockend war eine Zeitlang der Handel mit Perlen der Insel Cubagua, ein Geschäft, das vermutlich auch den Sevillaner Vertreter der Augsburger Herwart, den aus Ulm stammenden Sebastian Neidhart, angelockt hat, waren doch die Herwart die bedeutendsten oberdeutschen Juwelenhändler der Zeit. Auch die Fugger scheinen eine Zeitlang eine Faktorei in Santo Domingo gehabt und sich am Sklavenhandel beteiligt zu haben, doch zogen sie es vor, die Amerikageschäfte von ihrer Faktorei in Sevilla aus betreiben zu lassen. In Verbindung mit dem Sevillaner Kreis um Lazarus Nürnberger stand der Nürnberger Jobst Tetzel, der 1542 nach Kuba reiste und vier Jahre später mit der kastilischen Krone einen Vertrag zur Ausbeutung der Kupferlager in der

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Gegend von Santiago (de Cuba) abschloß. Er gründete eine Bergwerks- und Hüttengesellschaft, an der sich außer Nürnberger auch Freunde aus der Pegnitzstadt selbst beteiligten. Tetzel reiste 1547 ein zweites Mal nach Kuba, begleitet von deutschen Fachkräften, um sich an die Verwirklichung seiner Pläne zu machen. Es wurde dann Kupfer nach Spanien und zu den westindischen Inseln exportiert. In diesem Zusammenhang wurden gewiß auch weitere Handelsbeziehungen zu Sevilla unterhalten, worüber wir aber nichts Näheres wissen. Tetzeis Vertrag lief 1566 ab. Nach langen Bemühungen gelang es ihm, 1571 eine Verlängerung zu erreichen. Bevor er jedoch seine Reise nach Kuba antreten konnte, starb er in Madrid. Inzwischen hatte sich das Interesse der Deutschen nach Venezuela und Neuspanien verlagert. Im Jahre 1528 wurde von den Welserschen Faktoren Heinrich Ehinger und Hieronymus Sailer, dem späteren Schwiegersohn von Bartholomäus Welser, Verträge mit der Krone abgeschlossen, die die Eroberung und Kolonisation von Venezuela zum Ziel hatten. Für die Handelsbeziehungen, die sich daraus entwickelten, dienten die vom ersten Gouverneur Dalfinger gegründeten Städte Coro und Maracalbo als Hauptstützpunkte. Anfanglich wurde dabei Santo Domingo als Zwischenstation eingeschaltet. Über den Venezuelahandel der Welser, der sich daraus entwickelte, wissen wir verhältnismäßig wenig, zumal sich das Hauptinteresse der verschiedenen Gouverneure auf Entdeckungs- und Eroberungszüge ins Innere des Landes bis ins Hochland der Chibcha (Nikolaus Federmann) richtete und die Forschung sich auf diese Aspekte konzentrierte. Natürlich bedingte die Versorgung der Niederlassungen bald entsprechende Schiffstransporte von Andalusien direkt nach Venezuela. Mit am besten sind wir über die Expedition unterrichtet, die 1534 den neuen Gouverneur Jörg Hohermut in die Kolonie führte, wozu zwei Schiffe aus der Biscaya gekauft wurden. Wir wissen, daß die Welserschen Leute unter Schwierigkeiten atarazanas (Werftanlagen) in Triana, auf der Südseite des Guadalquivir, pachten konnten. Solche Anlagen unterhielten sie auch in Santo Domingo, und es liegt nahe, daß für den Handelsverkehr nach Venezuela entsprechende Anlagen vor allem in Coro errichtet wurden. Dabei ging es einerseits um den Export von Landesprodukten und Edelmetallen sowie Juwelen, andererseits um den Import von Ausrüstungsgegenständen (Messer, Hacken, Äxte), Lebensmitteln, aber auch Pferden und Sklaven. Schon früh zeigten sich Gegensätze zwischen den Deutschen und den Spaniern, wobei die letzteren auf ein Gerichtsverfahren hinarbeiteten. Es führte zu einem Urteil, das den Welsern das Recht auf die Besitzung absprach. Die Welser prozessierten dagegen, aber das endgültige Urteil von 1556 sprach sich gegen sie aus. Schon zwei Jahre zuvor hatte die spanische Regierung einen Gouverneur ernannt, ohne Rücksicht auf die Welser zu nehmen. Inzwischen erlangten Neuspanien und die Landenge von Panama als Verbindungsstück zur südamerikanischen Westküste größere Bedeutung. Schon ab 1523 schickte der Buchdrucker Jakob Cromberger, wohl in Zusammenarbeit mit Lazarus Nürnberger, Waren nach Neuspanien. Hier handelte es sich nicht nur um Bücher, sondern auch um andere Artikel, wie wir sie aus dem Geschäft

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mit Santo Domingo und Venezuela kennen. Die Errichtung einer Druckerei in der Hauptstadt México beleuchtet die wichtige Rolle der Bücher, besonders religiöser Art, auf diesem Markt. Dazu kam das Interesse am Bergbau, wo es vor allem um die Silberausbeute in Zultepeque ging. Neben der Gruppe Cromberger-Nürnberger beteiligte sich an den Investitionen der aus Augsburg stammende Christoph Raiser, der anfanglich in Sevilla für die Herwart und Neidhart arbeitete, später aber als Fuggerscher Faktor tätig war. Verschiedene Oberdeutsche, u.a. der Basler Hans Hentschel, reisten in diesem Zusammenhang nach Neuspanien, um die Verbindung wahrzunehmen, wobei sie zum Teil ihren eigenen Interessen nachgingen. Diese Vorgänge sind bezeichnend für die im Amerikageschäft häufig wechselnden Vergesellschaftungen. Schließlich blieben die Bergwerke in den Händen der Crombergerschen Erben. In derselben Zeit bemühten sich Nürnberger und Raiser zusammen mit Flamen um die Errichtung einer Faktorei für den Warenhandel mit Peru. Angehörige der Nürnberger Familien Tucher und Spengler und der Heilbronner Ort begaben sich damals nach Nombre de Dios. Die Rückfracht bestand wahrscheinlich aus Gold und Juwelen. Den besten Aufschluß über den damaligen Export der Oberdeutschen von Andalusien nach Amerika erhalten wir aus Notariatsdokumenten, die der damalige Fuggersche Faktor Raiser der Sicherheit halber ausstellen ließ. Unter den Textilien werden Barchent aus Weißenhorn, Leinenwaren aus Holland, aber auch aus Frankreich (ruanes) genannt, unter den Metallen Kupfer, Zinn und Quecksilber. Das Kupfer stammte, solange Anton Fugger Pächter der ungarischen Kupfervorkommen war, aus den Karpaten. Das Zinn, das in der englischen Produktion einen starken Konkurrenten hatte, kam aus Sachsen und Böhmen. Das Quecksilber war aus Almadén. Preis und Absatzchancen dieser Ware in Amerika stiegen in auffallender Weise, als man im Lauf der fünfziger Jahre in Neuspanien das sogenannte Patio-Verfahren einführte, mit dem man Brennholz einsparen konnte. Die Kunden, Angehörige aller Stände, kauften meist auf Kredit und bezahlten nach der Rückkehr aus Amerika. Die Streuung des Absatzes reichte von Puerto Rico und Mexiko bis Portobelo und Peru. Schulden wurden mit Hilfe von Beauftragten und dem Gerichtswesen, das inzwischen in Amerika aufgebaut worden war, eingetrieben. Die wichtigste Rückfracht bildeten Edelmetalle, die Karl der V. und sein Nachfolger Phillip II. benutzten, um die Kredite abzuzahlen, die ihnen die Fugger und in geringerem Maße andere oberdeutsche Firmen leisteten. Unter den anderen oberdeutschen Kaufleuten, die in dieser Zeit noch Amerikageschäfte trieben, ist der mit Heinrich Ehinger und den Welsern zusammenarbeitende Alberto Cuon erwähnenswert. Sein Hauptwohnsitz war Valladolid. Er und Ehinger waren um den Anbau von Safran und Waid in Neuspanien bemüht. Segismundo Cuon, der später seine Geschäfte in Sevilla und vermutlich mit Amerika trieb, dürfte sein Sohn gewesen sein. Unter Phillip II. wurde die Möglichkeit der Ausländer, Amerikageschäfte zu treiben, stark eingeschränkt. Einen Ausweg lieferte die Naturalisierung, die

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durch die Heirat mit einer Spanierin erleichtert wurde. Jedenfalls finden wir unter den Kaufleuten in Sevilla und Cádiz keinen Vertreter einer größeren oberdeutschen Firma in der zweiten Hälfte des 16. und ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts als Amerikahändler erwähnt. Inzwischen verstanden es Kaufleute der Seestädte, voran Hamburger, ihre Spanienverbindungen auszubauen und in diesem Zusammenhang auch solche zu Amerika, insbesondere zu Brasilien, anzuknüpfen. Um 1605 war ein Johan Abendrot, der auf Gran Canaria lebte, bemüht, beim Indienrat die Erlaubnis zum Amerikageschäft zu erhalten. Ihm schwebten zwei Projekte vor: Einmal sollten die chilenischen und peruanischen Häfen alljährlich mit einem Schiff angelaufen werden, das durch die MagellanStraße fuhr. Zum anderen wollte er eine Schiffsverbindung von Hamburg über die Kanarischen Inseln nach Havanna herstellen. Beide Projekte wurden abgelehnt, doch ist zu vermuten, daß über die Kanarischen Inseln Schmuggelbeziehungen zu den amerikanischen Häfen gepflegt wurden. Bemerkenswert ist auch jener Friedrich Oberolz, der 1621 und 1626 mit der Casa de la Contración in Sevilla Verträge abschloß, um Idrianer Quecksilber nach Amerika auszuführen. b. Brasilien und der Río de la Plata Das portugiesische Brasilien lockte zwar nicht mit den Edelmetallen und Juwelen, die von den spanischen Besitzern zurückgebracht wurden, doch ließen sich die in Lissabon residierenden Kaufleute, so ein Simon Seitz und die Ehinger, in ihren Privilegien für Waren, die aus Brasilien kamen, Akzisefreiheit zusichern, abgesehen von den 5 % auf die Produkte, die in den Schiffen des Fernäo de Noronha während seines bis 1505 laufenden Kontrakts zurückgebracht wurden. Schon um diese Zeit enthielten die irrtümlich den Paumgartnern in Augsburg zugeschriebenen, aber von Leuten der Fugger und Imhoff stammenden Angaben über die damals herrschenden Welthandelsbräuche Nachrichten über Brasilholz, das aber nicht so gut sei wie das von Indien, goma de acajú, Meerkatzen, Papageien und Sklaven. Die berühmte Copia der Newen Zeytung auss Pressilg Landt, die bezeichnenderweise der Augsburger Erhard Oeglin um 1514 druckte, erwähnt als Ladung des Schiffs, das von einem portugiesischen Fidalgo und dem burgalesischen Kaufmann Cristóbal de Haro ausgerüstet, wahrscheinlich vom Río de la Plata zurückgekehrt war und in Madeira angelegt hatte, verschiedene Waren, die von der Ostküste des Subkontinents stammten. In diesem Fall, wie bei der Expedition des Magalhäes und weiteren Unternehmungen der zwanziger Jahre entlang der Ostküste, an denen oberdeutsche Kaufleute direkt oder indirekt interessiert waren, bildete das eigentliche Ziel die Inselgruppe der Molukken, dieses wurde allerdings von Karl V. 1529 mit dem Vertrag von Saragossa aufgegeben. Eine Zeitlang bemühte sich der Fuggersche Faktor Veit Hörl nach dem Beispiel der Weiser um ein Projekt der Kolonisation weiter südlich der Eroberungen von Francisco Pizarro und seinen Leuten, aber dieser Plan wurde bald aufgegeben. Ebenso wenig erfolgreich war die Expedition des Pedro de Mendoza an den Río de la Plata 1535/36, bei der Jakob Weiser, von Nürnberg, und Sebastian Neidhart, der Schwiegersohn des Augsburgers Chri-

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stoph Herwart, Beträge investierten. Wenn die Fuggersche Faktorei in Sevilla mit dem Straubinger Ulrich Schmidel, der am Río de la Plata lebte, in Korrespondenz stand, so fehlen Unterlagen darüber, wieweit damit kaufmännische Beziehungen verbunden waren. Ähnliches gilt für einen Peter Roessei und einen Sohn des Humanisten Eobanus Hessus, die im Raum von Säo Vicente in der Gegend des heutigen Santos in der u. a. von den Antwerpener Schetz betriebenen Zuckerproduktion tätig waren. Daß die aus Ulm stammenden Lins, die eine Niederlassung in Lisssabon aufbauten und durch Verwandte Beziehungen zu Pernambuco aufbauten, sich besonders für das Zuckergeschäft interessierten, dürfte nahegelegen haben. Die Könige von Portugal behielten zwar die direkte Fahrt nach Brasilien portugiesischen Schiffern und Kaufleuten vor, doch lockerte sich dieser Monopolanspruch ab 1580, als Philipp II. das portugiesische Reich in Personalunion mit der spanischen Monarchie zusammenfaßte. Daß hanseatische Schiffer bemüht waren, jetzt die Fahrt nach Brasilien direkt aufzunehmen, ist aktenmäßig für das Jahr 1587 belegt, als drei Schiffe, die von Brasilien zurückkehrten, von englischen Korsaren aufgebracht wurden, während ein weiteres in der Gegend von Emden Schiffbruch erlitt. Im Jahre 1590 liefen nicht weniger als elf Schiffe, die von Brasilien kamen, im Hamburger Hafen ein, und bis zum Jahre 1602 verzeichnen die Hamburger Schifferbücher weitere neunzehn. In Wirklichkeit müssen es noch mehr gewesen sein, denn die Schifferbücher nennen für dieses Jahr nur eines, während es nach anderen Quelle wenigstens drei waren. Drei Schiffer wurden in einen Prozeß verwickelt, weil sie von Brasilien zurückgekehrt waren, ohne in Lissabon Zwischenstation gemacht zu haben. Inzwischen versuchten die Spanier auf diplomatischen Weg, die hanseatischen Schiffer zu veranlassen, die direkte Brasilienfahrt aufzugeben. Der Friede mit England im Jahre 1603 erleichterte es Spanien, den Monopolanspruch auf die Brasilienfahrt zu bekräftigen. In der nächsten Zeit erfolgten wohl noch einzelne Fahrten, denen die Holländer mit Erfolg nachstellten. Im Jahre 1611 erwartete der hanseatische Konsul in Lissabon sogar vier Schiffe, die von Brasilien zurückkommen sollten. Auch Schiffe aus dem neutralen Emden sind auf der Brasilienroute zu finden. Des weiteren benützten die Holländer und die von der Iberischen Halbinsel emigrierten Neuchristen die Gelegenheit, um von Hamburg aus das Brasiliengeschäft zu betreiben. Nach einer Hamburger Liste von 1612 waren von 41 Importeuren 18 sogenannte "Portugiesen" und zehn Niederländer, und fast alle importierten Zucker. Unter den deutschen Kaufleuten, die im Portugal-Brasiliengeschäft tätig waren, sind besonders bemerkenswert die Verzweigungen in Hamburg, Antwerpen, Lissabon und Bahia. Teilweise wurde das Brasiliengeschäft der Sephardim in Verbindung mit Verwandten in den Niederlanden, vor allem in Amsterdam, betrieben, wobei die Verbindungen der 1621 gegründeten Holländischen Westindienkompanie zu Pernambuco lockten. Die Osorio und die de Pina mit ihrer Verwandschaft in Amsterdam, Hamburg und Glückstadt können hier beispielhaft genannt werden. Andererseits

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hatten die Hamburger "Portugiesen" auch über die portugiesischen Häfen Brasilienverbindungen.

II. Die zweite Hälfte des 17. und des 18. Jahrhunderts 2 a. Der spanische Herrschaftsbereich und die Karibik Ließ sich der spanische Monopolanspruch auf den Seeweg nach Amerika (Carrera de Indias) schon im 16. Jahrhundert nicht behaupten, so wurde dies im 17. Jahrhundert noch schwieriger. Die Inselwelt der Karibik und die Versorgung der spanischen Besitzungen mit Negersklaven boten zahlreiche Gelegenheiten, im Rahmen der sogenannten Dreiecksfahrt, Stützpunkte an der westafrikanischen Küste und auf den Inseln zu schaffen. Besonders wichtig wurde dabei das Zugeständnis Spaniens im Westfälischen Frieden 1648 an die Niederländische Republik, einige Schiffe über den Atlantik zu schicken. Auf deutscher Seite blieb Hamburg der Ort, wo man am Geschäft mit den Antillen am stärksten interessiert war. Barbados, das in englischen Besitz überging, wurde seit 1644 von Hamburger Schiffen angelaufen. Über 100 meist kleinere Kaufleute beteiligten sich bis 1651 an diesem Handel. Auch in Hamburg wohnende "Portugiesen" befanden sich darunter. Außerdem spekulierte man an der unteren Elbe mit dänischen und schwedischen Westindienbeziehungen. Eine schwedische Afrikakompanie erhielt für die Jahre 1649 bis 1651 ein Privileg für Reisen nach Afrika und Amerika, besonders nach Barbados. 1655 wurde das Privileg erneuert. Das schwedisch gewordene Stade und Hamburg wurden Stützpunkte dieser Gesellschaft. Der aus den Niederlanden nach Schweden ausgewanderte Waffenhersteller Louis de Geer und sein Landsmann Liebert Wolters in Hamburg waren Hauptunternehmer der Kompanie. Ob und in welchem Umfang es zu Faktoreien im westindischen Bereich kam, ist allerdings nicht bekannt. In ähnlicher Weise beteiligten sich Hamburger Kaufleute an den dänischen Unternehmungen nach Westafrika und in die Karibik. Hauptstützpunkt war zunächst Glückstadt an der unteren Elbe. Im Laufe der sechziger Jahre erhielten Glückstädter Schiffe Pässe für die Fahrt zu der Jungferninsel St. Thomas. Mit der 1671 gegründeten dänischen Westindienkompanie verlagerte sich das Schwergewicht der dänischen Unternehmungen zwar nach Kopenhagen, aber Schleswiger, Holsteiner und Hamburger blieben im Auftrag der Gesellschaft tätig. Diese erwarb 1718 die Insel St. Jan und 1733 die wegen ihrer Zuckerproduktion wichtige Insel St. Croix. Eine Zeitlang war St. Thomas Stützpunkt der brandenburgischen Afrika-Westindienunternehmungen. 1685 schloß der Niederländer Benjamin Raule, der die überseeischen Geschäfte des Großen Kurfürsten leitete, mit der dänischen Regierung einen Vertrag, der es der brandenburgischen Gesellschaft gestattete, Sklavenhandel mit St. Thomas zu treiben. Deutscher Stützpunkt des brandenburgischen Unternehmens wurde

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Vgl. hierzu Meier 1937; Kellenbenz 1960; Pohl 1963 und Kossok 1 9 6 1 .

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Emden. Zu einer harmonischen Zusammenarbeit mit den Dänen kam es allerdings nicht. Die meisten Leute, die der Kurfürst in Westindien einsetzte, waren französischer und niederländischer Herkunft. Das Pachtverhältnis blieb bis 1715 bestehen. Die Missionstätigkeit der Mährischen Brüder kann hier nur gestreift werden, weil wir nicht wissen, in welchem Maße sie den deutschen Handel auf die karibischen Inseln beeinflußte. Zu erwähnen sind die vier Plantagen des dänischen Finanzministers Heinrich Karl Schimmelmann, der seinen Aufstieg über Hamburg gemacht hatte. Daß Hamburger Kaufleute hier Gelegenheit hatten, sich ins Geschäft einzuschalten, lag nahe, wenn wir vorerst auch nichts Näheres wissen. Daneben müssen die Altonaer und Flensburger Westindienbeziehungen beachtet werden. 1755 schlössen sich in Flensburg unter der Führung des späteren Bürgermeisters Feddersen einige Kaufleute zu einer "Handelsgesellschaft auf St. Croix" zusammen. Auch Kaufleute aus Bremen witterten hier geschäftliche Möglichkeiten. Von den niederländischen Inseln war insbesondere St. Eustatius in seiner Blütezeit vor dem Überfall durch Admirai Rodney (1781) ein Treffpunkt deutscher Kaufleute. Die Firma Wolffer & Metzler, die später ihren Sitz nach St. Barthélémy verlegte, dürfte mit den Metzler in Frankfurt am Main in Verbindung gestanden haben, während die Augsburger Brüder Obwexer Westindienhandel über Amsterdam trieben. Deutsche Plantagennamen weisen auf Kapitalinvestitionen in Surinam, dem holländischen Teil von Guyana, hin. Erwähnenswert ist der hier für 1794 nachweisbare Lebensmittelhandel der Herrnhuter. Den Altonaer Fink interessierte Surinam als Slavenmarkt. Überhaupt versäumten die Hamburger Schiffer die Gelegenheit des nordamerikanischen Unabhängigkeitskampfes nicht, ihre Westindienfahrten nach Surinam und dem französischen Cayenne auszuweiten. Vermutlich über Bordeaux gelangte der Stuttgarter Carl Hopfengärtner nach dem wegen seiner Zuckerproduktion wichtigen französischen Teil von Hispaniola, Saint-Domingue. Er gründete mit Johann Kuhlmann eine Firma, die u.a. mit Häusern in St. Thomas zusammenarbeitete, von wo aus wieder Verbindungen nach Bremen und Hamburg bestanden. Während des Krieges mit England, der 1779 ausbrach, gestattete König Karl III. von Spanien der Compañía Guipuzcoana, bei der der Handel mit Venezuela lag, mit den holländischen, französischen und dänischen Inseln in Austausch zu treten. Nun gelangte auf dänischen Schiffen Kakao aus Venezuela über Nordeuropa nach Spanien, und auch Schiffe aus Altona fuhren unter dänischer Flagge. Doch stellte die Caracas-Gesellschaft nach schweren Verlusten 1784 ihre Tätigkeit ein. Die Liberalisierungstendenz verstärkte sich seit Ausgang des Jahrhunderts, und so lief 1801 ein Schiff, das von La Guaira und Puerto Cabello kam, im Hamburger Hafen ein. Im nächsten Jahr kamen von Puerto Cabello zwei, von La Guaira drei Schiffe. Damit machte, abgesehen von Kakao, der venezolanische Tabak dem bisher in Hamburg hauptsächlich verbreiteten Brasiltabak Konkurrenz.

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b. Die Ostküste Südamerikas Mit dem Aufschwung der Goldproduktion in Minas Gerais übte der brasilianische Markt verstärkte Anziehungskraft aus, doch wurde er vorwiegend auf indirektem Wege über die portugiesischen Häfen betrieben. Neben dem Zucker wurde der Tabak ein wichtiges brasilianisches Exportgut, während man auf deutscher Seite in erster Linie Leinenwaren vertrieb. Dabei scheute man sich nicht, feinere fremde Sorten zu imitieren und als bretanhas und ruöes zu etikettieren. In Salvador wie in Rio de Janeiro läßt sich der starke Anteil solcher Artikel aus Hamburg zahlenmäßig nachweisen. Im Verkehr mit dem von Spanien beherrschten Teil Südamerikas traten im Laufe des 18. Jahrhunderts Erleichterungen ein, die auch dem deutschen Export zugute kamen, ganz abgesehen vom Schmuggel. Einen wichtigen Platz im Rahmen der spanischen Liberalisierungstendenzen nahmen die Bestrebungen ein, den Import von Schwarzen nach Spanisch-Amerika zu beleben. Während in Venezuela die Engländer das Hauptgeschäft machten, lassen sich im La Plata-Gebiet auch Schiffe unter dänischer und hamburgischer Flagge finden. Wichtig war dabei die Bestimmung, daß für den Wert der von Afrika eingeführten Sklaven Erzeugnisse des Landes, insbesondere Häute, direkt nach dem Norden ausgeführt werden konnten. Daß sich deutsche Schiffe in den Sklavenhandel eingeschaltet haben, läßt sich in einem Fall (1805/06) belegen. Schon 1791 lief das erste aus Montevideo kommende Schiff im Hamburger Hafen ein, 1797 wurde wieder eines registriert, 1799 zwei weitere. Auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts läßt sich dieser Verkehr anhand von Archivalien aus Buenos Aires und Montevideo nachweisen. Kaufleute in Buenos Aires, Montevideo, Cádiz und Hamburg beteiligten sich an diesen Geschäften, so u.a. die Häuser Brentano, Bovara und Orbieta. Der Krieg zwischen England, Frankreich und Spanien ab 1803 und die durch die napoleonische Politik bewirkte Kontinentalsperre störten und unterbrachen schließlich diese direkten Handelsbeziehungen zwischen Nordeuropa und Südamerika. Aber es gab Umwege. Als die Engländer die Elbe blockierten, versuchte die Hamburger Schiffahrt, auf benachbarte Häfen auszuweichen. Damals kam eine günstige Zeit für das im Herzogtum Schleswig gelegene und damit zum neutralen Dänemark gehörende Tönning, und dies spiegelt sich auch im Südamerikaverkehr wider. Im Jahre 1805 waren von den elf deutschen Schiffen, die sich bei der Hafenbehörde von Montevideo meldeten, fünf aus Tönning ausgelaufen. Einige Schiffe gaben Hamburg als Abfahrtshafen an; eine Hamburger Fregatte kam aus Antwerpen, eine preußische aus Emden. Die von La Plata-Häfen auslaufenden Schiffe fuhren jetzt teilweise unter nordamerikanischer, portugiesischer oder englischer Flagge. Vereinzelt wagten Schiffe bereits die Fahrt um die Südspitze des amerikanischen Kontinents, um Häfen der Westküste, vor allem Callao in Peru, anzulaufen.

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III. Die Unabhängigkeitsbewegung3 Nachdem sich der Abfall der nordamerikanischen Kolonien von England bereits angekündigt hatte, gaben die Ereignisse der Französischen Revolution und ihre Folgen das Signal für den Aufstand im Karibischen Raum, in Mittel- und Südamerika. Nach dem blutigen und wechselvollen Vorspiel im französischen Saint-Domingue ab 1791, das dann zur Negerrepublik Haiti führte, setzt die Unabhängigkeitsbewegung in den spanisch-sprachigen Gebieten mit dem Jahr 1810 ein. Während in Mexiko und in Mittelamerika erst nach dem Sturz des Kaisers Itúrbide eine gewisse Konsolidierung begann, erkämpften die Länder des südamerikanischen Subkontinents unter Bolívar, San Martin und O'Higgins die Freiheit, die freilich erst nach zahlreichen inneren Wirren einigermaßen gefestigt werden konnte. Allein die brasilianische Kolonie trennte sich kampflos vom Mutterland, und nahm, seit 1822 als Kaiserreich, neben den Republiken der spanisch-sprachigen Gebiete eine Sonderstellung ein. Europa, dessen Mächte sich 1815 in der restaurativen Interessengemeinschaften der Heiligen Allianz zusammenschlössen, verweigerte zunächst die Anerkennung der Unabhängigkeit. In die Lücke, die dadurch im internationalen Handel entstanden war, drangen inzwischen die Nordamerikaner ein. Die erste europäische Macht, die offen mit den Prinzipien der Heiligen Allianz brach, war Großbritannien. Dem Beispiel Portugals 1825 folgend, erkannte es 1826 die Unabhängigkeit Brasiliens an. Eine Schwäche der Verfassung des Deutschen Bundes, der das Erbe des zerfallenen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation übernahm, bestand in dem Fehlen einer einheitlichen Außenpolitik. Beim Wiederaufbau der Außenhandelsbeziehungen war jeder Bundesstaat auf sich selbst angewiesen. So schlössen als erste im Jahre 1827 Österreich, Preußen und die drei Hansestädte Lübeck, Hamburg und Bremen Verträge mit Brasilien. Doch schon zuvor waren die Schiffer und Kaufleute in den deutschen Seestädten bemüht, mit den unabhängig gewordenen Staaten in einen Warenaustausch zu treten, der diesen helfen sollte, aus den wirtschaftlichen Schwierigkeiten herauszukommen, in denen sie sich nach den politischen Veränderungen befanden. Zum Teil entwickelte sich dabei ein handfester Schmuggel, der in Verbindung mit nordamerikanischen Häusern betrieben wurde. Das deutlichste Beispiel liefert im karibischen Raum Juan Bernardo Elbers aus Mülheim, der den venezolanischen Aufständischen Waffen und Schiffe lieferte. Am Rio de la Plata wirkte in ähnlicher Weise der aus dem Bergischen Land stammende Johann Christian Zimmermann. Er kam 1816 von Baltimore nach Buenos Aires

'Vgl. hierzu Baumgarten 1937; Kossok 1961 und 1964; Kahle 1980 und bes. die umfangreiche Bibliographie bei Ziehr 1989; ferner Priser 1962; Minnemann 1977; Kresse 1966; 1972 und 1974; Körner 1966; Dane 1971; Brockstedt 1975 und 1976; Schneider 1975 und 1981; Peuknitt 1983; Walter 1983; Kellenbenz 1987a; Becker 1984; vgl. auch die einschlägigen Beiträge in JGL 1988, Bd. 25.

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und gründete mit dem Iren Antonio Lynch eine Firma; bald darauf schloß er sich mit einem Nordamerikaner zusammen. Zucker, Tabak und Baumwolle hatten in Südamerika zunächst Vorrang, und dementsprechend entwickelten sich die Beziehungen zu Brasilien am lebhaftesten. 1814 kamen zwei Schiffe aus Brasilien in Hamburg an, bis 1821 stieg die Zahl auf 56, und 1824 wurde mit 137 Schiffen ein Höchststand erreicht. Zwei Drittel des brasilianischen Zuckerexportes, so schätzte man 1826, gingen nach Hamburg, und zwar nicht nur auf Schiffen mit deutscher Flagge, sondern auch auf solchen mit dänischer, schwedischer, englischer und holländischer. Wichtigster Verschiffungshafen für Zucker war Salvador, das in diesen Jahren auch einen steigenden Baumwollexport erlebte. Hamburg setzte hier einen Konsul ein. Zum Teil arbeiteten die Deutschen mit Schweizern zusammen, doch blieben sie immer eine Minderheit, wie auch im übrigen Norden Brasiliens. Seitdem Rio de Janeiro Sitz des Herrschers und der Regierung war, verstärkte sich seine Anziehungskraft. 1818, als vierzehn Schiffe von Rio kommend in Hamburg einliefen, setzte die Hansestadt Caspar Friedrich Stuhlmann als Generalkonsul ein, dem bald der Kaufmann ten Brinck als Vizekonsul zur Seite trat. Die deutsche Niederlassung wuchs so schnell, daß sich 1821 ein Verein "Germania" bildete. Von den spanisch-sprachigen Gebieten bot die Republik Kolumbien, die aus den heutigen Ländern Venezuela, Kolumbien und Ecuador bestand, am frühesten die Voraussetzungen zur Anknüpfung konsularischer Beziehungen. Im Laufe der zwanziger Jahre liefen Hamburger Schiffe die Häfen La Guaira, Puerto Cabello und Angostura an. 1827 kamen zehn Schiffe von La Guaira zurück. Im selben Jahr wurde Georg Grämlich als hamburgischer Generalkonsul in La Guaira eingesetzt. Das La Plata-Gebiet und die Westküste des südamerikanischen Kontinents zogen vor allem Schiffe an, die auf Trampfahrt (Dampfer mit unregelmäßiger Route) eingestellt waren. Als Rückfracht übernahmen sie Häute, an der Westküste auch Erze. Nach den Pariser Friedensschlüssen (1815) entwickelte sich ein bescheidener Schiffsverkehr nach Montevideo und Buenos Aires, der 1817 deutlich anstieg. Sechs Schiffe kamen aus Hamburg nach Buenos Aires, aber nur drei waren Hamburger Herkunft, eines gehörte einer russischen Reederei, die übrigen waren englisch. 1819 kehrten sieben Schiffe vom La Plata nach Hamburg zurück. Unter den Konsignatoren in Buenos Aires hatten angelsächsische Firmen den Vorrang, so die Lynch und Brittain. Friedrich Wilhelm Schmaling vertrat eine Zeitlang die preußische Leinengesellschaft, Johann Jacob Klick aus Altona war dänischer Konsul, Klaus Stegmann gründete mit einem Engländer das Haus Brownell, Stegmann & Co. Die Schiffe verbanden die Fahrt nach dem La Plata mit der nach Brasilien oder umgekehrt, beziehungsweise fuhren sie um die Südspitze des Kontinents nach Chile und Peru, wohin sie auch brasilianischen Zucker und Tabak sowie Matetee brachten. Ein regelmäßiger Schiffsverkehr mit Chiles Haupthafen Valparaiso setzte erst nach der Unabhängigkeitserklärung von 1818 ein. Unter

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den Schiffen ist die bremische Fregatte Mentor bemerkenswert, die den jungen Wilhelm Oswald an Bord hatte, der im Auftrag der Preußischen Seehandlung Tuche und Leinen an die Westküste brachte und dann nach China weiterfuhr. Eine zweite Reise machte Oswald 1827 mit der preußischen Fregatte Prinzess Louise, die verschiedene Häfen in Chile, Peru, Ecuador und Kolumbien anlief. Bei der Trampfahrt wurde auch der ekuatorianische Hafen Guayaquil angelaufen, wo der Hauptausfuhrartikel Kakao war. Die bedeutendste deutsche Firma in Valparaiso war Schütte, Post & Co. Hier wie in Callao war ferner Huth, Grüning & Co vertreten, deren Hauptsitz London war. Man muß die Fahrt entlang der Westküste in Zusammenhang sehen mit den weiteren Pazifik- und Ostasienrouten. Mit der Umrandung des Kaps der Guten Hoffnung deutet sich an, wie sich die Lateinamerikafahrt in einen künftigen weltweiten Schiffsverkehr einzufügen begann. Den Wandel, der mit der Unabhängigkeitsbewegung einsetzte, bekamen neben Saint-Domingue die Jungferninseln am deutlichsten zu spüren. Die Verarmung des Bodens durch die Monokultur des Zuckerrohranbaus und das Arbeiterproblem der Negersklaven sowie die Konkurrenz von Brasilien und Java brachten wirtschaftlichen Rückgang. Nur St. Thomas, dessen Handel 1815 für alle Nationen freigegeben wurde, erlebte noch einmal eine günstige Zeit und lockte Kaufleute wegen seiner zentralen Lage im karibischen Raum an. Unter den anderen Inseln wurde Kuba wichtig, das 1817 für den Handel aller Nationen freigegeben wurde. So finden wir in Havanna Hamburger und Bremer Kaufleute, und 1825 wurde ein preußisches Konsulat errichtet. Vom französisch sprechenden Haiti aus unterstützte der Kaufmann Wüstenfeld Bolivars Unabhängigkeitskampf, und in Port-au-Prince errichtete die Rheinisch-Westindische Kompanie einen Stützpunkt. Mit dem unabhängig gewordenen Mexiko schlössen die Hansestädte als erste einen vollständigen Freundschafts- und Handelsvertrag, der allerdings von Mexiko nicht ratifiziert wurde. Interesse am Handel mit Mexiko zeigte die Rheinisch-Westindische Kompanie. Auch den Bergwerksverein und seine Auswirkungen auf die Handelsbeziehungen muß man berücksichtigen, wenn sich auch rasch zeigte, daß die Spekulationen nicht in Erfüllung gingen. Von den mittelamerikanischen Ländern, die von 1823 an eine Republik bildeten, ist vor allem Guatemala zu bemerken, wo der aus Bremen stammende Carl Friedrich Rudolph Klee ab 1828 ein Unternehmen aufbaute, das bald besonders im Cochenillehandel eine führende Rolle spielen sollte.

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rv. Von etwa 1830 bis etwa 18504 Mit den Verträgen von 1827 wurden die Handelsbeziehungen der Staaten des Deutschen Bundes mit einigen wichtigen Partnern Lateinamerikas auf eine neue Grundlage gestellt. Im Schutz der diplomatischen Vereinbarungen konnten die konsularischen Vertretungen weiter ausgebaut werden. Allerdings blieben nach den ersten Erfolgen weitere Vertragsabschlüsse aus. So kam es nicht zur Ratifikation des hanseatischen Vertrages mit den Vereinigten Staaten von Mexiko, weil diese sich übervorteilt fühlten. Außerdem brach die mexikanische Föderation 1830 auseinander. Erst im November 1841 konnten die Ratifikationsurkunden in London ausgetauscht werden. Ein Vertrag mit Großkolumbien scheiterte daran, daß sich dieses Staatsgebilde im Jahre 1829 auflöste. Von den drei Nachfolgestaaten Venezuela, Neugranada und Ecuador war Venezuela am wichtigsten, mit dem der Charge d'Affaires der Hansestädte 1837 einen Handelsvertrag abschloß, der auf der Grundlage vollkommener Gegenseitigkeit als fortschrittlichstes Abkommen dieser Jahre galt. Im restlichen Südamerika waren die politischen Verhältnisse noch so instabil, daß es vorerst zu keinem Vertragsabschluß kam. In Mittelamerika, wo sich der Staatenbund 1838 bis 1840 in fünf Freistaaten auflöste, brachte Klee 1847 mit dem diktatorischen Regime von Guatemala und im nächsten Jahr mit dem zum größten Teil von bäuerlich-weißer Bevölkerung bewohnten Costa Rica Verträge zustande. Der Austausch der Ratifikationsurkunden verzögerte sich allerdings infolge der Vorgänge des Jahres 1848 in Deutschland. Verträge mit den Republiken Nicaragua, Honduras und San Salvador, die sich zu einer Konföderation zusammengeschlossen hatten, unterblieben vorerst ebenfalls, zumal sich auch hier die Unruhen störend auswirkten. Mit der Republik Haiti, die sich 1822 konstituierte, tauschten Bremen und Lübeck 1828 Erklärungen über die gegenseitige Gleichstellung ihrer Schiffe und Ladungen aus. Hamburg bestellte einen Konsul in Port-au-Prince, dem wichtigsten Hafen. 1844 löste sich der östliche Teil der Insel als Dominikanische Republik los. Neue Unruhen folgten, die vorerst einen vertraglichen Abschluß unmöglich machten. Von allen Überseegebieten übte nach wie vor der südamerikanische Kontinent die stärkste Anziehungskraft aus. Das zeigt am besten das Beispiel der hamburgischen Schiffahrt. Zum Zucker gesellte sich als zweites Produkt der Kaffee. Um 1830 kamen 40 % des von Hamburg importierten Zuckers und 30 % des Kaffees aus Brasilien. Da Großbritannien und Frankreich mit ihrer protektionistischen Politik die Produkte ihrer Kolonien bevorzugten, war Hamburg der wichtigste Abnehmer des brasilianischen Zuckers, wobei Salvador den größten Teil exportierte, vor Rio de Janeiro und Recife. Allerdings zeigt die weitere Entwicklung, daß z.B. 1836 hamburgische Schiffe mit 8.000 t weit weniger Fracht exportierten als britische mit 38.000 t und auch weniger als amerikani-

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Vgl. die in den Literaturhinweisen angeführten, einschlägigen Arbeiten; ferner Kellenbenz 1965, 1973, 1980 und 1987b.

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sehe, portugiesische, französische und sardinische Schiffe. Dabei ist jedoch zu beachten, daß von Brasilien kommende unter ausländischen Flaggen fahrende Schiffe zwei- bis dreimal häufiger Hamburg anliefen als hamburgische Schiffe. Jedenfalls blieb auch in dieser Zeit das Brasiliengeschäft für die Hamburger Kaufleute von überragender Bedeutung, besonders nachdem die Auseinandersetzungen um die Banda Oriental (dem künftigen Uruguay) abgeschlossen und die Fahrt zum Río de la Plata bzw. die Fahrt ums Kap Hoorn damit kombiniert werden konnte. Neben führenden Firmen wie Mohrmann und Wappäus sind dabei die Trampfahrten einiger Hamburger Schiffbaumeister ebenso zu beachten wie die Frachtschiffahrt etwa der Apenrader Firma Jebsen. Überhaupt muß betont werden, daß die Südamerikafahrt rasche Entschlüsse verlangte, die nicht verhindert werden durften durch das zögernde Verhalten einer Reihe von Partnern: Daraus erklärt sich das starke Interesse von Hamburger, Altonaer, aber auch Bremer Kaufleuten an der Alleinreederei. Ihnen stellten sich Schiffer verschiedener Häfen, vor allem aus Apenrade zur Verfügung, die meist über reiche eigene Erfahrungen verfügten. Nicht so erfolgreich wie die Privatreederei waren die Südamerikafahrten der vom Geheimen Finanzrat Rother geleiteten Preußischen Seehandlung, die anfänglich mit dem Bremer Haus Delius zusammenarbeitete. Für sie eigneten sich weder Stettin mit Swinemünde noch Danzig als Basis für den Warenumschlag, u.a. wegen der Schwierigkeiten mit dem Sundzoll. Vielmehr war auch die Seehandlung auf Hamburg als Stützpunkt angewiesen. Die Erfahrung ergab, daß die Schiffe der Seehandlung (die Danzig als größtes mit 690 BRT) für die damaligen Verhältnisse zu groß waren. Die Schiffe lagen zu lange in den Häfen und die Mannschaft war zu kostspielig. Doch kam der Seehandlung das Verdienst zu, der preußischen Flagge den Weg nach Südamerika und nach Mexiko zu bahnen. Trotz großer Risiken segelten alljährlich einige Hamburger Schiffe nach Vera Cruz, dem Haupthafen Mexikos. Dabei wurde die Fahrt mit der zu anderen Häfen in der Karibik kombiniert, so mit Havanna, wo Zucker und Kaffee geladen wurden, während Laguna und Tabasco wegen ihres Holzes, letzteres auch wegen des Kakaos lockten. Allerdings begünstigte Spanien seit den dreißiger Jahren seine eigene Flagge, so daß z.B. 1838 in Hamburg 18 spanische und 21 Hamburger Schiffe ankamen. Auch Matanzas wurde angelaufen, und gelegentlich wurden sogar Zwischenreisen nach Westafrika eingeschaltet. Auf englischer Seite hegte man dabei den Verdacht der Sklavenfahrt, so bei der Echo des Reeders Ballauf, der sich in der Hamburger Börsenhalle öffentlich dagegen wehrte, und der Louise des Kaufmanns Ferdinand Blass. Mit der Sklavenbefreiung auf den benachbarten britischen, französischen, niederländischen und dänischen Inseln und den Sklavenaufständen auf Kuba ging der Zuckerrohranbau zurück. Außerdem erlangte die Rübenzuckerproduktion in Deutschland wachsende Bedeutung. Die spanischen Differentialzölle bewirkten, daß nach 1830 die deutschen Schiffe im Dreiecksverkehr mit Exportgut nach St. Thomas, von da in Ballast nach Puerto Rico und mit Produkten der tropischen Landwirtschaft nach Nordamerika und Europa fuhren, wobei wiederum Ham-

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bürg wegen seiner günstigen Absatzverbindungen ins Hinterland und zum skandinavisch-baltischen Raum am stärksten lockte. In Bremen, das sich zum führenden Auswandererhafen entwickelt hatte, wurden auf der Hinfahrt Auswanderer nach USA (New York) an Bord genommen. La Guaira, der Haupthafen für Caracas, und Puerto Cabello, das 1826 Freihafen wurde, hatten vorerst wenig Anziehungskraft wegen der Nachwirkungen des Unabhängigkeitskrieges und wegen des Fehlens eines Handelsvertrages, aber auch wegen der nordamerikanischen Konkurrenz. Doch scheint A. J. Schön, der sein Geschäft von St. Thomas aus aufbaute und dann nach Hamburg ging, in den vierziger Jahren mit der Venezuelafahrt beträchtliche Gewinne gemacht zu haben.

V. Von etwa 1850 bis 1870/715 In den zwei Jahrzehnten bis zur Gründung des Bismarckreiches wirkten wieder eine Reihe von Faktoren bei der Gestaltung der deutschen Handelsbeziehungen zu Lateinamerika zusammen. Mit der Aufschwungphase des zweiten Wachstumszyklus ab 1852 erfolgte eine sprunghafte Entwicklung des Eisenbahnbaus mit Koppelungseffekten auf Maschinenbau, Eisenindustrie und Kohlenbergbau. Die Krise, die 1856 einsetzte und sich 1857 verschärfte, ließ die internationalen Zusammenhänge verstärkt hervortreten. Zu den Hintergründen gehörten die Goldfunde in Kalifornien ab 1848 und in Australien ab 1851. Eine neue Aufschwungphase setzte ab 1861 ein. Sie wurde durch das weitere Vordringen des Freihandels begünstigt, während der nordamerikanische Bürgerkrieg hemmend wirkte. Weitere Schrumpfungen brachten der deutsch-dänische Krieg von 1864 und der deutsch-österreichische Krieg von 1866 mit sich. Der ab 1868 einsetzende Boom wurde durch die Auswirkungen des deutsch-französischen Krieges weiter angeheizt. Blicken wir von diesem allgemeinen Verlauf auf die Beziehungen zu Lateinamerika, so ist einmal auf die verstärkte Auswanderung zu verweisen, die insbesondere Südbrasilien, den La Plata-Raum und Südchile betraf. Abgesehen von den Transportmöglichkeiten entstand damit in den neuen Siedlungen ein Käuferpotential, das den Export von Industrieprodukten begünstigte. Die Goldfunde in Kalifornien belebten zudem die Fahrt entlang der Westküste des amerikanischen Kontinents bis San Francisco. Die unsicheren Verhältnisse in den einzelnen Staaten Lateinamerikas erschwerten allerdings weitere Vertragsabschlüsse. 1854 kam mit der Republik Neugranada, zu der damals auch Panamá gehörte, ein Vertrag zustande, der vom hanseatischen Ministerpräsidenten Rumpff in Paris abgeschlossen wurde. Bei der Umwandlung in die "Granadische Konföderation" 1858 und in die "Vereinigten Staaten von Kolumbien" 1861 wurde der Vertrag stillschweigend

'Vgl. die in den Literaturhinweisen zum m . und IV. Kapitel aufgeführten Arbeiten; Kellenbenz 1979; Walter 1985; dazu die ältere Literatur, v.a. Rauers 1913; Mathies 1924 sowie die Arbeiten von Schramm, bes. 1963/64.

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als rechtsgültig übernommen. Er galt hinsichtlich seiner Bestimmungen als der beste und günstigste, den die Hansestädte jemals abgeschlossen hatten. Mit Uruguay erreichten die Städte 1861 die Paraphierung eines Vertrages, der aber wegen neuerlicher Unruhen nicht zum Abschluß kam. Großzügiger als die Kaufmannschaft war der Zollverein, der 1856 mit Uruguay, 1857 mit der "Argentinischen Konföderation" und 1860 mit Paraguay Verträge einging. Versuche, mit Peru und Ecuador zu Verträgen zu gelangen, führten zu keinem Ergebnis. Mit Bolivien, das damals noch bis an die pazifische Küste reichte, gab es ebenfalls keinen Vertrag. In Chile waren die fremden Flaggen untereinander gleichgestellt und ab 1851 auch mit der einheimischen Flagge, sofern Gegenseitigkeit gewährleistet war. Deshalb bestand kein Anlaß zu einem Abkommen. Mit Nicaragua schloß der hanseatische Minister Schleiden 1854 in Washington ein Abkommen, das aber wegen der ausbrechenden Unruhen nicht ratifiziert wurde. In der 1844 unabhängig gewordenen Dominikanischen Republik gelang es dem Bremer Konsul Bothe und dem hamburgischen Konsul Sander, die beide in Porto Piata residierten, Verträge für ihre Städte abzuschließen, doch nur der Bremer Konsul erreichte die Ratifikation. Zwar fiel die Dominikanische Republik 1861 an Spanien, aber als sich die Republik erneut loslöste, erlangte der Vertrag seine Rechtsgültigkeit wieder. Ein Vertrag, den der Zollverein 1861 aushandelte, wurde nicht ratifiziert. Während Bremen schon im Zusammenhang mit seiner Rolle als Auswandererhafen den Handel mit den Vereinigten Staaten von Nordamerika und damit das Tabak- und Baumwollgeschäft in den Vordergrund stellte, blieb Hamburg der führende Hafen im Verkehr mit dem karibisch-mittelamerikanischen Raum sowie mit Südamerika. In Mexiko lag der Großhandel in den fünfziger Jahren zwar zu zwei Dritteln in deutschen Händen, aber vertrieben wurden vornehmlich englische und französische Waren, die nicht auf deutschen Schiffen befördert wurden. Immerhin nahmen im Jahr 1857 sechzehn Hamburger Schiffe Kurs auf die mexikanische Küste, wobei man für die Rückfahrt meistens Mahagoni und Farbholz lud. Bei der Rückfahrt von den Antillen nahm man meist tropische Produkte mit, so von Puerto Rico oder Santo Domingo. Der Verkehr mit Venezuela stieg beachtlich an. Die Zahl der nach Hamburg heimkehrenden Schiffe erreichte 1856 nicht weniger als 26. Dabei sind die Aktivitäten von A. J. Schön hervorzuheben. Die kolumbianischen Häfen interessierten dagegen nur wenig. In der Brasilienfahrt verstärkte sich der Anteil des Kaffees (Santos); Tabak, Gummi und Häute kamen hinzu. Die Hoffnung auf den Transport von Auswanderern nach Südbrasilien regte 1852 zur Gründung der Hamburg-Brasilianischen Paketschiffahrts-Gesellschaft an, und die Firma Sloman unternahm 1867/69, als man fast 8000 Auswanderer nach Dona Francisca zählte, vierzehn Reisen dorthin. Wegen der unzureichenden Exportfracht wurde die Brasilienfahrt bevorzugt mit der Trampschiffahrt kombiniert. Dabei wurden besonders die Atlantikhäfen

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von der Karibik bis Westafrika einbezogen, und nicht wenige Schiffer drangen über die südlichen Kaps von Afrika und Amerika hinaus. Hier interessiert besonders die Kombination mit dem La Plata und der Westküste Amerikas. Schiffe brachten Auswanderer nach Süd-Chile, wo Valdivia und Puerto Montt angelaufen wurden; Rückfracht übernahm man in den Kupferhäfen Caldera, Coquimbo und Huasco und ergänzte sie im chilenischen Haupthafen Valparaiso. Mit dem Export von Salpeter und Guano vornehmlich der peruanischen Chincha-Inseln wurden auch die Häfen Iquique, Pisagua und Arica sowie Callao einbezogen. Der Goldboom lockte Auswanderer nach dem aufblühenden San Francisco, und so segelten 1850 sechzehn Schiffe von Hamburg nach Kalifornien. Mit der nachlassenden Ausbeute wurde man wieder zurückhaltender, zumal 1855 eine Eisenbahn von Aspinwall (Colón) nach Panamá eröffnet wurde. Mangel an Rückfracht trat hinzu; immerhin bestand die Möglichkeit, im mexikanischen Mazatlán, in verschiedenen zentralamerikanischen Häfen und im ekuatorianischen Guayaquil tropische Hölzer und Silber an Bord zu nehmen; San José (Guatemala) und Puntarenas (Costa Rica) boten Kaffee und Guayaquil billigen Kakao.

VI. Zusammenfassung Wenn wir die Ergebnisse unseres Überblicks zusammenfassen, so fallt zunächst auf, wie sehr sich die Träger der Handelsbeziehungen in den späteren Phasen unseres Zeitabschnitts von denen in den Jahrzehnten unmittelbar nach den Entdeckungen unterscheiden. Anfangs konnten sich die Oberdeutschen dank ihrer beherrschenden Position im internationalen Warenhandel und in der Hochfinanz und dank ihres Einflusses an den Höfen von Kastilien und Portugal Zugang zum Handel mit den spanischen "Indias" und dem portugiesisch beherrschten Brasilien verschaffen. Mit der zunehmenden Gewichtsverlagerung des Welthandels zur atlantischen Seite gelang es seit dem niederländischen Unabhängigkeitskrieg den Schiffern und Kaufleuten der als neutral geltenden deutschen Handelsplätze an der Nord- und Ostseeküste, meist über die spanischen und portugiesischen Häfen in den Lateinamerikahandel einzudringen. Dabei verstand es Hamburg dank seiner großzügigen Fremdenpolitik am besten, die Chancen zu nutzen, die sich trotz der monopolistischen Maßnahmen der iberischen Mächte boten. Bevorzugt wurden die Häfen Brasiliens und der karibischen Welt. Mit der Liberalisierung im Laufe des 18. Jahrhunderts und verstärkt seit der Unabhängigkeitsbewegung verdichteten sich die Kontakte. Die unabhängig gewordenen Staaten brauchten den Warenaustausch mit neuen Handelspartnern; vor allem hatten sie Bedarf an Kriegsmaterial, um ihren Kampf weiter zu führen und suchten neue Absatzmärkte für ihre meist tropischen Produkte. Andererseits waren die Deutschen bestrebt, für ihre infolge der Industrialisierung sich steigernde Produktion an Manufakturen weitere überseeische Kunden zu gewinnen. Solange die Staaten des Deutschen Bundes als Erben des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation der von der Heiligen Allianz bestimmten Nichtanerkennungspolitik folgten, lag die Initiative weitge-

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hend bei einzelnen Kaufleuten und Schiffern. Nachdem 1827 erste Handelsverträge zustandegekommen waren, blieben die weiteren Bemühungen der einzelnen Bundesstaaten um Vertragsabschlüsse wegen der unruhigen politischen Verhältnisse in den verschiedenen Gebieten Lateinamerikas von geringem Erfolg, so daß es auch weiterhin im wesentlichen der Einsatzbereitschaft von Kaufleuten und Schiffern und den daraus erwachsenen konsularischen Vertretungen zu verdanken war, daß der Handel gedieh. Die südamerikanische Ostküste und der karibische Raum blieben nach wie vor am meisten besucht. Wenn demgegenüber die Häfen der Westküste wesentlich geringeren Anteil am Warenaustausch hatten, so brachten doch, abgesehen vom Goldrausch in Kalifornien, die Guano- und Salpeterfahrt sowie die deutsche Auswanderung nach Südchile neue Impulse. Im Rahmen des Wachstums des deutschen Außenhandels bis zur Gründung des Bismarkschen Reiches nahm der Lateinamerikahandel freilich immer einen bescheidenen Platz ein. Deutschlands Anteil am gesamten Welthandel lag zwischen 1800 und 1870 bei 10 % und zeitweilig darunter, und davon entfiel auf den Warenaustausch mit Lateinamerika nur ein bescheidener Prozentsatz. Doch verbirgt sich dahinter die Leistung und das Schicksal von Menschen, deren Zahl allerdings schwer zu fassen ist. Gegenüber dem 18. Jahrhundert bedeutete der Aufbau direkter Verbindungen mit den Märkten in Übersee und in unserem Fall mit Lateinamerika einen beachtlichen Gewinn. Der Transatlantikhandel bot ein Feld der Schulung, auf dem die weiteren Generationen sich verstärkt einsetzen konnten. Freilich übernahmen die Kaufleute, die in Lateinamerika tätig wurden, mit ein Stück jener Verantwortung, die die Kolonialmächte seit dem Einsetzen der überseeischen Expansion belastete und über die heute im Zusammenhang mit der Dependencia-Diskussion so viel gesprochen wird. Gewiß waren die deutschen Kaufleute mit daran beteiligt, daß Lateinamerika mit Industrieerzeugnissen überschwemmt wurde und damit der Auf- und Ausbau eigener Industrien weitgehend verhindert oder verzögert wurde; andererseits dürfen die mannigfachen Hindernisse, die in Lateinamerika einer Industrialisierung im Wege standen, nicht übersehen werden. Auch ist zu beachten, daß der aufblühende deutsche Außenhandel dazu beitrug, die angesichts der demographischen Entwicklung sich verschärfende "soziale Frage" in der Heimat selbst vor Einsetzen der verstärkten Industrialisierung zu mildern.

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Deutschland und Lateinamerika im Zeitalter des Imperialismus 1871-1914 Walther L. Bernecker und Thomas Fischer

1. Zur Fragestellung In der jüngeren historischen Imperialismusforschung hat sich die Ansicht durchgesetzt, daß unter Imperialismus diejenige direkte-formelle und indirekte-informelle Herrschaft [verstanden] wird, welche die okzidentalen Industriestaaten unter dem Druck der Industrialisierung mit ihren spezifischen ökonomischen, sozialen und politischen Problemen und dank ihrer vielseitigen Überlegenheit über die weniger entwickelten Regionen der Erde ausgebreitet haben (Wehler 1969, 23). In bezug auf Lateinamerika findet vor allem das Konzept des "informellen Imperialismus" Anwendung. Darunter versteht man die Ausweitung des Einflußbereiches der nordatlantischen Staaten kraft ihrer wirtschaftlichen und technologischen Überlegenheit zum Zwecke des Absatzes von industriellen Fertiggütern, zur Ausbeutung von Rohstoffen oder zur Ausnutzung von Kapitalinvestitionschancen (vgl. Forbes 1978). Ronald Robinson und John Gallagher brachten am Beispiel des frühviktorianischen Handelsimperialismus in Afrika die Frage, ob zur Kontrolle der Handelsbeziehungen je nach lokalen Bedingungen formell oder informell interveniert wurde, auf die Formel: "Trade with informal control if possible; trade with rule when necessary."1 Allerdings ist eine für empirische Studien fruchtbare Konzeptualisierung dieses Imperialismusbegriffs in der historischen Forschung nur ansatzweise erfolgt. Die Urteile über die Beziehungen europäischer Staaten mit Lateinamerika durch Handelsverträge, über die Ausweitung des Großhandels, das Eindringen des Kapitals mit dem Ziel der Übernahme bestimmter wirtschaftlicher Sektoren und den Aufbau einer für den Abtransport bzw. die Anlieferung von Waren günstigen Infrastruktur, die Gewinnung und Stützung stabiler Regierungen, die diplomatische Druckausübung sowie die Intervention von Großmächten als letztem Mittel zur Sicherung und zum Ausbau des erreichten Einflusses fallen in der Literatur ganz unterschiedlich aus. Während etwa Desmond C. M. Platt die Interpretation kategorisch ablehnt, derzufolge Lateinamerika im 19. Jahrhundert in einseitige Abhängigkeit von Europa, besonders von England, geraten sei — sein Argument lautet, diese Abhängigkeitsverhältnisse seien in der internationalen Politik niemals von zentraler Bedeutung

'Robinson/Gallagher 19S3, 13. Zusammenfassung der Diskussion bei Luis 1976.

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gewesen ("equality was all of treatment that was asked") — diagnostizieren Vertreter des Dependenz-Ansatzes die Unterwerfung der "Peripherie" durch die europäische und später die US-amerikanische Überlegenheit. 2 Versucht man nun, den Begriff des "informellen Imperialismus" auf die Beziehungen des Deutschen Kaiserreiches zu Lateinamerika anzuwenden, so stellt sich die Frage, welcher Art diese Beziehungen im Übergang vom Freihandels- zum Hochimperialismus (zwischen 1871 und dem Ersten Weltkrieg) waren. Gab es bestimmte (politische, wirtschaftliche...) Strategien des Deutschen Reiches und — falls es sie gab — welcher Art waren ihre Wirkungen? Wie gestaltete sich das Verhältnis zwischen Wirtschaft und Politik? War es so, wie Jürgen Hell am Beispiel der deutschen Politik gegenüber Brasilien nachzuweisen versucht, daß das "zu kurz gekommene" Deutsche Reich vor 1914 "kolonialpolitische Intentionen" auf bestimmte brasilianische Territorien hegte und "weder konzeptions- noch tatenlos war"? (Hell 1980, 83; vgl. Hell 1966) An allen Formen der Expansion waren in der imperialistischen Epoche jeweils, ob direkt oder indirekt, drängend oder abwartend, sowohl das Finanzkapital wie auch die Machtinstitutionen beteiligt. Bei der Durchsetzung der Hegemonie wirkten die politischen Institutionen als treibende Kräfte. Dagegen rief bei der Einforderung der Schulden, bei der Verhinderung des Profitrisikos, bei der Sicherung wichtiger Rohstofflager oder Absatzmärkte, bei der Torpedierung der Zollmauern das Finanzkapital nach diplomatischen und handelspolitischen Pressionen. (Hell 1980, 108) Oder war die deutsche Politik — wie Gerhard Brunn ebenfalls am Beispiel Brasiliens zu zeigen versucht — "eine Weltpolitik ohne Weltkenntnis", ebenso "schwankend wie konzeptionslos", die nicht zu Taten überging? Von sich aus wollten die amtlichen Stellen nicht eine umfassende wirtschaftliche Machtpolitik betreiben, Wirtschaftsinteressen koordinieren und ihnen im Rahmen gesamtstaatlicher Aktionen Aufgaben zuweisen, wie es etwa in den dreißiger Jahren geschah. Man wartete auf privates Engagement, um sich dann bei Aktionen auf Interesse zu berufen und unter Umständen Pressionen auszuüben [...]. Deutsche Wirtschaftspolitik in Brasilien beschränkte sich so aus Mangel an eigener Initiative und fehlenden Gelegenheiten im wesentlichen auf reiches — nicht einmal sehr wertvolles — Auskunftswesen und gelegentliche amtliche Hilfe, die insbesondere der Waffenindustrie zugute kam. (Brunn 1971, 285)

2 In bezug auf die Rolle englischer Kaufleute, Bankiers und Financiers in Lateinamerika vgl. Platt 1968, 309-352; eine kritische Bewertung der dem dependenztheoretischen Ansatz verpflichteten Studien unternimmt Puhle 1976. Eine "revisionistische" Position zwischen Autonomie- und Dependenz-Ansatz vertritt Bernecker 1988a.

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Die eben aufgezeigten Positionen lassen deutlich werden, daß das Interpretationsspektrum der deutschen "Politik" gegenüber Lateinamerika im Zeitalter des Imperialismus ausgesprochen breit ist. Die folgenden Ausführungen unternehmen es, diese Politik zu analysieren; insbesondere gehen sie der Frage nach, wie und mit welchem Erfolg die "Penetration" Lateinamerikas durch Deutschland erfolgte und ob diese "Penetration" Ergebnis einer bestimmten Offensivstrategie war. Dabei konzentrieren sich die Ausführungen auf diejenigen Aspekte, die in der bisherigen Forschung verstärkte Aufmerksamkeit gefunden haben: Eingangs geht es um die Handelsbeziehungen und die Rolle des deutschen Finanzkapitals; sodann werden die Waffenexporte und die Funktion der Militärinstrukteure untersucht; ein dritter Absatz widmet sich der (für beide Seiten wichtigen) Auswanderungsproblematik; der vierte Themenkomplex kreist um die gegen Ende des Jahrhunderts zunehmende Rivalität der Großmächte USA und Deutschland, wobei Lateinamerika zu einem zentralen Konfliktherd der deutsch-amerikanischen Beziehungen wurde. Das Schlußkapitel faßt die Ergebnisse zusammen.

2. Handel und Finanzen Bis in die 1870er Jahre gestalteten sich die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und Lateinamerika primär nach den Handels- und Schiffahrtsinteressen der Hansestädte Hamburg und Bremen sowie nach den Exportbedürfnissen der preußischen Industrie. Auch der Aufbau des Konsulatsnetzes und des Handelsvertragssystems hingen eng mit diesen Interessen zusammen.3 Seit der Gründung des Reiches (1871) wurde der merkantile Verkehr außerdem vermehrt mit Kapitalunterstützung verknüpft. Dazu traten in den lateinamerikanischen Hafenstädten neben die traditionellen Kaufleute zusehends Reeder, Bankiers und Unternehmer, über welche die Außenhandelsbeziehungen abgewickelt wurden. Das Reich leistete durch den Ausbau der diplomatischen und konsularischen Dienste politische Unterstützung. Die Jahre nach 1871, die sog. Gründerzeit, bedeuteten für Deutschland den Durchbruch zu einem der größten Industriestaaten der Welt. 1871-1914 wuchs der deutsche Außenhandel um das Vierfache, Frankreich wurde überholt, der Vorsprung Englands verringerte sich (vgl. Borchardt 1985, 169, 173f., 177-184; Fischer 1985, 410). Die Fortschritte Deutschlands zeigten sich auch in der Exportstatistik: 1910 bestanden die deutschen Exporte zu 74 % aus Industriegütern, zu 16 % aus Rohstoffen und zu 10 % aus Nahrangsmitteln.4 Auch die Ausfuhr nach Lateinamerika erfuhr nach der Reichsgründung eintscheidende Modifikationen. Allein nach Südamerika verdreifachte sich zwischen 1873 und 1889, der offiziellen Reichs-

3 Vgl. Banko 1988; Kossok 1964; Dane 1971; Katz 1964; Schoonhover 1977; Schoonhover 1988; Kellenbenz 1988; Walter 1983; Bernecker 1988b; Arts 1991; Pietschmann 1994. 4 Vgl. Born 1986, 73; Fischer 1985 , 410ff.; Borchardt 1985, 85f.; Hoffmann 1965, 530ff.

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statistik zufolge, der Handelsgüterstrom.5 Zwischen 1890 und 1895 wurden sodann kaum Fortschritte erzielt, wenn auch der Trend leicht aufwärts zeigte. Bis 1902 folgte eine Phase der Stagnation, und nach 1902 war (bis 1914) ein Wachstum der jährlichen Exporte um insgesamt 259 % — von 215,5 Mill. auf 772,8 Mill. Mark — zu registrieren. 1906/07 erfolgte ein starker Einbruch (vgl. Fiebig-von Hase 1986, 143). Im Gegensatz zu den 1880er Jahren konnte während der konjunkturellen Wirtschaftseinbrüche von 1890 bis 1894 sowie 1900 bis 1902 der Außenhandel mit Lateinamerika nicht erweitert werden; "antizyklische Effekte" blieben in diesen Phasen somit weitgehend aus, wenngleich sie von "sozialimperialistisch" motivierten Politikern und Wirtschaftsvertretern angestrebt gewesen sein mögen.6 Der deutsche Handel mit Eisenwaren, Maschinen, Instrumenten und Baumwollwaren nach Lateinamerika stellte sich aber ungleich besser als deijenige Frankreichs, Englands und der USA. Lateinamerika wurde zwischen 1890 und 1914 zu einem volkswirtschaftlich bedeutsamen Abnehmer: In diesem Zeitraum stieg sein Anteil an der deutschen Gesamtausfuhr von 5,1 auf 7,7 % (Fiebigvon Hase 1986, 140f.). Im Vergleich mit den Konkurrenten Großbritannien und USA verschoben sich die prozentualen Anteile am Import der einzelnen Länder Lateinamerikas erheblich zugunsten Deutschlands, wenn auch England und die USA insgesamt weiterhin einen Vorsprung behielten. Daß England in dieser Zeit an Terrain einbüßte, lag daran, daß es dem Faktor Kapital beim Export ungleich mehr Beachtung als der Warenausfuhr schenkte, während in Deutschland das "Tempo der inneren Akkumulation" höher lag (Hell 1980, 88; Hoffman 1933, 191-197), somit mehr Kapital in die eigene, durch protektionistische Maßnahmen geschützte Industrie investiert wurde. Die Hauptzielländer des deutschen Exports lagen eindeutig in Südamerika; es waren die sog. ABC-Staaten Argentinien, Brasilien und Chile. Allerdings verfügte Deutschland auch in einigen anderen Staaten wie Venezuela und Mexiko, die insgesamt jedoch nicht sehr ins Gewicht fielen, über eine verhältnismäßig starke Position. In allen Ländern lag Deutschland zwar hinter Großbritannien, näherte sich aber der Inselmacht kontinuierlich (Papendieck o. J., 2850). Brasilien, das stets einen beachtlichen Teil deutscher Waren aufgenommen hatte, fiel nach 1898 als Aufnahmeland deutscher Exportwaren quantitativ hinter Argentinien zurück und stagnierte bis 1908 nahezu; aber seit 1909 ließ auch die Fähigkeit Argentiniens zur Aufnahme deutscher Waren nach.

s D a s Zahlenmaterial ist allerdings unzuverlässig. Verläßliche Zahlen liegen erst für die Zeit seit Ende der achtziger Jahre vor. Vgl. Forbes 1978, 291. *Zu den soziopolitischen Zusammenhängen der Großen Depression s. Rosenberg 1967. Zur Theorie des Sozialimperialismus s. Wehler 1969; Wehler 1970.

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376

Die Aufschlüsselung der Exporte nach Warenkategorien zeigt, daß sich die Ausfuhr einzelner Artikel ungleichmäßig entwickelte, was vor allem auf den wachsenden Investitionsgüterbedarf der ABC-Staaten zurückzuführen war. Signifikant ist die Verdreifachung des Exports von Eisenwaren, Maschinen und Metall waren zwischen 1890 und 1905, die nun fast ein Drittel der Gesamtausfuhr ausmachten. Die Zunahme von Stahl-, Eisen-, Maschinen-, Werkzeug- und Zementexporten deutet auf Modernisierungsanstrengungen (Transport, Energie, Industrie) in den verschiedenen lateinamerikanischen Ländern hin. So nahm die Ausfuhr von Eisenwaren (Eisenbahnschienen, verzinkter Draht, Herde usw.) nach Brasilien zwischen 1889 und 1913 um 654% zu. Der Export von Elektroartikeln (elektrische Maschinen, Glühlampen, Beleuchtungsanlagen, Kabel) stieg allein zwischen 1906 und 1913 um 356 %. Der Zementexport nahm zwischen 1889 und 1913 um das 20fache zu, während Maschinen (Dampflokomotiven, Nähmaschinen, Metall- und Holzverarbeitungsmaschinen) bis 1912 den 18fachen Wert erreichten (da Guia Santos 1984, 139-157). Symptomatisch für die gesteigerte Bedeutung von Investitionsgütern im Vergleich zu Konsumgütern ist die Tatsache, daß im Untersuchungszeitraum die Ausfuhr von Textilien und Kurzwaren nach Lateinamerika in absoluten Zahlen zwar weiter zunahm, deren Anteil am deutschen Gesamtexport nach Lateinamerika aber von 50,1 % auf 40,2 % sank. Die Exporte aus den lateinamerikanischen Staaten nach Deutschland waren — ausgenommen Mexiko — ungleich größer als die deutschen Exporte nach Lateinamerika. Die Handelsbilanz war für Deutschland demnach stark negativ, wenngleich sie sich zunehmend positiver für das Reich entwickelte: Belief sich die deutsche Einfuhr aus Lateinamerika 1890 auf nur 363 Millionen Mark, so war sie bis 1914 auf 1,219 Milliarden Mark angestiegen. In Prozentzahlen bedeutet das, daß 1890 8,4 % und 1914 11,3 % der Gesamteinfuhr Deutschlands aus Lateinamerika — davon 7,0 bzw. 10,2 % aus Südamerika — nach Deutschland kamen.7

7

Fiebig-von Hase 1986, 141f.; die Zahlen zu Mexiko s. Katz 1964, 138.

377

Tab. 2 Struktur der deutschen Importe aus Argentinien, Brasilien und Chile, 1890, 1900 und 1910 in Mill. Mark 1890 Mill. M Argentinien gesamt: davon: Wolle

Brasilien gesamt: davon: Kaffee

1900

%

75.2

Mill. M

1910

%

234.5

Mill. M

%

357.2

53,8 4,2 12,2

71,6 5,5 16,2

91,4 85,1 37,0

39,0 36,3 15,8

98,6 78.5 59.6

27.6 22,0 16.7

70,2

93,3

213,5

81,1

226,7

66,3

137.7

115,5

278,9

98,2 2,3 18,0

71,3 2,3 13,1

73,5 3,4 15,3

63,6 2,9 13,2

131,4 88,2 8.7

47,1 31,6 3,1

118,5

86,7

92,2

79,7

228,3

81,3

Chile gesamt:

61.4

davon: Chilesalpeter

51,1

89.3

83,1

77,4

154,6

86,7

133,3

86,2

Quelle: Fiebig-von Hase 1986, 148. Betrachtet man die von Lateinamerika nach Deutschland exportierten Waren, so ergibt sich ein grundsätzlich anderes Bild als beim Warenverkehr in der entgegengesetzten Richtung. Während rund 80% der deutschen Exporte nach Lateinamerika Fertigprodukte waren — die Zahlen gelten für das Jahr 1912 —, bestanden die deutschen Importe aus Lateinamerika zu 59,8 % aus Rohstoffen und zu 38,3 % aus Nahrungsmitteln, jedoch kaum aus Fertigprodukten.8 Im Unterschied zur dynamischen, viele technologisch hochstehende Produkte anbietenden Industrie Deutschlands hing der außenwirtschaftliche Erfolg lateinamerikanischer Staaten somit von der Spezialisierung — und damit von Preisschwan-

•Fiebig-von Hase 1986, 145. Die Werte für Brasilien s. da Guia Santos 1984, 88-133.

378

kungen und Ernteergebnissen — auf einzelne Agrar- oder Bergbauprodukte ab.9 Als Vorposten deutscher Exportinteressen und als Scharnier von Import und Export fungierten in Lateinamerika traditionellerweise die zumeist hanseatischen Handelshäuser. 1905 wurden allein in Brasilien ISO große, im engeren Bezirk Buenos Aires 500 kleinere und größere Handelshäuser gezählt. In Chile wurden 170 bis 180, in Paraguay 8, in Mexiko ca. 60, in Nicaragua 15, in Costa Rica 4, in El Salvador 12, in der Dominikanischen Republik 14, in Puerto Rico 4 zumeist größere Handelsfirmen registriert. In Kolumbien kontrollierten etwa 50 deutsche Niederlassungen, ebenso wie in Venezuela, einen Großteil des Import-/ Exporthandels10. Fragt man danach, worauf diese starke Position der deutschen Handelshäuser beruhte, so kann man zuerst auf die Stellungnahmen zeitgenössischer ausländischer und deutscher Berichterstatter verweisen. Sie erwähnten die niedrigen Preise deutscher Waren, die Verbindungen ins Landesinnere, die Gewährung langfristiger Kredite, die Solidität der Verkäufer, die sorgfaltige, dem Geschmack und den Sitten der Käufer angepaßte Auswahl und Aufmachung der Sortimente, schließlich die Unterstützung durch deutsche Banken, Schiffahrtsunternehmungen und politische Behörden." Noch weitere Faktoren waren von Bedeutung: Hatte es lange Zeit als kaufmännische Räson gegolten, ein möglichst breites Sortiment anzubieten, so gingen seit Ende der 1880er Jahre die größeren Import-/Exporthäuser zu einer Spezialisierung auf einzelne Produkte über, was ihnen nicht selten Monopolstellungen eintrug (vgl. Baud 1988, 86, 93-103). Dadurch wurde die Beeinflussung der Preisbildung und der Zollsätze erleichtert. Außerdem investierten sie vermehrt in Plantagen und Bergwerke, was mitunter zur Ausschaltung des einheimischen Zwischenhandels führte. Weniger häufig waren Investitionen in die Fertigindustrie. Nicht selten übernahmen sie darüber hinaus als Versicherer und Kreditgeber Bankfunktionen und kontrollierten ganze Schiffahrtsgesellschaften. Als Geldgeber vieler lateinamerikanischer Staaten finanzierten und vermittelten sie Investitionen in die Infrastruktur (Eisenbahnbau, Hafenanlagen, Elektrifizierung) und die militärische Aufrüstung; gute Beziehungen zur europäischen Industrie und Hochfinanz, zu Konsulen und Diplomaten, zu einheimischen Politikern und Behördenmitgliedern waren dabei unentbehrlich. Ihre

®Vgl. die von Furtado (1970, 32ff.) gemachte Unterscheidung lateinamerikanischer Exportwirtschaften in: 1. Agrarexportstaaten der gemäßigten Zone (Argentinien, Uruguay), die Getreide, Fleisch und Wolle exportierten und hohe Wachstumsraten erzielten; 2. Tropische Agrarexporteure (Brasilien, Kolumbien, Zentralamerika, Karibik, Venezuela), die Kaffee, Kakao, Zucker, Tabak oder Kautschuk exportierten; 3. Mineral- und Erzexporteure (Chile, Peru, Bolivien, Mexiko). l0 Vgl. Die Entwicklung... 1905, 160-171; van der Borght 1919, 81-95. "Forbes 1978, 391; Hoffman 1965, 18-21; Kannapin 1968, 56; Katz 1964, 59f.; Brunn 1971, 242-248.

379

Stellungnahme bestimmte die Haltung des Deutschen Reiches mit, wenn Zinszahlungen von Seiten der lateinamerikanischen Staaten ausblieben, Einfuhrzölle verändert wurden oder soziopolitische Auseinandersetzungen das innere Gesellschaftsgefüge erschütterten. Ein Beispiel eines der wohl bekanntesten Import-/Exporthäuser in Lateinamerika war die in Brasilien wirkende Firma Theodor Wille, die zwischen 1900 und 1912 17% der gesamten brasilianischen Kaffee-Ernte vertrieb, die z. T. von eigenen Plantagen stammte. Wille importierte einen Großteil der in Brasilien benötigten Eisenwaren und Maschinen, investierte 1899/1900 erhebliche Summen in den Bau von durch Siemens & Halske errichteten Elektrizitätswerken im Staat Säo Paulo, war Generalvertreter bedeutender Schiffahrtsgesellschaften (v.a. im Küstenverkehr) und figurierte als Gläubiger des Staates (vgl. Brunn 1971, 245; da Guia Santos 1984, 76, 149). Verglichen mit der britischen Praxis waren die deutschen Investitionsanstrengungen zweifellos gering.12 Der verhältnismäßig geringe Kapitalexport von Deutschland nach Lateinamerika sollte jedoch nicht dazu führen, dessen Rolle zu unterschätzen. 1905 waren, den Quellen des Reichsmarine-Amtes zufolge, in Übersee zwischen 8 und 9,2 Milliarden Mark investiert, wovon ca. ein Drittel in Lateinamerika angelegt war. Der Hauptteil entfiel auf den Handels* und Bankensektor.13 Diese Zahlen sind im Zusammenhang mit der Umstrukturierung des Lateinamerikahandels zu sehen, der nicht nur eine Neuorientierung des Handelskapitals brachte, sondern auch kapitalkräftige Finanzinstrumente förderte. Waren der Geldverkehr und das Kreditgeschäft bis dahin fast ausschließlich in Händen englischer und französischer Banken, so wurden nun deutsche Schiffahrtsgesellschaften, Banken und Versicherungen vermehrt in Lateinamerika tätig.14 Hohe Erwartungen an die Rendite sowie die Möglichkeit, einen Teil des Risikos "diplomatisch" abzusichern, erklären ihr zunehmendes Interesse am Lateinamerikageschäft. Hinzu kamen fehlende Anlagemöglichkeiten während der "Großen Depression"; auch die Schwerindustrie litt unter mangelnder Auftragslage. Da die Kreditgeber in Lateinamerika nicht als Bittsteller auftraten, eröffnete sich ihren Agenten stets eine starke Verhandlungsposition. Bis zur Jahrhundertwende entstand ein beachtliches Bankennetz in Lateinamerika. Die Deutsche Bank beteiligte sich 1874 an der Deutsch-Belgischen La PlataBank (bis zu deren Liquidierung) mit Niederlassungen in Montevideo und Buenos Aires, die Norddeutsche Bank in Hamburg an der 1873 gegründeten Brasilianischen Bank, 1886 ander Deutschen Überseebank, die Niederlassungen in Argentinien, Chile, Mexiko, Peru, Bolivien, Uruguay und Brasilien unter-

"Einen Überlick gibt Rippy 1948. Zu den englischen Investitionen s. Platt 1968, 308352. "Vgl. Die Entwicklung... 1905, 173ff.; Fiebig-von Hase 1986, 105f. l4 Young 1992; Katz 1964, 9 7 f „ 114f.; Schoonhover 1988, 43-52.

380

hielt. 1887 wurde von der Norddeutschen Bank zusammen mit der DiskontoGesellschaft (Berlin) die Brasilianische Bank für Deutschland mit Filialen in Säo Paulo, Santos und Bahia, 1896 die Bank für Chile und Deutschland gegründet. In Mexiko hatten sich 1899 S. Bleichröder (Berlin), die Deutsche Bank und J.P. Morgan & Co. (New York) zur Errichtung des Banco Central Mexicano zusammengeschlossen. Die Dresdner Bank beteiligte sich, zusammen mit dem A. Schaffhausischen Bankverein und der Nationalbank für Deutschland, an der 1906 gegründeten Deutsch-Südamerikanischen Bank (Berlin), die Filialen in Hamburg, Buenos Aires, México, Rio de Janeiro, Valparaiso und Santiago de Chile unterhielt (vgl. Jacob-Wendler 1982, 51-53; Young 1992, 33-40). Ein Charakteristikum dieser Bankhäuser bestand darin, daß sie sehr vorsichtig agierten, kaum Risiken eingingen und sich wenig auf spekulative Geschäfte einließen. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges erwirtschafteten die deutschen Banken in Lateinamerika kontinuierlich Gewinne (vgl. Young 1992, 44). Der wesentliche Unterschied zum französischen und englischen Finanzkapital bestand darin, daß es nicht ausschließlich dazu diente, eine möglichst hohe Rendite zu erwirtschaften, sondern — nicht selten durch das Auswärtige Amt, das durch Ausdehnung des Handels und durch Investitionen den deutschen Einfluß vergrößern wollte, ermuntert — die deutsche Wirtschaft durch Investitionen in teure, technologisch anspruchsvolle Großprojekte unterstützte.15 So wurde das Rohmaterial für den ausschließlich von der Diskonto-Bank und der Norddeutschen Bank finanzierten Venezuela-Eisenbahn von 1889-94 von der deutschen Industrie geliefert.16 Ein Beispiel, wie das Auswärtige Amt und die Reichsleitung unter Verweis auf die Sicherung wirtschaftlicher Interessen gegenüber den USA die deutsche Hochfinanz (Deutsche Bank, Dresdner Bank) zu einem Engagement förmlich drängten, war der Bau der Santa-CatarinaEisenbahn von 1907-09, die das Kolonisationsgebiet der hanseatischen Gesellschaft in Brasilien erschließen sollte (vgl. Hell 1980, 89-92). Bestand die Unterstützung deutscher Banken durch das Auswärtige Amt zunächst in der Förderung der Profitmöglichkeiten, so intervenierte die Berliner Zentrale seit der Jahrhundertwende (vor allem seit 1905) häufiger. Young weist allerdings darauf hin, daß sich die Bankiers nicht zu rein politischen Zwecken instrumentalisieren ließen, sondern auf die Aufforderungen aus dem Auswärtigen Amt nur bei zu erwartenden finanziellen Vorteilen eingingen (vgl. Young 1992, 5565). Symptomatisch für das Vorgehen der deutschen Großindustrie bei der Errichtung von Direktbeziehungen zu Lateinamerika mit Unterstützung des neu

"Forbes 1978, 394; Fiebig-von Hase 1986, 116; Katz 1964, lOOf.; Luna 1988,197-205. Young betont darüber hinaus die Rolle in der Finanzierung des Import-/Exporthandels durch Bereitstellung kurzlaufender Kredite. In Staaten mit großem Wirtschaftswachstum seien die merchant bankers durch Großbanken nach und nach abgelöst worden. Vgl. Young 1992,40f. '«Herwig 1986, 33-46; Fiebig-von Hase 1986, 120-140. Walter 1991, 85-94.

381

aufgebauten Bankennetzes ist die Tätigkeit der hochkonzentrierten Elektroindustrie, welche dank der verstärkten Anwendung der Starkstromtechnik seit 1895 einen steilen Aufstieg erlebte. Deutschland war in dieser Branche mit 46 % der Weltausfuhr vor England mit 22 % und den USA mit 16 % führend (JacobWendler 1982, 11). Gewissermaßen "typisch" für die Großunternehmungen Siemens und AEG war es, daß sie sich vom institutionalisierten Handel ablösten und sich (wie Siemens) dem Aufbau von Niederlassungen ("technische Büros"), die in Kontakt mit den Exportbüros in Berlin standen, oder dem sog. Unternehmergeschäft (AEG) widmeten. Letzteres bezweckte die Vorfinanzierung der zu erstellenden Werke, was häufig durch eigene Finanzierungsgesellschaften geschah. Man produzierte nicht nach Bedürfnis, sondern gewissermaßen "auf Vorrat": Die Unternehmen gingen dabei meist nach folgender Methode vor: Sie besorgten sich eine Konzession für die Errichtung eines Elektrizitätswerks, gründeten eine Betriebsgesellschaft, auf die sie diese Konzession übertrugen, und vergaben den Bauauftrag durch die Betriebsgesellschaften an sich selbst. Bei Pferdebahnen erwarben sie die Aktienmajorität der bestehenden Gesellschaft und beschlossen dann die Elektrifizierung unter Ausgabe neuer Aktien, die sie selbst übernehmen mußten. Das Problem dabei war, daß die kapitalintensiven Elektrizitätswerke und Straßenbahnen zuerst einmal langfristig vorfinanziert werden mußten, bis eine bestimmte Rentabilität des Betriebes nachgewiesen und die Aktien und Obligationen dann zu einem günstigen Kurs am Kapitalmarkt plaziert werden konnten. (Young 1992, 25) Der Erfolg der deutschen Elektroindustrie in Lateinamerika beruhte demnach nicht nur auf dem erwünschten Produkt Elektrizität, sondern auch auf der Sicherung der Kapitalunterstützung, der weitgehenden Kontrolle der Absatzkette und den Beziehungen zu lokalen Behörden. An diesem konkreten Beispiel läßt sich aufzeigen, wie das Zusammenwirken von deutschem Handels- und Finanzkapital zum Nutzen der Händler, Banken und Industriellen erfolgte.

3. Waffenexport und Militärinstrukteure Von besonderem Gewicht für die deutsche Volkswirtschaft war, neben anderen Produkten, der Export von hochwertigem Rüstungsmaterial, während die Instruktorentätigkeit deutscher Offiziere in lateinamerikanischen Heeren finanziell weniger ins Gewicht fiel. Dieser Export von human capital war jedoch — ebenso wie die Ausfuhr von Rüstungsgütern — besonders eng mit der politischen Sphäre verknüpft: Beeindruckt von deutscher Militärschulung und deutscher Technologie forderten die wichtigsten spanischsprachigen Republiken sowie Brasilien seit den 1870er Jahren deutsche Waffen an, um ihre Grenzstreitigkeiten und inneren Konflikte besser bewältigen zu können. Das moderne Militär der lateinamerikanischen Staaten beanspruchte, das "eigentlich nationale

382

und fortschrittliche Element im Staate zu sein, das Ordnung und Fortschritt nach Übernahme der Macht auch in der Gesamtgesellschaft durchzusetzen im Stande sei, ohne dabei die traditionellen Werte zu verraten." (Brunn 1969, 279) Die Vorzugsstellung, die bei Waffenlieferungen Deutschland (im Vergleich zu anderen europäischen Staaten) einnahm, zeigte sich darin, daß vor dem Ersten Weltkrieg südamerikanische Paraden manchmal "deutschen Waffenausstellungen" glichen (vgl. Brunn 1969, 335). Einer der bekanntesten Waffenlieferanten Europas war die deutsche Firma Krupp in Essen, die Kanonen und Panzerplatten nahezu konkurrenzlos herstellte. Zwischen 1901 und 1913 lieferte Krupp an die Hauptabnehmer Argentinien, Brasilien und Chile Waffen für 115,4 Millionen Mark (vgl. Brunn 1969, 335). Auch die Firma Loewe schuf sich im Bereich der Handfeuerwaffen eine komfortable Stellung in Lateinamerika. Anfang der 1890er Jahre lieferte sie zuerst 120.000 der berühmten Mausergewehre nach Argentinien. Um nicht in Ausrüstungsrückstand zu geraten, zog Chile nach. Anschließend verbreitete sich das Gewehr über den ganzen Kontinent (vgl. Schaefer 1974, 34-50; Kannapin 1968, 104ff.). Aufschlußreich sind im Waffengeschäft auch die Beschaffungsmodalitäten17: Die Vorgeschichte des Waffenverkaufs begann zumeist mit der Einsetzung einer Expertenkommission, die Vorschläge ausarbeiten sollte. Wesentliche Weichen wurden bei der Auswahl der Kommissionsmitglieder gestellt. Gab es unter ihnen deutschfreundliche, so waren sie willkommene Anlaufstellen für die Vertreter der deutschen Industrie und des Auswärtigen Amtes. (Den Idealfall verkörperte Chile nach 1899, als der deutsche Offizier Emil Körner zum Generalstabschef avanciert war.) Wenn die Kommission Waffensysteme testen wollte, so ergaben sich neue Beeinflussungsmöglichkeiten: Die Zahlung von Bestechungsgeldern oder Versprechungen von Provisionen waren nur zwei von vielen. SpezialVertreter aus Deutschland drängten zu Besuchen, deutsche Firmen wie Krupp und Loewe luden zu Besichtigungen nach Deutschland ein, animierten die Reichsleitung zur Verleihung von Orden, inszenierten Verleumdungskampagnen gegen die Konkurrenz, indem sie auf deren angebliche Mißerfolge hinwiesen, verbreiteten Indiskretionen, spielten die Spannungen von Konfliktparteien hoch, teilten sich, wenn es sein mußte, die Märkte auf, schlössen sich gegen ausländische Konkurrenten zusammen, oder übten mitunter auch politischen Druck auf lateinamerikanische Regierungsstellen aus, wenn Vergleichsschießen zu ungunsten Krupps ausfielen. Nicht zu unterschätzen war die amtliche Förderung, die eine enge Verschränkung der Interessen von Rüstungsindustrie und Politik deutlich werden ließ:

"Zu den folgenden Ausführungen vgl. Schaefer 1974.

383

Verstanden sich die amtlichen Vertreter des Deutschen Reiches mit der teils schweigenden, teils offen ausgesprochenen Billigung der deutschen Regierung als Vertreter der deutschen Wirtschaft und hier in Chile sowie in Argentinien besonders der Rüstungsinteressen, so betrachteten sich die deutschen Instrukteure in Chile als deren Hilfsorgane. (Schaefer 1974, 157) Große Geschäfte konnten durch Vergabe von Staatsanleihen unterstützt werden. Das Haus Mendelsohn in Berlin etwa gewährte Chile 1889 eine Anleihe über 30,6 Millionen Mark, die den Durchbruch des deutschen Finanzkapitals in Chile brachte (vgl. Ojeda-Ebert 1984, 109, 115-119; Schaefer 1974, 50, 54). Waren die deutschen Systeme erst einmal eingeführt, so ergaben sich daraus meist Folgegeschäfte, sei es durch Vereinheitlichung und Ausbau des Waffenarsenals, sei es durch die Lieferung von Ersatzteilen. Durch das gegenseitige Hochrüsten stürzten sich beispielsweise Chile und Argentinien seit den 1890er Jahren in erhebliche Schulden. Die Abhängigkeit von europäischen Ländern nahm dadurch zu, ohne daß eine eigene Industrie aufgebaut wurde (vgl. Schaefer 1974, 50, 54). Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges hatten sich sieben südamerikanische Staaten zur Einführung des deutschen Ausbildungssystems entschlossen. Einzig Peru und Uruguay sowie teilweise Brasilien wählten einen anderen Weg; sie entschieden sich für französische Waffen und Ausbildung.18 In Mexiko blieben die Erfolge trotz großer Anstrengung seitens der Industrie bescheiden (vgl. Katz 1964, 130-137). Demgegenüber spielte Chile, das im Pazifikkrieg 1879-1883 gegen Peru und Bolivien den Sieg errungen hatte, eine Vorreiterrolle. Die Professionalisierung der chilenischen Armee sollte die Sicherung der eroberten Salpeterprovinzen gewährleisten. Mit Hauptmann Körner, einem qualifizierten Absolventen der Kriegsakademie in Berlin, konnte 1885 auf Vermittlung von Generalfeldmarschall Moltke ein für den Aufbau des militärischen Ausbildungssystems geeigneter Instrukteur gefunden werden. Körner, der Artillerie, Infanterie, militärisches Planzeichnen, Kriegsgeschichte und Taktik lehrte, profilierte sich als Befürworter des Leistungsprinzips, das er dem überkommenen klientelistischen Beförderungswesen gegenüberstellte. Im chilenischen Bürgerkrieg von 1891 verteidigte er nicht, wie ihm aufgetragen worden war, den Kohlehafen Coronel, sondern desertierte zur "Kongreßpartei", bei der er Organisation, Disziplinierung und Ausbildung der zusammengewürfelten Truppen übernahm. Wenngleich sich eine Instrumentalisierung Körners durch die deutsche Großindustrie oder durch deutsche Gesandte nicht nachweisen läßt, war der Nutzen für die deutsche Rüstungsindustrie in Form von neuen Aufträgen doch beachtlich. 1895 konnte Körner schließlich ein ganzes Kontingent von 26 deutschen Offizieren "anlocken". Das Ausbildungssystem wurde

" V g l . ebda., 173; für Brasilien vgl. Brunn 1 9 6 9 , 3 1 4 - 3 2 4 .

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damit weiter professionalisiert. Disziplin und "Berufsethos" avancierten zu neuen Werten in der chilenischen Armee." Armeeangehörige versuchten aber auch auf das politische und zivile Leben Einfluß zu nehmen. 1907 gründete eine Gruppe von Offizieren eine Geheimloge, die 1911/12, einen (schließlich gescheiterten) Staatsstreich plante. Außerdem wurde die Armee in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in zahlreichen Streiks gegen die Arbeiter eingesetzt (vgl. Nunn 1970, 315-317). Von Chile wurde sodann das Ausbildungssystem nach Kolumbien, Ecuador, Bolivien, El Salvador und Venezuela "exportiert" (vgl. Brunn 1969, 290). Somit läßt sich mit Bestimmtheit sagen, daß Deutschland die Entwicklung des Militärwesens in lateinamerikanischen Staaten sehr beeinflußte. Eine Politik der "Unterwanderung" oder der Instrumentalisierung der lateinamerikanischen Staaten in deutschem Großmachtinteresse ist jedoch nie gelungen. Die Sympathien maßgeblicher gesellschaftlicher Kreise in Lateinamerika dem "Deutschtum" gegenüber waren aber immerhin so groß, daß die meisten Staaten — mit Ausnahme von Bolivien und Ecuador — bis zum Ende des Ersten Weltkrieges neutral blieben.

4. Die Auswanderungsproblematik Auch die Auswanderung zahlreicher Deutscher nach Lateinamerika gegen Ende des 19. Jahrhunderts sollte — zumindest in den Vorstellungen einiger ihrer Propagandisten — für expansive deutsche Ziele instrumentalisiert werden. Bevor auf diese Frage eingegangen wird, seien einleitend Umfang und "Charakter" der deutschen Auswanderung nach Lateinamerika kurz skizziert: Quantitativ konnte die deutsche Auswanderung nach Lateinamerika nie die Bedeutung erreichen, welche die Massenemigration in die Vereinigten Staaten hatte. Zwischen 1871 und 1914 wanderten rund 108.000 Deutsche nach Lateinamerika aus, was lediglich 3,76 % der gesamten Auswanderung nach Übersee entsprach. Ca. 51.000 emigrierten nach dem spanischsprachigen Teil Lateinamerikas, rund 57.000 nach Brasilien. Bis 1899 wanderten im Fünfjahresdurchschnitt über 10.000 Personen aus, wobei der Höhepunkt — etwas verschoben zur Gesamtauswanderung — zwischen 1885 und 1899 lag. Nach einem erheblichen Rückgang war in der Periode vor dem Ersten Weltkrieg nochmals ein Anstieg zu verzeichnen. Die Prozentzahlen im einzelnen: In der zweiten Hälfte der 1880er Jahre gelangten 1,5 % der deutschen Gesamtauswanderung nach Hispanoamerika (v.a. Argentinien und Chile); bis 1890 nahm der Subkontinent gar 5 % des Emigrantenstroms auf. 1890 bis 1894 betrug die Quote 1 %, 1905 bis 1909 wiederum 5 %, 1910 bis 1914 gar 12,8 %. Brasilien erhielt 1875 bis 1879 mit 6,2 % und 1895 bis 1899 mit 4 , 9 % einen hohen Anteil an Einwanderern, was zum einen mit der Abschaffung der Sklaverei (1888), zum andern mit

"Blancpain 1974, 715-732. Schaefer 1974, 21-28, 50-54; Nunn 1970, 300-322; Wunder 1983, 225-237 (kritisch zur Beurteilung Körners durch Schaefer und zur Rolle der deutschen Rüstungsindustrie im chilenischen Bürgerkrieg).

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der Aufhebung des Von der Heydtschen Reskripts zusammenhing.20 Das Von der Heydtsche Reskript von 1857, welches die Anwerbung und die Beförderung von Auswanderern nach Brasilien verbot, wurde 1897 durch ein Reichsauswanderungsgesetz ersetzt, das dem Reichskanzler die Erteilung von Konzessionen für Kolonialgesellschaften ermöglichte. Der Sozialstruktur der Mehrheit der Auswanderer entsprechend — die meisten Emigrationswilligen kamen aus dem ländlichen Bereich —, bestanden die sog. pull-Faktoren, die zur Emigration führten, vor allem im Wunsch nach eigenem Grund und Boden sowie nach einem materiell besseren Leben als in der alten Heimat.21 Einige Regierungen hatten ein vitales Interesse an der Einwanderung und unterstützten diese durch Anwerbung, Beratung und Finanzierung, wobei sie ein selektives Raster anwandten. Während die deutschen Einwanderer in Chile den Anteil der weißen Bevölkerung erhöhen, die Herrschaft der weißen Oligarchie stärken und einen Beitrag zur Modernisierung durch geübte Kultivierung des Bodens leisten sollten, sollten die Einwanderer in Brasilien nicht zuletzt als Arbeitskräfte auf Plantagen eingesetzt werden (vgl. Ojeda-Ebert 1984, 26-32; Brunn 1969, 125f.). Unter den sog. push-Faktoren fielen die Landarmut in Deutschland sowie die konjunkturell bedingten Nöte ins Gewicht. Die stark gestiegenen Auswandererströme nach Südamerika können auf dem Hintergrund von materieller Not und "Kolonialenthusiasmus" im Deutschen Reich gesehen werden.22 Kaufleute waren unter den Auswanderern immer in der Minderheit; zumeist wollten sie auch nach einiger Zeit auf den alten Kontinent zurückkehren (vgl. Ojeda-Ebert 1984, 40). Handwerker, Gewerbetreibende und städtische Arbeiter spielten in Buenos Aires eine größere Rolle (vgl. Newton 1977, 3-31; Saint Sauveur-Henn 1995, 266-268). Insgesamt schlug sich die "Große Depression" (vor allem 1890-1894) in den Einwanderungsstatistiken Lateinamerikas deutlich nieder. Einen gewissen Einfluß auf den Zielort und das Ansehen des "Aufnahmelandes" dürften auch Auswanderungspropagandisten sowie die Werbeaktionen von Agenturen, Regierungsämtern und Reedern gehabt haben (vgl. Brunn 1971, 116-127; Bade 1975, 80-120). Mit der Aufhebung des Von der Heydtschen Reskripts erfolgte 1897 eine Änderung der deutschen Auswanderungspolitik. Waren die amtlichen Stellen bis dahin eine "Auswanderungsbremse" gewesen, so wurden sie nun zu Förderern der Auswanderung nach Lateinamerika, wobei im Prinzip die expansionistischen Argumente von Propagandisten wie Friedrich Fabri übernommen wurden: Den ökonomischen Erfordernissen der Zeit (wirtschaftliche Überproduktion und

^Vgl. Kellenbenz/Schneider 1976, 388, 394. Eine Übersicht über die deutsche Auswanderung nach Lateinamerika geben Bernecker/Fischer 1992; Blancpain 1994. "Blancpain (1988, 369) mißt für die Zeit vor 1870 politischer Verfolgung und Abenteuerlust als Auswanderungsursache große Bedeutung bei. Vgl. ders. 1974, 489-494. 22 Die Argumente faßt Wehler 1970 bei der Begründung der Motive des Sozial imperial ismus zusammen.

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konjunkturelle Krise) entsprechend, sollte die Regierung durch Konzessionierung von Kolonialgesellschaften ein Instrument zur Auswanderungslenkung und -kontrolle erhalten; erstrebt wurde vor allem eine Umlenkung der Auswandererströme von Nord- nach Südamerika (Süd-Brasilien), wo sich die Reichsleitung eine stärkere Bewahrung des "Deutschtums" erhoffte sowie die Zusammenfassung der Emigranten in Ackerbaukolonien. Dort sollte eine dem deutschen "Heimatland" gegenüber kulturell und politisch loyale Haltung gepflegt werden; außerdem sollten deutsche Fertigwaren kosumiert werden (vgl. Hell 1980, 8487). Voraussetzung zum Gelingen dieser "Strategie" war jedoch ein kontinuierliches Anwachsen des Auswandererstromes. Diese Erwartung sollte allerdings nicht in Erfüllung gehen; denn obwohl der prozentuale Anteil deutscher Auswanderer nach Lateinamerika (v.a. Hispano-Amerika) im Verhältnis zur Gesamtauswandererzahl anstieg, nahm in absoluten Zahlen die deutsche Auswanderung nach Lateinamerika seit der zweiten Hälfte der 1890er Jahre ab. Inwiefern ließen sich die Auswanderer, wie Friedrich Fabri und andere Auswanderungspropagandisten glauben machen wollten, für "expansive" deutsche Ziele instrumentalisieren? Die Frage läßt sich nicht leicht beantworten; allerdings kann mit Gewißheit gesagt werden, daß das Ergebnis nicht den Vorstellungen der Propagandisten entsprach. Je nach Art der Siedlungsbedingungen und der sozialen Zusammensetzung der Siedler gestalteten sich die Beziehungen zwischen diesen Siedlern und dem Deutschen Reich höchst unterschiedlich. Obwohl in Brasilien ungleich mehr deutsche Siedler als in anderen lateinamerikanischen Ländern wohnten, blieben die kommerziellen Beziehungen längerfristig bescheidener als diejenigen zu Argentinien. Ian L. D. Forbes schließt daraus, daß der Absicht der Auswanderungspropagandisten, welche Ackerbausiedlungen als zukünftige Ressourcen für das Mutterland betrachteten, kein durchschlagender Erfolg beschieden war (vgl. Forbes 1978, 397). Eine von Peter Waldmann am chilenischen Beispiel entworfene idealtypische Entwicklung der Beziehung zwischen der deutsch-chilenischen Volksgruppe und der "Muttergesellschaft" zeigt einen anderen Verlauf, als sich dies die Auswanderungspropagandisten vorgestellt hatten (Waldmann 1982; vgl. auch von DelhaesGuenther 1979): Nach einer Phase der Wanderung und der Seßhaftwerdung im neuen Land (1) begann die "Rekonstruktion" der alten Heimat, die eigentliche Kolonisationsphase (2), die aber — einem fix tradierten Bild verhaftet — schon bald einem Verlust an konkretem Wissen über die alte Heimat unterworfen war. Dem Assimilierungsdruck wurde durch intensivierte Lektüre deutscher Zeitungen, durch protestantischen Kirchenkult und deutschen Schulunterricht Widerstand geleistet (3). In einer vierten Phase zeigte sich, daß hinter dem emphatisch vorgetragenen Bekenntnis zum "Deutschtum" im Grunde genommen handfeste Eigeninteressen überwogen: "Interessen an gesteigertem Handel mit der aufstrebenden Wirtschaftsmacht Deutschland, an der kontinuierlichen Weiterversorgung mit qualifizierten Facharbeitern und Technikern, nicht zuletzt auch der Wunsch, die eigene Vorzugsstellung innerhalb der chilenischen Gesellschaft zu halten und zu rechtfertigen." (Waldmann 1982, 247) Diese Absicht

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bedingte auch die Gründung des "Deutsch-Chilenischen Bundes" während des Ersten Weltkriegs mit. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg setzten sich die assimilatorischen Kräfte ganz durch (S). Durch das aufgezeigte Modell wird der von Gerardo Jorge Ojeda-Ebert bei den deutschen Siedlern festgestellte "retrospektive deutsche Patriotismus" erklärbar (vgl. Ojeda-Ebert 1984, 100). Das Bekenntnis zur deutschen Nation stellte für diese Siedler einen emotionalen Wert dar. Ihre anhaltende Zugehörigkeit zum Deutschtum bot ihnen eine Möglichkeit, ihr Ansehen als Ausländer aufzuwerten, was komplementär zur industriellen und agrarischen Modernisierung in der neuen Heimat, wo viele von ihnen eine wichtige Rolle spielten, verlief.23

5. Die Rivalität der Großmächte: Deutschland versus USA Die Berliner Lateinamerikapolitik, das besondere Handels- und Wirtschaftsinteresse deutscher Stellen am Lateinamerikamarkt, mußte im Zeitalter des Imperialismus unweigerlich zur Konfrontation mit jener Macht führen, die im Laufe des 19. Jahrhunderts Lateinamerika als "klassisches" Expansionsfeld betrachtete: die USA. Mit der Proklamierung des "Panamerikanismus" gegen Ende des 19. Jahrhunderts versuchten die Vereinigten Staaten, die ökonomische Durchdringung der lateinamerikanischen Staaten voranzutreiben und die politische Herrschaft über den Subkontinent auszudehnen. Monroe-Doktrin und wirtschaftliche Expansion waren die Leitmotive der Washingtoner Lateinamerikapolitik. Im Kontext der Weltwirtschaftskrise von 1873 bis 1896 blieben die weitgesteckten Erwartungen der US-amerikanischen Führungseliten allerdings unerfüllt; die Folge war ein Gefühl der Unterlegenheit und Bedrohung, das sich politisch — diesen Aspekt hat Ragnhild Fiebig-von Hase deutlich herausgearbeitet — seit der Jahrhundertwende vor allem gegen Deutschland richtete. Hintergrund dieses aufkommenden (weit mehr "politischen" als "ökonomischen") Gegensatzes wiederum war die Berliner Lateinamerikapolitik; denn: Zwischen 1871 und 1914 unterlagen die politischen Beziehungen Deutschlands zu Lateinamerika deutlichen Veränderungen: Ende der 1880er Jahre wurde die bis dahin vor allem wirtschaftliche Konkurrenz zwischen Deutschland und anderen Großmächten durch einen primär machtpolitischen Gegensatz überlagert. Deutlicher Niederschlag dieser Schwerpunktverlagerung war die im Deutschen Reich mit zunehmend nationalistischen Argumenten heftig geführte Flottendebatte. Industrie, Handel, Schiffahrt und Banken hatten sich inzwischen verstärkt in Lateinamerika engagiert; ihre Erwartungen wurden durch die Auswirkungen der "Großen Depression" bedroht, die ökonomischen Erfolge spürbar abgebremst. Die Weltwirschaftskrise hatte den Exportdruck der Industriestaaten, damit auch die Konkurrenzsituation in Lateinamerika deutlich

23

Am besten untersucht ist der Beitrag deutscher Auswanderer zur Industrialisierung Brasiliens: s. da Guia Santos 1984, 212-220; Kellenbenz 1979; von Delhaes-Guenther 1973.

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verschärft; dort stieß Deutschland auf die Entschlossenheit der USA, europäische Einflüsse (etwa durch Vorzugszölle) zurückzudrängen. Außerdem bedeuteten die innenpolitischen Auseinandersetzungen in vielen lateinamerikanischen Staaten ein zusätzliches Hindernis für die deutsche Wirtschaftsexpansion (vgl. Fiebig-von Hase 1986, 262). Die Lösung der neuen Probleme wurde von den betroffenen Interessengruppen in Deutschland, Fiebig-von Hase zufolge, in der Verstärkung der deutschen Seemacht gesucht; die Flotte sollte zu einem Instrument ausgebaut werden, mit dem das Kaiserreich seine "Ansprüche" in Lateinamerika notfalls auch gegen die USA durchsetzen konnte. Damit wurde Lateinamerika zu einem Bestandteil deutscher "Weltpolitik". Bereits 1877 hatten sechs deutsche Kriegsschiffe vor Nicaraguas Küsten Position bezogen, nachdem Paul Eisenstück, ein erfolgreicher deutscher Kaufmann, vom Nicaraguaner Francisco Leal wegen einer Familienangelegenheit tätlich angegriffen worden war. Beeindruckt von dieser Machtdemonstration bezahlte der zentralamerikanische Kleinstaat die geforderte Entschädigung und salutierte wegen der angeblichen Beleidigung Deutschlands die deutsche Flagge (vgl. Schoonover 1991, 62-76). Daß die "üblichen" diplomatischen und konsularischen Hilfestellungen zum Schutz deutscher Wirtschaftsinteressen aus Berliner Sicht nicht mehr genügten, zeigten noch deutlicher zwei Konflikte im Jahr 1891. Gegen das Votum des Reichtages entsandte die deutsche Reichsregierung auf wiederholte Bitten betroffener hanseatischer Handelshäuser ein ganzes Kreuzergeschwader nach Chile. 300 Matrosen besetzten das deutsche Viertel in Valparaiso, als der Sieg der Kongreßtruppen absehbar geworden war (vgl. Fiebig-von Hase 1986, 250-255; Ojeda-Ebert 1984, 112f.). Als es im selben Jahr in Brasilien zu politischen Auseinandersetzungen kam, kreuzten auch dort auf Geheiß von Reichskanzler Caprivi Kriegsschiffe auf. Da sich die hanseatischen Kreise aber widersetzten, wurde ein (in Zusammenwirken mit England geplantes) Bombardement des Hafens von Rio de Janeiro unterlassen; man begnügte sich mit dem Geleitschutz für deutsche Schiffe. Da Deutschland in dieser Auseinandersetzung formal neutral geblieben war, konnten die Beziehungen zu Brasilien auch nach der von den USA unterstützten Niederschlagung des antirepublikanischen Aufstandes aufrechterhalten werden (vgl. Brunn 1971, 22-52). Die Auseinandersetzungen in Brasilien hatten wegen der unterschiedlichen Ziele der USA und Deutschlands erstmals deutlich eine neue Dimension internationaler Konkurrenz aufgezeigt. Seit dem ersten Panamerikanischen Kongreß von 1889 in Washington hatten die USA versucht, die lateinamerikanischen Staaten durch ein System bilateraler Meistbegünstigungsverträge in einen "panamerikanischen" Markt zu integrieren. Während mit Nicaragua, Ecuador, Argentinien und der Dominikanischen Republik Handelsverträge auf Gegenseitigkeit zustande kamen, scheiterten Verhandlungen mit Brasilien, Guatemala und Venezuela. Die Konkurrenzsituation zu den Vereinigten Staaten, die ihre Fühler vermehrt nach Südamerika ausstreckten, erwies sich demnach für die Entwicklung deutscher Interessen als hinderlich, konnte sie doch von den

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betroffenen lateinamerikanischen Staaten zur Verbesserung ihrer eigenen Verhandlungsposition ausgenutzt werden (vgl. Fiebig-von Hase 1986, 283, 665681). Deutschland mochte sich zwar über die US-amerikanischen Hegemoniegelüste entrüsten; bedrohlich waren aber im Hinblick auf die Zukunft vor allem die Entwicklungsmöglichkeiten intensivierter panamerikanischer Verflechtungen. Die "amerikanische Gefahr" wurde in Deutschland zu einem innenpolitischen Gespenst, das Agrarier und Schwerindustrielle in gemeinsamer Abwehr einte. Spätestens seit dem Beginn des deutschen Flottenplans von 1897 war klar, daß die Wirtschaftskräfte auf verstärkte staatlich-militärische Unterstützung zurückgreifen konnten (vgl. Fiebig-von Hase 1986, 305). Die Reichsregierung argumentierte mit angeblich "bedrohten" deutschen Interessen in Lateinamerika, um den Bau der Flotte voranzutreiben. Diese sollte nicht mehr ausschließlich den Handelsschutz gewährleisten, sondern als Mittel einer Droh- und Abschrekkungsstrategie gegenüber den USA wirken. Während nämlich England sich mit dem Herrschaftsanspruch Washingtons Mitte der 1890er Jahre nolens volens abgefunden hatte, war das deutsche Kaiserreich nicht bereit, die Monroe-Doktrin anzuerkennen und damit das Verhältnis zu den USA auf eine neue Basis zu stellen. Die Washingtoner und die Berliner Lateinamerikapolitik mußten daher auf Konfrontationskurs gehen. Da das ökonomische Unvermögen der USA zu einem verstärkten politisch-militärischen Engagement der Vereinigten Staaten in Lateinamerika führte, wollten die Deutschen ihre ökonomische Stellung nach der Überwindung der Wirtschaftskrise seit den 1890er Jahren ausbauen, setzten aber aufgrund der entgegengebrachten Widerstände ihrerseits auf politischmilitärische Aktionen. Die Existenz militärischer Operationspläne für einen eventuellen Krieg gegen die USA, die der deutsche Admiralsstab vorbereitet hatte, zeigt schließlich das Ausmaß dessen an, was in Deutschland für möglich gehalten wurde (vgl. Fiebig-von Hase 1986, 472-506). Solchermaßen zugespitzt waren die Verhältnisse, als im Dezember 1902 nach längeren Vorbereitungen Deutschland mit England, später auch Italien zu einer Strafexpedition gegen Venezuela antrat, das sich über längere Zeit hinaus als unfähig gezeigt hatte, ausstehende Schulden (u.a. an die Deutsche Diskonto Bank, die Deutsch-Venezolanische Sulphurgesellschaft, die Berliner Beton- und Monierbau und die Orinoco Asphalt Gesellschaft) zu zahlen; wiederholt waren auch Nachrichten von Zwangsanleihen, Plünderungen und Beschlagnahmungen deutschen Eigentums in Venezuela nach Deutschland gedrungen. Vier venezolanische Kriegsschiffe wurden beschlagnahmt, zwei davon durch deutsche Kreuzer versenkt. Englische und deutsche Boote beschossen das Fort Puerto Cabello. Nicht besser erging es dem Fort San Carlos. Die Ansicht Alfred Vagts, daß "auf deutscher Seite hinter diesem Unternehmen keine weitergehenden Zielsetzungen" bestanden, gilt als überholt. Doch auch die Hervorhebung "irrationaler" Faktoren wie Prestige, Ehre und Würde greifen für die Erklärung des Einschreitens durch die Reichsregierung zu kurz (vgl. Vagts 1979, 203; Herwig 1986, 108f.). Denn wären nicht deutsche Wirtschaftsinteressen gefährdet gewe-

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sen, wäre es nicht zur Unterstützung der Blockade gekommen. Die eigentliche Reichweite des Konfliktes zeigte sich darin, daß Deutschland versuchte, durch Etablierung einer Finanzkontrolle dauerhaften Einfluß auf den venezolanischen Staat zu nehmen, was allerdings durch die US-amerikanische Diplomatie unterbunden werden konnte; die heftige Reaktion Washingtons führte zu einer deutschen diplomatischen Niederlage (vgl. Fiebig-von Hase 1986, 846-849). Auch nach der formellen Regelung der Venezuelakrise waren die deutschamerikanischen Gegensätze nicht beigelegt. Dies wurde vor allem während der mexikanischen Revolution deutlich. Die deutsche Reichsregierung schlug wiederholt "Lösungen" vor, die ihr den Zugang zu Zentralamerika gesichert hätten. Ein 1913 von deutscher Seite angeregtes deutsch-englisch-französischamerikanisches Protektorat zur Erhaltung des Huerta-Systems, das gemeinsame Anleihen und eine Finanzkontrolle vorsah, war für die USA unannehmbar. Auch Kooperationsangebote an die mexikanische Revolutionsregierung, die im sog. "Zimmermann-Telegramm" von 1917 gipfelten, zeigten einen höchst doppelbödigen Charakter, da das Auswärtige Amt den mexikanischen Präsidenten Venustiano Carranza einzig auf ein für sein Land selbstmörderisches Bündnis gegen die USA verpflichten wollte.24 Die Krisen im deutsch-amerikanischen Verhältnis lassen deutlich werden, daß Berlin nicht bereit war, vorbehaltlos die Monroe-Doktrin und das von Theodore Roosevelt reklamierte Interventionsrecht der USA in Lateinamerika anzuerkennen; das Mißtrauen zwischen beiden Mächten blieb. Das Zimmermann-Telegramm repräsentiert schließlich den Endpunkt einer Entwicklung, die zusehends die Unvereinbarkeit der deutschen und der US-amerikanischen Zielvorstellungen in Lateinamerika aufgezeigt hatte. Insgesamt deckten sich aber die wilhelminischen Expansionsgelüste, die vor allem in der Venezuelakrise 1902/03 und in der Haltung gegenüber Mexiko deutlich geworden waren, keineswegs mit dem Erreichten. Der amerikanische Rivale wurde zunehmend stärker und einflußreicher; und im Rahmen der "Weltpolitik" war auch an eine Koalition mit England nicht zu denken — eine Option, die auch gar nicht ins Auge gefaßt wurde.

6. Zusammenfassende Schlußbemerkung Die deutsch-lateinamerikanischen Beziehungen zwischen 1871 und 1914 betrafen vor allem die wirtschaftliche, die militärische und die politische Ebene, wobei auch die Auswanderung von Deutschen nach Lateinamerika von Bedeutung war. Auf dem Hintergrund großer wirtschaftlicher Anstrengungen entwickelte sich Deutschland — ähnlich wie die USA — zu einem der fortgeschrittensten Industrieländer, das in wichtigen Branchen (Schwerindustrie, Maschinenbau, Elektroindustrie, Chemie) technologisch und in der Organisation der Produktion führend war.

24

Vgl. Katz 1964, 274-281, 358-298; ders. 1966, 11-16; ders. 1981, v.a. 387-459; Baecker1971.

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Das Wachstum erfolgte jedoch nicht kontinuierlich, vielmehr kam es immer wieder zu konjunkturell bedingten Einbrüchen (1873-79, 1882-86, 1890-1894, 1900-1902). Gerade die konjunkturellen Abschwünge bewirkten, daß die Ausfuhr nach Lateinamerika in deutschen Industriekreisen zunehmende Beachtung fand; als besonders günstig sollte sich der wachsende Bedarf der ABCStaaten nach teuren Investitionsgütern erweisen. Durch deren Lieferung trug Deutschland in gewissem Maße zur Modernisierung lateinamerikanischer Volkswirtschaften bei. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die Entwicklung dieser Volkswirtschaften waren auch die Ausfuhren — vor allem von Rohstoffen und Agrarprodukten — nach Deutschland, war die lateinamerikanische Exportwirtschaft doch auf den deutschen Absatzmarkt (weit mehr als umgekehrt) angewiesen. Getragen vom Wunsch eines Wirtschaftswachstums durch verstärkte Integration in den Weltmarkt, stützten sich die lateinamerikanischen Länder beim Ausbau der Infrastruktur vorwiegend auf europäisches Kapital und europäisches Know-how. Dieses war aber nur gegen gute Profitaussichten verfügbar. Allerorten fehlte es an einer Gesamtplanung, insbesondere an der Chance zur Durchsetzung von Planungskriterien durch lateinamerikanische Regierungen. Die Folgen waren sowohl ungleiche Entwicklungen in den lateinamerikanischen Ländern selbst (etwa durch Herausbildung von Enklavenwirtschaften), als auch die abhängige Integration dieser Staaten in die Weltwirtschaft. Deutsche Handelshäuser spielten im Import-/Export-Geschäft traditionellerweise in fast allen lateinamerikanischen Ländern eine herausragende Rolle, obwohl sie in Konkurrenz zu anderen europäischen Häusern standen. Einigen von ihnen gelang es durch Spezialisierung auf bestimmte Sektoren wie Kaffee, Tabak, Weizen und Salpeter im Export eine Quasimonopolstellung zu erreichen. Einige waren auch führend im Transfer und Verkauf von technologisch hochwertigen Investitionsgütern oder Textilien nach Lateinamerika. Sie investierten auch in die Produktion, vermittelten und gewährten Kredite, unterhielten Schiffahrtslinien und kooperierten bei Großprojekten mit dem deutschen Bankkapital, das vor allem durch lukrative Militär- und Infrastrukturaufträge in Lateinamerika Fuß fassen konnte — wenngleich niemals in demselben Ausmaß wie England und Frankreich. Besonders bei Investitionen im Eisenbahnbaubereich waren deutsche Banken weit vorsichtiger, als es den Vorstellungen des Auswärtigen Amtes entsprach. Die Gewährung von Staatskrediten und die Investition in monopolistische Unternehmungen war vor allem im Bereich des Elektro- und des Schwerindustriegeschäfts üblich. Insgesamt kann festgehalten werden, daß das Engagement des deutschen Kapitals eher zurückhaltend und dosiert erfolgte. Wo es eingesetzt wurde, unterstützte es die Absatzchancen der deutschen Großindustrie. Der Einfluß deutscher Banken und Handelshäuser auf den Ausbau der Infrastruktur, auf Kapitalverkehr und Warenzirkulation ließ sie im Modernisierungsprozeß der lateinamerikanischen Staaten eine Schlüsselfunktion erlangen. Die "informelle imperialistische Ausbeutung" bestand nicht in der Tatsache, daß

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Deutsche in Lateinamerika als Gläubiger auftraten, investierten und Handel betrieben, sondern in der Art, wie sie die Konditionen festsetzten und die Kontrolle ausübten: Vor allem lag ihr Interesse nicht prioritär bei der geordneten Entwicklung von lateinamerikanischen Volkswirtschaften, sondern im privaten Profit. Besonders deutlich wurde dies in der Venezuelakrise, als deutsche Firmen sich durch die militärische Gewaltdemonstration die Eintreibung ihrer Außenstände erhofften. "Deutsche Markenprodukte" waren auch die Kruppschen Kanonen und die Loeweschen Gewehre, für die — ausgehend von Chile seit Ende der 80er Jahre — in vielen lateinamerikanischen Staaten ein wachsender Bedarf bestand. Deutsche Militärangehörige sowie diplomatische Vertreter und Regierungsmitglieder, ebenso wie Unternehmer und Kommissionshäuser, machten den Verkauf deutscher Waffen zu einer Angelegenheit von nationalem Interesse; um die Entscheidung zugunsten deutscher Produkte herbeizuführen, erschien nahezu jedes Mittel gerechtfertigt. Von lateinamerikanischen Staaten wurden aber nicht nur Waffen, sondern auch human capital in Form von Instrukteuren und Kriegsakademielehrern angefordert. In diesem Sinne leistete Deutschland einen Beitrag zur Modernisierung, Professionalisierung und Militarisierung von Armee, Staat und Gesellschaft Lateinamerikas. Wenn hier von deutscher "Strategie" gesprochen werden kann, dann in dem Sinne, daß die lateinamerikanischen Staaten von deutscher Technologie und deutschem know-how (gegen gutes Geld) abhängig gemacht wurden. Was die Staaten später dann mit ihren modernisierten Armeen anstellten, konnte von deutscher Seite kaum gesteuert werden. In der Frage der Auswanderung machte die deutsche Reichsregierung aus der Not eine Tugend. Im Sinne sozialimperialistisch motivierter Ableitung inneren gesellschaftlichen Konfliktpotentials sollte die Auswanderung gegen die Interessen der Agrarier zunächst hingenommen, später aber zunehmend gelenkt und in Kolonien zusammengefaßt werden, wie es "Kolonialenthusiasten", Auswanderungsunternehmung und Schiffahrtsbesitzer in Deutschland verlangt hatten. Damit sollte das "Deutschtum" erhalten und für (wirtschaftliche und politische) Expansionszwecke eingesetzt werden. Allerdings entsprach auch in diesem Fall das Ergebnis nicht der Intention, da viele Auswanderer sich langfristig ihrer alten Heimat entfremdeten und einem generationenübergreifenden Assimilisierungsprozeß unterlagen. Das gesteigerte Interesse der Reichsregierung an Lateinamerika zeigte sich auch darin, daß seit den 1890er Jahren wiederholt deutschen Kriegsschiffe zum Schutz deutschen Eigentums eingesetzt wurden. In der Venezuelakrise von 1902/1903 gingen die Einmischungsansprüche so weit, daß eine Finanzkontrolle zur geordneten stabilen Entwicklung verlangt wurde. Diplomatisch-militärische Mittel dienten aber auch als Droh- und Abschreckungsinstrument gegenüber dem Rivalen USA. Auch die seit 1898 bestehenden militärischen Operationspläne verweisen auf ein deutsch-amerikanisches Konfliktpotential, das längerfristig bestehende Rivalitäten als "Weltpolitik" ins politische Kalkül einbezog. Die

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Gegnerschaft zu den USA erreichte mit der versuchten Instrumentalisierung Mexikos durch Deutschland gegen die USA im Ersten Weltkrieg einen Höhepunkt. Daß der deutschen Expansion nach Lateinamerika letztlich nicht mehr Erfolg beschieden war, liegt nicht an mangelnder Absicht, sondern an mangelnder Chance. Einschränkend muß allerdings darüberhinaus gesagt werden, daß eine umfassende Strategie der Penetration und Herrschaftsausübung, die politische, militärische und wirtschaftliche Beziehungen sowie die Auswanderung einbezog, ohnehin nicht vorlag. Die Ausübung informeller imperialistischer Herrschaft gelang nur partiell und blieb stets regional und auf wenige Sektoren beschränkt. Sie muß zudem meist mit den Rivalen Großbritannien und USA geteilt werden. Vor allem reichte das militärische und politische Gewicht nicht aus, um die wirtschaftlichen Interessen umfassend zu decken. Dort, wo solch formelle Einflußversuche unternommen wurden, blieb der längerfristige Erfolg aus.

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Das nationalsozialistische Deutschland und Lateinamerika 1933-1945 Reiner Pommerin

I. Die Vorkriegszeit zwischen 1933 und 1939, der erste der drei Abschnitte, in die sich — aus historischer Sicht — die Beziehungen des nationalsozialistischen Deutschlands zu den Staaten Lateinamerikas unterteilen lassen, stand unter dem Eindruck der Erfolge, die der "Neue Plan" im Bereich der deutsch-lateinamerikanischen Handelsbeziehungen aufzuweisen hatte. Die von Hjalmar Schacht vorgeschriebene Leitlinie der deutschen Handelspolitik lautete danach: "Nur das kaufen, was wir bezahlen können, und in erster Linie dort verkaufen, wo wir unsere Waren verkaufen können" (Schacht 1968, 123). Der Leiter der Handelspolitischen Abteilung des Auswärtigen Amts, Karl Ritter, zog daraus die Folgerung: "Weg von Afrika, hin nach Südamerika, dem Balkan und dem Fernen Osten" (Kroll 1967, 83). Die Weltwirtschaftskrise von 1929, eine Verringerung des gesamten Welthandels im Gefolge, hatte auch zu einer Reduzierung des deutsch-lateinamerikanischen Handels geführt. Da die lateinamerikanischen Staaten die Auswirkungen der Krise mit Einfuhrkontrolle sowie Devisenzwangswirtschaft zu bekämpfen suchten, das Deutsche Reich das Absinken des Lateinamerika-Geschäfts aber nicht mit Hilfe einer aktiven Handelsbilanz auszubalancieren vermochte, war der deutsche Handel mit Lateinamerika prozentual noch stärker als der gesamte deutsche Außenhandel geschrumpft (Schröder 1970, 217f.). Um diesem Prozeß wirksam zu begegnen, vor allem aber, um die Belieferung des deutschen Marktes mit den für die militärische Aufrüstung des Dritten Reichs wichtigen Rohstoffen sicherzustellen, entfaltete das nationalsozialistische Deutschland besondere handelspolitische Aktivitäten im Raum Südamerika. Am 3. Juli 1934 startete eine aus Vertretern des Reichswirtschaftsministeriums, des Reichsernährungsministeriums, der Reichsbank und des Auswärtigen Amts zusammengesetzte Handelsdelegation unter der Leitung des Gesandten Otto Kiep nach Südamerika. Der Auftrag der Delegation läßt sich wie folgt zusammenfassen: 1. Ausbau der handelspolitischen Beziehungen zu den südamerikanischen Staaten auf lange Sicht. 2. Sicherstellung der Belieferung des deutschen Marktes mit Rohstoffen. 3. Beseitigung von Devisenschwierigkeiten und Auftauen eingefrorener deutscher Guthaben in verschiedenen Ländern Südamerikas (Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik. Serie C, III 1, 71f.).

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Der Handelsdelegation gelang es, verschiedene Vertragsabschlüsse in Argentinien, Brasilien, Chile und Uruguay zu tätigen. Der stete Anstieg des Anteils des deutschen Handels mit Lateinamerika, sowohl an der deutschen Gesamtausfuhr von 4,1 % im Jahre 1932 auf 11,7 % im Jahre 1938, als auch an der deutschen Gesamteinfuhr von 9,6 % im Jahre 1932 auf 14,9 % im Jahre 1938, belegte den Erfolg dieser handelspolitischen Initiative (Pommerin 1977, 23f.). Die technische Voraussetzung für diese Steigerungsraten bildete die Einführung eines besonderen Verrechnungs- und Kompensationsverfahrens: "Auf Verrechnungskosten wurde den Ausländern der Gegenwert ihrer Lieferung in Reichsmark gutgeschrieben. Ihrerseits konnten sie zu Lasten dieser Gutschrift in Deutschland einkaufen, was immer sie wünschten. Das war im Grunde eine Rückkehr zum prähistorischen Tauschhandel, ein Warenumsatz ohne Geldbewegung" (Schacht 1968, 123). Die Verrechnungsabkommen bedeuteten, da sie den multilateralen Warenund Kapitalverkehr mit gegenseitigem Ausgleich durch eine Bilateralisierung des Handels- und Zahlungswesens ablösten, einen erheblichen Bruch mit den bisherigen Grundsätzen der Weltwirtschaft (Fischer 1968, 72). Das Deutsche Reich geriet durch seine Handelsoffensive vor allem in starke Rivalität zu den Vereinigten Staaten von Amerika. Einzelne US-Firmen — das "National-Foreign-Trade-Council" sowie die "American-Manufacturers-Export-Association" — wurden denn auch nicht müde, von der amerikanischen Regierung wirksame Hilfen zur Abwehr des deutschen handelspolitischen Einbruchs in die Märkte Lateinamerikas, in das "open door empire" vor der eigenen Haustür, zu fordern (Schröder 1970, 235-261). Nicht unerheblich für die deutsch-lateinamerikanischen Beziehungen wurde jetzt die amerikanische Perzeption, die deutsche Handelsexpansion in Südosteuropa und in Lateinamerika als Teil eines Planes auch zur politischen Dominierung dieser Regionen anzusehen (Bidwell 1938/39, 380). Aus solcher Perspektive mußte das Auftreten der Auslandsorganisation der NSDAP in Lateinamerika nicht nur die USA, sondern vor allem die lateinamerikanischen Staaten selbst beunruhigen. Die — ohne Anregung aus Deutschland — entstandenen Vereinigungen von Parteimitgliedern waren in der Zeit ihrer Gründung und "Gleichschaltung" nicht besonders aufgefallen. Zwar gelang es der Auslandsorganisation nur, einen zahlenmäßig geringen Teil der Reichsdeutschen in Lateinamerika für die Ziele des Nationalsozialismus zu begeistern und zum Eintritt in die NSDAP zu veranlassen; da sich ihre Werbeversuche anfänglich aber auch auf Doppelstaatler erstreckten, geriet die Auslandsorganisation in direkten Gegensatz zu den Nationalisierungs- und Integrationsbestrebungen der südamerikanischen Staaten selbst. Im übrigen mußte den Mittel- und Südamerikanern die NS-Ideologie schon aufgrund ihrer rassischen Komponente fremd bleiben. Aufmärsche lokaler Gruppen der Auslandsorganisation im Braunhemd, das Mitführen von Hakenkreuzfahnen sowie der Hitlergruß stießen auf Abneigung und Ablehnung und legten den Grundstein für ein tiefes Mißtrauen gegenüber dieser Organisation.

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Zudem geriet die Auslandsorganisation der NSDAP 1938 im Zusammenhang mit dem Integralisten-Putsch 1938 in Brasilien in den, wie wir heute wissen, unberechtigten Verdacht, die Politik eines lateinamerikanischen Staates mitbestimmen zu wollen. Dieser Verdacht hatte ein großes Echo in anderen Staaten Lateinamerikas (Mc Cann 1969/70, 14-34; Hilton, 3-29). Die Praxis der aggressiven deutschen Außenpolitik in Europa, sich bei der Forderung nach Grenzkorrekturen auf deutsche Minderheiten zu berufen, verstärkte verständlicherweise die lateinamerikanische Skepsis gegenüber dem Nationalsozialismus und vor allem gegen seine, für den Außenstehenden in ihrer Zielsetzung und Bedeutung schwer durchschaubaren Gruppierungen der Auslandsorganisation im eigenen Land. Die Ernennung des Chefs der Auslandsorganisation der NSDAP, Gauleiter Bohle, zum Staatssekretär im Auswärtigen Amt am 30. Januar 1937 mußte zwangsläufig zu einer Fehlinterpretation der Stellung und Bedeutung der Auslandsorganisation innerhalb der deutschen Außenpolitik führen. Ihre scheinbare Integration in das Auswärtige Amt legte zugleich den Grundstein zu einer neuen Skepsis auch gegenüber den deutschen Diplomaten in Lateinamerika. Zwar fanden die Bestrebungen der USA, Ende 1938 auf der Konferenz in Lima ein panamerikanisches Bündnis zu schaffen, noch kein entsprechendes Echo, doch die Beschlüsse der Konferenz gegen die politische Betätigung von Ausländern und zur Rechtslage von ausländischen Volksgruppen dürfen durchaus als gegen das Dritte Reich gerichtet interpretiert werden. Dies führte zu Unsicherheiten der deutschen Diplomaten in Lateinamerika, die das Fehlen eines Orientierungsrahmens, aus dem die außenpolitischen Ziele und Absichten der deutschen Führung hervorgegangen wären, beklagten. Anläßlich eines Treffens der deutschen Missionschefs Lateinamerikas in Montevideo, am 29. Juni 1938, erhoben sie deshalb die Forderung, Berlin solle sich darüber klar werden, welche Ziele die deutsche Politik in Südamerika zu verfolgen gedenke. "Will sie sich auf wirtschaftliche und kulturelle Aufgaben beschränken? Oder soll sie darüber hinaus eigene machtpolitische Ziele verfolgen oder Nordamerika von Südamerika aus politisch bekämpfen?" (Pommerin 1977, 45). Doch diese Frage blieb ohne Antwort. Da die Aktivitäten der Auslandsorganisation die deutsch-lateinamerikanischen Beziehungen immer stärker belasteten, schien es dem Auswärtigen Amt unumgänglich, die Differenzen zwischen der "offiziellen Außenpolitik" und dem Wirken der Auslandsorganisation der Partei in Lateinamerika zu beenden. Allein zu diesem Zweck fand im Sommer 1939 in Berlin eine LateinamerikaKonferenz statt, an der alle deutschen Missionschefs sowie eine Anzahl der Landesgruppenleiter der Auslandsorganisation aus Lateinamerika teilnahmen. In Berlin sollte also nicht eine Konzeption für die deutsche Lateinamerikapolitik entworfen, sondern vielmehr die Rivalität zwischen Auslandsorganisation und Auswärtigem Amt beendet werden. Einer wirklichen Auseinandersetzung mit der besonders vom Stellvertreter des Führers, Rudolf Hess, protegierten Auslandsorganisation wich der neuernannte Außenminister von Ribbentrop jedoch aus. Als die deutschen Diplomaten Ende August 1939 auf ihre Posten zurück-

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kehrten, waren sie nicht einmal gedanklich auf den von Deutschland angezettelten Krieg vorbereitet. Im Gegensatz zu den bereits anläßlich der europäischen Krise im Herbst 1938 von deutschen Diplomaten geäußerten Befürchtungen zur Stellung Lateinamerikas in einem europäischen Konflikt blieben am 1. September 1939 jedoch alle Staaten Lateinamerikas neutral. Ein Teil der Staaten erklärte die Neutralität und teilte diesen Entschluß der deutschen Regierung in amtlicher Form über die deutschen Missionen oder über die eigene Vertretung in Berlin mit; andere Staaten proklamierten lediglich die Neutralität. Auch ohne formelle Erklärung verhielten sich Costa Rica, Honduras und El Salvador sowie Bolivien gegenüber Deutschland neutral. Die neutrale Haltung Lateinamerikas bei Kriegsausbruch war aber keinesfalls auf eine kluge außenpolitische Vorarbeit des Dritten Reichs zurückzuführen. Es scheint dafür vielmehr die neutrale Haltung der USA im europäischen Konflikt sowie vor allem der lateinamerikanische Wunsch nach Erhalt des Warenaustausches mit Deutschland bestimmend gewesen zu sein. Dieser Warenaustausch lag nach Kriegsausbruch aber auch im Mittelpunkt des deutschen Interesses an Lateinamerika. In hohem Maße mußte also das Klima des deutsch-lateinamerikanischen Verhältnisses vom Funktionieren des Handels abhängig werden. Die Panama-Konferenz, welche die bei Kriegsausbruch getroffene Entscheidung Lateinamerikas zur Neutralität noch einmal bestätigte, führte nicht zu einer Belastung der deutsch-lateinamerikanischen Beziehungen, trug aber in ihren Beschlüssen eine, von Deutschland zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu übersehende, Gefahr für diese Beziehungen in sich: Die Konferenz hatte am 3. Oktober beschlossen, eine Sicherheitszone von 300 Seemeilen um die amerikanischen Küsten zu legen, in der keine Seekriegsoperationen stattfinden durften. Tatsächlich verlor das Deutsche Reich das Gros seiner Handelsschiffe später genau innerhalb dieser Sicherheitszone, deren Einhaltung Hitler, gegen den Einspruch der Kriegsmarine, bis Ende 1941 strikt verlangte. Im Artikel V der Beschlüsse von Panama vereinbarten die amerikanischen Republiken weiterhin, daß ihre Land-, See- und Lufträume nicht zu kriegerischen Operationen benutzt werden durften. Auch wurde hier die Begrenzung der Aufenthaltsdauer von Kriegsschiffen in Häfen der amerikanischen Republiken auf 24 Stunden beschlossen. Auf diese Vereinbarung konnte sich Uruguay später im Fall der "Admiral Graf Spee" stützen.

II. Der zweite Abschnitt der deutsch-lateinamerikanischen Beziehungen, vom Beginn des Zweites Weltkriegs bis zum deutschen Angriff auf die Sowjetunion, hatte eine gewisse Beeinträchtigung dieser Beziehungen zur Folge, obwohl sich die neutrale Haltung Mittel- und Südamerikas zum europäischen Konflikt nicht änderte: Die deutsch-lateinamerikanischen Handelsbeziehungen, die sich bis zum Ausbruch des Krieges so überaus positiv entwickelt hatten, erfuhren ihre Erschütterung durch die englische Seeblockade, die schließlich das Erliegen des

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Handelsaustausches zwischen Deutschland und Lateinamerika bewirkte. Größere Erfolge eines Blockadebruches verhinderten vor allem der Abzug deutscher Handelsschiffe von Südamerika nach Japan, da dem Kautschuktransport von Japan nach Deutschland kriegswirtschaftliche Priorität zukam, und die starke Überwachung der lateinamerikanischen Küste durch alliierte Seestreitkräfte, denen die US-Navy schon frühzeitig zuarbeitete. Nur wenige deutsche Handelsschiffe kamen durch Beschlagnahme, Kauf oder Geschenk in lateinamerikanischen Besitz, die meisten gingen in lateinamerikanischen Gewässern verloren, weil sie sich der Beschlagnahme oder Aufbringung entziehen wollten. Insgesamt gelang es nach Aufnahme einer Blockadebrecheraktion nur noch fünf deutschen Schiffen, Europa zu erreichen. Nach dem 31. Juli 1941 gelangte aus Lateinamerika kein deutsches Schiff mehr in einen deutschen oder französischen Hafen (Pommerin 1977, 195-216). Das Schicksal der "Admiral Graf Spee" in den Gewässern Uruguays zeigte überdies, daß das kriegführende nationalsozialistische Deutschland nicht in allen Ländern gleichgroße Sympathien für sich erwarten konnte und zudem keinerlei Druckmittel mehr besaß, um auf die Haltung lateinamerikanischer Staaten einzuwirken. Sympathieverluste, selbst bei Deutschland durchaus freundlich gesinnten Staaten, entstanden besonders durch den deutschen Einmarsch in Holland, Belgien und Luxemburg. Signalisierte dieser Schritt doch die Geringschätzung, die das Dritte Reich dem Status der Neutralität generell entgegenzubringen bereit war, sobald diese Neutralität mit deutschen Interessen kollidierte. Die Sorge um die Handelsbeziehungen gab jedoch den Ausschlag, nach der Selbstversenkung der "Admiral Graf Spee" die diplomatischen Beziehungen nicht abzubrechen, weil das Auswärtige Amt eine mögliche Signalwirkung auf andere lateinamerikanische Staaten befürchtete. Trotz des Krieges wurde versucht, das mit Brasilien abgeschlossene Waffengeschäft zu erfüllen; es bestanden keinerlei Bedenken gegen eine Beteiligung deutscher Firmen in Lateinamerika an der durch die Kriegsverhältnisse begünstigten Industrialisierung lateinamerikanischer Staaten, obgleich diese Entwicklung im Prinzip für Deutschland unerwünscht war und nicht gerade angeregt werden sollte. Erneut kam in Lateinamerika die Auslandsorganisation der NSDAP ins Gerede. Hervorgerufen durch englische und nordamerikanische Agentur- und Pressemeldungen schlug ab April 1940 eine Woge von Verdächtigungen über den in Lateinamerika lebenden Deutschen zusammen, die alle als potentielle Mitglieder einer deutschen Fünften Kolonne galten, als eine Art Sabotagetruppe und Brückenkopf für eine militärische Invasion in Lateinamerika angesehen wurden. Es muß allerdings darauf hingewiesen werden, daß die Furcht vor einer deutschen Fünften Kolonne eine internationale Erscheinung war, Lateinamerika also insoweit keine Ausnahme bildete. Bei der Beurteilung der oft überstürzten Reaktionen lateinamerikanischer Staaten auf angebliche Enthüllungen deutscher Invasionsabsichten und die Existenz einer deutschen Fünften Kolonne im eigenen Land, die bei manchen Regierungen und politischen Kreisen eine Geisteshaltung erzeugte, die nur noch

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als Hysterie zu bezeichnen war, darf natürlich nicht so getan werden, als ob es in Lateinamerika keine deutsche Abwehrtätigkeit gegeben hätte. Verbindungsleute des Marinesonderdienstes berichteten beispielsweise über Schiffsbewegungen und halfen Blockadebrecher auszurüsten. Sabotageakte, das läßt sich aus den Befehlen von Admiral Canaris entnehmen, waren in Südamerika jedoch strikt untersagt, um die labilen politischen Beziehungen nicht zu gefährden. Die Befürchtungen in Lateinamerika, Deutschland beabsichtige eine Germanisierung des lateinamerikanischen Teils der westlichen Hemisphäre und habe deshalb Ansiedlungen von Deutschen an strategisch wichtigen Plätzen vorgenommen, wären indessen geringer geworden, wenn Lateinamerika damals die Überlegungen deutscher Stellen gekannt hätte, die sogar die Rückholung der Überseedeutschen vorsahen, um diese bewährten Überseekräfte im noch zu erkämpfenden Raum im Osten oder im Kolonialraum in Afrika anzusiedeln (Pommerin 1979, 365-377). Die lateinamerikanische Furcht vor einer bevorstehenden Invasion gründete sich auf die als sicher angesehene Beschlagnahme der französischen Flotte und die, nach der damals möglich scheinenden Niederwerfung Englands zu erwartende, Beschlagnahme auch der britischen Flotte durch das Dritte Reich, dem dann die Küsten Amerikas für ein Invasionsunternehmen schutzlos — die USNavy lag im Pazifik — offenzustehen schienen. Daß sich Hitlers Interesse damals weniger auf England als auf Rußland richtete, und eine Invasion im Bereich der westlichen Hemisphäre schon aus militärtechnischen Gründen völlig ausgeschlossen war, ließ sich zum damaligen Zeitpunkt von Lateinamerika aus nicht erkennen. Das Fehlen solcher Planungen wird verständlicher, wenn einbezogen wird, daß Hitler selbst eine Auseinandersetzung mit den USA, in deren Zusammenhang die Rolle Lateinamerikas hätte geklärt werden müssen, erst in die zweite, die überseeische Phase seines Programms gelegt hatte, von der er, mit Sicherheit jedenfalls im Sommer 1940, annahm, sie werde erst nach seiner Zeit, in der folgenden Generation, durchgeführt werden können (Hillgruber 1974, 65-84). Gegen die in Lateinamerika herrschenden Ängste konnte Deutschland wenig unternehmen, zumal sie den USA im Sinne der Verteidigungsbereitschaft der westlichen Hemisphäre nicht ganz ungelegen kamen, möglicherweise sogar von der amerikanischen oder britischen Abwehr mit initiiert worden sind. Dem Dritten Reich blieb nach der Eroberung Frankreichs nur übrig, die lateinamerikanischen Staaten auf ein bald bevorstehendes Kriegsende und einen dann unter deutscher Vormachtstellung stehenden europäischen Großwirtschaftsraum zu vertrösten. Im Auswärtigen Amt arbeiteten bereits verschiedene Stellen an Entwürfen für die zukünftigen Handelsbeziehungen mit Lateinamerika. Die deutschen Diplomaten in Lateinamerika erhielten die Weisung, die Staaten Lateinamerikas mit Kaufversprechungen für die Nachkriegszeit ruhig zu halten. Vor allem bot die deutsche Diplomatie an, Lateinamerika bei der Aufrüstung nach dem Krieg behilflich zu sein, indem es an die große Waffenbeute erinnerte, die Deutschland bereits im Krieg gemacht habe. Daß Lateinamerika beim

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zweiten Treffen der Außenminister der amerikanischen Republiken in Havanna, im Juli 1940, seine neutrale Haltung gegenüber Deutschland nicht veränderte, beruhte wiederum nicht auf dem Erfolg einer auf Lateinamerikas Neutralität bedachten Außenpolitik; denn eine solche läßt sich nicht nachweisen. Vielmehr erwarteten die lateinamerikanischen Staaten aufgrund des Verlaufs des kurzen Frankreichfeldzuges eine baldige Konzentration der deutschen Kampfkraft auf England und damit ein schnelles Kriegsende. Der in Europa dann entstehende Großwirtschaftsraum unter deutscher Führung, von dem die deutschen Diplomaten in Lateinamerika bereits sprachen, konnte zum weitaus wichtigsten Handelspartner Lateinamerikas werden. Angesichts der Versprechungen über den Umfang des zu erwartenden Nachkriegsgeschäftes schien es nur geraten, sich das Wohlwollen des Dritten Reichs zu erhalten. In den USA wurde die Gefahr erkannt, die von einem siegreich aus dem Krieg hervorgehenden Deutschland für den US-amerikanischen Lateinamerikahandel erwachsen konnte. Dieser Gefahr traten die USA mit einer außenpolitischen Aktion entgegen, deren gewaltiger Umfang deutschen Stellen erst Anfang 1941 deutlich wurde. Eine Stoßrichtung lag in der Kreditgewährung, die zum einen in Form von Vorschüssen an die lateinamerikanischen Notenbanken, um deren Devisenbedarf zu überbrücken, zum anderen als Umschlagskredite zur Finanzierung der Gütereinfuhr aus den USA, sowie als langfristige Investitionskredite erfolgte. Diesen Aktivitäten konnte das Dritte Reich nichts entgegensetzen. Den Bemühungen der USA, in Mittel- und Südamerika Luft- und Marinestützpunkte zu erwerben, räumten die deutschen Diplomaten in ihrer Berichterstattung wenig Bedeutung ein. Der deutschen Öffentlichkeit enthielt die Presse diese Verhandlungen auf Weisung des Reichspropagandaministeriums vor. Vom Ausschluß der Achsenmächte vom Flugverkehr in Lateinamerika, wo es den USA mit dem Hinweis auf mögliche Sabotageakte aus der Luft bei dieser Gelegenheit gelang, die lästige deutsche Konkurrenz auszuschalten sowie die eigenen Fluglinien ins Geschäft zu bringen, erfuhr die deutsche Öffentlichkeit nichts. Und sie wurde ebenso wie die deutschen Missionschefs in Lateinamerika sowie die lateinamerikanische und nordamerikanische Öffentlichkeit am 22. Juni 1941 vom deutschen Überfall auf die Sowjetunion überrascht.

III. Mit diesem Überfall begann der letzte Abschnitt der deutsch-lateinamerikanischen Beziehungen. Bis zu diesem Zeitpunkt war Lateinamerika in dem Glauben geblieben, daß ein baldiges Kriegsende kurz bevorstehe. Es war weiterhin bestrebt gewesen, den Nachkriegshandel nicht zu gefährden. Mit dem Krieg gegen die Sowjetunion schwand für Lateinamerika jedoch die Hoffnung auf ein baldiges Kriegsende und die Wiederbelebung der lateinamerikanisch-europäischen Wirtschaftsbeziehungen. Die handelspolitische Abhängigkeit von den USA und deren seit April 1941 offen gegen das nationalsozialistische Deutschland gerichteten Maßnahmen, sowie der Zwang zur panamerikanischen Solidari-

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tat führten jetzt zum Wandel im bisher freundlich-neutralen Verhältnis Lateinamerikas zu Deutschland. Dieser Wandel äußerte sich unter anderem im Vorgehen gegen deutsche Konsulate und Diplomaten und in der Verhaftung von Reichsdeutschen. Es war kein Zufall, daß die Staaten, die den Wandel in den deutsch-lateinamerikanischen Beziehungen einleiteten, sich in besonderer wirtschaftlicher Abhängigkeit von den USA befanden. Da das Dritte Reich dieser Entwicklung weder macht- noch wirtschaftspolitisch entgegenwirken konnte, kam es in dieser Etappe nur noch zu deutschen Überlegungen, wenigstens durch propagandistische Maßnahmen auf dem Gebiet der Presse- und Rundfunkarbeit Terrain in Lateinamerika zu erhalten. Diese Überlegungen fanden jedoch, unter anderem durch die ablehnende Haltung Spaniens, keine Realisierung. Nach der deutschen Kriegserklärung an die USA erklärten alle mittelamerikanischen Staaten Deutschland am 12. Dezember 1941 den Krieg. Die deutsch-lateinamerikanischen Beziehungen im engeren Sinn waren damals beendet, die deutsch-südamerikanischen sollten nur noch wenige Wochen dauern. Zwar versuchte das Dritte Reich in letzter Minute noch mit Hilfe Italiens und Spaniens einen Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu den südamerikanischen Staaten zu verhindern; doch auch die deutsch-chilenischen diplomatischen Beziehungen fanden am 20. Januar 1943, die deutsch-argentinischen am 26. Januar 1944 ihr Ende.

IV. Der kurze Durchgang durch die deutsch-lateinamerikanischen Beziehungen zwischen 1933 und 1945 verdeutlicht, daß Mittel- und Südamerika in der Außenpolitik des Dritten Reichs einen Nebenschauplatz bildeten. Daran änderten Kriegsausbruch und Kriegsverlauf nichts; denn die Bitten der deutschen Diplomaten in Lateinamerika um Weisung, welche Ziele das nationalsozialistische Deutschland in Lateinamerika eigentlich zu verfolgen gedenke, erfuhren sowohl 1938 als auch 1940 keine Antwort. Übrig blieb einzig das außenpolitische Interesse an Lateinamerika als Rohstofflieferant und Abnehmer deutscher Industrieprodukte. Neben dem handelspolitischen ist ein weiteres Interesse des Dritten Reichs an Mittel- und Südamerika nicht zu verspüren. Die Ursache für das geringe deutsche Engagement in Lateinamerika — dieser Teilbereich der Außenpolitik wurde entgegen sonstiger Hitlerscher Praxis völlig ohne Eingriffe seinerseits allein vom Auswärtigen Amt und dort auf Ebene der Abteilungsleiter und Referenten geführt — wird verständlicher, wenn der Stellenwert der deutschen Lateinamerikapolitik insgesamt in Hitlers außenpolitischem "Programm" bestimmt wird. Hitler hatte, sofern wir das seinen wenigen, Lateinamerika betreffenden Äußerungen entnehmen können, kein Interesse an Lateinamerika. In seinem "Programm" taucht Lateinamerika überhaupt nicht auf. Dies ist damit zu erklären, daß Hitler zwar den Kampf der Weltmacht Deutschland mit der Weltmacht USA um die Weltherrschaft als unausweichlich ansah, diesen Kampf jedoch nicht mehr zu seinen Lebzeiten, sondern erst für die nachfolgende

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Generation erwartete. Ob Lateinamerika bei dieser Auseinandersetzung Gegner oder Verbündeter sein würde oder als Operationsbasis benutzt werden sollte, muß dahingestellt bleiben. Im Fall einer solchen Auseinandersetzung allerdings, so bleibt zu befürchten, wäre Lateinamerika wohl kaum, wie Hitler am 23. Mai 1941 auf dem Obersalzberg gegenüber dem Amerikaner John Cudahy und am 8. November 1941 anläßlich einer Gedenkrede im Münchner Löwenbräu-Keller geäußert hatte, für das Dritte Reich so weit entfernt geblieben wie der Mond.

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S. Die Beziehungen nach dem 2. Weltkrieg

Die Entwicklungspolitik Hartmut Sangmeister

1. Entwicklungspolitische Leitideen Einer der ersten deutschen Entwicklungshelfer in Lateinamerika war vermutlich Hans Staden aus Homburg bei Kassel. Zumindest ist von ihm eine Art "Evaluierungsreport" seiner Tätigkeit in Brasilien überliefert, die 1557 erstmals veröffentlichte Wahrhaftig' Historia und beschreibung eyner landtschafft der Wilden / Nacketen / Grimmigen Menschenfresser Leuthen / in der Newen weit America gelegen. Als Büchsenschütze und Kanonier im Dienste der portugiesischen und später der spanischen Krone hatte der hessische Landsknecht die Aufgabe, die wirtschaftlichen und imperialen Interessen seiner Arbeitgeber im fernen Brasilien zu verteidigen — eine Funktion, die wahrzunehmen Kritiker auch der heutigen entwicklungspolitischen Zusammenarbeit mit Lateinamerika zuweilen unterstellen. Wie dem auch sei, unübersehbar ist, daß die Entwicklungspolitik inzwischen über ein sehr viel differenzierteres und subtileres Instrumentarium verfügt als vor vierhundert Jahren. Bemerkenswert ist jedoch, daß sich Stadens Wahrhaftig' Historia und heutige Rechenschaftsberichte über entwicklungspolitische Aktivitäten in Lateinamerika in einer Hinsicht ziemlich gleichen: nämlich darin, wie sich die sogenannten Entwicklungsexperten in Szene zu setzen verstehen, wie sie ihre Rolle als Helfer goutieren, und wie sie das Fremde — bewußt oder unbewußt — an der zumeist sehr kurzen Elle der eigenen Kultur messen. Seit den Zeiten Hans Stadens hat sich vieles geändert, nicht nur der Sprachgebrauch; die ehemaligen Kolonien in Lateinamerika haben sich zu unabhängigen Staaten emanzipiert, aus den Wilden / Nacketen / Grimmigen Menschenfresser Leuthen sind "Partner der Entwicklungszusammenarbeit" geworden. Heute sind es auch (meist) keine Söldner mehr, die von Europa geschickt werden, sondern Ärzte, Geologen, Wirtschaftswissenschaftler, Ingenieure und Agrarexperten, die im Auftrag ihrer Regierungen oder nichtstaatlicher Organisationen einen Beitrag dazu leisten sollen, vor Ort die "Politik der Partner" — als die sich die bundesdeutsche Entwicklungspolitik gerne etikettiert — in die Praxis umzusetzen. Dabei wird freilich das Ziel dieser Bemühungen, "Entwick-

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lung", von den Beteiligten zuweilen durchaus unterschiedlich interpretiert: als Wirtschaftswachstum, als Industrialisierung, als Prozeß zur Überwindung von Armut, als Grundbedürfnisbefriedigung der Bevölkerungsmehrheit oder auch nur als volkswirtschaftliche Strukturanpassung an veränderte weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen. In diesen unterschiedlichen Dimensionen, die sich dem Entwicklungsbegriff zuordnen lassen, spiegelt sich bis zu einem gewissen Grade die entwicklungstheoretische Diskussion wider, die seit den fünfziger Jahren diesseits und jenseits des Atlantiks geführt wurde; ein vorläufiges Resümee dieser Auseinandersetzungen ergibt, daß jegliche Entwicklungstheorie nicht an einem wohldefinierten, allgemein nachvollziehbaren und beliebig reproduzierbaren Entwicklungsbegriff festzumachen ist, sondern sich mit einem Prozeß vielfaltiger Zustandsveränderungen unter historisch jeweils einmaligen Konstellationen befassen muß. Natürlich hat die entwicklungstheoretische Diskussion die konzeptionelle Ausgestaltung der bundesdeutschen Entwicklungszusammenarbeit (EZ) mit Lateinamerika nicht unberührt gelassen, zumal die lateinamerikanischen Diskussionsbeiträge nicht unwesentlich zur Ausrichtung und Erweiterung der entwicklungstheoretischen Forschung in Deutschland beigetragen haben. Exemplarisch für diese lateinamerikanischen Beiträge zur Entwicklungstheorie sind die von der CEPAL, der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika, erarbeiteten strukturalistischen Konzepte und Strategien — wie etwa das Zentrum-Peripherie-Modell oder die Strategie importsubstituierender Industrialisierung sowie die dependencia-Theorie in ihren verschiedenen Varianten. Das Ausmaß, in dem die Stimmen Lateinamerikas in der entwicklungstheoretischen Strategiediskussion bei der Ausgestaltung der bundesdeutschen Entwicklungspolitik berücksichtigt (oder zumindest zur Kenntnis genommen) wurden, hing freilich in hohem Maße davon ab, inwieweit diese Stimmen mit der politischen Programmatik der jeweils in Bonn regierenden Partei(en) in Einklang standen. Das Bestreben, bei divergierenden entwicklungsstrategischen Auffassungen die Partner zur Übernahme des eigenen Standpunktes zu bewegen, wird von der staatlichen Entwicklungspolitik der Bundesrepublik Deutschland seit der zweiten Hälfte der achtziger Jahre als Politikdialog bezeichnet. Als Teil der Gesamtpolitik war die bundesdeutsche Entwicklungspolitik nach Regierungswechseln mancherlei inhaltlichen Revisionen unterworfen. Von einer regionenspezifischen Entwicklungspolitik für und mit Lateinamerika konnte allerdings zu keinem Zeitpunkt die Rede sein, da die praktizierten Verfahren und Instrumente der bilateralen Zusammenarbeit mit den lateinamerikanischen Staaten sich nicht wesentlich von denjenigen in anderen Teilen der "Dritten Welt" unterschieden. Inhaltlich läßt sich für die öffentliche EZ der Bundesrepublik Deutschland mit Lateinamerika eine gewisse Fixierung auf das modernisierungstheoretisch begründete Paradigma nachholender Industrialisierung von außen nach innen konstatieren - ein Konzept, dessen entwicklungsstrategisches Grundmuster westeuropäisch-nordamerikanischen Vorbildern entsprach, wobei freilich übersehen wurde, daß gegenüber der historischen Modellvorlage völlig

409

veränderte weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen sowie signifikante Unterschiede in der Konfiguration der Machtverteilung innerhalb der lateinamerikanischen Gesellschaften bestanden. Spätestens seit dem offenen Ausbruch der Verschuldungskrise Lateinamerikas zu Beginn der achtziger Jahre ist die längerfristige Tragfähigkeit des Entwicklungsmodells nachholender Industrialisierung in Frage gestellt (vgl. Sangmeister 1995a). Die tiefgreifende wirtschaftliche und soziale Krise in den meisten lateinamerikanischen Ländern hat die achtziger Jahre unter entwicklungspolitischen Gesichtspunkten zu einer "verlorenen Dekade" werden lassen. Denn bei zunehmender Massenarmut, die sich u.a. aus sinkenden Realeinkommen und dem Abbau staatlicher Leistungen im Rahmen von Strukturanpassungsprogrammen erklärt, sind die Entwicklungserfolge der sechziger und siebziger Jahre für große Teile der lateinamerikanischen Bevölkerung teilweise wieder zunichte geworden. Die Weltbank schätzte, daß 1990 etwa 108 Millionen Lateinamerikaner unterhalb der Armutsgrenze eines jährlichen Einkommens von 420 USDollar lebten; dies bedeutete gegenüber 1985 eine Zunahme von 21 Millionen (World Bank 1992, 30). Andere Untersuchungen kamen zu dem Ergebnis, daß Mitte der achtziger Jahre etwa jeder fünfte Lateinamerikaner mit einem Einkommen unterhalb der "oberen" Armutslinien von monatlich 31 US-Dollar auskommen mußte und jeder achte sogar mit einem Monatseinkommen von weniger als 23 US-Dollar (Sangmeister 1995b, 14). Angesichts der Massenarmut in Lateinamerika bleibt die deutsche Entwicklungspolitik bis auf weiteres verpflichtet, ihr selbstgestecktes Ziel ernstzunehmen, und das heißt: die elementaren Lebensvoraussetzungen der Menschen in Lateinamerika zu sichern und sie in den Stand zu versetzen, sich selbst zu helfen (BMZ 1988, 39). Wo dies auf der Ebene der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit nicht möglich ist, weil eine "Partnerregierung" Menschenrechte mißachtet oder kulturelle, soziale und wirtschaftliche Partizipationsrechte bestimmter Bevölkerungsgruppen (z.B. ethnische Minderheiten) beeinträchtigt, dann muß versucht werden, auch außerhalb der etablierten Formen zwischenstaatlicher EZ in Not geratenen Menschen beizustehen. Die Zusammenarbeit der öffentlichen Entwicklungspolitik mit Kirchen und anderen nichtstaatlichen Organisationen hat es in Lateinamerika ermöglicht, eine Vielzahl basisorientierter Projekte und Programme mit Schwerpunkten in den grundbedürfnisrelevanten Bereichen (Aus-) Bildung, Gesundheitswesen und Wohnungsbau erfolgreich durchzuführen. Allein in Brasilien wurden zwischen 1962 und 1992 etwa 700 kirchliche Entwicklungsprojekte mit rund 324 Mio. DM aus dem deutschen Bundeshaushalt unterstützt, wovon mehr als 60 % auf Maßnahmen der katholischen Kirche entfielen. Auch die deutschen politischen Stiftungen sind in Lateinamerika seit vielen Jahren vor allem mit Projekten der gesellschaftspolitischen Bildung und der Sozialstrukturhilfe aktiv.

410

Tabelle 1: Bilaterale öffentliche Entwicklungszusammenarbeit (ODA) der Bundesrepublik Deutschland mit Lateinamerika 1950-1992 - Nettoauszahlungen in Mio. DM -

1950-1992

Land Zuschüsse Antigua und Barbuda Argentinien Bahamas Barbados Belize Bolivien Brasilien Chile Costa Rica Dominica Dominikanische Republik Ecuador El Salvador Grenada Guatemala Guyana Haiti Honduras Jamaica Kolumbien Kuba Mexico Nicaragua Panama Paraguay Peru St. Kitts und Nevis St. Lucia St. Vincent & Grenadinen Suriname Trinidad /Tobago Uruguay Venezuela

0,799 746,524 0,275 5,757 1,565 656,378 1.643,273 873,714 299,004 5,167 198,330 457,535 242,314 4,089 348,484 7,399 334,617 212,779 141,080 750,837 11,814 477,647 262,932 50,966 263,983 1.152,816 0,588 1.400 0,745 10,271 12,085 183,234 350,830

Kredite 235,906

443,521 753,660 30,888 116,470 0,060 78,169 125,601 118,828 67,301 24,139 0,060 134,928 219,979 261,617 58,073 178,058 3,023 92,875 707,889

55,474 9,572 87,919

Insgesamt 0,799 982,430 0,275 5,757 1,565 1.099,899 2.396,933 904,602 415,474 5,227 276,499 583,136 361,142 4,089 415,785 31,538 334,677 347,707 361,059 1.012,454 11,814 535,720 440,990 53,989 356,858 1.860,705 0,588 1,400 0,745 10,271 67,559 192,806 438,749

Quelle: Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.

411

2. Die Leistungen der Entwicklungszusammenarbeit mit Lateinamerika In der EZ der Bundesrepublik Deutschland mit den Ländern der "Dritten Welt" ist Lateinamerika1 lange Zeit kaum eine besondere Bedeutung zugemessen worden, zumal es keine aus einer gemeinsamen (kolonialen) Vergangenheit bedingte spezifischen Bindungen an diese Region gibt, die ein hieraus abzuleitendes verstärktes Angebot von Entwicklungshilfeleistungen politisch hätten opportun erscheinen lassen. Die bundesdeutsche Entwicklungspolitik hat die relative Ungebundenheit an historisch gewachsene Verpflichtungen überwiegend als Chance verstanden, ihre Leistungen stärker als andere Geberländer vorrangig nach entwicklungsstrategischen Gesichtspunkten zu vergeben, und hierbei vor allem auch das Bedürftigkeitsprinzip in den Vordergrund zu stellen. Bei dieser Betrachtungsweise kam den meisten Ländern Lateinamerikas als Empfangern bundesdeutscher Entwicklungshilfeleistungen nachgeordnete Priorität gegenüber den afrikanischen Staaten südlich der Sahara und den Ländern im Armutsgüitel Südostasiens zu. Seit Beginn der offiziellen EZ gegen Ende der fünfziger Jahre haben Botschafter der lateinamerikanischen Staaten in der Bundesrepublik Deutschland immer wieder gegen die vermeindiche Benachteiligung ihrer Region bei der Mittelvergabe protestiert (Moniz Bandeira 1994, 146ff.). Bei konsequenter Ausrichtung der bundesdeutschen Entwicklungspolitik an der wirtschaftlichen und sozialen Bedürftigkeit der Empfangerländer hätte Lateinamerika während der sechziger und siebziger Jahre kaum Aussicht auf einen wesenüichen Anteil an den begrenzten Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit haben können; denn mit Ausnahme Haitis nehmen die Staaten dieser Region in den üblichen internationalen Klassifikationen der "Dritten Welt" an Hand von Entwicklungsindikatoren wie Pro-Kopf-Einkommen, Industrialisierungsgrad etc. mittlere bis höhere Positionen ein. De facto spielten für die Vergabe deutscher Entwicklungshilfeleistungen an lateinamerikanische Regierungen häufig auch andere Kriterien als lediglich entwicklungspolitische Förderungswürdigkeit eine Rolle, wie etwa außenpolitische Opportunitätserwägungen, die Stabilisierung oder Erschließung von Absatzmärkten sowie die Sicherung der Rohstoffversorgung für die deutsche Wirtschaft. So wird der Eindruck erklärlich, daß für die Vergabe der Entwicklungshilfeleistungen an die lateinamerikanischen Länder eher das "Gießkannenprinzip" maßgeblich gewesen zu sein schien als eine strikte Orientierung an Kriterien entwicklungsstrategischer Notwendigkeiten (vgl. Tab. 1). Positiv formuliert läßt sich der deutschen EZ ein recht hohes Maß an "pragmatischer Flexibilität" bescheinigen. Ein Beleg hierfür ist beispielsweise die Liste des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) der bis Ende 1992 abgeschlossenen 148 Projekte der Technischen Zusammenarbeit (TZ)

'Die folgenden Zahlenangaben beziehen sich auf die deutsche Entwicklungszusammenarbeit mit allen Staaten Lateinamerikas und der Karibik.

412

mit Brasilien; auf dieser Liste finden sich Projekte jeglichen Typs, unterschiedlicher Größenordnungen und durchaus konfligierender entwicklungspolitischer Zielsetzungen, wie beispielsweise ein Projekt mit der Bezeichnung "Lieferung von Forelleneiem für die Fischzucht in Säo Paulo" (Fördersumme 500 DM), oder das Projekt "Verbesserung der Nutzungsmöglichkeiten der brasilianischen Kohle" (436.000 DM) oder das Projekt "Lagerstättenkundliche Untersuchungen in Minas Gerais" (mit einer Fördersumme von 23,1 Mio. DM das aufwendigste Einzelprojekt der staatlichen TZ mit Brasilien).

Tabelle 2: Entwicklungspolitische Leistungen der Bundesrepublik Deutschland an Lateinamerika 1950-1992 -Nettoauszahlungen-

Gesamte ODA Periode

Mio. DM

ODA-Zuschüsse und -kredite an Lateinamerika Mio. DM %

davon ODA-Kredite

1950-59

2.251,269

2,669

0,1

Mio. DM 0,000

% 0,0

1960-69

14.702,801

1.281,379

8,7

561,115

43,8

1970-79

25.294,675

3.200,713

12,7

822,558

25,7

1980-89

54.340,058

6.967,730

12,8

1.935,317

27,8

1990-92

23.014,512

2.588,706

11,2

596,315

23,0

1950-92

119.603,315

14.041,197

11,7

3.915,305

27,9

Die hier ausgewiesenen ODA-Leistungen an Lateinamerika sind höher als die Summe der Zahlungen an die einzelnen Länder gemäß Tabelle 1, da dort u.a. überregionale Leistungen nicht enthalten sind, die keine länderspezifische Zuordnung gestatten. Quelle: Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie eigene Berechnungen.

413

Von den gesamten (Netto-)Aufwendungen der Bundesrepublik Deutschland für bilaterale öffentliche EZ (Official Development Assistance — ODA)2, die sich zwischen 1950 und 1992 auf 119,6 Mrd. DM beliefen, entfielen auf Lateinamerika 11,7 % (vgl. Tab. 2?. Dieser Anteil Lateinamerikas an der gesamten bilateralen ODA der Bundesrepublik Deutschland ist etwas höher als der Bevölkerungsanteil der lateinamerikanischen Länder an der Gesamtbevölkerung der "Dritten Welt", der im Berichtszeitraum zwischen 9 und 10 % lag. Gemessen an seinem Bevölkeningsanteil ist Lateinamerika also im Vergleich zu anderen Entwicklungsländerregionen bei der Vergabe bundesdeutscher ODA-Leistungen keineswegs benachteiligt worden. Zwar galt in den ersten Dekaden der bundesdeutschen EZ das vorrangige entwicklungspolitische Interesse dem Entkolonialisierungsprozeß in Afrika und Asien und dominierten im entwicklungspolitischen Zielkatalog export- und deutschlandpolitische Interessen, so daß Lateinamerika ein Kontinent sekundären entwicklungspolitischen Interesses zu sein schien (Hamann 1994, 107). Tatsächlich erhielt Lateinamerika in den Jahren 1950-59 auch nur 0,1 % der deutschen ODA-Leistungen; aber bereits in der Dekade 1960-69, nachdem die EZ stärker institutionalisiert worden war4, stieg der lateinamerikanische Anteil an den deutschen ODA-Leistungen auf 8,7 %. Vor allem in den siebziger und achtziger Jahren konnte dann Lateinamerika seine Position als Empfanger bundesdeutscher öffentlicher Entwicklungsleistungen deutlich verbessern. Insbesondere für die sich rasch industrialisierenden Schwellenländer des lateinamerikanischen Subkontinents wurden die entwicklungspolitischen Erfolgsaussichten weithin als sehr günstig angesehen. Da das "kritische Minimum" an institutioneller, materieller und personeller Infrastruktur in Ländern wie Brasilien, Chile und Argentinien gegeben schien, versprach Entwicklungshilfe gerade in den lateinamerikanischen "Aufsteigerländern" zu einer rentablen Investition in eine vielversprechende Zukunft zu werden, mit interessanten Absatz- und Beschaffungsmärkten für die deutsche Wirtschaft. Während der siebziger Jahre wurden die ODA-Leistungen an Lateinamerika deutlich stärker ausgeweitet als die bundesdeutschen Entwicklungshilfezahlungen

2 Nach den Kriterien des Development Assistance Committee (DAC) der OECD müssen ODA-Leistungen drei Kriterien erfüllen: 1. die Leistungen werden von öffentlichen Trägern erbracht; 2. die Leistungen haben die Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung und der Wohlfahrt im Empfängerland als Hauptziel; 3. die Leistungen enthalten ein "Geschenkelement" von mindestens 25 %. 3 Die in Tabelle 2 ausgewiesenen ODA-Leistungen der Bundesrepublik Deutschland an Lateinamerika während des Zeitraums 1950-92 in Höhe von 14,041 Mrd. DM enthalten auch Zahlungen an überregionale Institutionen in Lateinamerika, wie z.B. die Zentralamerikanische Bank für wirtschaftliche Integration (BCIE), die Karibische Entwicklungsbank (CDB) oder der Andenpakt; nach Angaben des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung beliefen sich die nicht länderspezifisch aufteilbaren ODALeistungen für Lateinamerika in den Jahren 1950-92 auf insgesamt rund 330 Mio. DM. 4 Das 1961 gegründete Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit übernahm vom Auswärtigen Amt die Zuständigkeit für die Entwicklungspolitik.

414

Abbildung 1: Bilaterale öffentliche Entwicklungszusammenarbeit (ODA) der Bundesrepublik Deutschland mit Lateinamerika 1960-1989 — Nettoauszahlungen in Mrd. DM — Mrd. D M 8t 6,968

7-

6 5 4

3,201

3 2 1

72,2 %

1,281 56,2 %

74,3 %

1960-69

1970-79

P5

Kredite

ZU

1980-89 Zuschüsse

Quelle: Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie eigene Berechnungen

415

insgesamt. Mit 3,2 Mrd. DM erreichten in der Periode 1970-79 die (Netto-) Leistungen an lateinamerikanische Staaten fast das Zweieinhalbfache der Vorperiode 1960-69, um sich in den Jahren 1980-89 nochmals mehr als zu verdoppeln, auf knapp 7 Mrd. DM. Entfielen in den sechziger Jahren 8,7 % der gesamten bundesdeutschen ODA-Leistungen auf Lateinamerika, so steigerte sich dieser Anteil in den siebziger Jahren auf 12,7 % und blieb in den achtziger Jahren praktisch konstant (12,8 %). Im Durchschnitt der Jahre 1970-79 wurden die jährlichen Nettoauszahlungen an Lateinamerika jährlich um 1,7% gesteigert, zwischen 1980 und 1989 um 1,6 %. Trotz dieser Zuwachsraten war die Entwicklungshilfe der Bundesrepublik Deutschland an Lateinamerika pro Kopf der dortigen Bevölkerung rückläufig, da das demographische Wachstum in der Region während der siebziger Jahre jährlich 2,5 % erreichte und auch in den achtziger Jahren mit jährlich 2,3 % noch deutlich über der nominalen Steigerungsrate der Entwicklungshilfezahlungen lag.3 Der Anteil der Kreditfinanzierung im Rahmen der ODA-Leistungen an Lateinamerika hat sich im Laufe der Zeit deutlich verändert (vgl. Abb. 1). Wurden 1960-69 noch mehr als 40 % der Nettoauszahlungen als Kredite gewährt, so sank dieser Anteil in der Dekade 1970-79 auf knapp 26%, um sich im Zeitraum 1980-89 wieder leicht auf ca. 28% zu erhöhen. Diese Zunahme der Kreditfinanzierung gerade in dem Jahrzehnt, in dem sich die externe Zahlungsfähigkeit vieler lateinamerikanischer Schuldnerländer zeitweise rapide verschlechtert hatte, mag prima facie überraschen; tatsächlich mußten Entwicklungshilfe-Kredite in verstärktem Ausmaße dazu beitragen, die Finanzierungslücken in vielen Bereichen zu schließen, die sich nach 1982 durch den erschwerten Zugang Lateinamerikas zu kommerziellen Bankkrediten auftaten. Zu der gesamten Auslandsverschuldung lateinamerikanischer Länder trugen solche offiziellen Entwicklungshilfe-Kredite allerdings nicht entscheidend bei.6 Die finanzielle Bedeutung der bundesdeutschen ODA-Kredite und -Zuschüsse an Lateinamerika ist ohnehin zu relativieren angesichts des Nettoressourcentransfers, den die Region an ihre Gläubigerländer zu leisten hatte. Ab 1982 erbrachte Lateinamerika einen Nettoressourcentransfer zugunsten der übrigen Welt, der sich bis Ende 1990 auf etwa 163 Mrd. US-Dollar summierte; dies bedeutete während der Periode 1982-90 eine durchschnittliche jährliche Belastung von rund 18 Mrd. US-Dollar bzw. 2,5 % des aggregierten Bruttosozialprodukts der Region (Sangmeister 1992, 17).

'Bei der Bewertung der nominalen ODA-Leistungen ist aus der Sicht des Geberlandes zu berücksichtigen, daß die jährliche Inflationsrate in der Bundesrepublik Deutschland 3,2 % zwischen 1960-69 betrug, 5,3 % zwischen 1970-79 und 2,9 % zwischen 1980-89; der reale Entwicklungshilfe-Transfer ist also entsprechend niedriger anzusetzen. Sämtliche bi- und multilateralen Entwicklungshilfe-Kredite an Lateinamerika hatten 1987 lediglich einen Anteil von 22 % an der gesamten Auslandsverschuldung der Region; 1980, also vor dem offenen Ausbruch der Verschuldungskrise, hatte dieser Anteil sogar nur 12,6 % betragen; vgl. World Bank 1988, 18.

416

Tabelle 3: Schwerpunkte der deutschen Entwicklungszusammenarbeit mit Lateinamerika 1950-1952 -Regierungs-Zusagen in Mio. DMdavon Gesamtzusagen Empfängerland

Mio. DM

Finanzielle Zusammenarbeit Mio. DM %

Technische Zusammenarbeit Mio. DM %

1. Brasilien

3.169,00

1.198,00

37,8

1.971,00

62,2

2. Peru

2.317,00

1.034,00

44,6

1.283,00

55,4

3. Bolivien

1.586,56

832,55

52,5

754,01

47,5

4. Chile

2.385,60

431,40

31,1

954,20

68,9

5. Kolumbien

1.300,34

423,00

32,5

877,34

67,5

6. Argentinien

1.050,39

197,00

18,8

853,39

81,2

7. Ecuador

796,97

257,71

32,2

539,26

67,7

8. Guatemala

622,26

236,00

37,9

386,26

62,1

9. Nicaragua

613,26

275,50

44,9

337,76

55,1

10. El Salvador

554,99

318,75

57,4

236,24

42,6

Ouelle: BMZ 1994a, 82f.

417

Unter dem Eindruck der verheerenden wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Verschuldungskrise Lateinamerikas kam die deutsche Bundesregierung nicht umhin, ihrem entwicklungspolitischen Engagement in der Region erhöhte Aufmerksamkeit zu widmen. Erstmals 1985 wurde in den periodischen Berichten zur Entwicklungspolitik der Bundesregierung ausdrücklich betont, daß Lateinamerika eine wachsende Bedeutung bei der geographischen Verteilung der Entwicklungshilfemittel zuzumessen sei, eine Formulierung, die 1988 erneut zur Charakterisierung der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit mit Mittel- und Südamerika gewählt wurde (BMZ 1985, 42; 1988, 47). In den neunziger Jahren stehen vier Schwerpunkbereiche im Zentrum der deutschen EZ mit Lateinamerika (Schaffer 1995, 237f.): — die unmittelbare Bekämpfung der extremen Armut; — die mittelbare Bekämpfung der Armut durch Verbesserung der wirtschaftlichen Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit, um Arbeitsplätze und Einkommen zu schaffen; — der Aufbau eines leistungsfähigen Bildungswesens, das der armen Bevölkerungsmehrheit neue Perspektiven im Wirtschaftsleben eröffnen soll; — die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen. Neben der inhaltlichen Konzentration der deutschen EZ mit Lateinamerika werden die verfügbaren finanziellen Mittel auch auf eine geringere Anzahl von Ländern verteilt. Schwellenländer, deren wirtschaftliche Situation es erlaubt, auf das interne und externe kommerzielle Finanzierungspotential zurückzugreifen, sollen bei der Finanziellen Zusammenarbeit (FZ) nicht mehr berücksichtigt werden.7 Sofern in den wirtschaftlich fortgeschritteneren Ländern Lateinamerikas entwicklungshemmende Know-how-Defizite bestehen, sollen sie aber auch weiterhin durch TZ unterstützt werden, um die großen Entwicklungsreserven in Schlüsselbereichen zu mobilisieren.

3. Schwerpunkte der Zusammenarbeit: Erfolge und Mißerfolge Mit rund 3,2 Mrd. DM bilateraler bundesdeutscher Entwicklungshilfe zwischen 1950 und 1992 nimmt Brasilien mit Abstand den Spitzenplatz unter den lateinamerikanischen Empfängerländern ein, gefolgt von Peru, dem Mittel in Höhe von 2,3 Mrd. DM zugesagt wurden (vgl. Tab. 3). Auf die zehn Staaten, denen 1950-1992 die höchsten kumulierten Beträge zugeteilt wurden, entfallen etwa drei Viertel der gesamten deutschen Entwicklungshilfe-Leistungen an Lateinamerika. Allerdings ändert sich die Rangliste der lateinamerikanischen Empfängerländer deutlich, wenn man die Mittelzuweisung pro Kopf der Bevölkerung

'Von dieser Konzentration der deutschen Entwicklungshilfe-Mittel waren ab 1994 in Lateinamerika zunächst Venezuela, Uruguay, Panama und Costa Rica betroffen, für die keine neuen Projekte der EZ mehr begonnen werden sollen; vgl. SchafTer 1995, 242.

418

zugrundelegt. So erhielt beispielsweise in der Periode 1950-87 Costa Rica 192 DM per capita, Bolivien 189 DM p.c., Paraguay 133 DM p.c., Peru 121 DM p.c. und Chile 102 DM p.c.-, pro Kopf der brasilianischen Bevölkerung betrugen die Mittelzusagen 1950-87 aber nur 22 DM und im Falle Mexikos lediglich 5 DM. 8 Die Zusage von 156,44 Mio. DM für FZ und TZ, die beispielsweise Brasilien 1992 von Deutschland erhielt, bedeutetet rund 1 DM pro Kopf der brasilianischen Bevölkerung; der gleiche Betrag wäre dem Lande zugeflossen, hätte es für die 1992 nach Deutschland exportierten 18 Mio. Tonnen Eisenerz 8,69 DM je Tonne mehr erzielt. Mit der Devise "Kontinuität im politischen Wandel" läßt sich cum grano salis die längerfristige bundesdeutsche EZ mit Lateinamerika kennzeichnen; denn für die finanzielle Intensität der Kooperation war aus der Sicht des Mittelgebers das jeweilige politische Regime in den Empfängerländern offensichtlich kein entscheidendes Kriterium. Immerhin finden sich auf den vorderen Plätzen der Leistungsempfanger Paraguay unter der Diktatur Stroessners, aber auch Peru während des links-nationalistischen Militärregimes (1968-80). Im Falle Chiles wurden bundesdeutsche Entwicklungshilfeleistungen sowohl während der Regierungszeit Allende (1970-73), als auch während des Pinochet-Regimes relativ kontinuierlich gewährt. Selbst die härteste Phase der Militärherrschaft in Brasilien, während der Präsidentschaft Garrastazu Mèdici (1969-74), bedeutete kein Hindernis für eine erhebliche Ausweitung der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit der Bundesrepublik Deutschland mit Brasilien. Für Nicaragua wurden die bundesdeutschen Entwicklungshilfeleistungen nach dem Sturz der Somoza-Dynastie (1979) vervierfacht und blieben auf diesem Niveau weitgehend konstant, auch nachdem seit 1982 in Folge des Regierungswechsels in Bonn zunehmend Vorbehalte gegen die Unterstützung der Sandinisten artikuliert worden waren. Lediglich gegenüber dem sozialistischen Kuba erlegte sich die offizielle bundesdeutsche Entwicklungspolitik eine fast vollständige Abstinenz auf. Der instrumenteile Schwerpunkt der bisherigen deutschen EZ mit Lateinamerika lag bei der TZ, d.h. bei Maßnahmen, die im Rahmen der allgemeinen Ziele der deutschen Entwicklungspolitik dazu beitragen sollen, die Leistungsfähigkeit von Menschen und Institutionen in den Empfängerländern zu erhöhen. Bei den zehn lateinamerikanischen Schwerpunktländern der deutschen EZ hatte von 1950-92 lediglich in El Salvador und Bolivien die FZ einen größeren Anteil an den ODA-Zusagen als die TZ (vgl. Abb. 2). Von den Lateinamerika insgesamt zugesagten Entwicklungshilfemitteln entfielen mehr als 60 % auf TZ in Form von Beratungstätigkeiten bundesdeutscher Fachkräfte, projektbezogener Aus- und Fortbildung lateinamerikanischer counterparts in Deutschland

'Bei der Berechnung dieser Pro-Kopf-Entwicklungshilfe ist die mittlere Bevölkerung 1950-87 des Empfangerlandes als arithmetisches Mittel aus Anfangs- und Endbestand zugrunde gelegt.

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sowie Lieferungen von Sachgütern und Erstellung von Anlagen. Ende 1992 waren fast 900 deutsche TZ-Fachkräfte (einschließlich Entwicklungshelfern) in den Ländern Lateinamerikas und der Karibik tätig (BMZ 1994a, 82f.). Die FZ, d.h. die langfristige Finanzierung von Maßnahmen zur besseren Nutzung oder Erhöhung des Produktionspotentials im Empfängerland durch zinsgünstige Kredite oder Zuschüsse, lag im lateinamerikanischen Durchschnitt bei weniger als 40 % der von deutscher Seite zugesagten Mittel. Im Vergleich zu anderen Regionen hatte in Lateinamerika die FZ als entwicklungspolitisches Instrument eine deutlich geringere Bedeutung als die TZ; dies galt zumindest solange, wie privates Kapital in ausreichendem Maße in die meisten lateinamerikanischen Staaten floß, und insofern Technologie- und Wissenstransfer entwicklungsstrategisch wichtiger bewertet wurden als zinsgünstige Kredite. Fragt man nach Erfolgen (und Mißerfolgen) der bundesdeutschen Entwicklungszusammenarbeit mit lateinamerikanischen Ländern, dann hängt die Antwort entscheidend von dem Bewertungsmaßstab ab, den man der Wirkungsprüfung zugrunde legt. Wesentliche Kriterien der offiziellen Erfolgskontrolle, denen die Maßnahmen der bilateralen TZ und FZ seit 1970 kontinuierlich unterworfen werden, sind Effektivität, Effizienz und entwicklungspolitische Nachhaltigkeit. Aus den Evaluierungen der letzten Jahre lassen sich als Beispiele für erfolgreiche Projekte in Lateinamerika nennen:9 — Zweisprachige Primarschulerziehung in Peru. Dieses Projekt zielte darauf ab, ein Modell für eine den Bedürfnissen der peruanischen Hochlandbevölkerung entsprechende zweistufige Alphabetisierung in Quechua und Spanisch zu entwickeln. Auf diese Weise sollten durch den Anfangsunterricht in der Muttersprache Quechua die soziokulturelle Identität und damit die Lernmotivation der Kinder gefestigt sowie durch das nachfolgende Erlernen der spanischen Sprache die sozioökonomische Integration in die Volkswirtschaft des Landes gefördert werden.10 — Ernährungssicherungsprogramm in Guatemala. Dieses 1976 begonnene Projekt, das ursprünglich nur zur Linderung von Erdbebenschäden beitragen sollte, wurde zu einem umfassenden Selbsthilfeprogramm für marginalisierte Bevölkerungsgruppen erweitert. Mittels Food-for-Work als zentralem Förderungsinstrument gelang die direkte Beteiligung der lokalen Bevölkerung an den Maßnahmen zur Steigerung und Sicherung der landwirtschaftlichen

®Diese Beispiele, wie auch die nachfolgenden Beispiele für weniger erfolgreiche Projekte, sind entnommen aus BMZ 1985, 98f.; BMZ 1988, 110 f.; BMZ 1994b, 131f. '"Aus den Erfahrungen mit diesem Projekt ist später ein Modell für interkulturelle, zweisprachige Erziehung entwickelt worden, um die indianischen Sprachen aufzuwerten und sie von ihrem zweitklassigen Status als Haus-, Küchen- und Dorfsprachen im Verhältnis zu den dominanten offiziellen Amtssprachen Spanisch und Portugiesisch zu befreien; siehe hierzu von Gleich 1994, 1 5 l f .

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Subsistenzproduktion. Dem Projekt, das bis 1986 mit 24,5 Mio. DM von der Bundesrepublik Deutschland gefördert wurde, ist auch von guatemaltekischer Seite nachhaltiger Erfolg bescheinigt worden. — Landwirtschaftliche Nutzbarmachung von Flußniederungen in Brasilien durch kostengünstige Be- und Entwässerung. Dieses PROVARZEAS-Projekt kann als Modell für erfolgreiche Entwicklungszusammenarbeit gelten, da mit einem vergleichsweise geringen Förderaufwand von 4,25 Mio. DM in den Jahren 1978-86 eine beachtliche Multiplikatorwirkung erzielt wurde: Die beteiligten kleinen und mittleren Bauern brachten eine Eigenbeteiligung an den erforderlichen Investitionen in Höhe von rund 840 Mio. DM auf, womit etwa 150.000 Arbeitsplätze geschaffen wurden". — Einfachwohnungsbau durch Selbsthilfe in El Salvador. Mit 17,5 Mio. DM deutscher FZ-Mittel wird das Projekt Popotlan II in Apopa, nördlich der Hauptstadt San Salvador gefördert; 1.500 einfachste Wohnhäuser einschließlich infrastruktureller Einrichtungen werden von den zukünftigen Bewohnern gruppenweise unter der Anleitung von Facharbeitern gebaut, um einen Beitrag zur Bekämpfung der chronischen Wohnungsnot zu leisten, von der vor allem die ärmere städtische Bevölkerung El Salvadors betroffen ist. In der Liste der offiziell als weniger erfolgreich eingestuften entwicklungspolitischen Maßnahmen mit bundesdeutscher Beteiligung finden sich z.B. das Projekt einer integrierten ländlichen Regionalentwicklung in Ayacucho (Peru), das Vorhaben zur Erweiterung der Zinnhütte Vinto (Bolivien), der Bau des Fischereihafens Samanco (Peru) oder das Ausbau- und Modernisierungsprogramm für die elektrischen Übertragungs- und Verteilungssysteme im Stadtgebiet von Santo Domingo in der Dominikanischen Republik. Kenner der Entwicklungshilfe-Szene in Lateinamerika können diese Mißerfolgsliste um zahlreiche andere höchst problematische Projekte erweitern, wie etwa das Irrigationsprojekt im semi-ariden Nordostbrasilien (Sangmeister 1981, 12f.; 1988, 41-61), das FZProjekt Zinkhütte in Cajamarquilla/Peru (Hoppen 1987, 314-325), oder das gigantische Grande-Carajis-Projekt im östlichen Amazonasgebiet Brasiliens, für das bundesdeutsche Finanzhilfe unter dem Titel "Sicherung der Rohstoffversorgung der deutschen Wirtschaft" geleistet wurde (Altvater 1987, 278-314; Institut für Brasilienkunde 1994). Die Häufung weniger erfolgreicher Projekte in Peru, einem traditionellen Schwerpunktland bundesdeutscher Entwicklungszusammenarbeit, deutet darauf hin, daß auch eine "Überforderung" möglich ist, die letztendlich mehr Schaden als Nutzen stiftet. Gründe für Mißerfolge in der Entwicklungskooperation waren Fehleinschätzungen der ökonomischen, sozialen und politischen Rahmenbe-

"Eine ausfuhrlichere Beschreibung dieses Projektes findet sich bei Thiesing 1986, 14f.

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dingungen seitens der Projektplaner, unangepaßte Übertragung bundesdeutscher Planungstechniken oder Prcxluktionsverfahren auf lateinamerikanische Verhältnisse, Vernachlässigung des soziokulturellen Umfeldes, oder mangelnde Berücksichtigung der ökologischen Konsequenzen der durchgeführten Maßnahmen. Trotz einzelner Mißerfolge genießt die bundesdeutsche Entwicklungspolitik in Lateinamerika ein recht hohes Ansehen. Neben Professionalität und interkultureller Lernfähigkeit wird ihr zugute gehalten, daß sie ihre Kooperationsangebote in der Vergangenheit mit weniger sachfremden Konditionen verknüpft hat, als dies bei anderen Gebern häufig der Fall war. Seit einiger Zeit haben allerdings deutsche Forderungen nach einer Lieferbindung zugunsten von Anbietern aus den neuen Bundesländern, wie sie im Rahmen verschiedener FZProjekte erhoben wurden, bei den lateinamerikanischen Partnern für Irritationen gesorgt. Von deutscher Seite wird bemängelt, daß die bürokratischen Genehmigungsverfahren in vielen lateinamerikanischen Staaten die Planung und Durchführung von EZ-Projekten mit hohem Verwaltungsaufwand und erheblichen Zeitverzögerungen unnötig belasten. Entscheidend für die künftige deutsche Entwicklungszusammenarbeit mit Lateinamerika dürfte jedoch sein, daß die deutsche Seite im entwicklungspolitischen Dialog mit den lateinamerikanischen Partnern die Bekämpfung der Armut als moralische Herausforderung betont, aber auch als Gebot politischer und wirtschaftlicher Weitsicht.

Bibliographie Altvater, Elmar. 1987. Sachzwang Weltmarkt. Hamburg: VSA-Verlag. BMZ (Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung). 1985. Sechster Bericht zur Entwicklungspolitik der Bundesregierung. Bonn (Deutscher Bundestag, Drucksache 10/3028). —. 1988. Siebenter Bericht zur Entwicklungspolitik der Bundesregierung. Bonn (Deutscher Bundestag, Drucksache 11/2020). —. 1994a. Journalisten-Handbuch Entwicklungspolitik 1994. Bonn. —. 1994b. Neunter Bericht zur Entwicklungspolitik der Bundesregierung. Bonn (Deutscher Bundestag, Drucksache 12/4096). von Gleich, Utta. 1994. Armutsbekämpfung, Wahrung der Rechte indianischer Völker, Umwelt- und Ressourcenschonung. In: Institut für IberoamerikaKunde (Hg.). Lateinamerika und Europa in den 90er Jahren. Herausforderungen fiir Außenhandel, Investitionen und Entwicklungszusammenarbeit. Bonn: Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, 129-165.

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Profile einer Partnerschaft Zusammenarbeit der katholischen Kirche in Deutschland mit Lateinamerika Hans Czarkowski Vorbemerkung Die Zusammenarbeit der katholischen Kirche in Deutschland mit der katholischen Kirche in Lateinamerika hat seit Beginn der fünfziger Jahre sichtbar an Profil gewonnen, sich aber in dieser Zeitspanne auch mehrfach verändert. Dieser Wandel ging phasenweise vor sich: Die Zahl deutscher Missionskräfte in den lateinamerikanischen Ländern war zu Beginn der fünfziger Jahre hoch, geht aber seit Jahren drastisch zurück. Die finanziellen Zuwendungen für soziale Aufgaben und Entwicklungsprojekte begannen mit der Gründung von Misereor im Jahr 1958. Zur Förderung der pastoralen Initiativen wurde die erste Weihnachtskollekte, später ADVENIAT genannt, im Jahr 1961 durchgeführt. Waren anfangs oft auch deutsche Missionarinnen und Missionare Partner, so wurden bald die einheimischen Kräfte Partner der Werke. Zunehmend entwickelten sich Partnerschaften zwischen deutschen Bistümern und lateinamerikanischen Ortskirchen, zwischen Verbänden und kirchlichen Gruppen, zwischen Pfarreien und Einzelpersonen. Gegenseitige Besuche von Experten, Bildungs- und Begegnungsprogramme trugen weiter zum Prozeß einer erneuten Personalisierung bei. Den beiden ersten Werken traten neue Initiativen zur Seite. Die Personaldienste der AGEH für Laien und die deutsche FideiDonum-Stelle für deutsche Priester in Lateinamerika in Essen ergänzten die Projekthilfe und sorgten für einen vielfaltigen Rückfluß von Erfahrungen. Neue Berufsbilder entstanden, z.B. die der Projektreferenten und -referentinnen bei den verschiedenen Aktionen. Nach der deutschen Einheit wurden in diese im Westen lebendig gewachsene Beziehungsstruktur die sich neu formierenden Bistümer im Osten Deutschlands einbezogen. Der nachfolgende Bericht ist ein Versuch. Er möchte Fakten zusammentragen, Reflexionsanstöße geben: Welches Profil haben die deutsch-lateinamerikanischen Verbindungen in der katholischen Kirche, welche Perspektiven gibt es für die Zukunft? Die Solidarität darf man nicht isolieren, sie vollzieht sich gerade an der Basis, in Pfarreien und Verbänden, im Kontext der anderen weltkirchlichen Verbindungen nach Afrika, nach Asien und Ozeanien und seit dem Fall der Mauer in verstärkter Weise und mit neuer Qualität in der Zusammenarbeit mit dem Osten und den dortigen kirchlichen Partnern. Auch von dort gibt es Verbindungen nach Lateinamerika, insbesondere durch die zahlreichen Missionare aus Polen.

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1. Ein historisch gewachsenes und sich veränderndes kirchliches Netz Mitte der neunziger Jahre, der vierten Entwicklungsdekade, besteht ein vielmaschiges Netz von Institutionen, Gremien und Gruppierungen zwischen der Kirche in Deutschland und der Kirche in Lateinamerika, das es in der deutschen Kirchengeschichte in dieser Form und in diesem Umfang zuvor noch nicht gegeben hat. Ohne die jahrhundertelangen missionarischen Verbindungen von Deutschland nach Amerika und ohne die verschiedenen Auswanderungswellen hätte dieses Netz nicht so schnell und tragfähig geknöpft werden können. Dennoch sind heute die ersten Einsätze deutscher Jesuitenmissionare in Mexiko und Südamerika im 17. Jahrhundert und die Rolle der deutschen Jesuiten in den Reduktionen des La-Plata-Gebietes im 18. Jahrhundert nur in Fachkreisen bekannt. Der starke Einfluß franziskanischer Befreiungstheologen in Brasilien wäre ohne die Wiederbelebung der Provinzen des Franziskanerordens in Brasilien durch deutsche Franziskaner um die Jahrhundertwende nicht erklärbar. Ohne die Solidarität der deutschen katholischen Gemeinden in Lateinamerika nach dem Zweiten Weltkrieg wären die Hilfsaktionen von Misereor (1958) und ADVENIAT (1961) vielleicht gar nicht so schnell in Gang gekommen; denn nach dem wirtschaftlichen Aufschwung in den fünfziger Jahren in der Bundesrepublik Deutschland sollten zunächst Misereor und dann ADVENIAT auch ein Dankeszeichen für die Hilfe sein, die insbesondere durch die Initiative deutscher Gemeinden in Argentinien, Brasilien und Chile der Bevölkerung in Deutschland in der Nachkriegsnot wirksam gegeben worden war (Bischöfliche Aktion 1989, 7).

2. Deutsche Missionare Wenn auch die Zahl der deutschen Missionare in Lateinamerika in den letzten Jahren zurückgegangen ist, so ist doch ihre Präsenz weiterhin noch beachtlich: Von den im Deutschen Katholischen Missionsrat zusammengeschlossenen geistlichen Gemeinschaften waren im Jahr 1995 nach Auskunft des Deutschen Katholischen Missionsrates (DKMR) in Lateinamerika 507 Ordenspriester, 116 Brüder, 995 Ordensfrauen und Schwestern sowie 52 Laien tätig. Hinzu kommen noch 186 Weltpriester aus den verschiedenen Bistümern Deutschlands, so daß zu diesem Zeitpunkt insgesamt 1.756 deutsche Missionskräfte in Lateinamerika wirkten (1988 waren es mit 2.500 noch über 800 mehr). Auch der Aufbau der Säkularinstitute in Lateinamerika hat von Deutschland wichtige Impulse erfahren. Aus dem Finanzbericht der Missionsprokuren für das Jahr 1994 geht hervor, daß die katholischen Missionsgemeinschaften in der Bundesrepublik der Kirche in Lateinamerika 62,5 Mio. zugewendet haben, etwa ein Drittel der Gesamtausgaben für Afrika, Asien und Lateinamerika. Nur ein kleiner Teil der Mittel kommt den deutschen Missionskräften zugute. Das meiste wird für die ca. 50.000 einheimischen Missionskräfte ausgelegt, vor allem für die einheimischen Mitarbeiter ausgegeben, die wegen der zunehmenden Verarmung vieler

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kirchlicher Gruppen in Lateinamerika immer weniger von den Schulen, Gemeinden und Kirchen vor Ort unterhalten werden können. Weitere Schwerpunkte des Einsatzes sind Gemeindezentren, Schulen, Hospitäler und Armenküchen sowie die Finanzierung der Ausbildung des eigenen Nachwuchses und von Weiterbildungsprogrammen. (Von 1974 bis 1994 brachten die Missionsorden insgesamt 927 Mio. DM für Lateinamerika auf.)

3. Kirchliche Entwicklungszusammenarbeit Seit bald 40 Jahren steht das Bischöfliche Hilfswerk Misereor im Dienst der kirchlichen Entwicklungsarbeit für Afrika, Asien und Lateinamerika. Die Praxis des Werkes zielt darauf ab, "eine dauerhafte Verbesserung der Lebensverhältnisse" (Herkenrath 1990, 6) in den Förderungsländern zu erreichen. Wie der Geschäftsführer von Misereor, Prälat Norbert Herkenrath, deutlich macht, hat die Kirche in der Bundesrepublik Deutschland "dieses Werk nicht für sich selbst geschaffen, sondern für den Dienst an allen Menschen, die in Not sind" (ebda.). Daraus resultiert, daß Misereor in seiner Solidaritätspraxis der Option für die Armen verpflichtet ist, wie sie von der Kirche in Lateinamerika, z.B. bei der Vollversammlung der lateinamerikanischen Bischöfe in Puebla, als eine Priorität unter den zentralen Aufgaben der katholischen Kirche in diesem Subkontinent definiert worden ist (Sekretariat 193ff.). Die Ziele und die Arbeit von Misereor wurden von den deutschen Katholiken in wachsendem Maße unterstützt. Sie gaben durch ihre Spenden ihrer Solidarität mit den Armen Ausdruck. Misereor wurde immer mehr zur "kompetenten Fachstelle" (Herkenrath 1990, 8) für die Entwicklungszusammenarbeit der katholischen Kirche in Deutschland mit der Dritten Welt. Im Berichtsjahr 1994 haben Misereor und die mit Misereor verbundene Zentralstelle für Entwicklungshilfe für 859 Projekte 110,25 Mio. DM zugesagt. Insgesamt wurden 25% der Mittel für Lateinamerika im Jahr 1994, d.h. 27,56 Mio. DM, den Entwicklungsaufgaben und -Projekten in Brasilien zur Verfügung gestellt (vgl. Misereor Jahresbericht 1994). Als zweiten wesentlichen Auftrag führt Misereor in Deutschland eine breit angelegte Informationstätigkeit und Bewußtseinsbildung durch, "die sich nicht in der Spendenwerbung erschöpft, sondern zu einem wachen und solidarischen Handeln für die Dritte Welt hinführen will" (Herkenrath 1990, 7). Misereor möchte, wie Herkenrath in dem bereits herangezogenen Vortrag über die "Strategien und Prioritäten" für die "Zukunft der kirchlichen Entwicklungsarbeit" unterstrich, "die Herausforderung zu einer prophetisch provozierenden Praxis zugunsten der Armen in die Bundesrepublik vermitteln" (ebda., 8) und will sich dabei auch den aus solchem Engagement erwachsenden Konflikten stellen. Darüber hinaus zielt die Tätigkeit von Misereor auch darauf ab, ganz im Sinne des Begründers Kardinal Frings, zu einer "religiösen Bewegung" (ebda., 7) zu werden, um den Christen bei uns neue geistliche Perspektiven zu bieten. Gerade in der Öffentlichkeitsarbeit greift Misereor auf Modelle der

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Bildungsarbeit zurück, die von Gedanken und Initiativen der Kirche in Lateinamerika inspiriert wurden. Auf 36 Jahre (1958-1994) Entwicklungsdienst für Lateinamerika kann auch die Arbeitsgemeinschaft für Entwicklungshilfe e.V. (AGEH) zurückschauen. "Mehr als 4.200 Fachkräfte wurden in dieser Zeit jeweils für drei Jahre vermittelt" (Arbeitsgemeinschaft, 2). Von den durch die AGEH ausgesandten Fachkräften waren in den letzten Jahren im Durchschnitt 30 als Entwicklungshelfer in Lateinamerika eingesetzt. 1994 waren es 106 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in 16 lateinamerikanischen Ländern. Sie waren vor allem in den Bereichen "Soziales" (54), Gesundheit (24), Landwirtschaft (7) und Verwaltung (8) tätig. Über den Entwicklungsdienst mit den einheimischen Partnern hinaus geht es der AGEH heute darum, "gemeinsam zu lernen und zusammen eine menschenwürdige Zukunft zu gestalten. Die 'eine Welt' tritt verstärkt in [das] Blickfeld" (ebda., 5). Diese Sicht der personellen Zusammenarbeit hat die enge Bindung an die Projektarbeit aufgebrochen und versteht die Mitarbeit der Entwicklungshelfer in der Dritten Welt, wie der Geschäftsführer der AGEH, Manfred Sollich, betont, als "ein Erprobungsfeld und auch als ein Bewährungsfeld, wie ernst die Vision von der 'einen Welt' gemeint ist" (ebda., 5).

4. Förderung der kirchlichen Arbeit des Subkontinents Die ADVENIAT-Aktion wurde 1961 als Weihnachtskollekte der deutschen Katholiken erstmalig durchgeführt. Auf Bitten der lateinamerikanischen Bischöfe sollte sie die Entwicklungsarbeit von Misereor durch die Unterstützung pastoraler Programme in Lateinamerika ergänzen. Ziel von ADVENIAT ist es daher, dringende seelsorgliche Initiativen und Aktivitäten der Ortskirchen in Lateinamerika zu unterstützen. Im Laufe von über drei Jahrzehnten ist ADVENIAT immer mehr zum Partner der 733 Bistümer und Tausender kirchlicher Gruppen, Pfarreien und Aktionsträger in Lateinamerika geworden. Mit 407,5 Mio. Katholiken stellt die Kirche in Lateinamerika rund 45% aller Katholiken in der Welt (Annuarium Statisticum Ecclesiae 1992). Daher kommt dieser Zusammenarbeit auch weltkirchlich große Bedeutung zu. Die Förderung überschaubarer Initiativen an der Basis, die ermutigen, zur Selbsthilfe anregen sollen, und die Weitergabe der christlichen Botschaft vor allem auch unter der armen Bevölkerung stehen bei ADVENIAT im Vordergrund. Dies drückt sich in den Prioritäten der Hilfe aus: Im Jahr 1994 wurden für kirchliche Initiativen in Lateinamerika 140,4 Mio. DM zur Verfügung gestellt. Für die Ausbildung von 16.950 bedürftigen Theologiestudenten wurden im gleichen Jahr 14,9 Mio. von der ADVENIAT-Patenschaftsaktion in Zusammenarbeit mit den Bistümern der Bundesrepublik Deutschland an die lateinamerikanischen Seminare überwiesen. Seit ihrer Gründung im Jahr 1961 hat die Aktion ADVENIAT bis zum Juli 1995 insgesamt für 149.488 Initiativen und Projekte in allen lateinamerikanischen Ländern und in der Karibik 3,09 Mrd. DM bereitgestellt. Schwerpunkte der Förderung waren die Pfarrseelsorge,

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vor allem in den Stadtrandzonen der großen Metropolen, die Stärkung der kirchlichen Präsenz in den ländlichen Regionen, das Bildungswesen der Kirche, die Unterstützung von Aktivitäten der katholischen Laien und die Finanzierung von Transportmitteln für die Seelsorge. Ausschlaggebend für die Zusage der Hilfe von ADVENIAT ist es, daß die Antragsteller mit ihren Projekten den pastoralen Prioritäten der Ortskirchen entsprechen; daher entwickelt ADVENIAT über die Kriterien der sachgerechten Verwaltung hinaus keine Vorgaben für die Partner. Um zu einer effizienten Förderung zu kommen, ist daher eine ständige gegenseitige Kontaktnahme und Abstimmung erforderlich, damit die Perspektiven der Partner als Kriterien fortgeschrieben werden können. In dieser partnerschaftlichen Zusammenarbeit werden somit die Prioritäten von den lateinamerikanischen Ortskirchen selbst gesetzt. "Auf die Hilfe der Aktion ADVENIAT ist die kirchliche Arbeit in den Armutszonen Lateinamerikas und der Karibik auch künftig dringend angewiesen." Das ist das Ergebnis einer Umfrage, die vom Lateinamerikanischen Bischofsrat - CELAM - bei allen 22 Bischofskonferenzen des Subkontinents im Jahr 1994 durchgeführt wurde. Anläßlich der Konferenz von CELAM und ADVENIAT im November 1994 in Essen wurde vom damaligen Präsidenten des CELAM, Kardinal Nicolás de Jesús López Rodríguez, Erzbischof von Santo Domingo, Dominikanische Republik, berichtet, daß sich die bisherige Struktur der ADVENIAT-Hilfe bewährt hat. Die Unterstützung der pastoralen Arbeit der Kirche sei auch weiterhin unverzichtbar: Daneben habe sie eine große gesellschaftliche Bedeutung für die in den Ländern Lateinamerikas unbedingt erforderlichen sozialen Veränderungen (vgl. ADVENIAT Geschäftsbericht 1994, 7). Durch eigene Publikationen und durch Zusammenarbeit mit den Medien sowie durch Bildungsveranstaltungen, vor allem auch auf lokaler Ebene, konfrontiert ADVENIAT die katholische Bevölkerung in Deutschland mit der kirchlichen Wirklichkeit Lateinamerikas. Ziel dieser Öffentlichkeitsarbeit ist es, lebensnahe Einblicke in den Alltag der Partner zu vermitteln. Dabei sollen diese möglichst selbst zu Wort kommen können.

5. Engagement von Bistümern, Verbänden und Gemeinden Die Informationsarbeit der Missionsorden, die Initiativen deutscher Weltpriester, der sogenannten "Fidei-Donum-Priester", und die Kontakte der zurückgekehrten deutschen Entwicklungshelfer haben zusammen mit der Öffentlichkeitsund Bildungsarbeit der Werke dazu geführt, daß sich in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten eine neue Aufgeschlossenheit für die internationalen und weltkirchlichen Beziehungen herausgebildet hat. Dabei hat Lateinamerika einen hohen Stellenwert. Dieses Interesse artikuliert sich in internationalen Solidaritätsaktionen und in Partnerschaften von Bistümern, Verbänden und Pfarrgemeinden. Allerdings ist es derzeit nicht möglich, diese vielfältigen Aktionen in ihrem vollen Umfang und in ihrer Komplexität darzustellen, da entsprechende Untersuchungen noch nicht veröffentlicht sind, doch können einzelne, bedeuten-

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de Initiativen hervorgehoben und gewichtet werden. Der Deutsche Caritasverband (DCV) in Freiburg hat eine Auslandsabteilung eingerichtet, "Caritas international", die 1994 für Katastrophenhilfe und karitative Aufgaben in Lateinamerika 18,11 Mio. DM eingesetzt hat. Aus Spenden, staatlichen und kirchlichen Zuschüssen hat das Internationale Kolpingwerk in Köln 1994 mit 6,49 Mio. DM einen beachtlichen Beitrag geleistet. Der Containertransport von Werkzeugen, vor allem nach Brasilien, wurde in den vergangenen Jahren zusätzlich durchgeführt. Das Material hatte in den vergangenen 10 Jahren insgesamt einen Wert von 15 Mio. DM. Die Maschinen und Geräte werden dort in Berufsbildungsstätten und in Kleinbetrieben zur Verfügung gestellt. Zusammen mit dem Bund der Katholischen Jugend (BDKJ) führt das Päpstliche Missionswerk der Kinder (PMK) in den katholischen Pfarrgemeinden jährliche Sternsingeraktionen durch. Für Jugend- und Kinderprojekte in Lateinamerika wurden aus den Mitteln dieser Aktion im Jahr 1994 13,3 Mio. DM verwendet. Schließlich hat das Hilfswerk "Kirche in Not", "Ostpriesterhilfe e.V.", 1994 den Betrag von 10,40 Mio. US-Dollar für dringende Initiativen der Ortskirchen und der geistlichen Gemeinschaften in Lateinamerika ausgegeben. Da nach Auskunft von "Kirche in Not" nur 27% der Gesamtmittel aus Deutschland kommen, dürften für die Lateinamerikahilfe von "Kirche in Not" aus der Bundesrepublik Deutschland rund 3,93 Mio. DM anzusetzen sein. Ein Betrag von 20-35 Mio. DM dürfte schätzungsweise für die Mittel angenommen werden, die von den Bistümern der Bundesrepublik Deutschland und den Pfarrgemeinden direkt lateinamerikanischen Partnern zur Verfügung gestellt werden. Damit erreicht die kirchlichen Hilfe für Lateinamerika zu Beginn der neunziger Jahre die Höhe von über 400 Mio. jährlich (s.o. Zahlenangaben). Darüber hinaus haben mehrere deutsche Bistümer seit Jahren einen intensiven geistigen und kulturellen Austausch mit ihren Partnerländern und Bistümern eingeleitet, so z.B. das Bistum Aachen mit Kolumbien, das Bistum Freiburg mit Peru, das Bistum Trier und seit einigen Jahren auch die Diözese Hildesheim mit der Kirche in Bolivien und die Erzdiözese München/Freising mit Ecuador. Von deutschen Bischöfen, aber auch von zahlreichen kirchlichen Gruppen wird auf diesem Weg ein partnerschaftlicher Kontakt mit den Menschen in Lateinamerika gesucht, um zu einem besseren gegenseitigen Verständnis zu kommen. Vielfach werden diese Kontakte auch ohne finanzielle Transaktionen gepflegt, um voneinander zu lernen, wie Christsein heute zeitgemäß gelebt werden kann. Im Laufe der Jahre haben sich für die weltkirchliche Solidarität übergreifende Strukturen für die Motivation und Koordinierung herausgebildet. Auf Pfarr-, Dekanats- und Bistumsebene gibt es die Sachausschüsse "Mission, Entwicklung und Frieden". Jährlich treffen sich deren Vertreter mit den Repräsentanten der Deutschen Kommission Justitia et Pax sowie den Vertretern der Hilfswerke, um sich ein Bild über den Stand der weltkirchlichen Orientierung in der Bundesrepublik zu verschaffen, um besonders aktuelle Fragen zu erörtern und Impulse für die Arbeit in den Gemeinden zu geben. Seit dem Herbst 1990 wurden Erfahrungen an der Basis mit Partnerschaften zu Pfarreien, Gruppen und

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Personen in der Dritten Welt generell aufgearbeitet. Schwerpunkt der Tagung 1995 ist die Vorstellung des Forschungsberichtes "Evaluierung christlicher Dritte-Welt-Gruppen". Die Autoren der Studie Professor Karl Gabriel und Professor Franz Nuscheier berichten über die Resultate der Untersuchung. Erörtert wird "welche Konsequenzen auf den unterschiedlichen Ebenen (Pfarrei, Dekanat, Region, Diözese) aus dem Ergebnis der Untersuchung gezogen werden können?" Einen dynamischen Schub in Richtung auf mehr Solidarität mit Lateinamerika geben die in der Regel alle zwei Jahre stattfindenden Deutschen Katholikentage den Laienverbänden und den Gremien des Laienapostolates. Für die zahlreichen, meist jungen Katholikentagsteilnehmer ist dies Anlaß, sich eingehender mit wichtigen Zeitfragen zu befassen. Sie machen sich mit den Aktionen für die Dritte Welt vertraut oder werden angeregt, neue Solidaritätskampagnen ins Leben zu rufen. Das Rahmenprogramm der "Halle Weltkirche" mit Musik, Tanz und Feier, ließ die Teilnehmer der Katholikentage etwas von dem kulturellen Reichtum Lateinamerikas erahnen. Ähnlich war die Wirkung der auf Lateinamerika bezogenen Infostände auf der Katholikentagsmeile in Dresden 1994. Die Katholikentage bündeln auch die verschiedenen Kräfte, die sich in Deutschland für Lateinamerika einsetzen, und zeigen neue Horizonte für das Miteinander auf. Eine zweifache Aufgabe nimmt die bereits 1967 als katholische Arbeitsgemeinschaft für Entwicklung und Frieden gegründete und 1988 durch ein neues Statut konstituierte Deutsche Kommission Justitia et Pax wahr. Sie soll 1) die kirchliche Arbeit in den Bereichen Entwicklung, Menschenrechte und Frieden anregen und sachkundig begleiten, also das Bewußtsein der Christen und die kirchliche Sachkompetenz fördern, und 2) einen kirchlichen Beitrag zur Entwicklungs- und Friedenspolitik sowie zur Verwirklichung der Menschenrechte leisten. Sie soll durch ihre Arbeit ferner Zusammenarbeit zwischen den Kirchen und den Dialog in Gesellschaft und Staat fördern (Deutsche Kommission... 1988, 1). In ihrem Tätigkeitsbereich "Entwicklung" hat sich die Kommission zusammen mit dem evangelischen Partner ein besonderes Instrument geschaffen, das Entwicklungspolitische Dialogprogramm der GKKE (Gemeinsame Konferenz Kirche und Entwicklung). Bei dem Schwerpunktthema des Jahres 1987 und 1988, "internationale Schuldenkrise", wurden z.B. auch Positionen und Lösungsvorschläge brasilianischer Partnerkirchen eingeholt (ebda., 3f.). Die Sammlung von Informationen über die "weltweite Menschenrechtsentwicklung" und die "Hilfe in Fällen von Menschenrechtsverletzungen" sind besondere Schwerpunkte des Tätigkeitsbereiches "Menschenrechte" der Deutschen Kommission Justitia et Pax. Besondere Länderschwerpunkte in Lateinamerika sind Brasilien, Chile, Kolumbien und Peru. In diesen Ländern "bestehen entweder besonders intensive Kontakte zu lokalen Menschenrechtsgruppen

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oder die Kommission verfolgt durch wissenschaftliche Arbeit, öffentliche Stellungnahmen und Publikationen die Entwicklung der Menschenrechtslage über einen längeren Zeitraum" (ebda., 6).

6. Information, Öffentlichkeitsarbeit und Bildung Standen zu Beginn der Arbeit der Werke in den sechziger Jahren die Aufrufe zu Spenden und die Information über die finanzierten Projekte im Vordergrund, so hat sich seither eine vielschichtige Informations- und Öffentlichkeitsarbeit entwickelt, die unterschiedlichen publizistischen Modellen folgt und verschiedenen Theorien der Bewußtseinsbildung Rechnung trägt. Jetzt steht insgesamt das Konzept der "einen Welt" im Vordergrund, das den mißverständlichen Begriff "Dritte Welt" allmählich abgelöst hat. In der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit wurde eine Bewußtseinsbildung konzipiert, die nicht nur Informationen vermittelt, sondern die die Situation in den Ländern des Südens mit unserer Situation konfrontiert. Sie versucht aufzuzeigen und bewußt zu machen, wie sich unsere Lebensweise, unsere Entscheidungen in Politik und Wirtschaft auf die Menschen in den Entwicklungsländern auswirken. Solche Aktionen vermitteln nicht nur Problembewußtsein, sondern auch Aufgabenbewußtsein, weil zum Lernprozeß das Einbringen der eigenen Möglichkeiten gehört. Sie können Handlungsenergien frei machen, weil sie handlungsorientiert angelegt sind (vgl. Neyer 1982, 166). Dieses Bewußtseinsbildungsmodell überträgt das Konzept von Paulo Freire aus den Entwicklungsländern in die Industrienationen. Es geht darum, den Menschen in den Industrieländern ihre wirtschaftliche Funktion gegenüber den Entwicklungsländern bewußt zu machen. Damit können allerdings vielfältige Konflikte ausgelöst werden. Es ist dabei durchaus beabsichtigt, daß der Initiator einer solchen Bewußtseinsbildung in den Industrienationen auf politische Fragen Einfluß nehmen will. Bei zahlreichen Trägern entwicklungspolitischer Maßnahmen oder sonstigen Aktivitäten im Eine-Welt-Bildungsbereich wird dieser Ansatz der Pädagogik von Freire nicht übernommen, sondern mehr ein Modell des Austausches oder der Partnerschaft angewandt. Es werden Initiativen, Erfolge, das besondere Umfeld und die Probleme der Partner dargestellt: Dann beginnt der Empfänger der Informationen in Deutschland sich mit den Partnern zu solidarisieren, baut eine strukturierte Beziehung auf und setzt sich aktiv für die Belange der Partner ein. Dieses Denkmodell hat seinen Niederschlag auch in der Arbeit der katholischen Presse in der Bundesrepublik Deutschland gefunden. Bei der 41. Jahresversammlung der Arbeitsgemeinschaft Katholische Presse e.V. (AKP) im September 1989 in Essen hat Karl R. Höller eine Bilanz über die weltkirchliche Funktion der katholischen Presse in Deutschland gezogen. Er kommt zu dem Ergebnis, daß diese eine "Brücke zur Solidarität gebaut hat, die auch die Arbeit der Werke [und damit auch eingeschlossen die Tätigkeit von ADVENIAT für Lateinamerika, d. Autor] wirksam unterstützte" (Höller 1989). Allerdings müßte die Mitleidsorientierung zugunsten einer sachgerechten

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Information überwunden werden. Mehr und mehr sei auch wieder der "weggetauchte missionarische Auftrag" (ebda., 22) ins Spiel gekommen. Er habe dazu geführt, daß bei der kirchlichen Entwicklungsförderung Kriterien anerkannt wurden, die "zeigen, daß man hinter den materiellen Bedürfnissen der Menschen in der Dritten Welt die Notwendigkeit zur ganzheitlichen Entwicklung sehen muß", diese müssen "sozialverträglich, umweltverträglich und kulturverträglich" (ebda., 24ff.) sein. Immer deutlicher wird, daß die Informationsarbeit für und über Lateinamerika Inhalte und Prioritäten der Lateinamerikaner aufgreift und daß nach Jahrhunderten der europäischen Dominanz Lateinamerika selbst, "auch in der katholischen Kirche", Inhalte und Schwerpunkte der Öffentlichkeitsarbeit über den Subkontinent bestimmen wird.

7. Bilanz und Zukunftsperspektiven Die Zusammenarbeit der deutschen Katholiken mit den Menschen in Lateinamerika ist in den vergangenen vier Jahrzehnten zu einem vitalen Lebensvorgang geworden, der den Alltag der katholischen Kirche in Deutschland mitprägt. Ständig neue Impulse erhält dieser Prozeß durch Tausende von Kontakten in der Projektarbeit. Durch die persönlichen Kontakte der Missionare, FideiDonum-Priester und Entwicklungshelfer und bei den gegenseitigen Besuchen in Deutschland und Lateinamerika werden fachliche und menschliche Beziehungen geknüpft. Nicht nur der Bekanntheitsgrad der Werke ist gut, der Informationsstand der katholischen Bevölkerung über Lateinamerika hat sich im Laufe der Jahre gewandelt. Schon Anfang der achtziger Jahre konnte festgestellt werden: Es besteht in der katholischen Bevölkerung eine ausgeprägte "weltpolitische Orientierung, die eine hohe Aufmerksamkeit auch für Probleme der Dritten Welt sichert" (Forster/Schmidtchen 1982, 22) und damit auch Lateinamerika einbezieht. Es ist jedoch zu beachten, daß nach der Untersuchung "Glaube und Dritte Welt" die größte Bedeutung für die Betroffenheit der deutschen Katholiken von der Lage in der Dritten Welt und für die Unterstützung des kirchlichen Engagements die eigene Kirchenbindung hat (vgl. Watzal 1985, 113). Selbst wenn die Erhebung dieser Daten schon mehr als ein Jahrzehnt zurückliegt, so nennt die Untersuchung doch einen sensiblen Punkt: Ein weiterer Rückgang der kirchlichen Bindung in Deutschland könnte auch zu einem Nachlassen des Interesses an internationalen Fragen und damit auch an den Vorgängen in Lateinamerika führen. Binnenkirchliche Dynamik dagegen erhöht wahrscheinlich auch das internationale Engagement. Es bleibt zu hoffen, daß die intensive Auseinandersetzung mit den kirchlichen Vorgängen in Lateinamerika die innere Dynamik der Kirche bei uns verlebendigt und so Anregungen für neue kirchliche Bindungen, vor allem unter der jungen Generation, auslöst. Wie sich aber langfristig die wachsende deutsche Einheit und die damit verbundene Öffnung für den Osten auf die kirchliche Zusammenarbeit mit Lateinamerika auswirkt, ist noch nicht abzusehen. Doch treten Bischöfe und

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Laien dafür ein, diesen Horizont nicht aufzugeben, sondern sich weiterhin der Verantwortung für die Menschen in Lateinamerika zu stellen. Die wissenschaftliche Reflexion hat auf den theologischen und sozialwissenschaftlichen Ebenen die Kooperation der deutschen Katholiken mit Lateinamerika stets begleitet. Es ist in diesem Rahmen nicht möglich, die Leistungen der katholischen technischen Fakultäten an den Universitäten, die Arbeit der missionswissenschaftlichen Institute der Werke und des Lateinamerikabereichs der Katholischen Universität Eichstätt darzustellen und über die Studienprogramme des Katholischen Akademischen Austauschdienstes (KAAD) und des Stipendienwerkes Lateinamerika-Deutschland e.V. (Intercambio cultural alemán latinoamericano), Tübingen, zu berichten. Es wird in diesem wissenschaftlichen Bereich Grundlagenarbeit geleistet, die in einer weitgespannten publizistischen Tätigkeit ihren Ausdruck findet. Bislang wurden aber Verlauf und Resultat der Lateinamerikaforschung in und im Umfeld der katholischen Kirche noch nicht umfassend analysiert und mit den Erfahrungswerten der Werke verglichen. Allerdings gibt es eine eingespielte Beratertätigkeit von Wissenschaftlern für die Werke. Auch werden ihre Dokumentationstellen gerne in Anspruch genommen. Es ist jetzt zu fragen, ob nicht auf Dauer ein wissenschaftlicher Pool entstehen müßte, in dem alle für die kirchliche Kooperation mit Lateinamerika relevanten Daten zusammenfließen (vgl. Forster/Schmidtchen 1982, 98). Andererseits besteht bei der gegenwärtigen Praxis ein hoher Freiheitsgrad in der Kooperation mit Lateinamerika und läßt Raum für zahlreiche bilaterale Beziehungen. Immer wieder wird die Antwort auf die Frage gesucht, welche Rückwirkungen sich aus der kirchlichen Zusammenarbeit mit Lateinamerika für das Leben der deutschen Katholiken ergeben können, die über die weltkirchliche Orientierung hinausgehen. Forster und Schmidtchen hatten zumindest darauf aufmerksam gemacht, daß Bedenken über Rückwirkungen der kirchlichen Arbeit für die Dritte Welt nicht aufkommen müssen, wenn die partnerschaftliche Zusammenarbeit von Förderkreisen etc. "in eine generelle Verlebendigung der Gemeinde" (ebda., 111) eingebunden wird: Partnerschaft belebt die Gemeinden. Durch den Kontakt mit den anderen Kulturen, der andersartigen Religiosität und Glaubenspraxis in Lateinamerika, wird ein Prozeß in Gang gehalten, der die Aufgeschlossenheit unter den deutschen und lateinamerikanischen Katholiken für die je andere Inkulturation des Glaubens in das Leben wach hält. Die Begegnung der christlichen Kulturen Lateinamerikas und Europas wird zur Herausforderung aus einer gemeinsamen Verantwortung, für Gerechtigkeit einzustehen, Bereitschaft zu zeigen, voneinander zu lernen, Impulse für das Leben als Christ auszutauschen.

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Die kulturellen Beziehungen zwischen Deutschland und Lateinamerika Dieter W. Benecke Vorwort Die Veränderungen in Mittel- und Osteuropa hatten bei vielen einflußreichen Lateinamerikanern Sorgen geweckt, die generellen Beziehungen Deutschlands zu Lateinamerika könnten künftig — mindestens für eine Übergangszeit — an Intensität verlieren. Das im Mai 1995 von der Bundesregierung verkündete "Lateinamerika-Konzept" gibt den politischen und wirtschaflichen, aber auch den kulturellen Beziehungen eine neue Dimension. Wenn das kulturelle Leben in Lateinamerika und damit das Angebot zum Dialog hinreichend attraktiv bleibt, vielleicht wegen der nun fast überall gegebenen demokratischen Freiheit sogar noch an Attraktivität gewinnt, werden die deutschen Intellektuellen wohl dafür sorgen, daß die kulturellen Beziehungen intensiv weiter gepflegt werden, was sich auch auf die politische, wirtschaftliche, vielleicht sogar auf die entwicklungspolitische Situation positiv auswirken kann.

1. Personengebundenheit und kulturellen Beziehungen

politische

Überlagerung

der

Kultur wird in den internationalen Beziehungen überwiegend im weiteren Sinne interpretiert. Dies erlaubt es, neben den "klassischen" Bereichen wie Literatur, Musik, Malerei, Bildende Kunst, Architektur, Film und Theater alle von Menschen und nicht von der Natur bestimmten Phänomene einzubeziehen. Auswärtige Kulturpolitik erfaßt daher u.a. auch die Wissenschaften und das Schulwesen. Bis zum Zweiten Weltkrieg gab es auf vielen dieser Gebiete traditionell solide fundierte Beziehungen zwischen Deutschland und den lateinamerikanischen Ländern, wobei die Lateinamerikaner keineswegs nur die Nehmenden oder bei der Ausbildung in Deutschland die "Mitnehmenden" waren. Vielmehr kam es zur gegenseitigen Befruchtung. Zweifellos wurden den Deutschen auch Kenntnisse über die kulturellen Gegebenheiten in Lateinamerika vermittelt. Dies geschah aber offenbar nur sporadisch, so daß nach wie vor Persönlichkeiten wie Alexander von Humboldt oder Johann Moritz Rugendas als Symbolfiguren gelten. Von "Schulen" im Sinne der langfristigen gegenseitigen Befruchtung, die allein historisch zu erklären wäre, kann man heute wohl nicht mehr sprechen, besonders, wenn man die Kultur im engeren Sinne des Wortes betrachtet. Dies soll hier aus Platzgründen geschehen, und kann es wohl auch, da die nachfolgenden Artikel sich mit einzelnen Bereichen des erweiterten Kulturbegriffs,

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besonders mit den Wissenschaften1, befassen, der Medienbereich eher berichtend als originär gestaltend wirkt und die Schulpolitik, wenn man von den an deutschen Gymnasien tätigen Spanisch-Lehrern oder von deutschen Lehrern nach ihrer Rückkehr vom Einsatz an deutschen Auslandsschulen in Lateinamerika absieht, mehr eine Unterstützung des Bildungswesens in den einzelnen Ländern Lateinamerikas als eine gegenseitige Begegnung oder Bindung darstellt.2 Von den politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Lateinamerika und Deutschland unterscheiden sich diese kulturellen Beziehungen im engeren Sinne durch einen wesentlich stärkeren Personenbezug. Natürlich v/erden auch die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen von persönlichen Kontakten geprägt. Im wirtschaftlichen Bereich sind sie jedoch dank objektivierbarer und vergleichbarer Kriterien, nicht zuletzt auch dank des dazwischen geschalteten Marktes, relativ anonym. Preis, Qualität und — in zunehmendem Maße — Kreditbedingungen sind in der Regel entscheidender als die Herkunft eines Produktes. Auch die politischen Beziehungen — ganz wesentlich bestimmt durch die Parteien und die ihnen nahestehenden politischen Stiftungen — sind in stärkerem Maße von ideologischen Übereinstimmungen als von Personalkonstellationen beeinfußt; Politiker kommen und gehen, in Lateinamerika wegen der Nicht-Wiederwählbarkeit von Präsidenten — oft bedauerlicherweise — besonders schnell. Für die kulturellen Beziehungen hingegen ist das entscheidende Kriterium die an die Person gebundene, inhaltlich gestaltende Kraft. Das erschwert es auch sehr, den Stand der kulturellen Beziehungen zu beurteilen; denn die auszutauschenden kulturellen Botschaften sind nicht nur bei ihrer Entstehung sehr personengeprägt, sondern — und das ist eine Konsequenz — auch bei ihrer Rezeption. Selbst relativ objektive Maßstäbe wie die Auflagenhöhe bei Büchern, die Zahl der Besucher von Konzerten, Ausstellungen oder Filmvorführungen lassen nur bedingt Aussagen über Qualität und deshalb Dauerhaftigkeit von Austauschimpulsen zu. Zudem überlagern politische Konstellationen die qualitativen Kriterien gerade im Falle Lateinamerikas besonders stark. Vermutlich hätten Schriftsteller wie Isabel Allende oder Antonio Skarmeta, Ernesto Cardenal oder Sergio Ramirez nicht die Aufmerksamkeit genießen oder sie so schnell bei uns erreichen können, hätte es nicht die spezifische Situation Chiles und Nicaraguas gegeben.

'Es soll aber hier nicht unerwähnt bleiben, daß es im Zwischenbereich ein ermutigendes Zeichen gibt. "Kultur und Ökologie" könnte ein akutes Thema werden. 1989 wurde der Deutsche Kulturpreis, eine der mit 200.000 DM höchstdotierten Auszeichnungen in Deutschland, zur Hälfte an die brasilianische Umweltstiftung Fundagao Estadual do Meio Ambiente verliehen. 2 Auch in diesem Bereich verdient ein Projekt besondere Beachtung, das den Titel "Das Bild der lateinamerikanischen Geschichte in lateinamerikanischen und deutschen Geschichtsbüchern" trägt (Georg-Eckert-Institut für Internationale Schulbuchforschung, Braunschweig).

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Ahnliches kann man für manchen politischen Film, der die Situation in Argentinien zur Zeit der Militärdiktatur behandelt, sagen.3 Die politische "Überlagerung" gilt freilich auch für weniger spektakuläre Verhältnisse. Vermutlich wäre der Zusammenprall von Vargas Llosa und Grass nicht so medienwirksam geworden, hätten sie sich statt über Kuba über literarische Stilformen gestritten. Ein weiteres Beispiel ist die Kandidatur Vargas Llosas zur Präsidentschaft in Peru, die einen — von ihm sicher nicht beabsichtigten — Publizitätsschub nicht nur für ihn selbst, sondern auch für die Kultur in Lateinamerika generell bewirkt hat. Auch seitens der Lateinamerikaner war das Interesse an dem Kulturleben Westeuropas — Spanien, Frankreich, Italien und die Bundesrepulik Deutschland sind hier in einer ähnlichen Situation — lange Zeit "politisch" mitgeprägt, sei es, daß Diktatoren in Lateinamerika die Entfaltung der Kunst behinderten, sei es, daß man die USA-Orientierung ablehnte. Für Kuba gilt das immer noch. Hätte sich dieses Land nicht so lange und so einseitig dem (früheren) Ostblock zugewandt, wäre sicher auch dort die deutlich zu spürende Neugier auf das kulturelle Geschehen in den westlichen Ländern nicht so ausgeprägt. Hinzu kommt ein weiteres politisches Element, das Exil. Vermutlich wären das kulturelle Leben im deutschsprachigen Raum und die hier existierende kulturelle Infrastruktur in Lateinamerika nicht so bekannt, hätten nicht so viele Künstler und Intellektuelle, besonders aus Chile und Argentinien, bei uns für einige Jahre leben und arbeiten können. Auch wir Deutsche haben zweifellos durch die Arbeit exilierter Künstler mehr Zugang zur Kultur Lateinamerikas gefunden. Diese politische Beeinflussung hat ebenfalls einen stark personengebundenen Charakter, da das Exil ja stets eine durch die persönliche Haltung zu einem politischen Regime geprägte freiwillige oder erzwungene Entscheidung darstellt.4

2. Lateinamerika und Deutschland: kulturell heterogene Räume Es bedarf hier keiner vertiefenden Erläuterung, daß Lateinamerika ein geographisch bestimmter Kunstbegriff ist, der Einheitlichkeit vorspiegelt, wo diese

'Die deutschen Medien haben sich sporadisch mit dem Thema "Kunst in der Diktatur" befaßt. Als Beispiel hierfür können die Beiträge von Peter B. Schumann (1988) und von Jan Knopf (1988) betrachtet werden. Gin besonders eindrucksvoller Beitrag war der 198S von dem Argentinier Luis Puenzo inszenierte Film Die Verschwundenen. 4 Das Exil ist freilich nicht nur in dem hier dargestellten Sinne positiv. Vielfach zerbricht die künstlerische Identifikation mit dem Lebensraum, so daß es der Künstler dann im Exilund im Heimatland schwerer hat, anerkannt zu werden. Ein hierfür eindrucksvolles Beispiel ist der brasilianische Filmemacher Alberto Cavalcanti, dem die Neue Zürcher Zeitung (1.9.1988) einen größeren Beitrag widmete.

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nicht existiert.3 Indianische, süd-, mittel- und nordeuropäische, afrikanische und in einigen Regionen auch asiatische Einflüsse kommen zusammen, verschmelzen oder präsentieren sich nebeneinander. Auch der deutschsprachige Raum und in ihm die Bundesrepublik zeichnen sich durch eine große Vielfalt und nicht durch Homogenität der Kulturimpulse aus. Wenn dennoch weiterhin von "deutschlateinamerikanischen Kulturbeziehungen" gesprochen wird, so deshalb, weil die Regionen den Raum für den kulturellen Dialog abstecken, weil bei der Rezeption Klischeevorstellungen über die Einheitlichkeit des jeweiligen Raumes nicht nur schaden, sondern — wie man bei vielen Touristen feststellen kann — den Zugang auch erleichtern können und weil die vom Herausgeber festgelegte Seitenzahl eine tiefergehende Differenzierung etwa zwischen dem Süden Chiles und dem Nordosten Brasiliens nicht gestattet. Die in diesem Sinne "deutsch-lateinamerikanischen" kulturellen Beziehungen haben bisher im internationalen Kulturgeflecht, in das die Bundesrepublik eingewoben ist, keine herausragende Rolle gespielt. Gewiß kann man der These Wittes folgen, daß "kein Kontinent der sogenannten Dritten Welt [...] Europa [...] geistig so nahe [steht] wie Lateinamerika"6; dies bedeutet freilich nicht, daß kulturelle Impulse aus Lateinamerika bei uns und wohl noch weniger aus Deutschland in Lateinamerika einen besonders starken Einfluß ausübten. Zu den nord-, ost- und westeuropäischen Ländern, zu Nordamerika, aber auch zu Japan und China bestehen gleichfalls so vielfaltige kulturelle Beziehungen, daß eine Wertung schwerfällt. Die kulturelle Begegnung spielt sich zwar auf individueller Ebene ab, doch üben dabei die Medien und andere vermittelnde Institutionen einen erheblichen Einfluß durch die Auswahl der jeweiligen Impulse aus. Daß die Auswahl bzw. Auswertung sich in einer freien Gesellschaft nicht nur an Kulturwerten, sondern auch an Marktwerten orientiert, ist selbstverständlich, wenn auch bisweilen bedauerlich. Allerdings geht es bei uns wohl kaum um "die industrielle Ausschöpfung der kulturellen Ressourcen Lateinamerikas", wie der argentinische Gitarrist und Dichter Atahualpa Yupanqui im Zusammenhang mit dem kommerziellen Erfolg des Liedes El condor pasa unterstellt hatte. Die Begegnung im wahren Sinne des Wortes, um die es hier geht, weist je nach Bereich eine unterschiedliche Intensität auf. Den wohl größten Bekanntheitsgrad in Deutschland hat die lateinamerikanische Literatur erreicht. Autoren wie Pablo Neruda, Gabriel García Márquez, Mario Vargas Llosa, Octavio Paz, Jorge Amado, Jorge Luis Borges, Carlos Fuentes, Ernesto Sábato, Joäo Ubaldo Ribeiro, Guillermo Cabrera Infante, haben sich bei uns dank des

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Hanns-Albert Steger hat in verschiedenen Veröffentlichungen immer wieder darauf hingewiesen, besonders markant in seinen 1979 beim Dialogkongreß Westeuropa — Lateinamerika des Österreichischen College in Alpbach/Tirol vorgelegten Ausführungen zu "Gesellschaft und Kultur in Lateinamerika"; vgl. Benecke u.a. 1980, 397ff. 'Witte 1988, 166; vgl. a. Benecke 1991.

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Engagements großer Verlage weite Leserkreise erobert.7 Diese und andere Autoren vermitteln (für bestimmte Bereiche) durchaus Typisches8 aus Lateinamerika — etwa García Márquez' Bolivar-Roman Der General in seinem Labyrinth oder Hundert Jahre Einsamkeit oder Vargas Llosas Wer hat Palomino Molero umgebracht?-, sie bleiben dabei aber natürlich — ebenso wie Brecht, Tucholsky, Boll, Grass, Bienek, Walser oder Heym, wenn sie Deutsches darstellen — immer vorrangig ein Individuum namens... und sind eher zufallig Lateinamerikaner bzw. Deutscher. Kleinere Verlage und das Feuilleton bedeutender deutscher Tages- und Wochenzeitungen gewähren — häufig erst bei Nachrufen — einen Einblick in die Werke nicht so renommierter Autoren wie etwa des Chilenen José Donoso, des Kubaners Nicolás Guillén, des brasilianischen Lyrikers Joäo Cabrai de Melo Neto oder der Nicaraguanerin Gioconda Belli.9 Komponisten wie die Brasilianer Heitor Villa-Lobos, Claudio Santoro, Milton Nascimento haben gezeigt, daß man in Lateinamerika neben dem — bei uns von der Masse der Tanzschüler mißverstandenen — Tango, dem Bossa Nova, der Samba, Rumba und Habanera auch melodische und atonale ernste Musik schreibt. Hier haben zudem die Kirchen — besonders die katholische, dank der Ordensverbindungen etwa bei den Salesianern — ihren Verdienst durch Vermittlung zahlreicher Misas Criollas. Kunst, vorrangig Bilder und Plastiken, des Kubaners Wilfredo Lam, der Venezolaner Jacobo Borges, Dario Pérez-Flores, der Brasilianerin Adriana Vareólo, ihrer Landsleute Antonio Henrique Amarai und Antonio Dias, von Magda Santanastosio aus Costa Rica, Isabel Timeus und Efrain Recinos aus Guatemala, Myriam Careaga aus Paraguay und vieler anderer stoßen auf Interesse von deutschen Galeristen und Museen.10

'Über die Lyrik aus Lateinamerika hat 1988 Curt Meyer-Clason eine Anthologie herausgegeben. Das ZDF porträtierte Anfang 1989 Neruda, Vargas Llosa und Amado. Die Neue Zürcher Zeitung bot am 17.3.1989 eine Übersicht über brasilianische Erzähler. S.a. Wiese 1992; Siebenmann 1993. "Das "Typische" kann leicht ins Klischee springen, was freilich nicht unbedingt nachteilig für die Breitenwirkung ist. "Vielleicht ist die hispanoamerikanische Literatur in Deutschland so beliebt wegen des tropischen, entfernten, mysteriösen, abenteuerlichen Klimas", meinte der brasilianische Schriftsteller Ignácio de Loyola Brandäo (Börsenblatt Nr. 55 vom 11.7.1989). 'Dem in Deutschland verbreiteten Lateinamerika-Klischee entsprechen in besonderem Maße Tigerin und Leopard, Erotische Erzählungen brasilianischer Autorinnen, und Der Paradiesbaum, Erzählungen vom Eros Lateinamerikas (beide 1988). '"Besonders verdienstvoll war die in mehreren deutschen Städten 1988 gezeigte Ausstellung "Brasil Já", die teilweise eine enge Verbindung zu den Werken deutscher Künstler, z.B. Anselm Kiefer und Sigmar Polke erkennen ließ. Daß es in Lateinamerika auch bedeutende Sammlungen europäischer Künstler gibt, die dann den Weg nach Europa zurückfinden, zeigt die Ausstellung des Museu de Arte aus Säo Paulo "Von Courbet bis Picasso", die 1989 in mehreren deutschen Städten gezeigt wurde.

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Einen besonderen Stellenwert hat die lateinamerikanische Filmarbeit. Filmemacher aus Argentinien, Brasilien, Chile und Kuba zeigen ihre Werke, allerdings überwiegend politischen Inhalts, u.a. bei den Filmfestspielen in Berlin, den Oberhausener Filmtagen oder bei spezifisch lateinamerikanischen Filmveranstaltungen (z.B. im März 1988 in München und im Oktober 1988 in Berlin)11 und hielten Eingang in die Spätprogramme des deutschen Fernsehens. Mit Fitzcarraldo hat sich ein renommierter deutscher Filmemacher wie Werner Herzog eine Kulisse in Lateinamerika gesucht. Jeanine Meerapfels La Amiga, Jutta Brückners Ein Blick — und die Liebe bricht los und Reinhard Hauffs Blauäugig sind weitere Beispiele für Versuche deutscher Filmemacher, lateinamerikanische Realitäten künstlerisch aufzuarbeiten; großen Eindruck machte in Deutschland der Dokumentarfilm Acta General de Chile des als Geschäftsmann verkleidet 1985 nach Chile eingereisten Miguel Littin, dessen Tagebuch Gabriel García Márquez zu dem Buch Die Abenteuer des Miguel Littin in Chile verarbeitete. Der eher zufallig zustandegekommene Film von Karl Schedereit malte ein Bild der costaricanischen Hafenstadt Limón, das fast an Vargas Llosas oder Garcia Márquez' Kleinstadtschilderungen erinnert. Breite Aufmerksamkeit in den deutschen Medien fand das 10. Festival des lateinamerikanischen Films in Havanna. Von den in Lateinamerika so sehr geschätzten Telenovelas haben bisher wohl nur die brasilianischen Serien Die Sklavin Isaura und Sinhá Moga — die Tochter des Sklavenhalters im deutschen Fernsehen Aufmerksamkeit gefunden. Vielleicht ist das auch gut so. Wie stände es wohl um das Image deutscher Kultur in Lateinamerika, sähe man dort die deutschen Serien? Im Theaterbereich12 oder beim Rundfunk — z.B. in einem besonderen Hörspielprogramm des Westdeutschen Rundfunks — gibt es sprachlich freilich schwerer zu vermittelnde Ansätze, die dem interessierten Kulturliebhaber in der Bundesrepublik Appetit auf näheres Kennenlernen des kulturellen Arbeitens in Lateinamerika machen können. Dies alles hat freilich, so die hier vertretene These, nicht zu einem spezifischen Gewicht der deutsch-lateinamerikanischen Beziehungen in dem interna-

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1989 fanden hier auch einige lateinamerikanische Kinderfilme (Juliana, Straßenkinder) besondere Beachtung. "Dies geschieht nicht nur wegen der sprachlichen Probleme relativ selten. Ein Beispiel ist das Gastspiel der kolumbianischen Gruppe "La Candelaria" oder der brasilianischen Gruppe "Arte Livre do Brasil" im September 1988. Das Publikumsinteresse ist naturgemäß nicht groß. Recht erfolgreich sind hingegen die ins Deutsche übersetzten Stücke des Brasilianers Nelson Rodrigues (z.B. Kuß im Rinnstein, Familienalbum). Ebenfalls leichter zu vermitteln und daher wohl in der Öffentlichkeit stärker beachtet ist das in einigen lateinamerikanischen Ländern sehr profilierte Pantomimentheater (vgl. hierzu das Marburger Festival Mime/Maske) und das Tanztheater (z.B. Nukleodanzas aus Buenos Aires beim Münchner Tanzfestival New Dance 88 oder der Peruaner Percy Cubas beim Frankfurter Männertanzfestival im Oktober 1988).

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tionalen Kulturaustausch geführt, in den die Bundesrepublik eingebunden ist. Auch die Breitenwirkung von lateinamerikanischen Künstlern dürfte, wenn man von einigen Schriftstellern absieht, in der Bundesrepublik nicht sehr groß sein. Die Rolle der Medien ist hierbei verschiedentlich angesprochen worden. Zwar ist die Frequenz kultureller Informationen aus Lateinamerika nicht besonders hoch13, doch ist es ermutigend, daß der Kisch-Preis (Journalistenwettbewerb) 1989 für eine Reportage über Lateinamerika verliehen wurde. Noch geringer dürfte die Breitenwirkung deutscher Kultur in Lateinamerika sein, was nicht nur an dem relativ geringen Bildungsniveau eines beträchtlichen Bevölkerungsanteils liegt. Natürlich gehört es auch in Lateinamerika zur Allgemeinbildung der Gebildeten, denn das Bildungssystem erreicht ja die Allgemeinheit nicht, zu wissen, wer Bach, Beethoven, Kant, Schopenhauer, Lessing, Goethe, Schiller, Dürer, Spitzweg, Murnau, Lang — dies ist keine repräsentative Auswahl! — war oder was in unserer zeitgenössischen Kultur geschieht. Generell freilich haben es die Lateinamerikaner — von kleineren Schichten der Wohlhabenden und Intellektuellen abgesehen — schwerer, das vielfältige kulturelle Leben im deutschsprachigen Raum zu verfolgen, als es uns Deutschen bezüglich Lateinamerika möglich ist. Dies liegt nicht nur daran, daß ein beträchtlicher Bevölkerungsanteil wegen seiner geringen Grundausbildung "ausfällt", sondern auch an den in der Mittelschicht fehlenden Geldern für Bücher, Bilder oder Platten. Hinzu kommt die vergleichsweise schlechtere Infrastruktur, nicht nur die physische (Kommunikations- und Transportverbindungen), sondern auch die künstlerische (Galerien, Museen, Theater, Konzertsäle, Schulen, Akademien). Erschwerend wirkt sich aus, daß man sein Kulturinteresse, besonders was Sprache und Ausbildung angeht, lange Jahre auf die USA verlagert hatte. Erst in den 70er Jahren wurde, nicht zuletzt aus politischen Gründen — das "AntiYankee-Denken" genoß gerade in künstlerischen Kreisen viel Sympathie — der Hang, sich Europa zu nähern, wieder stärker spürbar, besonders in der Musik, Architektur und bestimmten Wissenschaftsdisziplinen (z.B. Philosophie und Medizin). Dies gilt inzwischen auch für die Literatur, wie die für Lateinamerika bedeutendste Buchmesse in Säo Paulo 1988 zeigte. In diesem Beziehungsgeflecht spielen Mittlerorganisationen wie die GoetheInstitute, INTER NATIONES, das Institut für Auslandsbeziehungen, Pro Helvetia — etwa bei Werken von Frisch oder Dürrenmatt oder Schweizer Filmemachern —, aber auch Vereinigungen ehemaliger Stipendiaten der Alexandervon-Humboldt-Stiftung, des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, die

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Eine Analyse der Tageszeitungen Neue Zürcher Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfurter Rundschau, Die Welt, Tagesspiegel und Süddeutsche Zeitung der — wegen des Zeitpunkts des hier vorliegenden Beitrag ausgewählten — Jahre 1988 und 1989 erbrachte, daß diese Medien im Durchschnitt an jedem fünften Tag einen Artikel über ein mit Lateinamerika zusammenhängendes Kulturereignis publizieren.

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politischen Stiftungen und andere Institutionen eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, einem breiteren Publikum in Lateinamerika nahe zu bringen, was sich im deutschsprachigen Raum kulturell bewegt. Auch hierbei hängt viel vom persönlichen Engagement ab, sicher aber auch davon, Künstlern, Literaten, Musikern und anderen kulturschaffenden Personen im deutschsprachigen Raum und in Lateinamerika eine Begegnung zu ermöglichen. Bindungen werden dabei wohl stets eher auf der Ebene der Vermittler, also z.B. zwischen Museumsdirektoren entstehen, als bei den Künstlern selbst, deren Individualität es ja gerade zu verdanken ist, daß es so zahlreiche Bilder der Realität hier wie dort gibt. Ein besonderes, hier allerdings nicht zu behandelndes Thema ist die wissenschaftliche Kulturforschung an Universitäten in beiden Regionen. Auch hier gilt, daß die individuellen Neigungen der einzelnen Wissenschaftler meist nicht hinreichend institutionell abgesichert sind und unterstützt werden. Diese Situation wäre durch relativ geringe zusätzliche Mittel leicht zu verbessern, was dann sicher auch positive Auswirkungen auf die kulturelle Begegnung zwischen Lateinamerika und Deutschland hätte.14

3. Begegnungen und Dialog Kulturelle Begegnungen bereichern den Menschen, sie regen ihn mehr an, als seine Spontaneität und Kreativität zu verschütten. Dieser These mag man mit dem Hinweis auf manchen weltweiten Trend etwa im Bereich der modernen Musik oder Malerei prima vista widersprechen wollen. Die Versuchung, nach der Begegnung mit einem Künstler, diesen zu imitieren oder gar zu kopieren, existiert sicher, wird aber kaum Werke von bleibendem Wert hervorbringen. Letztlich werden originäre Kulturwerke wohl stets in der Abgeschiedenheit geschaffen. Anstöße dazu können aber auf Begegnungen — dafür gibt es viele Beispiele15 — sehr wohl gewonnen werden. Die Frage, ob z.B. Mauricio Kagel, wäre er in Argentinien geblieben, eine andere Musik komponiert hätte, ist obsolet, wenn man die Individualität des Künstlers — wie hier geschehen — in den Vordergrund stellt.16 Vermutlich werden allerdings durch die Begegnung die "Kulturkonsumenten" und -vermittler mehr begünstigt als die

M Ein gutes Forum hierfür wäre die Ständige Konferenz Europäischer Universitätsrektoren und -präsidenten, CRE, die bisher drei Treffen mit lateinamerikanischen Rektoren — das letzte 1988 in Salamanca — veranstaltet hat. "Als besonders gelungen darf das vom Haus der Kulturen der Welt, Berlin, veranstaltete "Literarische deutsch-lateinamerikanische Kolloquium" bezeichnet werden; vgl. Gorodischer 1990. l6 Ganz anders ist diese Frage zu beantworten bei der im Kulturgut der Bevölkerung wurzelnden modernen Musik, wie z.B. bei den zahlreichen Gitarrenstücken des Kubaners Leo Brouwer und Songs des brasilianischen Milton Nascimento, des "Rebells auf leisen Sohlen, der bei allem kritischen Anspruch die Sinnlichkeit nie zu kurz kommen läßt" (Thomas Garms in der FAZ vom 30.8.1988).

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Künstler selbst. Auch dies ist freilich Grund genug, den Kulturaustausch zu fördern und ihn zu erleichtern. Nicht nur eine geistige Bereicherung, sondern auch Lerneffekte sind durch die intensivere Begegnung der beiden Kulturräume möglich. Die Lateinamerikaner können vom deutschsprachigen Raum sicher einiges lernen, was die kulturelle Infrastruktur angeht, also z.B. die Nutzung der Medien, Dichterlesungen in Buchhandlungen, die Organisation von Kunstvereinen etc. Wir Deutsche könnten von den Lateinamerikanern vorrangig lernen, mehr mit der Kunst zu leben. Pablo Neruda hatte wohl recht, wenn er meinte, der lateinamerikanische Künstler liebe sein Volk mehr und das Volk liebe ihn mehr, als das in Europa der Fall sei. Es gibt eine Reihe von vielversprechenden individuellen Ansätzen, die Begegnung deutscher und lateinamerikanischer Künstler zu fördern, was gleichzeitig bedeuten kann, auch lateinamerikanischen Künstlern untereinander den Kontakt zu ermöglichen. So hat der in Ungarn geborene und nach Argentinien ausgewanderte Maler Nicolas Batuz nach weltweiten Erfolgen mit seinen Werken eine "Société Imaginaire" gegründet, mit der er Künstler, bisher vorrangig Maler und Schriftsteller — aus Lateinamerika und dem deutschsprachigen Raum (unter Einbeziehung osteuropäischer Künstler) zum gemeinsamen Schaffen und Erfahrungsaustausch zusammenführt. Ein Pedant zu Batuz mag man sehen in dem Uruguayer Coriún Aharonián, der einmal jährlich jungen lateinamerikanischen Komponisten eine Begegnung mit und die Diskussion über moderne deutsche Musik ermöglicht. Derartige Privatinitiativen sind besonders hervorzuhebende Aktionen, werden aber — auch aus Kostengründen — wohl Ausnahmen bleiben. Die Regel ist vielmehr, daß sich Institutionen um den Dialog bemühen. Hierbei gibt es Einzelaktionen und kontinuierliche Aktivitäten. Zu den herausragenden Einzelaktionen gehörte das Lateinamerika gewidmete Horizonte-Festival 1982 oder der Kulturkongreß der Akademie der Künste in Berlin 1988 über Mittelamerika, der etwa 100 Experten und einige lateinamerikanische Künstler zusammenführte. Das Haus der Kulturen der Welt hat diese Begegnungen fortgesetzt und zahlreiche Autoren und Künstler nach Berlin eingeladen, ebenso auch der Deutsche Akademische Austauschdienst im Rahmen seines "Künstlerprogramms Berlin". Kontinuierlich baut INTER NATIONES Brücken für den Kulturdialog durch die Zeitschrift Humboldt und die Publikationsreihe Estudios Alemanes. Die Bewertung derartiger Aktivitäten differiert je nach dem Erwartungshorizont; immerhin ritzen diese Ereignisse manches an, was von anderen Institutionen mit kontinuierlicher Hinwendung zum Kulturaustausch mit Lateinamerika genutzt und vertieft werden kann und vertieft wird. Lateinamerikanische Institutionen dieser Art haben Seltenheitswert. Allein oder schwerpunktartig auf Deutschland bezogen sind einige, meist allerdings mit finanziellen Hilfen aus Deutschland unterstützte Kulturvereine — z.B. in Argentinien die Asociación Cultural Argentino-Germana, das Hans StadenInstitut in Brasilien, die Asociación Humboldt in Guatemala. Andere vorrangig

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auf den innerlateinamerikanischen Kulturdialog ausgerichtete Institutionen, wie das Instituto del Pacto Andrés Bello in Lima, die Casa de las Américas in Havanna und die internationale, von dem argentinischen Filmemacher Fernando Birri geleitete Film- und Fernsehschule in San Antonio de los Baños, Kuba — übrigens eine Stiftung von García Márquez —, das von Oscar Niemeyer geschaffene lateinamerikanische Kulturzentrum in Säo Paulo (Memorial Latinoamericano), aber auch einige Nationalmuseen können als Partner für den Dialog mit deutschen Künstlern dienen und tun dies auch bereits. Deutscherseits werden solche Initiativen vielfach unterstützt, sei es von Landesregierungen — wie von Baden-Württemberg in Südbrasilien oder von Nordrhein-Westfalen bei einem Filmfestival in Havanna, von Rheinland-Pfalz im Zusammenhang mit der Batuz-Initiative, von Berlin bei vielfaltigen Anlässen, selbst im Theaterbereich — oder von der Bundesregierung. Dank der Finanzierung durch das Auswärtige Amt können die Goethe-Institute in Lateinamerika neben der Spracharbeit kulturelle Begegnungen ermöglichen. INTER NATIONES gibt seit 30 Jahren die in Lateinamerika hoch angesehene Kulturzeitschrift Humboldt heraus und erreicht über die spanischsprachige Ausgabe der Kultur Chronik die am modernen Kulturgeschehen in Deutschland interessierten Lateinamerikaner. Zudem stattet INTER NATIONES die Bibliotheken der Goethe-Institute mit Büchern, Zeitschriften und audiovisuellen Medien aus, versorgt einzelne Wissenschaftler mit deutscher Literatur, unterstützt Verlage bei der Publikation deutscher Werke in der Landessprache, stellt Rundfunkstationen Musikprogramme17 und Kulturinstitutionen Filme zur Verfügung. Das Institut für Auslandsbeziehungen kümmert sich um Ausstellungen, und die StipendienWerke der Alexander-von-Humboldt-Stiftung und des Deutschen Akademischen Austauschdienstes ermöglichen Lateinamerikanern ein Studium in der Bundesrepublik. Auch in der früheren DDR hatte man kulturelle Beziehungen zu Lateinamerika, besonders zu Kuba, Nicaragua und Brasilien sowie bis 1973 zu Chile gepflegt. Dort wurde Kunst aus Lateinamerika überwiegend unter dem Gesichtspunkt der "festen Verbundenheit mit dem aufopferungswilligen Ringen der lateinamerikanischen Völker gegen die imperialistische Politik"18, gefördert. Der Weg deutscher Kultur nach Lateinamerika — wie aber auch in andere Regionen der Welt — wird deutscherseits erleichtert, der "Rückweg" ist etwas schwieriger. Zwar ist seit 1989 das Haus der Kulturen der Welt in Berlin sehr erfolgreich tätig bei der Vermittlung von Kulturimpulsen aus anderen Ländern,

"Speziell für Lateinamerika bestimmt sind die Programme Música y Charlas, eine wöchentliche Sendung, die Werke der Frühklassik bis zur Spätromantik erfaßt, und Panorama Musical de la República Federal de Alemania, eine monatliche, dem modernen deutschen Musikleben gewidmete Sendung. "Katalog zur Ausstellung América Latina — Lateinamerika in der Bildenden Kunst der DDR im September 1988.

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auch aus Lateinamerika, werden über das Institut für Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika Übersetzungen auch lateinamerikanischer Autoren in Deutschland gefördert, bieten zahlreiche Institutionen wie die Botschaften und Konsulate lateinamerikanischer Staaten, "Ibera-Clubs" oder "Deutsch-Lateinamerikanische Gesellschaften", INTER NATIONES, die Gesellschaft zur Förderung lateinamerikanischer Kunst und Kultur — sie plant ein Museum für lateinamerikanische Kunst der Gegenwart in Kassel —, das Institut für Auslandsbeziehungen mit seiner Galerie und andere Institutionen lateinamerikanischen Künstlern ein Forum zur Darstellung ihrer Werke, geben das Ibero-Amerikanische-Institut des Preußischen Kulturbesitzes und die Herzog August Bibliothek in Wolffenbüttel, aber auch einige Lateinamerika-Institute an Universitäten die Möglichkeit zur Information über Kultur in Lateinamerika, laden Buchhandlungen Autoren zu Lesungen ein, befruchtet schließlich auch die Arbeitsgemeinschaft Deutsche Lateinamerika-Forschung, ADLAF, den lateinamerikanischdeutschen Dialog — vorrangig allerdings bisher im sozialwissenschaftlichen und erst allmählich stärker im kulturpolitischen Bereich. Diese zahlreichen Einzelaktivitäten und Initiativen, keineswegs kontraproduktiv oder wiederholend, sondern Ausdruck der Vielfalt in unserem Land, dienen freilich vorrangig dem an Kultur aus Lateinamerika sowieso schon Interessierten; eine Breitenwirkung auf die in allgemeiner Form "kulturbeflissenen Deutschen" wird kaum einmal erreicht. Dies liegt sicher auch daran, daß viele Impulse aus dem lateinamerikanischen Kulturleben mehr von der "alternativen Szene"19 vermittelt werden als von "etablierten" Konzertagenturen, Galerien, Verlagen, Theatern, Museen und anderen kommerziellen Kulturvermittlern. Generell gesehen haben aber die unterschiedlichen Kreise der deutschen Kulturinteressenten eigentlich recht gute Chancen, ihre Kenntnisse über kulturelle Impulse aus Lateinamerika zu vertiefen, insgesamt wohl sogar wesentlich bessere als ihr lateinamerikanisches Pendant. Cum grano salis darf man sagen, daß man in der Bundesrepublik institutionell befriedigend ausgestattet ist, um die kulturelle Begegnung zwischen Lateinamerika und dem deutschsprachigen Raum auch weiterhin positiv zu gestalten. Die Intensität der Begegnungen und damit die gegenseitige kulturelle Bereicherung ließen sich freilich wesentlich erhöhen, wenn die im deutschsprachigen

"Ein besonders deutliches Beispiel hierfür ist das Festival "Gegenkurs — Trommeln für eine neue Weltwirtschaftsordnung" gewesen, das von der Gruppe Künstler für den Frieden auch als Protestveranstaltung gegen die Tagung der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds 1988 in Berlin gedacht war. Ein weiteres Beispiel ist der 1989 gestorbene kubanische Sänger Carlos Puebla, dessen heroisierende Lieder vom Comandante Che Guevara und Als Fidel kam zum "festen Inventar bei Vietnam-, Bolivien-, Chile- oder Nicaragua-Veranstaltungen gehörten" (FAZ, 14.7.1989). Auch die Zeitschrift Jür internationalen Kulturaustausch, die Lateinamerika große Aufmerksamkeit widmet, bewegt sich mit ihren Beiträgen im gesellschaftskritischen Bereich und erschwert daher den Zugang zu breiteren Interessenkreisen.

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Raum und in Lateinamerika tätigen Institutionen ihre Programme stärker nach Zielgruppen differenzieren würden. Bisher werden durch die Aktivitäten im wesentlichen die eher avantgardistisch orientierten Intellektuellen angesprochen. Symposien, bei denen den Künstlern selbst die Chance zur Begegnung, vielleicht sogar zu gemeinsamer Arbeit — z.B. in Ateliers oder Theatern — gegeben wird, sind selten; auch jüngere Künstler erhalten nur wenige Möglichkeiten, ihre Werke darzustellen. Eine andere, ebenso bedeutsame Zielgruppe kommt aus den Schichten, die weniger Neigung zu Experimentellem verspüren, sondern sich mehr für das tradierte Kulturgut interessieren. Diese Künstler und an Kultur interessierten Bürger sind bisher bei dem Kulturaustausch zwischen Deutschland und Lateinamerika vernachlässigt worden. Dies dürfte überwiegend an den "Vermittlern" liegen, die eine größere geistige Herausforderung bei der Vermittlung "moderner" Kultur empfmden. Man gilt in diesen Kreisen nicht gern als "konservativ", was immer dies bedeuten mag. Dadurch werden gute Chancen verspielt, über traditionelles Kulturgut auch an moderne Kunst, Literatur und Musik behutsam heranzuführen. Ähnliches gilt für die Deutschstämmigen in Lateinamerika. Auch diese Gruppen genießen bei Kulturvermittlern, wenn man vom Verein für das Deutschtum im Ausland (VDA) absieht, keine besondere Aufmerksamkeit, was sicher auch mit dem Phänomen "Konservativismus" zusammenhängt. Bei entsprechender Motivation und Ansprache ist freilich hier ein natürliches Begegnungspotential gegeben, das für einzelne Bereiche des Kulturdialogs aktiviert werden könnte.20 Schließlich — und dies scheint besonders dringend zu sein — sollte man sich mehr darum kümmern, daß den im deutschsprachigen Raum ausgebildeten Lateinamerikanern nach ihrer Rückkehr der weitere Kontakt zum kulturellen Geschehen in der Bundesrepublik erleichtert wird. Hier ließen sich die Auswärtige Kulturpolitik und die Entwicklungspolitik noch effizienter miteinander verzahnen.21 Zwar gibt es inzwischen einige Ansätze zu "Nachbetreuungsprogrammen" z.B. bei den politischen Stiftungen, dem Deutschen Akademischen Austauschdienst und der Carl Duisberg Gesellschaft, doch spielt hierbei das kulturelle Element nur eine geringe Rolle im Verhältnis zu technischen oder wissenschaftlichen Aspekten. Ob man die für die Intensivierung der Kontakte nötigen finanziellen Mittel bekommt, scheint eher zweifelhaft zu sein. Da die lateinamerikanischen Staaten

"Daß Auswanderer, im Gegensatz zum vielfach gepflegten Klischee, keineswegs nur auf die (ehemals) heimische Kultur oder gar nur auf wirtschaftliches Fortkommen fixiert sind, zeigen zahlreiche Beispiele; eines davon ist die Sammlung Märchen und Mythen der brasilianischen Indianer (1990). "Schwierigkeiten und Möglichkeiten der Verbindung beider Bereiche werden analysiert in dem Beitrag von D.W. Benecke, "Kulturverträglichkeits- und Entwicklungsangemessenheitsprüfung" (1995).

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der kulturellen Dimension des Entwicklungsprozesses bisher keine Priorität eingeräumt haben, ist auch nicht zu erwarten, daß die deutschen Entwicklungshilfeorganisationen kulturellen Aspekten eine größere Bedeutung geben. Dies gilt sowohl für das offizielle Verhältnis, also die finanzielle Förderung über das Ministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit, als auch für die NichtRegierungs-Organisationen. Die Wirtschaft, im Rahmen ihres Kultursponsorings ein immer wichtigerer Partner, dürfte Lateinamerika wohl nur geringe Aufmerksamkeit schenken, solange sich die wirtschaftlichen Verhältnisse dort nicht so verbessern, daß man sich von der Förderung kultureller Begegnungen geschäftliche Vorteile versprechen kann. Ebenfalls skeptisch zu beurteilen ist wohl auch, ob es gelingt, die Medien zu mehr Informationen über das kulturelle Geschehen im jeweils anderen Raum zu bewegen. So wird manch interessantes Potential der gegenseitigen kulturellen Bereicherung auch künftig nicht genutzt werden können. Sicherlich wird es aber — aufgrund der vorhandenen Vermittlungs- und Kommunikationsstrukturen — auch weiterhin möglich sein, daß sich kulturell interessierte Lateinamerikaner und Deutsche über das kulturelle Schaffen im deutschsprachigen bzw. lateinamerikanischen Raum informieren; denn so wenig wahrscheinlich es ist, zusätzliche finanzielle Mittel für einen fühlbaren Ausbau des kulturellen Dialogs zwischen den beiden Räumen zu bekommen, so wenig wahrscheinlich ist auch der Abbau dieser gewachsenen Beziehung. Für Ausbau oder Kontinuität der kulturellen Beziehungen wird die Rolle der Europäischen Gemeinschaft ein interessanter Faktor werden. Bereits jetzt ist zu bemerken, daß aufgrund der Bedeutung Deutschlands in und für Europa das Interesse an der deutschen Sprache — immer noch ein wichtiges Kommunikationsinstrument für den Kulturaustausch — wächst. Der Beitritt Spaniens und Portugals zur Europäischen Gemeinschaft hat das iberisch-lusitanische Element in Europa gestärkt, das — für den kulturellen Dialog mit Lateinamerika wohl mehr als für die wirtschaftlichen Beziehungen — eine direkte Stärkung und eine Brückenfunktion bedeutet. Möglicherweise wird deshalb "via Europa" auch der deutschsprachige Raum künftig mehr Gewicht auf den kulturellen Dialog mit Lateinamerika legen, sobald die "Attraktion des Neuen", nämlich die innerdeutschen Beziehungen und das Verhältnis zu den osteuropäischen Ländern, wieder vom "Alltag" eingeholt wird.

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americana eystettensia Publikationen des Zentralinstituts für Lateinamerika-Studien der Katholischen Universität Eichstätt Herausgegeben von Karl Kohut und Hans Joachim König A. AKTEN 1.

D.W. Benecke; K. Kohut; G. Mertins; J. Schneider; A. Schräder (eds.): Desarrollo demográfico, migraciones y urbanización en América Latina. 1986 (erschienen im F. Pustet-Verlag Regensburg als Bd. 17 der Eichstätter Beiträge).

2.

Karl Kohut (Hrsg.): Die Metropolen in Lateinamerika — Hoffnung und Bedrohung für den Menschen. 1986 (erschienen im F. Pustet-Verlag Regensburg als Bd. 18 der Eichstätter Beiträge).

3.

Jürgen Wilke/Siegfried Quandt (Hrsg.): Deutschland und Lateinamerika. Imagebildung und Informationslage. 1987.

4.

Karl Kohut/Albert Meyers (eds.): Religiosidad popular en América Latina. 1988.

5.

Karl Kohut (Hrsg.): Rasse, Klasse und Kultur in der Karibik. 1989.

6.

Karl Kohut/Andrea Pagni (eds.): Literatura argentina hoy. De la dictadura a la democracia. 1989. 2a ed. 1993.

7.

Karl Kohut (Hrsg.) in Zusammenarbeit mit Jürgen Bähr, Ernesto Garzón Valdés, Sabine Horl Groenewold und Horst Pietschmann: Der eroberte Kontinent. Historische Realität, Rechtfertigung und literarische Darstellung der Kolonisation Amerikas. 1991.

7a. Karl Kohut (ed.) en colaboración con Jürgen Bähr, Ernesto Garzón Valdés, Sabine Horl Groenewold y Horst Pietschmann: De conquistadores y conquistados. Realidad, justificación, representación. 1992. 8.

Karl Kohut (ed.): Palavra e Poder. Os Intelectuais na Sociedade Brasileira. 1991.

9.

Karl Kohut (ed.): Literatura mexicana hoy. Del 68 al ocaso de la revolución. 1991. 2a ed. 1995.

10. Karl Kohut (ed.): Literatura mexicana hoy II. Los de fin de siglo. 1993. 11. Wilfried Floeck/Karl Kohut (Hrsg.): Das moderne Theater Lateinamerikas. 1993. 12. Karl Kohut/Patrik von zur Mühlen (Hrsg.): Alternative Lateinamerika. Das deutsche Exil in der Zeit des Nationalsozialismus. 1994. 13. Karl Kohut (ed.): Literatura colombiana hoy. Imaginación y barbarie. 1994.

14. Karl Kohut (Hrsg.): Von der Weltkarte zum Kuriositätenkabinett. Amerika im deutschen Humanismus und Barock. 1995. 15. Karl Kohut (Hrsg.): Literaturas del Río de la Plata hoy. De las utopías al desencanto. 1996. B. MONOGRAPHIEN, STUDIEN, ESSAYS 1. Karl Kohut: Un universo cargado de violencia. Presentación, aproximación y documentación de la obra de Mempo Giardinelli. 1990. 2.

Jürgen Wilke (Hrsg.): Massenmedien in Lateinamerika. Erster Band: Argentinien — Brasilien — Guatemala — Kolumbien — Mexiko. 1992.

3.

Ottmar Ette (ed.): La escritura de la memoria. Reinaldo Arenas: Textos, estudios y documentación. 1992. 2a ed. 1995.

4.

José Morales Saravia (Hrsg.): Die schwierige Modernität Lateinamerikas. Beiträge der Berliner Gruppe zur Sozialgeschichte lateinamerikanischer Literatur. 1993.

5.

Jürgen Wilke (Hrsg.): Massenmedien in Lateinamerika. Zweiter Band: Chile — Costa Rica — Ecuador — Paraguay. 1994.

6.

Michael Riekenberg: Nationbildung, Sozialer Wandel und Geschichtsbewußtsein am Rio de la Plata (1810-1916). 1995.

7.

Karl Kohut/Dietrich Briesemeister/Gustav Siebenmann (Hrsg.): Deutsche in Lateinamerika — Lateinamerika in Deutschland. 1996.

C. TEXTE 1. José Morales Saravia: La luna escarlata. Berlin Weddingplatz. 1991. 2.

Carl Richard: Briefe aus Columbien von einem hannoverischen Officier an seine Freunde. Neu herausgegeben und kommentiert von Hans-Joachim König. 1992.

3.

Sebastian Englert, OFMCap: Das erste christliche Jahrhundert der Osterinseln 1864-1964. Neu hg. v. Karl Kohut. 1996.

D. LYRIK 1.

Emilio Adolpho Westphalen: "Abschaffung des Todes " und andere frühe Gedichte. Hg. von José Morales Saravia. 1995.