Rechtsreformen und Demokratieentwicklung in Lateinamerika 9783964567598

Grundlage des vorliegenden Bandes ist eine im Dezember 1997 in Hamburg durchgeführte Fachtagung, auf der das Thema "

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Rechtsreformen und Demokratieentwicklung in Lateinamerika
 9783964567598

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Rechtsreformen und Demokratie in Lateinamerika
Justizreformen im Rahmen der Globalisierungsdebatte
Gewalt gegen Frauen - ein beunruhigendes Thema im Demokratisierungsprozeß
Heilung durch Recht und Genesung vom Recht? Thesen zu den Grenzen des Rechts als Steuerungsinstrument in Lateinamerika
Zur Entwicklung des Rechtsstaates in Lateinamerika
Rechtsphilosophische Überlegungen über Verfassungsreformen in Lateinamerika
Verfassungsgerichtsbarkeit in Lateinamerika
Die Justiz als Garantin der Menschenrechte in Lateinamerika: Die Unabhängigkeit der Justiz und der Richter
Strafprozeßreform in Lateinamerika im Vergleich. Länderanalysen und strukturelle Probleme
Friedensgerichtsbarkeit als Alternative. Erfahrungen mit einem System der Streitschlichtung in Peru
Verwaltungskontrolle in Lateinamerika
Justiz im Alltag: Die Rolle der Polizei in Lateinamerika
Rechtsberatungsprogramme in der Entwicklungszusammenarbeit. Erfahrungen im internationalen Vergleich
Was kann die deutsche Rechtswissenschaft zur Rechtsreform in Lateinamerika beitragen? Ziele und Grenzen der "Rechtsentwicklungshilfe" am Beispiel der Reformen der Strafrechtsordnungen und der Verfassungsgerichtsbarkeit in Süd- und Mittelamerika
Die Reform der Strafrechtsordnung in Süd- und Mittelamerika
Der Stellenwert von Rechtsreformen im Rahmen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit
Rechtsreformen in Lateinamerika: Eine neue Herausforderung an die Technische Zusammenarbeit
Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Die Arbeit der Friedrich-Naumann-Stiftung in Lateinamerika
"Förderung rechtsstaatlicher Entwicklung in Lateinamerika". Ein Projekt der Konrad-Adenauer-Stiftung
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Institut für Iberoamerika-Kunde, Schriftenreihe

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Helen Ahrens / Detlef Nolte (Hrsg.) Rechtsreformen und Demokratieentwicklung in Lateinamerika

Schriftenreihe des Instituts für Iberoamerika-Kunde • Hamburg Band 48

Helen Ahrens / Detlef Nolte (Hrsg.)

Rechtsreformen und Demokratieentwicklung in Lateinamerika

Vervuert Verlag • Frankfurt am Main 1999

Institut für Iberoamerika-Kunde - Hamburg

Verbund Stiftung Deutsches Übersee-Institut Das Institut für Iberoamerika-Kunde bildet zusammen mit dem Institut für Allgemeine Überseeforschung, dem Institut für Asienkunde, dem Institut für Afrika-Kunde und dem Deutschen Orient-Institut den Verbund der Stiftung Deutsches Übersee-Institut in Hamburg. Aufgabe des Instituts für Iberoamerika-Kunde ist die gegenwartsbezogene Beobachtung und wissenschaftliche Untersuchung der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Lateinamerika. Das Institut für Iberoamerika-Kunde ist bemüht, in seinen Publikationen verschiedene Meinungen zu Wort kommen zu lassen, die jedoch grundsätzlich die Auffassung des jeweiligen Autors und nicht unbedingt die des Instituts darstellen.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Rechtsreformen und Demokratieentwicklung in Lateinamerika / [Institut für Iberoamerika-Kunde, Hamburg ; Verbund Stiftung Deutsches Übersee-Institut]. Helen Ahrens/Detlef Nolte (Hrsg.). Frankfurt am Main : Vervuert, 1999 (Schriftenreihe des Instituts für Iberoamerika-Kunde, Hamburg ; Bd. 48) ISBN 3-89354-248-5 ©Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1999 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Konstantin Buchholz Gedruckt auf säure- und chlorfrei gebleichtem, alterungsbeständigen Papier Printed in Germany: Rosch-Buch, Scheßlitz

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

7

Detlef Nolte Rechtsreformen und Demokratie in Lateinamerika

9

Rainer Tetzlaff Justizreformen im Rahmen der Globalisierungsdebatte

36

Juliana Ströbele-Gregor Gewalt gegen Frauen - ein beunruhigendes Thema im Demokratisierungsprozeß

53

Günther Maihold Heilung durch Recht und Genesung vom Recht? Thesen zu den Grenzen des Rechts als Steuerungsinstrument in Lateinamerika

78

Nikolaus Werz Zur Entwicklung des Rechtsstaates in Lateinamerika

91

Ernesto Garzón Valdés Rechtsphilosophische Überlegungen Uber Verfassungsreformen in Lateinamerika

110

Jürgen Saligmann Verfassungsgerichtsbarkeit in Lateinamerika

133

Kurt Madiener Die Justiz als Garantin der Menschenrechte in Lateinamerika: Die Unabhängigkeit der Justiz und der Richter

152

Kai Ambos Strafprozeßreform in Lateinamerika im Vergleich Länderanalysen und strukturelle Probleme

175

Hans-Jürgen Brandt Friedensgerichtsbarkeit als Alternative Erfahrungen mit einem System der Streitschlichtung in Peru

207

Franz Thedieck Verwaltungskontrolle in Lateinamerika

222

Carola Schmid Justiz im Alltag: Die Rolle der Polizei in Lateinamerika

240

Wolfgang S. Heinz Rechtsberatungsprogramme in der Entwicklungszusammenarbeit Erfahrungen im internationalen Vergleich

256

Norbert Lösing Was kann die deutsche Rechtswissenschaft zur Rechtsreform in Lateinamerika beitragen? Ziele und Grenzen der "Rechtsentwicklungshilfe" am Beispiel der Reformen der Strafrechtsordnungen und der Verfassungsgerichtsbarkeit in Süd- und Mittelamerika

282

Wolfgang Schöne Die Reform der Strafrechtsordnung in Süd- und Mittelamerika

301

Daniel Kempken Der Stellenwert von Rechtsreformen im Rahmen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit

324

Helen Ahrens Rechtsreformen in Lateinamerika: Eine neue Herausforderung an die Technische Zusammenarbeit

332

Bruno Thiesbrummel Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie Die Arbeit der Friedrich-Naumann-Stiftung in Lateinamerika

346

Monika Baumhauer "Förderung rechtsstaatlicher Entwicklung in Lateinamerika" Ein Projekt der Konrad-Adenauer-Stiftung

354

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

360

Vorwort Rechtsreformen sind in den 90er Jahren in Mode gekommen. Ein Anfang 1998 veröffentlichter Beitrag in "Foreign Affairs" trägt den plakativen Titel "Rule of Law Revival". Der damit suggerierte Trend, dem Recht und dem Rechtsstaat weltweit mehr Geltung zu verschaffen, ist auch in Lateinamerika erkennbar. In nahezu allen Ländern der Region wurden Rechtsreformen eingeleitet, die den lateinamerikanischen Regierungen häufig von außen - von internationalen Finanzorganisationen und wichtigen Regierungen - als wünschenswert nahegelegt wurden. Die Weltbank und die Interamerikanische Entwicklungsbank gewähren Kredite für derartige Reformen, und auch die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit - z.B. der USA und Deutschlands - hat sich der Thematik angenommen. Dies gilt auch für die Europäische Union, die gleichfalls Rechtsreformen finanziell unterstützt. In vielen Ländern Lateinamerikas zeigen sich beachtliche Fortschritte, aber auch Probleme bei der Umsetzung ehrgeiziger Reformprogramme. Dies gilt im Hinblick auf die Ernennungsverfahren für Richter (mit dem Ziel einer größeren politischen Unabhängigkeit), die Stärkung der Verfassungsgerichtsbarkeit, den Schutz der Menschen- und Bürgerrechte (durch Menschenrechtsbeauftragte oder Ombudsmänner), die Stärkung und größere Unabhängigkeit der Wahlgerichte, die Einführung außergerichtlicher Verfahren der Konfliktregulierung (Schlichtung, Friedensrichter u.a.), die Modernisierung der Justizverwaltung, die Reform des Strafrechts und der Strafprozeßordnung, Reformen im Strafvollzug etc. Der Ablauf der Reformprozesse in den 90er Jahren dokumentiert: Rechtsreformen sind komplexe soziale und politische Prozesse, die integral angegangen werden müssen und eine Vielzahl Akteure in Justiz, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft einbeziehen, die in der Regel unterschiedliche Interessenlagen aufweisen. Es handelt sich um Reformen, die Zeit brauchen, um wirksam zu werden. Der Erfolg von Reformen hängt von der Kooperation so unterschiedlicher Akteure wie der Polizei, der Anwälte, der Richter, der Staatsanwälte, der Justizverwaltung, der Gefängniswärter, von Menschenrechtsorganisationen etc. ab. Bei Meinungsumfragen in nahezu allen lateinamerikanischen Ländern werden die politischen Akteure und staatlichen Institutionen sehr negativ bewertet. Dies gilt in der Regel - und in einigen Ländern in besonderer Weise - auch für die Justiz. Die Umfrageergebnisse können als Indikatoren für einen Vertrauensverlust gegenüber dem Rechtssystem und eine zunehmende Entlegitimierung der Justiz gewertet werden. Um die Demokratie langfristig in Lateinamerika zu verankern, kommt der Reform politischer und staatlicher Institutionen eine hohe Priorität zu. Eine Schlüsselrolle spielt die Reform der Justiz und hier vor allem der StraQustiz. Die im Zuge der Konsolidierung der Demokratie in Lateinamerika 7

ausgelösten Diskussionen über eine Stärkung des Rechtsstaates haben zu Forderungen nach tiefgreifenden Reformen gerade im Bereich des Strafrechts geführt. Im vorliegenden Band wird das Thema "Rechtsreformen in Lateinamerika" die Fachdisziplinen übergreifend analysiert. Er vereint Beiträge von Juristen/innen, Politikwissenschaftlern und Soziologen/innen und vermittelt einen Überblick über den Stand der Reformen - Fortschritte und Hemmnisse - in verschiedenen Teilbereichen (Strafrecht, Verfassungsgerichtsbarkeit etc.). Er konfrontiert die aktuellen Reformprozesse mit politischen und kulturellen Traditionen Lateinamerikas, die als Hemmnisse wirken können. Es werden sowohl rechtsvergleichende als auch demokratietheoretische Fragestellungen behandelt. Zudem wird ein Bezug zu aktuellen Diskussionsfeldem, wie die Auswirkungen der Globalisierung und die Staatsreform in Lateinamerika, hergestellt. Ausführlich wird auf den möglichen Beitrag der Rechtsvergleichung und der deutschen Rechtswissenschaft zu den Reformprozessen in Lateinamerika eingegangen. Und es werden die entsprechenden Programme unterschiedlicher Träger und Akteure der deutschen Entwicklungszusammenarbeit dargestellt. Der Band konfrontiert die Wissenschaft mit der entwicklungspolitischen Praxis von Rechtsberatungsprogrammen und geht auf das Spannungsverhältnis zwischen dem aus der Sicht des Wissenschaftlers Wünschbaren und dem unter den vorgegebenen sozialen, ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen Machbaren bei derartigen Programmen ein. Damit sollen Möglichkeiten und Grenzen des "social andpolitical engineering" bei der Unterstützung von Rechtsreformen aufgezeigt werden. Die Mehrzahl der Autorinnen und Autoren des vorliegenden Bandes hat sich in der Vergangenheit mit dem Thema Rechtsreformen sowohl wissenschaftlich als auch praktisch - als Berater und Gutachter in Projekten der Entwicklungszusammenarbeit - auseinandergesetzt. Grundlage des vorliegenden Bandes ist eine im Dezember 1997 in Hamburg durchgeführte Fachtagung, auf der die hier abgedruckten Beiträge vorgestellt und diskutiert wurden. Die Tagung wurde aufgrund der finanziellen Unterstützung durch die Thyssen-Stiftung ermöglicht, der an dieser Stelle gedankt sei. Die Herausgeber hoffen, daß die mit dem vorliegenden Band angestoßene fachübergreifende Debatte zum Thema "Rechtsreformen in Lateinamerika" wie auch der Erfahrungsaustausch zwischen Wissenschaft und praktischer Entwicklungszusammenarbeit fortgesetzt wird. Gewidmet ist der Band dem im Juli 1998 verstorbenen langjährigen Mitarbeiter des Instituts für Iberoamerika-Kunde, Guilherme de Almeida-Sedas, der das Institut mit aufgebaut und geprägt hat. Die Veranstaltung, die dem Band zugrunde liegt, war die letzte am Institut für Iberoamerika-Kunde, an der er vor seiner schweren Krankheit teilnehmen konnte. Eschborn und Hamburg im Juli 1998 8

Detlef Nolte

Rechtsreformen und Demokratie in Lateinamerika In den vergangenen Jahren ist die Justiz in nahezu allen lateinamerikanischen Ländern in das Fadenkreuz der öffentlichen und veröffentlichten Meinung geraten. Sie gilt als korruptionsanfällig, willfährig gegenüber politischer Einflußnahme, ineffizient, für breite und sozial schwache Gesellschaftsschichten schwer zugänglich und gegenüber den Mächtigen der Gesellschaft allzu nachsichtig. Müßte man für "Justitia" heutzutage in Lateinamerika eine neue Statue errichten, deren künstlerische Ausgestaltung die aktuelle Außenwahrnehmung widerspiegelt, so wäre sie eine gebrechliche alte Dame, die mit gekrümmtem Rückgrat und gelähmten Beinen im Rollstuhl säße. Die Waage hinge schief, da eine Waagschale mit Banknoten gefüllt wäre. Ihr Schwert wäre stumpf und verrostet. Die Augenbinde wäre verrutscht. Sie würde auf einem Auge schielen, das andere wäre blind. Allerdings gibt es mittlerweile Bestrebungen, die alte Dame durch umfassende chirurgische Eingriffe - eine Art "rechtspolitisches face-lifting" - und verfahrensrechtliche Aerobic-Übungen wieder in Schwung zu bringen. Dabei wird auch auf den fachlichen Rat internationaler Spezialisten zurückgegriffen. Nachfolgend sollen einige der Ursachen für die negative Wahrnehmung der Justiz in Lateinamerika analysiert und Gründe herausgearbeitet werden, warum das Thema Justizreform mittlerweile in vielen lateinamerikanischen Ländern auf einen breiten sozialen und politischen Widerhall stößt. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht das gesellschaftliche und politische Umfeld, das die bisherige Funktionsweise der Justiz in Frage stellt und Reformen einfordert. Herausgearbeitet wird der Stellenwert von Justizreformen für die Konsolidierung der lateinamerikanischen Demokratien. 9

I. Rückblick: Zur Rolle der Justiz in politikwissenschaftlichen Analysen Lateinamerikas vor 1990 Die Justiz in Lateinamerika war in der Vergangenheit nur selten Gegenstand von politikwissenschaftlichen Analysen. In den sechziger und siebziger Jahren wurde sie in die umfassende Kritik an den Herrschaftsstrukturen einbezogen, die einen radikalen gesellschaftlichen Strukturwandel verhinderten. In einigen Ländern gerieten die Gerichte direkt in das Spannungsfeld hochgradig polarisierter politischer Auseinandersetzungen, wenn sie z.B. über Enteignungen oder Landbesetzungen entscheiden mußten. So versuchte beispielsweise die Regierung der Unidad Populär (1970-1973) in Chile, am Rande der Legalität zu regieren bzw. das "bürgerliche Recht" zu vernachlässigen, um ihre gesellschaftlichen Transformationen durchzuführen. Daraus ergaben sich zwangsläufig Konflikte mit der Justiz (unabhängig von deren konservativer politischer Ausrichtung). Wenige Monate vor dem Putsch veröffentlichte der Oberste Gerichtshof eine Erklärung, nach der die Regierung außerhalb der Legalität handle1. Später haben die chilenischen Militärs bei der Rechtfertigung ihres Staatsstreiches auch auf diverse Erklärungen und Resolutionen der Justiz verwiesen. In der Phase der Militärherrschaft während der 70er und in der ersten Hälfte der 80er Jahre war das Thema Justiz in Lateinamerika eng mit der Thematik der Menschenrechtsverletzungen und der Einschränkung der Bürgerrechte verknüpft. In vielen Ländern wurde die Militäijustiz auf Kosten der Ziviljustiz ausgeweitet. Der Umfang der politischen Gleichschaltung der Justiz und des politischen Opportunismus ihrer Funktionsträger variierte von Land zu Land. Dessen ungeachtet waren die Gerichte ein wichtiger Schauplatz, in denen über die Grenzen des Normen- gegenüber dem Maßnahmenstaat (in der Terminologie von Emst Fraenkel), d.h. über die rechtlich Einhegung staatlicher Willkürherrschaft, entschieden wurde (vgl. Nolte 1991: 91-92). In einem Dienstschreiben (oficio Nr. 1781) des Präsidenten des Obersten Gerichtshofs vom 26. Mai 1973 an Präsident Allende, das auf einen aktuellen Streitfall Bezug nahm, in dem die Polizei auf Anordnung der Exekutive die Ausführung einer Gerichtsentscheidung (es ging um die Beendigung einer Landbesetzung) verweigert hatte, heifit es: "todo lo cual significa una abierta pertinacia en rebelarse contra las resoluciones judiciales, despreciando la alteración que tales actitudes u omisiones producen en el orden jurídico, lo que - además - significa no ya una crisis del Estado de Derecho, como se le representó a S E. en el oficio anterior, sino una perentoria o inminente quiebra de la juricidad del país" (Antecedentes 1980: 89). Aufbauend auf den Erfahrungen aus seiner Anwaltstätigkeit in Deutschland zwischen 1933 und 1938 hat Emst Fraenkel diese Unterscheidung 1941 in seinem Buch "Der Doppelstaat" zur Analyse des nationalsozialistischen Herrschaftssystems eingeführt. Es handelt sich um das "Nebeneinander eines seine eigenen Gesetze im allgemeinen respektierenden 'Normenstaats' und eines die gleichen Gesetze mißachtenden 'MaBnahmenstaats'" (Fraenkel 1984: 13). Er verweist darauf, daß die Funktion des Anwalts häufig die eines "Weichenstellers" gewesen sei. "... ich habe es als einen wesentlichen Bestandteil meiner Bemühungen angesehen, darauf bedacht zu sein, daß der in Frage stehende Fall im 'Normenstaat' behandelt werde, und nicht im 'Maßnahmenstaat' lande. Befreundete Kollegen bestätigten mir, daß auch sie wiederholt bewußt darauf hingearbeitet haben, daß ihre Mandanten gerichtlich (Hervorhebung im Original) bestraft würden" (Fraenkel 1984: 16).

10

In der zweiten Hälfte der 80er Jahre war die Justiz mit der Aufarbeitung der Vergangenheit, d.h. mit den während der Militärherrschaft begangenen Menschenrechtsverletzungen konfrontiert3. Sie war Adressat gesellschaftlicher und politischer Forderungen nach einer strafrechtlichen Ahndung vergangenen Unrechts, denen politische wie auch rechtliche Restriktionen gegenüberstanden, eine Strafverfolgung der während der Militärherrschaft begangenen Menschenrechtsverletzungen auch durchzufuhren. So hatten die Machthaber in den abgelösten Militärregimen häufig Amnestiegesetze verabschiedet, außerdem verfugten die Militärs nach dem Übergang zur Demokratie in vielen Ländern noch immer über Macht und politischen Einfluß. Auch die Haltung der zivilen Regierungen war widersprüchlich: Sie schwankten zwischen Forderungen an die Justiz, die Menschenrechtsverletzungen umfassend zu verfolgen, und gegenläufigem Druck bzw. gesetzlichen Maßnahmen, die Strafverfolgung einzuschränken. Die Strafverfahren hatten häufig eine doppelte Funktion: eine juristische und eine gesellschaftspolitische bzw. historische. In den Gerichtsverfahren wurde die jüngste Geschichte aufgearbeitet und für die Nachwelt dokumentiert. Sie leisteten damit einen Beitrag, die Verbrechen während der Militärdiktatur amtlich zu dokumentieren und im kollektiven Bewußtsein (in der gesellschaftlichen Interpretation der Vergangenheit) zu verankern (vgl. Osiel 1995). Das Verhalten der Justiz in den genannten Perioden hat das Bild der "dritten Gewalt" für Teile der Bevölkerung mitgeprägt. Für die augenblickliche Diskussion über die Rolle und die Funktionsdefizite der Justiz in Lateinamerika kommt allerdings anderen Faktoren und neueren Entwicklungen in ihrem Umfeld größere Bedeutung zu.

IL Die 90er Jahre: Fortschritte und Hemmnisse demokratischer Konsolidierung Nach den Phasen autoritärer Herrschaft in den 60er und 70er Jahren, die in den betroffenen lateinamerikanischen Staaten unterschiedlich lange andauerten, war seit 1979 Land für Land zu demokratischen Verhältnissen zurückgekehrt. Die 80er Jahre können deshalb für Lateinamerika als Periode der Transition, d.h. des Übergangs von autoritären zu demokratischen Systemen bezeichnet werden. Für die 90er Jahre läßt sich konstatieren, daß im Prozeß der demokratischen Konsolidierung in der Region Fortschritte gemacht wurden, sich aber auch gegenläufige Tendenzen zeigen, auf die nachfolgend eingegangen wird. Entgegen vieler Kassandrarufe, wie sie Ende der 80er und auch noch zu Beginn der 90er Jahre insbesondere unter US-amerikanischen SozialwissenschaftZur politischen und juristischen Aufarbeitung der Vergangenheit in Lateinamerika siehe Ambos (1996), Nolte (1996), McAdams (1997).

11

lern, aber auch in Teilen der politischen Führungsschicht Lateinamerikas, in Mode waren, ist bisher keine der lateinamerikanischen Demokratien zusammengebrochen, noch zeigen sich Anzeichen für einen erneuten Pendelschlag hin zu autoritären Systemen bzw. einer "reverse wave" im Sinne von Huntington (1991). "La democracia en América Latina está en grave riesgo. El descontento, la corrupción y la polarización alimentan la amenaza de una renovada intervención militar", lautete das Menetekel in einem Bericht des "Interamerikanischen Dialogs" (Diálogo Inter-Americano 1989: XII), ein Diskussionsforum, in dem sich Wissenschaftler und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens (darunter ehemalige Minister und Staatspräsidenten) aus Lateinamerika und den USA regelmäßig mit der Entwicklung in der Region befassen. Ein bekannter US-amerikanischer Politikwissenschaftler entwickelte vor dem Hintergrund der Schuldenkrise Ende der 80er Jahre das folgende, damals weit verbreitete Krisenszenario: "The issue is less whether democratic regimes will be forcibly overthrown than whether Latin America will slowly return to irresponsible, populist politics of a bygone era. Promises of distribution cannot be met given the current economic crises. What willfollow the failure ofpopulist policies? Will populist regimes so radicalize the policy process that polarization will inevitably result, with the armedforces then becoming a real threat in the 1990s?" (Roett 1989: 70-71) Keine dieser Voraussagen ist eingetreten, Mitte der 90er Jahre ist Lateinamerika die bei weitem demokratischste Region in der "Dritten Welt". Wie im wirtschaftlichen Bereich scheinen sich auch in der Frage der politischen Ordnung im Rahmen der Globalisierung und regionalen Integration die Handlungsspielräume nationaler Politik verengt zu haben. Die Demokratie mit all ihren Defiziten in der nationalen Praxis gilt für die Region als Norm; oder wie es zwei renommierte amerikanische Sozialwissenschaftler als Kennzeichen einer konsolidierten Demokratie charakterisiert hatten: "Democracy has become the only game in town" (Linz/Stepan 1996: 5). Zumindest auf der Ebene des politischen Diskurses wird die Demokratie in der lateinamerikanischen Politik zur Zeit nicht mehr in Frage gestellt. Es gibt zudem Anzeichen für eine zunehmende Verwurzelung der Demokratie in der politischen Kultur Lateinamerikas. Bei Meinungsumfragen in der Region wird der Demokratie als politischem System Mitte der 90er Jahre eine hohe Legitimität zugeschrieben. Nach einer Meinungsumfrage, die 1996 parallel in 17 lateinamerikanischen Staaten durchgeführt wurde (Latinobarómetro 1996) - dabei wurden insgesamt ca. 20.000 Personen befragt - , stimmten 61% der befragten Lateinamerikanerinnen und Lateinamerikaner der Aussage zu: "Die Demokratie ist jeder anderen Regierungsform vorzuziehen". Allerdings meinten immerhin 17% der Befragten, daß unter bestimmten Gegebenheiten ein autoritäres System vorzuziehen sei, und gleichfalls 17% waren der Meinung, daß für ihre Lebenssituation der Regierungsform keine Bedeutung zukomme. Die Zustimmungsrate 12

zur Demokratie wies von Land zu Land eine beachtliche Variationsbreite auf, sie lag aber in keinem Land - mit Ausnahme von Honduras - unter 50%4. Trotz dieser positiven Anzeichen für eine dauerhafte Verankerung der Demokratie in Lateinamerika sollte man bei einem Blick auf die Region die noch bestehenden Risiken nicht übersehen. So kontrastieren die hohen Zustimmungsraten zur Demokratie mit einer äußerst negativen Bewertung der Funktionsweise der demokratischen Institutionen und Akteure. In der Umfrage des "Latinobarömetro" von 1996 waren nur 27% der Lateinamerikaner mit der Funktionsweise der Demokratie zufrieden, 45% waren wenig zufrieden, und 20% waren überhaupt nicht zufrieden5. Tabelle 1: Grad der Zufriedenheit mit der Demokratie in Lateinamerika 1996 (in %) Frage: Würden Sie sagen, daß sie im allgemeinen mit der Funktionsweise der Demokratie in Argentinien, Brasilien ... sehr zufrieden, eher zufrieden, nicht sehr zufrieden oder überhaupt nicht zufrieden sind? * Die Antworten "sehr zufrieden" und "eher zufrieden" wurden addiert

zufrieden

nicht sehr

überhaupt nicht

Lateinamerika Südamerika u. Mexiko Zentralamerika

27 27 27

45 50 36

20 20 19

Uruguay Argentinien Ekuador Venezuela Peru Chile Bolivien Brasilien Paraguay Kolumbien Mexiko

52 34 34 30 28 27 25 20 2 16 11

38 50 47 41 53 54 58 46 59 61 51

9 14 16 27 12 15 17 31 19 22 33

Costa Rica Panama El Salvador Nikaragua Guatemala

51 28 26 23 16

35 42 41 49 47

8 29 27 23 27

Quelle: Latinobar6metro 1996

4

Die Umfrageergebnisse fllr alle Lander sind abgedruckt in Nolte (1997b: 45).

5

In "Latinobarömetro" 1997 stieg der Grad der Zufriedenheit mit der Demokratie in Sudamerika und Mexiko auf 36% und in Zentralamerika auf 49%.

13

Vielerorts geht die Wahlbeteiligung zurück, oder sie hat sich auf einem niedrigen Niveau stabilisiert. Dies gilt nicht nur für Länder mit einer traditionell niedrigen Wahlbeteiligung, wie etwa Guatemala oder Kolumbien6, sondern auch für Länder, in denen die Bürger in der Vergangenheit in einem hohen Prozentsatz zur Wahl gegangen waren, wie etwa Argentinien oder Chile. Der Rückgang der Wahlbeteiligung und die Umfrageergebnisse sollten ernst genommen, jedoch nicht dramatisiert werden. Die Legitimität der Demokratie scheint nach den Umfragen unabhängig von der Performanz der politischen Systeme bewertet zu werden. Alternative politische Systeme stoßen auf eine geringe politische Resonanz. Die Bürger sind in den 90er Jahren kritischer und anspruchsvoller im Hinblick auf die Leistungen der politischen Institutionen und Akteure geworden. Diese Entwicklung ist grundsätzlich positiv zu bewerten. Allerdings besteht das Risiko, daß dauerhafte Funktionsdefizite zentraler politischer Institutionen mittel- oder langfristig die politische Stabilität gefährden (Maihold 1996), zumal in den meisten lateinamerikanischen Staaten nahezu alle politischen Institutionen und Akteure negativ bewertet werden - einschließlich der Justiz7. In der augenblicklichen politischen Konstellation scheint sich ein allgemeiner Trend - mit Ausnahmen und Nuancen - herauszukristallisieren, daß nicht mehr das Überleben demokratischer Systeme in Lateinamerika auf dem Spiel steht; die Diskussion zielt jetzt stärker auf die Qualität der Demokratie bzw. die Voraussetzungen für eine "nachhaltige Demokratie" ("sustainable democracy"\ Przeworski et al. 1995). Es geht darum, einerseits noch bestehende demokratische Defizite zu beseitigen und andererseits die demokratischen Institutionen gegen zukünftige Herausforderungen zu wappnen. Zugleich mehren sich auch in Lateinamerika die Anzeichen für die Etablierung eines neuen Typus von "nicht liberalen Demokratien" (vgl. Zakaria 1997) oder nur "elektoralen Demokratien" (Schedler 1998), d.h. von politischen Systemen, in denen über die Zusammensetzung von Regierung und Parlament zwar über weitgehend demokratische Wahlen entschieden wird, diese gewählten Regierungen jedoch regelmäßig den von der Verfassung vorgegebenen Rahmen für die Machtausübung und die Grundrechte der Bürger verletzen. Ein klassisches Beispiel für diesen Typus von Demokratie ist sicherlich Peru unter Fujimori, weniger ausgeprägt - durch den Widerstand der Opposition und der Bürger - zeigen sich derartige Tendenzen auch in Argentinien und in anderen lateinamerikanischen Staaten. Es ist kein Zufall, daß eine wachsende Zahl von Autoren (Zakaria 1997; Plattner 1998) auf das Problem aufmerksam macht, daß die liberale Komponente der

7

14

In Kolumbien zeigte sich allerdings bei den letzten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen (im Marz und Mai/Juni 1998) ein Anstieg der Wahlbeteiligung. In einer von der Interamerikanischen Entwicklungsbank in Auftrag gegebenen Meinungsumfrage äußerten Vertrauen in die Justiz: in Guatemala 15%, in Ekuador 16%, in Peru 22%, in Bolivien 22%, in Mexiko 22%, in Venezuela 22%, in El Salvador 25%, in Kolumbien 26%, in Chile 27%, in der Dominikanischen Republik 33%, in Costa Rica 39%, in Uruguay 53% (zitiert in: Latin American Weekly Report WR-97-16, 187).

Demokratie in vielen lateinamerikanischen Staaten noch unzureichend ausgeprägt ist. In seinen neueren Arbeiten hat der argentinische Politikwissenschaftler Guillermo O'Donnell (1992; 1994; 1995; 1997) auf einen markanten Widerspruch in den zeitgenössischen lateinamerikanischen Demokratien verwiesen, in denen sich demokratische Elemente mit autoritären Komponenten vermischen: "The democratic, participatory rights of polyarchy are respected, but the liberal component of democracy is systematically violated. A situation in which one can vote freely and have one's vote countedfairly but cannot expect proper treatment from the police or the courts" (O'Donnell 1994: 166-167). Es handelt sich um Demokratien mit schwach ausgeprägten Bürgerrechten (low-intensity citizenship), "porque, por ejemplo, el hecho de que un campesino no pueda hacer un pleito a un terrateniente y esperar justicia, afecta profundamente su condición de ciudadano" (O'Donnell 1995: 171). Ohne Gleichheit vor dem Gesetz (in seiner Anwendung und hinsichtlich der Möglichkeit, das Recht einzufordern), gibt es keine gleichen Bürgerrechte, und es wird das Risiko autoritärer Rückfälle, die Ausweitung korrupter Praktiken und eines Anstiegs der sozialen und politischen Gewalt heraufbeschworen (vgl. auch Pinheiro 1996). In der Umfrage des "Latinobarómetro" wurde die Frage gestellt: "Die Verfassung bestimmt, daß alle Argentinier, Bolivianer, Brasilianer .... vor dem Gesetz gleich sind. Meinen Sie, daß alle (Argentinier, ...) vor dem Gesetz gleich sind, oder gibt es in diesem Land keine Gleichheit vor dem Gesetz?" Drei von vier befragten Südamerikanern und Mexikanern bzw. drei von fünf Zentralamerikanern antworteten, daß es keine Gleichheit vor dem Gesetz gibt.

Tabelle 2: Gleichheit vor dem Gesetz

Anteil der Befragten, die antworteten, daß es keine Gleichheit vor dem Gesetz gibt: Argentinien Brasilien Paraguay Bolivien Ekuador Peru Venezuela Chile Kolumbien Guatemala

90% 87% 83% 82% 82% 80% 77% 74% 73% 70%

Honduras Mexiko Panama Costa Rica El Salvador Nikaragua Uruguay

67% 62% 61% 60% 59% 56% 47%

Sildamerika/Mexiko 76% Zentralamerika 62%

Latinobarómetro 1997

15

Nach O'Donnell (1997: 145-146) sind die modernen Demokratien - oder Polyarchien in der Terminologie von Robert Dahl (1971) - das Ergebnis einer komplexen Synthese und Überlagerung dreier historischer Traditionen, der demokratischen, der liberalen und der republikanischen. Die liberale Komponente der Demokratie gründet auf der Idee, daß es Grundrechte gibt, die keinerlei politische Macht (auch nicht der Staat) dauerhaft einschränken oder offen verletzen darf. Politische Macht ist durch die Verfassung und die bürgerlichen Grundrechte (Menschenrechte) begrenzt. Nach der republikanischen Idee bedeutet die Übernahme öffentlicher Ämter eine besondere Auszeichnung. Sie erfordert von den Amtsinhabern die strikte Unterwerfung unter das Gesetz (niemand steht über dem Gesetz, auch nicht die Regierenden) und die Zurückstellung ihrer privaten Interessen hinter das öffentliche Interesse8. Die beiden genannten Komponenten der Demokratie, die liberale und die republikanische, begründen die Unterwerfung der Regierenden und der Regierten9 unter die Herrschaft der Gesetze und damit den Rechtsstaat10. In Lateinamerika sind sowohl die liberale als auch die republikanische Komponente (Stichworte: impunidad und Korruption) schwach ausgeprägt. Beide sind Voraussetzung für die horizontale Gewaltenkontrolle (rendición de cuentas horizontal)u in der Demokratie. Darunter ist die Existenz von staatlichen Institutionen zu verstehen, die bevollmächtigt sind, die Handlungen anderer staatlicher Organe zu kontrollieren und gegebenenfalls Fehlverhalten zu sanktionieren. Es reicht allerdings nicht aus, daß Institutionen der Gewaltenteilung und der Kontrolle staatlichen Handelns formal existieren, sondern sie müssen auch dem Geist der Gesetze entsprechend handeln. Die horizontale Gewaltenkontrolle kann nur funktionieren, wenn sie nicht auf vereinzelten, auf sich allein gestellten Institutionen basiert, sondern von einem Netzwerk getragen wird, an dessen Spitze die Justiz steht12.

1

Vgl. auch die Ausführungen von Linz (1997:421) zur "quality of the 'political class'".

9

Die demokratische Komponente betont - ergänzend - das Recht der Borger, im Rahmen der Verfassung und der geltenden politischen Spielregeln auf den GesetzgebungsprozeQ einzuwirken.

10

Ähnliche Überlegungen hinsichtlich der liberalen Komponente der Demokratie tragt Planner (1998: 172) vor: "The word 'liberal' in the phrase liberal democracy refers not to the matter of who rules but to the matter of how that rule is exercised Above all, it implies that government is limited in its powers and its modes of acting. It is limitedfirst by the rule of law, and especially by a fundamental law or constitution, but ultimately it is limited by the rights of the individual. The idea of natural or inalienable rights, which today are most commonly called 'human rights', originated with liberalism" (Plattner 1998: 172).

"

Vgl. O'Donnell (1997: 155): "Lo que llamo rendición de cuentas horinzontal, es la existencia de organismos estatales que están legalmente habilitados y autorizados, y de hecho dispuestos y capacitados, para emprender acciones que abarcan desde la fiscalización rutinaria hasta sanciones penales o destitución, en relación con actos u omisiones de otras instituciones del estado, que puedan calificarse, en principio o presuntamente, como ilícitos".

13

So O'Donnell (1997: 157): "La rendición de cuentas no es el producto de instituciones aisladas, sino de redes de instituciones que incluyen en su cúspide a los tribunales - incluyendo los más altos - dedicados a esa rendición de cuentas, ya que es allí donde 'concluye' un sistema legal constitucional mediante las decisiones finales."

16

Ein aktuelles Beispiel für die Schwächung der liberalen und republikanischen Komponenten der Demokratie ist Argentinien während der Präsidentschaft von Carlos Menem, der als eine seiner ersten Amtshandlungen die Zahl der Richter am Obersten Gerichtshof mit ihm genehmen Juristen aufstockte und dies in einem Zeitungsinterview als eine generell gültige Norm darstellte: "No hay ninguna Corte en el mundo donde sus miembros no tengan amistad con el poder político. Si me traen un ejemplo me quedaría un tanto convencido" (Página 12, 9.12.1995, 10). Politisch umstrittene Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs werden seitdem fast immer mit der Mehrheit der regierungstreuen Richter gefallt. Obgleich Argentinien nach Ansicht in- und ausländischer Experten in Sachen Korruption in Lateinamerika einen Spitzenplatz einnimmt, sind bisher kaum politisch Verantwortliche bestraft worden. Im schlimmsten Fall werden sie kurzfristig abrufen, um nach einiger Zeit wieder in anderen politischen Ämtern aufzutauchen. Argentinien leidet an einer "anemia jurídica" (Grondona 1997); die Justiz stellt, weil politisch kontrolliert und unterwandert, keine wirksame Kontrollinstanz für das Handeln von Politikern und staatlicher Bürokratie dar13. Präsident Menem setzte 1994 mit der latenten Drohung, die geltende Verfassung zu umgehen, eine Verfassungsreform durch, die vor allem dem Zweck diente, seine direkte Wiederwahl zu ermöglichen, die nach der geltenden Verfassung erst nach einer sechsjährigen Pause zulässig gewesen wäre (Nolte 1997a). Seit Anfang 1998 wird in Argentinien eine Diskussion darüber geführt, ob man nicht die neue Verfassung anders auslegen könne, um Menem eine erneute Wiederwahl zu ermöglichen. Kommentatoren sprechen bereits von einer "constitución elástica" (Eichelbaum 1998), deren Vorschriften je nach persönlichen Opportunitätsüberlegungen respektiert, umgangen oder neu interpretiert werden. Die Schwäche der liberalen Komponente der Demokratie zeigt sich nicht nur im Verhalten von Justiz und Politikern, sondern auch bei den Bürgern und Wählern. Einige Indizien sprechen für die Annahme (die allerdings durch empirische Untersuchungen zu erhärten wäre), daß in vielen lateinamerikanischen Ländern ein eher elektorales Demokratieverständnis vorherrscht, d.h. Demokratie manifestiert sich nach dieser Sichtweise vor allem in der periodischen Wahl der politischen Amtsinhaber. Diese Einstellung offenbart sich bei der demokratischen Wahl und im hohen Stimmenanteil von Autokraten (Beispiel: Fujimori). Zudem zeigt sich bei vielen Meinungsumfragen zur politischen Kultur in Lateinamerika ein Widerspruch: Zwar erfahrt die Demokratie als Regierungsform hohe Zustimmungswerte, jedoch wird die Einschränkung politischer Grundrechte oder der Artikulationsmöglichkeiten bestimmter politischer Akteure in der Regel nicht im gleichen Ausmaß abgelehnt (siehe die Umfrageergebnisse bei Linz/Stepan 1996: "Son demasiados los funcionarios y los actores políticos que siguen creyendo en la omnipotencia de la voluntad como para que podamos decir que el Estado de Derecho (es decir: el Estado subordinado al Derecho) reina otra vez sin nubes sobre nosotros", lautet der Kommentar cines argcntinischen Joumalisten (Grondona 1997).

17

221-230). Die Machtkonzentration beim Präsidenten und autoritäre politische Praktiken werden in einigen Ländern von einem hohen Prozentsatz der Bevölkerung begrüßt14. Im "Latinobarömetro" von 1995 wurde beispielsweise die Frage gestellt: Es gibt Leute, die behaupten, ein bißchen Politik der harten Hand (un poco de mano dura) von Seiten der Regierung schade dem Land nicht. Andere vertreten die Meinung, man brauche keine harte Hand der Regierung. Mit welcher der beiden Aussagen sind Sie eher einverstanden?

Tabelle 3: Eintreten für eine Politik der harten Hand für "mano dura" Argentinien Brasilien Chile Mexiko Paraguay Peni Uruguay Venezuela

46% 52% 63% 44% 70% 80% 45% 78%

gegen "mano dura' 45% 36% 30% 50% 20% 14% 46% 18%

Quelle: Latinobarómetro 1995

Mit der Ausdifferenzierung des DemokratiebegrifFs in seine liberale, republikanische und elektorale Komponente muß auch die Frage nach dem Stand des Prozesses der demokratischen Konsolidierung und seinen Anforderungen neu gestellt werden. Auszugehen ist von verschiedenen Stufen demokratischer Konsolidierung, die in einem engen Zusammenhang zum Liberalisierungsgrad der politischen Systeme stehen (vgl. Schedler 1998): • Für liberale Demokratien geht es darum, eine Erosion hin zu einer nur elektoralen Demokratie (oder gar einen Rückfall in autoritäre Verhältnisse) zu verhindern und die demokratischen Institutionen auszubauen bzw. zu verfestigen. • Für elektorale Demokratien gilt es einerseits, einen autoritären Zusammenbruch zu verhindern und darüber hinaus auf die Vervollständigung der Demo-

14

18

So schreibt Binder (1998: 70): "La degradación de las garantías procesales ligada a las demandas de aumento de represión provocadas por la sensación de inseguridad de la población y alimentadas por campañas autoritarias de 'ley y orden' transmitidas por televisión y otros medios masivos de comunicación. Estas campañas lo que demuestran es lo poco arraigado que se halla en nuestra cultura jurídica y política la idea de 'estado de derecho', la poca comprensión de la idea misma de democracia - que no se entiende como un modo determinado de ejercer y controlar el poder y la falta de imaginación de las clases políticas para afrontar el problema de ta delincuencia y la inseguridad con las armas de la democracia."

kratie auf der liberalen Dimension hinzuarbeiten15, damit die bürgerlichen Grundrechte, die Begrenzung politischer Macht und die Gewaltenteilung verankert werden. Die Ausgangslage für die demokratische Konsolidierung fallt in Lateinamerika von Land zu Land unterschiedlich aus. Es gibt liberale Demokratien (Uruguay, Costa Rica) und elektorale Demokratien (Peru, Mexiko). Die Mehrzahl der politischen Systeme ist jedoch in einem Zwischenbereich angesiedelt und kann als semiliberale Demokratie klassifiziert werden, d.h. es handelt sich um elektorale Demokratien, die Merkmale einer liberalen Demokratie aufweisen, die jedoch unzureichend ausgeprägt sind. Die Auseinandersetzung um Justizreformen - in liberalen wie in elektoralen Demokratien - sind auch ein Kampf zur Stärkung der liberalen Komponente der Demokratie, oder wie es Carothers (1998: 95) formuliert hat: "The rule oflaw promises to move countries past the first, relatively easy phase ofpolitical and economic liberalization to a deeper level of reform." Das aktive Eintreten für eine Reform der Justiz dient der Stärkung der liberalen Komponente der Demokratie. Diese Bemühungen werden erschwert, weil es in Lateinamerika kaum Erfahrungen mit einer Justiz gibt, die den Maßgaben eines liberalen Rechtsstaats entspricht. Und die Hoffhungen, die mit einer Rechtsreform für die Zukunft verbunden werden, kontrastieren mit den offenkundigen Schwächen und dem geringen Ansehen der Justiz in der Gegenwart.

III. Geringes Ansehen der Justiz In der Umfrage des "Latinobarömetro" von Mitte 1996 antworteten auf die Frage: "Wieviel Vertrauen haben sie in die genannten Institutionen, Gruppen oder Personen?" im Hinblick auf die Justiz 32% der befragten Lateinamerikanerinnen und Lateinamerikaner "viel" oder "etwas" Vertrauen". Nur in drei Ländern - in Brasilien (41%), in Paraguay (44%) und in Uruguay (55%) - lagen die Zustimmungswerte über 40%. Die niedrigsten Zustimmungswerte waren in Mexiko (19%) und in Argentinien (23%) zu verzeichnen. Im lateinamerikanischen Durchschnitt wird die Justiz besser als Regierungen, Parlamente, Parteien und Gewerkschaften beurteilt, ihr wird allerdings weniger Vertrauen als dem Militär, der Presse und den Unternehmern entgegengebracht. In zehn von 11 Ländern vertrauten die Befragten den Militärs mehr als der Justiz.

15

Vgl. Schedler (1998: 99): "A... variety of democratic completion appears of... relevance for Latin American countries: the transformation of 'illiberal democracies', where the rule of taw is based and selective (or even aleatory), into liberal democracies that effectively guarantee basic political, civil, and human rights."

16

Im "Latinobarömetro" von 1997 lag Vertrauen in die Justiz in Südamerika und Mexiko bei 34% (Latinobarömetro 1997).

19

Tabelle 4: Vertrauen in politische und gesellschaftliche Institutionen und Akteure Frage: Wieviel Vertrauen haben Sie im Hinblick auf die genannten Institutionen, Gruppen oder Personen? % der Antworten "viel" und "etwas" Regierung

Parlament

Parteien

Militär

Justiz

Presse

Gewerksch.

Untern.

ARG BOL BRA CHI EKU KOL MEX PAR PER URU VEN

20 20 25 51 34 18 18 40 48 36 16

25 22 19 42 27 15 22 42 33 38 19

17 16 17 27 18 11 18 37 19 32 11

32 36 63 50 76 45 40 47 38 38 59

23 25 41 36 31 32 19 44 25 55 27

56 63 50 48 55 43 30 66 42 55 55

10 27 32 42 28 27 19 48 26 34 19

22/22 40/34 38/26 44/40 35/30 63/54 31/26 44/41 37/33 29/28 35/25

LAT*

29

27

19

49

32

50

27

37/32

Untern. = Große Untemehmen/Unternehmerverbände • Südamerika und Mexiko Quelle: Latinobarömetro 1996

Die Unzufriedenheit mit der Justiz ist Teil der generellen Unzufriedenheit mit der Funktionsweise der staatlichen Institutionen in Lateinamerika, sie kann aber nicht gänzlich unter die allgemeine Staatsverdrossenheit subsumiert werden. Immerhin wird in einigen lateinamerikanischen Ländern, wie etwa in Brasilien, Kolumbien, Uruguay und Venezuela die Justiz deutlich besser als andere staatliche Institutionen bewertet. Der Umfang und die Ursachen für die Unzufriedenheit mit der Justiz variieren von Land zu Land. Argentinien gehört zu den Ländern, in denen die Justiz besonders negativ bewertet wird. Eine im Großraum Buenos Aires 1996 durchgeführte Umfrage unter Journalisten, Meinungsführern und in der Bevölkerung gibt einige interessante Hinweise auf die Motive und Hintergründe für diese Unzufriedenheit. Ausgangspunkt war die Frage: "Falls sie einen Fall vor die Justiz bringen würden, oder Teil eines juristischen Verfahrens wären, was würden Sie empfinden?" Die Reaktion war bei Journalisten und in der Bevölkerung nahezu identisch, jeweils sieben von zehn Befragten äußerten kein Vertrauen. 20

Tabelle 5: Vertrauen in die Justiz von Journalisten und Bürgern in Argentinien Journalisten Vertrauen in die Justiz Kein Vertrauen in die Justiz w.n./k.A.

Bevölkerung

15% 72% 13%

16% 70% 14%

Quelle: Fraga (1997: 101-102)

Eine weitere Frage lautete: "Worauf fuhren Sie das mangelnde Vertrauen in die Justiz zurück?" Hier zeigt sich je nach Bezugsgruppe ein leicht variierendes Meinungsprofil.

Tabelle 6: Ursachen für das mangelnde Vertrauen in die Justiz (Argentinien) Journalisten auf das Rechtssystem auf die Richter auf die Justizverwaltung auf den Druck der Regierung auf die Justiz w.n.

Meinungsführer

Bevölkerung

alle Politiker Richter Untern.

9 15 17

20 16 29

18 19 33

9 13 39

43 14 0

17 15 21

56 3

31 4

27 3

39 0

29 4

33 14

Quelle: Fraga (1997: 103-107)

Von nahezu allen Gruppen wird die Einflußnahme der Regierung als Hauptfaktor für das mangelnde Vertrauen in die Justiz angeführt, wobei diese Wahrnehmung unter den Journalisten von über der Hälfte, in der Gesamtbevölkerung jedoch nur von einem Drittel der Befragten geteilt wird. Am zweithäufigsten wird die Justizverwaltung genannt (17% Journalisten, 21% Gesamtbevölkerung). Während die Journalisten an dritter Stelle die Richter nennen, ist es in der Gesamtbevölkerung das Rechtssystem. Interessante Ergebnisse liefert auch eine im März 1996 in Chile durchgeführte Umfrage zum Thema Kriminalität. In der Befragung konnten verschiedene staatliche Institutionen im Hinblick auf ihren Beitrag zur Bekämpfung der Kriminalität benotet werden. Nach dem chilenischen Notensystem - 1 = sehr schlecht, 7 = 21

sehr gut - wurden mit den Noten 5, 6 oder 7 bewertet: die Polizeiführung (General Director de Carabineros) 73%, der Leiter der Kriminalpolizei (Director de Investigaciones) 69%, der Staatspräsident 65%, der Innenminister 58%, die Justizministerin 53%, der Oberste Gerichtshof 45%, die Strafkammern (juzgados del crimen) 37%. D.h., im Vergleich mit der Regierung und der Polizei wird die Justiz eindeutig schlechter bewertet. Dabei bezieht sich die Kritik an der Justiz nach dieser Umfrage sowohl auf die perzipierte Ineffizienz als auch auf die verhängten Strafen. So stimmten 95% der Befragten der Vorgabe "die chilenischen Gerichte sind zu mild gegenüber den Verbrechen" zu; 89% waren der Meinung, "die chilenischen Gerichte sind zu langsam, oder die Verfahren ziehen sich zu lange hin" (Fundación Paz Ciudadana 1996). In einer anderen 1992 in Chile durchgeführten Umfrage wurde speziell die Wahrnehmung der Justiz in den unteren und marginalen Gesellschaftsschichten untersucht (Correa/Barros 1993). Bei einer offenen Frage zur Bewertung der Justiz äußerten vier von fünf Befragten spontan eine negative Meinung (Correa/Barros 1993: 131). Bei verschiedenen vorgegebenen Aussagen stimmten dem jeweiligen Urteil (in () Ablehnung) zu:

Tabelle 7: Wahrnehmung der Justiz in der chilenischen Unterschicht Aussage: In Chile spaltet sich die Justiz in eine für die Reichen und eine andere für die Armen In Chile ist die Justiz für alle gleich In der chilenischen Justiz sind die Verfahren langsam In der chilenischen Justiz wird alles mit Geld geregelt

Zustimmung in %

89% ( 9%) 12% (86%) 95% ( 3%) 87% ( 7%)

Quelle : Correa/Barros (1993: 137)

Diese Umfrageergebnisse bilden nur Mosaiksteine für ein Gesamtbild der lateinamerikanischen Justiz. Andere Umfragen und Untersuchungen zur Justiz in Lateinamerika kommen allerdings zu einem ähnlichen Befund. Versucht man, die Ergebnisse der drei zitierten Umfragen zu verallgemeinern, so bezieht sich die Kritik an der Justiz einerseits auf ihre politische Abhängigkeit oder Ausrichtung, den schwierigen Zugang für die unteren Gesellschaftsschichten bzw. eine soziale Schieflage in der Rechtsprechung, ihre Ineffizienz bei der Verbrechensbekämpfung, die lange Verfahrensdauer sowie auf Mängel in der Gesetzgebung (z.B. im Strafrecht). Die Bürger erwarten von einer Justizreform folglich eine größere politische Unabhängigkeit der Justiz, einen besseren Zugang für sozial schwache 22

Bevölkerungsgruppen, eine Gleichbehandlung vor dem Gesetz, Reformen im materiellen und im Verfahrensrecht sowie eine interne Reorganisation des Justizapparates.

IV. Warum sind Justizreformen in Mode gekommen? Es mag vor diesem Hintergrund nicht verwundern, daß die Justiz in fast allen lateinamerikanischen Ländern zum Thema politischer Debatten geworden ist und der Ruf nach einer grundlegenden Reform der Rechtssysteme vielerorts einen breiten sozialen und politischen Widerhall findet. Die Reformprojekte betreffen das Strafrecht (materielles Recht und Verfahrensrecht), die Auswahlverfahren der Richter und die politische Unabhängigkeit der Justiz. Gleichwohl ist die Frage gerechtfertigt, warum sich das Thema Justizreform auf der politischen Tagesordnung festgesetzt hat und warum es in vielen Ländern breite Reformkoalitionen gibt? Die Tatsache, daß eine staatliche Institution schlecht arbeitet und in der Öffentlichkeit kritisiert wird, reicht in der Regel allein noch nicht aus, einen Reformprozeß anzustoßen. Nachfolgend werden einige Ursachen für die augenblickliche "Welle" von Justizreformen in Lateinamerika aufgelistet, die sicherlich nicht erschöpfend sind, zumal sich soziale Phänomene in der Regel nicht monokausal erklären lassen.

1. Justizreformen als transversale Reformen Zunächst einmal sind Reformen im Justizbereich transversale Reformen, die auf verschiedene Politikfelder einwirken. Deshalb ist es möglich, breite, wenn auch heterogene Unterstützungskoalitionen zu formen. D.h., es handelt sich um Reformen, auf die sich unterschiedliche Akteure aus unterschiedlichen Gründen einigen können. So wird beispielsweise die chilenische Strafrechtsreform von Akteuren befürwortet, die die Menschen- und Bürgerrechte besser schützen wollen. Sie wird aber auch von neoliberalen Technokraten befürwortet, die für eine effizientere und in gewisser Weise auch kostengünstigere Strafverfolgung eintreten. Und die Vertreter von law-and-order-Positionen versprechen sich eine effizientere Strafverfolgung. Darüber hinaus ist es in der augenblicklichen politischen Konjunktur offensichtlich schwierig, breite Ablehnungskoalitionen gegen die Reform der Justiz zu formen. Einerseits ist das Image der Justiz so schlecht und sind die Mißstände im Rechtssystem derart offenkundig, daß es politisch keine Rendite bringt, die Justiz zu verteidigen. Es gibt keine größeren sozialen Gruppen und keine Wählerklientel, die sich gegen Reformen im Justizwesen mobilisieren lassen. Dies schließt 23

aber Widerstand gegen bestimmte Reformen im politischen Entscheidungsprozeß nicht aus, der in der Regel jedoch nicht offen artikuliert wird. Aus der Sicht der Bürger sind Rechtsreformen - möglicherweise zu Unrecht keine teuren Reformen. Für die Bürger geht es darum, daß bereits bestehende Institutionen ihre Aufgaben einfach besser und effizienter wahrnehmen. Zudem gibt es eine Art "spillover-EfiekL". Rechtsreformen, die in einem lateinamerikanischen Land angegangen werden, können die Reformdiskussion in anderen Ländern anstoßen. Bestimmte Reformen gelten mittlerweile als Zeichen politischer Modernität, d.h. auch der "Zeitgeist" unterstützt den Reformprozeß in der Region. Die Themen und Reformvorschläge ähneln sich: die Abkehr von inquisitorischen, schriftlichen, nicht öffentlichen Strafverfahren und die Hinwendung zu öffentlichen und mündlichen Strafverfahren nach dem Akkusationsprinzip, die Einrichtung von Richterräten oder vergleichbaren Institutionen, die Schaffung von Ombudsmännern, Reformen im Strafvollzug etc.

2. Justizreformen als Teil umfassender politischer Reformprozesse Die Reformen im Justizwesen können nicht isoliert betrachtet werden. Die 90er Jahre sind in Lateinamerika durch eine weitverbreitete Reformbereitschaft im Hinblick auf die politischen Institutionen - im Sinne eines "democratic deepening" (Diamond 1997) - gekennzeichnet. Dies gilt nicht erst, seitdem internationale Finanzorganisationen, wie die Weltbank, eine "zweite Generation von Reformen" für Lateinamerika einfordern, um die wirtschaftlichen Reformen abzusichern und zu ergänzen. In der ersten Hälfte der 90er Jahre wurden in einer Vielzahl lateinamerikanischer Länder die Verfassungen oder andere für den politischen Prozeß zentrale Gesetze (z.B. die Wahlgesetzgebung) reformiert. Diese Reformen führten nicht immer zu mehr Demokratie (Beispiel: Peru), häufig waren partikulare Machtkalküle der Auslöser (Beispiel: Argentinien), gleichwohl läßt sich als genereller Trend feststellen, daß die Reformen im allgemeinen zu einer Modernisierung der Verfassungen (einschließlich einer Erweiterung der Bürgerrechte führten) und einen Beitrag zur besseren Funktionsfahigkeit der politischen Institutionen leisteten. Sicherlich wurden nicht alle Defizite beseitigt, noch waren unbeabsichtigte Nebeneffekte auszuschließen. Grundsätzlich ist positiv zu bewerten, daß mit den Verfassungsreformen den politischen Institutionen und Verfahren ein größeres Eigengewicht in der Diskussion über die Verfestigung und Vertiefung der Demokratie eingeräumt wird (vgl. Gargarella 1997: 971) und sich in den politischen Führungsschichten und in Teilen der Bevölkerung die Vorstellung festgesetzt hat, daß politische Institutionen reformierbar sind und die Qualität der Demokratie durch eine Verbesserung der Funktionsweise ihrer Institutionen erhöht werden kann.

24

Außerdem befinden sich die politischen Institutionen in den lateinamerikanischen Präsidialdemokratien in den neunziger Jahren immer noch in einem Prozeß der wechselseitigen Abstimmung (des "finetuning") ihrer Funktionen und ihres Zusammenspiels. Dies gilt für das Verhältnis zwischen Exekutive und Legislative, die Funktions- und Ressourcenverteilung im Rahmen von Dezentralisierungsoder Dekonzentrationsprozessen (insbesondere in föderalen Systemen), aber auch für das Verhältnis zwischen Exekutive, Legislative und Justiz. Die Verfassungsentwicklung war in der Mehrzahl der lateinamerikanischen Staaten in der Vergangenheit durch große Brüche gekennzeichnet. Dies gilt weniger für die geschriebene Verfassung als für die gelebte Verfassung. Dadurch wurde der evolutionäre Prozeß im Wechselverhältnis der politischen Institutionen17 und ihre Anpassung an ein sich wandelndes soziales Umfeld immer wieder unterbrochen. Es besteht in Lateinamerika nur eine schwache Tradition der Gewaltenteilung und Gewaltenkontrolle im Rahmen einer funktionsfähigen Präsidialdemokratie. Dieser Prozeß der Ausfüllung der Verfassungen nach der Rückkehr zur Demokratie ist in Lateinamerika noch nicht abgeschlossen und schließt auch das Verhältnis der Justiz zu den beiden anderen Gewalten ein. Deshalb erweisen sich Reformen im Justizbereich, die die politische Machtverteilung bzw. die Kontrolle politischer Macht betreffen, als besonders schwierig. Dies gilt beispielsweise im Hinblick auf die Stellung, die Emennungsverfahren und die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaften wie auch für die Bestellungsverfahren und die Funktionen der Obersten Gerichtshöfe und Verfassungsgerichte.

3. Justizreformen und persönliche Sicherheit Die Menschenrechtsverletzungen während der Militärdiktaturen und die juristische Aufarbeitung oder (Nicht-)Aufarbeitung dieser Verbrechen unter den demokratischen Nachfolgeregierungen haben Teile der politischen Öffentlichkeit und der politischen Führungsschicht für die Thematik einer die bürgerlichen Grundrechte schützenden, politisch unabhängigen Justiz und für die Gleichheit vor dem Gesetz sensibilisiert. Rechtssicherheit impliziert für die Bürger allerdings nicht allein eine wirksame Garantie der Grundrechte, den Schutz vor polizeilichen Übergriffen und eine effiziente Justiz, die dem Bürger bei Streitfällen zu seinem Recht verhilft, sondern auch Sicherheit in einem elementaren Sinn, daß der Staat das Recht auf Le18 ben und körperliche Unversehrtheit gegenüber Rechtsbrechern und anderen 17

"

Dieser evolutionäre und dynamische Prozeß der Ausprägung der politischen Institutionen und ihres Wechselverhältnisses wird in der Diskussion Uber die Vor- und Nachteile der lateinamerikanischen Präsidialdemokratien häufig vernachlässigt. Vor dem Hintergrund eines Anstiegs der Straftaten kommt der Schaffung effizienter, nicht korrupter und die BOrgeirechte respektierender Polizeikrafte im Rahmen der Reform und Stärkung staatlicher Strukturen zentrale Bedeutung zu. Reformen von Justiz und Polizei müssen gemeinsam im Rahmen eines integralen Ansatzes

25

Formen privater Gewalt schützt19. Daraufhat Diamond (1997: 24-25; vgl. auch Przeworski et al. 1995: 36) in seinen konzeptionellen Überlegungen zur Konsolidierung der Demokratie in Lateinamerika nachdrücklich hingewiesen: "More than anything eise, order - as signified by the safety and predictability of the social environment - is the other dimensiort ofpolitical Performance that Citizens value most and perhaps that democratic consolidation theorists most often neglect.... Citizens have a right to be safe in theirpersons...." Rechtsreformen müssen, wenn sie von den Bürgern mitgetragen werden sollen, auch diesen Erwartungen Rechnung tragen. Was erwartet der einfache Bürger von einer Reform des Rechtssystems? Man kann davon ausgehen, daß er nicht in rechtsphilosophische Reflektionen eintritt, sondern zwei unterschiedliche, sich ergänzende Erwartungen hegt: • Er will sicher sein, daß er nicht mißhandelt wird, falls er - durch Zufall oder wegen eines Vergehens - mit der Polizei in Konflikt gerät, und daß ihm ein rechtsstaatliches Verfahren (einschließlich eines kostenlosen Rechtsbeistandes, falls er arm ist) zuteil wird. Außerdem will er einen gesicherten Zugang zum Rechtssystem, falls seine Rechte verletzt wurden oder er das Opfer eines Rechtsvergehens wurde. Und er erwartet, daß die Gesetze unparteiisch durchgesetzt werden, ohne in Rechnung zu stellen, ob der Rechtsbrecher arm oder reich, ob er mächtig oder ein einfacher Bürger ist. • Vor dem Hintergrund eines Anstiegs der Straftaten - die wachsende Kriminalität wird immer als eines der wichtigsten Probleme in nahezu allen Meinungsumfragen in Lateinamerika genannt - verbindet der einfache Bürger mit dem Begriff "Justizreform" auch die Erwartung einer wirksameren Justiz, die seine Sicherheit und damit auch seine Lebensqualität erhöht.

4. Kontrolle und Kritik der Justiz durch die Medien Die kritische Perzeption der lateinamerikanischen Justiz (vgl. III.) wird sehr stark durch die sich parallel vollziehende Entwicklung der Medien beeinflußt. Die Presse, vor allem die Printmedien, aber auch Teile der elektronischen Medien haben sich in fast allen lateinamerikanischen Ländern in den vergangenen Jahren als "vierte Gewalt" etabliert und den Erwartungsdruck auf die Justiz erhöht. Allerdings wäre es falsch, den schlechten Ruf der Justiz kausal auf die Berichterstattung der Presse zurückzuführen. In vielen lateinamerikanischen Ländern werden angegangen werden. Denn ohne eine Justiz, die die Grundrechte von Angeklagten schützt und Menschenrechtsverletzungen bestraft, erhöht sich das Risiko (insbesondere in Ländern mit einer autoritären Tradition), daß die Polizei systematisch ihren rechtlichen Handlungsrahmen Uberschreitet. Zur Polizei in Lateinamerika ausführlich Waldmann/Schmid (1996), Waldmann (1996). "If the police are perceived as corrupt, abusive, incompetent, and unaccountable (as they are today in Mexico and many other countries in the region), this cannot but affect popular perceptions ofthe authority and legitimacy of the state" (Diamond 1997:28). "

26

Dies als Teil eines Gesamtkonzepts "menschlicher Sicherheit" (vgl. UNDP 1994: 27-48; und für den chilenischen Fall PNUD 1998).

beide Akteure, Justiz und Medien, geradezu diametral bewertet. So antworteten in einer Umfrage im Großraum Buenos Aires Mitte 1996 auf die Frage: "Welches Bild haben sie von folgenden Institutionen?" im Hinblick auf die beiden genannten Akteure:

Tabelle 8: Bewertung von Justiz und Medien in Meinungsumfragen (Argentinien)

positiv mittelmäßig (regular) negativ w.n.

Justiz

Medien

11,3% 33,9% 48,2% 6,6%

65,0% 24,7% 7,6% 2,6%

Quelle: Fraga (1997: 119)

Im Gegensatz zum Glaubwürdigkeitsverlust von Politik und Justiz erfreuen sich Journalisten in Lateinamerika durchgehend hoher Zustimmungswerte. Im "Latinobarömetro" von 1996 äußerte die Hälfte der Befragten Vertrauen in die Medien. In vielen Ländern, wie z.B. in Argentinien und Brasilien, gelten sie mittlerweile als politisch einflußreicher und mächtiger als die Militärs. Welcher Zusammenhang besteht zwischen der Rolle/Arbeit der Massenmedien (und ihrer positiven Beurteilung) und der negativen Wahrnehmung der Justiz: • Das Verhalten der Justiz wird stärker als in der Vergangenheit von der Presse beobachtet und kommentiert. Vorhandene Defizite werden dadurch von einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen. Durch die Bestrebungen von Regierungen, z.B. in Argentinien, die Justiz politisch zu instrumentalisieren, gerät diese zwangsläufig ins Blickfeld der politischen Tagespresse. • Auch der Anstieg der Gewaltkriminalität und das Versagen der staatlichen Institutionen, diese einzudämmen, werden teilweise der Justiz angelastet. Zumal die Polizeiberichte einen wichtigen Bestandteil der Tagesnachrichten darstellen. • In vielen Ländern hat sich ein "periodismo investigativo" durchgesetzt, der politische Mißstände und Korruptionsfälle aufdeckt und anprangert. Damit steigt auch der Erwartungsdruck der politischen Öffentlichkeit an die Justiz. Sollten die von der Presse aufgedeckten Fälle von Korruption und Machtmißbrauch politisch und juristisch nicht geahndet werden, schlägt sich dies in der Wahrnehmung der beteiligten Institutionen nieder. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Fälle bewußt nicht juristisch verfolgt werden oder ob nicht genügend gerichtsverwertbares Beweismaterial vorliegt. 27

• Der Erwartungsdruck auf die Justiz hat sich auch deshalb erhöht, weil das Thema Korruption in Zeiten wirtschaftlicher Anpassungspolitiken und von Einkommensverlusten breiter Schichten (vor allem von Teilen der Mittelschicht) auf immer weniger gesellschaftliche Toleranz stößt. Für große Sektoren der Bevölkerung besteht ein direkter Zusammenhang zwischen dem Ausufern der Korruption und der Schwäche der Justiz. In einer Gallup-Umfrage, die im September 1996 im Großraum Buenos Aires und in weiteren vier argentinischen Großstädten durchgeführt wurde und sich mit dem Thema Korruption befaßte (siehe Carballo 1997), wurden als Ursachen für die 20 Korruption am häufigsten (36%) genannt: "Die Justiz ist ineffizient und bestraft die Schuldigen nicht". Auf die Frage, was das beste Mittel sei, das Problem der 21

Korruption zu beseitigen, nannten 45% der Befragten eine Effizienzsteigerung der Justiz (Anwendung der Gesetze und Vollzug der Strafen). Auch für nationale und ausländische Investoren stehen mangelnde Rechtssicherheit und Korruption in einem engen Zusammenhang. In einer 22von der Weltbank 1996 weltweit durchgeführten Umfrage unter Unternehmern , in der diese die institutionellen Rahmenbedingungen in ihren Heimatländern bewerten sollten, nannten die befragten lateinamerikanischen Unternehmer in einer Rangfolge der Hemmnisse für unternehmerische Tätigkeit an erster Stelle die Korruption und an dritter Stelle die Kriminalität (Weltbank 1997: 48), zwei Bereiche, die eng mit dem Justizbereich verknüpft sind.

5. Rechtssicherheit im Zeitalter der Globalisierung Insofern wirkt sich auch der wirtschaftspolitische Kurs- und Paradigmawechsel in Lateinamerika auf die Wahrnehmung und Bewertung der Rechtssysteme aus. Einerseits geht im Zeitalter der Globalisierung und wirtschaftlichen Außenöffnung die Qualität der nationalen Rechtssysteme in die Risikokalkulation ausund inländischer Unternehmer ein. Andererseits wird die Justiz im Rahmen der weitverbreiteten Forderungen nach einer Verkleinerung und Effizienzsteigerung des Staates heutzutage auch nach wirtschaftlichen Effizienzkriterien bewertet. Im Extremfall gilt die Justiz als wirtschaftliches Entwicklungshemmnis. Gravierende Mängel im Justizwesen erhöhen die wirtschaftlichen Transaktionskosten (vgl. Eyzaguirre 1997) und beeinträchtigen die Glaubwürdigkeit und Berechenbarkeit wirtschaftspolitischer Entscheidungen (vgl. Sherwood 1997). Nach empirischen Untersuchungen läßt sich ein statistischer Zusammenhang 20

Die gleiche Antwort wurde als erste und zweite Priorität von zwei Dritteln der Befragten genannt

21

Als erste und zweite Nennung zusammen waren es sogar 67%.

22

In Lateinamerika und der Karibik wurden 474 Unternehmen in neun Ländern (Bolivien, Costa Rica, Ekuador, Jamaika, Kolumbien, Mexiko, Paraguay, Peru, Venezuela) befragt.

28

zwischen der Variablen politische Verläßlichkeit/Glaubwürdigkeit und wirtschaftliches Wachstum nachweisen, d.h. ein willkürliches und unberechenbares Justizsystem ist ein wirtschaftlicher Kostenfaktor (vgl. Weder 1995). Prägnant heißt es dazu in einer kürzlich veröffentlichen Studie über die Effizienz der Justiz in Lateinamerika: "There is widespread belief throughout Latin America that the judicial sector is not in a position to foster private sector development within a market system This loss of faith, in turn, causes private parties to factor added costs for judicial delay into their private transactions, and these added costs reduce economic activity and retard economic development..... the region urgently needs an efficient judicial sector to complement the market reforms recently introduced by many governments" (Buscaglia/Ulen 1997: 275). Die Kritik aus Unternehmerkreisen zielt an erster Stelle auf die Langsamkeit und mangelnde Effizienz des Justizapparates. Im "World Competitiveness Report" von 1994 wurden Unternehmer in Lateinamerika zur Justiz interviewt: 55% der Befragten zogen es vor, zu einer außergerichtlichen Einigung zu kommen, statt ihre Interessen vor Gericht durchzusetzen (zitiert in Buscaglia/Ulen 1997: 280). Sie entsprechen damit dem Ratschlag eines argentinischen Ökonomen: "Un acuerdo delgado es preferible a un juicio gordo" (zitiert in: Clarin. Suplemento Econömico 5.4.1998: 2). In einer 1996 durchgeführten Umfrage unter US-amerikanischen Handelskammern in 20 lateinamerikanischen Ländern sollte das Justizwesen in den betreffenden Ländern auf einer Notenskala von 1 (sehr schlecht) bis 10 (sehr gut) bewertet werden. Es überrascht, daß das Justizwesen im Durchschnitt der Länder kritischer bewertet wird als die Kriminalität/Sicherheit (Note 6,6). So wurde die Fähigkeit der Justiz, unparteiische Urteile zu fallen, mit 5,2 benotet und die Fähigkeit, schnelle Urteile zu fällen, mit 3,7 (wiedergegeben in: Perfiles Liberales 54 (1997), 4). Im "World Competitiveness Report" für 1997, in dem die Wettbewerbsfähigkeit von 46 Volkswirtschaften - darunter sechs lateinamerikanische - verglichen wird, werden die lateinamerikanischen Volkswirtschaften in den Bereichen Korruption, Vertrauen in die Justiz und Sicherheit fast durchgehend schlechter bewertet als im Hinblick auf ihre allgemeine Wettbewerbsfähigkeit. Was das Vertrauen in die Justiz betrifft, nehmen Argentinien, Mexiko, Kolumbien und Venezuela die Plätze 42, 43, 44 und 45 ein (Chile 29, Brasilien 33). Nur Rußland auf Platz 46 wird noch schlechter bewertet.

29

Tabelle 9: Unternehmer und Vertrauen in die Justiz

Chile Argentinien Brasilien Mexiko Kolumbien Venezuela

Wettbewerbsfähigkeit 24 28 33 40 42 45

Korruption 22 37 28 40 44 43

Vertrauen in die Justiz 29 42 33 43 44 45

Persönliche Sicherheit 28 36 38 41 45 42

Quelle: I M D ( 1 9 9 7 )

Nicht nur rechtliche Defizite bei der Regelung und Absicherung der Geschäftsbeziehungen können zu einer negativen Perzeption der Justiz durch die Wirtschaft fuhren. Auch der mangelhafte Schutz der bürgerlichen Grundrechte und massive Menschenrechtsverletzungen können und sollten potentielle Investoren abschrecken. In einem im August 1995 veröffentlichten Leitartikel in der "Neuen Zürcher Zeitung" (26./27.8.1995: 1) hieß es dazu unter der Überschrift: "Wozu Menschenrechte in Lateinamerika?": "Menschenrechte sind auch gut fürs Geschäft. Denn wo die Menschenrechte ungestraft verletzt werden, ist kein Rechtsstaat. Und wo dieser fehlt, ist eine gedeihliche ökonomische Entwicklung in Frage gestellt, weil potentielle Investoren in einem Staat ohne verläßliches Recht für langfristige Kapitalanlagen zu wenig Sicherheit haben. Wie soll die Justiz ein Schuldbetreibungsverfahren korrekt durchfuhren, wenn sie nicht einmal Mord und Folter ahndet? Die Menschenrechte sind ein Indikator: Wo sie außer Kraft gesetzt sind, muß man annehmen, daß die ganze Rechtsverfassung eines Staates schlecht ist." Eine ähnliche Position vertritt der ehemalige Staatssekretär im USHandelsministerium (1993-1995), Jeffrey Garten (1997: 75): "The issue is the rule of law. If foreign governments do not seek to protect basic human rights, they are more likely to ignore or circumvent other basic laws of great commercial relevance, such as those that protect intellectual property rights, combat corruption, and mandate the disclosure of critical financial information. The arrogance of governments that oppress their people transfers easily to other areas. " Internationale Finanzorganisationen wie die Weltbank oder die Interamerikanische Entwicklungsbank verweisen deshalb neuerdings verstärkt auf die rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen als eine Voraussetzung für ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum und als einen Standortfaktor im internationalen Wettbewerb. Dazu gehört eine politisch unabhängige und funktionsfähige Justiz. Beide Institutionen finanzieren auch Reformprojekte in diesem Bereich. Der von der Weltbank herausgegebene Weltentwicklungsbericht für 1997 trägt den Titel "Der Staat in einer sich ändernden Welt". Dort wird eine Zwei-Stufen-Strategie 30

vorgeschlagen. Zunächst soll die Rolle des Staates an sein Leistungsvermögen angepaßt werden. In einem zweiten Schritt soll die institutionelle Leistungsfähigkeit des Staates erhöht werden, "indem man den Amtsträgern Anreize bietet, bessere Ergebnisse zu erzielen, und zugleich Handlungswillkür in Schach hält" (Weltbank 1997: 8). Hierbei kommt der Justiz eine entscheidende Rolle zu: "Eine unabhängige Rechtsprechung ist entscheidend, um die völlige Verantwortlichkeit der Legislative und Exekutive vor dem Gesetz aufrechtzuerhalten und um die Bestimmungen der Verfassung auszulegen und durchzusetzen" (Weltbank 1997: 9). Die Interamerikanische Entwicklungsbank hat bereits zweimal Konferenzen (1993 in Costa Rica und 1997 in Montevideo) zum Thema "Justiz und Entwicklung" abgehalten (vgl. Jarquin/Carrillo 1997). Die Bank finanziert im Rahmen der Modernisierung des Staates Programme zur Justizreform (u.a. in El Salvador, Honduras und Paraguay) (IDB 1997: 23). Auch auf dem VI. Iberoamerikanischen Gipfel in Chile im November 1996 wurde das Thema Justizreform ausführlich gewürdigt. In der Abschlußerklärung (Declaración de Viña del Mar) heißt es: "31. La reforma del estado abarca a los Poderes Ejecutivo, Legislativo y Judicial.... 33. Una de las más notables reformas es la de la administración de justicia, inspirada en una nueva valoración de su papel en la sociedad, particularmente de su función social. Los cambios en esta área se refieren, por una parte, a la estructura de los tribunales, ampliando su cobertura y facilidad de acceso, y, por otra, a los procedimientos, atendiendo a su agilización y actualización. También se están dando en la región importantes reformas tanto en lo que atañe a las normas procesales como a las de índole sustancial. Asimismo, merecen destacarse las reformas orientadas a la protección de sectores específicos de la población menores, familia — así como las modificaciones tendientes a asegurar la protección de los legítimos derechos de las víctimas y a dar fiel cumplimiento al principio del debido proceso de las personas privadas de la libertad." Zuletzt hatten die nord- und südamerikanischen Staats- und Regierungschefs im April 1998 auf ihrem Vorbereitungstreffen für die ALCA (Area de Libre Comercio de las Américas) in Santiago de Chile in der Abschlußerklärung {Declaración de Santiago) ihren Willen zu Justizreformen bekundet: "Convencidos que una administración de justicia independiente, eficiente y eficaz, juega un papel esencial en el proceso de consolidación de la democracia, fortalece su institucionalidad, garantiza la igualdad de todos sus ciudadanos, y contribuye al desarrollo económico, reforzaremos nuestras políticas de justicia e impulsaremos aquellas reformas que sean necesarias para promover la cooperación jurídica y judicial." Und auch in den bilateralen Beziehungen spielt das Thema eine Rolle. Es wird von der US-Regierung immer wieder aufgegriffen und auch im Lateinamerika-Konzept der Bundesregierung von 1995 fand es seinen Niederschlag. 31

Dort wird den Reformen des Justizwesens, der Rechtsstaatlichkeit und der Rechtssicherheit im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit künftig ein besonderer Stellenwert eingeräumt. Grundsätzlich sind diese Ansätze positiv zu bewerten. Sie sind allerdings nur erfolgversprechend, soweit sie mit einem echten Reformwillen in den betreffenden Ländern zusammenkommen. Deshalb sollte im Rahmen der Technischen Zusammenarbeit im Bereich der Justizreform immer die politische Dimension in Rechnung gestellt werden. Es handelt sich um einen politisch äußerst sensiblen Bereich, der das Machtgefuge direkt tangiert. Dies wird bei einer technizistischen Sichtweise von EZ-Projekten im Justizbereich leicht übersehen - mit negativen Konsequenzen für die Projektumsetzung. Auch ein noch so großer Einsatz von Finanzmitteln und Beratern garantiert nicht den Erfolg von Rechtsreformprogrammen. Dies gilt insbesondere, wenn die beteiligten Regierungen keinen ausreichenden Reformwillen zeigen oder der Zeithorizont für wirksame Reformen falsch eingeschätzt wird. Insofern fällt eine kürzlich veröffentlichte Bilanz aus US-amerikanischer Sicht eher nüchtern aus: "The effects of this burgeoning rule-of-law aid are generally positive, though modest. After more than ten years and hundreds of millions of dollars in aid, many judicial systems in Latin America still function poorly. Russia probably is the Single largest recipient of such aid, but is not even clearly moving in the right direction" (Carothers 1998: 104).

V. Fazit und Schlußfolgerungen Die 90er Jahre können als Dekade der großen Justizreformen, eines rechtspolitischen Umbruchs in die Geschichte Lateinamerikas eingehen. Im Rahmen eines weltweiten "rule of law revival" (Carothers 1998) besteht ein äußerst günstiges externes und internes Umfeld für Rechtsreformen in der Region, die in einigen Ländern bereits vorangeschritten sind - obgleich politische Hemmnisse nicht aus dem Blickfeld verloren werden sollten. Es besteht die Hoffnung, daß die sich bei einigen Themen abzeichnende Koalition zwischen Kommerz und Moral die Reformen vorantreiben wird. Zumal die Reformprozesse in vielen Ländern, aber auch in der Region bereits eine Eigendynamik entwickelt haben. Um dauerhafte Reformerfolge zu sehen, braucht man allerdings einen langen Atem. Letztlich geht es nur auf den ersten Blick um die Veränderung von Gesetzen und Institutionen. Für den langfristigen Erfolg wichtiger, aber auch zeitintensiver sind Veränderungen von Einstellungen und Verhaltensweisen (vgl. Carothers 1998). Ein Haupthemmnis sind die Bestrebungen vieler Regierungen, sich politisch abzusichern und weiterhin Einfluß auf die Justiz zu nehmen (vgl. Madiener 1996b). Damit wird der Handlungsrahmen eingeschränkt, in dem externe Akteure den Reformprozeß unterstützen können. Gleichwohl bleibt die Hoffnung, und die 32

Chancen stehen nicht schlecht, daß die historische Chance ( 7 a ventana histórica", Obando 1997: 128) genutzt wird, damit "Justitia" in der kommenden Dekade wieder Rückgrat zeigen, ihr Schwert nicht mehr stumpf und die Waage neu geeicht sein wird. Und die Augenbinde könnte wieder zum Symbol dafür, daß sie unparteiisch ist, und nicht für Blindheit werden. Dies wäre ein wichtiger Beitrag zur langfristigen Konsolidierung der Demokratie, da über die Absicherung des Rechtsstaates und durch eine effiziente, politisch unabhängige Justiz auch die liberale Komponente der Demokratie gestärkt werden würde, die in Lateinamerika traditionell unterentwickelt war.

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Rainer Tetzlaff

Justizreformen im Rahmen der Globalisierungsdebatte I. Zum Zusammenhang von Globalisierung der Wirtschaft und "globalgovernance" in der Politik In den vergangenen zehn Jahren ist "Globalisierung" zu einem Kernbegriff der Sozialwissenschaften geworden, wenn auch zu einem schillernden. Tatsächlich ist der akademische Streit - vergleichbar der Debatte um das Sein oder Nichtsein einer "Weltgesellschaft" - noch nicht entschieden, ob damit wirklich ein neues Phänomen in der Entwicklung der modernen Welt in Erscheinung getreten ist oder ob Globalisierung nur ein anderes modischeres Wort für die bekannte "Internationalisierung der Produktion" ist, von der seit den 60er Jahren im Zusammenhang mit der Expansion der Transnationalen Unternehmen die Rede ist. Dieser Streit kann auch hier nicht entschieden werden (siehe hierzu jetzt Messner 1998), wobei lediglich daraufhingewiesen werden soll, daß seit dem Ende des Ost-West-Konflikts die politisch-ideologischen Rücksichtnahmen von Nationalstaaten und Wirtschaftsunternehmen bei der Verfolgung eigener ökonomischer Interessen weitgehend entfallen sind, so daß zu Recht von einer Dominanz der wirtschaftlichen Arena im Vergleich zur Arena der Politik gesprochen werden kann1. Seit Ende der 80er Jahre hat sich die weltwirtschaftliche Verflechtung enorm beschleunigt: Die Wachstumsraten des Außenhandels lagen mit durchschnitt"Die globale Entwicklung ist von zwei widersprachlichen Trends geprägt. Wahrend die Welt sich zunehmend vernetzt, nimmt die Fähigkeit ab, die Probleme der Welt zu lösen. Es öffnet sich eine Schere zwischen Globalisierung und politischer Handlungsfähigkeit", so lautete die erste These der "Globalen Trends 1996" (Stiftung Entwicklung und Frieden 1995: 11).

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lieh 8% in den 90er Jahren doppelt so hoch wie die der weltweiten Produktion. Die Zunahme der ausländischen Direktinvestitionen überschritt diejenige der Produktion gar um das Drei- bis Vierfache. Träger dieser weltweiten Verflechtung sind etwa 4.000 Transnationale Unternehmen mit 250.000 Tochterunternehmen, die mit ihrem "Intrakonzernhandel" schätzungsweise ein Drittel des Welthandels auf sich vereinen. Die Wettbewerbsvorteile erwachsen diesen "global players" nicht mehr aus natürlichen Faktoren (wie Vorhandensein von Rohstoffen oder billigen lokalen Arbeitskräften), sondern vielmehr aus "geschaffenen" (durch Geschäftsgröße und Marktmacht beeinflußbaren) Faktoren, wie schier unbegrenzten Zugang zu günstigen Kapitalquellen, Lizenzen und Patenten, Anwendung neuer wissenschaftlich erprobter Fertigungs- und Vermarktungsverfahren, Verläßlichkeit ihrer Geschäftspartner, überproportional große Rechtssicherheit bei allen Geschäften. Solchermaßen geschaffene Standortvorteile sind räumlich weniger gebunden und lassen sich folglich relativ leicht über Landesgrenzen hinweg transferieren (Martin/Schumann 1997). "Multis" sitzen heute nicht mehr - haben sie sich erst einmal für die Investition in einem Land entschieden - in der "Falle" (mit Angst vor der jederzeit möglichen Verstaatlichung oder Enteignung durch das Gastland ), sondern sind flexibler und rechtlich unabhängiger geworden. Meghnad Desai, der Direktor des Centre for the Study of Global Governance der London School of Economics, hat darin einen der zentralen Aspekte der Globalisierung gesehen: Sie setze "eine Reihe von mächtigen Akteuren in die Welt, die nicht regulierbar" seien. Im Gegensatz zu Nationalstaaten, "die üblicherweise gefordert sind, sich an die UN-Charta und verschiedene Menschenrechtskonventionen zu halten, unterliegen die Unternehmen zwar den Vorschriften einzelner Länder, bisher jedoch keiner globalen Regulation" (Desai 1998: 339). Noch einen Schritt weiter geht Riccardo Petrella von der Katholischen Universität Löwen, Präsident der "Gruppe von Lissabon", der von "neuen Gesetzestafeln" spricht, die "von der Allianz aus fuhrenden Gruppen der mächtigsten Staaten der Erde und dem Markt" unter Federführung der Transnationalen Unternehmen aufgestellt worden seien und folgende "Sechs Gebote" beinhalten würden: • Das erste Gebot der Neuen Gesetzestafeln heißt: "Globalisierung ist der Schlüssel". Niemand kann sich ihr widersetzen. Akteur auf dem globalen Markt zu werden, sei "der oberste Auftrag für Firmen und entsprechende Organisationen". • Das zweite Gebot lautet: "Keine Grenze soll die Liberalisierung lokaler Märkte einschränken. Alle Märkte sollen für globale Akteure geöffnet werden". • Das dritte Gebot bestimmt: "Der direkte Einfluß des Staates auf die Wirtschaftstätigkeit soll klein sein". Und zur Erklärung wird angeführt: "Die Macht, Prinzipien, Nonnen und Modalitäten für das Funktionieren der Wirt37

schaft festzulegen, liegt nicht mehr bei den Bürgern und damit auch nicht mehr bei den Parlamenten, den Regierungen, den örtlichen Behörden und den Gerichten. Sie alle haben den Marktkräften zu vertrauen. Das Unternehmen muß den Weg weisen." • Daher das vierte Gebot: "Alles, was sich privatisieren läßt, muß privatisiert werden". • Das fünfte Gebot betont die Rolle von Wissenschaft und Technik als Schlüssel zur Erlangung des ersehnten Status als "global player" und lautet: "Du sollst ein rastloser technischer Neuerer sein. Wenn nicht du die Innovationen hervorbringst, werden es die anderen tun und dich aus dem Markt werfen. Die Weltwirtschaft steht unter unaufhörlichem Druck durch technische Innovationen. Niemand kann sich neuen Techniken widersetzen. Innovation vor, koste es, was es wolle". • Und das sechste Gebot vergötzt die Norm der grenzenlosen, unbeschränkten Wettbewerbsfähigkeit: "Jeder soll auf allen Gebieten und gegen jeden in globalem Maßstab wettbewerbsfähig sein" (Petrella 1997: 292-294). Damit - so die Schlußfolgerung Petrellas - , würde "eine der größten Errungenschaften der Menschheit", nämlich der Gesellschaftsvertrag, der sich schließlich in den reiferen Demokratien im "Wohlfahrtsstaat" niederschlug, "als Hindernis für die globale Wettbewerbsfähigkeit privater Unternehmen hingestellt" "welche Ironie!". Diese Ängste werden von zahlreichen Kritikern der Globalisierung geteilt, obwohl m.E. die Ohnmacht der Politik auf Dauer keineswegs eine zwingende Notwendigkeit zu sein brauchte. Auch ich neige zu der Ansicht, daß mit Globalisierung als einem weltweiten Prozeß der Intensivierung des Tausches von Gütern und Werten über politische Grenzen hinweg und mit der dadurch entstandenen irreversiblen Verflechtung von Märkten, Finanz- und Kommunikationssystemen eine neue Realität wechselseitiger Abhängigkeiten entstanden ist. Aber auch dieser angeblich "naturwüchsige" Prozeß mit all seinen "Sachzwängen" verläuft nicht jenseits der menschlichen Geschichte, sondern ist vielleicht schwieriger als in allen Epochen davor - durch Rechtsetzung und Grenzziehung gestaltbar. Der ehemalige Richter am Karlsruher Bundesverfassungsgericht Ernst-Wolfgang Böckenforde hat kürzlich an den seit Kant bekannten Erfahrungssatz erinnert: Freiheit als beständige, gesicherte Freiheit gäbe es "erst durch Recht und im Recht, das Grenzen zieht". Und dies gelte auch für den Globalisierungsprozeß der Gegenwart, der zwar an die Zeit des frühen Kapitalismus erinnere, aber keineswegs als etwas Naturwüchsiges aufgefaßt werden sollte: Globalisierung sei vielmehr "das Ergebnis bewußt vorgenommener rechtlicher Entgrenzungen", die z.B. mit den vier deklarierten Freiheiten des EWG-Vertrages vor vierzig Jahren begonnen hätten (Böckenforde 1997: 277). Damit verschiebt sich das Problem: Es geht nicht um die bedauerliche Feststellung, daß sich die Schere zwischen Ökonomie und Politik öffne, sondern um 38

die Suche nach den geeigneten Instrumenten des Rechts für die politischen Regelungen von kommerziell verursachten Verflechtungszusammenhängen. Dabei werden das Völkerrecht und universell gültige Menschenrechte ebenso eine Rolle spielen (siehe Pape 1997; Tetzlaff 1998a) wie internationale Regime, die über gemeinsam verabredete Normen, Prinzipien und Prozeduren politische Leitlinien und Spielregeln für weltweiten Wettbewerb und Kooperation zwischen den "global plavers " hervorbringen werden. Globalisierung der Märkte - so lehrt auch die jüngste Krise der asiatischen Tigerstaaten - verträgt sich auf Dauer nicht mit politischer Anarchie oder rücksichtsloser Suche nach eigenen Vorteilen auf Kosten anderer (siehe Weggel 1998). Globalisierung der Wirtschaft, der Technik, der Wissenschaft und der Kommunikationssysteme hat zur Konsequenz, daß nationalstaatliche Maßnahmen an Relevanz einbüßen, was aber gleichzeitig den Druck auf alle Regierungen erhöht, sich um internationale Regelungen von "global business" und seine Rahmenbedingungen {"common goods") zu bemühen. "Global governance" heißt das Zauberwort, mit dem diesem Postulat Ausdruck verliehen wird (siehe Commission on Global Governance 1995).

II. Globalisierung und die Verheißungen der Moderne wie alles anfing Mit Anthony Giddens (1997: 23) kann man Globalisierung als die "Intensivierung weltweiter sozialer Beziehungen" definieren, "durch die entfernte Orte in solcher Weise miteinander verbunden werden, daß Ereignisse an einem Ort durch Vorgänge geprägt werden, die sich an einem viele Kilometer entfernten Ort abspielen und umgekehrt". Es handelt sich um strukturelle Interdependenz der Staaten und Volkswirtschaften, wobei politische Grenzen immer unwichtiger und transnationale (grenzüberschreitende) Verflechtungszusammenhänge in Ökonomie, Politik und Kultur zunehmend strukturbildend wirken. Diese heutigen Verflechtungszusammenhänge sind langfristig herangereift; sie sind das vorläufige historische Endprodukt einer "zivilisatorischen" Entwicklung (s.u.), die mit der Unterwerfung, Ausbeutung und Transformation der außereuropäischen Welt durch die Konquistadoren und Kolonisatoren Europas am Ende des 15. Jahrhunderts ihren Anfang nahm. Mit der Durchkapitalisierung und Modernisierung fast aller Arbeits- und Lebensbereiche in allen Ländern, die sich in den Weltmarkt integrieren und mit dessen "globalplayers" kooperieren, findet die große Transformation der vielen kleinen lokalen Gemeinden, Nationen und Reiche zu einer kapitalistisch geprägten Weltgesellschaft ihren logischen Endpunkt.

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Im "Begriff des Kapitals" sei der Weltmarkt schon angelegt, quasi als Keim schon vorhanden, der nur der Entwicklung und Ausformung bedürfe - so hatten Karl Marx und Friedrich Engels bereits im "Kommunistischen Manifest" von 1848 behauptet und damit eine Zukunftsvision beschworen, deren politische Aktualität erst im Zeitalter der Globalisierung voll sichtbar wird. "Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel... Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen. Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet worden und werden noch täglich vernichtet. Sie werden verdrängt durch neue Industrien, deren Einführung eine Lebensfrage für alle zivilisierten Nationen wird, durch Industrien, die nicht mehr einheimische Rohstoffe, sondern den entlegensten Zonen angehörige Rohstoffe verarbeiten und deren Fabrikate nicht nur im Lande selbst, sondern in allen Weltteilen zugleich verbraucht werden... Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterte Kommunikation alle, auch die barbarischsten Nationen, in die Zivilisation. Die wohlfreien Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt... Sie zwingt alle Nationen, sich die Produktionsweise der Bourgeoisie anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen; sie zwingt sie, die sogenannte Zivilisation bei sich selbst einzuführen". Tatsächlich handelt es sich bei der globalen Ausdehnung kapitalistischer Unternehmen auch heute noch um einen strukturbildenden Prozeß mit enormer Ansteckungskraft, bei dem sich Interaktionen zwischen Staaten und sozialen Interessengruppen über bestehende Grenzen hinweg immer stärker ausdehnten, anfangs mit Gewalt, später wohl überwiegend mittels der Umwandlung von Fremdzwängen in Selbstzwänge. Letztere sind im wesentlichen darin zu sehen, teilhaben zu wollen an einer ursprünglich "westlich" geprägten kapitalistischen Marktgesellschaft, die als Garant der drei Verheißungen von Modernisierung erscheinen mußte: • mehr physische Sicherheit (des modern gerüsteten Staates) vor Konkurrenten, Neidern und Feinden; • höheren materiellen Wohlstand der Gesellschaft, einschließlich der Luxuskonsumgüter für die Reichen und Mächtigen; • und schließlich die Verheißung eines längeren, gesünderen und selbstbestimmteren Lebens für das freie Individuum. Seit einigen Jahren haben wir daher in allen Regionen der modernen Weltgesellschaft eine Globalisierungsdebatte, in den krisengeschüttelten Schwellenländern Asiens ebenso wie in den Armutsländern Afrikas. In diesen Debatten über die Zukunft und Zukunftsfähigkeit der Weltgesellschaft und ihrer kulturell-regionalen Subsysteme betonen die Optimisten die enormen Chancen einer rasch wachsenden Weltwirtschaft auch für Nachzüglerstaaten, während die

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Pessimisten die kulturelle Barbarisierung durch Gleichmacherei und die Fragmentierung der Welt in wenige Wohlstandsinseln und viele Verelendungszonen befürchten (siehe Beck 1997). Einige Analytiker befurchten "eine neue Spaltung der Welt", "die sich in Zukunft zu einer globalen sozialen Apartheid entwickeln könnte" (Petrella 1997: 297). Wie dem auch sei, im folgenden liegt der Akzent der Betrachtung auf der Frage, ob angesichts dieser mächtigen Globalisierungsoffensive der Weltökonomie mit ihren destabilisierenden Wirkungen der demokratische Rechts- und Verwaltungsstaat eine Zukunft hat, der ohne ein berechenbares, effizientes und möglichst gerechtes Justizsystem der "civil society" wenig Vertrauen wird einflößen können.

III. Der globale Trend der Demokratisierung und der Verrechtlichung von Herrschaft: einige empirische Belege aus Asien Im Verlauf der "dritten Demokratisierungswelle" (Samuel Huntington) hat es bedeutende Fortschritte in Richtung auf die Herausbildung demokratischer Rechtsstaaten gegeben. Von dieser Demokratisierungswelle, die mit dem Ende des Kalten Krieges in der zweiten Hälfte der 80er Jahre begann und nun vor allem auch Osteuropa und Afrika südlich der Sahara erreicht hat, sind bereits mehr als 120 Staaten erfaßt worden2. Tiefe und Nachhaltigkeit der damit verbundenen Politik- und Rechtsreformen variieren von Region zu Region, von Land zu Land, dennoch ist als globaler Trend die Entpersonalisierung von Herrschaftssystemen und deren zunehmende Verrechtlichung unverkennbar. Systeme der "personal rule", sei es in Gestalt der charismatischen Gründer von politischen Bewegungen (Perón in Argentinien; Mao-Tse-tung in China; Nasser in Ägypten, Nkrumah in Ghana etc.) oder in Form von usurpatorischen Präsidialdiktatoren (vom Schlage Mobutu in Zaire, Assad in Syrien oder Pinochet in Chile), werden zunehmend ersetzt durch neue Verfassungssysteme, in denen politische Institutionen der Machtteilung und Herrschaftskontrolle im Zentrum stehen. Für viele Gesellschaften der ehemaligen Zweiten und Dritten Welt ist z.B. der verfassungsmäßig verankerte Grundsatz einer begrenzten Wiederwahl von Staatspräsidenten ein Novum, an dem sich in Zukunft zeigen wird3, wie stark sich bereits gesatzte Verfassung und gelebte Verfassungswirklichkeit einander angenähert haben. In Afrika z.B. ist der Gedanke der zeitlich und funktional begrenzten politischen Macht, die als Mandat vom Volk verliehen und zurückgenommen wird, eine Konzeption von Herrschaft, die in den meisten vormodernen, vorkolonialen Gesellschaften weitgehend fremd war. 2

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Nach den Angaben des Freedom Houses in den USA vom Januar 1996 waren von den 191 Staaten der Erde 117 als formale Demokratien zu bezeichnen (vgl. Diamond/Plattner 1996: IX). Dies gilt z.B. für den Präsidenten Namibias Sam Nujoma, der 1999 nicht ein zweites Mal wiedergewählt werden dürfte.

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Hier herrschte eher ein Weltbild vor, das politische Macht von der Fähigkeit eines Herrschers her bestimmte, Sicherheit und Ordnung aufrechterhalten zu können (siehe Tetzlaff 1998b). Und auch in China stand das traditionelle Gesetzesrecht "im Dienste der Schaffung eines mächtigen Staates". "Recht hatte in China nie die Funktion des Schutzes individueller Freiheiten gegenüber der Obrigkeit. Abwehrrechte gegenüber staatlichen Eingriffen blieben unbekannt. Der Gedanke einer Gleichheit vor dem Gesetz war im Rahmen der konfuzianischen Soziallehre unvorstellbar, da Menschen als Träger ungleicher sozialer Rollen mit ungleichen Rechten und Pflichten verstanden wurden. Vor diesem Hintergrund erscheinen Recht und Justiz vielen Chinesen auch heute noch als bedrohliche Waffe in den Händen der Obrigkeit" (Heilmann 1997: 42). Gleichwohl betont Heilmann den raschen Wandel der Rechtsverhältnisse in China unter dem Einfluß des westlichen Auslands und der Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft: "So gehört etwa die vielbeschriebene Fügsamkeit der chinesischen Bauern der Vergangenheit an. Dies zeigen zahllose ländliche Proteste in den neunziger Jahren. In der noch jungen städtischen Mittelschicht regen sich vielfältig kritische Stimmen gegenüber der Herrschaftspraxis der Kommunistischen Partei. Und selbst in der politischen Führung gibt es - bislang allerdings nicht durchsetzungsfähige - Kräfte, die sich für eine vorsichtige demokratische Erneuerung des Regierungs- und Rechtssystems einsetzen. Es mehren sich die Anzeichen, daß die politische Kultur Chinas in den kommenden Jahren infolge des weitreichenden sozioökonomischen Wandels und der Öffnung zur Außenwelt große Veränderungen durchmachen wird" (Heilmann 1997: 42). Diese Prognose ist inzwischen von Gunter Schubert durch Hinweise auf innovative Straf- und Strafprozeßrechtsreformen bestätigt worden. So ist im Oktober 1990 ein Verwaltungsprozeßgesetz in Kraft getreten, das die Einrichtung von Verwaltungskammern bei den Volksgerichten ermöglicht hat, womit "erstmals ein Instrument geschaffen war, mit dem einzelne Bürger den Weg der Klage gegen ein sie betreffendes Verwaltungshandeln beschreiten können. Darauf aufbauend wurde 1994 ein 'Staatsentschädigungsgesetz' verabschiedet, das seit dem 1. Januar 1995 rechtskräftig ist und dem einzelnen Bürger materielle Kompensation bei nachweislich widerrechtlichem Verhalten staatlicher Behörden garantiert. Die jüngste Entwicklung hat gezeigt, daß dieses Recht zunehmend in Anspruch genommen wird und die Kläger in vielen Fälle die Prozesse auch gewinnen" (Schubert 1997: 51). Im Jahr 1995 sind drei weitere wichtige Regelwerke in Kraft getreten, die die Rechtsstellung des Individuums verbessern sollen. Das "Volkspolizeigesetz" verpflichtet die Beamten bei Strafandrohung auf die Einhaltung der bestehenden Gesetze, das "Staatsanwaltsgesetz" zielt auf die Unabhängigkeit der Justiz ab, und das "Gefangnisgesetz" garantiert dem Inhaftierten bestimmte Rechte auf eine faire Behandlung. Und im Januar 1997 ist schließlich die Strafprozeßordnung von 1979 novelliert worden, die 42

erstmals die Unschuldvermutung des Angeklagten deklariert und dessen Rechtssituation auf vielfaltige Weise stärkt - zumindest erst einmal in der Theorie (Quellen und Belege bei Schubert 1997: 51-52). Von wenigen Ausnahmen (wie China, Nordkorea, Vietnam, Kuba, Burma etc.) abgesehen sind bereits heute fast überall die Einparteiensysteme formal abgeschafft und von kompetitiven Mehrparteiensystemen, die periodisch abzuhaltende Wahlen vorsehen, abgelöst worden. Wenigstens vom Anspruch her ist die Idee des rationalen Rechtsstaats mit einem unabhängigen Justizsystem weltweit auf dem Vormarsch, und die Globalisierungsoffensive der 90er Jahre übt einen immensen Druck auf alle Regierungen aus, sich für internationale Investoren attraktiv zu machen, was ohne ein Minimum an berechenbarer Wirtschafts-, Sozial- und Außenhandelspolitik nicht zu erreichen ist. Einen besonders eindrücklichen empirischen Beleg für diese Tendenz stellt die sozialistische Republik Vietnam dar - ein noch immer bettelarmes, wirtschaftlich aber aufstrebendes Land, das von der sozialistischen Einheitspartei "Kommunistische Partei Vietnams" straff regiert wird. Die politischen Mitstreiter und Erben Ho Tschi Minhs hatten lange Zeit die Meinung vertreten, auf einen förmlichen Rechtsstaat an der Basis verzichten und ihn durch einen bürokratischen Kommandostaat, flankiert von plebiszitären Elementen, ersetzen zu können. Da das Justizministerium 1960 aufgelöst worden und die Ausbildung von Richtern und Anwälten unterblieben war, behindert heute in der Reformära der Mangel an Rechtsexperten und Verfassungstraditionen den Aufbau einer modernen leistungsstarken Justizverwaltung. Nach der Wiedervereinigung des Landes 1975 wurden zwar Gesetze erlassen, doch fehlte es häufig an Ausführungsbestimmungen und an der Fähigkeit und Bereitschaft der Angestellten, diese auf allen Ebenen der Verwaltung auch durchzusetzen. Das Land drohte in materiellem Elend und administrativem Chaos zu versinken, so daß die Öffnung zum Weltmarkt und eine Politik der internationalen Kooperation zu einem alternativlosen Überlebensgebot wurden. Wie wichtig es der vietnamesischen Regierung seit der proklamierten "Politik der Erneuerung" ("Domi moi") vom Jahr 1986 geworden ist, das damals noch hungernde Land für ausländische Wirtschaftsunternehmen attraktiv zu machen, läßt sich an der umfangreichen Rechts- und Justizaufbauhilfe ablesen, die das Land heute von dem "United Nations' Development Program" (UNDP) auf eigenen Wunsch erhält. Etwa die Hälfte aller Richter werden heute im Rahmen des Justizreformprogramms des UNDP (unter Leitung des USAmerikaners John Bentley) in modernem Recht geschult; sie sollen die lokal gewählten Laienrichter der Kriegszeit ersetzen. Hanoi hat inzwischen ein landesweites Netz von Rechtshilfestellen geschaffen, die mittellose Bürger bei Gerichtsverfahren gratis beraten sollen. Mit Hilfe von UNDP und der finanziellen Unterstützung Dänemarks werden seit 1997 die Entwürfe für ein Zivil-, ein Straf-, ein Verwaltungs- und ein Arbeitsrecht sowie weitere Gesetzeswerke aus43

gearbeitet. Die Wirtschafts- und Rechtsreformen im Rahmen der nach wie vor propagierten "sozialistischen Marktwirtschaft" sollen erst im Jahr 2020 abgeschlossen sein (Simonowitsch 1997; Lulei 1997). Man kann diesen Umbauprozeß einer rückständigen Gesellschaft, die die Chancen der Globalisierung nutzen und deshalb internationale Wettbewerbsfähigkeit erlangen will, auf die Formel bringen: "Form follows function", wobei unter Funktion die gewollte Integration in den Weltmarkt zu verstehen ist und unter Form der transparent gewordene Rechts- und Verwaltungsstaat. Rechtsstaatlichkeit meint zweierlei: Zum einen bedeutet sie die Realisierung der Herrschaft des in einer Verfassung kodifizierten Rechts, die Transparenz und Nachvollziehbarkeit von Rechtsakten und die Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger, der Angehörigen von Mehrheiten und von Minderheiten vor dem (säkularen) Recht; zum anderen versteht man heutzutage darunter auch die Bereitschaft einer Regierung, die in den UN-Menschenrechtspakten kodifizierten Rechte und Pflichten im Prinzip zu respektieren und sich dafür gegebenenfalls auch zu verantworten. Es muß als Fortschritt im Sinne der Verrechtlichung von politischer Herrschaft gewertet werden, wenn heute der öffentliche Druck so stark geworden ist, daß auch lange Zeit im Amt befindliche Diktatoren, wie der kenianische Präsident Daniel Arap Moi oder die Präsidenten der asiatischen Schwellenländer (Südkorea, Taiwan, Thailand, Malaysia, Indonesien etc.), keine andere Option mehr haben, als ihren Herrschaftsanspruch in Form von gewonnenen Volkswahlen - kritisch beäugt von nationalen und internationalen Wahlbeobachtern - begründen zu müssen. Selbst die Militärjunta von Myanmar (früher Burma), die im Juni 1990 den Wahlsieg von Aung San Suu Kyi (Führerin der oppositionellen "National League for Democracy" und Trägerin des Friedensnobelpreises von 1991) annullierte und erneut eine Diktatur errichtete, ließ 1993 eine Nationalversammlung einberufen, die eine neue demokratische Verfassung ausarbeiten sollte (sie ist bis heute wegen des Boykotts der Opposition nicht verabschiedet worden). Erst danach soll die Übergabe der Regierungsgeschäfte an eine gewählte Zivilregierung stattfinden. Ein ähnlicher Prozeß spielt sich im bevölkerungsstärksten Staat Afrikas ab: In Nigeria hat die durch Putsch an die Macht gelangte Militäijunta unter Sani Abacha (die ebenfalls eine demokratisch gewählte Regierung unter dem Parteiführer Abiola daran hinderte, die Regierungsgeschäfte zu übernehmen) einen Prozeß der Legalisierung von usurpierter Herrschaft in Gang gesetzt: Auf den weltweit geächteten, illegalen Putschführer Abacha sollte 1999 der demokratisch gewählte Präsident eines Mehrparteiensystems Abacha folgen, der dann im Juni 1998 überraschend verstarb.

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IV. Zur veränderten Rolle des Nationalstaates: Die eingeschränkte politische Handlungsautonomie Damit soll nicht einem naiven Optimismus über die rasche, universelle Zivilisierung und Rationalisierung von Politik (im Sinne Webers und Parsons) das Wort geredet werden, vielmehr ist die schwer bestreitbare Tatsache ins Bewußtsein zu rücken, daß die politische Handlungsautonomie von Nationalstaaten und ihren Führern seit der globalen demokratischen Wende von 1988/89 durch die Wirksamkeit einer schier allgegenwärtigen internationalen Öffentlichkeit eingeschränkt worden ist. Der brasilianische Präsident Fernando Henrique Cardoso (1998: 7) hat als direkt Betroffener diesem Sachverhalt wie folgt Ausdruck verliehen: "Die Globalisierung bringt es mit sich, daß die inneren Angelegenheiten eines Landes immer mehr dem Einfluß externer Variablen unterliegen, wodurch deren Spielraum für nationale Entscheidungen eingeschränkt wird...Die internationale öffentliche Meinung und die Reaktion der Märkte bestimmen immer mehr den Handlungsspielraum der einzelnen Staaten...Der von diesen Instanzen aufgestellte wirtschaftliche Verhaltenskodex läßt nur geringe Abweichungen zu". Daneben habe sich auch die Zielrichtung staatlicher Maßnahmen "grundlegend verändert". Aus der Perspektive des Verantwortung tragenden Staatsmannes, der seine Träume von der Herstellung weltmarktunabhängiger nationaler Ökonomien hinter sich lassen mußte, hat der brasilianische Präsident die veränderte Rolle des Staates auf den Punkt gebracht: "Heute konzentrieren sich diese Maßnahmen fast ausschließlich auf die weitere Entwicklung der Gesamtwirtschaft und auf die Erhaltung der globalen Konkurrenzfähigkeit. Damit ist nicht unbedingt ein schlanker Staat gemeint, obwohl die eben erwähnte Verschiebung der Zielrichtung häufig eine solche wünschenswerte Nebenwirkung mit sich bringt. Was ganz sicherlich erforderlich ist, ist ein Staat, • der weniger oft, aber dafür gezielter eingreift; • der in der Lage ist, knappe Ressourcen zur Errichtung bestimmter Ziele zu mobilisieren; • der fähig ist, Investitionen in Bereiche zu lenken, die für die Wettbewerbsposition des Landes von grundlegender Bedeutung sind, wie z.B. die Infrastruktur oder die Versorgung mit öffentlichen Dienstleistungen, d.h. Bildung, Gesundheitsfürsorge usw.; • der bereit ist, bestimmte Aufgaben in die Hände von Privatfirmen zu legen, die diese Aufgaben besser erfüllen können; • ein Staat schließlich, dessen Diener sich der Forderung der Gesellschaft nach besseren Dienstleistungen stellen" (Cardoso 1998: 8). Damit ist von berufener Seite eine Tendenz in der Politik bezeichnet, die die nationalstaatliche Anpassung an Wettbewerbserfordernisse und globalisierungs45

bedingte Sachzwänge der Weltökonomie zum Ausdruck bringt, was sich nicht zuletzt in der Angleichung der Rechtsvorschriften und Verwaltungsnormen niederschlägt. Freilich gibt es dabei - je nach den spezifischen Erfahrungen einer Bevölkerung - regional große Unterschiede. Wieweit die jungen Demokratien im Bereich des Justizwesens die erforderlichen Reformen auch schon tatsächlich in die Praxis umsetzen können, bedarf weiterer Forschung, sollte aber grundsätzlich nicht überschätzt werden. Denn bei der Transition vom autoritären undemokratischen Herrschaftssystem zum demokratischen Rechtsstaat mit einem starken Justizwesen stellen sich dem Erfolg eine Reihe von Hindernissen in den Weg. Joachim Betz hat im Jahr 1997 unter der Überschrift "Grenzen des Verfassungsstaates" folgende allgemeine Zwischenbilanz der neuen Verfassunggebung in der Dritten Welt zu ziehen gewagt: "Justiz und Justizverwaltung sind oft ineffizient, korrupt und üben Klassenjustiz. Prozesse dauern übermäßig lange, ein guter Teil der Inhaftierten war in vielen neuen Demokratien immer noch nicht rechtskräftig verurteilt. Gerichte sind nur für einen Teil der Bevölkerung zugänglich, Anwalts- und Gerichtskosten bedeuten für arme Schichten Aufwendungen, die sie gar nicht leisten können. Ein Teil dieser Defizite hängt einerseits damit zusammen, daß ein guter Teil der Richter vom vormaligen autoritären System ernannt wurde und diesem geistig verhaftet blieb, zweitens aber auch mit der viel zu geringen Zahl von Gerichten, Richtern und Angestellten im Justizapparat, der oftmals das platte Land nicht oder kaum erreicht. In den meisten neuen Demokratien sind Justizreformen geplant oder bereits (meist mit erheblicher externer Unterstützung) initiiert worden, diese sehen meist aber auch vor, daß die Einstellungspraxis im und die Kontrolle des Rechtswesens entpolitisiert werden. Leider sind zu diesem Gesamtkomplex wenige Forschungsvorhaben betrieben oder gar erfolgreich beendet worden, das gilt v.a. für solche komparativen Zuschnitts" (Betz 1997: 14).

V. Die Grenzen und Schattenseiten der Globalisierung: schwache Staaten und die Entstehung von Anarchie, Krieg und Kriegsherren Einen Anhaltspunkt für die Differenz zwischen Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit kann die Schätzung der Journalistenvereinigung "Reporter ohne Grenzen" geben, die in ihrem Jahresbericht 1997 schrieb, daß nur in 30 von 185 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen die Menschenrechte in der Praxis wirklich respektiert würden und daß in 26 Staaten (darunter Äthiopien, Vietnam, Syrien, China, Serbien, Weißrußland und Türkei) die Pressefreiheit extrem eingeschränkt sei (Neue Zürcher Zeitung 4. Mai 1998: 2.) Zweifellos hat es die größten Justizfortschritte seit den 80er Jahren in Lateinamerika gegeben, das beachtliche demokratische Verfassungsreformen vor46

zuweisen hat und sich nun auch aktiv den Herausforderungen der Globalisierung stellt, während die geringsten diesbezüglichen Fortschritte in den arabischen Ölstaaten zu verzeichnen sind. Hier hat es erst vereinzelt und dann auch sehr zaghaft (Jordanien, Algerien) demokratische Reformen gegeben. Es gibt zwei politische Szenarien, in denen die Chancen für die Etablierung rechtsstaatlicher Verhältnisse, einschließlich durchgreifender Justizreformen, besonders schlecht stehen. Zum einen in den sog. Rentier-Staaten, in denen sich über relativ hohe und stabile Rohstoffrenten autoritäre Regierungen an der Macht behaupten konnten, ohne der Legitimation durch freie Wahlen der Bevölkerung zu bedürfen (siehe Boeckh/Pawelka 1997); zum anderen in den "schwachen Staaten" Afrikas, in denen aufgrund anhaltender Finanzmittelknappheit, gepaart mit "bad governance", von der Ausübung staatlicher Funktionen gar nicht mehr die Rede sein kann. In etwa der Hälfte der 53 Staaten Afrikas nördlich und südlich der Sahara lassen sich Tendenzen des Staatszerfalls (Algerien, Kongo-Brazzaville, Tschad, Kongo-Zaire etc.), der Implosion von Staaten (Somalia, Liberia, Sierra Leone) oder der Erosion öffentlicher Autorität in diversen Provinzen des Landes (Sudan, Angola, Senegal etc.) feststellen (siehe die aktuelle Bestandsaufnahme in Ferdowsi 1998). Wo ein sich auflösender Staat funktionale Leerräume hinterläßt, dringen stellvertretend parzellierte gesellschaftliche Kräfte vor, die Selbstjustiz üben, neue Gewaltmärkte etablieren und dauerhaft kriminelle Energien entfalten, die auch den Rechtsstaat mit allen öffentlichen Einrichtungen zum Kollaps bringen. Wo Recht und Ordnung nicht mehr aufrechterhalten werden können und das materielle Elend von Tag zu Tag wächst, verlieren herkömmliche Begriffe, wie Erwerbsarbeit, Politik, Vertrauen in den Staat und seine Institutionen, ihren Sinn. Der Alltag wird bestimmt vom Faustrecht auf Notwehr, der Sinn des Lebens ist die Selbstverteidigung und Selbstbereicherung auf Kosten anderer. Die Differenz zwischen öffentlicher Sphäre und privater Sphäre verschwindet in der Grauzone permanenter Gewaltträchtigkeit. Auch der Krieg wird privatisiert, als Bandenkrieg oder Ausscheidungskampf zwischen "war lords". Nicht unbegründet sehen Afrikabeobachter in zahlreichen Krisenregionen des Kontinents eine zunehmende Tendenz der Chaotisierung von Sozialbeziehungen auf allen Ebenen (siehe Tetzlaff 1998c: 197-198). Der vorläufige Endpunkt der Entrechtlichung, ja Entzivilisierung von Gesellschaft im modernen Sinne ist dort erreicht, wo es dauerhaft nicht nur zu Bürgerkriegen kommt, sondern zur Etablierung von selbsternannten sogenannten Kriegsherren ("war lords"), die nicht für politische Ziele kämpfen, sondern vom gesetzlosen Banden- oder Guerillakrieg als selbst gewählte, meist lukrative Existenzform leben. "Viele der postmodernen Konflikte haben mehr mit dem Dreißigjährigen Krieg gemeinsam als mit dem Zweiten Weltkrieg... Die postmodernen Kriege werden selten von regulären Armeen in unserem Sinne ausgefochten. Die Kämpfenden sind statt dessen Cliquen, Banden, Klans, Krieger47

horden. Diese Verbände werden in der Regel von einem Kriegsherren gelenkt, der zwar die Waffen für oder gegen die Seite führen kann, die mit der 'Regierung' identifiziert zu werden pflegt. Letzten Endes schlägt er sich aber nur für seine eigenen Interessen... Was im siebzehnten Jahrhundert ein traditionsreiches System in seiner höchsten und letzten Form war, ist heute eine Verfallserscheinung. Was jedoch den Vergleich zwischen den beiden über die historische Kuriosität hinaushebt, ist die Ursache, die beiden Phänomenen zugrundeliegt: die Schwäche des Staates" (Englund 1998). Länder wie Afghanistan, Angola, Zaire, Burundi, Tschad, Sudan, Algerien oder Pakistan, in denen die Schwäche des Staates strukturbildend geworden ist und sich Zonen kaum noch einzudämmender Anarchie bilden - die Kehrseite der Globalisierung, wie Ulrich Menzel (1998) behauptet - , sollen im folgenden als für das Thema wenig relevant nicht weiter vertieft werden. In ihnen ist nicht einmal die minimale Voraussetzung von Rechtsstaatlichkeit und für demokratiekompatible Justizreformen gegeben - die Existenz eines staatlichen Gewaltmonopols.

VI. Rechtsstaatlichkeit und praktische Justizreformen als notwendige Schritte auf dem Weg zu Frieden und Entwicklung Der Friedens- und Konfliktforscher Dieter Senghaas hat sechs notwendige "Bausteine" für den erfolgreichen Prozeß der Zivilisierung von moderner Gesellschaft benannt, die zusammen das "zivilisatorische Hexagon" bilden und idealiter den Entwicklungsprozeß der westeuropäischen Gesellschaften seit etwa dem Dreißigjährigen Krieg (in Holland, England, Frankreich und Spanien setzte der Prozeß noch früher ein) bis heute widerspiegeln. Zivilisatorische Konfliktbearbeitung findet statt, wenn kollektive Akteure ihre inneren und externen Konflikte ohne Rücksicht auf kollektive Gewalt erfolgreich bewältigen. Unter modernen Bedingungen - also in sozial mobilisierten und hochpolitisierten Gesellschaften - sei eine dauerhafte zivile Konfliktbearbeitung an sechs Bedingungen geknüpft, von denen jede grundlegend, aber keine für sich hinreichend sei und zwischen denen vielfaltige Rückkoppelungen bestehen würden (Calließ 1996: 9). Diese sechs Bausteine oder Bedingungen von Frieden als Zivilisierungsprozeß sind: 1. die Entprivatisierung von Gewalt oder anders gesagt: das legitime staatliche Gewaltmonopol; 2. dessen Kontrolle durch Rechtsstaatlichkeit im gewaltenteiligen Verfassungsstaat; 3. die Entwicklung von (wirtschaftlichen und sozialen) Interdependenzen und damit von Affektkontrolle bei den Individuen (die lernen, Fremdzwänge in Selbstzwänge zu transformieren); 48

4. die demokratische Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger an politischen Entscheidungen; 5. soziale Gerechtigkeit, ohne die es keine affektive Bindung an den demokratischen Rechtsstaat geben kann und 6. eine konstruktive Konfliktkultur, in der Interessenkonflikte zugelassen und diskursiv bearbeitet werden (Senghaas 1995: 198-199). Hier interessiert vor allem die Begründung für die Herausbildung von Rechtsstaatlichkeit. Soll das Gewaltmonopol der Staatsregierung als legitim anerkannt werden, bedürfe es "der Institutionalisierung rechtsstaatlicher Prinzipien und öffentlicher demokratischer Kontrolle, auf deren Grundlage sich Konflikte in einem institutionellen Rahmen fair austragen lassen" (Senghaas 1995: 199). Rechtsstaatlich verfaßte politische Ordnungen hegen das Gewaltmonopol ein; es "verliert dadurch seinen ursprünglichen Charakter, nämlich einfach eine Instanz von letztlich kriegerisch errungener, also willkürlicher Vormacht zu sein". Ferner hat die Verrechtlichung der Machtbeziehungen die wichtige Funktion, Konflikte in der Gesellschaft, seien es Interessenkonflikte oder Identitätskonflikte, als "normal" und legitim zu erachten und für deren Lösung ein neutrales Verfahren (den Rechtsweg) vorzusehen. Darüber hinaus weist das "zivilisatorische Hexagon" auf die große Bedeutung des Faktors "soziale Gerechtigkeit" hin. Moderne arbeitsteilige Gesellschaften mit einem erheblichen Politisierungspotential seien immer dann gefährdet, wenn sich die Menschen durch schreiende Ungerechtigkeit unfair behandelt fühlten. Die Regierungen in Südkorea (seit den 80er Jahren) und in Indonesien (seit 1997) mußten diese Erfahrung ebenso machen wie die sozialistische Regierung Jospin in Frankreich oder die Regierung Menem in Argentinien. "Die materielle Anreicherung von Rechtsstaatlichkeit", insbesondere im Sinne eines Anteils an der nationalen Wohlfahrt, sei "nicht eine politische Orientierung, der in solchen Gesellschaften nach Belieben gefolgt werden kann oder auch nicht"; sie sei "vielmehr eine konstitutive Bedingung der Lebensfähigkeit von rechtsstaatlichen Ordnungen und damit des inneren Friedens. Rechtsstaatlich verfaßte Gesellschaften täten deshalb gut daran, "die Frage der Gerechtigkeit niemals zur Ruhe kommen zu lassen, zumal wenn die ihnen zugrunde liegenden Ökonomien, in der Regel Marktwirtschaften, systembedingt eher Ungleichheit als Gleichheit produzieren" (Senghaas 1995: 201-202). Nach der inneren Logik des "zivilisatorischen Hexagons" ist der Zivilisierungsprozeß erst dann abgerundet und in sich gefestigt, wenn auch noch neben einer utilitaristischen Rechtfertigung eine emotionale Bindung zur Gemeinschaft einsetzt. Die Erfahrung, daß Menschen ihre unterschiedlichen Gruppeninteressen frei artikulieren können, fordert die Bereitschaft zur produktiven Auseinandersetzung mit Konflikten und damit die Fähigkeit zu kompromißorientierter toleranter Konfliktfahigkeit. Dabei - so nun die Senghaassche Beobachtimg - stelle "soziale Gerechtigkeit" in Form transferierter materieller Leistun49

gen "eine wichtige Brücke zwischen dem Institutionengefuge des Rechtsstaats und dessen positiver emotionaler Absicherung in einer belastbaren 'Bürgergesinnung' dar" (Senghaas 1995: 202). Die sechs Eckpunkte des Hexagons verstärken und ergänzen sich: "Ohne gesichertes Gewaltmonopol keine Rechtsstaatlichkeit, auch keine gewaltfreie demokratische Partizipation; ohne Verteilungsgerechtigkeit keine Bestandsgarantie für eine als legitim empfundene Rechtsstaatlichkeit und demzufolge kein verläßlich eingehegtes Gewaltmonopol, auch keine Konfliktkultur; ohne demokratische Partizipation und Verteilungsgerechtigkeit keine Bürgergesinnung usf." (Senghaas 1995: 204).

VII. Ausblick: Der universelle Trend zu rechtsstaatlichen Reformen als Konsequenz der Globalisierung Mit dieser am historischen Beispiel Europa gewonnenen Einsicht in den sich verstärkenden oder sich wechselseitig blockierenden Mechanismus der Herausbildung von Demokratie und Rechtsstaat ist ein Maßstab gewonnen, mit dem auch in außereuropäischen Regionen die "zivilisatorischen" Fortschritte gemessen werden können. Danach kann man festhalten, daß überall dort, wo politische Krisen und soziale Verteilungskämpfe nicht mehr Krisen der Demokratie an sich, sondern Krisen innerhalb des demokratischen Rechtsstaats sind, für die zivile verfassungsgemäße Lösungen gesucht werden, von einem Fortschreiten in Richtung auf konsolidierte Demokratie gesprochen werden kann. In dieser Betrachtung haben wir die Zonen der weltwirtschaftlichen Exklusion und Marginalisierung weitgehend ausgeklammert, in denen statt Justizreformen Bürgerkrieg, Staatsimplosion und kriegerisches Bandenwesen das Alltagsleben der Menschen bestimmen. Wie groß die Anzahl der von Modernisierung und Globalisierung Ausgeschlossenen und Marginalisierten ist oder werden wird, kann man heute anhand steigender Arbeitslosigkeit und Kriminalität nur ahnen - es handelt sich um einen wachsenden Anteil in allen Industrie- und Entwicklungsgesellschaften, in denen sich eine dramatische Integrationsschwäche gezeigt hat. Das pathologische Lernen der asiatischen Staaten aus ihrer Krise gibt aber Anlaß zu einem gewissen Optimismus. Seit September 1997, d.h. seit Beginn der Erschütterung des asiatischen Wirtschaftswunders, haben sich die Apologeten der "asiatischen Werte" der Einsicht beugen müssen4, daß volkswirtschaftliche Krisenerscheinungen - wie eine überhitzte Konjunktur, unbeaufsichtigt arbeitende Banken, unentwirrbare Verknotungen ("Verfilzung") von Staat und klientelistisch orientierten Privatunternehmungen - nicht allein mit einer heroischen Arbeitsethik und Bildungsbeflissenheit zu heilen sein wer4

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Vgl. "Die Kehrseite der asiatischen Werte. Beobachtungen zu den wirtschaftlichen Turbulenzen in Südostasien", in: Neue Zürcher Zeitung vom 25. September 1997: 5. Zur Rolle der Kultur bei den Entwicklungsund Demokratisierungsprozessen Asiens siehe Schmiegelow (1997).

den. Der Wunsch und die Bereitschaft, aktiv und zum eigenen Nutzen an der Globalisierung der Märkte teilnehmen zu wollen, erfordert ein wachsendes Maß an Kreativität, Flexibilität, an Transparenz und gesellschaftlicher Freiheit. Die Krise hat gezeigt: Patronagegestützte Machtclans alten Typs, die sich fast jeglicher Kontrolle entziehen, sind nicht mehr geeignet, rasch und effizient genug auf Chancen und Gefahren der globalen Marktwirtschaft zu reagieren. Es ist wohl so - und diese Lehre wird auch den Afrikanern der zweiten postkolonialen Generation nicht erspart bleiben - , daß der (afrikanische) Pfründenkapitalismus, nicht anders als der (asiatische) "crony capitalism", die beide Kontrolle und Transparenz von politischen Entscheidungen verachten und Patemalismus und Vetternwirtschaft kultivieren, von Krise zu Krise mehr einem flexibleren pluralistischen System weichen werden. "Wir haben den westlich geprägten Kapitalismus übernommen, aber unser traditionelles Patronagesystem bewahrt", analysierte der frühere Premierminister Anand Panyarachun im Februar 1998 vor der Asia-Europe-Foundation in Singapure, "mit dieser Tradition müssen wir brechen. Je schneller wir unsere Gesellschaften öffnen, je schneller wir Transparenz, Kontrolle und Rechenschaftspflichtigkeit einfuhren, desto sicherer werden unsere Erfolge sein" (zitiert nach Buchheimer 1998)5.

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Juliana Ströbele-Gregor

Gewalt gegen Frauen - ein beunruhigendes Thema im Demokratisierungsprozeß1 I. Einstieg Der Jahresbericht für 1995 der Comisión Andina de Juristas (CAJ 1996) über die Entwicklung der Demokratie in den Andenländern trägt die Überschrift "Modernización e Inestabilidad", und das Thema Frauenrechte wird als eine der Herausforderungen im Demokratisierungsprozeß diagnostiziert. Der Feststellung, daß zwar wichtige Fortschritte im Bereich von Gesetzesreformen zugunsten von Frauenrechten in den jeweiligen Ländern gemacht worden sind, steht die Erkenntnis gegenüber, daß weiterhin gesellschaftlich überkommene Geschlechternormen und männliche Verhaltensweisen sowie die realen sozioökonomischen Bedingungen einer tatsächlichen Umsetzung der neuen Rechte entgegenstehen. Frauen bleiben weiterhin benachteiligt, werden diskriminiert, haben in besonderem Maße unter Verarmungsprozessen und strukturellem Wandel zu leiden. Die Gewalttätigkeiten, die Frauen gerade im häuslichen Kontext erfahren müssen, haben erschreckende Dimensionen. So schätzt die Kommission, daß in Bolivien mit knapp 7 Mio. Einwohnern zumindest 100.000 Frauen Opfer von physischer Gewaltanwendung wurden, zumeist innerhalb der eigenen Familie. In Chile ergab eine Umfrage unter 1.000 Frauen, daß 60% von ihren Partnern geschlagen werden, 26% hatten schwere Verletzungen davon getragen. Einer vom Gesundheitsministerium in Kolumbien 1994 auf nationaler Ebene durchgeführten Befragung zufolge war ein Drittel der Frauen regelmäßigen psychischen oder körperlichen Gewaltanwendungen ihrer Partner ausgesetzt; 1994 wurden 11.420 Fälle 1

Für die Anregung zu dieser Arbeit und den intensiven Gedankenaustausch danke ich Marianne Braig.

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von Vergewaltigung allein in der Stadt Bogotá bekannt - überwiegend geschehen im häuslichen/familiären Umfeld. Nicht sehr viel anders sieht die Situation in den Ländern Peru und Ekuador aus (CAJ 1996). Die Zahlen sind nur Annäherungswerte, u.a. deshalb, weil es zumeist an verläßlichen Daten aus dem ländlichen Raum mangelt, wo zumindest in Bolivien und Ekuador knapp die Hälfte der Bevölkerung lebt. "Frauenrechte sind Menschenrechte" - diese Losung, mit der weltweit die Frauenbewegungen gegen Diskriminierung, Benachteiligung und Gewalt gegen Frauen kämpfen, leitet die gesellschaftlich aktiven Frauen in Lateinamerika im Transformationsprozeß zur Demokratie. Die sozial und kulturell vielschichtige Frauenbewegung auf diesem Subkontinent tritt aktiv fiir die Belange der Frauen in einer sich erweiternden Öffentlichkeit ein. Ihre Thematisierung der Familie als Ort von Gewalt und Hierarchie stellt nicht nur eine Herausforderung an die herrschende Familienideologie dar. Indem die Frauenbewegung den Zusammenhang von autoritären, undemokratischen Gesellschaftsstrukturen, Geschlechterhierarchie und Gewalt in der Familie zum Gegenstand öffentlicher Reflexion macht, leistet sie auch einen grundlegenden Beitrag zum Demokratieverständnis (vgl. Carrillo 1991). Sie trägt maßgeblich dazu bei, daß die neuen demokratisch gewählten Regierungen Gesetzesreformen und Maßnahmen zum Schutz und zur Förderung von Frauen eingeleitet haben. Dazu gehört auch die Schaffung von neuen Rechtsräumen, wie sie die Frauenkommissariate in zahlreichen lateinamerikanischen Städten darstellen. In mehreren Ländern, u.a. in Bolivien 1994, wurden Gewalt und Vergewaltigung in der Ehe und der Lebenspartnerschaft dem herrschenden Männlichkeitsdenken zum Trotz zum Straftatbestand erklärt. Die Schwierigkeit der Umsetzung jedoch zeigen nicht zuletzt die Daten der Juristenkommission. In diesem Artikel soll der Frage nachgegangen werden, wie sich der Umgang mit dem Thema Frauenrechte und Geschlechterverhältnis, insbesondere häusliche Gewalt gegen Frauen, in Lateinamerika wandelt. Da es die Frauenbewegungen sind, die dieses Thema auf die Tagesordnung gesetzt haben, soll gefragt werden, wie die Frauenbewegungen in den multikulturellen und pluriethnischen Gesellschaften Lateinamerikas in ihrem Konzept von Frauenrecht dieser kulturellen Heterogenität in Theorie und Praxis Rechnung tragen. Ein besonderes Augenmerk wird auf jene Institutionen gerichtet sein, die in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern - dem Vorbild Brasiliens folgend - seit Mitte der 80er Jahre eingerichtet wurden: die Frauenkommissariate (Comisarías de la Mujer). Da die theoretische Debatte und Forschung wie auch die konkrete praktische Arbeit in Lateinamerika in einem internationalen Kontext stattfanden, der durch einen Perspektivwechsel in der Menschenrechtsdebatte geprägt ist, ist eine Verdeutlichung wesentlicher Elemente dieser Diskussion erforderlich.

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II. Frauenrechte, Gewalt und Menschenrechte auf internationaler Ebene "Frauenrechte sind Menschenrechte" wurde zum Leitsatz der Kampagne, mit der die nichtstaatlichen Frauenorganisationen 1993 vor der Weltmenschenrechtskonferenz in Wien die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und der Delegierten darauf lenkten, daß für einen Großteil der Frauen in aller Welt sowohl die individuellen als auch die sozialen Menschenrechte nur eingeschränkt gelten. Ziel war, entsprechende Änderungen in der Menschenrechtskonvention durchzusetzen sowie die Regierungen zu Umsetzungsmaßnahmen zu verpflichten. Im Rahmen der UN-Frauendekade (1976-85) und insbesondere mit Verabschiedung der "UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung von Frauen" (1979) war die Situation der Ungleichheit der Geschlechter zwar zu einem Thema der internationalen Öffentlichkeit gemacht, die Diskriminierung und insbesondere die Gewalt gegen Frauen jedoch nicht als Menschenrechtsverletzung anerkannt worden. Die Verletzungen der Menschenrechte an Frauen lassen sich in drei Gruppen unterteilen (Bunch 1991): 1) Verletzungen, die sie wie Männer aufgrund politischer Einstellung, Religion, und/oder ethnischer Zugehörigkeit erleiden müssen, und Verletzungen, die ihre sozialen, ökonomischen und kulturellen Rechte betreffen. Doch die Verletzungen, die Frauen erfahren, werden von der Öffentlichkeit vielfach ignoriert. 2) Bei politischer, ethnischer oder religiöser Verfolgung und Gefangenschaft müssen Frauen zusätzliche Verletzungen erfahren, die sich ausschließlich aus ihrem Sexus herleiten: Vergewaltigung, sexuelle Folter. 3) Verletzungen, die Frauen einzig aufgrund ihres Geschlechts erleiden müssen: Dazu gehören: Abtreibung weiblicher Föten sowie gesundheitliche und ernährungsmäßige Benachteiligung, familiäre und häusliche Gewalt, Vergewaltigung, Verstümmelung weiblicher Genitalien, Zwangsprostitution, Frauenhandel, Zwang zur Entbindung nach Vergewaltigung, Diskriminierung weiblicher Flüchtlinge und Nichtanerkennung geschlechtsbezogener Verfolgung als Asylgrund, Verweigerung von Besitz- und Landrechten. Die Verletzung von Frauenrechten der dritten Gruppe wurde bis zur Konvention gegen die Diskriminierung von Frauen (1979) in den internationalen Gremien und der nicht-feministischen Menschenrechtsarbeit kaum berücksichtigt. Ursache hierfür war die rechtliche Auffassung, diese Verletzungen seien nicht ausschließlich im Handeln staatlicher Organe begründet. Dem lag die Annahme einer scharfen Trennung zwischen politisch-öffentlicher und privater Sphäre zugrunde, wobei Verletzung dieser dritten Gruppe dem privaten Raum zugeordnet wurde. Hier setzte die Kritik von feministischer Seite ein. Feministische 55

Forschung hatte das Konzept "Privat - Öffentlich" als falsche Dichotomie kritisiert, die darin enthaltene Polarisierung und geschlechtsspezifische Zuordnung als historisch nicht haltbar nachgewiesen (vgl. Rosaldo 1980; Hausen 21997; 1992)2. "Das Private ist politisch" wurde zum Postulat der Frauenbewegung (vgl. Gerhard 21997). Das feministische Konzept, demzufolge die häusliche, familiäre "private" Sphäre kein von den Grundrechten ausgenommener Raum sein kann, führte im Rahmen der Menschenrechtsdebatte zu der Forderung, die Grundrechte für Frauen weltweit für alle drei Gruppen von Menschenrechtsverletzungen anzuerkennen, also auch für die bisher "übersehenen" Verletzungen auf der "privaten", d.h. familiären oder häuslichen Ebene3. Seitdem wurde die Verabschiedung mehrerer internationaler Dokumente zur legalen Gleichstellung von Frauen und - seit Wien 1993 - auch die Thematisierung von Gewalt gegen Frauen als Menschenrecht erreicht4. Zwar existiert5 keine völkerrechtliche Definition von Frauenrechten, jedoch ist in internationalen Konventionen ausdrücklich verankert, daß alle individuellen, sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Menschenrechte gleichermaßen für Frauen wie für Männer gelten. Regierungen werden aufgefordert, die Benachteiligungen von Frauen zu beseitigen. Von besonderer Bedeutung ist die einstimmig verabschiedete UN-Erklärung über die Gewalt gegen Frauen vom Dezember 19936, die als Ergänzung zur Anti-Diskriminierungskonvention (1979) zu begreifen ist. Sie erweitert den Rahmen, da nicht mehr grundsätzlich unterschieden wird zwischen Gewalt in öffentlicher und privater Sphäre. Jedoch ist die Anti-Diskriminierungskonvention von 1979 von allen Menschenrechtsdokumenten auf die meisten nationalen Vorbehalte gegenüber einzelnen Artikeln gestoßen. Bisher haben 90 Staaten die vollständige Unterzeichnung versagt (UNDP 1995: 8)7, wobei viele 1

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Diese Kritik ermöglichte auch die Erkenntnis, daß die von vielen nicht-westlichen Gesellschaften vorgenommene Zuordnung der Frau zur privaten - hauslichen - Sphäre nicht den gesellschaftlichen Realitäten entspricht (vgl. ftlr Lateinamerika: Jelln 1991; 1994b; de Barbieri 1992b; 1997). Zur Geschichte der Rechtsstellung der Frau in der Bürgerlichen Gesellschaft: Gerhard 31997, insbes. S. 188204. Abschlußdokument der Umweltkonferenz von Rio 1992; Abschlußdokument und Aktionsprogramm der Weltmenschenrechtskonferenz Wien 1993; Konvention gegen Gewalt gegen Frauen der UN-Generalversammlung 1994; Abschlußdokument der Weltfrauenkonferenzen, insbesondere Nairobi I98S und Peking 1995 (vgl. Pietila/Vickers 1994; Holthaus 1996a). Abschlußerklaningen der UN-Weltkonferenzen haben keine völkerrechtliche Verbindlichkeit, sondern stellen im wesentlichen politische Wissenserklärungen der Regieningen dar (Holthaus 1996b: 8). Die UN-Erklärung enthalt folgende Definition: "For the purposes of Ihis Declaration, the term "violence against v/omen' means any act ofgender-based violence ihat results in, or is likefy lo result in, physical, lexual or psychological harm or suffering lo v/omen, including threats of such acts, coercion or arbilrary depri/ation of tiberty, whelher occurring in public or in private life" (Article 1, Declaration on the Elimination of Violence against Women, 20.12.1993). 199S hatten sich 141 der 185 Mitglieder der Vereinten Nationen der Anti-Diskriminierungskonvention angeschlossen - allerdings mit erheblichen Vorbehalten. Mehr als 40 Staaten haben die Ratifizierung mit formalen Vorbehalten gegenüber 11 verschiedenen Artikeln versehen. Vorbehalte von nahezu 20 Staaten beziehen sich auf Abschaffung von Diskriminierung im Bereich Ehe und Familie (Alt. 16) (vgl. Boutros Ghali, Einleitung zu UN 1995:42).

Staaten kulturrelativistisch argumentieren und Ungleichbehandlung als 'natürlich' und nicht als Diskriminierung begreifen (Bunch 1991: 13). Letztendlich geht es um die Frage nach Universalität und Unteilbarkeit von Menschenrechten oder der Legitimität von Menschenrechtsverletzungen als kulturspezifische Handlungen. Diese Debatte war auch auf der Weltfrauenkonferenz 1995 in Peking Zündstoff zwischen Feministinnen aus dem Norden und Frauen aus dem Süden. Nicht-westliche Frauen hinterfragen westliche Normen, wie sie in Entwicklungsmodellen und internationalen Rechtsdogmen zum Ausdruck kommen und lehnen auch feministische Generalisierungen ab. Der Vorwurf richtet sich gegen eine eurozentristische Sichtweise auch von Feministinnen und in der Frauenforschung. Nicht-westliche politische Aktivistinnen fordern in ihrer Kritik - jenseits einer kulturalistischen Argumentation - die Notwendigkeit der Wahrnehmung kultureller Traditionen bei der Einforderung und Beurteilung von Rechten ein8. Es gelang jedoch, zum Thema Gewalt gegen Frauen ein eigenes Kapitel im Abschlußdokument zu verabschieden und im Abschnitt Menschenrechte von Frauen die Universalität von Frauenrechten zu bestätigen. Zweifelsohne ist dieses Dokument ein Erfolg der internationalen Frauenbewegung. Dennoch hat die Einschätzung von Christa Wichterich (1993) am Vorabend der Wiener Menschenrechtskonferenz weiterhin Berechtigung: Die UNKonferenz- und Konventionspolitik konnte bisher der weltweit anhaltenden Geringschätzung und Ausgrenzung von Frauen wenig entgegensetzen. Die vorsichtig formulierte - Bilanz im UNDP-Bericht 1995 weist zwar eine Schärfung des öffentlichen Bewußtseins gegenüber dem Rechtsanspruch von Frauen auf, Maßnahmen von Regierungen in einzelnen Ländern und Fortschritte in den Bereichen Gesundheit und Bildung zu erreichen. Sie verdeutlicht aber ebenfalls, daß die Ungleichheit vor dem Gesetz in vielen Staaten nicht aufgehoben wurde und global die tagtägliche Gewalt gegen Frauen auch als Instrument der Kriegfuhrung noch zunimmt9. Frauen aus bestimmten Bevölkerungsgruppen sind in besonderem Maße von allgemeiner und frauenspezifischer Gewalt betroffen, so die "Konvention gegen Gewalt gegen Frauen" (1994). Hervorgehoben werden: Minoritäten, indigene Völker, Flüchtlinge, Migrantinnen, Frauen aus ländlichen oder abgelegenen

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Dies war auch Tenor der Erklärungen von Frauen aus allen Kontinenten auf der Weltmenschenrechtskonferenz 1993 in Wien und dem dort durchgeführten Frauentribunal (vgl. Dokumentation zusammengestellt von Ruf 1993). Bunch (1991:21) hebt hervor "Das Argument der Kultur wird auch insofern selektiv verwendet, da andere kulturelle Gebrauche wie Apartheid von Rassen von der Menschenrechtsgemeinschaft und den meisten Regieningen ohne weiteres angeprangert werden. Das Argument der Kultur, mit dessen Geltendmachung der Schutz der Rechte der Frau vermieden werden kann, dient den Regierungen oft nur als Vorwand, nichts zu tun..." (vgl. auch Bunting 1993).

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In vielen Landern ist die gesellschaftliche und/oder politische Teilhabe von Frauen weiterhin eingeschränkt. Das in Nairobi 198S geprägte Stichwort der Feminisierung der Armut gilt weiterhin.

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Gemeinden10. Dies trifft für alle drei Gruppen von Menschenrechtsverletzungen an Frauen zu. Häusliche Gewalt gegen Frauen ist der dritten Gruppe in der Unterteilung der Verletzung von Frauenrechten zuzurechnen. Laut Interamerikanischer Konvention gegen Gewalt gegen Frauen ist damit die physische, sexuelle und ökonomische Aggression gegen Frauen zu verstehen, die von Familienmitgliedern oder in einer Paarbeziehung ohne gemeinsame Haushaltsführung ausgeübt wird, wobei der Aggressor ein Verwandter, der Ehemann, der Lebenspartner oder der zeitweise Partner einer Frau ist11. Kennzeichnend für diese Gewalt ist, daß sie im Bewußtsein der Öffentlichkeit und vieler Individuen als "Privatsache" angesehen und nicht den Menschenrechtsverletzungen zugeordnet wird (vgl. Donner-Reicher/Klemp 1990; Holthaus 1996a; 1996b; Bunch 1991; 1993)12. Gerade geschlechtsspezifische Diskriminierungen sind häufig fest in tradierte Gewohnheiten, traditionelle Lebensweisen und Kulturen eingefügt. Die Reaktionen von Frauen auf Gewaltanwendung sind zumeist Scham, Selbstverachtung, mitunter auch ein diffuses Unrechtsempfinden. Menschenrechtsdiskurse ermöglichen den Frauen, Gewalterfahrungen zur Sprache zu bringen, Unrechtsbewußtsein und Rechtsdenken zu entwickeln (Ströbele-Gregor 1998). Der Umstand, daß Regierungen im internationalen Dialog die Auffassung vertreten, häusliche Gewalt sei eine Angelegenheit im privaten Raum, in den sich der Staat nicht einzumischen habe, läßt sich als Bestreben interpretieren, einen spezifischen gesellschaftlichen Diskurs aufrechtzuhalten. Kritisch stellt der ehemalige UN-Generalsekretär Boutros-Ghali fest13, die Regierungen würden damit ihr Nicht-Eingreifen legitimieren. Indem Frauen zum einen daran gehindert werden, sich ihrer Grundrechte bewußt zu werden oder sie sogar einzufordern, zum anderen das Konstrukt Familie nicht als Ort der Gewalt problematisiert, Hierarchie und männliche Dominanz im Geschlechterverhältnis und in der Gesellschaft nicht in Frage gestellt werden, sollen bestehende hierarchische Strukturen stabilisiert werden. Feministische Kritik am Androzentrismus der Menschenrechte enthält zugleich eine Kritik an jenem Demokratiever10

In der Anleitung zur Anti-Gewalt Erklärung der Vereinten Nationen 1994 heißt es "Concerning that some groups of women, such as women belonging to minority groups, indigenous women, refugee women, migrant women, women living in rural or remote communities, ... are especially vulnerable to violence..." (UNDokumente in: UN 1995:460).

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Convención Interamericana para Prevenir, Sancionar y Erradicar la Violencia contra la Mujer 1992, zitiert in: Revollo Quiroga (199S: S).

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Eine historische Analyse europäischer, insbesondere deutscher Geschichte der Rechte der Frauen und Bürgerrechte, die konsequent die Androzentrieitheit des Begriffs der Bürgerrechte darstellt, legt Gerhard (1997) vor. Zur Diskussion Uber die Begriffsbestimmung von öffentlichem und Privatem Recht und die damit veibundene Definition von Bürgerrechten für Frauen vgl. Gerhard (1997:511-515).

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"Many in the international community regarded violence against women as a private matter between individuals, not a public human rights issue requiring government or international action" (Boutros-Ghali, Einleitung zu UN 1995:51).

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ständnis (Gerhard 1997), das nicht eine Ordnung der Gleichheit von Mann und Frauen einfordert. Häusliche Gewalt ist entsprechend als Ausdruck von spezifischen Geschlechternormen und Machtverhältnissen in einer Gesellschaft zu verstehen. So gesehen ist das Sich-Nicht-Zuständig-Erklären von Regierungen bei häuslicher Gewalt ein Beleg dafür, daß das als "privat" deklarierte intrafamiliäre Verhältnis sehr wohl höchst politisch ist. Das Wissen um Menschenrechte, um die internationale Frauenrechtsdebatte, um eine andere Sicht auf das Geschlechterverhältnis, um eine andere Beurteilung dessen, was Recht für Frauen sein kann, ist den meisten Frauen des Südens, insbesondere den Landfrauen und Angehörigen indigener Völker kaum zugänglich. Es sind nicht zuletzt fortschrittliche Vertreterinnen der Kirchen und Organisationen der internationalen Entwicklungszusammenarbeit (EZ), die neben den aktiven Frauen der nationalen Frauenbewegungen den Zugang zu diesem Wissen eröffnen. Hilfs- und Nicht-Regierungsorganisationen, Menschenrechts-, Frauen- und Kinderschutzorganisationen u.a. bieten Informationen und Rechtshilfe. Seit der Frauendekade wurde diese Kooperation erheblich ausgeweitet14. Die Debatte über Frauenrechte und Gewalt, die auch in Lateinamerika zu einer starken Mobilisierung von Frauen aller gesellschaftlichen Schichten und Kulturen gefuhrt hat und in eine sich zunehmend verbreiternde politische Öffentlichkeit hineinwirkte, soll im folgenden anhand von Schwerpunkten feministischer Forschung und Argumentationslinien der Frauenbewegung(en) umrissen werden.

III. Die Debatte über Frauenrechte und Gewalt gegen Frauen in Lateinamerika In Lateinamerika - wie auch in anderen Teilen der Welt - ist das Thema Gewalt-Frauenrechte-Menschenrechte niemals allein Gegenstand abstrakter theoretischer Reflexion, sondern zugleich immer praxisgebunden und damit eng verknüpft mit den feministischen Bewegungen bzw. den sozialen und politischen Bewegungen von Frauen unter spezifischen politischen und sozioökonomischen Bedingungen. Das macht die gesellschaftliche Kontextualisierung unverzichtbar. Der Terror und das Ausmaß der Gewalt der zwei Jahrzehnte autoritärer Regime und Militärdiktaturen, die in den 60er und 70er Jahren fast sämtliche Staaten Lateinamerikas beherrschten, liegen heute noch wie ein Alptraum über Auf die Auseindersetzung um EZ als "Exporteur westlicher Demokratiemodelle" kann hier nicht naher eingegangen werden. Vgl. dazu u.a. Hippler (1994); Brock (1996); Tetzlaff (1993, 1994); Nuscheier (1996); Tessmer(1994).

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den Gesellschaften15. Der Staatsterror hatte den Alltag durchdrungen: Verfolgung, Verschwindenlassen, Folter, Ethnozid, sexuelle Gewalt insbesondere gegen Frauen, Zwangsschwangerschaft und staatlicher Kindesraub, Ermordung der des Widerstandes Verdächtigen in einem bis dahin in Lateinamerika nicht gekannten Ausmaß. Die Allgegenwart und die Veralltäglichung der Gewalt ließen ein Klima entstehen, das auch nach Ablösung der autoritären Regime und Militärdiktaturen tiefe Spuren in den Gesellschaften hinterlassen hat. Die Erschütterung von politischen Gewißheiten und Sozialisation durch Gewalt sind hinter den neuen liberal-demokratischen Verkehrsformen der 90er Jahre spürbar. In den 80er Jahren hatte in Lateinamerika die Transition zur Demokratie eingesetzt. Die Rahmenbedingungen dafür waren und sind immer noch äußerst ungünstig. Ausgangssituation waren die tiefgreifenden wirtschaftlichen Umwälzungen des "verlorenen Jahrzehnts", wie die 80er Jahre in Lateinamerika aufgrund der Verschuldungskrise genannt werden. Die neoliberalen Strukturanpassungsmaßnahmen produzierten eine Zunahme von Armut und sozialer Ungleichheit, wobei die indigenen, "indianischen" Teile der Bevölkerung16 und afroamerikanische Minderheiten sowie wiederum Frauen aus diesen Bevölkerungsgruppen die am härtesten Betroffenen sind. Während die zuvor politisch einflußreichen Gewerkschaften und die traditionellen sozialen Bewegungen geschwächt wurden und mit dem Zusammenbruch des "real existierenden Sozialismus" der Einfluß sozialistischer Gesellschaftsvisionen und der sie tragenden linksgerichteten Parteien dahinschmolz, erschienen zwei neue politische Akteure auf dem Feld sozialer und politischer Auseinandersetzungen und gewannen Gestaltungskraft im öffentlichen Diskurs der 90er Jahre: die ethnisch-politischen Bewegungen der indigenen Völker sowie die Frauenbewegung(en). Beide spielen eine unübersehbare Rolle im öffentlichen Diskurs über Demokratisierung der Gesellschaft. Dies zeigen nicht zuletzt Reformen in den Bereichen Recht, Bildung und politische Beteiligung. Das Thema Gewalt gegen Frauen als Teil des übergreifenden Themas "Frauenrechte - Menschenrechte in Lateinamerika" ist also - wie die Entwicklung der Frauenbewegung(en) - unlösbar mit dieser jüngsten politischen Geschichte des Subkontinents und seiner wirtschaftlichen Umwälzungen verknüpft. Zugleich ist es eng verbunden mit der internationalen Debatte über die Situation von Frauen und Frauenrechten seit Beginn der von den Vereinten Nationen ausgerufenen Frauendekade (1975-1985). In Lateinamerika führte die Dekade zu einer erheblichen Mobilisierung der Frauen. Die Verbindungslinie der Debatte über Frauenrechte gilt es im folgenden knapp nachzuzeichnen. 19

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Der Psychoanalytiker David Becker (1996) macht dies in seinem Aufsatz Uber die Folteropfer und die Gegenwart der Angst in Chile in besonderer Weise deutlich. Fremddefinition: "indios", "indígenasdie aktuellen politischen Selbstdefinitionen lauten: "pueblos indígenas", "pueblos originarios".

Frauenrechte sowie Gewalterfahrungen waren bereits vor der UN-Frauendekade (1975-85) ein zentrales Thema der Frauenbewegung (vgl. Bareiro/Soto 1997). Seit der Transition zur Demokratie hat die Debatte allerdings erheblichen Auftrieb erhalten, da die feministische Forschung den Zusammenhang zwischen autoritären Gesellschaftsformen, Herrschaftsformen und Geschlechterverhältnis zum Ausgang ihrer Reflexion über Demokratisierung der Gesellschaft macht. Entsprechend intensiv schlägt sich diese Debatte in ihren Publikationen nieder. Es ist kennzeichnend für die Dominanz androzentrischer Denkweise, daß diese Debatte zum Thema Frauenrechte-Menschenrechte und Gewalt gegen Frauen sich weitgehend auf die Frauen- und Menschenrechtsbewegungen und deren soziopolitisches und akademisches Umfeld beschränkt. Sie spiegelt sich wieder in der wissenschaftlichen Diskussion und Praxis von populären Frauenorganisationen sowie in den "populären" Publikationen der Frauenbewegungen, Feministinnen und Menschenrechtsgruppen. In der Forschung über Frauen und soziale Bewegungen in Lateinamerika17 besteht Übereinstimmung in zwei wesentlichen Ergebnissen, die zum Verständnis der aktuellen Teilhabe von Frauen an der Debatte über Menschen(Frauen-)rechte wichtig sind. Erstens: Die Organisationen der Frauen spielten während der Zeit der Diktaturen und der Transition eine zentrale politische Rolle und hatten nicht vorhersehbaren Einfluß auf die Demokratiebewegung. Zweitens: Die verschiedenen Bewegungen von Frauen beeinflußten sich gegenseitig, und dies war eine Voraussetzung für den Wandel im öffentlichen Diskurs über Frauenrechte und Demokratisierung der Gesellschaft. Nach Einschätzung von Jaquette (1989) und anderen Autorinnen (vgl. Escobar/Älvarez 1992; Hellmann 1995) bestand die Ursache für die Mobilisierung breiter Schichten in den 70er und 80er Jahren darin, daß sich die lateinamerikanischen Frauenbewegung(en) aus drei Quellen speisten, die sich gegenseitig beeinflußten und sich aufgrund unterschiedlicher Ziele und sozialer Herkunft ihrer Mitglieder ergänzten: Die Menschenrechtsbewegungen der Mütter und Großmütter von Verschwundenen (wie die Madres de la Plaza de Mayo in Argentinien), die Organisationen der Bewohnerinnen von Elendsvierteln sowie die feministischen Gruppen, die überwiegend Akademikerinnen aus den Mittelschichten waren.

1. Frauenrechte - Gegenstand feministischer Forschung Im Themenfeld Frauenrecht-Menschenrecht-Gewalt hat sich die Forschung mit den Schwerpunkten: Frauen in Menschenrechtsbewegungen, kritische Analyse 17

Schwerpunktmäßig befaßt sich diese Forschung mit den Ländern Chile und Argentinien. Aus der Fülle der Literatur vgl. Schild (1994); Meschkat (1992); Hellmann (199S); Feijoö (1989); Jelln (1994a).

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von Familienkonzepten sowie Armutszunahme und Gewalt befaßt. An dieser Stelle soll auf die ersten beiden Schwerpunkte näher eingegangen werden. a) Rekonstruktion der Geschichte der Frauen in Menschenrechtsbewegungen Historische und rechtshistorische Frauenforschung zeigen Traditionslinien auf, die bis in die Kolonialzeit reichen18. So war der politische Kampf um Unabhängigkeit, der Kampf um Staatsbürgerrechte und der Widerstand gegen politische Unterdrückung in Lateinamerika - wie in vielen anderen Ländern - nie allein Männersache gewesen. Und die Androzentriertheit der Bürger- und Menschenrechte war bereits im 19. Jahrhundert eine Herausforderung, der sich Frauen stellten. Während jedoch der Kampf um die politischen Bürgerinnenrechte hauptsächlich von städtisch-bürgerlichen Frauen (vgl. Lavrin 1995) gefuhrt worden war, wurden der antidiktatoriale Widerstand seit den 70er Jahren und die Demokratiebewegung der 80er Jahre von Frauen aus allen Sektoren der Gesellschaft getragen (vgl. Miller 1991; Jaquette 1989; Escobar/Älvarez 1992). Beide Forschungsansätze, die zudem enge Verbindungen aufweisen, arbeiten die Verbindung der Identitätsbildung von Frauen und Forderungen nach Frauen(Menschen)-rechten heraus. Sozialwissenschaftliche Forschung, die feministischen Ansätzen folgt, hat seit Mitte der 80er Jahre in besonderem Maße die Geschichte der neuen Frauenbewegungen, die Bedeutung von Frauen in sozialen Bewegungen sowie von Frauenorganisationen im anti-diktatorialen Widerstand und bei der Demokratisierung der Gesellschaft untersucht. Diese Forschungen zeigen, welche herausragende Rolle Frauen im Widerstand gegen die Diktaturen in den 60er und 80er Jahren und in der Transition zur Demokratie spielten. Besonderes Interesse gilt den politischen, sozialen und ökonomischen Bedingungen und Hintergründen der Mobilisierung, den Zielsetzungen von Frauen aus unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen im anti-diktatorialen Kampf sowie der Analyse politischer Diskurse. Ein Beispiel dafür stellen die Menschenrechtsbewegungen der Mütter und Großmütter von Verschwundenen dar (wie die Madres de la Plaza de Mayo in Argentinien). Sie waren zumeist Hausfrauen aus den Mittelschichten. Bei ihren Forderungen argumentierten sie im Rahmen der traditionellen katholischen Familienideologie und wandten diese gegen die herrschenden Militärs, die doch beständig selbst proklamierten, Schützer dieser Familienwerte zu sein. Mit ihrem Handeln und ihren Diskursen brachten sie eine neue ethische Dimension in die politische Sphäre.

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Zur diesbezüglichen historischen und interdisziplinären Forschung vgl. Bareiro/Soto (1997). Zu den Cono-SurLändem vgl. Rodriguez Villamil (1997).

b) Dekonstruktion des Konzepts Familie Die kritische Auseinandersetzung mit dem Konzept Familie ist als eine notwendige Folge davon anzusehen, daß Mütterlichkeit und Familie praktische und theoretische Bezugspunkte von vielen Frauengruppen in Lateinamerika waren und noch sind. Das betrifft die Organisierung, die Motivation zum öffentlichen Protest sowie die Argumentationen, mit denen Forderungen gegenüber dem Staat vorgetragen werden. Das galt bereits für die Mütter der Plaza de Mayo und andere Menschenrechts- und Frauengruppen, die sich in ihrem Verlangen, Auskunft über ihre verschwundenen Familienangehörigen zu erhalten, jener ideologischen Diskurse bedienten, denen sich gerade die rechten und faschistischen Militärs verpflichtet hatten: die Mutterliebe und der Schutz der "heiligen" Familie. Der Widerspruch zwischen der herrschenden Familienideologie und der Realität des Alltagslebens bildet den Rahmen für die praktische Arbeit der Frauenorganisationen. Entsprechend hat sich die feministische Frauenforschung der 80er und 90er Jahre intensiv mit den Grundlagen dieses Widerspruchs befaßt 19 sowie mit dem Umstand, daß Familie vielfach die materielle Basis für die Überlebensstrategien bleibt, auf die - trotz Erosionserscheinungen - gerade bei fehlender staatlicher Fürsorge nicht verzichtet werden kann. Aus feministischer Perspektive hingegen sind Familie und Gesellschaft Produkt patriarchaler Strukturen, der damit verbundene Marianismus wird dekonstruiert. Gezeigt wird, wie 'mann' im Marianismus die Frau ideologisch überhöht, um sie zugleich sozial zu fesseln. Diese Kritik schließt notwendigerweise auch das gesamte herrschende Konzept von Familie ein. Denn die ökonomische Umgestaltung der Gesellschaften seit den 80er Jahren, die Verschmelzung von Markt und Staat, wie sie Lechner (1996) aufzeigt, hat tiefgreifende Konsequenzen für Familie und Haushalt. Die notwendige Erwerbstätigkeit der Frau bewirkt schon zwangsläufig, daß das Frauenbild des Marianismus immer obsoleter wird. Die Forschung beschreibt und analysiert den sich vollziehenden Wandel und rückt Themen wie weibliche Erwerbstätigkeit, Haushaltsorganisation, Frauen als soziale und politische Akteure ins Blickfeld, wobei Familie als Brennpunkt und Schnittlinie von Problemlagen verstanden wird. Die Kritik umfaßt schließlich konsequenterweise auch die falsche Gleichsetzung von "privat - häuslich" (Jelin 1991b) bzw. die Konzeptionalisierung von privater und öffentlicher Sphäre als dichotom (vgl. Jelin 1994b; de Barbieri 1992b). Hier läßt sich der unmittelbare Bezug zur internationalen feministischen Debatte (vgl. Rosaldo 1980; Hausen 1992) und insbesondere zur internationalen Frauenrechtsdebatte (Gerhard 1997) und der Diskussion über Gewalt gegen Frauen herstellen: Gewalt gegen Frau im häuslichen Bereich wird - wie bereits 19

Aus der Fülle der Literatur vgl. Jelin (1994b); Autorinnen der Sammelbände Jelin (1987; 1991a; 1991b); Autorinnen von lSIS-Intemacional No. 20/1994; Löpez Springfield (1997).

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oben aufgezeigt - weltweit häufig noch als "Privatsache" angesehen und nicht der Menschenrechtsverletzung zugeordnet (vgl. Donner-Reicher/Klemp 1990; Holthaus 1996a, 1996b; Bunch 1993). Wenn Jelin wie auch andere Forscherinnen (vgl. Jaqette 1990; de Barbieri 1992b, 1997) das dominante Paradigma "Private Sphäre/Öffentliche Sphäre" und die damit verbundene Zuordnung und Hierarchisierung der Geschlechter in Frage stellen, so tun sie das vor dem historischen Hintergrund und in Anbetracht konkreter Strukturen in Lateinamerika. Für ihre Argumentationen sind also die Analyse der sozioökonomischen Rolle der Frauen seit der Kolonialzeit (vgl. Lavrin 1978; zum theoretischen Ansatz Jelin 1994b: 75-77) sowie der Rolle der Frauen im Widerstand gegen die Diktaturen der 70er und 80er Jahre von besonderer Bedeutung. Insbesondere durch die Erfahrungen während der Diktaturen erhielt die feministische Parole "das Private ist politisch" in anderer Weise als in Europa eine für jede(n) nachvollziehbare Realität. Jaquette (1989: 205) formuliert dies folgendermaßen: "South American feminism reflects transition politics: it is closely linked to human rights, defines its goals in moral and political terms, and is antiauthoritarian. Feminists challenge the division between the public world of politics and the private world of the family for women of all classes. The fact that military terror violated the sanctity of the family gives the concept of 'the personal is political' a very special meaning" (Jaquette 1989: 205). Die historische und soziale Kontextualisierung erhellt zugleich auch das besondere Verständnis von Familie als Schutzraum und "Ort der Sicherheit" in Zeiten autoritärer staatlicher Willkürherrschaft (Durham 1991). Mit ihren Ausfuhrungen kennzeichnen Jaquette und auch Durham aus feministischer Sicht die ambivalente Bedeutung von Familie und Privatsphäre und ein spezifisches Verhältnis zum Staat, das geprägt ist von der konkreten Praxis von Frauen und den gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen, die in Lateinamerika in den letzten 20 Jahren durchlebt wurden und die sich von der Situation beispielsweise in Europa zu dieser Zeit unterscheiden. Diese Unterschiede werden nicht zuletzt hervorgerufen durch Gleichzeitigkeiten von Ungleichzeitigem und Überlagerungen von Prozessen, die sich in Europa über viele Jahrzehnte, z.T. über Jahrhunderte, erstreckt und unter anderen historischen Bedingungen ereignet haben. In Europa brachte die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft "die Gesetzeskodifikationen, die die bürgerliche Gesellschaft als Privatsphäre von den Interventionen der öffentlichen Gewalt emanzipierten" (Hausen 1992: 275). Dies bedeutete die rechtliche Aufhebung staatlicher und politischer willkürlicher Eingriffe in das Familienleben, also die Entwicklung von Rechtsstaatlichkeit und nicht den Rückzug des Staates. Im Gegenteil: Mit dem Familienrecht (vgl. dazu Gerhard2 1997) definiert und reguliert der Staat die innerfamiliären Beziehungen im Rahmen herrschender Machtverhältnisse. Daß hier ein wesentliches Terrain der Kämpfe von Frauen für "Gleichheit in der Differenz" (Gerhard 21997) und Emanzipation war und 64

in vielen Staaten der Welt noch ist, wurde bereits eingangs thematisiert. In den westlichen kapitalistischen Ländern haben sich in den vergangenen fünfzig Jahren die regulierenden Eingriffe des Staates in die Privatsphäre noch verstärkt. Sie zielen auf den Schutz von Kindern und Schwachen und auf sozialstaatliche Fürsorge, die sich wiederum in besonderem Maße an die Familie richtet. Interventionen des Staates in die private Sphäre hatten und haben - mit Ausnahme der Zeit des Faschismus - Schutz-, Fürsorge- und Regulierungsfunktionen. Sie sind rechtsstaatlich legitimiert, was nicht bedeutet, daß sie den Ansprüchen der Menschenrechte vollständig entsprechen20. Zugleich existieren weite Bereiche und Regionen des Nationalstaats, wo die21

ser seine regulierenden Funktionen nicht wahrnimmt und die Normsetzung und deren Durchsetzung privaten Machtgruppen oder der katholischen Kirche überläßt. Die Normierung, Reglementierung, Unterstützung und soziale Kontrolle insbesondere der Familie lag bei religiös legitimierten Ordnungsinstanzen - an erster Stelle bei der katholischen Kirche - sowie auf dem Land bei den autochthonen Instanzen der indianischen oder afroamerikanischen Bevölkerung. In den letzten Jahrzehnten traten die protestantisch-fundamentalistischen Religionsgemeinschaften hinzu. Der Staat ließ sich auf diese "Arbeitsteilung" ein. Zwar existierten Familiengesetze und bildeten einen rechtlichen Handlungsrahmen, doch blieben hier viele Einzelheiten ungeregelt oder bewußt vage formuliert, so daß die religiösen Instanzen ihre Einflußmöglichkeiten behielten. Seit der Transition zur Demokratie in Lateinamerika werden an den Staat gerade von feministischer Seite Forderungen nach grundsätzlicher Reformierung bzw. Neuabfassung der rechtlichen Grundlagen für ein demokratisches Zusammenleben auch innerhalb der Familie gerichtet. Garantie der Unverletzbarkeit der Privatsphäre vor Intervention des Staates einerseits - Regulierungsfunktion des Staates in Bereichen der Privatsphäre andererseits: Grundrechte der Frauen im häuslichen Kontext und im öffentlichen Leben, Schutz der Kinder und Schwachen, sozialstaatliche Fürsorge etc. Die jüngsten Erfahrungen während der Diktaturen jedoch, das bisherige Fehlen eines funktionierenden Rechtsstaates und entsprechendem rechtsstaatlichen Denkens bewirken weiterhin eine ambivalente Haltung gegenüber dem Staat. Eingriffe in die Privatsphäre werden also durchaus gefordert, doch nur im Rahmen eines funktionierenden Rechtsstaats. Dieser jedoch muß erst aufgebaut werden. Durch die starke normative Dominanz der Kirchen ist auch die Praxis des Ehe- und Familienlebens weitgehend von ihnen beeinflußt. Familienbild, Familienpolitik und Familienfürsorge werden entscheidend von ihnen bestimmt. Sowohl die katholische wie die verbreiteten protestantisch-fundamentalistischen Religionsgemeinschaften vertreten vorrangig sehr konservative Doktrinen. Da20

Vgl. dazu beispielsweise die Menschenrechtsdebatte in Deutschland. Siehe Brock (1996), insbesondere auch zu Menschenrechte-Asylrechte von Frauen; vgl. Amnesty International (1995; 1993).

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Für Mexiko vgl. Braig (1992; 1998).

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mit perpetuieren sie auch das herrschende Familien- und Frauenbild. Und auch die Theologen der Befreiung stellen die normative Bedeutung des traditionellen Familienkonzeptes nicht in Frage, wenngleich sie sich mit der problembeladenen Wirklichkeit des häuslichen Lebens realitätsbezogener auseinandersetzen. Da der feministischen Argumentation zufolge Gewalt im Geschlechterverhältnis und in der Geschlechterhierarchie ein grundsätzliches Hemmnis für eine demokratische Entwicklung in den Gesellschaften darstellt (vgl. Revollo Quiroga 1995: I; 5), ist es nur logisch, wenn Feministinnen die Beteiligung an verantwortlichen Positionen innerhalb der neuen staatlichen Administration unter demokratisch gewählten Regierungen in ihre politische Strategie einbeziehen. Dies ist nicht nur in Bolivien der Fall, wo das gesamte 1993 neu eingerichtete Staatssekretariat für Geschlechterfragen ausschließlich von langjährig aktiven und anerkannten Feministinnen besetzt wurde. Schwerpunkt in ihrer Amtszeit während der Legislaturperiode 1993-97 war das Thema Gewalt gegen Frauen Frauenrechte. Die zunehmende Aufmerksamkeit in der Forschung für das spezifische 22

Thema "Gewalt in Familie und Geschlechterverhältnis" ist auch im Zusammenhang mit einer kritischen Auseinandersetzung mit den Demokratisierungsprozessen in Lateinamerika zu sehen, wo es in erster Linie um den Aufbau formal-demokratischer Strukturen und weniger um eine Demokratisierung der Gesellschaft einschließlich des gesellschaftlichen Lebens ging. Da dringender Bedarf an systematischem Faktenwissen in Verbindung mit Gewalt gegen Frauen besteht, erfolgten in einem ersten Schritt Bestandsaufnahmen mit dem Ziel, die Öffentlichkeit durch Informationen zu sensibilisieren und das Thema zu legitimieren. In einem zweiten Schritt ging es sodann darum, staatliches Handeln einzufordern. Eine mittlerweile unübersehbare Fülle von Einzeluntersuchungen 23 in fast allen lateinamerikanischen Ländern , von Kongressen und Initiativen beweisen das starke Interesse am Thema. Studien wie die von Revollo Quiroga (1995) in Bolivien oder Grosmann et al. (1992) in Argentinien sind jedoch auch vor dem Hintergrund zu sehen, daß sich der Staat in der demokratisch-offenen Gesellschaft legitimieren muß. Wenn Gewaltphänomene und diesbezügliche Forderungen der Frauenbewegung öffentlich diskutiert werden, kann der Staat nicht umhin, darauf einzugehen. Eine weitere Konsequenz der staatlichen Legitimierungsstrategie sind die Reformmaßnahmen und Gesetzesänderungen. Kennzeichnend für die meisten feministischen Studien über häusliche Gewalt ebenso wie für die theoretischen Ansätze ist eine Konzentration der Forschung auf städtische Kontexte. Die Berücksichtigung von unterschiedlichen u

23

66

Vgl. die Bibliographie von fempress 1988 (mujer/fempress Especial "Violencia" 1988). Auf das stetig anwachsende Interesse an dem Thema verweist auch Jelln (1994b: 88). Studien für Argentinien: Grosmann/Mestermann/Adamo (1992); für Zentralamerika: Fauné (1994); für Bolivien: Revollo Quiroga (1995).

ländlichen Lebenszusammenhängen und Kulturen stellt eher die Ausnahme dar24 und wird vielmehr den Sozial- und Kulturanthropologinnen (vgl. Harris 1985; de la Torre Araujo 1995; Meentzen 1998) überlassen 5 , wobei auch hier die Auseinandersetzung mit diesem Thema noch nicht sehr verbreitet ist. Die Argentinierin Elisabeth Jelin gehört zu jenen Forscherinnen, deren Studien und theoretischer Ansatz breit rezipiert werden. Sie diagnostiziert Gewalt als Verhalten, welches im Sozialisationsprozeß erworben wird und damit auch veränderbar ist. Wesentliche Ursachen für die Gewalterfahrung von Frauen im familiären Kontext oder in der Partnerbeziehung sieht sie in der gesellschaftlich produzierten Geschlechterhierarchie und ungleichen Geschlechterbeziehungen sowie in der Repräsentation von Männlichkeit via Beherrschung der Frau. Die Kritik der Familie, wodurch diese als Ort patriarchaler Herrschaft sichtbar gemacht wird, lenkt den Blick auf die innewohnenden Organisationsstrukturen, zu denen die physische Gewalt gehört. Doch im androzentrischen dominanten Konzept der Geschlechterbeziehung werden diese Organisationsstrukturen einschließlich der Gewalt als natürlich dargestellt. Modemisierungsprozesse, Verstädterung und weibliche Erwerbstätigkeit haben, so Jelin, zugleich einen Wandel der sozialen Position von Mann und Frau eingeleitet, auf den der Mann mit Verstärkung der Gewalt zur Aufrechterhaltung seiner verloren gegangenen Autorität reagiere. Jelin (1994b) verweist auf neuere Untersuchungen, denen zufolge häusliche Gewalt dort besonders groß sei, wo die Frau die Haupternährerin der Familie ist. Staatliches Eingreifen in die "Privatsphäre" der Familie werde durch existente Rechtsstrukturen und Kulturmuster behindert.

2. Die Praxis: Gewalt gegen Frauen als Thema von "populären" Publikationen der Frauen- und Menschenrechtsbewegungen Die Öffentlichkeitsarbeit ist seit der Demokratisierung ein wesentliches Element der politischen Praxis der Frauenbewegungen. Die Schärfung des öffentlichen Bewußtseins und Aufklärung in bezug auf häusliche Gewalt sind ganz maßgeblich auf ihre kontinuierliche und vielseitige publizistische Arbeit zurückzuführen. Die Frauenbewegungen verfügen über eine Fülle von Publikati24

Die sehr breit angelegte Studie Uber Friedensgerichtsbarkeit auf dem Land in Peru (Brandt 1990) nimmt das Thema Gewalt/Konflikte im familiären Kontext zwar auf, doch ist Gewalt gegen Frauen hier kein Thema. Es bleibt offen, ob bei derartigen Konflikten der Friedensrichter nicht eingeschaltet wird. Aus der Studie von de la Torre Araujo (199S) ist allerdings zu entnehmen, daß solche Konflikte sehr wohl vor eigenständigen Bauernorganisationen öffentlich verhandelt werden. Die Autorin analysierte Verfahren, die vor den "Rondas Campesinas" abgehandelt wurden.

25

Vgl. de la Torre Araujo (I99S), eine systematische Feldforschung Uber häusliche Gewalt, durchgeführt in acht Weilern der peruanischen Provinz Cajamarca. In 'klassischen' anthropologischen Studien finden sich vereinzelte - wenn auch wenig aktuelle - Informationen. Für den Andenraum liefern z.B. Albó/Mamani (1980); Oblitas (1978) wichtige, wenn auch veraltete Hinweise.

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onsorganen. Daß diese sich vorzugsweise an ein städtisches Publikum wenden, kann angesichts der Produzentinnen, die aus dem städtischen akademischen Milieu stammen, aber auch aufgrund der Produktions- und Vertriebsstrukturen in Lateinamerika, die sich auf die Großstädte konzentrieren, nicht verwundern. In diesen Zeitschriften und Broschüren, Büchern und Videos, die auf lokaler und nationaler Ebene Verbreitung finden, und in den lateinamerikaweiten Publikationen ist das Thema Gewalterfahrung von Frauen in ihren vielfältigen 26

Formen ein durchgängiges Thema . Die lateinamerikaweit erscheinende Zeitschrift "mujer/fempress" etwa informiert kontinuierlich darüber. Dazu gehört auch die Information über Frauenrechte, Menschenrechte, Rechtsreformen, Maßnahmen und Initiativen, wie etwa die Arbeit von Beratungsstellen und von Frauenkommissariaten27 in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern. Zu den Zielen dieser Publikationen gehören neben Beratung, Mobilisierung, Organisierung, Vernetzung zum Zwecke der politischen Einflußnahme gleichermaßen die Aufklärung über die Ursachen weiblicher Diskriminierung und Unrechtserfahrung. Ein zentrales Anliegen ist der Wandel der Öffentlichkeit durch Bewußtmachen und Zur-Sprache-Bringen von Erfahrungen. Daher finden sich auch hier - in vereinfachter Form - kürzere Artikel, die Theorieelemente der feministischen Debatte enthalten28. Auch in nationalen Publikationen ist häusliche Gewalt gegen Frauen, d.h. psychische und physische, insbesondere sexuelle Gewalt in Partnerbeziehungen und in der Familie, ein wichtiger Gegenstand der Berichterstattung und der Aufklärung. Doch hier muß die gleiche Kritik gelten wie bezüglich der akademischen Debatte: Gewalterfahrung, Unrechtsempfinden und Rechtsdenken von Frauen auf dem Land, von indianischen und schwarzen Frauen, deren Leben in anderen traditionellen Gewohnheiten und Kulturen eingebettet ist (StröbeleGregor 1998), werden in der Regel nicht zur Sprache gebracht. Ebensowenig wird diskutiert, welche Bedeutung und Reichweite die eingeleiteten Rechtsreformen und Schutzmaßnahmen für diese Bevölkerungsgruppen haben. Publikationen von Menschenrechtsgruppen29 haben insbesondere in Vorbereitung der Wiener Menschenrechtskonferenz Frauenrechte und häusliche Gewalt gegen Frauen thematisiert (vgl. Suplemento Especial de CODEHUCA/ "Brecha", Enero-Abril 1993) und dabei im Falle von CODEHUCA/"Brecha" mit feministischen Aktivistinnen zusammengearbeitet. Doch Gewalt im familiä26

Vgl. z.B. die Literaturliste in "mujer/fempress'', Sonderheft "Contraviolencia".

27

Das Sonderheft "Contraviolencia" von "mujer/fempress" enthalt dazu verschiedene kurze Informationsartikel. Eine ausführliche Darstellung der Kommissariate in Brasilien, die als Vorbild für andere lateinamerikanische Initiativen dienten, legte Küchemann (1997) in einem nicht-öffentlichen Antragspapier für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit vor. Dir und Eva Altmann-Blay, die zu den Initiatorinnen der Frauengesetzgebung in Brasilien ab 1983 gehörten, sei an dieser Stelle ausdrücklich für ihre Informationen gedankt.

21

GrundzUge der Argumentation folgt in etwa Jelfn (1994b). Siehe auch Jelln (1987, 1991). Vgl. z.B.

29

Zum Beispiel für Zentralamerika: CODEHUCATBrecha".

"mujer/fempress especial" Sonderhefte: "La Pareja" (1986); Sonderheft: "Miedos" (1991).

68

ren Kontext auf dem Lande, Unrechtserfahrung und Unrechtswahrnehmung indianischer und schwarzer Frauen ist auch hier kein Thema30. Der besondere Zugang der Menschenrechtsgruppen zu diesen Bevölkerungsgruppen fuhrt offenbar nicht zu einer stärkeren Annäherung an das Thema. Bisweilen macht sich jedoch das Bewußtsein über das Wissensdefizit und das schlechte Gewissen breit, dann entstehen "Sondernummern" in der populären oder der wissenschaftlichen Literatur wie etwa "Mujeres Campesinas en América Latina" (ISIS Internacional Nr. 6/1987) oder "La mujer indígena" (fempress especial o.J.). Das Thema Gewalt gegen Frauen erscheint31 hier eher randständig im Zusammenhang mit umfassenderen Beschreibungen über Lebensumstände der Frauen auf dem Land, Ursachen für Migration oder die Situation in Migrantenvierteln. Das Muster ist bekannt: Rückgriffe auf Lebenserzählungen (testimonio) (vgl. Viezzer/Barrios de Chungara 1977), Interviews und Beschreibungen, die auf weitgehend bekannten anthropologischen Daten basieren, mit starker Gewichtung der Verletzung sozialer Menschenrechte (Feminisierung der Armut etc.). Zumeist verschwindet die kulturelle Heterogenität der lateinamerikanischen Gesellschaften unter einer Generalisierung der Frau im Singular, z.B. "der armen Frau" oder der "Frau aus den Volkssektoren". Wenn ein differenzierender Blick fehlt, hat dies auch Konsequenzen in der politischen Praxis: So gibt es nur wenige - kulturell anschlußföhige - Aktivitäten der Frauenbewegung gegen häusliche Gewalt im ländlichen Raum. Jede Forschung und jede Politik, die sich tatsächlich auf die vielfaltigen Realitäten Lateinamerikas einlassen will, kann nicht daran vorbei, die verschiedenen Spannungsfelder von Ethnizität-Geschlecht-Klasse zu berücksichtigen. In der Praxis entsteht hier ein besonderes Spannungsfeld. Denn es sind gerade jene städtischen Feministinnen, die neben Kirchen und internationalen Hilfsorganisationen im Rahmen von NRO-Projektarbeit die Zusammenarbeit mit Migrantinnen und indianischen Frauen suchen, um u.a. Gesundheits- und Rechtsberatung anzubieten.

30

"Brecha" beschränkt sich auf den Abdruck der Vorschlage von entsprechenden Organisationen für das lateinamerikanische Abschlußdokument für Wien bzw. ein Interview mit der guatemaltekischen Menschenrechtsaktivistin, der Maya Rosalina Tuyuc.

31

Vgl. ISIS Internacional Nr. 6/1987. Darin: Artikel des Centro de Acción de las Mujeres (Ekuador) mit Interviews Uber Migrantinnen in Guayaquil; sowie des Centro Aumata de Estudios y Promoción de la Mujer (Peru) Uber Migrantinnen in Cusco.

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IV. Frauenkommissariate - ein konkretes Beispiel der Umsetzung von Frauenrechten In eben diesem Spannungsfeld liegt die Arbeit vieler Frauenkommissariate, wenngleich sich ihr Wirkungsfeld bisher nur auf den städtischen Kontext begrenzt. Pionierarbeit auf dem Gebiet wurde in Brasilien geleistet. 1985 entstand auf Druck der Frauenbewegung das erste Frauenkommissariat in Säo Paulo; bald darauf folgten weitere in zahlreichen brasilianischen Städten. Frauenorganisationen in anderen lateinamerikanischen Ländern ließen sich durch dieses Vorbild anregen, gründeten eigene Frauenrechtsberatungen und setzten beim Staat die Einrichtung von Frauenkommissariaten durch - etwa in Uruguay, Argentinien, Peru, Ekuador, Nikaragua, z.T. auch in Bolivien. Die Beweggründe für diese Forderung lagen auf der Hand: Gewalt gegen Frauen ist überall in Lateinamerika ebenso verbreitet wie verdeckt. Vergewaltigung und Mord aus Eifersucht gelten in der breiten Öffentlichkeit vielfach als Kavaliersdelikte, und es ist ein gängiges Muster, dem Opfer die Schuld zuzuschreiben. Mißhandlungen im häuslichen Kontext werden als Privatangelegenheit abgetan, verharmlost oder dem "kulturell bedingten Temperament" zugeschrieben. Mißhandelte Frauen haben in der Regel aus gutem Grund kein Vertrauen zu den Rechts- und Verfolgungsbehörden. Das gilt in besonderem Maße für Frauen aus den unteren Gesellschaftsschichten, etwa Bewohnerinnen der Armensiedlungen der Großstädte, indigene oder afroamerikanische Frauen. Dieses soll sich - zumindest dem Anspruch nach - mit der Einrichtung von Frauenkommissariaten ändern. In Brasilien kam es bereits im ersten Halbjahr nach der Einrichtung 1985 zu einer regelrechten Anzeigenwelle, gerade auch von Frauen aus den städtischen Armensiedlungen. Die Gewalt war nicht etwa angestiegen, sie wurde nur sichtbarer. Auch wenn das brasilianische Konzept für viele Länder Lateinamerikas Vorbildcharakter hatte und Brasilianerinnen z.T. als Beraterinnen fungierten (mujer/fempress: Contraviolencia, o.J.: 53), gibt es offenbar einige Unterschiede, die in einem Vergleich zu untersuchen wären. Unterschiede liegen u.a. im Umfang des institutionellen Angebots, in der Qualifikation des Personals und in den Fortbildungsmaßnahmen, in den Aufgabenbereichen und institutionellen Verknüpfungen. Gemeinsam ist allen Ländern, daß es, gemessen am Bedarf, viel zu wenige derartige Einrichtungen gibt. In einigen Ländern beschränken sie sich auf einige wenige in der Hauptstadt; in Brasilien waren es 1992 im ganzen Land zwar 141 (Küchemann 1997: 4), doch dies ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Eine grundsätzliche Neukonzeption seitens des Staates, im Rahmen einer allgemeinen Polizei- und Rechtsreform dafür zu sorgen, daß die Frauen-Menschenrechte 70

beachtet werden, steht derzeit nicht auf den politischen Agenden der Regierungen. 32

Berichten zufolge gehören zu den Aufgaben der Frauenkommissariate sämtlicher Länder die Aufnahme von Strafanzeigen von Gewaltakten gegen Frauen, die rechtliche und soziale Beratung; zumeist besteht ein auf 48 Stunden begrenztes Angebot der Unterbringung. Eine Zusammenarbeit mit Arztinnen, Sozialarbeiterinnen, Psychologinnen und Rechtsanwältinnen existiert, hingegen ist die Kooperation mit Frauen-NROs sehr beschränkt. Bei den Frauenkommissariaten handelt es sich um Polizeikommissariate mit ausschließlich weiblichem Personal. Das Hauptpersonal sind Polizistinnen, die jedoch nicht überall eine spezifische Fortbildung erhalten haben. In Brasilien liegt die Leitung bei einer Kommissarin, die über eine abgeschlossene Ausbildung an der Polizeiakademie und das juristische Staatsexamen verfugt - wie in den regulären Kommissariaten. Eine spezielle Qualifizierung für diesen Arbeitsschwerpunkt findet nicht statt; jedoch in der Regel sind es Frauen, die sich stark für Frauenbelange engagieren. Beklagt werden neben der fehlenden fachlichen Qualifizierung und systematischen Fortbildung besonders die schlechte personelle und materielle Ausstattung der Einrichtungen. Das verhindert jegliche Präventions- und weitergehende Aufklärungsarbeit sowie die spezifische Beratung für die Frauen, die es nicht zu einer Anklage kommen lassen wollen. Dies wäre jedoch dringend erforderlich, da eine Vielzahl der Frauen aus ökonomischen Gründen, aus Angst vor dem Mann oder aufgrund von Druck seitens der Familie vor einer Anklage zurückschreckt. Eine Kommissarin verdeutlicht das Dilemma: "Wir haben einen so großen Zulauf, daß wir im Moment nichts anderes tun als zu reagieren. Wir sind im Monat Oktober. In diesem Jahr haben wir etwa 4.000 Anzeigen protokolliert. Für unser Kommissariat ist das sehr viel. Wir arbeiten Tag und Nacht... Zu präventiver Arbeit kommen wir kaum, obwohl ich zur Präventionsarbeit das Vorladen der Aggressoren mit einbeziehe, denn schon alleine die Tatsache, daß wir die Täter vorladen und sie hier im Kommissariat verhören, ist für viele ein heilsamer Schreck. Bei kleinen Delikten hat dies eine sehr positive Wirkung, denn der Mann merkt, daß er so nicht handeln darf, und das macht Schule, weil es sich herumspricht" (Zitat bei Küchemann 1997: 7). Einen vielversprechenden Ansatz stellt die Arbeit einer Frauen-NRO in Porto Alegre dar, die eng mit dem Frauenkommissariat zusammenarbeitet, etwa bei der Fortbildung des Personals, bei präventiver Arbeit auch mit Männern, bei der Durchführung von Aufklärungskampagnen und der Kooperation mit anderen Frauenorganisationen in sozialen und Rechtsbereichen sowie mit den Frauenräten auf kommunaler Ebene. Und sie bilden Aktivistinnen aus Nachbar31

Vgl. "mujer/fempress", Sonderheft "Contraviolencia", o.J., insbes. S. 24-29 und 48-34. Sowie "mujer/fempress" Nr. 164: 11; Nr. 174:6; Nr. 178: 7; Nr. 180:6; KOchemann (1997); Altman-Bley 1997 (persönliche Information), Alves/UNIFEM 1998 (personliche Information).

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schaftsvereinigungen in den Armenvierteln zu "barfüßigen Rechtsberaterinnen" aus. Als Multiplikatorinnen im Bereich Rechts- und Sozialberatung sollen diese dann in ihrem Stadtteil tätig werden. Der Ansatz läßt erkennen, daß die Erweiterung des Rechtsraumes für Frauen, wie er durch Einrichtung der Kommissariate erfolgt, nur ein erster Schritt sein kann. Diese tragen zwar zur Bewußtseinsbildung von Frauen und auch von Männern bei. Doch ohne eine rechtspolitische Reform einschließlich der Reformierung der Juristen- und Polizeiausbildung und ohne die Integration der geschlechterdifFerenzierenden Perspektive in staatlichen Reform- und Modernisierungsmaßnahmen bleiben diese Einrichtungen ein Feigenblatt der Politik, wie zahlreiche Feministinnen kritisch feststellen. Sie fordern weiterhin die Anerkennung und Umsetzung von Frauenrechten als Menschenrechte gemäß der UN-Erklärung über die Gewalt gegen Frauen vom Dezember 1993. Um dies zu erreichen, müssen die Frauenbewegungen allerdings noch einen steinigen Weg bewältigen.

V. Schlußbemerkung Das Thema Gewalt gegen Frauen ist, so hat sich gezeigt, ein Thema, das an das Grundverständnis der Demokratie rührt. Gewalt gegen Frauen muß als eine beständige Beunruhigung im Demokratisierungsprozeß empfunden werden, denn sie verweist unmittelbar und direkt auf die Fortexistenz überbrachter ungleicher Geschlechternormen, autoritärer und geschlechterhierarchischer Verhältnisse in und außerhalb der Familie, auf Familienideologien und Geschlechterbilder, die diese Haltungen legitimieren und gewalttätige männliche Verhaltensweisen, die sich darin begründen. Eine Demokratisierung der Gesellschaft kann nicht umhin, sich mit diesem Bündel von Hindernissen kritisch auseinanderzusetzen und zu handeln. Eine Meßlatte, an der sich das Fortschreiten des demokratischen Konsolidierungsprozesses messen läßt, stellen die Anerkennung und Durchsetzung der Frauen-(Menschen-)rechte und die Garantie und Umsetzungsmöglichkeiten ihrer Rechte als Staatsbürgerinnen dar. (Ähnliches gilt für die Anerkennung und Umsetzung der Rechte indigener Völker und ethnischer Minoritäten.) Frauenkommissariate stehen für einen wichtigen Schritt zur Umsetzung von Rechtsstaatlichkeit auf der Ebene alltäglicher Konflikte. Kennzeichnend für die Komplexität des Themas Gewalt gegen Frauen im Demokratisierungsprozeß ist die Beunruhigung, die es auf vielen Ebener, erzeugt. Die Ausweitung des Rechtsraums auf die Sphäre des Privaten bringt an das Licht der Öffentlichkeit, was bisher verdeckt geblieben bzw. von der Gesellschaft weitgehend "übersehen" worden war, weil es im überkommenen 72

Rechtsdenken keine Rechtsverletzungen darstellte. Die Konfrontation mit dem Ausmaß der Gewalterfahrungen von Frauen, wie sie u.a. durch die eingangs zitierten Zahlen belegt werden, hat die Gesellschaften nun zutiefst erschreckt. Doch was wie eine Explosion von Gewalt in der Familie der 90er Jahre erscheint und gern von interessierter Seite als beklagenswerte Folge von Modernisierungsprozessen und Werteverlusten interpretiert wird, ist in Wahrheit nichts anderes als das Offenbarwerden des lange Existenten. Der Staat ist nun aufgefordert, im Zug der Herstellung von Rechtsstaatlichkeit auf der Grundlage der Gleichstellung von Mann und Frau (und der verschiedenen ethnischen Gruppen im Lande) seine Normensetzung, Gesetze und Rechtsinstitutionen diesem Gleichheitsgrundsatz anzupassen. Dazu gehören auch Neudefinitionen von Straftaten und die Aufnahme neuer Straftatbestände - beispielsweise Gewalt in der Ehe, sexueller Mißbrauch in der Familie an Mindeijährigen oder Dienstkräften, Schlagen und körperliche Mißhandlung, welche zuvor als "Erziehungsmaßnahmen" geduldet wurden. Die Beunruhigung läßt sich positiv als Herausforderung wenden, um endlich dringend notwendige gesellschaftliche Reformen einzuleiten. Die Qualifizierung des juristischen und polizeilichen, sozialarbeiterischen und pädagogischen Personals ist dabei nur ein Aspekt - wenn auch ein wichtiger. Das Thema Gewalt gegen Frauen im Rechtsstaat leitet zu einer Neudefinition der Beziehung von "Privat" und "Öffentlichkeit". Der "Schutzraum Familie" ist kein rechtsfreier Raum mehr. Das Thema schafft aber nicht nur produktive Beunruhigung zwischen dem Staat und den Bürgerinnen, sondern auch zwischen den Individuen, indem es dazu zwingt, Geschlechter- und Familienbeziehungen, gewohnte Verhaltensmuster, Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit, Geschlechteraufgaben und -positionen ganz konkret neu zu durchdenken. Die Kommissariate sind solche Orte, wo diese Beunruhigung offenbar wird, weil bei der Verhandlung der dort angezeigten Gewaltdelikte Frauen sowie Männer sich auch mit den gegenseitigen Bildern in ihren Köpfen auseinandersetzen müssen. Dort zeigt sich auch, daß Strafverfolgung nicht das einzige Mittel zur Lösung von Konflikten sein kann, dazu sind diese viel zu vielschichtig und berühren zudem zahlreiche weitere Bereiche: die wirtschaftlichen Verhältnisse, die Wohnsituation, die psychische Verfassung von Mann und Frau. Sollte die Bereitschaft zur Gewalttätigkeit im Geschlechterverhältnis nachhaltig abgebaut werden, ist der Staat auch in diesen Bereichen gefordert. Demokratisierung der Gesellschaft aus Geschlechterperspektive, das sollte an dieser Stelle verdeutlicht werden, bedeutet eine tiefgreifende Transformation. Von ihr werden Frauen wie auch Männer profitieren.

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Günther Maihold

Heilung durch Recht und Genesung vom Recht? Thesen zu den Grenzen des Rechts als Steuerungsinstrument in Lateinamerika Der Satz "Obedezcopero no cumplo" (Ich gehorche, aber ich folge nicht) kann als das aus der Kolonialgeschichte überlieferte Bekenntnis des kreolischen Selbstbewußtseins gegenüber der spanischen Krone gewertet werden. Gleichzeitig markiert diese Aussage jenseits ihrer rechtsgeschichtlichen Bedeutung auch Rechtskultur als die bis heute anhaltende Ambiguität der Menschen in Lateinamerika gegenüber den rechtlichen Ordnungen, an denen es auf dem Subkontinent nicht mangelt. Das Ausmaß an Rechtsförmigkeit im normalen gesellschaftlichen Verkehr und die Dominanz von Juristen in Führungspositionen von Staat und Gesellschaft haben nicht zuletzt im Rahmen der zweiten Generation der Strukturanpassungsreformen in Lateinamerika den Ruf nach einer umfassenden "Entregelung" laut werden lassen. Die fehlende Kontinuität des Rechtes über einen Regierungswechsel hinaus und die dominante Advokatenkultur, die wenig zur Transparenz beiträgt, lassen Zweifel aufkommen, inwieweit die Suche nach neuen Formen der rechtlichen Steuerung erfolgreich sein wird. Es erscheint daher angemessen, sich die Bedingungen für einen Erfolg rechtlicher Steuerung im gegebenen Rahmen der lateinamerikanischen Gesellschaften näher anzusehen.

I. Demokratisierung und Demokratieverdrossenheit "Es ist paradox: Ausgerechnet heute, wo erstmals alle südamerikanischen Staaten demokratische Regime liberalen Typs (mit gewissen Abstrichen) aufweisen, ist der Sinn von Demokratie fraglich geworden. Einerseits gibt es heute real existierende Demokratien, die nicht nur der üblichen Minimaidefinition gerecht werden, sondern auch eine große Vitalität zeigen angesichts der enormen beste78

henden Schwierigkeiten (man denke an die überkommenen sozialen Ungleichheiten und die gegenwärtige Transformation der ökonomischen Strukturen). Andererseits besteht ein stummes Unbehagen an der Politik, das keinen Inhalt noch einen Adressaten angibt, aber klar Distanz bezieht" (Lechner 1996: 39). Die Reflektion über dieses paradoxale Unbehagen mag eine fruchtbare Annäherung an den Problemkomplex Staat, Demokratie und Steuerung geben, der uns hier beschäftigt. Die für alle Gesellschaften kennzeichnende Kluft zwischen dem demokratischen Verfassungsideal und der Wirklichkeit der Demokratie als Ursache des "desencanto" in Lateinamerika wie in anderen Ländern könnte solange als unproblematisch betrachtet werden, wie eine solide Tradition die demokratischen Verfahren und Institutionen in ihren Stärken und Schwächen als "normal" erscheinen ließe. Entgegen anderen Auffassungen (so etwa Nohlen 1995) läßt sich aber die Entwicklung der Demokratie nicht nur von einem Standpunkt ihrer Normalität im internationalen Vergleich betrachten. "In Lateinamerika, wo solch eine demokratische Tradition nur schwach ausgeprägt ist, erscheint die Demokratisierung immer noch als Gründungsakt: die Setzung einer neuen Ordnung, die sich hier jedoch nicht auf ein vorgegebenes Fundament berufen kann. Die Begründung beruht auf dem Versprechen der zukünftigen Verwirklichung" (Lechner 1996: 40). Die Demokratien Lateinamerikas nähren sich aus der Negation der Vergangenheit im Sinne der Ablehnung bzw. des Versagens der Diktaturen und eben vom Versprechen der neuen Ordnung. Dieser Begründungskontext bezieht sich nicht nur auf ein bestimmtes Institutionengefíige, sondern auch auf den symbolischen Gehalt der Institutionen. Die von Seiten der Transitionsforschung gerade für Lateinamerika empfohlene "institutionelle Therapie" hat jedoch oftmals gerade diese symbolischen Elemente, die in den Überlegungen des Neoinstitutionalismus ihre Begründung finden, vernachlässigt (Maihold 1998). Aus einem solchen erweiterten Institutionenverständnis kann für unseren Kontext abgeleitet werden, daß sich neue Ordnungsgefüge an zwei Kriterien zu bewähren haben: • der Leistungslegitimität des demokratischen Verfassungsstaates, d.h. an der Frage nach effizienter Steuerung; • der Erzeugung einer Identifikation mit der Demokratie auf symbolischer Ebene und der sozialen Integration.

II. Recht und gesellschaftliche Integration in Lateinamerika Unter diesen Gesichtspunkten ist die Frage zu beleuchten, inwieweit Recht in Lateinamerika jemals der Fiktion gesellschaftlicher Integration über die Einheit des Rechtssystems genügt hat. Die Einheit der Gesellschaft reflektierte sich 79

nicht im System der Gesetze, vielmehr fungierten Gesetze immer im Sinne einer Segregation bestimmter Gruppen vom gesellschaftlichen Ganzen. Die Krise der gesellschaftlichen Integrationskraft des Rechts hat in Lateinamerika Tradition und ist auch wohl nicht umkehrbar. Ohne an dieser Stelle auf die Folgen des kolonialen Patrimonialismus und des iberisch-katholischen Erbes in der kulturalistisch motivierten Schule von Morse/Wiarda eingehen zu wollen, bleibt für unseren Untersuchungszusammenhang festzuhalten, daß auch seit der Unabhängigkeit mit ihrer bis heute anhaltenden "Verfassungsleidenschaft" (Garzón Valdés 1998) die Momente einer gesellschaftlich-integrativen Rolle des Rechts in Lateinamerika nur sehr eingeschränkt nachzuweisen sind.

III. Demokratisierung und Strukturanpassungspolitik Ein weiteres Paradox ergibt sich aus der Gleichzeitigkeit von Demokratisierungsprozessen und Vertiefung der Marktgesellschaft in Lateinamerika. Diese zunächst historisch kontingente Koexistenz beinhaltet jedoch unterschiedliche Formen gesellschaftlicher Organisation: "Das demokratische Prinzip einer in kollektiver Selbstbestimmung bewußt geschaffenen Ordnung steht im Gegensatz zum Markt als spontanes Gleichgewicht, das sich aus freien Tauschbeziehungen zwischen Individuen ergibt" (Lechner 1996: 41). Das heißt, die demokratisierten Gesellschaften müssen zwei unterschiedliche Logiken und Steuerungsprinzipien (hierarchische Steuerung durch den Staat einerseits und dezentrale Marktsteuerung andererseits) vereinbaren. Dies ist besonders bedeutsam angesichts der Tatsache, daß eine Fülle gesellschaftlicher und politischer Akteure innerhalb einer staatszentrierten Matrix entstanden ist und im Kontext der ersten Etappe der Staatsreform eine Entpolitisierung der Wirtschaft Platz gegriffen hat, die durch die Privatisierung des Unternehmerstaates und den Transfer politischer Interventionsmittel an autonome technische Instanzen die staatlichen Steuerungsressourcen reduziert, in einigen Ländern sogar ausgetrocknet hat (Lechner 1996: 44). Die damit verbundene oder zumindest beanspruchte Entrechtlichung zugunsten einer "Vermarktwirtschaftlichung" bisheriger Ordnungsschemata im gesellschaftlichen Zusammenleben betrifft zunehmend auch gerade jene Bereiche (Banken, Versicherungen, Pensions- und Rentensysteme), die für die lebensweltlichen Aspekte der Bürger in Lateinamerika bedeutsam sind.

IV. Verrechtlichung und Entrechtlichung in Lateinamerika Für das uns interessierende Thema bedeutet dies die Gleichzeitigkeit von zwei Phänomenen: Verrechtlichung und Entrechtlichung, die auf den ersten Blick als 80

kontradiktorische Steuerungsprinzipien erscheinen (Voigt 1983b: 19fF.). Es handelt sich jedoch um ambivalente Phänomene: Verrechtlichung kann zugleich Freiheitsverbürgung und Freiheitsgefahrdung bewirken, Entrechtlichung beseitigt u.U. Freiheitsbeschränkungen, eröffnet aber zugleich Möglichkeiten vermehrter Willkür. Hinzu kommen Befolgungs- und Implementierungsdefizite rechtlicher Normen, die bei der Beurteilung der Opportunität der zu wählenden Maßnahmen in Rechnung zu stellen sind. Vor der Diskussion dieser beiden Prozesse erscheint jedoch noch eine Klärung angebracht: Die folgenden Überlegungen beziehen sich weniger auf die klassische liberale Rechtsnorm im Sinne der rechtsstaatlichen Garantie staatsinterventionsfreier Räume. Als Rahmensetzung im Sinne einer staatlichen Selbstbindung, daß bestimmte Gesellschaftsbereiche privatem Handeln vorbehalten bleiben, wirken solche Rechtsnormen auch im Außenverhältnis nur schwach regulativ, indem Nichtentscheidungen Entscheidungen soziologisch gleichgehalten werden müssen (Traxler/Vobruba 1987: 5). Statt dessen steht im Vordergrund der Betrachtung die Steuerung mittels regulativer Politik, dem Königsweg staatlicher Intervention (Mayntz 1979: 55), der gleichwohl an die Grenzen der Wirksamkeit gestoßen ist, und dies aus drei Gründen (Landfried 1990: 77f.): •

Die gesellschaftlichen Probleme gestalten sich zu komplex (gedachte Kausalitäten als Grundlage der Normierung zeitigen ebenso negative Folgen wie die nachweisbaren Vollzugsdefizite). • Motivationale Elemente werden nicht genutzt oder mobilisiert. Dies gilt gerade angesichts der lateinamerikanischen Rechtskultur; so verhindert regulatives Recht besser unerwünschtes Verhalten als erwünschtes zu bewirken. • Normadressaten sind oftmals unklar (man denke nur an die umfassende Informalisierung der lateinamerikanischen Gesellschaften) bzw. zeigen Widerstand mit den entsprechenden Befolgungsdefiziten. 1. Verrechtlichung In Lateinamerika wird Verrechtlichung als Chance begriffen, um nach Jahren staatlicher Willkür und diktatorialer Vorrechte dem Bürger wieder zu "seinem Recht" zu verhelfen. Der Bedarf an Absicherung der bürgerschaftlichen Teilhabe und an Garantie der Mitwirkung an früher staatlich autonom getroffenen Entscheidungen ist verständlich, zumal wenn das Thema der "ciudadanizaciön" auf der politischen Tagesordnung steht. Allerdings wird Verrechtlichung auch kurzfristig identifiziert mit Normenflut und fehlender Konsistenzkontrolle des Normen- und Entscheidungsmaterials. Aber sicherlich ist Verrechtlichung nicht nur ein Problem der rechtlichen Wachstumskrise. Insofern greifen alle Überlegungen zu kurz, die dem bezeichneten Problem nur durch Rationalisierung der

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Gesetzgebung, Abbau der Regelungsdichte, Durchforstung der Rechtsbestände etc. beikommen wollen. Aber auch die Diskussion über "Alternativen zum Recht" in Gestalt informeller Formen der Konfliktbearbeitung, wie Formen der Mediation und Friedensgerichtsbarkeit, deckt nur einen Teilbereich ab. Das Phänomen Verrechtlichung muß analytisch daher mit der Frage nach dem modernen regulatorischen Recht verbunden werden, seinen Wirkungsgrenzen und Steuerungsproblemen. Hierzu lassen sich aus der rechtspolitologischen Diskussion (Görlitz/Voigt 1985: 119ff.) einige grundsätzliche Punkte anfuhren: • Steigende Verrechtlichung im Sinne erhöhter Regelungsdichte bedeutet nicht unmittelbar eine Machterweiterung politischer Institutionen. Hierfür kann die lateinamerikanische Erfahrung unmittelbar als Beleg betrachtet werden. Das Regelungsinteresse ist in Lateinamerika so umfassend ausgebildet, daß weithin die Konsistenz der Normen nicht mehr nachzuhalten ist. • Die daraus folgende wachsende Bürokratisierung und Justizialisierung garantiert nicht automatisch eine bessere gesellschaftliche Konfliktverarbeitung, vielmehr werden gesellschaftliche Auseinandersetzungen auf längere Fristen hin eingefroren oder durch deyäcio-Positionen entschieden. • Die weitere Differenzierung von Einzeltatbeständen innerhalb einer Rechtsmaterie, d.h. die Regelungstiefe, erhöht nicht notwendigerweise die Steuerungsleistung. Als Beispiel hierfür kann das Umweltrecht Mexikos dienen, das sich in der ersten Phase in seiner Gestaltung dieser Illusion hingab (Maihold 1991). Folgen der Verrechtlichung in Lateinamerika: • Politische Konflikte und Verhandlungen werden in juristische Probleme umgedeutet, deren Entscheidung den Gerichten als politisch neutralen Instanzen anvertraut wird. Im Sinne von Arnold Gehlens "Entlastung" der Politik tritt die Justiz an die Stelle der Politik. Hoch polarisierte und mit politischen Emotionen besetzte Konflikte können damit einer Sachentscheidung zugeführt werden. Dies setzte aber - und damit schließen wir an unsere vorausgehenden Überlegungen an - eine akzeptierte Funktion des Rechts als gesamtgesellschaftliche Integrationsinstanz voraus, die zumal in Lateinamerika in Frage steht. Andererseits ist zudem festzuhalten: Das Abziehen politischer Substanz fördert die Normativität der Vollzugspolitik und scheidet demokratische Kontrolle aus, eine Entwicklung, die gerade im Kontext der Demokratisierungsprozesse auf dem Subkontinent nicht gewünscht werden kann. Eine Ausweitung der Normproduktion durch die Verwaltung fordert gerade jene Bereiche staatlich autonomen Verwaltungshandelns, die im Zuge der Rückkehr zur Demokratie reduziert werden sollten. • Verrechtlichung gestattet die Herstellung von Rechtssubjektivität, neue Rechtssubjekte werden durch neue "entitlements" geschaffen. Die den De82

mokratisierungsprozeß begleitenden Reformen haben die Ausdehnung von Bürgerrechten auf indigena-Organisationen und andere Trägergruppen gestattet, die bislang am Rande des gesellschaftlichen Lebens standen. Ihre Ausstattung mit Rechtssubjektivität ist in dieser Hinsicht ein erheblicher Qualitätsgewinn für die lateinamerikanischen Demokratien. • Die Entformalisierung des Rechts durch unbestimmte Rechtsbegriffe, Generalklauseln und Zielformeln fuhrt zu Gesetzesattrappen (Maus 1987: 134f.), die die Verwaltung immer weniger binden. Die Differenz von politischer Legitimationsbeschaffung und administrativer Legitimationsverwendung wird vom Bürger immer deutlicher erkannt, und die ohnedies schon bestehende Verdrossenheit mit den politischen Prozessen wird noch weiter vertieft. Da zudem in Lateinamerika Strategien der Selbstlegitimierung der Staatsapparate unterentwickelt sind und - soweit auf lokalem Niveau betrieben - meist durch obrigkeitsstaatliche Verhaltensweisen suspendiert werden, sind kompensatorische Partizipationskonzeptionen meist wenig erfolgreich. Die unterschiedliche Programmierung von Recht hat unterschiedliche Steuerungsmodi zur Folge (Voigt 1989: 19ff.): • Konditional programmierte Zurechnungskriterien unterstellen individualisierbare und antizipierbare Geschehensabläufe, die sich kausalanalytisch rekonstruieren lassen und deren Folgen einzelnen Subjekten zugerechnet und von ihnen verantwortet werden können. Recht diesen Typs regelt vergangene Zukunft, d.h. es reagiert erst dann, wenn der Vertrag etc. nicht eingehalten wurde. • Die Steuerungsprobleme der finalen Programmierung des Rechts folgen aus der dem regulatorischen Recht eigenen Orientierung auf die materiale Zielerreichung. Allerdings kann dieses Recht die Bedingungen der Realisierung der intendierten Zielvorgaben weder schaffen noch auch nur formulieren (Blanke 1989: 55/56). Der Zwangscharakter des Rechtes tritt beim regulativen Recht zurück. Die Umstellung von konditionaler und formaler Programmierung erweitert den Handlungsspielraum der öffentlichen Verwaltung. Damit entstehen neue Bereiche, die unter dem Gesichtspunkt der rechtlichen Steuerung mit großer Distanz zu betrachten sind: Im Rahmen des informellen Verwaltungshandelns entstehen Spielräume rechtlichen Handelns, die demokratietheoretisch durchaus bedenklich sind, auf der anderen Seite aber sehr problemadäquat fungieren können; Verhandlungen entscheiden über Zeitpunkt und Höhe der einzuhaltenden Normen des Gesetzesvollzugs, d.h. es findet eine nachparlamentarische Verwaltungsprogrammierung statt. Damit werden jedoch Räume eröffnet, in denen Entregelungsstrategien mächtiger Interessengruppen Erfolg zeitigen werden. Es ist daher sehr zweifelhaft, inwieweit die finale Programmierung rechtlicher Normen gerade in Lateinamerika angesichts extrem vermachteter Sozialbeziehungen und eines beschränkten Verwaltungsethos das angemessene Instrument darstellt, um 83

zusätzliche Steuerungseffekte zu erzielen. Geeignet erscheint dieser Modus rechtlicher Steuerung eher für dezentrale Verwaltungseinheiten, die im Zuge der den gesamten Subkontinent überziehenden Dezentralisierungspolitik unter klar definierten Rahmenbedingungen sinnvoll einsetzbar wären. • Die relative Verselbständigung von Verwaltung und Justiz ist eine Folge der Entformalisierung des Rechts, d.h. Institution und Recht werden angesichts abnehmender gesetzlicher Programmierung voneinander abgekoppelt. Nimmt man hinzu, daß in Lateinamerika ohnedies die Beziehung zwischen politischen Institutionen und rechtlichem Handeln nur sehr locker vermittelt ist, so sind alle jene Formen rechtlicher Steuerung besonders kompatibel, die eine Vergabe von Verhandlungspositionen leisten, die die Basis der Fülle von intra- und extrainstitutionellen Aushandlungsforen bilden. Die Möglichkeit staatlicher Instanzen, durch die Erweiterung des Kreises der Beteiligten auf das Ergebnis dieser Konzertierungsprozesse einzuwirken, ist aus der lateinamerikanischen Geschichte des Korporatismus durchaus ablesbar. Damit verliert jedoch diese Art der Steuerung den rechtlichen Charakter und verweist eher auf die Grenzen denn auf die Chancen der Steuerung durch Recht. 2. Entrechtlichung (Entstaatlichung, Entregelung, Re-Formalisierung) Im Kontext der Strukturanpassungspolitik ist in Lateinamerika die Entregelung und Vermarktlichung vormals staatlich kontrollierter Politikfelder vorangetrieben worden. Dabei ist bedeutsam - jenseits der konkreten Auseinandersetzung über Notwendigkeit, Erfolg oder Mißerfolg der Privatisierungspolitik - , sich vor Augen zu halten, daß der Staat in Lateinamerika immer stärker reformpolitisch distributive und redistributive Funktionen übernommen hat, ja sogar das Monopol der sozialen Entwicklung übernahm (Nohlen/Femändez 1988: 412ff.). Unter steuerungstheoretischer Perspektive bedeutet dies, daß diese Verpflichtung auf die aktive Sozialgestaltung mit einem erheblich höheren Regelungsbedarf verbunden ist, als dies aus der mit vergleichsweise geringem Normierungsgrad verbundenen Rechtsstaatsidee folgt (Hendeler 1983: 61). Der damit verbundene Verrechtlichungsschub der vergangenen Jahrzehnte steht so vor dem Postulat einer Entrechtlichung, die die Regelungsdichte der staatlichen Leistungsfähigkeit anpassen soll. Entrechtlichung wird damit in der öffentlichen Diskussion oftmals mit Entstaatlichung gleichgesetzt, ein Tatbestand, der sich aus dem Staatsversagen in ökonomisch-fiskalischer sowie in sozio-politischer Hinsicht ableitet. Entsprechend wird eine Revision des Aufgabenbestandes staatlichen Handelns gefordert, die Auslagerung bestimmter öffentlicher Aufgaben an Private sowie eine Reduzierung bei der Zuweisung neuer Aufgaben an den Staat (Voigt 1983b: 26). Daß gerade letzteres angesichts der Staatszentrierung der lateinamerikanischen Gesellschaften besonders schwierig ist, muß an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden. 84

Es ist allerdings hervorzuheben, daß jenseits der engen Privatisierungsdiskussion die Dezentralisierung öffentlicher Aufgaben zugunsten unterer Gebietskörperschaften und anderer Selbstverwaltungseinheiten die normsetzende Tätigkeit verlagert hat und gleichzeitig die Chance für eine breitere Partizipation der Betroffenen eröffnet wurde. Über den Erfolg der Dezentralisierungspolitik in Lateinamerika gibt es angesichts des recht unterschiedlichen Institutionalisierungsgrades der entsprechenden Instanzen recht divergierende Auffassungen. Für unseren Kontext kann jedoch das hohe Interesse an dieser Variante von Entstaatlichung festgehalten werden. Jenseits der Entstaatlichung lassen sich für Prozesse der Entrechtlichung verschiedene Strategien identifizieren: die Rechtsbereinigung, ein recht aufwendiges Verfahren, das jedoch die Aufrechterhaltung des gesetzlichen Normierungsstandards sicherstellen sollte (Erfolge in diesem Bereich dürften in Lateinamerika angesichts des Umfanges der notwendigen gesetzgeberischen Arbeit nur mittelfristig spürbar werden); die Verwendung von Generalklauseln, Ermessens- und Abwägungstatbeständen als zweite Strategie und die ersatzlose Streichung vorhandener gesetzlicher Regelungen (Hendler 1983: 62ff.) könnten jedoch erfolgreichere Instrumente darstellen, die aber auch mit erheblichen Kosten verbunden sind: • Zunächst können dadurch Bereiche gesellschaftlicher Selbststeuerung freigesetzt werden, d.h. alle jene Effekte auftreten, die auch für die Entstaatlichung anzuführen sind. • Allerdings ist damit im Kontext der Strukturanpassung in Lateinamerika eine Senkung von Basisnormen im gesellschaftlichen Verkehr verbunden worden; dies gilt zumal für das Kernstück der populistischen und korporatistischen Phase der Staatstätigkeit in Lateinamerika - das Arbeitsrecht. Unter der Überschrift der Entregelung, Marktöffnung und Flexibilisierung sind Korrekturen nach unten durchgesetzt worden, die die gewerkschaftliche Organisation, Mindeststandards im Arbeitsschutz sowie die Garantie der grundlegenden Arbeitnehmerrechte aufgeweicht haben. Als Beispiel soll hier nur die Situation im Bereich der Lohnveredelungsindustrie (maquila) sowie in den freien Produktionszonen angeführt werden. Vergleichbare Tendenzen lassen sich im Bereich des Miet- und Verbraucherrechtes ausmachen. • Eine Expansion der Normproduktion durch die Verwaltung ist als Folge des Einsatzes von Generalklauseln sowie Ermessens- und Abwägungstatbeständen verbunden mit einer eigenständigen Konsolidierung ihres Machtbereiches festzustellen. Der Spielraum für eine kompensatorische administrative Rechtserzeugung ist damit enorm gewachsen, was angesichts der in den meisten Ländern Lateinamerikas unterentwickelten Verwaltungsgerichtsbarkeit eine sehr kritisch zu beurteilende Entwicklungstendenz darstellt. Die Substitution des förmlichen Gesetzesrechts durch Verwaltungsvorschriften ist angesichts des Ausmaßes an informellem Verwaltungshandeln in Latein85

amerika unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit der Bürger sicherlich nicht als Fortschritt zu verbuchen. Auch rechtssystematisch betrachtet wird damit die Unübersichtlichkeit der Rechtsordnung vertieft. Gleiches gilt im übrigen auch für die aus unbestimmten Rechtsbegriffen folgende Ausbildung eines immer differenzierteren Richterrechtes, d.h. eine Ausweitung der Rechtssetzungsfunktion auf vollziehende und rechtsanwendende Instanzen (Maus 1987: 136): "Verwaltungseigene Politik", ausuferndes Richterrecht sowie die ohnedies in Lateinamerika vorherrschende Selbstprogrammierung der Justiz fordert Tendenzen einer situativen Dynamisierung des Rechtes, die zwar kurzfristigen Interessen dienlich sein kann, sich aber der notwendigen inhaltlichen Bestimmtheit entzieht. Im administrativen Bereich ist in dieser Hinsicht jedoch der Unterschied zwischen Ordnungs- und Leistungsverwaltung hervorzuheben, die sich diesen unmittelbaren Interessen in erheblich differenziertem Umfang geöffnet haben. Dies wird besonders deutlich bei der Delegation öffentlicher Aufgaben an korporatistische Gremien, in denen sich ohne staatliche Rahmensetzung nur die bestehenden Machtprobleme reproduzieren. • Entrechtlichung kann angesichts der prekären Struktur der administrativen und Justizapparate in Lateinamerika die Beeinträchtigung des Zugangs zu Recht bedeuten. Die Definitionsmacht über Leistungsvoraussetzungen statt wie vorher Leistungsansprüche sowie die Leistung selbst bzw. der Leistungszweck sind immer weniger beeinflußbar. D.h. angesichts der Vermarktlichung dieser Zugangsrechte erscheint die Verrechtlichung wieder als Option, die der staatlichen Rahmensetzung bedarf, um nicht in eine sozial regressive Reproduktion bestehender Machtgefalle zu münden. Fügt man die genannten Elemente der Entrechtlichung in die Strategien der ersten Phase der Staatsreform in Lateinamerika ein, so sind als Folgen für die gesellschaftliche Ordnung auch jenseits des dominanten Effizienzgedankens zwei Elemente festzuhalten (vgl. Lechner 1996: 43ff.): • eine Modernisierung des Staates mit Verminderung bürokratischer Regelungen und administrativer Zentralisierung; bei Einschränkung des Einflusses von Parteien und Gremien auf den Staatsapparat und die Staatsausgaben; verbunden mit einer Rationalisierung des Verwaltungsstabes. D.h. die ökonomische Regelungskapazität des Staates wurde erhöht und im Rahmen des Dezentralisierungsprozesses neuen Selbstverwaltungspotentialen Wirkungsraum eröffnet. • eine Zerstörung der (materiellen und symbolischen) Sicherheitsnetze, die trotz aller Relativität hinsichtlich ihrer Funktionsfähigkeit eine vom Staat verkörperte Sicherung des gesellschaftlichen Zusammenlebens, d.h. sozialer Integration, sicherstellten.

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V. Jenseits der Steuerung durch Recht in Lateinamerika die verhandelnde Demokratie Die zweite Generation der Strukturreformen muß angesichts der Grenzen der rechtlichen Steuerung und der sozial gestalterischen Aufgabe des Staates in Lateinamerika darauf abzielen, eine Erneuerung der staatlichen Steuerungskapazitäten sicherzustellen. Das zentrale Thema lautet daher: Gewinnung gesamtgesellschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit (Lechner 1996: 45), d.h. die gesamte Gesellschaftsordnung muß diese auf ihren verschiedenen Niveaus (Produktionsstrukturen, arbeits- und handelspolitische Normen, Erziehungsniveau, Technologiepotential bis zu politischer Stabilität und sozialem Vertrauen) herstellen, eine Aufgabe, die nur der Staat als koordinierende Instanz leisten kann. Gleichwertig neben Sektorreformen muß daher eine neue Artikulation der sozialen Akteure stehen, d.h. ein Netz sozialer Abkommen, die die verschiedenen Akteure und Prozesse in eine gemeinsame Perspektive einbindet, d.h. die verhandelnde Demokratie. Der Rückzug des Rechtes im Bereich der Leistungsverwaltung als Steuerungsmedium auf die Ebene prozeduraler Programmierung ist damit deutlich ablesbar (Teubner 1982: 26). Dies bedeutet: Der Staat gewinnt eine neue Präsenz zurück als Garant der politischen und wirtschaftlichen Stabilität, als unersetzbarer Motor der sozialen Integration (Sozialpolitik) und als Verkörperung eines vertrauenswürdigen Zukunftshorizontes. Das Recht als Steuerungsmedium und noch weniger als Steuerungsressource vermag bei dieser Aufgabe eine (unter)stützende Rolle spielen, die eigentlichen Rahmenbedingungen müssen jedoch durch die politische Dynamisierung staatlichen Handelns gesichert werden. Diese Aufgabe kann jedoch nur im Kontext eines polyzentrischen Koordinationsnetzes (Messner 1995) verstanden werden; dies zumal, da die Anknüpfung an den alten Entwicklungsstaat nicht mehr möglich ist. Damit gewinnen besondere Bedeutung: • die von der Regierung autonomen, pluralistisch besetzten Instanzen öffentlichen Rechtes, die als eine Art Aufsichtsrat auf einem bestimmten Gebiet über das transparente Funktionieren der Marktmechanismen wachen (Consejos/Superintendencias)', • Politiknetzwerke, die staatliche Instanzen und private Akteure zur Regelung von bestimmten Politikfeldem über formale oder informelle Koordinationsmechanismen verknüpfen (z.B. Reform des Gesundheitswesens/Sozialversicherung etc.); • Instanzen der Wahrnehmung bürgerschaftlicher Rechte und Interessen (Defensores, Ombudsmänner, Bürgerbeauftragte) als weniger rechtsintensive Kontrollmechanismen einer hinsichtlich ihrer Gestaltungsrolle und ihres -anspruchs expansiven öffentlichen Verwaltung.

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Für die uns beschäftigende Steuerungsproblematik bedeutet dies, daß statt Vertikalität horizontale Abstimmung für flexible und realitätsnahe Problembehandlung gefordert werden muß. Dies beinhaltet die Tendenz, daß die Inflation von Mikroentscheidungen die politische Erarbeitung eines gesellschaftlichen Konsenses verdrängt. Insofern wird ein Erfolg dieser Strategie für gesamtgesellschaftliche Wettbewerbsfähigkeit davon abhängen, inwieweit sich die konsensualen Grundlagen der Demokratien Lateinamerikas als feste Fundamente erweisen bzw. unter welchen Bedingungen angesichts prekärer Legitimitätsbilanzen zentraler Institutionen (Parlamente, Parteien, Justiz, Verwaltung) eine konsensuale Aufladung demokratischer Politik durch Hilfsinstrumente, wie nationaler Dialog und soziale Konzertation, erfolgen kann. Die einseitige Perspektive der ersten Generation der Reformen, die eine Neugestaltung der Beziehung von Staat zur Wirtschaft beinhaltete und damit den Staat aus dem demokratischen Institutionengefuge entläßt, hat seine politische Neutralisierung gefordert (Lechner 1996: 48). Dem Staat obliegt in dieser Sicht die technokratische Handhabung der public policies, mit der Folge, daß auch die Parteien als zentrale Vermittlungsinstanzen angesichts gekappter Anknüpfungen in eine tiefe Krise geraten sind.

VI. Die Steuerungskapazität von Recht in Lateinamerika Vor diesem Hintergrund einer neu zu bestimmenden Rolle des Staates in Konkurrenz und Komplementarität mit der Marktsteuerung und der gesellschaftlichen Selbststeuerung in Politiknetzwerken ist heute die Rolle des Rechts als Steuerungsinstrument in Lateinamerika zu bestimmen. Verrechtlichungs- und Entrechtlichungsprozesse vollziehen sich in vielen lateinamerikanischen Gesellschaften gleichzeitig, wenn auch in gegenläufiger Richtung und in unterschiedlichen Rechtsmaterien. • Die Entformalisierung des Rechts verändert demokratische Kontrolle und Legitimation politischer Entscheidungen. Die Differenz zwischen politischer Legitimationsbeschaffung und administrativer Legitimationsverwendung tritt insbesondere in Lateinamerika als Strukturproblem immer wieder deutlich hervor. Der "Vorrang des Gesetzes" wird prekär, wenn seine inhaltliche Bestimmtheit Justiz und Verwaltung nicht tatsächlich bindet. • Die Entformalisierung des Rechts verlagert die Koordinations- und Entscheidungstätigkeit automatisch in die rechtsanwendenden und vollziehenden Instanzen, die relative Autonomie von Verwaltung und Justiz wird gestärkt, die politische Legitimation nimmt damit Schaden. • Der Adressat der Mehrheit des modernen Rechts wird auch weiterhin der Staat selbst sein, auch wenn die Verlagerung von Steuerungskompetenzen an

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dritte Institutionen neue Akteure ins Spiel bringt, die eigene/gegengerichtete Steuerungsressourcen und -logiken ins Spiel bringen können. • Der "Siegeszug des Verfahrensgedankens" setzt sich fort; die massive prozedurale Programmierung von Normen und die steigende Bedeutung des Organisations- und Verfahrensrechtes belegen dies. Ob die Unbestimmtheit des materiellen Rechts durch die Präzision des Verfahrensrechtes kompensiert werden kann, ist gegenwärtig noch nicht zu beantworten. Die politische und gesetzliche Vergabe von Verhandlungspositionen und die staatliche Belehnung bestimmter Akteure mit Rechtssetzungskompetenz kann als die indirekteste Form staatlicher Steuerung betrachtet werden, die allerdings gleichzeitig der demokratischen Kontrolle und allgemeiner öffentlicher Aufmerksamkeit unterliegen muß (Maus 1987: 148). Dies bedeutet, daß in solchen Arrangements der Diskursivität und des reflexiven Rechts die Regelung der Kompetenz von Normenfestsetzung und Normendurchsetzung sowie deren inhaltliche Füllung genau zu bestimmen sind. • Ein Rückzug des Rechtes als Steuerungsmedium auf die Meta-Ebene prozeduraler Programmierung bedeutet den Verzicht auf Direktsteuerung und beschreibt statt dessen die Strukturierung von Verhandlungssystemen als Aufgabe; rechtliche Steuerung würde ihren Schwerpunkt damit auf prozedurale Mechanismen legen, d.h. Steuerung von gesellschaftlicher Netzwerksteuerung, Angabe von Kompatibilitätsbedingungen der Steuerung von Teilrationalitäten in verschiedenen Subsystemen. • Die Entformalisierung hat die Ermächtigungsperspektive des Rechts in hohem Maße verselbständigt und eine Entfesselung politischer Institutionen jenseits der Parlamente in Verwaltung und Justiz ermöglicht. Dies mag deren Autonomie gestärkt und sie gegenüber politischer Einflußnahme unabhängiger gemacht haben, gleichzeitig sind aber die demokratischen Legitimationsinstanzen beschädigt worden. Die Stärkung der Parlamente und der sie tragenden Vermittlungsinstanzen verweist insofern auf die zentrale Regierbarkeitsdimension, die heute die lateinamerikanische Demokratie zu bewältigen hat. • Die aktuellen Bemühungen um die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit in Lateinamerika sind in dieser Hinsicht begrüßenswert; sie laufen jedoch Gefahr, Illusionen über die Geltungskraft des Rechtes und seine Steuerungskapazitäten zu erzeugen, die gerade in Lateinamerika angesichts der ungefestigten Situation der Demokratisierungsbestrebungen und der anhaltenden Strukturreformen negative Folgen zeitigen können. Angesichts des emsigen Rechtsbetriebes kann man zu der Auffassung neigen, es handle sich dabei um eine juristische Spielart des "symbolic use of politics"; allerdings ist Heilung durch Recht ebensowenig in Aussicht wie Genesung vom Recht.

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Nikolaus Werz

Zur Entwicklung des Rechtsstaates in Lateinamerika1 Als Rechtsstaat gilt ein Staat, in dem eine Rechtsordnung errichtet und garantiert ist und bestimmte materielle Grundsätze - wie Gewaltenteilung, Achtung der Individualsphäre, Rechtsgleichheit, Rechtmäßigkeit der Gewaltausübung, Rechtsschutz durch unabhängige Gerichte - in die geschriebene oder ungeschriebene Verfassung aufgenommen wurden. Hieraus ergibt sich die Unterscheidung zwischen einem formellen und einem materiellen Rechtsstaat. Über die Verbreitung des Rechtsstaates gehen die Meinungen auseinander. Georg Brunner konstatiert, daß der Rechtsstaat eine für den deutschen Rechtskreis typische Begriffsprägung sei, die ansonsten lediglich in Österreich, der Schweiz, den Niederlanden und Italien Wurzeln geschlagen habe (Brunner 1979: 168f.). Französische Autoren würden erst in neuerer Zeit den Terminus "l'état de droit" verwenden, früher habe man oft noch "le Rechtsstaat" geschrieben (Fuss 1967: 14f.). Der englische Grundsatz des "Rule of Law" ist zwar mit dem deutschen Rechtsstaatsbegriff verwandt, aber nicht identisch, da der gerichtliche Prozeß dort eine größere Rolle spielt. Kein Zweifel kann daran bestehen, daß sich der Begriff seit Ende der 80er Jahre weltweit im Aufwind befindet. Michail Gorbatschow (1989: 403) widmete in seiner Rede zum Abschluß der XIX. Unionsparteikonferenz am 1. Juli 1988 der Rechtsreform ein eigenes Unterkapitel und kündigte die Schaffung eines "sozialistischen Rechtsstaates" an, ohne ihn allerdings näher zu präzisieren. Nach 1989 rückten Verfassungsfragen in den Mittelpunkt der Reformdebatte, sowohl in den Ländern des vormals realsozialistischen Lagers als auch ins1

Der Autor dankt den Mitarbeiterinnen der Bibliothek des Instituto Interamericano (IIDH) in San José/Costa Rica für ihre Unterstützung.

de Derechos

Humanos

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gesamt in den sogenannten Transformationsgesellschaften (Preuß 21994: 9). In den westlichen Industriestaaten wiederum wächst dem Recht die Aufgabe zu, die im Schwinden begriffene Sozialmoral zu ersetzen (Hollerbach 1992: 38) bzw. zu einer Idee des Rechtsstaates in Gesellschaften von hoher Komplexität und beschleunigtem Strukturwandel zu gelangen (Habermas 1992: 571ff). In den Lexika lateinamerikanischer Länder taucht der Begriff in den 80er Jahren zunehmend auf. Das "Diccionario Enciclopédico de Derecho Usual", erschienen 1983 in Buenos Aires, hält zu diesem Stichwort fest: "Por Estado de Derecho se entiende aquella sociedad, politicamente organizada, donde la ley está sobre los gobernantes, y no ala inversa, y por ello rige por igual entre todos los ciudadanos" (Cabanelas 1983: 571). Der Artikel über den Begriff in der "Enciclopedia Jurídica Omeba" enthält Darstellungen verschiedener Autoren zum Rechtsstaat, gibt selber aber keine Definition außer dem Verweis auf das notwendige Vorhandensein einer Verfassung. Das "Diccionario de Ciencias Sociales y Políticas" weist auf die deutschen Ursprünge und den formalistischen Grundzug mit der Betonung der Gesetze hin, weshalb sich der Rechtsstaat in Lateinamerika nur mit großen Schwierigkeiten durchsetzen könne (Bergaiii 1989). In der lateinamerikanischen Belletristik ist die Abwesenheit des Rechtsstaates und die Willkürherrschaft ein wichtiges Thema etwa in den sogenannten Diktatorenromanen. Ebenso sind in der Fachliteratur Bedenken vorhanden, inwieweit der Begriff Rechtsstaat auf die lateinamerikanische Realität angewandt werden könne. Karl Loewenstein rechnete die lateinamerikanischen Konstitutionen dem Typus einer bloß nominalen Verfassung zu (Loewenstein 1959). Und von verschiedenen lateinamerikanischen Autoren sind Zweifel geäußert worden, ob der Rechtsstaat und die liberale Demokratie aufgrund der gesellschaftlichen Voraussetzungen überhaupt realisiert werden könnten. César Quintero schreibt noch 1988 (S. 318f.): "Die bürgerliche Demokratie ist ein Luxus, den sich bloß die fortgeschrittenen kapitalistischen Nationen leisten können. Die Völker Lateinamerikas müssen stabile Institutionen im Rahmen der ihnen angemessenen sozioölconomischen Systeme und Regierungsformen entwickeln". Arbeiten aus den 70er Jahren hatten das "Recht als Hindernis für sozialen Wandel" ausgemacht und - dem Zeitgeist entsprechend - revolutionäre gesellschaftliche Veränderungen gefordert, um das Recht zu einem "konkreten Projekt des sozialen Lebens" zu machen (Novoa Monreal 1975: 14). Die konkreten Ausprägungen des Rechtsstaates sind in der Lateinamerikaforschung nur am Rande behandelt worden, zumal insgesamt - mit Ausnahme der Rechtstheorie und -philosophie - bis Anfang der 90er Jahre ein vergleichsweise geringes Interesse am lateinamerikanischen Recht in Deutschland konstatierbar war (Garzón Valdés 1992: 591). Gemessen an der hohen Bedeutung des Rechts im deutschen Denken, was nicht immer die Befolgung im eigenen Lande implizierte, mußte die Diskrepanz zwischen Verfassung und Verfas92

sungswirklichkeit sowie die "Vorherrschaft ungeschriebener Verträge" (Beyhaut 1976: 138) in der personenorientierten Politik Lateinamerikas besonders auffallen. Analysen der 60er und 70er Jahre verweisen auf die militärische Besetzung der Politik, in der Folgezeit bestimmte eine gewisse Vorliebe für soziale Bewegungen und Nichtregierungsorganisationen, d.h. Gruppen, die unabhängig vom autoritären Staat entstanden, viele Forschungsprojekte. Die Beiträge, die im Prozeß der Redemokratisierung entstanden, beschäftigen sich mehr mit dem Thema der Wahlen und einer angestrebten Reform der politischen Systeme. Auch die Diskussion um die zivile Gesellschaft behandelt die bestehenden politischen Rahmenbedingungen und rechtlichen Ordnungen nur am Rande, da sie sich einen Wandel ja vor allem von der Tätigkeit und dem Zusammenwirken neuer politischer Akteure erhofft. Erst in den 80er Jahren rückten institutionelle Fragen bzw. solche der politischen Ordnung wieder stärker ins Blickfeld; die vorherige Vernachlässigung hatte jedoch nicht nur mit den Vorlieben der an Lateinamerika Interessierten zu tun, sondern auch mit dem Nachlassen ordnungspolitischen Denkens in Deutschland. In den 90er Jahren ist das Interesse für Justizreformen und den Rechtsstaat in Lateinamerika und der Dritten Welt insgesamt (Betz 1997) gestiegen (vgl. die Ausgaben von Contribuciones 1994; 1996). Versuche, ein Lateinamerikanisches Institut für Vergleichendes Recht zu gründen, hat es gegeben. Auf der Zweiten Konferenz der lateinamerikanischen Rechtsfakultäten im April 1961 in Lima wurde ein solches Institut zunächst mit Sitz in Mexiko ins Leben gerufen, es stellte seine gesamtlateinamerikanischen Tätigkeiten jedoch nach zwei Jahren wieder ein. Hingegen besteht an der Southern Methodist University in Dallas ein Law Institute of the Americas, das sich u.a. in vergleichender Perspektive mit einer Analyse des common law und des lateinamerikanischen Zivilrechts beschäftigt. Mit dem Instituto Interamericano de Derechos Humanos (IIDH) in San José ist seit einigen Jahren eine Einrichtung vorhanden, die sich vor allem mit Menschenrechtsfragen beschäftigt und über eine Spezialbibliothek verfügt. Die folgenden Ausführungen gliedern sich in vier Abschnitte: Eingangs geht es um den Stellenwert von Verfassungen in Lateinamerika, dann um die Grenzen von Recht und Rechtsstaat, anschließend versuche ich, mit Hilfe von einigen Umfragedaten aus dem "World Value Survey" auf Probleme beim Vergleich von Rechtssystemen hinzuweisen, um abschließend in vergleichender Perspektive einige Schlußfolgerungen zu ziehen.

I. Zum Stellenwert von Verfassungen in Lateinamerika Eine profunde Auseinandersetzung mit dem Rechtsstaat müßte mit der langen Kolonialzeit (García/Gallo 1972), wahrscheinlich sogar mit dem autochthonen 93

indianischen Recht beginnen. Pietschmann (1994: 364) konstatiert, daß eine Mischung von kollegial organisierten Behörden - audiencias, real acuerdo, juntas, cajas - und verantwortlichen Einzelbeamten - virreyes, presidentes, gobernadores und capitanes generales - bestand, die sich gegenseitig kontrollieren sollten. Deshalb sei auch von einem System der "checks and balances" oder der "Autorität und Flexibilität" die Rede. Allerdings setzten sich in der Kolonialzeit Ämterhandel und Korruption durch, was es der weißen Oberschicht erlaubte, sich "ihr Recht" einfach zu erkaufen. Die daraus resultierenden Mechanismen und Haltungen zeigten sich auch in der Unabhängigkeitsbewegung und begründeten Haltungen gegenüber dem Staat, die möglicherweise bis in die Gegenwart nachwirken. Solche Kontinuitäten sind allerdings noch nicht klar nachgezeichnet worden. Bis Anfang des 19. Jahrhunderts galt in Lateinamerika das spanische Recht mit einigen Sonderbestimmungen, wie den Leyes de Indias von 1860. Wichtige Impulse fur die ersten Konstitutionen in Lateinamerika zu Beginn des 19. Jahrhunderts gingen - neben der nordamerikanischen und französischen Verfassung - auch von der spanischen Verfassung von Cádiz von 1812 aus. Erste Verfassungen stammten schon aus dem Jahre 1811. Ab 1820 zeigte sich eine größere konstitutionelle Stabilität. Brasilien gab sich 1824 als erste Nation eine Verfassung, Uruguay und Venezuela folgten 1830, Chile 1833, die Dominikanische Republik 1844, Argentinien 1853, Mexiko 1857, Nikaragua 1858, Peru 1860, Paraguay 1870, Costa Rica 1871, Guatemala 1879, Honduras 1880, Kolumbien und El Salvador 1886. Kuba gab sich 1901 seine erste Verfassung, Panama trennte sich erst 1903 von Kolumbien. Eine Besonderheit der Verfassungen war die Proklamation des katholischen Glaubens als dominierende Religion. Keine der Verfassungen des 19. Jahrhunderts erwähnt die politischen Parteien, was allerdings auch anderenorts nicht der Fall war. Die frühen Verfassungen von Venezuela und Mexiko waren stark von der nordamerikanischen beeinflußt. Dies gilt auch für die argentinische Verfassung von 1853 und die brasilianische Verfassung von 1891. Mitte des Jahrhunderts kam es zu den Kodifikationen2 im Bereich des Zivilrechtes. Da das Recht Spaniens als das Recht der ehemaligen Kolonialmacht weitgehend ausschied, orientierte man sich zur Schaffung einheitlicher nationaler Zivilgesetzbücher am französischen Code Civil. Bekannt wurden vor allem drei: die von dem Venezolaner Andrés Bello in Chile durchgeführte Kodifikation (1846-1855), die von Dalmacio Vêlez Sarsfield in Argentinien (1863-1869) und die von Teixeira de Freitas in Brasilien (1856-1865). Sie waren Vorbilder für andere lateinamerikanische Länder. Das chilenische Zivilgesetzbuch wurde später von Ekuador (1860), Kolumbien (1873) und mehreren mittelamerikaniAls Kodifikation gilt die nach stystematischen Gesichtspunkten zusammenfassende Gesetzgebung für ein großes Sachgebiet, wie sie vor allem in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfolgte.

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sehen Staaten übernommen, es hat darüber hinaus das Zivilgesetzbuch von Venezuela (1862) und Uruguay (1868) beeinflußt (Zweigert/Kötz 1996: 113). Über die Bedeutung dieser Kodifikationen, bei denen ein früher französischer und später ein deutscher Einfluß ausgemacht wurden, gehen die Meinungen auseinander: Die einen gehen davon aus, daß die rationalistischen, utopischen und höchst individualistischen Werte der französischen Revolution, die die Freiheit des Vertragsabschlusses und die Bedeutung des Privatbesitzes hervorhoben, für Lateinamerika im 19. Jahrhundert nicht geeignet waren. Damit hätten sich die Zivilgesetzbücher vor allem auf die europäisch orientierte Oberschicht bezogen, weniger aber auf die gesamte Nation (Karst/Rosenn 1975: 47). Dagegen beurteilen andere die Kodifikationen des 19. Jahrhunderts als originären Beitrag und sehr viel positiver, zumal einzelne Staaten in Südamerika damals eine größere Stabilität aufgewiesen hätten als europäische Länder. Genannt werden dabei Brasilien im Vergleich zu Portugal und Chile im Vergleich zu Spanien (Bravo Lira 1992: 128). Der Widerspruch zwischen Verfassungen und Verfassungswirklichkeit zeigt sich in Lateinamerika also frühzeitig, denn die unabhängig gewordenen Staaten gaben sich moderne Verfassungen, die sich an den fortgeschrittensten Vorbildern orientierten. Die Kluft zwischen diesen fortschrittlichen Texten und einer rückständigen sozialen Wirklichkeit wurde bereits von den Anführern der Unabhängigkeitsbewegung erkannt. Simón Bolívar sprach von den "Traumrepubliken", die sich die Väter der Verfassungen vorgegaukelt hätten, und kritisierte besonders das föderative System, das in den auseinanderstrebenden Staaten fatale Folgen haben müsse. Und in einem Brief des argentinischen Generals und Befreiers San Martin vom September 1833 heißt es: "Ich bin fest überzeugt, daß die Übel, die die neuen Staaten Amerikas heimsuchen, nicht so sehr von ihren Bewohnern abhängen wie von ihren Verfassungen. Wenn diejenigen, die sich Gesetzgeber in Amerika nennen, vor Augen gehabt hätten, daß man den Völkern nicht die besten Gesetze geben soll, sondern die besten, die ihrem Charakter angepaßt sind, würde die Lage unseres Landes eine andere sein - aber sprechen wir darüber nicht weiter, denn es hieße, sich in ein unabsehbares Chaos zu begeben." (Brief 1833) Vor allem zwei Faktoren begrenzten die Wirkungskraft der neuen Verfassungen: Zum einen waren die notwendigen wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen, darunter die Existenz einer breiteren bürgerlichen Schicht, nicht vorhanden. Dieses Manko zeigte sich auch darin, daß der Mehrheit der Bevölkerung eine abstrakte Vorstellung vom Staat fehlte, was u.a. dazu beitrug, daß sie sich regionalen und später nationalen Caudillos (Anfuhrern) anschlössen. Zum anderen mangelte es - z.T. bis ins 20. Jahrhundert - an dem Bewußtsein, in einem Nationalstaat zu leben. Aufgrund dieser geringen gesellschaftlichen Integration waren die Verfassungen über weite Zeiträume nicht geeignet, das politische Leben zu strukturieren. Das Fehlen einer bürgerlichen oder zivilen 95

Gesellschaft ist als Grund für die Bedeutungslosigkeit des Rechtsstaates genannt worden. Gonzalbo (1995: 21 lf.) konstatiert in diesem Zusammenhang: "In Lateinamerika beschränkt die Gesellschaft den Staat in einer völlig anderen Art und Weise. Die Gesellschaft verhindert nämlich, daß die staatliche Herrschaft in unpersönlicher oder universeller, oder schlicht ausgedrückt, legaler Form Gestalt annimmt; das heißt, daß sie die Existenz des Rechtsstaates behindert. Und ein Fehlen der bürgerlichen Gesellschaft bedeutet gleichzeitig auch die Nichtexistenz des Staates, weil jeder Pol die Existenz des anderen bedingt". Der Grund für die geringe Wirkung der Verfassungen muß auch in den Texten selber gesucht werden. Sie zeichnen sich streckenweise durch eine hochfliegende Rhetorik aus sowie durch die Tatsache, daß Aussagen in die Konstitutionen übernommen wurden, die eigentlich in Regierungserklärungen gehören. Einige Verfassungen sind überlang; so besitzt etwa die Verfassung Uruguays von 1966, d.h. des kleinsten südamerikanischen Staates, ganze 332 Artikel. Andere Konstitutionen enthalten unrealisierbare oder von den jeweiligen Regierungen seit Jahrzehnten nicht eingelöste Versprechen - etwa die Ankündigung einer Agrarreform und eines Sozialstaates in der venezolanischen Verfassung von 1961. Bis in die 60er Jahre hatte es durchschnittlich alle sieben bis acht Monate eine neue Verfassung in Lateinamerika gegeben (Rasch 1970: 2). Auch wenn dieser Rhythmus seitdem deutlich nachgelassen hat, so manifestiert sich darin doch die Tendenz, die Verfassung nicht als Rechtsgrundlage, sondern als Machtinstrument zu betrachten. Die meisten Verfassungsänderungen erfolgten mit dem Ziel einer Amtszeitverlängerung, d.h. sie dienten dem sogenannten continuismo. Mit Änderungen der Verfassung wurde also nicht auf eine gewandelte gesellschaftliche und politische Situation reagiert, es standen vielmehr politische und persönliche Ambitionen des amtierenden Präsidenten im Vordergrund. Verfassungsänderungen mit dem Ziel einer zweiten Amtszeit unter den Präsidenten Fujimori in Peru 1993 und Menem in Argentinien 1994 belegen, daß dies auch noch in den 90er Jahren geschieht. Die Verfassung bildet nicht den einzigen Bezugsrahmen der Politik. Neben dem konstitutionellen steht der weite nicht-konstitutionelle Bereich der lateinamerikanischen Politik. Dazu gehören Militärputsche, die in der Vergangenheit häufig aus zivil-militärischen Allianzen hervorgingen, aber auch Gewaltpolitik, zu der ideologisch oder sozial motivierte Guerillabewegungen, aber auch solche Gruppen gehören können, denen es nur um Geländegewinne im politischen Raum geht, um danach in einen Verhandlungsprozeß mit der Regierung bzw. mit anderen Machtgruppen einzutreten. Zu solchen Gruppen gehören auch die Drogenmafia sowie diverse Kokainkartelle. Sie bauen damit eine Machtposition in einem Bereich auf, der sich außerhalb der Rechtsstaatlichkeit befindet, indessen gleichwohl von gewissen Regeln durchdrungen ist. In einem kleineren Maßstab gilt dies auch für Formen extra-legaler Herrschaft in den Armutsvier96

teln, teils durch malandros (Spitzbuben), teils durch andere Personen und Gruppen, wobei diese in ihrem Umfeld durchaus eine Ordnungs- und Schutzfunktion übernehmen können. Eine weitere Schwächung der Verfassungen hatte sich in der Vergangenheit aus der Dekretierung des estado de sitio, d.h. des Ausnahmezustands, ergeben. Nach Ansicht weiter Teile der lateinamerikanischen Bevölkerung schienen Verfassungen ohne größere Relevanz zu sein. Mit dem Nachlassen der politischen und ideologischen Gegensätze in Lateinamerika und als Folge der Tätigkeit von Menschenrechtsgruppen in den 80er Jahren hat hier jedoch ein Wandel eingesetzt. Häufig ist daraufhingewiesen worden, daß eine Änderung erst dann möglich sei, wenn der Gegensatz zwischen der unsozialen Wirklichkeit und den modernen Verfassungsinhalten abgebaut werden könne. Über das 20. Jahrhundert verteilt zeigt sich eine ungleichzeitige Entwicklung des Verhältnisses zwischen dem Staat auf der einen Seite und den sozialen und politischen Rechten der Bürger auf der anderen Seite. Bis Ende der 1920er Jahre, also des Zeitraums, den die Dependencia-Ansätzs als die "Entwicklung nach außen" bezeichnen, waren die liberalen Freiheitsrechte nur für einen Teil der Bevölkerung realisiert, gleichwohl gab es in der Endphase eine Ausdehnung auf die entstehenden Mittelschichten. Die Phase des Populismus zeigt seit den 1930er Jahren mit der "Entwicklung nach innen" eine Ausweitung und z.T. die erstmalige Durchsetzung sozialer Rechte "von oben". Mit der neuerlichen Hinwendung zur "Entwicklung nach außen" gewinnen die liberalen Rechte im Zuge der Globalisierung erneut einen höheren Stellenwert, ohne indessen schon eine allgemeine Verbindlichkeit zu erhalten. Soziale Aspekte der Bürgerschaft verlieren im Zeichen internationalen Wettbewerbs und der Öffnung nach außen zunächst an Bedeutung. Es ist nicht eindeutig, ob diese Veränderungen allein auf den Sinneswandel bei den politischen Eliten, d.h. sowohl der Regierung als auch von Teilen der Opposition, im Zuge der neueren Demokratiedebatte in Lateinamerika zurückgehen oder ob sie von einem erheblichen Teil der Bevölkerung mitgetragen werden, worauf neuere Umfrageergebnisse hindeuten (siehe Abschnitt III.). Zweifellos bedürfen moderne Bürgerrechte zu ihrer Absicherung der Durchsetzung des "Rule of Law" sowie eines Minimums an Konsens innerhalb der Gesellschaft (Whitehead 1994: 87f.).

II. Die Grenzen von Recht und Rechtsstaat Die Kluft zwischen Verfassung und Verfassungswirklichkeit ist in Lateinamerika immer markant gewesen. Ein häufig zitierter Satz lautet: "Man ehrt die Gesetze, aber man befolgt sie nicht". Oder in noch krasserer Form: "Für unsere Freunde alles, für Fremde nichts und für Feinde - das Gesetz!" Solche Äuße97

rungen verweisen darauf, daß die Rechtskultur in nicht wenigen Ländern eine andere Ausprägung angenommen hat als in Europa. Dies steht auch nicht im Widerspruch zu der Tradition legalistischen Denkens in Lateinamerika, welches durch Idealismus, Paternalismus, Formalismus, aber auch den Mangel an einer wirklichen Ausbreitung des Rechts gekennzeichnet war. Auch die Juristenausbildung ist bis in die Gegenwart stark formalistisch geprägt. Eine Betrachtung des politischen Stils und des Klientelismus populistischer Bewegungen nährt die Vermutung, daß die traditionellen Patron-KlientBeziehungen des 19. Jahrhunderts im Verlaufe des 20. Jahrhunderts auf den Staat als neuen Patron übertragen wurden. Eine Voraussetzung für den modernen Rechtsstaat, nämlich die Vorherrschaft von offenen marktwirtschaftlichen Beziehungen, ist in Lateinamerika ebenfalls nicht überall gegeben. Eine marktwirtschaftliche Ordnung kann nur dann funktionieren, wenn sich zum einen universalistische Regeln durchgesetzt haben und zum anderen die Sicherheit von Kauf und Verkauf gewährleistet ist, was angesichts der Rechtsunsicherheit in einigen Staaten nicht bzw. nur in eingeschränkter Form der Fall ist. Mit Blick auf die Funktionen und die Grenzen des Rechtes können wir in Anlehnung an Garzón Valdés (1993: 126f.) folgende zusammenfassende Feststellungen treffen: • In vielen Ländern regelt die aus der Verfassung hervorgegangene oder von de yácto-Regierungen erlassene Rechtsordnung in weiten Bereichen der sozialen Interaktion nicht die Erwartungen von Institutionen und Individuen. Dies bedeutet nicht, daß generell Zustände der Rechtlosigkeit herrschen. Selbst in Armutsvierteln, die zumeist durch einen illegalen Akt, d.h. die Besetzung, entstanden, berufen sich die Bewohner später auf die Gesetze. Bewohner von Armutsvierteln, die ein Haus errichtet haben, zeigen ein Interesse an der Gemeindeentwicklung und an Eigentumsformen (Karst 1973: 73f.). • Die verfassungsmäßige Rechtsordnung war über weite Strecken der lateinamerikanischen Geschichte nicht ausschlaggebend für die Handlungen der politischen Machthaber. In Zeiten von Militärdiktaturen wurde die politische Ordnung in Lateinamerika nicht von Verfassungen, sondern durch sogenannte "institutionelle bzw. konstitutionelle Akte" bestimmt. • In einzelnen Ländern (Kolumbien, Bolivien) löst sich die bestehende Rechtsordnung und Staatsautorität in einigen Gebieten aufgrund des Wirkens der Drogenkartelle und bewaffneter Machtgruppen auf. Nur mit Einschränkung läßt sich von einem staatlichen Gewaltmonopol sprechen. • Juristen und Richter in Lateinamerika haben somit einen schweren Stand, da sie praktisch ein Recht von nicht existierender Geltungskraft umsetzen und die Unterschiede zwischen verfassungsgemäß sanktioniertem Recht und dessen praktischer Anwendung bagatellisieren müssen. • Eine Reduzierung des Staates auf einen Minimalstaat bleibt für Lateinamerika eine problematische Angelegenheit, da der populistische und paternalisti98

sehe Staat mit all seinen Schwächen in mancher Hinsicht ein Anwalt der armen Bevölkerung geblieben ist. • Einzelne Bereiche des lateinamerikanischen Rechts bedürfen vordringlich einer Reform, was besonders für das Steuerrecht zutrifft. Auch wenn nach ersten Reformen das Steueraufkommen in den letzten Jahren gestiegen ist (Grabendorff 1997: 118), bleibt doch die Umgehung der Steuer vielerorts Volkssport; Verfahren wegen Fiskaldelikten werden zu fast 80% eingestellt (DSE 1996: 12). Die Liberalität des Gesellschaftsrechtes einzelner Länder erscheint Ausländern schon seit langem als ein Vorzug. So ist es seit vielen Jahren möglich, den statuarischen, nicht aber den effektiven Verwaltungssitz einer ausländischen Handelsgesellschaft nach Panama zu verlegen. Das Land ist auch wegen seines liberalen Schiffahrtsrechts und der Möglichkeit zur Gründung sogenannter Parallelgesellschaften beliebt. Welches sind nun mögliche Erklärungen für diese Befunde? Wir können zwischen solchen Ansätzen unterscheiden, die von der politischen Kultur bzw. der Tradition ausgehen, von entwicklungspolitischen bzw. ökonomischen Interpretationen und solchen, die das politische System und dessen Funktionsbedingungen betrachten. • Für die mangelnde Etablierung des Rechtsstaates in Lateinamerika haben einige Autoren auch (völker-)psychologische Momente ausgemacht. So sieht Morse (1974) die Gründe dafür in dem Erbe der patrimonialen politischen Kultur Spaniens, d. h. in der Tradition, Macht nicht zu delegieren, sondern gleichsam von einem Machtinhaber auf den nächsten zu übertragen. Von einem spezifisch iberischen Korporativismus wurde sogar ausgegangen, der das einzige politische Interpretationsmuster darstelle, das der lateinamerikanischen Tradition wirklich entspreche. Deshalb bilde Lateinamerika so etwas wie eine "Vierte Welt" mit einem eigenen Entwicklungsweg, der mit gängigen Erklärungsmodellen nicht zu begreifen sei (Wiarda 1974/75). Aus der spanischen Tradition heraus habe jeder Stand und jede "Klasse" seine eigenen Privilegien, Pflichten und seine Würde, weshalb die Justiz nicht auf einer egalitären Grundlage beruhe. Der Modernisierung der Gesetzestexte folge nicht in gleicher Weise die Modernisierung von Gesellschaft und Politik, bis in die Gegenwart fehle in den meisten Ländern ein funktionierendes Rechtssystem. Letztlich, so könnten die Aussagen zusammengefaßt werden, gelte der westliche Pluralismus auf dem Halbkontinent nur in eingeschränkter Weise. Eine Reihe von nordamerikanischen Autoren ging vor allem in Zeiten der Militärdiktaturen der 60er und 70er Jahre davon aus, daß die Verfassungen zumindest des 19. Jahrhunderts auf eine nicht demokratische Weise zustande gekommen seien und sich diese Tradition bis in die Gegenwart fortsetze. • Als Beleg für eine solche Sichtweise wurden auch die Erfahrungen mit der neueren Politik in Lateinamerika herangezogen. Der Präsidentialismus, die 99

Besetzung von Ämtern mit Familienangehörigen oder Vertrauensmännern (hombres de confianza) gelten als Hinweis darauf, daß die Politik dort nach anderen kulturellen Mustern verlaufe. Dem der Form nach liberal-demokratischen Rechtsstaat, wie er in Lateinamerika eingeführt wurde, fehle der politische Stil des modernen Menschen - so die Interpretation einer Reihe von modernisierungstheoretischen Arbeiten aus den USA. Diese einseitige Sichtweise spielte wiederum eine Rolle bei der Entstehung der DependenciaAnsätze, denen es ja auch - in Abgrenzung von den Modernisierungstheorien und vom desarrollismo - um eine Selbstvergewisserung und Identitätsfindung ging (Werz 1992: 7f.). • Wehner (1969) hatte, offenbar von einer soziokulturellen Bedingtheit des Rechts ausgehend, von dem "Konflikt zwischen spanischer und liberaler Staatsauffassung in Hispano-Amerika" gesprochen. Da die spanische Staatsidee wesentlich von der Scholastik geprägt war, hing die richtige Ausübung von Funktionen vornehmlich von der Katholizität ihrer Träger ab. Entscheidend war die Zusammenarbeit zwischen Krone und Kirche: "Der Mönch herrschte, der Conquistador regierte". Diese Konzeption war hierarchisch, im Gegensatz zur egalitären Auffassung des Liberalismus, allerdings wurde von einer Gleichheit vor Gott und der Vorstellung der Würde der unterschiedlichen Stände ausgegangen. Im Unterschied zur liberalen Staatsauffassung lag ihr der Gedanke der Einheitlichkeit und Ganzheit zugrunde, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts übrigens in abgewandelter Form im Populismus und bei Vertretern der Philosophie und Theologie der Befreiung auftaucht. Ein weiterer wesentlicher Unterschied lag lange Zeit darin, daß die persönliche Freiheit, die Presse- und Versammlungsfreiheit per Gesetz beschränkt werden konnten. Die Führer der Emanzipation und die landbesitzende Oligarchie "blieben ohne Verständnis für die Ideen des privaten Interesses und des privaten Wettbewerbs". Die von Wehner und anderen vertretene These, "alle Begriffe auf ihren eigenen spanischamerikanischen Gehalt" zu untersuchen, um so zu einem speziellen "Verständnis der Verfassungsentwicklung" zu gelangen, verliert im Zuge wirtschaftlicher und politischer Öffnung an Relevanz. In den 80er Jahren läßt sich eine starke Annäherung an das liberale Rechts- und Erziehungssystem des mittlerweile demokratisch regierten Spanien konstatieren. • Das Fehlen eines klar umrissenen und vor allem verbindlichen rechtsstaatlichen Rahmens ist auch unter entwicklungspolitischen und ökonomischen Gesichtspunkten ein Entwicklungshindernis für lateinamerikanische Schwellenländer. Als zugegebenermaßen krasses Beispiel sei hier die Privatisierung eines Teils der venezolanischen Ölrente angeführt: Die Erdölexporte seit 1973/74 belaufen sich auf über US $ 300 Mrd., nach Schätzungen liegen die Guthaben von Venezolanern im Ausland bei ca. US $ 100 Mrd. Angesichts der mangelnden institutionellen Absicherung von Märkten, selektiver Ver100

gäbe von staatlichen Krediten und Subventionen sowie einer 1996 knapp über 100% liegenden Inflation ist es aus der Sicht selbst von kleineren und mittleren Sparern ein durchaus "rationales" ökonomisches Verhalten, einen Teil des Geldes im Ausland anzulegen. Mit der Liberalisierung der Wirtschaft und dem Abbau von Außenhandelskontrollen verbindet sich die Hoffnung, etwas von dem Kapital könne ins Land zurückkehren. • Die Korruption, über deren Ursachen seit den 80er Jahren in Lateinamerika im Unterschied zur Vergangenheit, als sie gerne dem negativen Einfluß des Auslandes angelastet wurde, eine offene Diskussion stattfindet und die Anfang der 90er Jahre zur Amtsenthebung von gewählten Präsidenten in Brasilien, Ekuador und Venezuela führte, wird nun auch mit der unzureichenden Rechtspraxis in Verbindung gebracht. Als einer der ersten hat Carlos S. Nino (1992) darüber eine Studie zu Argentinien vorgelegt, das er "als ein Land am Rande des Gesetzes" bezeichnete. Nur durch die Beachtung institutioneller Regeln und den Versuch der Einhaltung gemeinsamer Normen sei eine Überwindung der "Anomie" möglich. Pritzl (1997: 64ff.) hat zu diesem Zusammenhang eine Untersuchung mit einem Ansatz der politischen Ökonomie verfaßt, in der er - im Unterschied zu nicht wenigen juristischen Studien - Lateinamerika etwas überzeichnend den autoritären politischen Systemen zuordnet. Als Merkmale der politischen Systeme konstatiert er: eine wenig ausgeprägte demokratische Kultur mit einer Tendenz zur De-Legalisierung, eine unzureichende staatliche Gewaltenteilung, die Instrumentalisierung des Rechtssystems zu Umverteilungszwecken und den Einsatz privater Gewalt als Mittel im gesellschaftlichen Verteilungskampf. Als Vorschläge für eine Einhaltung des Legalitätsprinzips werden genannt: bessere Kontrolle der richterlichen Ermessensentscheidungen, u.a. durch systematische Sammlung aller richterlichen Entscheidungen; die Einführung von Kronzeugenregelungen; die Umkehr der Beweislast in der Hinsicht, daß die Beschuldigten den Nachweis über die legale Herkunft ihres Vermögens zu erbringen hätten, um so einen staatlichen Zugriff auf die erhaltene Bestechungsleistung zu gewinnen; die Schaffung und den Ausbau von Richterschulen sowie die Veränderung von strafrechtlichen Bestimmungen (Pritzl 1997: 269f.). • Bis in die 80er Jahre gingen die modernisierungstheoretischen Ansätze von einem Konzept des nation-building aus, d.h. die nationale Integration sollte in dem Sinne abgeschlossen werden, daß Gesellschaft und Recht durch einen Modernisierungsprozeß in Übereinstimmung zueinander gebracht werden müssen. Lateinamerika ist in diesem Zusammenhang und wegen der Ungleichzeitigkeit seiner Entwicklung auch als "lebendiges Museum" (Anderson 1967) bezeichnet worden. Traditionelle Machteliten (Agraroligarchie), technokratische Militärs, revolutionäre Gruppen und reformorientierte Schichten aus scheinbar ganz unterschiedlichen Zeiten koexistieren demnach in den politischen Systemen mit101

einander, ohne sich gegenseitig auszuschalten. In einigen Staaten konnte sich aufgrund der Größe und/oder der mangelnden Bedeutung des Hinterlandes über längere Zeit eine Guerillabewegung in "befreiten Gebieten" etablieren (so in Venezuela in den 60er Jahren) oder - wie in Kolumbien - zu einem dauerhaften Akteur des politischen Systems werden. Insofern gleicht der Umgang mit der Guerilla im politischen System der Situation in manchen Armutsvierteln, in denen zu gewissen Tageszeiten Wegezoll erhoben wird. Der Vorgang ist zwar illegal, er folgt dennoch über weite Strecken ungeschriebenen "Gesetzen"; wer sich im Lande etwas auskennt, wird sich tunlichst an solche Regeln halten, um möglichst nicht in direkte Gefahr zu geraten. Wenn wir der Vorstellung von einem "lebendigen Museum" für einen Moment folgen möchten, dann heißt dies indessen nicht, daß es sich hierbei um eine "geschlossene Gesellschaft" handelt, in die niemand mehr Einlaß erhalten kann. Durch Putschversuche, durch den Gewinn von Machtanteilen in der Gesellschaft, und zwar auch mit außerlegalen Mitteln, oder aber durch Integration und Kooptation sind neue Machtträger bzw. Sozialschichten zu dem bisherigen Kartell der Eliteninhaber dazugestoßen. Dies bedeutet im Ergebnis, daß im politischen Prozeß nicht alte durch neue Schichten ausgeschaltet wurden, sondern daß neue Kräfte und Ideen in das tradierte System integriert und kooptiert wurden. Die Hoffnungen auf eine Überwindung der Kluft zwischen Verfassung und Verfassungswirklichkeit mit Hilfe von ökonomischen Modernisierungsprozessen sind zum Ausgang des 20. Jahrhunderts nicht mehr so groß wie noch bei den Modemisierungstheoretikern in den 60er Jahren. Realistischerweise muß davon ausgegangen werden, daß auch in Zukunft "Unsicherheit als Alltagserfahrung" (Waldmann 1980) zum Leben der meisten Lateinamerikaner gehören dürfte. Hinzu kommt, daß mittlerweile nicht nur in Lateinamerika, sondern weltweit eine Entwicklung "vom formalen Rechtsstaat zum informalen Verhandlungsstaat" (Röhl 1987: 558) begonnen hat. Die lateinamerikanische Bevölkerung hat Verhaltensweisen entwickelt, um auf die Rechtsunsicherheit zu reagieren. Da Bestechung und Korruption das Recht aufgeweicht haben (Waldmann 1980: 34), müssen für normale Amtshandlungen teilweise Entgelte entrichtet werden. Eine Folge davon ist die Tendenz, die Gerichte gar nicht erst anzurufen, wenn wenig Aussicht besteht, zu einer objektiven Regelung zu gelangen. Darüber hinaus wird der Kontakt mit der Polizei auf das unbedingt Notwendige begrenzt. Das mangelnde Funktionieren eines sozialen Rechtsstaats ist auch ein Grund für die große Bedeutung familiären Zusammenhalts und freundschaftlicher Verbindungen. Sie bilden eine Art Institutionenersatz und bewähren sich in Risikofällen.

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III. Anmerkungen zu Umfragen zum Justizsystem Umfragen in Lateinamerika zeigen, daß die Kritik am politischen System wächst, der Glaube an die Demokratie aber nach wie vor vorhanden ist. Auffällig ist der Wunsch nach Stabilität und nach politischer Führung (liderazgo). Gleichzeitig sind die Vorbehalte gegenüber den Auslandsinvestitionen im Unterschied zu früher gesunken. Durch das Latinobarometer ist mittlerweile ein Vergleich mit Europa möglich. Erste Vergleiche zeigen, daß es gewisse Ähnlichkeiten zwischen den Lateinamerikanern und den Lateineuropäern gibt. Das Thema kann hier nicht vertieft werden. Für unsere Fragestellung aufschlußreich und alarmierend ist die Tatsache, daß das Vertrauen in die Justiz gering ist, wobei ähnliches auch für den Glauben an die Ehrlichkeit der Wahlergebnisse gilt. Betrachten wir zunächst ausgewählte Ergebnisse des Latinobarometers von 1996 zum Vertrauen in die Justiz (siehe nachfolgende Tabelle). Nur in einem Land, nämlich Uruguay, überwiegt überhaupt das Vertrauen in die Justiz gegenüber den negativen Werten. In allen anderen Ländern besteht wenig Vertrauen in die Justiz. Besonders schlechte Ergebnisse - auch im internationalen Vergleich - erzielt Venezuela, wo immerhin seit 1958 demokratisch gewählte Präsidenten regieren (Schaubild 1). Die Ergebnisse haben auch mit den katastrophalen Zuständen zu tun, die seit langem in venezolanischen Gefangnissen herrschen und jedes Jahr zu Gefängnisrevolten fuhren. Vertrauen in das Justizwesen Land

viel

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kein

Argentinien Brasilien Chile Mexiko Paraguay Peru Uruguay Venezuela

5,8 18,2 8,9 4,5 6,1 6,0 21,4 12,7

27,8 20,6 30,6 28,5 27,6 20,1 30,9 16,1

23,5 22,8 20,0 23,0 23,2 31,3 15,0 37,8

38,6 33,6 38,1 40,8 34,6 39,3 26,5 31,3

weil! nicht ...

4,5 1,7 2,3 5,1 2,7 4,7 1,7

keine Antwort 4,4 0,4 0,7 0,9 3,4 0,6 1,5 0,6

Quelle: Latinobarometer 1996

Umfragen zeigen, daß der Eindruck einer Krise des Justizsystems in Lateinamerika in den 80er Jahren zugenommen hat. Im Prozeß der Re-Demokratisierung zeigten sich politische Schwachstellen und Übergriffe, die marktwirtschaftliche Öffnung machte Regelungsschwächen offenkundig. Darüber hinaus stellen die anhaltenden Urbanisierungsprozesse und das Wachstum von Ar103

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mutsvierteln das Recht auf die Probe. Besondere Vorbehalte mit Blick auf die Funktionsfähigkeit des Justizsystems kommen aus der Unternehmerschaft. Nach einer Untersuchung des "World Competitiveness Report" von 1994, die das Vertrauen in die Justiz in 35 Ländern analysiert, rangieren die lateinamerikanischen Länder mit Ausnahme Chiles unter den letzten 15%. Über 60% der Unternehmen in allen lateinamerikanischen Ländern sind der Ansicht, daß das Justizsystem defizient sei (Buscaglia 1997: 76f.). Viele Menschen zeigen wenig Neigung, Rechtsstreitigkeiten vor Gerichte zu bringen, da sie wissen, daß das System langsam, unsicher, teuer und von schlechter Qualität ist. Weit verbreitet ist die Ansicht einer Korruption der Gerichte und der Neigung nicht weniger Mitarbeiter des Justizsystems, sich zusätzliche Nebeneinnahmen zu verschaffen.

IV. Abschließende Bemerkungen in vergleichender Perspektive Aussagen zur Entwicklung des Rechtsstaates in Lateinamerika in vergleichender Perspektive sind schwierig. Zum einen ist fraglich, ob wir dort von einem Rechtsstaat sprechen können - zumindest bestehen neben dem offiziellen Recht noch andere Regulationsmechanismen, und die Unterschichten haben in den meisten Ländern nicht die Möglichkeit, zu ihrem Recht zu gelangen. Dennoch ist ein Rechtsvergleich zwischen Europa und Lateinamerika eher möglich als mit anderen Regionen der sogenannten Dritten Welt, er wird vor allem von englischsprachigen Autoren vorgenommen (Merryman/Clark 1978). So stellt sich etwa die Frage des "Zusammenpralls endogener und rezipierter Rechtsvorstellungen" (Bryde 1986: 23) in Lateinamerika nach langer Kolonialzeit und früher Unabhängigkeit kaum, während dies etwa in Afrika durchaus ein Problem ist. Nur in wenigen Ländern spielen indianische Rechtstraditionen noch eine Rolle (z.B. in Bolivien, Ekuador, Mexiko und Peru). Im Hinblick auf eine Rechtsvergleichung - wobei fraglich ist, ob das gängige rechtsvergleichende Instrumentarium die komplizierten Wirklichkeiten tatsächlich abbilden kann (Grossfeld 1984) - stellt Lateinamerika als "ein fortgeschrittenes Modell für Rechtssysteme" sogar Anschauungsmaterial für ein mögliches, wenn auch nicht unbedingt erwünschtes Ergebnis der Modernisierung von Rechtssystemen in der sogenannten Dritten Welt dar: "die Verdrängung einheimischer Rechtskulturen, ohne daß aber die modernen Rechtssysteme die Bedürfnisse der Masse der Bevölkerung befriedigen können" (Bryde 1997: 456). Allerdings sollte der Vergleich nicht zu übertriebenen Erwartungen im Hinblick auf eine Übertragung europäischer Rechtssysteme fuhren. Das Scheitern der in den 60er Jahren trotz großen Aufwandes begonnenen "Law-andDevelopment"-Bewegung (Samtleben 1987: 479) aus den USA mag hier als ein warnendes Beispiel für die Grenzen des Gesetzgebungsexportes gelten. Die 105

nordamerikanische Hilfe sei "ethnocentric and illinformed" gewesen und trotz eines hohen Einsatzes der "legal missionaries" im Ergebnis enttäuschend (Gardner 1980: 283). Beim Blick auf die Entwicklung des Rechtsstaates in Lateinamerika überwiegen trotz diverser Fortschritte in den vergangenen Jahren also noch die Fragezeichen. Ein wichtiger Impuls für Veränderungen kann von der versuchten Aufarbeitung der Verbrechen der Militärdiktaturen durch einige südamerikanische Regierungen ausgehen. Im wissenschaftlichen Austausch z.B. mit Argentinien und Chile spielt auch die Frage nach der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und den Hinterlassenschaften von zwei Diktaturen in Deutschland eine Rolle. Goldhagen hat in seiner Rede zum Demokratiepreis 1997 sogar von einem "Modell Bundesrepublik" gesprochen, wo es durch Druck von außen, die direkte Beteiligung Außenstehender und den intellektuellen Einfluß nichtdeutscher Sichtweisen gelungen sei, zu einer "Internationalisierung deutscher Nationalgeschichtsschreibung" (Goldhagen 1997: 430) beizutragen. Dar Vergleich zwischen Deutschland und Lateinamerika soll hier nicht überzogen werden, aber es ist doch bemerkenswert, daß seit den 80er Jahren in verschiedenen Ländern Südamerikas eine Revision der bisherigen Geschichts- und Sozialkundebücher erfolgte, neue Schulgesetze diskutiert werden (Cajiao R. 1995: 146ff.) und in einigen Staaten über Formen der politischen Bildung nachgedacht wird. Im Hinblick auf eine Stabilisierung demokratischer Herrschaftsformen und die Förderung rechtsstaatlicher Einstellungen liegt hier eine wichtige Ressource. Bestandteil einer Reform des Rechtsstaates muß eine Anpassung an die veränderten internationalen und ökonomischen Rahmenbedingungen sein. Außer der von Kolumbien (1991) und von Argentinien (1994) weisen alle Verfassungen einen nationalistischen Grundzug auf, der supranationalen Regelungen im Wege stehen kann. Um den Rechtsstaat in Lateinamerika durchzusetzen, müßte zum einen eine Dezentralisierung erfolgen, zum andern müßten aber die Behörden finanziell besser ausgestattet werden, um die Rechtsprechung zu verbessern und damit den Rechtsstaat zu stärken (Brewer-Carias 1997: 210). Ansätze sind durchaus vorhanden: So wurden etwa in Bolivien ein unabhängiges Verfassungsgericht sowie die Institution eines Ombudsmanns geschaffen (Birle 1997: 107). Nach einem gewalttätigen Jahrhundert der Diktaturen stehen wir an seinem Ende erst am Anfang der vergleichenden Untersuchungen zum Rechtsstaat. Wenn wir diese Aufgabe als eine Art "Projekt" und damit als Aufgabe begreifen, ohne dabei in den in Lateinamerika in der Vergangenheit verbreiteten "proyectismo" zu verfallen, dann bleibt die Hoffnung, daß wir zumindest in unseren Fragestellungen aus Erfahrung klüger geworden sind.

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Ernesto Garzón Valdés

Rechtsphilosophische Überlegungen über Verfassungsreformen in Lateinamerika Im folgenden werde ich vier Aspekte der rechtlichen und politischen Realität in Lateinamerika beleuchten. Angesichts dieser Befunde möchte ich zu größerer Vorsicht hinsichtlich der Erfolgserwartungen fiir die Verfassungsreformen plädieren, wie sie nach der Wiedererlangung der Demokratie in einigen Ländern der Region in Angriff genommen wurden.

I. Verfassungsleidenschaft Es ist nicht allzu gewagt zu behaupten, daß es in Lateinamerika zwei widersprüchliche Einstellungen mit einer langen Tradition gibt: einerseits ein enormes Vertrauen in die Verfassung, die als einer der wichtigsten Faktoren für die Regulierung des sozialen Lebens angesehen wird, und andererseits die Überzeugung, daß der bestehende Bruch zwischen Rechtsordnung und sozialer Wirklichkeit kein Anlaß zur Beunruhigung ist. Dieser Bruch wird statt dessen als eine zwar mehr oder weniger bedauerliche, aber ziemlich unbedeutende Tatsache angesehen. Die Rechtswissenschaftler widmen sich entweder der Erforschung der gesetzten Nonnen, als ob diese tatsächlich wirksam wären 1 , oder sie entwerfen - in enger Zusammenarbeit mit Politikern - Änderungen der bestehenden Verfassungen oder sogar ganz neue Rechtsordnungen. Nehmen wir als Beispiel den Fall Argentinien. Die sogenannte Periode der nationalen Organisation begann in Argentinien nach der Schlacht von Caseros (1852), die dem nationalcaudillistischen Regime von Juan Manuel de Rosas ein Ende setzte. Die wichtigste Folge aus rechtsinstitutioneller Sicht war die Verabschiedung der Verfassung von 1853. Nichts könnte die damalige Diskrepanz Manche Autoren (so etwa Wiarda 1974: 283) halten diese Kluft sogar für ein positives Merkmal, da sie eine gewisse "flexibility with respect to reality" bedeute.

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zwischen der erlassenen Verfassungsordnung und der Realität des Landes besser illustrieren als ein Blick auf die theoretischen Vorläufer dieser Verfassung. Das theoretisch wichtigste Dokument in diesem Zusammenhang ist zweifellos Juan Bautista Alberdis Schrift über die "Grundlagen und Ausgangspunkte für die politische Organisation der Republik Argentinien, abgeleitet aus dem Gesetz, das der Entwicklung der Zivilisation in Südamerika zugrunde liegt" (Alberdi 1852). Alberdi verschweigt allerdings nicht, daß das von ihm vorgeschlagene institutionelle Modell auf die gegebene soziale Wirklichkeit Argentiniens nicht paßte. Die Alternative war also, entweder das Modell aufzugeben oder das Land zu verändern. Er wählte letzteres. Da die ethnische Struktur Argentiniens nicht dafür geeignet sei, ein fortgeschrittenes Institutionenmodell zu übernehmen, dieses aber durchgesetzt werden müsse, um das "oberste und höchste Gesetz der Entwicklung der christlichen und modernen Zivilisation" (Alberdi 1852, VIII) zu erfüllen, müsse man die modernisierende Wirkung der Verfassung durch eine entsprechende Veränderung der Bevölkerungsstruktur unterstützen. Diese Auffassung, daß Spanier und Kreolen - und vor allem natürlich die Indios - für eine moderne Entwicklung nicht taugen, wurde etwa um dieselbe Zeit auch von einem anderen großen argentinischen Schriftsteller und Staatsmann, Domingo Faustino Sarmiento (1845), in seinem Buch "Facundo - Zivilisation und Barbarei", das als eine der ersten soziologischen Studien des lateinamerikanischen Kontinents angesehen werden kann, mehrfach geäußert. Und auch politische Denker in Lateinamerika, die den blinden Glauben an die Übertragbarkeit anderswo bewährter Verfassungsmodelle mit Skepsis betrachteten, nahmen schon im 19. Jahrhundert die Diskrepanz zwischen Verfassungsordnung und sozialer Realität deutlich wahr. So stellte etwa José Marti (1982: 58) unmißverständlich fest: "Nicht das entstehende Land, das auf seine Bedürfnisse abgestimmte Formen und eine ihm nützliche Größe verlangt, ist unfähig; unfähig ist vielmehr, wer ursprüngliche Völker [...] mit Gesetzen regieren will, die ein Erbstück von vier Jahrhunderten freier Anwendung in den Vereinigten Staaten und von neunzehn Jahrhunderten Monarchie in Frankreich sind. Mit einem Dekret Hamiltons in der Hand kann man des Tiefländers Fohlen nicht zügeln. Mit einem Satz von Sieyès auf den Lippen kann man das dickflüssige Blut der indianischen Rasse nicht in Wallung bringen. Wollen die Politiker gut regieren, so haben sie sich um die tatsächlichen Verhältnisse in ihrem Staat zu kümmern; denn ein guter Staatsmann ist in Amerika nicht, wer Deutsche oder Franzosen gut zu regieren versteht, sondern wer sich der Zusammensetzung seines Landes bewußt ist und weiß, wie er alle Kräfte einen und lenken kann, um mit Hilfe von Methoden und Institutionen, die aus dem Land selbst stammen, zu jenem erstrebenswerten Staat zu gelangen, in dem jeder Mensch sich kennt und seine Rechte und Pflichten wahrnimmt [...] Die geistige Grundlage der Regierung muß aus dem Lande selbst stammen. Die Regierungs111

form muß sich der dem Lande eigenen Struktur anpassen." Und in deutlicher Anspielung auf Sarmientos Gegensatzpaar fugt er hinzu: "Die Schlacht tobt nicht zwischen Zivilisation und Barbarei, sondern zwischen falscher Gelehrsamkeit und der Natur" (Marti 1982: 59). Im allgemeinen jedoch setzte sich der Glaube an die Gestaltungsmacht der Verfassung durch. Und was hier zum Fall Argentinien gesagt wurde, läßt sich mutatis mutandis auch auf andere lateinamerikanische Länder übertragen. Bei José Galväo de Souza (1967: 63) etwa heißt es dazu: "Die Verfassungsstruktur Brasiliens und der Völker Hispanoamerikas macht auf beredte Weise [...] den Konflikt zwischen dem Recht, wie es von den regierenden Minderheiten ausgearbeitet wurde, und den vom Volk gelebten Beziehungen auf dem Weg des historischen Fortschreitens einer jeden Nation deutlich. So wurde die historische Verfassung und ihr institutionelles Erbe geleugnet, das doch so reich ist an Elementen, die sich für die Schaffung einer demokratischen Staatsform eignen würden, die dann eine Authentizität besäße, wie sie sich unmöglich in an den Erfahrungen anderer Länder - speziell der USA - orientierten Institutionen finden läßt." Zweifellos hatten die "Väter" dieser Verfassungen einen unerschütterlichen Glauben an das Recht; aber ebenso steht außer Zweifel, daß die Verfassungen der Wirklichkeit nicht gerecht wurden, und daß diese Diskrepanz zwischen normativer Ordnung und Wirklichkeit zu einer Quelle schwerer politischer und sozialer Probleme wurde. Wie die folgende Einschätzung illustriert, ist diese Haltung historisch tief verwurzelt: "Der Verfassungsglaube war von Anfang an fast eine Obsession. [...] Die Prinzipien schienen solide, unbestreitbar, universal. Nur wenige Stimmen - eigentlich gar keine - erhoben Einwände dagegen. Lediglich die soziale und wirtschaftliche Realität mit ihren urwüchsigen und konfliktiven materiellen Forderungen, die den doktrinären Rahmen sprengten, lief ihnen zuwider. So entwickelte sich neben dem Verfassungsglauben nach und nach eine pragmatische politische Mentalität, die schließlich dahin fuhren mußte, daß sie die Diktatur jedes beliebigen Akteurs rechtfertigte, der nur stark genug war und genügend Autorität besaß, um Ruhe und Ordnung zu gewährleisten, indem er die Konflikte, die konkreten, widerstreitenden Interessen und Erwartungen entsprangen, autoritativ löste" (Romero 1977: XXVIIf.). Diese eigentlich auf das 19. Jahrhundert gemünzte Beschreibung gilt, wie man leider feststellen muß, auch am Ende des 20. Jahrhunderts unverändert für viele Bereiche des lateinamerikanischen Rechts- und Verfassungslebens. Schließlich ist auch das aktuelle Bemühen um eine Verfassungsreform in vielen Ländern Südamerikas nichts anderes als ein Ausdruck des Glaubens an die legitimierende Kraft der Verfassung2. Im November 1990 veröffentlichte z. B. die 2

Vgl. aus der Fülle an Literatur zu diesem Thema speziell zum Fall Argentinien die Veröffentlichungen des Consejo para la Consolidación de la Democracia (Rat zur Konsolidierung der Demokratie) 1986/87 und 1988.

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kolumbianische Regierung ein Dokument mit dem Titel "Überlegungen zu einer neuen Verfassung" (Reflexiones para una nueva Constitución). Die darin formulierten "Überlegungen" zur Rolle der Verfassung als Instrument gegen eine "Erosion der Legitimität" sind völlig richtig. Es ist unbestreitbar, daß eine Verfassungsordnung, die den Rahmen einer partizipatorischen Demokratie festsetzt, eine notwendige Bedingung fur die friedliche Weiterentwicklung der lateinamerikanischen Gesellschaften ist. Die Frage ist jedoch, ob sie angesichts der sozialen und ökonomischen Situation dieser Länder auch eine hinreichende Bedingung ist. So scheint es auch das erwähnte Dokument zu sehen, wenn dort gesagt wird: "Mit der Definition der Rechte der Kolumbianer in einem Gesetzestext ist selbstverständlich noch nicht deren wirksamer Schutz garantiert. Aber sie ist der erste Schritt dazu, daß sich die Kolumbianer diese Verfassung, die ihnen heute noch fremd und unverständlich erscheint, allmählich zu eigen machen" (Presidencia de la República 1990: 4). In einem Land wie Kolumbien, in dem fünf Armeen unterschiedlicher ideologischer Ausrichtung (die staatlichen Streitkräfte, die der Drogenhändler, zwei Guerilla-Armeen und die der Großgrundbesitzer) operieren, kann es kaum überraschen, daß der verfassungsmäßige Rahmen dem normalen Bürger "fremd und unverständlich" ist. Diese Fremdheit und Unverständlichkeit läßt sich ganz ohne Zweifel zu einem großen Teil auf die unzureichende Wirksamkeit der Verfassungen zurückführen.

II. Die unzureichende Wirksamkeit der Verfassungen Um das Problem der Wirksamkeit etwas näher zu betrachten, will ich mich im folgenden auf drei Fälle konzentrieren, die mir paradigmatisch erscheinen: nämlich Bolivien, Mexiko und Argentinien. Bolivien hat von 1825 bis 1957 - also in 132 Jahren - mit 14 unterschiedlichen Verfassungen gelebt, und in den 100 Jahren zwischen 1825 und 1925 hat das Land 190 Umsturzbewegungen (Verschwörungen, Putsche, Revolten, Aufstände, Revolutionen ...) durchgemacht (vgl. Trigo 1958: 61). Der bolivianische Verfassungsrechtler Ciro Félix Trigo (1958: 48f.) hat dazu festgestellt: "Selbst ein oberflächlicher Blick auf Verfassungstheorie und -Wirklichkeit zeigt deutlich das notorische Ungleichgewicht der beiden. Die Diskrepanz zwischen dem, was das Gesetz sagt, und dem, was in seinem Namen - oder auch, ohne es zu berücksichtigen - getan wird, [ist immens groß]. Alte Sitten, unausrottbare Gewohnheiten und eine schwache oder gar nicht vorhandene 'civic culture' wirken der korrekten Anwendung der Grundnormen entgegen. Die Tradition der Haltung der Autoritäten gegenüber den Gesetzen, die der spanische König für Westindien erlassen hatte, erweist sich im übrigen als ein schweres Erbe. Diese 113

Haltung läßt sich in der Maxime zusammenfassen 'Anerkennung ja, Gehorsam nein'. Leider kann man auch heute noch sagen, daß die Verfassung zwar anerkannt, ihr aber nur zum Teil und sporadisch gehorcht wird." Man kann daher wohl ohne weiteres behaupten, daß "[...] in Bolivien die Verfassungen - egal, ob sie gut oder schlecht waren - weder ein Bollwerk der Autorität noch einen revolutionären Vorstoß darstellten; eine Regierung nach der anderen stürzte durch Komplotts gesellschaftlicher, politischer oder militärischer Kräfte, die unter der Verfassung, über sie hinweg oder gar mit ihrer Hilfe zustande kamen" (Trigo 1958: 100). Im vergangenen Jahrzehnt ist Bolivien zu einem der Länder geworden, die von der Drogenmafia beherrscht werden. Der Umsatz im Drogensektor ist inzwischen höher als die gesamten Staatseinnahmen. Der international anerkannte Rechtstheoretiker Carlos S. Nino, der inbrünstig an die Gestaltungskraft von Verfassungen glaubte, verlor buchstäblich im Einsatz für eine neue bolivianische Verfassung sein Leben - und zwar zur gleichen Zeit, als die Drogenbosse anboten, die Auslandsschulden des Staates zu begleichen, wenn man sie dafür in Ruhe ließe. Man könnte daher meinen, daß es bezüglich eines Landes, das so viele Revolten und Staatsstreiche erlebt hat und solchen wirtschaftlichen Pressionen ausgesetzt ist, kaum Sinn macht, von einer Beziehung zwischen Verfassung und Realität zu sprechen, und daß es daher angemessener wäre, ein Land mit größerer politischer Ruhe und einer lange Zeit unveränderten Verfassung zu betrachten. In Lateinamerika ist das beste Beispiel dieser Art wohl Mexiko: Die mexikanische Verfassung, die 1917 in Kraft trat und bis heute gültig ist, war zur Zeit ihrer Verabschiedung eine der modernsten Verfassungen der Welt, denn sie begründete einen rechtsstaatlichen Sozialstaat. Und seit 1930 haben in Mexiko alle Präsidenten ihre Amtszeit auch verfassungsgemäß beendet. Betrachtet man die mexikanische Verfassungs- und Rechtswirklichkeit jedoch etwas genauer, dann liegt die Schlußfolgerung nicht allzu fern, daß das von Mario Vargas Llosa (1994) geprägte Etikett von der "perfekten Diktatur" entscheidende Aspekte der rechtlichen und politischen Realität des Landes völlig korrekt zusammenfaßt. Bezeichnend in diesem Zusammenhang ist, daß in einer Reihe von Dokumenten der zapatistischen Bewegung von Chiapas als ein Grund für den Aufstand die mangelnde Umsetzung einer Verfassung genannt wird, auf die sich die Zapatisten wieder und wieder berufen. Einige Zitate mögen dies illustrieren: "[N]achdem wir alles versucht haben, um der auf unsere Magna Charta gegründeten Legalität Geltung zu verschaffen, nehmen wir als letzte Hoffnung Zuflucht zu ihr, zu unserer Verfassung, [...] in treuer Verbundenheit mit unserer Verfassung [...] fordern wir die anderen Gewalten der Nation auf, die Wiederherstellung der Legalität zu betreiben. [...] Unser Kampf dient dem Verfassungsrecht [...]" (Declaración de la Selva Lancandona von 1993, abgedruckt in: 114

Chiapas 1994: 22). Im Februar 1994 bemerkte der Bischof von Chiapas, Samuel Ruiz, dazu: "Der Bewegung von Chiapas geht es weniger um die Machtübernahme als vielmehr darum, bei der Staatsmacht darauf hinzuwirken, daß diese ein demokratisches Regime errichtet" (vgl. González Casanova 1994: 5). Eine Verfassungsänderung im Jahre 1992 fugte der mexikanischen Verfassung einen neuen Artikel 4 hinzu, der mit Bezug auf die indigene Bevölkerung vorschreibt: "[D]as Gesetz schützt und fördert die Entwicklung ihrer [...] Kulturen, Sitten und Gebräuche. [...] Bei ländlichen Gerichtsverfahren und Verwaltungsakten, an denen sie beteiligt sind, werden ihre rechtlichen Sitten und Gebräuche nach Maßgabe des Gesetzes berücksichtigt." Ein Großteil der aktuellen Konflikte zwischen der mexikanischen Regierung und den Indiogemeinschaften in Chiapas und Guerrero entspringt gerade der mangelnden Umsetzung dieser Verfassungsnorm. Wiederum aber könnte jemand kommen und sagen, die mexikanischen Probleme seien nicht einschlägig, da Mexiko wegen der Heterogenität seiner Bevölkerung (nach Angaben von Anthropologen gibt es 56 verschiedene ethnische Gruppen) ein Sonderfall sei, der auch besondere Behandlung verlange. Demnach wäre vielleicht Argentinien, dessen Bevölkerung ethnisch sehr viel homogener ist als die der Vereinigten Staaten, ein interessanterer Fall. Wie ich gleich zeigen werde, ist jedoch das Bild in Argentinien leider auch nicht sehr viel ermutigender. Immerhin war fast ein Drittel der Lebenszeit dieser Republik seit Erlangung der Unabhängigkeit von De-facto-Regierungen geprägt. Für unsere Zwecke ist dabei interessant, daß der Oberste Gerichtshof solchen De-jüc/o-Regierungen einen ähnlichen Rechtsstatus eingeräumt hat wie rechtmäßigen Regierungen, was hinsichtlich der Rolle der Verfassung als höchster Norm zu ziemlichem Chaos geführt hat. Einige Beispiele mögen dies erläutern: Am 6. September 1930 beendete ein Militärputsch die erste liberale Demokratie Argentiniens. Bemerkenswert ist die Haltung des Obersten Gerichtshofs dazu: Am 10. September jenes Jahres bestätigt das Gericht den Eingang eines Schreibens der neuen Regierung. In der Notiz erkennt das Gericht die De-factoRegierung an und kündigt lediglich an, es werde die Einhaltung der Verfassung (auf die sich die neue Regierung selbst berufen hatte) ebenso kontrollieren, wie es dies bei einer verfassungsmäßigen Regierung auch tun würde. Einige Jahre später (1933) erweiterte das Gericht die Kompetenzen der De-^icto-Regierung und gewährte ihr das Recht, Verordnungen mit Gesetzesrang (decreto leyes) zu erlassen, also gesetzgeberische Funktionen zu übernehmen (Nino 1992a: 131). Die Neigung, De-^äcto-Regierungen mit umfangreichen Kompetenzen auszustatten, wurde in Argentinien fast ein halbes Jahrhundert lang beibehalten. Unter den Militärregierungen von 1955, 1966 und 1976 wurde die dafür erforderliche Linientreue des Obersten Gerichtshofs dadurch sichergestellt, daß man die Richter gegen neue, "verläßlichere" austauschte. Diese Politik des Austau115

sches von Richtern ist aber selbstverständlich keine rein argentinische Spezialität. Wie schon Victor Alba (1969: 346) bemerkte: "One of the first things many dictators do is to appoint new justices to the supreme court" (zum Fall Chile vgl. etwa Alexander 1978: 349; für Brasilien: Schneider 1971: 275; für Guatemala: Rosenthal 1962: 247). Nach der Wiedererlangung der Demokratie wußte aber auch schon die zweite aus freien Wahlen hervorgegangene Regierung - die von Carlos Menem - die judikative Gewalt dem Willen der Exekutive unterzuordnen. Man wählte dafür eine andere einfache, aber wirksame Methode: die der Vergrößerung des Gerichts und der Besetzung der neuen Stellen mit politisch genehmen Richtern. Und so brauchte der argentinische Kongreß am 5. April 1990 ganze 41 Sekunden (Verbitsky 1993: 49), um die Vergrößerung des Gerichtshofs von fünf auf neun Richter zu beschließen; nur zwei Wochen später, am 19. April, wurden dann in einer geheimen Senatssitzung, die nur etwa sieben Minuten dauerte, und in Abwesenheit der Opposition fünf neue Richter bestimmt: allesamt Vertraute Menems 3 . Jorge Bacqué, der wegen dieser Vergrößerung des Gerichts von seinem Richteramt zurücktrat, bemerkte damals dazu: "[W]enn man einem Gericht, das aus vier Mitgliedern besteht, fünf neue einverleibt, dann heißt das, daß man eine Mehrheit installiert. Die Rechtssicherheit nimmt dadurch ab" (zit. nach Verbitsky 1993: 60f.). Selbstverständlich war auch die Idee, die Anzahl der Richter am Obersten Gerichtshof zu erhöhen, in Lateinamerika keineswegs neu. In Brasilien bestimmte Castelo Branco 1965 fünf neue Richter und erhöhte damit die Gesamtzahl der Mitglieder des Gerichtshofs auf sechzehn. Ein Erlaß (Acta Institucional N" 2) ermächtigte den Präsidenten zur Vergrößerung des Gerichts und untersagte diesem zugleich jede Einmischung in die Handlungsweise der Militärregierung. 1968 wurden drei Richter ihrer Ämter enthoben, ein anderer wurde in den vorzeitigen Ruhestand geschickt, und der Präsident des Gerichts trat zurück. Im Februar 1969 beschränkte ein weiterer Erlaß (Acta Institucional N° 6) die Kompetenz des Gerichtshofs. Insgesamt erreichte man damit letztlich die vollkommene Unterordnung der rechtsprechenden Gewalt unter die Exekutive. Bemerkenswert ist, daß sich alle diese Maßnahmen im Rahmen der institutionellen Vorgaben von Rechtsvorschriften (eben der genannten Actas) bewegten. Die Politik der Militärregierung sollte dadurch ein Mäntelchen der Legalität erhalten: Keineswegs sollte der Eindruck erweckt werden, man verfahre willkürlich. In Argentinien wurden mit Zustimmung des neu konfigurierten Obersten Gerichtshofs Änderungen in der Zusammensetzung anderer Gerichte sowie weiterer Institutionen zur Kontrolle der Exekutive - wie z. B. der Finanzaufsicht, der Justizaufsicht, dem Rechnungshof, der Bundesanwaltschaft in Ver-

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Es waren filnf neue Richter, weil neben den vier neugeschaffenen Sitzen auch die Vakanz zu füllen war, die durch den Rücktritt von Richter Jorge Bacqug entstanden war.

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waltungssachen und der Aufsicht über die staatlichen Betriebe - vorgenommen. Für einen "weitsichtigen" Politiker ist natürlich eine Politik, die für eine wohlwollende Justiz sorgt, durchaus ein Gebot der Klugheit: "Carlos Menem ist ein vorausschauender Politiker. Schon 1993 hatte er begriffen, daß eine erste Bewertung seiner Regierung von den Gerichten vorgenommen werden würde; folglich hatte er nicht gezögert, Verbündete zu Bundesrichtern und -anwälten zu machen, die ihm ewige Treue schworen und mit Feuereifer bereit waren, alle Korruptionsverfahren gegen Mitarbeiter, Verwandte und Freunde von ihm einzustellen" (trespuntos vom 3. Juni 1998: 3). Menems Hegemonialpolitik beschränkte sich jedoch nicht auf die Kontrolle der Institutionen, zu deren besonderen Aufgaben unter anderem die Kontrolle der Exekutive zählte, sondern er dehnte seinen Einfluß auch auf den Bereich der Legislative aus. Und auch hierzu fand der "pragmatische" Sinn des Präsidenten den rechten Weg: Er brauchte schließlich nur auf das Instrument der Notstandsund Dringlichkeitsverordnungen zurückzugreifen. Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist der Gebrauch, den Präsident Menem von dieser Kompetenz gemacht hat und bis heute macht, wirklich erstaunlich. Nach argentinischer Rechtsdoktrin bedürfen präsidentielle Notstands- und Dringlichkeitsverordnungen der nachträglichen Zustimmung des Kongresses. Um diese Kontrolle zu umgehen, erfand der willfährige Oberste Gerichtshof das Kriterium der stillschweigenden Zustimmung: Eine Verordnung gilt als bestätigt, wenn der Kongreß ihr nicht widerspricht. Die Folge ist, daß bisher nur 4% der Verordnungen Präsident Menems vom Kongreß tatsächlich bestätigt wurden. Um sich die Bedeutung dieser Gesetzgebungspolitik klarmachen zu können, ist es vielleicht nützlich zu wissen, daß Menem schon in den ersten fünf Monaten seiner Amtszeit 30 solcher Notstands- und Dringlichkeitsverordnungen erließ - das sind mehr, als alle früheren argentinischen Präsidenten zusammen erlassen hatten. Horacio Verbitsky (1993: 165) bemerkt dazu: "Bis zur Mitte seiner Amtszeit hatte sich diese Zahl verachtfacht. Auf diese Weise hatte sich einer der wichtigsten Unterschiede zwischen Rechtsherrschaft und Gewaltherrschaft in Luft aufgelöst, so daß eine Art rechtlicher Grauzone existierte."

III. Die Schwäche der Rechtsordnung unterhalb der Verfassungsebene Diese "rechtliche Grauzone", was die wirksame Geltung der Verfassung betrifft, überschattet in der Regel auch die gesamte Rechtsordnung unterhalb der Verfassungsebene. Dazu wiederum einige Beispiele: 1988 stellte Alejandro M. Garro hinsichtlich der Verbindlichkeit der Rechtsprechung des mexikanischen Obersten Gerichtshofes bei Urteilssprüchen in Amparo-Verfahren fest: "[D]as mexikanische Amparo-Gesetz enthebt die Ver117

waltungsbehörden und die Legislative der Verpflichtung, Grundsätze der Rechtsprechung zu beachten, die für die Judikative verbindlich sind. Die Verfassungsgeber in Mexiko gingen bei dieser Einschränkung der Wirksamkeit von Urteilen nach dem Amparo-Geseiz von der Annahme aus, daß ein von der Judikative für verfassungswidrig erklärtes Gesetz an Ansehen verlieren und außer Gebrauch kommen würde. [...] Diese Erwartung der Verfassungsgeber erfüllte sich jedoch nicht, bleibt es doch dem Ermessen der Verwaltungsbehörde überlassen, wann und in welchen Fällen eine wiederholt vom Obersten Gerichtshof Mexikos für nicht verfassungsmäßig erklärte Norm tatsächlich nicht anzuwenden ist. [...] Auch die Legislative scheint nicht daran gebunden zu sein, die Entscheidungen des mexikanischen Obersten Gerichtshofs zur Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen anzuerkennen. [...] Die Situation der Rechtsunsicherheit, die aus der unzureichenden Sicherheit über die eventuelle Anwendung einer mehrfach von den Bundesgerichtshöfen für verfassungswidrig erklärten Norm herrührt, führte zu Kritik von Seiten einer angesehenen mexikanischen Rechtsschule, die dafür eintritt, Urteilen nach dem Amparo-Gesetz Wirkung erga omnes zu verleihen"4 (Garro 1988: 117, 119). Das bedeutet selbstverständlich nicht, daß die mexikanische Verfassung das Prinzip der Gewaltenteilung nicht kennt. Im Gegenteil garantiert Artikel 49: "Die höchste Gewalt des Bundes ist in ihrer Ausübung in die legislative, die exekutive und die judikative Gewalt aufgeteilt." Es bedeutet jedoch, daß man bei der Einschätzung der tatsächlichen Bedeutung des Amparo-Rechts in Mexiko und der Rolle des Obersten Gerichtshofs vorsichtig sein sollte, um nicht zu Fehlurteilen von der Art des folgenden zu gelangen: "The court [...] sets general limits to executive, legislative, and administrative behavior. [...] The court functions to limit governmental behavior with regard to civil liberties and property rights. It regularly issues writs of amparo. It serves to protect individual and group rights under the Constitution" (Verner 1984: 485). Wer derart falsche Vorstellungen von der tatsächlichen Wirksamkeit des Amparo-Rechts hat, muß von den Ereignissen in Chiapas sehr überrascht worden sein. Bessere Kenntnisse von der tatsächlichen Funktionsweise lateinamerikanischer Rechtssysteme wären sicher ein gutes Mittel gegen Überraschungen und Illusionen. Typischerweise regelt in lateinamerikanischen Staaten die im Einklang mit den Normen der Verfassung erlassene Rechtsordnung in weiten Bereichen des gesellschaftlichen Lebens eben nicht die Verhaltenserwartungen von Institutionen und Individuen. Nicht nur ist häufig der deontische Status einer Handlung unbestimmt - d. h., es ist nicht klar, ob sie verboten, erlaubt oder geboten ist - , sondern die Anwendung rechtlicher Bestimmungen ist auch in den Fällen ein-

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Was hier Uber Mexiko gesagt wird, gilt auch fllr andere Länder Lateinamerikas. Für Kolumbien vgl. z. B. die ausführliche Analyse Uber die Abhängigkeit der Judikative von der Exekutive bei Maurer (1980); Rlr Argentinien vgl. Bergaiii (1982: 243ff.)

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geschränkt, in denen nicht der geringste Zweifel daran besteht, was gesetzlich geboten, erlaubt oder verboten ist. Hans-Jürgen Brandt (1986: 169f.) hat z. B. die Schwierigkeit beschrieben, die in Peru geltende Rechtsordnung überhaupt erst einmal zu bestimmen: "[D]iese Rechtsordnung ist besonders komplex und selbst unter gesellschaftlich fuhrenden Gruppen wenig bekannt. Dies kann man sogar von mit der Materie vertrauten Personen behaupten, die sich über die Menge der etwa 25.000 seit 1904 erlassenen gesetzlichen Verfugungen die Köpfe heiß reden, ohne sich darauf einigen zu können, welche davon denn nun noch gelten. Die Flut von Gesetzen und Verordnungen (die Produktion von Gesetzen liegt zwischen 300 und 500 im Jahr), die ungeordnete, oft inkonsistente Form der Gesetzgebung sowie das Fehlen von systematischen, aktualisierten Ausgaben der geltenden Gesetze haben ein gewaltiges Chaos erzeugt. In dieser Situation ist es für den Durchschnittsbürger ziemlich schwierig, sein Verhalten an der Rechtsordnung auszurichten, wie es die Verfassung eigentlich vorschreibt." Es kann daher auch nicht überraschen, daß besonders in sehr heterogenen Gesellschaften, wie es die Andenstaaten oder Mexiko sind, gerade in dem Bereich, den Joseph Raz (1973: bes. 299) die indirekten sozialen Funktionen des Rechts nennt, die allgemeine Anwendung der Verfassung (die sich ja in der Regel an für homogene Gesellschaften erlassene Verfassungen anlehnt) eine Verschärfung der sozialen Ungleichheit mit sich bringt. In vielen Ländern Lateinamerikas hat sich die verfassungsmäßige Rechtsordnung für die Legitimation der Handlungen der politischen Machthaber als irrelevant erwiesen. Die wohl prägnanteste Formulierung dieser Situation stammt von dem "Paten" Alfredo Yabrän, der enge Beziehungen zu hohen Regierungskreisen in Argentinien pflegte und sich am 20. Mai 1998 das Leben nahm: "Macht bedeutet Straffreiheit". Man muß kein politischer oder Rechtsphilosoph sein, um zu wissen, daß das Grundprinzip jedes Rechtsstaats - gerade zur Verhinderung ungestraften Rechtsbruchs - die rechtliche und richterliche Kontrolle der Macht ist. In Ländern wie den lateinamerikanischen, in denen Macht tatsächlich traditionell mit Straffreiheit gleichgesetzt wird, läßt sich das Ausmaß der Macht, das nicht nur staatliche Autoritäten, sondern auch ein kleiner Teil von Bürgern genießen, denn auch genau am Ausmaß ihrer Straflosigkeit messen. Auf diese Weise entstehen Subsysteme, in denen Lasten und Vorteile am formal geltenden System vorbei verteilt werden: eine Art Alternativregime, das den pathologischen Zustand der betreffenden nationalen Rechtsordnung deutlich macht. Vielleicht muß man hier in der Tat eher von einem "rechtlichen Sumpf' (der treffende Ausdruck stammt von Frügoli (1998: 19)) als von einer "rechtlichen Grauzone" sprechen. Die Richtigkeit der Gleichung "Macht = Straffreiheit" zeigt sich selbstverständlich ganz deutlich im Fall der Militärs, die vor der sogenannten "Transition 119

zur Demokratie" an der Macht waren. Argentinien, wo die "Schlußpunkt"- und "Befehlsnotstand"-Gesetzgebung der Regierung Alfonsin im Verein mit den Begnadigungen Präsident Menems den Protagonisten des Staatsterrorismus Straffreiheit verschaffte, ist nicht das einzige Beispiel dafür. Ähnliches geschah auch in anderen Ländern. Zu El Salvador etwa informierte 1993 die Madrider Tageszeitung "El Pais" unter dem Titel "Geschichte einer langen Straffreiheit": "In El Salvador ist die Armee noch heute gleichbedeutend mit Terror. [...] Noch immer sind es die Militärs, die das letzte Wort haben, obwohl heute die Regierung von einem zivilen, demokratisch gewählten Politiker gefuhrt wird. Trotz internationalen Drucks mußte Präsident Alfredo Cristiani im Januar das Vorhaben aufgeben, die Säuberung des Militärs vorzunehmen, die die mit der Guerilla geschlossenen Friedensabkommen verlangen. Hundert Militärs [...], die die Armee verlassen sollten, weigerten sich zu gehen, da von der Institution schon zu große 'Opfer der Ehre' gebracht worden seien" (El Pais vom 16. März 1993: 3). Aber es sind natürlich nicht nur die Militärs, die sich mit der Straffreiheit brüsten, die sie genießen. In Mexiko verkündete der Gewerkschaftsführer und Vertreter des PRI, Fidel Veläzquez, lauthals die Unantastbarkeit der Regierenden und gab dabei zugleich seiner Präferenz für Schießprügel vor Wählerstimmen unmißverständlich Ausdruck: "[M]it Kugeln haben wir die Macht errungen, und nur mit Kugeln wird man sie uns wieder entreißen können" (vgl. die Tageszeitung von Aguas Calientes "Hidrocälido" vom 10. November 1995: 3B). Und mit Kugeln wurden in den neunziger Jahren in Mexiko ein Präsidentschaftskandidat mit reformerischen Neigungen sowie einige "unzuverlässige" politische Führer ermordet5. Der damalige Präsident Carlos Sahnas de Gortari dagegen durfte ein ungeheures Vermögen anhäufen, einen internationalen Ruf als kluger Ökonom gewinnen und das Land an den Rand des finanziellen Ruins treiben. Angesichts dieser Tatsachen fallt es schwer zu glauben, daß es tatsächlich "in Mexiko ein einziges Gesetz für alle gibt", wie der mexikanische Außenminister José Angel Gurria 1995 behauptete (vgl. El Pais vom 12. März 1995: 4). Im übrigen ist die Straflosigkeit nur der juristische Ausdruck des sehr viel umfassenderen Phänomens der Korruption. Daß die Justiz in Lateinamerika hochgradig korrupt ist, ist inzwischen so offenkundig und bekannt, daß nicht wenige Juristen und Soziologen den Ausdruck "Anomie" zur Bezeichnung der Lage für den angemessensten halten. Nach dem 1997 von Transparency International erstellten Korruptionsindex, der insgesamt 52 Länder umfaßt, gehören zur Gruppe der 17 korruptesten Staaten sieben lateinamerikanische Länder:

Daß Mord tatsachlich eine Form der politischen Auseinandersetzung ist, geht aus der Schlußfolgerung hervor, zu der die Kommission kam, die den Tod von Luis Donaldo Colosio, des Präsidentschaftskandidaten des PRI, vom 23. Marz 1994 untersuchen sollte. Der Mord hatte, so die Kommission, "ein politisches Motiv und war das Ergebnis eines Komplotts" (vgl. El Pais vom 12. März 1995:4).

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Uruguay, Argentinien, Bolivien, Mexiko, Brasilien, Kolumbien und Venezuela; in vier dieser Länder gab es in den neunziger Jahren Verfassungsreformen. Nach den Ergebnissen einer im Juli 1997 veröffentlichten Untersuchung stehen 50% der Mitglieder des Kabinetts von Präsident Menem unter Korruptionsverdacht; von den 33 von ihm ernannten Ministern wurde gegen 17 wegen Verdachts auf Unregelmäßigkeiten ermittelt (vgl. La Maga vom 9. Juli 1997: 3). In Argentinien füllt die Chronik der Justizskandale inzwischen Bände und gehört zum täglichen Informationsteil der Tagespresse6. Der einfache Bürger muß flexible Strategien entwickeln, um nicht Opfer richterlicher Willkür zu werden und zugleich so weit wie möglich persönliche Vorteile aus diesem aus den Fugen geratenen Normensystem ziehen zu können. Die Korruptheit der Richter stimuliert die Korruptheit der Bürger, die ihrerseits im Zuge der nicht seltenen Bestechung von Richtern erstere weiter anheizt. Der Fall des Richters Francisco Trovato, der wegen illegaler Bereicherung, Erpressung und Verletzung seiner Amtspflichten vor Gericht gestellt wurde, ist nur ein Beispiel von vielen für diese Sachlage7. Es kann daher nicht überraschen, daß nach einer im März 1997 von Graciela Römer y Asociados durchgeführten Umfrage unter mehr als 800 Personen in der Hauptstadt und im Großraum Buenos Aires - nur etwa 6% der Bevölkerung die Justiz, aber 60% die Presse für vertrauenswürdig halten (vgl. Escribano 1997: 5f.). Nicht sehr anders sieht es mit der Glaubwürdigkeit der Institutionen in Venezuela aus. Nach einer von Friedrich Welsch erarbeiteten Übersicht hatten im April 1992 nur 18% der venezolanischen Bürger Vertrauen in den Obersten Gerichtshof, 14% in die Regierung und 12% in den Kongreß (vgl. Bisbal/Nicodemo 1992: 165). Dabei gibt es Korruption natürlich nicht nur jeweils in einer Partei, sondern durchaus auf allen Seiten: In Argentinien steht der frühere radikale Gouverneur Eduardo Angeloz wegen illegaler Bereicherung vor Gericht, und für den Fall Mexiko gibt Sergio Aguayo Quezada die folgende - nach meiner Einschätzung richtige - Beschreibung von der Haltung des PAN, sobald die Partei Gelegenheit erhält, politische Macht auszuüben: "In Baja California, Chihuahua und '

Im Oktober 1996 erklärte der kurz zuvor aus dem Amt geschiedene ehemalige Wirtschaftsminister Domingo Cavallo z. B. öffentlich in einem Interview, das er der Presse wahrend eines Aufenthalts in Ekuador gab, Innenminister Carlos Corach habe ihm auf einer Papierserviette die Namen der Richter aufgeschrieben, die angeblich seinen Instruktionen gehorchen: "Er [Corach] schrieb die Namen der Richter untereinander auf [...], und am Schluß sagte er zu mir: 'Die dirigiere ich.' Ich habe natürlich Oberhaupt nicht damit gerechnet, daO ich das eines Tages würde beweisen müssen, und habe nicht daran gedacht, die Serviette aufzuheben. [...] Was hier zahlt, ist was Corach mir gesagt hat. Er hat sich schon immer gebrüstet, Richter und Staatsanwälte in der Hand zu haben" (zitiert nach Clarin vom 27. Oktober 1996).

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Die Chronik dieses Falles kann man der argentinischen Tagespresse vom August 1996 entnehmen. Im Juni 1998 richtet sich die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf den Fall des Bundesrichters Carlos Liporaci, der dem sogenannten "Financier" Jorge Antonio und Innenminister Carlos Corach damit, daß er Alberto Samid, dem schwere Falle von Steuerhinterziehung vorgeworfen werden, auf freien Fuß setzte, rechtswidrig "zu Gefallen" gewesen sein soll. Bis zur Publikation dieses Aufsatzes wird vermutlich die Liste konupter Richter noch langer geworden und die "Anekdote des Tages" wieder eine andere sein.

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Jalisco wurden die Fahnen gegen die korrupten Vertreter des PRI, die die Kandidaten des PAN geschwungen hatten, still und leise eingerollt, sobald sie an die Macht kamen" (Aguayo Quezada 1995: 10; zur Korruption in Mexiko vgl. etwa Morris 1991). In einem bitter-ironischen Essay fragte sich Amaldo Kraus vor einigen Jahren, ob Mexiko ohne Bestechung überhaupt funktionieren könne. Hier seine Antwort: "Ich gehe davon aus, daß das Laster der Korruption bei uns ein alteingesessenes Übel ist: Man wird damit und darin geboren und erzogen. Das Alteingesessene gleicht dem Geerbten: Man kann es nicht abschütteln. [...] Bestechung ist in Mexiko allgegenwärtig: Es gibt sie in höchsten Regierungskreisen, in der Privatwirtschaft, auf den Straßen, in den Schulen, in der Unterhaltungsbranche. Überall. Sie ist so tief verwurzelt [...], daß viele Aktivitäten ohne sie nicht funktionieren könnten, sie ist unverzichtbar" (Kraus 1995: 14). Die Verfassungsordnung ist angesichts dieser Lage in der Regel auch nicht in der Lage, hinreichende Gründe für das Verhalten von Institutionen und Individuen zu liefern. Ergänzend zu den genannten Fällen von Unklarheit und Unsicherheit über das geltende Recht sind in diesem Zusammenhang auch die immer drastischeren Folgen der Auflösung des Staatsapparates zu nennen, wie sie in einigen Ländern durch den organisierten Drogenhandel bewirkt wird. Das deutlichste Beispiel dafür ist wohl Kolumbien. Marcos Kaplan hat dafür den Begriff "Drogenstaat" (narco-Estado) geprägt; er will damit auch die Übermacht ausdrücken, der sich der kolumbianische Staat durch die Drogenmafia ausgesetzt sieht. 1996 erklärte Landwirtschaftsministerin Cecilia López, die Drogenhändler besäßen 4 Mio. Hektar Land in 13 Departements, d. h. genau die Hälfte des kolumbianischen Nutzlandes (Clarín vom 1. Dezember 1996: 37). Im Vorwort zu einem von Héctor Fix Fierro 1994 herausgegebenen Band mit dem sprechenden Titel "Vor der Tür des Gesetzes. Der Rechtsstaat in Mexiko" heißt es: "Nicht von ungefähr betrachten wir Mexikaner das Gesetz als etwas Relatives, das ständigem Wandel unterliegt, je nachdem, woher der Wind gerade weht. Mexiko hat zwar Gesetze, aber ein richtiger Rechtsstaat ist es nicht" (Fix Fierro 1994: 10). Und am anderen Ende Lateinamerikas, in Argentinien, fand Carlos Nino (1992b) für die Beschreibung der Realität in seinem eigenen Land keine bessere Formel als die vom "Land am Rande des Gesetzes". Angesichts dieser Lage ist es kaum verwunderlich, daß heute in öffentlichen Erklärungen die Notwendigkeit beschworen wird, grundlegenden Menschenrechten zur Geltung zu verhelfen. In einer neueren Arbeit über Forderungen der Indios in Guatemala etwa wird daran erinnert, daß eines der Grundanliegen "[d]ie Schaffung von Mechanismen zur Gewährleistung des Rechts auf Leben" ist (vgl. Coello Puente/Duarte Méndez 1995: 246). Daß es heutzutage noch immer nötig ist, einen Punkt wie diesen unter die Forderungen einer ethnischen Gruppe aufzunehmen, ist schlicht ein Skandal 122

und ein Beweis für die mangelnde Wirksamkeit des Strafrechts sowie für den statischen und unmoralischen Charakter unserer Gesellschaften. Dabei ist es nicht einfach, die Ursachen für diese unzureichende Wirksamkeit von in der Verfassung verankerten Rechtsinstitutionen genau zu benennen. Joel G. Verner (1984: 468ff.) listet sieben verschiedene Faktoren auf, die von der Übermacht der Exekutive über die römisch-spanische Tradition der Rechtsanwendung bis zu der Art und Weise reichen, wie in Verwaltung und Justiz die Stellen besetzt werden. Jeder dieser Erklärungsversuche ist bis zu einem gewissen Grad richtig, und allen ist eines gemeinsam: der Verweis auf die rein rhetorische Bindung der Machthaber an die Rechtsordnung und das ständige Bemühen, neue Normen zu erlassen, um der Mißachtung oder Verletzung der bestehenden entgegenzuwirken. Die angeführten Beispiele machen auf jeden Fall deutlich, daß die Behauptung von einer Geltung der Rechtsordnung nach Maßgabe der Verfassung für eine erhebliche Anzahl von Ländern in Lateinamerika höchst gewagt ist. Tatsächlich gibt es dort eine heterogene Menge von Regeln und Verhaltensweisen, die je nach der sozialen, wirtschaftlichen oder politischen Stellung jedes einzelnen sektoral praktiziert werden. Anstelle der Herrschaft des Gesetzes findet man die verschiedensten Strategien, um dessen Anwendung zu vermeiden und sich unbeschränkt in einem rechtsfreien Raum zu bewegen. Das gilt für die Mächtigen ebenso wie für die Schwächsten. Erstere genießen Straffreiheit, letztere erlangen ein Minimum an Sicherheit, indem sie so weit wie möglich den Kontakt mit den staatlichen Autoritäten zu vermeiden trachten und andernfalls Bestechungsgelder zahlen. Für weite Teile Lateinamerikas gilt auch heute noch die Bemerkung, die Manuel González Prada 1888, also vor mehr als hundert Jahren machte: "Es gibt eine aufschlußreiche Tatsache: [...] In den Dörfern, die am wenigsten von der Obrigkeit besucht werden, genießt man am meisten Ordnung und Ruhe" (González Prada 1982: 81). In einem seiner jüngsten Aufsätze kommt Guillermo O'Donnell (1997: 15) zu einer ebenso richtigen wie deprimierenden Schlußfolgerung: "fFJirst, to voluntarily follow the law is something that only idiots [n. 30: or naive foreigners or potential suicides, as it would be the case ifwhen driving they wouldfollow the formal rules of transit] do and, second, that to be subject to the law is not to be a carrier of enforceable rights but rather a sure signal of social weakness." Man könnte vielleicht meinen, diese Situation entspringe einer Form von Irrationalität, die lediglich auf einer Art "Willensschwäche" der politischen Entscheidungszentren beruht, die aber noch immer einen gewissen Glauben an die Möglichkeit bewahren, einen Rechtsstaat zu errichten, und daß ein Weg zur Überwindung der Unzulänglichkeiten der existierenden Rechtswirklichkeit die Durchführung von Verfassungsreformen mit dem Ziel wäre, die Kontrolle der staatlichen Autoritäten zu stärken und den Bürgern mehr Rechte einzuräumen. 123

Das ist es wohl, was diejenigen, die sich in gutem Glauben für Verfassungsreformen einsetzen, zu erreichen hoffen.

IV. Die Bedeutung von Verfassungsreformen in Lateinamerika Eine Verfassungsreform ist, so die weitverbreitete Meinung, der richtige Weg zur effektiven Errichtung eines Rechtsstaats. Mein Eindruck ist dagegen, daß solche Reformen in der Praxis meist zwei negative Folgen haben: Sie lenken die Aufmerksamkeit von den wirklichen Problemen ab und verzögern damit deren Lösung; und/oder sie geben rechtliche Schützenhilfe für die persönlichen politischen Ziele des jeweiligen Regierungschefs. Zwei Beispiele mögen dies illustrieren: Mexiko: Der Aufstand von Chiapas war bekanntlich Anlaß ftir eine ganze Reihe von verfassungsrechtlichen Reformvorschlägen, die von Politikern und Rechtswissenschaftlern diskutiert wurden. Einige Vorschläge, wie z. B. der der Einfuhrung eines parallelen Rechtssystems, sind ohne weiteres als unsinnig zu bezeichnen; ihre Umsetzung käme der Festschreibung der weiter oben konstatierten pathologischen Rechtswirklichkeit in der Verfassung gleich. Eine andere Gruppe von Vorschlägen unterstreicht lediglich die fehlende Wirksamkeit des mexikanischen Rechtssystems. Das gilt etwa ftir den Antrag auf die rechtliche Gleichstellung von Männern und Frauen. Daran zeigt sich nur die Unkenntnis über das, was schon der Verfassungstext von 1917 vorschreibt. Vorschläge der ersten Art sind widersprüchlich, solche der zweiten überflüssig. Die Verfasser beider Arten sind jedoch in der Regel mit sich selbst ganz zufrieden und glauben, etwas zur Verbesserung der elenden Lage der mexikanischen Indios getan zu haben. Argentinien: Die Reform der argentinischen Verfassung im Jahre 1994 wird von ihren Befürwortern für das wichtigste Ereignis im Bereich der staatlichen Institutionen seit der Verabschiedung der Verfassung von 1853 gehalten. Agustín Zbar (1997: 336f.) begründet diese Einschätzung mit drei Argumenten: "Erstens ist die Verfassungsänderung von 1994 die einzige in der argentinischen Geschichte der letzten hundert Jahre, die auf einem bedeutenden politischen Abkommen beruht. Der zwischen dem früheren Präsidenten Raúl Alfonsin und dem jetzigen Präsidenten Carlos Menem [...] geschlossene sogenannte 'Pakt von Olivos' ebnete den Weg für den [...] Änderungsprozeß. Dieses politisch-institutionelle Abkommen machte die Reform kalkulierbar und verlieh ihr politische Legitimität. [...] Zweitens ist diese Verfassungsänderung einzigartig in der hundertfunfzigjährigen argentinischen Verfassungsgeschichte. Aufgrund des breiten Spektrums von Themen, die in den Verfassungszusätzen behandelt werden, hat sie enorme Tragweite. [...] Drittens hat die Verfassungsänderung von 1994 eine starke symbolische und politische Komponente, da sie zugleich 124

die Endphase der Transition zur Demokratie markiert, die im Dezember 1983 begonnen hatte [...]." Raul Alfonsin hat sich bemüßigt gefühlt, den Sinn der Verfassungsreform von 1994 und die "Philosophie" des Pakts von Olivos mit ausfuhrlichen Zitaten von John Rawls zu erklären, dessen Theorie der Gerechtigkeit "dem Handeln der Radikalen Bürgerunion zugrunde gelegen" habe (Alfonsin 1996: 327ff., bes. 329). Wahrscheinlich entspricht dies in der Tat der Absicht einiger der Mitglieder der Verfassunggebenden Versammlung. Die öffentliche Meinung - der selbstverständlich die Rawlsschen Überlegungen unbekannt sind - war jedoch vom ersten Augenblick an sicher, daß der Hauptzweck der Reform darin lag, sozusagen in Fortschreibung der Tradition der Verfassungsreform von 1949 die Wiederwahl von Carlos Menem zu ermöglichen. Sie war daher skeptisch gegenüber der erklärten Absicht, die Amtszeit des Präsidenten zu verkürzen und ein System des "gemäßigten Präsidentialismus" zu errichten. Heute kann man feststellen, daß das erste Ziel - die Wiederwahl - voll und ganz erreicht wurde; was jedoch das zweite betrifft, so belegt das, was weiter oben über den großzügigen Umgang mit dem Instrument der Notstands- und Dringlichkeitsverordnungen gesagt wurde, daß die Macht des Präsidenten im Gegenteil noch zugenommen hat. Auch unter rechtstechnischen Gesichtspunkten wurde die neue Verfassung von 1994 scharf kritisiert, u. a. von dem Verfassungsrechtler Jorge R. Vanossi. In einem Aufsatz mit dem Titel "Verfassungsreform oder Änderung des Wahlsystems?" bemängelt er, daß wichtige normative Bereiche von Verfassungsrang den Unwägbarkeiten der gewöhnlichen Gesetzgebung ausgeliefert wurden. Es handele sich daher um eine "QuasiVerfassung, die durch Gesetze, die diese Institute einführen und die das endgültige Profil bestimmen werden, erst vollständig werden wird. Was aber das allerschlimmste ist, ist zweitens, daß diese Gesetze durch andere einfache Gesetze geändert werden können. Folglich kann sich jedes Mal, wenn in den beiden Häusern die Mehrheit wechselt, das Profil jener Institutionen ändern, die das verfassungsmäßige System erst komplett machen" (Vanossi 1997: 356). Für Vanossi ist das einzige Ziel, das tatsächlich erreicht wurde, die Änderung von Art. 77, der die unmittelbare Wiederwahl verbot. Die Verfassung von 1994 hat nach Vanossi (1997: 362) die Position des Präsidenten noch gestärkt: "Die neue Verfassung ist keine quasi-, sondern eine super-präsidentialistische: Sie bestätigt und verstärkt die Macht des Präsidenten." Berücksichtigt man, was weiter oben zur Bedeutung des Wortes "Macht" im aktuellen argentinischen Kontext gesagt wurde, und denkt man an die Erklärungen von Carlos Menem im Februar 1998, wonach, falls der Oberste Gerichtshof eine "Wieder-Wiederwahl" nicht zulassen sollte, die Gleichung für 1999 lauten werde "Irgendwer an die Regierung, Menem an die Macht" (vgl. Clarin vom 15. Februar 1998: 4), dann kann man sich die Rechtsunsicherheit, die ein solches Programm impliziert, unschwer vorstellen. Die Formel vom "Platzhalter125

Präsidenten" ist unter dem Motto "Cámpora an die Regierung, Perón an die Macht" schließlich 1973 schon einmal praktiziert worden. Die Folgen sind nur zu gut bekannt. Wenn aber auf diese Weise Verfassungsreformen entweder wirkungslos bleiben oder aber nur dazu dienen, bestehende institutionelle Defizite zu verstärken, dann liegt der Gedanke nahe, daß der Weg zu größerer rechtlicher Legitimität mit der Bereitschaft von Regierung und Bürgern beginnen muß, die Verfassung ernst zu nehmen.

V. Die Verfassung ernst nehmen Die Verfassungen haben in Lateinamerika in der Vergangenheit geradezu die "metaphysische" Funktion (um einen Ausdruck von Pablo González Casanova zu übernehmen) einer je nach Augenblickslage verfugbaren oder zu verwerfenden Ideologie innegehabt. Die Verfassung wurde oft als eine Art "Argumentationsreserve" begriffen, auf die Regierungen und Parteien unter zusätzlicher Ausschöpfung des emotionalen Gehaltes des Ausdrucks "Verfassungsrecht" zurückgreifen können. Im Laufe der lateinamerikanischen Geschichte wurde die Verfassung zu einem wesentlichen Bestandteil der politischen Mythologie des jeweiligen Landes. Man zitiert sie - besonders in Krisenzeiten - in der Absicht, die Unterschiede zwischen deklarierten Werten und tatsächlichem Verhalten auszugleichen, ohne daß ihre Prinzipien größere praktische Bedeutung hätten8. Und wenn man meint, es sei nicht angemessen, immer wieder auf denselben Text zu verweisen, dann ändert man eben die Verfassung, um so einen starken politischen Willen zu zeigen, der scheinbar bereit ist, die Realitäten zu ändern. Die Wirkungslosigkeit dieser Strategie wurde weiter oben schon beschrieben. Vielleicht geht es um etwas, das sehr viel einfacher - und zugleich schwieriger in die Praxis umzusetzen - ist. Jon Elster (1989: 196) hat die zentrale Frage m. E. sehr treffend formuliert: "The problem is not to explain why many constitutions fail to bind their creators and never become more than pieces of paper. Rather it is to understand how many constitutions come to acquire this mysterious bindingforce." Vom Text selbst kann die Bindungskraft sicher nicht kommen. Aus der Tatsache, daß Art. 3 der venezolanischen Verfassung bestimmt: "Die Regierung der Republik Venezuela ist und wird immer demokratisch, repräsentativ, verantwortlich und alternierend sein" läßt sich eben nicht ohne weiteres schließen, daß das derzeitige venezolanische Regime diesen Kriterien genügt - geschweige denn, daß es ihnen "immer" genügen wird9. ' '

Ober diese Vorstellung des politischen Mythos vgl. Coleman (1980). Diese "Ewigkeitsformel" ist fast noch stärker als die von Art. 79 (3) GG, mit dessen praktischer Wirksamkeit ich mich anderswo auseinandergesetzt habe (Garzón Valdés 1982).

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Die Bindungskraft einer Verfassung hängt vielmehr von zwei notwendigen und zusammen vielleicht auch hinreichenden Bedingungen ab: Die erste Bedingung ist die Einnahme eines Standpunkts gegenüber der Verfassung, den man mit H. L. A. Hart den "internen Standpunkt" nennen kann, d.h. die Zustimmung zur Verfassung aus moralischen Gründen, aufgrund der Anerkennung, daß die darin enthaltenen Normen gerecht sind, auch wenn sie im konkreten Einzelfall den Verzicht auf persönliche Vorteile verlangen mögen (einen "externen Standpunkt" nimmt dagegen ein, wer Normen aus instrumenteilen oder Klugheitsgründen befolgt, d. h. um persönlichen Nutzen zu erzielen oder Kosten zu vermeiden). Gerade eine solche Haltung der inneren Akzeptanz ist bei einem Großteil der lateinamerikanischen Gesellschaften nicht zu beobachten. Die Machthaber sehen in der Verfassung ein Herrschaftsinstrument bzw. ein Mittel, um ihre unmittelbaren persönlichen Ziele zu erreichen. Verfassungsreformen mit dem Ziel der Stärkung der Position des Präsidenten oder der Ermöglichung seiner Wiederwahl sind ein gutes Beispiel dafür. Aber auch die normalen Bürger nehmen keinen internen Standpunkt gegenüber der Verfassung ein, da sie wissen, daß gerade die für sie wichtigsten Bestimmungen von denen, die sie umsetzen sollten, nicht ernst genommen werden. Daß sich die Korruption, wie Kraus es für Mexiko behauptet, so weit ausbreitet, daß sie zu einem unverzichtbaren Element der gesellschaftlichen Beziehungen wird, ist ein beredter Beleg für diese Einstellung. Damit ergibt sich ein fataler Teufelskreis, der nur schwer zu durchbrechen ist, weil niemand bereit ist, den ersten Schritt zu tun. Denn wer dies täte, liefe Gefahr, nicht nur (wenn es sich um einen Normalbürger handelt) als "naiv" oder als "Idiot" bzw. (wenn er zu den Machthabem gehört) als "Selbstmörder" bezeichnet zu werden, sondern auch im rechtlichen "Halbdunkel" oder "Sumpf' jegliche Orientierung zu verlieren. Der interne Standpunkt verlangt die freiwillige Selbstunterwerfung unter Normen. Wer ihn einnimmt, fühlt sich nicht "gezwungen", den Normen zu entsprechen, sondern empfindet die "Verpflichtung" dazu. Der Inhalt der Normen, die derart innerlich angenommen werden, liefert dem Individuum in diesem Fall letzte Gründe für sein soziales Verhalten. Und da jedes normative System Freiheitsbeschränkungen impliziert, bedeutet seine Einhaltung nicht selten auch eine Einschränkung der individuellen Entscheidungsmacht sowie der Durchsetzung gewisser Präferenzen. Wenn es um die innere Annahme demokratischer Rechtsnormen geht, verlangt dies vom Individuum zudem, daß es zu einem "Bürger" in dem Sinne wird, den Rousseau diesem Wort gab, d. h. zu einem moralischen Agenten, einem Mitträger der volonté générale, die etwas ganz anderes ist als ein bloßes Aggregat individueller Interessen. Das ist selbstverständlich keineswegs eine leichte Aufgabe. Zu der eher psychischen Schwierigkeit, aus der Falle auszubrechen, kommen umgebungsbedingte Probleme hinzu, die die effektive Umsetzung der Verfas127

sungsnormen zusätzlich erschweren. Eine zweite notwendige Bedingung für das Funktionieren einer demokratischen Ordnung ist nämlich die Existenz einer homogenen Gesellschaft in dem Sinne, daß alle ihre Mitglieder die Möglichkeit haben, ihre Grundbedürfhisse zu befriedigen und somit auch die Rechte, die die Verfassung ihnen förmlich einräumt, tatsächlich auszuüben. Dabei müssen natürlich offenkundig unsinnige oder unmöglich umsetzbare Bestimmungen wie die folgenden unberücksichtigt bleiben: • Artikel 52 der 1991 reformierten kolumbianischen Verfassung lautet: "Das Recht jeder Person [...], Sport zu treiben, wird anerkannt. [...] Der Staat fördert diese Aktivitäten [...]." Da anzunehmen ist, daß es hier um die Ausübung der jeweils von einer Person bevorzugten Sportart geht, ist kaum vorstellbar, wie die Umsetzung der Anerkennung dieses Rechts aussehen könnte, das ja nicht nur den Straßenfußball mit dem Plastikball, sondern auch Sportarten umfassen müßte, die als sogenannte "Champagne tastes" einzustufen wären (wie z. B. Reiten, Golf oder Segeln). Man muß dies wohl als einen Fall von übertriebenem normativen Wohlwollen ansehen. • Ein anderes Beispiel ist Artikel 54 der venezolanischen Verfassung von 1961, der besagt: "Arbeit ist eine Pflicht jeder arbeitsfähigen Person." Dieser Fall ist schlimmer als der vorige. In einem Land, in dem nach Statistiken der Inter-Amerikanischen Entwicklungsbank die Arbeitslosenrate 1997 bei 12,8% lag (vgl. die Online-Datenbank des BID unter http://database.iadb.org) und das außerdem nach Maßgabe der Verfassung (Art. 95ff.) die freie Marktwirtschaft zum wirtschaftlichen Ordnungsprinzip erhoben hat, bedeutet eine solche Bestimmung, daß ein erheblicher Teil der Bevölkerung durch Faktoren, die der eigenen freien Entscheidung der Adressaten jener verfassungsmäßigen Pflicht entzogen sind, außerhalb des Gesetzes gestellt wird. Hier haben wir es also - im Gegensatz zu dem vorhergehenden Beispiel - offenbar eher mit einem Fall von normativer Böswilligkeit zu tun. Die von der repräsentativen Demokratie vorausgesetzte soziale und wirtschaftliche Homogenität hat mit beiden Extremen nichts zu tun. Vielmehr geht es um die rechtliche Anerkennung der individuellen Würde jedes einzelnen als autonomes Subjekt mit einem Recht auf equal concern and respect, um es mit der in aktuellen Gerechtigkeitstheorien geläufigen Formel zu sagen. Diese Anerkennung setzt selbstverständlich voraus, daß die Bedingungen vorliegen, die die Umsetzung dieses Rechts erst möglich machen. Die meisten lateinamerikanischen Verfassungen, angefangen mit der mexikanischen von Apatzingän (1814) bis zu den allerneuesten, enthalten Bestimmungen, die mit diesen Grundrechten zusammenhängen. Das Fortdauern der institutionalisierten Ungerechtigkeit in den Ländern des Subkontinents ist folglich nicht etwa dem Fehlen entsprechender Verfassungsnormen geschuldet, sondern vielmehr deren jahrhundertelanger Nichtanwendung. Das ist es, was

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die lateinamerikanischen Gesellschaften zu hochgradig "exklusiven" Gesellschaften gemacht hat. Auch dem kurzsichtigsten Beobachter kann dies nicht verborgen bleiben; zur Bestätigung des Offensichtlichen sind weder Statistiken noch Umfragen vonnöten. Und wie sehr soziale Homogenität im hier gemeinten Sinne als dringend notwendig erachtet wird, zeigt sich ganz deutlich in der Formulierung, mit der Alfonso de León, Bauer aus La Pijal Ycaltic (Chiapas), die Anliegen der Indios von Chiapas zusammenfaßt: "[W]as wir wollen, ist, daß wir alle einen Platz in der Gesellschaft haben" (vgl. Fuentes 1994: 13). Die Einnahme eines demokratischen internen Standpunkts und die Errichtung einer homogenen Gesellschaft sind zwei notwendige Bedingungen dafür, daß eine Rechtsordnung, wie die lateinamerikanischen Verfassungen sie vorschreiben, tatsächlich praktische Geltung erlangen kann. Offen ist allerdings, ob die Konjunktion der beiden Bedingungen dafür hinreichend ist. Diesbezüglich ist Vorsicht angebracht. Die Geschichte der enttäuschten Erwartungen in die institutionelle Entwicklung Lateinamerikas ist lang und lehrreich, was das Scheitern von Prognosen betrifft, die notwendige mit hinreichenden Bedingungen verwechseln. Ein typisches Beispiel dafür ist John J. Johnson mit seinen Ende der fünfziger Jahre formulierten Prophezeiungen über die Stabilität der Demokratie in Lateinamerika (Johnson 1958; vgl. dazu Garzón Valdés 1983). Aber auch im Bereich des Rechts gibt es eine Fülle solcher "Perlen". Als Beispiel für viele sei hier nur der Zusammenhang genannt, den Raymond Duncan (1976: 152) zwischen Alphabetisierungsgrad und politischer Partizipation einerseits und Vertrauen in die Justiz andererseits festgestellt hat: "[I]t must also be stressed that as literacy and the general political development of the country advances, the prestige and professionalism of the courts tend to be heightened, in part reflecting the increased influence of professional qualifications in the selection of judges rather than their being appointedfor out-and-out political reasons." Als offenkundiges Gegenbeispiel kann einmal mehr Argentinien dienen. Wie pessimistisch man hinsichtlich der praktischen Wirksamkeit seiner Rechtsinstitutionen auch sein muß: Es läßt sich nicht bestreiten, daß es sich um ein Land mit einem hohen Alphabetisierungsgrad und einem ziemlich entwickelten politischen Bewußtsein sowie einem hohen Grad an politischer Mobilisierung handelt; und trotzdem ist, wie wir gesehen haben, das Ansehen der Justiz in der Bevölkerung nicht eben hoch. Solche Beispiel zeigen, wie gefahrlich es ist, im Bereich der Sozialwissenschaften in unüberlegtem Eifer vom Notwendigen auf das Hinreichende zu schließen. Das hängt sicher zu einem großen Teil mit der Unbestimmtheit zusammen, mit der wir es im Bereich sozialer Entscheidungen zu tun haben. Jon Elster (1989: 175f.) stellt dazu fest: "Large-scale social decisions have equilibrium effects that are very difficult to assess theoretically, because the usual ceteris paribus methodology is inapplicable. To an even larger extent than in in129

dividual decisions, uncertainty and ignorance come to the forefront. Also, the ignorance cannot be overcome by trial-and-error pocedures. 'Learning from experience' proceeds by largely unreliable inferences from small-scale, shortterm, transitional effects to large-scale, long-term, equilibrium effects." Diese theoretisch wie empirisch unüberwindbare Unbestimmtheit und Unwissenheit lassen für das Vorgehen im Bereich der Politik größte Vorsicht geboten erscheinen. Im übrigen zeigen die Schwierigkeiten, mit denen sich auch diejenigen Länder bei der Errichtung bzw. Vervollkommnung einer demokratischen Ordnung konfrontiert sehen, in denen der Rechtsstaat einigermaßen gut verankert scheint, wie komplex die Probleme sind, die gelöst werden müssen, wenn auf dem Weg zu einer gerechten Gesellschaft Fortschritte erzielt werden sollen. Aber wie dem auch sei: Da in Lateinamerika keine der beiden genannten notwendigen Bedingungen erfüllt ist, können wir die Frage, wie eine vollkommene Gesellschaft erreicht werden kann, getrost auf später verschieben und uns vorläufig auf die Aufgabe beschränken, das Unerläßliche zu tun. Was die rechtlichen Institutionen betrifft, liegt das Problem in Lateinamerika jedenfalls, wie wir gesehen haben, weniger darin, daß wir neue Verfassungen brauchen, sondern vielmehr darin, daß die bestehenden endlich in Geltung gesetzt werden müßten. Damit ist ein weniger aufwendiger und moralisch aufrichtigerer Weg beschrieben als die immer wieder neue Einberufung von Verfassunggebenden Versammlungen. Mir ist bewußt, daß das in unseren Breiten, wo eine so große Neigung zu rhetorischen Phrasen, institutionalisierter Täuschung und Verschleierung von Ungerechtigkeiten herrscht, keine einfache Aufgabe ist. Aber einen anderen Weg gibt es nicht.

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Jürgen Saligmann

Verfassungsgerichtsbarkeit in Lateinamerika I. Einleitung Von einem weltweiten "Siegeszug" der Verfassungsgerichtsbarkeit zu sprechen, ist mittlerweile ein Gemeinplatz geworden. Es gibt kaum einen Staat mit zumindest formaler demokratischer Struktur, der nicht ein Gericht installiert hat, das zur Überprüfung der Einhaltung verfassungsrechtlicher Grundprinzipien berufen ist, sei es in Form eines speziellen Verfassungsgerichts oder durch Delegation dieser Aufgabe an den jeweiligen Obersten Gerichtshof. Es soll nicht unterschlagen werden, daß das Vorhandensein eines derartigen Gerichts kein notwendiger Bestandteil für eine funktionierende Demokratie ist - Großbritannien ist hierfür ein bekanntes Beispiel. Es dient den Gegnern der Verfassungsgerichtsbarkeit in Lateinamerika denn auch häufig als Vorwand für die Ablehnung einer derartigen Institution, ohne dabei jedoch die zweihundertjährige Tradition in der "Wiege der Demokratie" gleichermaßen in Betracht zu ziehen. Daß diesbezüglich auf dem amerikanischen Subkontinent noch fundamentale Defizite bestehen, bedarf wohl keiner weiteren Begründung. Wenn nun im folgenden der Versuch gewagt wird, die Verfassungsgerichtsbarkeit in Lateinamerika einer kritischen Bestandsaufnahme zu unterziehen, so durchaus in dem Bewußtsein, daß die umfangmäßigen Grenzen sowie die Vielzahl der Untersuchungsobjekte, also der Länder, allenfalls eine kursorische Betrachtung zulassen. Für eine synoptische Darstellung fehlt der Raum, so daß die im folgenden angeführten Länder nur jeweils exemplarischen Charakter haben.

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Anhand einer ausfuhrlicheren Darstellung der Auseinandersetzungen um das Verfassungsgericht in Peru soll die Debatte über einige Grundfragen wiedergegeben werden, ohne natürlich diese Diskussion als beispielhaft für den gesamten lateinamerikanischen Raum heranziehen zu wollen. Dennoch spiegeln sich in dieser Auseinandersetzung in vielen Elementen die im allgemeinen anzutreffenden kontroversen Positionen und ihre Argumentationslinien wider.

II. Geschichte der Verfassungsgerichtsbarkeit in Lateinamerika Nach Fix-Zamudio (1989: 133/136) datiert die erste Erwähnung einer verfassungsrechtlichen Kontrolle aus dem Mai 1841, und zwar in der Verfassung von Yukatän/Mexiko. Zweifellos diente die US-amerikanische Rechtstradition zunächst als Vorbild für die Ausgestaltung der Verfassungsgerichtsbarkeit auf dem Subkontinent. Wie man überhaupt sagen muß, daß die lateinamerikanischen Staaten nach ihrer Unabhängigkeit zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts die nordamerikanische Rechtspflege als beispielhaft übernommen haben. Diese Tradition setzt sich bis in dieses Jahrhundert fort. Erst die Einrichtung von speziellen Verfassungsgerichten hat zu einer Auseinandersetzung über die Anwendung des anglo-amerikanischen Modells im Gegensatz zum europäischen geführt. Nach dem nordamerikanischen Beispiel ist die verfassungsmäßige Rechtsanwendung nicht alleinige Kompetenz einer dazu speziell eingerichteten Institution. Danach kann jedes einzelne Gericht im Rahmen einer InzidenzKontrolle bei seiner Entscheidungsfindung erklären, es wende eine Norm in einem Streitfall nicht an, da es diese Vorschrift in dem konkret zu beurteilenden Sachverhalt für nicht verfassungskonform ansieht; jedes einzelne Gericht versteht sich somit als "Verfassungsgericht". Dieses Modell der "diffusen" Verfassungskontrolle findet in der Mehrzahl der lateinamerikanischen Staaten seine Anwendung. Das in Europa überwiegend geltende System der "konzentrierten" Verfassungskontrolle, wonach ein speziell dafür eingerichtetes Gericht die ausschließliche Kompetenz der Verfassungskontrolle besitzt, hat weniger Befürworter gefunden (Fix-Zamudio 1989: 163f.). Tatsächlich kommt diesem Unterschied aber kaum mehr allzu große Bedeutung zu, da die wichtigsten Streitfragen wohl in der einen oder anderen Weise von den obersten Gerichten entschieden werden (von Brünneck 1992: 30).

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III. Aktuelle Lage der Verfassungsgerichtsbarkeit in Lateinamerika Um den Stellenwert eines Verfassungsgerichts benennen zu können, ist es zunächst einmal hilfreich, dessen formale Einbindung in die Verfassung zu untersuchen. Schon die bundesdeutsche Historie ist insoweit aufschlußreich, als die ersten Überlegungen im Herrenchiemseer Entwurf das neu zu schaffende Bundesverfassungsgericht noch in einem eigenen Abschnitt gewürdigt wissen wollten, nach den Bestimmungen über die obersten Bundesorgane, aber vor den Abschnitten über Gesetzgebung, Verwaltung, Finanzwesen und Rechtspflege (Laufer 1968: 41). Diese Intention konnte sich jedoch nicht durchsetzen; im Parlamentarischen Rat wurde das Bundesverfassungsgericht vielmehr wieder der Rechtspflege, jetzt unter dem Titel "Gerichtsbarkeit und Rechtspflege", zugeschlagen. Damit sollte die gesamte oberste Gerichtsbarkeit als Träger der dritten Gewalt herausgestellt werden; die Bedeutung des künftigen Bundesverfassungsgerichts sei jedoch erheblich vermindert worden (Laufer 1968: 57). Ein Vergleich mit den lateinamerikanischen Rechtssystemen ist insofern schwierig, als dort nur z.T. speziell ein Verfassungsgericht als höchste Autorität für die Lösung verfassungsrechtlicher Fragen geschaffen wurde (Chile, Peru, Ekuador, Bolivien, Guatemala). In vielen Fällen ist dafür der Oberste Gerichtshof als ganzes (lediglich bei Normenkontrollverfahren: Venezuela, Costa Rica) oder auch nur ein Senat zuständig (Uruguay, El Salvador, Paraguay). Interessant sind eher der Wahlmodus und die Amtszeit (einschließlich eventueller Wiederwahl) der Richter an den Verfassungsgerichten. Dabei sollen hier nur die in den jeweiligen Verfassungen ausdrücklich niedergelegten Bestimmungen herangezogen werden, da die in den Ausführungsgesetzen vorgenommenen Regelungen als einfache gesetzliche Normen leichter einer Änderung unterworfen werden können. In Bolivien, Peru, Ekuador und Uruguay werden die Richter vom Parlament mit einer Zweidrittelmehrheit bestimmt; in Venezuela, El Salvador, Paraguay, Honduras und Panama ist laut Verfassung keine derartige qualifizierte Mehrheit erforderlich. In Chile wählt der Oberste Gerichtshof aus seinen Reihen drei Richter, je einer wird vom Staatspräsidenten und vom Senat bestimmt, zwei ernennt der Nationale Sicherheitsrat, wo die Sicherheitskräfte einen maßgeblichen Einfluß ausüben können. In Guatemala bestimmen der Oberste Gerichtshof, der Kongreß, der Staatspräsident bzw. die Regierung, die Universität San Carlos sowie die Anwaltskammer jeweils einen der fünf Richter. In Mexiko werden die Richter, entsprechend dem US-amerikanischen Vorbild, vom Staatspräsidenten vorgeschlagen und vom Senat bestätigt.

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Im allgemeinen werden zwischen fünf und neun Richter gewählt; eine Ausnahme ist Ekuador mit elf Richtern. Ihre Amtszeit bewegt sich zwischen vier und zehn Jahren. Eine Wiederwahl ist häufig möglich; unmittelbar ausgeschlossen ist sie allerdings in Bolivien, Peru und Uruguay. In letztgenanntem Beispiel ist aber, um politisch motivierte Vakanzen zu vermeiden, bestimmt worden, daß der dienstälteste Richter an den Appellationsgerichten automatisch in das Oberste Gericht nachrückt, wenn das Parlament innerhalb von 90 Tagen keinen Nachfolger bestimmt hat. In anderen Ländern wurde festgelegt, daß die Amtszeit verlängert wird, wenn in den Parlamenten nicht ausdrücklich mit einfacher Mehrheit (El Salvador) oder mit Zweidrittelmehrheit (Costa Rica) ein gegenteiliger Beschluß gefaßt wurde. Man kann diesen Aspekt durchaus positiv bewerten, da dadurch die Judikative als einzige Staatsgewalt einer gewissen Kontinuität unterliege (Fuchs 1986: 464). Viel schwieriger gestaltet sich die Bewertung der Tätigkeit der Verfassungsgerichte auf materiellrechtlichem Gebiet. Dabei muß man zum einen berücksichtigen, daß in den meisten lateinamerikanischen Ländern erst seit zehn bis fünfzehn Jahren wieder zumindest formaldemokratische Zustände herrschen. Und das bedeutet weiterhin, daß erst seit dieser Zeit auch wieder im Bereich der Rechtspflege langsam eine Kultur Platz greift, in der rechtsstaatliche Intentionen sichtbar werden. Man wird dabei die beiden Haupttätigkeitsgebiete der Verfassungsgerichte, Normenkontrollverfahren und Verfassungsbeschwerden, unterscheiden müssen. Auf dem Sektor der Normenkontrolle wird ob seiner Nachhaltigkeit immer wieder ein Fall aus Guatemala zitiert. Danach hat das Urteil des Verfassungsgerichts, welches den versuchten Staatsstreich "von oben" des Präsidenten für verfassungswidrig erklärte, wohl auch mit zum Sturz des Diktators beigetragen (Fernández/García 1997: 728/9). Ganz überwiegend positiv wird die Stellung des Verfassungsgerichts in Costa Rica bewertet, wobei allerdings kritisch angemerkt wird, der zuständige Senat des Obersten Gerichtshofs bemächtige sich allzu häufig legislativer Aufgaben, indem er außer Kraft gesetzte Normen wieder für rechtsgültig erkläre oder einzelnen Gesetzen neue Artikel hinzufüge (Hernández 1997: 315). Ahnlich positiv wird auch die Rechtsprechung im Bereich der habeas-corpus- Verfahren eingeschätzt (Hernández 1997: 520), während die amparo- Verfahren unter der Vielzahl der Klagen (Lösing 1996: 164/5) litten, denn zunehmend werde, und das ist die Erfahrung auch in anderen Ländern, im Bereich der Verwaltungsund der Arbeitsgerichtsbarkeit dieser an sich schnellere Prozeßweg eingeschlagen (Hernández 1997: 530). Im Bereich der Verfassungsbeschwerden wird beispielsweise Argentinien kein sonderlich positives Zeugnis ausgestellt (Sagüés 1997: 329). Gerade bei den amparo- Verfahren zeige sich die ungenügende Vorbereitung aller Verfahrensbeteiligten, auch der Richter, so daß eine kohärente Rechtsprechung auf der 136

Höhe der Zeit fehle. Dies kritisiert Sagüés (1997) besonders bei datenschutzrechtlichen Verfahren. Eine ähnlich kritische Anmerkung ist auch über die Arbeit des Verfassungsgerichts in Peru für den Zeitraum zwischen 1982 und 1988 verfaßt worden (Eguiguren 1988: 103). Die Urteile haben eine kaum wahrnehmbare Bedeutung (Rubio 1988: 105). Zudem ist es auch schon vorgekommen, daß ein Verfassungsgericht aufgrund politischen Drucks sein Urteil nachträglich wieder durch eine entsprechende Erklärung konterkariert (als Beispiel siehe El Comercio [Lima] vom 6.10.1997: A 12). Dennoch wird geltend gemacht, daß das Gericht trotz aller Schwierigkeiten zumindest im Bereich der Verfassungsbeschwerden einige wichtige Entscheidungen getroffen habe, so daß nach dem Staatsstreich von 1992 durch die Verfassunggebende Versammlung von 1993 wiederum ein Verfassungsgericht eingerichtet worden ist, über dessen Tätigkeit aber aufgrund seiner kurzen Lebensdauer noch keine abschließende Bewertung vorgenommen werden könne (Garcia 1997: 851). Die Arbeit des Verfassungsgerichts in El Salvador wird vergleichsweise kritisch behandelt, wobei jedoch realistischerweise eingeräumt wird, daß der jahrzehntelange Bürgerkrieg, der sich erst seit kurzem auf dem Weg der Befriedung befindet, eine halbwegs rechtsstaatliche Ordnung nicht zuließ (Anaya 1997: 623). Auch die Tätigkeit des Verfassungsgerichts in Ekuador wird überwiegend negativ beurteilt, da sich seine Unabhängigkeit als Illusion herausgestellt habe; vielmehr sei das Gericht ein politisiertes Gremium gewesen (Torres 1987: 165; Barragán 1990: 23). Das Verfassungsgericht in Chile hat hauptsächlich die Funktion eines Staatsgerichtshofs und übt darüber hinaus bei Organgesetzen eine präventive Kontrolle aus. Angesichts der innenpolitischen Situation des Landes mit dem verfassungsmäßig garantierten erheblichen Einfluß des Militärs verwundert es daher nicht, wenn dem Gericht nur wenig Bedeutung beigemessen wird (Braatz 1993: 517).

IV. Der Fall Peru Im folgenden Kapitel soll die teilweise recht turbulente Geschichte und Gegenwart der peruanischen Verfassungsgerichtsbarkeit dargestellt werden. Beispielhaft ist dies deshalb, weil dadurch gerade der innenpolitische Streit um die Relevanz dieser Institution deutlich wird, ohne daß man selbstverständlich immer und in allen Punkten Parallelen zu anderen lateinamerikanischen Staaten ziehen kann. Zur Verdeutlichung und eventuell schnelleren Einordnung der Probleme sollen punktuelle Vergleiche zum bundesdeutschen System hergestellt werden. Die Geschichte der peruanischen Verfassungsgerichtsbarkeit zeigt Parallelen zur europäischen Diskussion um diese neue Institution. Trotz erster Überlegungen in diese Richtung in den 20er und 30er Jahren (Eguiguren 1991: 18) ist ein 137

Verfassungsgericht (Tribunal de Garantías Constitucionales = TGC) erst durch die Verfassung von 1979 eingerichtet worden. Der Hintergrund für diese Entscheidung war wohl hauptsächlich politischer Natur (Garcia 1997: 833/4). Die Verfassunggebende Versammlung wollte 1979, nach fast zwölfjähriger Militärdiktatur, der korrumpierten Justiz eine unabhängige Instanz überordnen. Von den insgesamt neun Richtern wurden je drei vom Kongreß, von der Regierung und vom Obersten Gerichtshof ausgewählt; die Amtszeit betrug sechs Jahre, eine Wiederwahl war möglich. Dabei mußte alle zwei Jahre ein Drittel der Richter neu bestimmt werden (Art. 296,297 ('79))1. Im Rahmen seines Staatsstreichs vom 5. April 1992 hatte Präsident Fujimori u.a. auch die Mitglieder des TGC von ihrem Richteramt suspendiert; das Gericht selbst blieb allerdings offiziell noch bestehen, war aber natürlich wirkungslos, da richterlos. Es hatte in den Monaten vor dem Putsch in vier Urteilen drei Gesetzesdekrete und ein Gesetz für verfassungswidrig erklärt (Landa 1995: 78), was ihm nicht unbedingt große Sympathien auf seiten der Regierung eingebracht hatte (Abad 1993: 99). Und dann hatte das Regime noch eine juristische Innovation ersonnen, die ob ihres Wagemutes wirklich erstaunt. So wurde bestimmt, daß in denjenigen Fällen, in denen die Regierung in einem amparoVerfahren tatsächlich einmal vor dem neu zusammengesetzten Obersten Gerichtshof unterliegen sollte, sie das Recht hat, die Sache dem TGC vorzulegen. Da das Verfassungsgericht aber personell nicht mehr besetzt war (sondern eben nur noch auf dem Papier bestand), konnte die Angelegenheit archiviert werden bis in alle Ewigkeit. Das Regime hat dann in der Folgezeit bei der Ausarbeitung der neuen Verfassung daher auch keinerlei Interesse an einer Neuauflage der Bestimmungen über das Verfassungsgericht gezeigt, mußte sich aber schlußendlich der Verfassunggebenden Versammlung (CCD = Congreso Constituyente Democrático) beugen (Abad 1993: 99). In diesem Punkt sind von der neuen Verfassung wichtige Veränderungen vorgesehen (Art. 201). Das Gericht besteht nunmehr aus sieben Mitgliedern, die auf fünf Jahre gewählt werden, wobei eine unmittelbare Wiederwahl unzulässig ist. Die Wahl erfolgt durch den Kongreß mit der Zweidrittelmehrheit seiner gesetzlichen Mitglieder. Diese Bestimmung ist auf Kritik gestoßen, da so die Zusammensetzung des Spruchkörpers von den größeren Parteien im Parlament ausgekungelt und damit die Wahl eindeutig politisiert würde (Abad 1993: 104). Dies stimmt eindeutig, jedoch geht der warnende Hinweis auf andere Länder, wo dies ebenso praktiziert würde, teilweise zumindest ins Leere. Die Erfahrung in der Bundesrepublik Deutschland zeigt gerade, daß ein derartiges Wahlsystem durchaus funktionieren kann. Zumindest wird man sagen müssen, daß sich das Bundesverfassungsgericht einer ausgesprochen hohen Akzeptanz in der Bevölkerung erfreut. Jede Wahl hat selbstverständlich einen politischen Hintergrund; Bei Artikelangaben mit dem Zusatz ('79) handelt es sich um solche der Verfassung von 1979, sonst beziehen sie sich auf die Verfassung von 1993.

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insofern ist der Vorschlag, der Oberste Richterrat in Peru sollte die Verfassungsrichter wählen (Abad 1993: 104), nicht ganz nachvollziehbar, da auch dann die politischen Kräfte, vielleicht noch stärker als bisher schon, versuchen werden, eben die Zusammensetzung des Obersten Richterrates politisch zu beeinflussen - ein circulus vitiosus. Sodann wird konkret die Ernennungspraxis kritisiert, weil zu sehr parteipolitisch orientiert, mit dem Ergebnis, daß am Ende eine Mehrheit von Richtern mit einer bestimmten parteipolitischen Ausrichtung vorherrschte (Aguirre 1991: 7)2. Bei der Richterwahl nach der Verfassung von 1979 gab es aber auch noch ein anderes Problem. Drei der neun Richter wurden vom Obersten Gerichtshof bestimmt. Da jedoch 99% der beim Verfassungsgericht anhängigen Verfahren sich gegen Entscheidungen dieses Obersten Gerichtshofs in habeas-corpus- und a/wparo-Klagen richteten, könne man sich ja ausrechnen, wie diese drei Verfassungsrichter sich in den Verfahren gegen Urteile ihrer ehemaligen Kollegen verhalten würden, zumal sie nach sechs Jahren von eben diesen Kollegen wiedergewählt werden wollten (Aguirre 1991: 8). Im übrigen müssen die Richter, heute wie damals, dieselben Qualifikationen erfüllen wie für die Wahl zum Obersten Gerichtshof, d.h. sie müssen immer Juristen mit längerer Berufserfahrung sein. Die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen (und anderen Normen) sowie staatlichem Handeln gegenüber einzelnen Bürgern (speziell habeas-corpus- und amparo- Verfahren) soll durch ein Verfassungsgericht (Tribunal Constitucional) garantiert werden (Art. 200ff.) und wird auch zukünftig den Hauptteil der Arbeit darstellen. Die neue Verfassung hat den Aufgabenkatalog für das Gericht erweitert. Neben habeas-corpus- und amparo-Verfahren, Verfassungsmäßigkeits- sowie Popularklagen sind drei neue Verfahrensarten hinzugekommen, und zwar einmal die habeas-data-Klage, also ein Datenschutzverfahren, dann die acción de cumplimiento, wonach gegen einen Amtsträger auf Tätigwerden entsprechend seinem gesetzlichen Auftrag geklagt werden kann, und als letztes die Konfliktlösung in Kompetenzstreitverfahren (Art. 200 i.V.m., Art. 202). Laut Art. 203 sind folgende Personen bzw. Amtsträger zur Anrufung des Verfassungsgerichts hinsichtlich der Verfassungswidrigkeit von Gesetzen und anderen Normen befugt: der Staatspräsident, der Oberste Ankläger, der Bürgerbeauftragte (Ombudsmann), ein Viertel der Kongreßmitglieder, eine Gruppe von mindestens 5.000 Bürgern (ausweislich ihrer Unterschriften), Regionalpräsidenten und Bürgermeister sowie die berufsständischen Kammern bei den sie betreffenden Materien. Interessant ist hierbei u.a., daß im Gegensatz zur vorherigen Verfassung der Oberste Gerichtshof nicht mehr zum Kreis der Berechtigten gehört. Weiterhin wurde die Zahl der klagebefugten Bürger von vormals 50.000 auf jetzt 5.000 gesenkt. Des weiteren können nunmehr auch die im 2

Manuel Aguiire ist von 1982 bis 1989 Richter am TGC gewesen; er spricht hier den Fall an, daß viele Richter der APRA-Partei des früheren Präsidenten Alan Garcia (1985-1990) zumindest nahestanden.

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Rahmen der geplanten Regionalisierung berufenen Autoritäten das Verfassungsgericht anrufen. Die Urteile des Gerichts haben quasi Gesetzeskraft und gelten ab dem Tag nach der Veröffentlichung (Art. 204). Auch hier gibt es einen nicht unwichtigen Unterschied zur Verfassung von 1979, denn nach Art. 301 ('79) teilte das Gericht dem Parlament seine Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes mit; die Legislative hatte dann die Möglichkeit, die strittige Norm in einem förmlichen Verfahren zu widerrufen. Sollte das Parlament nicht tätig werden, so trat die Bestimmung nach Ablauf von 45 Tagen automatisch außer Kraft; das Gericht ordnete dabei die Veröffentlichung seiner Entscheidung im Staatsanzeiger an. Dies war und ist insofern von Bedeutung, da sowohl nach Art. 300 ('79) wie nach Art. 204 ein derartiges Urteil keinerlei Rückwirkung entfaltet, sondern erst mit der Veröffentlichung in Kraft tritt. Das konnte nach der vorherigen Verfassung bedeuten, daß innerhalb der 45-Tage-Frist trotz der Verfassungswidrigkeit des Gesetzes noch Maßnahmen ergriffen werden konnten, die danach nicht mehr möglich gewesen wären (Eguiguren 1991: 47). Diese Gefahr ist durch die Neuregelung ausgeschlossen worden. Das (ehemalige) Verfassungsgericht hat im Verlauf seiner neunjährigen Tätigkeit aber offenbar nie die Stellung wie etwa das Bundesverfassungsgericht erreichen können. Gründe dafür gibt es zahlreiche; nachfolgend seien einige aufgeführt. Das TGC entschied über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen und über Verfassungsbeschwerden. Es hatte aber keine Kompetenz bei Organstreitigkeiten, was den Tätigkeitsbereich des Gerichts beschränkte (Aguirre 1991: 7 nennt dies atribuciones raquíticas = rachitische Eigenschaften). Weiterhin hatte es sich schlicht als praktisch unmöglich herausgestellt, die 50.000 Unterschriften herbeizuschaffen, die notwendig waren, um eine Popularklage anzustrengen (Aguirre 1991: 7 berichtet, daß zwischen 1982, dem Tätigkeitsbeginn des TGC, und 1991, dem Jahr des Erscheinens seines Beitrags, keine einzige Popularklage bei Gericht eingegangen sei). Sodann wurde das für die Entscheidungsfindung notwendige Quorum kritisiert, fünf Stimmen für eine Beschwerde und sechs Stimmen für eine Verfassungswidrigerklärung, bei insgesamt neun Richtern. Über eine große Zahl von Fällen sei aufgrund dieser übertriebenen Anforderungen nicht entschieden worden. Ein weiterer Fehler des Verfassungsgerichts soll darin gelegen haben, daß es sich nicht auf die verfassungsrechtliche Überprüfung der ihm vorgelegten Beschwerden konzentriert, sondern als quasi vierte Instanz fungiert habe. Damit sei das Gericht aber seiner eigentlichen Aufgabe nicht nachgekommen, die eben nicht die einer Super-Revisionsinstanz gewesen sei (Aguirre 1991: 9). Auch wenn eine Bilanz der Tätigkeit des Verfassungsgerichts für den Zeitraum von 1983 bis 1992 nicht günstig ausfällt (Valle-Riestra 1992: 20; Som140

mermann 1987: 639), so sollte der Maßstab nicht strenger sein als bei den übrigen Verfassungsorganen, deren Arbeit wohl auch nicht in allen Fällen positiv bewertet werden kann. Die Einrichtung eines Verfassungsgerichts war u.a. der Ausdruck eines tiefsitzenden Mißtrauens gegenüber der bis dato einerseits als politisch urteilenden sowie andererseits als korrupt geltenden Justiz, so daß durch eine Verfassungsreform durchaus eine Verbesserung erreicht werden kann (CAJ 1993:222). Selbst wenn man die Auswahl der Verfassungsrichter nunmehr als zu politisch charakterisiert (CAJ 1993: 262), so war die bisher übliche Praxis jedoch auch nicht dazu angetan, sie beizubehalten, da wiederholt die rechtzeitige Neuwahl eines Verfassungsrichters unterblieben war, so daß das entsprechende Quorum innerhalb des Spruchkörpers (Anwesenheit von sechs der neun Richter) bei den Entscheidungen nicht erreicht werden konnte (Eguiguren 1991: 49). Nachdem nunmehr ein Verfassungsgerichtsgesetz (Ley Orgánica del Tribunal Constitucional - LOTC No. 26435 vom 10.1.1995) in Kraft getreten ist, hat sich gezeigt, daß es dem Kongreß sehr schwer gefallen ist, die Richterstellen zu besetzen. Erst Mitte 1996 konnten die sieben Richter ernannt werden. Anscheinend waren es mehrere Punkte in der Norm, die eine Wahl so sehr erschwerten. Die Kritikpunkte lassen sich wie folgt zusammenfassen: • Ein Gesetz kann laut Art. 4 (LOTC) nur bei einer Mehrheit von sechs der insgesamt sieben Richterstimmen für verfassungswidrig erklärt werden; nach dem vorherigen Verfassungsgerichtsgesetz {Ley Orgánica del Tribunal de Garantías Constitucionales No. 23385) bedurfte es für eine derartige Entscheidung wohl auch der Zustimmung von sechs Richtern, allerdings umfaßte das Kollegium damals neun Richter. Das hat vermutlich bei einigen der ins Auge gefaßten Kandidaten zu der Überzeugung geführt, damit würde ihre Arbeit zu leicht blockiert werden können, da eine derartige Mehrheit schwer zu erreichen sei; für alle anderen Entscheidungen bedarf es nur der einfachen Mehrheit, wobei jedoch sechs der sieben Richter anwesend sein müssen. • Der Verdienst eines Verfassungsrichters sei so niedrig, daß keiner der Spitzenjuristen für ein derart kärgliches Gehalt bereit sei, beispielsweise seinen Anwaltsberuf auch nur zeitweise an den Nagel zu hängen. Nunmehr wurde eine Änderung des Verfassungsgerichtsgesetzes geplant. Danach sollte es den Richtern erlaubt sein, nebenher noch weiterhin beruflich tätig zu sein, was das Gesetz in seiner jetzigen Fassung ausdrücklich untersagt. Um eventuellen Interessenkonflikten vorzubeugen, sollten Stellvertreter bestimmt werden, die dann einspringen müßten. Dieser Vorschlag hat naturgemäß zu erheblichen Diskussionen geführt, nicht allein unter parteipolitischen Gesichtspunkten. So hat sich der Abgeordnete Carlos Ferrera Costa aus der Regierungsfraktion (laut El Comercio [Lima] vom 5.1.1996: A 4) scharf gegen diese Modifikation ausgesprochen. Seiner Meinung nach ist das hohe Quorum das entscheidende Hindernis für qualifizierte Juri141

sten, sich um einen Sitz im Verfassungsgericht zu bemühen. Weiterhin vertritt er die Meinung, eine nebenberufliche Tätigkeit der Verfassungsrichter würde nur wieder zu Interessenkonflikten führen. Und in der Tat könnte dies dem Ruf der peruanischen Justiz als einer höchst korrupten Institution weitere Nahrung liefern3. In diesem Zusammenhang ist schon die provokatorische Frage gestellt worden, ob nunmehr auch das Verfassungsgericht privatisiert werden solle (Espinal 1996). Vor dem Hintergrund der Tatsache, daß Art. 201 III vorschreibt, die Kandidaten für das Richteramt müßten, sollten sie Richter oder Staatsanwälte sein, diese Tätigkeit mindestens ein Jahr vorher aufgegeben haben, dürfte die Behauptung schwer von der Hand zu weisen sein, daß sich die Richterschaft vornehmlich aus den großen Anwaltsbüros rekrutieren wird. Das dürfte auch für Universitätsprofessoren gelten, die häufig in derartigen Kanzleien vertreten sind. Von Regierungsseite wird darauf verwiesen, der Staat könne die Verfassungsrichter nicht angemessen honorieren, wolle er nicht das gesamte Gehaltsgefüge innerhalb der Justiz und auch der Beamtenschaft völlig durcheinanderbringen. Unter Hinweis auf Lösungen in anderen lateinamerikanischen Staaten, wie beispielsweise Chile, wird geltend gemacht, daß nur so qualifizierte Richter gefunden werden könnten, und durch die Zulassung von Stellvertretern sei auch ein größerer Arbeitsanfall zu bewältigen (so der Oppositionsabgeordnete Jorge Avendano Valdez [UPP] laut El Comercio [Lima] vom 5.1.1996: A 4). In der Wahl von Stellvertretern wird kein Verfassungsverstoß gesehen, denn wenn die Verfassung auch eine derartige Position nicht ausdrücklich vorsehe, so werde sie aber auch nicht untersagt. Im übrigen müsse man sich die Situation vor Augen führen, daß ein Richter ausfallt, aus Krankheitsgründen, wegen Rücktritts oder gar durch Tod. Dann könnten alle Entscheidungen bis zur Nachwahl eines Richters immer nur einstimmig getroffen werden, denn von den sieben Richtern müßten zur Entscheidungsfindung immer sechs anwesend sein und weiterhin bedürfe es zu einem Beschluß über die Verfassungswidrigkeit eben gerade dieser sechs Stimmen (J. Avendano V. in einem Interview mit El Comercio [Lima] vom 10.1.1996: A 5)\

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Quispe benennt ohne Namensnennung, aber fllr Insider deutlich, verschiedene Beispiele aus der Vergangenheit, wo höchste Richter recht zweifelhafte Rollen in Verbindung mit Anwaltskanzleien, in denen sie vormals tatig gewesen waren, gespielt haben sollen.

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Nach Ansicht des christdemokratischen Abgeordneten Xavier Barrön Cebreros (PPC) sollte aus der Verfassung die Vorschrift über eine genaue Richterzahl am Verfassungsgericht gestrichen werden (in einem Interview mit El Comercio [Lima] vom IS.1.1996: A 5). Auch die Zahl der Richter am Obersten Gerichtshof sei verfassungsseitig nicht normiert; daher bedürfe es ebensowenig einer derartigen Festlegung ftlr das Verfassungsgericht. Sodann sollte man das Verfassungsgerichtsgesetz dergestalt modifizieren, daß insgesamt 14 Richter zu wählen seien, von denen jedoch nur immer sieben an der jeweiligen Entscheidung beteiligt würden. Sie seien vor jedem ProzeB durch Losentscheid zu bestimmen. Beibehalten werden mußte aber die Bestimmung, wonach ein Verfassungsrichter außer einer Universitätsdozentur keinerlei anderweitige Tätigkeit ausüben dürfe, besonders nicht als Anwalt. Allenfalls erlaubt sei eine beratende Tätigkeit.

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Im September 1996 hat die Anwaltskammer eine Klage beim neuen Verfassungsgericht eingereicht mit dem Ziel, den Art. 4 LOTC dahingehend für verfassungswidrig zu erklären, daß für die Verfassungswidrigkeitserklärung eines Gesetzes insgesamt sechs der sieben Richter stimmen müssen. Die Gründe lassen sich wie folgt benennen (im folgenden unter Bezugnahme auf Sagües 1996: 103ff.): Art. 4 LOTC sei als einfaches Gesetz vom Staatsorgan Kongreß erlassen worden und habe in die essentiellen Rechte eines anderen gleichgewichtigen Staatsorgans, des Verfassungsgerichts, eingegriffen. Derartige Eingriffe und Beschränkungen dürfte aber nur ein verfassunggebendes Organ, hier z.B. der CCD, vornehmen, da es rechtshierarchisch über den genannten Staatsorganen stehe. Da die Verfassung jedoch zu der Frage des Beteiligungs- sowie des Abstimmungsquorums keinerlei Stellung bezogen habe, müßten für diese Frage die jeweils den Organen inhärenten Regeln gelten, und die wiederum müßten aus den allgemeinen Demokratiegrundsätzen abgeleitet werden. Das heiße in diesem konkreten Fall, das Quorum dürfe nur den einfachen Mehrheitsverhältnissen entsprechen; darüber hinausgehende Regelungen seien verfassungswidrigWollte man dieser Argumentationslinie folgen, ist der Kongreß als oberste Volksvertretung in seinen Legislativrechten doch nicht unbedeutend beschränkt. Gerade bei der Ausarbeitung von Organgesetzen, die die Funktion und die innere Struktur von Staatsorganen festlegen sollen, wird man immer wieder auf derartige Fragen stoßen, die eine Verfassung im einzelnen gar nicht lösen kann und soll, erhielte doch damit die Konstitution einen Umfang und eine innere Konsistenz und Statik, die nur auf den ersten Blick aufgrund der dann inhärenten Rechtssicherheit ein Ausdruck von vermeintlicher Stabilität vorspiegeln würde, denn sie wäre nicht in der Lage, die in der Zukunft notwendigen Anpassungen des Rechts an das sich ständig verändernde Umfeld zu gewährleisten. Die Folge wäre, und diese Konsequenz würde in Lateinamerika wiederholt gezogen, die erneute Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung. Die Entwicklung des lateinamerikanischen Verfassungsrechts verläuft demnach in Sprüngen, von einer Konstituanten zur nächsten. Auch wenn dann selbstverständlich nicht immer eine völlig neue Verfassung geschrieben wird, besteht dennoch eine permanente Unsicherheit ob der Kontinuität des gerade verfaßten Werks. Sodann wird vorgetragen, die Regelung behindere die Funktion des Gerichts dermaßen, daß von einer verfassungswidrigen Regelung gesprochen werden müsse. Angesichts der Tatsache, daß schon mit dem negativen Votum von zwei Richtern die übrigen fünf quasi "überstimmt" würden, sei verfassungsrechtlich nicht hinnehmbar. Dazu komme noch, daß bei einem derartigen Abstimmungsverhältnis nunmehr, sozusagen im Umkehrschluß, die angegriffene Norm mit dem Qualifikationsmerkmai "verfassungsgemäß" prämiert werde, trotz der, wie gesagt, mehrheitlichen Ablehnung im Spruchkörper. 143

Am 19.12.1996 erklärte das Verfassungsgericht die Klage für unbegründet. Damit war der Streit um das Gericht aber noch längst nicht ausgestanden; vielmehr begann jetzt eine turbulente Zeit. Im Mai 1997 hat der Kongreß drei der sieben Richter am Verfassungsgericht für abgesetzt erklärt. Der materielle Hintergrund dieser Maßnahme ist ein Beschluß jener drei Richter, wonach ein Gesetz, welches, wie es heißt, in authentischer Interpretation der Verfassung die nochmalige Wiederwahl von Präsident Fujimori im Jahr 2000 ermöglichen soll, verfassungswidrig sei. Die entsprechende Anklage vor dem Kongreß wurde von Enrique Chirinos Soto, einem Abgeordneten der Regierungskoalition, vorgetragen (El Peruano [Lima] vom 3.6.1997 [Separata Especial]). Zunächst behandelte er die Frage, ob für eine Absetzung der Richter die gleiche, nämlich Zweidrittelmehrheit, notwendig sei wie für deren Wahl, was er verneint. Hier handele es sich nicht um einen justizförmigen, sondern um einen politischen Prozeß, und für derartige Verfahren kenne die Verfassung keine besondere Regelung, so daß eine einfache Mehrheit für einen Absetzungsbeschluß ausreichend sei. Weiterhin hätten nach Art. 4 LOTC nur sechs der sieben Richter den hier zur Diskussion stehenden Beschluß fassen können. Aus arbeitsökonomischen Gründen habe der Gerichtspräsident diesen drei Richtern das Verfahren übertragen. Fast zwei Monate später habe das Verfassungsgericht als ganzes dann mehrheitlich die Entscheidung der drei Richter nachträglich sanktioniert. Ein derartiges Verhalten sei jedoch, so Chirinos, verfassungswidrig, denn nur das Gericht in seiner Gesamtheit könne irgendwelche Beschlüsse fassen. Ebenso wie im Parlament eine Stimmrechtsübertragung unzulässig sei, dürfe dies auch nicht im Verfassungsgericht praktiziert werden. Unabhängig davon, wie man die einzelnen Etappen in diesem Konflikt bewertet - das Verfassungsgericht hat sich wohl nicht gerade mit der notwendigen Souveränität präsentiert, was es den Gegnern dieser Einrichtung und speziell den Befürwortern des o.g. Beschlusses, d.h. dem Regierungslager, erleichtert hat, eine Kampagne gegen das Gericht zu fahren, die dann mit der Amtsenthebung endete. In der Folgezeit ist ein politischer Streit entbrannt, wie denn nun weiter verfahren werden sollte. Damit die vier übriggebliebenen Richter, wegen des an sich notwendigen Anwesenheitsquorums von sechs Mitgliedern, überhaupt noch tätig werden konnten, wurde mittels einer Gesetzesänderung ermöglicht, daß nur vier Richter die Verfassungsbeschwerden abhandeln konnten; eine Normenkontrolle ist ihnen aber untersagt. Aus den Kreisen der Regierungskoalition wurde vorgeschlagen, der Kongreß solle die drei Vakanzen neu besetzen, wozu es dort allerdings einer Zweidrittelmehrheit bedarf, über die die Regierung nicht verfügt. Aus Kreisen der Opposition wird dem entgegengehalten, es liefen derzeit noch Prozesse auf Wie-

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dereinsetzung der entlassenen Richter, so daß eine Neubesetzung nicht in Frage komme. Sodann wurde vorgeschlagen, der Oberste Richterrat soll zumindest eine Vorauswahl unter den potentiellen Kandidaten treffen und diese dann dem Kongreß zwecks Abstimmung unterbreiten. Diese Idee hat nur den Nachteil, daß dafür zuvor die Verfassung geändert werden müßte, was wiederum nur mit einer Zweidrittelmehrheit möglich und deshalb unter den derzeitigen politischen Verhältnissen kaum wahrscheinlich ist. Fakt ist, daß zumindest von der Regierung wohl kaum eine nachhaltige Suche nach einer Lösung dieses Problems zu erwarten ist, sind doch so Normenkontrollverfahren derzeit ausgeschlossen.

V. Bewertung Lateinamerikanische Verfassungsgerichtsbarkeit, und das zeigt die peruanische Realität exemplarisch, geht von völlig anderen Voraussetzungen aus als die Vorbilder in den westlichen Demokratien, sprich den Industrieländern. Es ist nicht allein so, daß sie vor den gleichen Schwierigkeiten stünden, wie z.B. ihr deutsches Pendant, und erst durch eine jahrzehntelange Spruchpraxis eine allgemeine Akzeptanz erreichen konnten. Trotz teilweise weitgehender formaler Übereinstimmungen hinsichtlich ihrer Institutionalisierung und materiellrechtlichen Kompetenz sind es die fundamental unterschiedlichen Ausgangsbedingungen in der jeweiligen politischen und sozioökonomischen Realität, die eine Vergleichbarkeit ausschließen. Der Hintergrund für diese Behauptung ist, daß dem Betrachter in vielen Fällen eine konkrete Auswirkung von Entscheidungen dieser Gerichte über den jeweiligen Einzelfall hinaus auf das gesellschaftliche und politische Leben in diesen Ländern nicht ersichtlich ist. In den entsprechenden Verfassungskommentaren wird man denn auch häufig vergeblich nach einschlägigen Gerichtsurteilen suchen. Die Bedeutung der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Mehrzahl der westlichen Industrieländer läßt sich am ehesten grob datieren mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Dabei wird man sie in diesen Breiten als den - derzeitigen - Schlußpunkt einer gut zweihundertjährigen Geschichte demokratischer Entwicklung betrachten dürfen. Die in der Nachkriegszeit speziell in der Bundesrepublik Deutschland tatsächlich oder vermeintlich drohende Gefahr von neonazistischer oder kommunistischer "Unterwanderung" spielt heutzutage keine entscheidende Rolle mehr. Eine entsprechende Funktion des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich des Schutzes der freiheitlich-demokratischen Grundordnung als Voraussetzung für die Existenz dieser Gesellschaft stellt damit aus heutiger Sicht eher eine theoretische Größe dar. 145

Demokratisches System heißt einmal die unterschiedslose Anerkennung und Anwendung des Mehrheitsprinzips, durch welches das Volk als oberster und alleiniger Souverän sein Schicksal bestimmt. Sozusagen als Kehrseite der Medaille erfordert der demokratische Verfassungsstaat aber gleichermaßen den Schutz der Minderheiten, der durch entsprechende Organe, hier speziell ein Verfassungsgericht, garantiert werden muß (grundlegend Kelsen 1929: 80/1). Hinzu kommt noch, und das ist wohl das bedeutsamste Ergebnis der Geschichte des 20. Jahrhunderts, die Entwicklung und Ausformung des Sozialstaates. Diese beiden Elemente haben jedoch zur Konsequenz, daß die jeweilige Mehrheit vorzugsweise eine Politik bestimmt, die in einem sozialstaatlichen System zu einer Form der ökonomischen Umverteilung auf Kosten einer Minderheit fuhrt. War der Staat des 19. Jahrhunderts noch ein liberaler "Nachtwächterstaat", dem allenfalls einige Menschenrechte abgetrotzt werden konnten, so ist der Staat des 20. Jahrhunderts dadurch gekennzeichnet, daß zusätzlich und in immer stärkerem Maß das Postulat der sozialen Gleichheit erhoben und auch durchgesetzt wird. Die Verfassungsgerichtsbarkeit steht nunmehr vor der Aufgabe, diesen von der Mehrheit eingeforderten sozialen Ausgleich in Einklang zu bringen mit den Individualrechten der Minderheit (eingehend von Brünneck 1992: 139ff.). Als zusätzliches Problem kommt noch hinzu, daß sich Verfassungsgerichtsbarkeit deshalb auch nicht mehr ausschließlich mit negativen Entscheidungen auf Beschlüsse anderer Verfassungsorgane, sei es der Legislative oder der Exekutive, begnügen kann; vielmehr ist sie auch berufen, durch positive Entscheidungen deren Kompetenz im Sinne eines Ausgleichs verfassungsrechtlicher Defizite zu beeinflussen, wenn nicht gar zu korrigieren. In Lateinamerika haben die Verfassungsgerichte diesen Stellenwert nicht oder, wenn man es optimistisch ausdrücken will, zumindest nicht in diesem Maße. Die politische und ökonomische Situation in diesen Ländern läßt eine derartige Form der Umverteilung mittels der Justiz nicht zu. Nach Ernst Fraenkel sind die westlichen Demokratien nur funktionsfähig, wenn ihre Grundprinzipien als "nicht-kontroverser Sektor" der politischen Auseinandersetzung entzogen sind (von Brünneck 1992: 134). Diese Überlegungen, denen ein Konsens zumindest über grundlegende demokratische und sozialpolitische Spielregeln zugrundeliegt, bilden in den lateinamerikanischen Staaten noch keineswegs die Basis für die politische und letztlich auch verfassungsrechtliche Auseinandersetzung. Zum einen gibt es immer noch veritable Klassenunterschiede, so daß nicht von einer pluralistischen Gesellschaft ausgegangen werden kann. Auch wenn in der jüngsten Vergangenheit beispielhaft Lebensläufe von Politikern und Unternehmern mit Wurzeln in der Unter- oder Mittelschicht vorgestellt wurden, darf das jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich hierbei lediglich um die Ausnahmen handelt, die die Regel bestätigen. Auch der in diese Kategorie fal146

lende peruanische Staatspräsident Fujimori wird von der quasi-aristokratischen Elite des Landes nicht als gleichwertig angenommen. Und dann stellen die Streitkräfte immer noch keinen integrierten Bestandteil der Gesellschaft dar, sondern werden gegebenenfalls weiterhin, wie in den vergangenen über 150 Jahren seit der Unabhängigkeit dieser Länder, zur Durchsetzung von partikularen Interessen eingesetzt, ohne diese hier im einzelnen spezifizieren zu wollen; dazu ist das putschende Militär in der Vergangenheit in seiner politischen Artikulation zu heterogen gewesen. Normalerweise unterstützt es die Eliten, versteht sich aber, wie in den 60er und 70er Jahren, auch teilweise als selbsternannter Vertreter unterprivilegierter Schichten. Unabhängig davon haben sich die Streitkräfte aber immer bewußt zunächst aus den gesellschaftlichen Konflikten herausgehalten, um dann, nach eigenem Selbstverständnis über der Verfassung stehend und gleichsam als deren Beschützer, putschend oder auch nur drohend mit Hilfe eines nächtlichen Panzeraufmarsches der politischen Auseinandersetzung die gewünschte Richtung zu verleihen. Das tun sie selbstredend immer nur im Einvernehmen mit und nach Aufforderung durch die jeweilige Minderheit. Das kann auch der Staatspräsident sein, wie am 5. April 1992, als Präsident Fujimori das Parlament auflöste, weil dieses von den Oppositionsparteien beherrscht wurde, und die gesamte, noch aus der Zeit der vorherigen Regierungen stammende Richterschaft einschließlich der Verfassungsrichter nach Hause schickte. Solange die Streitkräfte als Drohpotential in der politischen Auseinandersetzung eingesetzt werden können, ohne jedoch in das freie Spiel der Kräfte eingebunden zu sein, ist die Entwicklung hin zu einer pluralistischen Demokratie in diesen Ländern nicht möglich. Inwieweit das in diesen Gesellschaften noch herrschende reale Gewaltpotential auch Auswirkungen auf Verfassungsrichter haben kann, dafür seien nur ein paar Beispiele genannt (nach Lösing 1996: 159ff.). Das guatemaltekische Verfassungsgericht hatte 1993 den "Staatsstreich von oben" von Präsident Serrano für verfassungswidrig erklärt; im folgenden Jahr wurde der Gerichtspräsident in der Hauptstadt Guatemala ermordet. Der Präsident des peruanischen Verfassungsgerichts wurde überfallen; mehrere seiner Leibwächter wurden getötet. Das Fahrzeug eines kolumbianischen Verfassungsrichters wurde beschossen. Natürlich kann man dies auch als Beispiele für die "normale" Straßenkriminalität abtun; ungewöhnlich bleiben sie jedoch allemal. Den Grund dafür wird man suchen müssen in dem immer noch erheblichen sozialen und ökonomischen Gefälle, welches diesen Gesellschaften inhärent ist. Damit ist nicht nur die weit auseinandergehende Schere in der Einkommensund Vermögensverteilung gemeint; entscheidend ist vielmehr die Tatsache, daß große Teile der Bevölkerung am Rande des Existenzminimums leben müssen. Da erhalten die sozialstaatlichen Verfahren für diese Menschen eine ganz andere, eine existentielle Bedeutung, während der Prozeßgegner aus der kleinen, 147

aber wirtschaftlich wohlhabenden Oberschicht hierin keinen seine soziale Position bedrohenden Konflikt sehen muß. Hinzu kommt noch, aber dies soll hier als Phänomen nur am Rande angedeutet werden, das erhebliche Korruptionspotential in der Richterschaft aufgrund unzureichender Besoldung. Auch dies ist natürlich ein Ausdruck unterschiedlicher ökonomischer Standards, die es ermöglichen, die richterliche Unabhängigkeit zu unterminieren. Nach Schätzungen von offizieller Seite werden an peruanischen Gerichten jährlich ca. 500 Millionen Soles (rund 350 Millionen DM) an Schmiergeldern gezahlt, und das bei einem Justizetat von 375 Millionen Soles (El Comercio [Lima] vom 30.9.1997: A 4). Gleichheit im Sinne von Chancengleichheit ist in diesen Ländern weitestgehend ein wohl noch nicht realisierbares Postulat. Vor diesem Hintergrund erscheint es nachgerade verwegen, nunmehr ausgerechnet die Justiz, und sei es auch in der Form der Verfassungsgerichtsbarkeit, für die Beseitigung dieser strukturellen Defizite instrumentalisieren zu wollen. Eine weitere Aufgabe der Verfassungsgerichte in den Industrieländern ist die Schlichtung von Organstreitigkeiten. Auch hier ist der Ausgangspunkt für die Akzeptanz gerichtlicher Entscheidungen durch die unterlegene Prozeßpartei, daß sie dadurch keine existentielle Bedrohung gewärtigen muß. Dazu kommt, daß sie als Verliererin später vielleicht einmal, bei einer Umkehr der politischen Machtverhältnisse, die Vorteile aus diesem Urteil für sich in Anspruch nehmen kann. Eine ähnlich mittel- bis langfristige Perspektive ist der lateinamerikanischen Politik aus den angegebenen Gründen fremd. Verfassungsgerichtsbarkeit, überhaupt jegliche Gerichtsbarkeit, bedarf als unabdingbar notwendiger Grundlage ihres Vorhandenseins einer allgemeinen gesellschaftlichen Akzeptanz, der Anerkennung als die einzige legitime streitentscheidende Institution. Dies mag vielen als Gemeinplatz erscheinen, verdient jedoch, ab und zu ins Gedächtnis gerufen zu werden. Angesichts dieses Szenariums bleibt in Lateinamerika zu erwarten, daß Verfassungsgerichte allenfalls bei der Lösung marginaler Auseinandersetzungen zwischen obersten Staatsorganen eine Rolle spielen werden. Fundamentale Konflikte können sie nicht lösen. Oberflächlich betrachtet unterscheiden sie sich hierin vielleicht gar nicht einmal so sehr von ihrem Pendant in Karlsruhe. Aber die Grundentscheidungen für den Aufbau des demokratischen und sozialstaatlichen Systems in der Bundesrepublik sind bereits getroffen und durchgesetzt worden. Die Urteile des Bundesverfassungsgerichts dienen deshalb eher der Absicherung dieses Systems durch Einbindung gerade von deren Minderheiten und damit der Aufrechterhaltung eines breiten gesellschaftlichen Konsenses (von Brünneck 1992: 144ff.).

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Lateinamerikanische Verfassungsgerichte können nicht auf dieser Basis aufbauen, sondern sind - derzeit zumindest - berufen, an der Herausbildung demokratischer Grundstrukturen erst noch mitzuarbeiten. Eine weitere wichtige Aufgabe von Verfassungsgerichten ist die Überprüfung von Gesetzen auf ihre Verfassungsmäßigkeit. Auf die Unterschiede zwischen dem europäischen und dem amerikanischen Rechtssystem wurde an anderer Stelle hingewiesen. Hier gilt im Prinzip das schon zuvor Gesagte: Die häufig anzutreffende mangelnde Akzeptanz der Urteile und daraus folgend ihre Mißachtung bzw. ihr Konterkarieren durch entsprechende Regierungspolitik macht eine kontinuierliche Arbeit der Gerichte unmöglich (siehe Beispiele bei Rubio 1988: 92). Zur Illustration der existentiellen Bedeutung dieser Aussage sei nur verwiesen auf die Diskussion im bundesdeutschen politischen Raum über die Verfassungsgerichtsurteile zu dem Tucholsky-Zitat oder zu den Kruzifixen in bayerischen Schulräumen. Daß Karlsruhe zuvor schon wiederholt von der unterlegenen Partei kritisiert, ja sogar beschimpft wurde, ist dabei nicht sonderlich erstaunlich und muß auch in einer juristischen Diskussion ausgehalten werden. Dies ist nichts Neues; die Geschichte des Bundesverfassungsgerichts, gerade aus seiner Frühzeit in den 50er bis in die 60er Jahre hinein, weiß mannigfaltige Beispiele zu benennen. Problematisch und neuartig, und daher an dieser Stelle auch nur erwähnenswert, ist die Reaktion gerade von Teilen der politischen Elite der Bundesrepublik auf die genannten Urteile. Die Einzelheiten sind bekannt. Hier zeigt sich, wohl erstmals in der Geschichte des Bundesverfassungsgerichts, der politische Versuch einer Mißachtung, oder genauer, der Nichtanerkennung einer Gerichtsentscheidung, der offenkundige Wille, ein Urteil aus Karlsruhe sozusagen als Nullum zu qualifizieren. Dieses Phänomen ist bis dato an sich nur in der lateinamerikanischen Praxis im Verhältnis Exekutive/Legislative und Judikative problematisiert worden. Inwiefern in dem soeben skizzierten bundesdeutschen Phänomen ein Element verfassungsrechtlicher Globalisierung im Sinne einer Angleichung europäischer Überzeugungen an die Standards von Entwicklungsländern gesehen werden kann, wird sich vielleicht erst in Zukunft herausstellen. Denn festzuhalten bleibt, daß eben diese Standards beispielsweise in Lateinamerika geprägt sind von einer speziell staatlicherseits ausgeprägten Indifferenz. Gerichtsentscheidungen werden, solange sie nicht allzu störend sind, hingenommen, vorzugsweise noch mit einer pompösen Erklärung versehen hinsichtlich der doch hierin sichtbar werdenden rechtsstaatlichen Überzeugung der Regierung. Sollten diese justiziellen Nadelstiche jedoch die - häufig sehr niedrige - Schmerzgrenze überschreiten, reagieren Exekutive und Legislative mit Strafversetzung der Richter oder gar deren Entlassung; im Fall des Verfassungsgerichts kann das auch schon einmal mit der Entfernung von Richtern aus dem höchsten Gericht enden, so geschehen Anfang 1997 in Peru. 149

Sicherlich wäre es unangemessen, der Verfassungsgerichtsbarkeit in Lateinamerika einen eigenen Stellenwert abzusprechen. Dagegen sprechen die großen Eingangszahlen der Beschwerdeverfahren bei verschiedenen Gerichten (Lösing 1996: 164/5). Sie allein dokumentieren schon das teils recht hohe Ansehen der Gerichte in der Bevölkerung (Lösing 1996 hebt dabei besonders die Gerichte in Costa Rica und Kolumbien hervor). Dennoch wird man nicht die strukturellen Probleme übersehen können, die ihre Ursachen in den noch nicht vollständig entwickelten demokratischen Gesellschaften dieser Länder haben. Die dortige Verfassungsgerichtsbarkeit ist also noch weit davon entfernt, den Schlußstein in dem komplizierten demokratischen Gebäude zu bilden.

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Kurt Madiener

Die Justiz als Garantin der Menschenrechte in Lateinamerika: Die Unabhängigkeit der Justiz und der Richter I.

Bedeutung und Problematik des Themas

Im Rahmen eines umfangreichen deutsch-lateinamerikanischen Forschungsprojektes zum Thema "Die Justiz als Garantin der Menschenrechte in Lateinamerika"1 werden folgende Themenbereiche untersucht: • die Unabhängigkeit der Justiz und der Richter, • Menschenrechte und Strafverfahren, • Menschenrechte und Gefangniswesen. Das Forschungsprojekt wurde von mir in meiner Eigenschaft als wissenschaftlicher Referent des MaxPlanck-Instituts ftlr auslandisches und internationales Strafrecht ausgearbeitet. Seit Herbst 1993 wird es in Zusammenarbeit mit mehr als 1 SO lateinamerikanischen Kollegen in rund SO Forschungsgruppen durchgeführt. Die Mehrzahl der Landesberichte liegt bereits vor, ein Teil davon und eine erste rechtsvergleichende Analyse in veröffentlichter Form. Die Landesberichte zu zehn Rechtsordnungen Mittelamerikas und Mexikos sind (zusammen mit weiteren Materialien, insgesamt etwas mehr als 800 Seiten) 1996 vom Instituto Latinoamericano de las Naciones Unidas para la Prevención del Delito y el Tratamiento del Delincuente (ILANUD) mit Unterstützung der Europaischen Gemeinschaft in Costa Rica veröffentlicht worden (s. Madlener/Zaffaroni 1996), die erste Fassung des rechtsvergleichenden Querschnitts (ca. 90 Seiten) dazu in Spanien (s. Madiener 1996b). Die entsprechenden Landesberichte zum zweiten Thema liegen ILANUD seit zwei Jahren vor, das sie derzeit zur Veröffentlichung vorbereitet. Die weiteren Berichte und Querschnitte werden von mir mit Hilfe lateinamerikanischer Institutionen in Zusammenarbeit mit Advogada Silma Marlice Madiener (Freiburg/Slo Paulo) herausgebracht. Unterstützt wurde das Vorhaben in dankenswerter Weise auch durch die Teilnahme europaischer Wissenschaftler als Referenten an mehreren Projektkolloquien in Lateinamerika. So beteiligten sich Verfassungsrichter Professor Dr. Vicente Gimeno Sendra aus Madrid und Professor Dr. Nicolás Gonzílez-Cuéllar Serrano aus Toledo sowie Professor Dr. Dres. h.c. mult. Günther Kaiser und Professor Dr. Hans-Jörg Albrecht, Direktoren des Max-Planck-Instituts fUr auslandisches und internationales Strafrecht, an Kolloquien in Oaxaca (Gimeno Sendra), San José de Costa Rica (González-Cuéllar Semino), Salvador da Bahia (Kaiser) und Curitiba (Albrecht).

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Gegenstand der folgenden Darlegungen sind die vorläufigen Ergebnisse, die hinsichtlich des ersten Themas erzielt worden sind. Eine umfassende Darstellung ist hier allerdings nicht möglich. Es muß daher genügen, wenn einige Hauptpunkte herausgestellt und dazu gegebenenfalls Beispiele genannt werden. Im übrigen ist auf die bereits erschienenen und weitere in Vorbereitung befindliche Veröffentlichungen zu verweisen. Das Thema "Die Unabhängigkeit der Justiz und der Richter" ist grundlegend, denn die Unabhängigkeit der Justiz und der Richter ist unabdingbare Voraussetzung für den Schutz der Menschenrechte. Wo Justiz und Richter nicht unabhängig sind, gibt es keinen Schutz der Menschenrechte. Bedroht und verletzt werden die Menschenrechte regelmäßig durch die Exekutive. Ihr Einhalt zu gebieten, ist die Rechtsprechende Gewalt berufen. Genießt diese aber keine Unabhängigkeit, dann kann sie ihre Schutzfunktion nicht ausüben. Aus diesem Grunde war dieses Thema an die erste Stelle im Projekt zu setzen. Es sei erinnert an einen Satz, der Fritz Pringsheim zugeschrieben wird: "Gute Richter und schlechtes Recht sind für ein Volk unendlich viel besser als gutes Recht und schlechte Richter". Gute Richter sind notwendigerweise unabhängige Richter. Der abhängige ist überhaupt kein Richter: Nicht er entscheidet, sondern ein anderer. Nicht übersehen werden sollte, daß die Unabhängigkeit der Justiz und der Richter auch für das Wirtschaftsleben Bedeutung hat. Nur eine unabhängige Justiz kann Rechtssicherheit gewähren. Dies ist, wie nicht betont werden muß, auch für Auslandsinvestitionen wichtig. Für multinationale Unternehmen mag es nicht entscheidend sein, ob die Justiz in dem Land, in dem sie investieren, unabhängig ist oder nicht. Regelmäßig haben sie Zugang zu den Spitzen der Exekutive und können daher richten, was ihnen erforderlich scheint. Auch stehen ihnen genügend Mittel zur Verfügung, um auf allen Ebenen Einfluß auszuüben. Anders ist es aber für mittlere und kleinere Unternehmen. Diese sind darauf angewiesen, daß in dem betreffenden Land eine unabhängige Justiz für Rechtssicherheit sorgt. Die Unabhängigkeit der Justiz ist deswegen ein so schwieriges Thema, weil es sich um elementare Fragen der Machtverteilung im Staat handelt. Die Idee der Gewaltenteilung hat sich durch die Aufklärung, insbesondere durch die Schriften des französischen Philosophen Montesquieu, seit dem 18. Jahrhundert überall auf der Welt verbreitet. Sie zielt auf eine Beschränkung der Machtfülle der Exekutive und sucht ein gewisses Gleichgewicht zwischen verschiedenen Gewalten im Staat herzustellen. Stichwörter sind dafür heutzutage "checks and balances", "pesos y contrapesos". Als lateinamerikanische Kolonien Portugals und Spaniens zu Beginn des 19. Jahrhunderts ihre Unabhängigkeit erlangten, war die französische Revolution zwar bereits gescheitert, aber ihre Ideen waren lebendig und überall in Lateinamerika bekannt. Ganz besondere Bedeutung

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hatte aber die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika, in der das System der "checks and balances" eine konkrete Ausformung gefunden hatte. Für die lateinamerikanischen Verfassungen stand daher die amerikanische Verfassung als Modell im Vordergrund. So findet man in den lateinamerikanischen Republiken regelmäßig eine Präsidialverfassimg mit einem starken Präsidenten als Staatsoberhaupt und Chef der Exekutive, ein Parlament, in den Bundesstaaten auch einen Senat, und daneben eine nach dem Verfassungstext unabhängige Justiz. Das System der "checks and balances" ist somit zwar äußerlich übernommen worden. Es läuft aber weitgehend leer. Herausgebildet hat sich eine "hegemonía del Órgano Ejecutivo sobre los otros órganos del Estado" (Guerra de Villalaz 1996: 699). Betrachten wir zum Beispiel Brasilien nach der Verfassung von 1988, so sehen wir, daß der Präsident der Republik mit Hilfe von Notverordnungen (medidas provisorias) weitgehend ohne das Parlament regiert (s. Samtleben). Diese Notverordnungen sind zwar nach der Verfassung in ihrer Gültigkeit auf 30 Tage beschränkt. Danach ergeht aber meist eine neue Notverordnung, die manchmal mit geringen Änderungen den Eindruck erwecken soll, es handle sich um eine neue Norm. Oft wird indessen der Text einfach wiederholt, und regelmäßig geht es darum, eine einmal vom Präsidenten getroffene Regelung zu perpetuieren. Auch auf dem Gebiet der Justiz behauptet der Präsident in vielen lateinamerikanischen Ländern seine traditionell starke Stellung. Zwar sind die Staatspräsidenten bei der Ernennung der Richter an den obersten Gerichten regelmäßig auf die Zustimmung des Parlaments oder des Senats angewiesen. In der Praxis stellt das für sie aber kaum ein Problem dar, wenn sie ihre Wunschkandidaten durchsetzen wollen (s. Galván González 1996: 547f.). Das geltende Prinzip ist daher nicht Gewaltenteilung, sondern Gewaltenkonzentration, und zwar in der Spitze der Exekutive. Der Widerspruch zur Idee des Rechtsstaats ist offensichtlich. Die wichtigsten Reformvorhaben auf dem Gebiet der Justiz sind daher nicht diejenigen, welche neue Prozeßordnungen einführen sollen, wenngleich auch sie angesichts der Antiquiertheit vieler Verfahrensgesetze dringend sind: Eine von der Exekutive abhängige Justiz wird auch nach der Einführung neuer Prozeßgesetze die Tendenz haben, der Regierung genehme Entscheidungen ohne Rücksicht auf Recht und Gerechtigkeit zu treffen. Von der Modernisierung der Verfahrensordnungen allein sind im grundlegenden Bereich der Unabhängigkeit der Justiz keine entscheidenden Fortschritte zu erwarten. Wo es an der Unabhängigkeit fehlt, kann nur eine Änderung der Gerichtsverfassung Besserung bringen. Solche Reformen müssen die Stärkung der Justiz zum Ziele haben, damit neben die übermächtige Gewalt der Exekutive (und neben die Legislative) eine Dritte Gewalt tritt, die den anderen Staatsgewalten Grenzen setzen und den Rechtsgewährungsanspruch des Bürgers einlösen kann. 154

Freilich genügt es nicht, wenn die Justiz von den anderen Staatsgewalten unabhängig ist. Dies allein setzt sie noch nicht in den Stand, die Menschenrechte zu schützen. Erforderlich ist auch eine entsprechende personelle und sachliche Ausstattung, damit sie in der Lage ist, ihre Aufgabe als Dritte Gewalt zu erfüllen. Es reicht also nicht, daß der Justiz und den einzelnen Richtern die Unabhängigkeit normativ verbürgt ist. Sie müssen auch die Möglichkeit haben, das ihnen übertragene Amt als unabhängige Richter ohne andere Einschränkungen als denen, die sich aus dem Gesetz ergeben, auszuüben. Zur personellen Ausstattung gehört, daß überhaupt eine ausreichende Zahl von Richterstellen vorgesehen und daß diese auch besetzt werden. In mehreren brasilianischen Bundesstaaten z.B. bleibt häufig eine beachtliche Zahl von Richterstellen jahrelang vakant, angeblich aus Mangel an geeigneten Kandidaten (Juristinnen wurden noch vor wenigen Jahren mancherorts systematisch abgewiesen; es wurde also insofern gar kein Versuch unternommen, den Mangel an qualifizierten Juristen durch Juristinnen auszugleichen.). Gelegentlich dürfte der Grund aber auch darin zu suchen sein, daß zum Beispiel einflußreichen Grundeigentümern unbesetzte Gerichte in ländlichen Gegenden gelegen kommen. Ein Problem sind auch die Richterbezüge. Es liegt auf der Hand, daß es einem Richter, der von seinem Gehalt nicht leben kann, schwerer fallen mag, seine Unabhängigkeit zu wahren, als demjenigen, dem ein Gehalt zusteht, das ihm eine seiner Stellung entsprechende Lebenshaltung erlaubt. Dabei darf nicht vergessen werden, daß das Leben in Lateinamerika oftmals sehr teuer ist. Zum Beispiel sind die Kosten medizinischer Behandlungen wesentlich höher als in Deutschland, und nicht überall gibt es Versicherungen, die das Krankheitsrisiko adäquat abdecken. Ist eine bestimmte Behandlung nicht im Lande möglich, so muß man in die USA reisen (z.B. aus manchen mittelamerikanischen Ländern), um sie dort zu erhalten. Sehr kostspielig sind auch die Privatschulen und -Universitäten, die häufig unvermeidlich sind. Dies alles ist bei der Bewertung der Einkommen (s. Angaben dazu in den Landesberichten, Madlener/Zaffaroni 1996) zu berücksichtigen. Sie sind meist für die Richter an den Untergerichten unzureichend und nur an den obersten Gerichten überwiegend angemessen, aber nicht übertrieben. In der brasilianischen Justiz werden zum Beispiel Richtergehälter gezahlt, die in vielen Fällen den deutschen in etwa entsprechen. Das nichtrichterliche Personal ist allerdings fast überall unterbezahlt, was sich natürlich auf die Arbeit der Justiz auswirkt. In diesem Zusammenhang muß auch die Aus- und Fortbildung der Richter berücksichtigt werden. Gut ausgebildete, fachlich kompetente Juristen können ihre Unabhängigkeit in der Regel besser behaupten als unfähige. Bei der Richteraus- und -fortbildung liegt jedoch manches im argen (s. Madiener 1996a: 2123). Fast in allen Ländern wurden zwar in den letzten Jahren Richterschulen gegründet. Ihre Aufgabe ist aber nicht überall klar definiert. Auch herrscht 155

manchmal Unsicherheit über die anzuwendenden Lehrmethoden. Soweit ausländische Lehrer eingesetzt werden, wird oft beklagt, daß sie mit dem einheimischen Recht nicht genügend vertraut seien und von der Rechtspraxis nur wenig Ahnung hätten (dieser Vorwurf wird häufig auch gegen die von ausländischen Entwicklungshilfeorganisationen entsandten Fachberater erhoben). Hier gilt es also, noch manche Verbesserungen durchzuführen. Besondere Schwierigkeiten macht das unterschiedliche Niveau der Ausbildung an den Rechtsfakultäten, das nicht nur von Land zu Land sehr unterschiedlich ist, sondern auch innerhalb der Länder von Fakultät zu Fakultät. Überall aber ist das Jurastudium - wie regelmäßig in Ländern des romanischen Kulturkreises - zu theoretisch. An der Begabung und dem Lerneifer der Studenten fehlt es dagegen nicht. Allerdings wirkt sich an den Fakultäten auch nachteilig aus, daß die Professoren miserabel bis mäßig bezahlt sind. Dies zwingt sie fast immer, entweder gleichzeitig an mehreren Universitäten Lehrverpflichtungen zu übernehmen oder aber ihren Lebensunterhalt in einem anderen Beruf zu verdienen (insbesondere als Anwalt, Syndikusanwalt, Richter, Staatsanwalt oder Öffentlicher Verteidiger), wodurch die Lehrtätigkeit zum Nebenberuf wird. Groß sind die Gegensätze bei der sachlichen Ausstattung der Gerichte. Sehr gut ist sie in Costa Rica (Castillo González 1996: 121). In Brasilien, im Bund wie in einer Reihe von Ländern (z.B. in Bahia und Säo Paulo), ist die Informatisierung wesentlich weiter fortgeschritten als in Deutschland. Andernorts fehlen den Untergerichten häufig selbst Schreibmaschinen und Gesetzestexte (s. Suazo Lagos 1996: 366/369). An der Ausstattung der Bibliotheken hapert es oft, auch an den höheren Gerichten (s. z.B. González Zúñiga 1996: 520; Madiener 1996b: 722).

II. Arbeitsmethode Ein Forschungsvorhaben dieser Art läßt sich am Schreibtisch selbst eines bibliographisch verhältnismäßig gut ausgestatteten europäischen Forschungsinstituts nicht durchführen. Erforderlich sind der unmittelbare Kontakt und eine genaue Kenntnis der tatsächlichen Verhältnisse, da die Unterschiede zwischen geschriebenem und gelebtem Recht auf dem Gebiet der Menschenrechte und der mit ihrem Schutz befaßten Institutionen bekanntlich erheblich sind. Es läßt sich auch nicht von einem einzigen Wissenschaftler allein durchführen, selbst wenn ihm eine Hilfskraft zur Seite steht. Methodisch wurde daher so vorgegangen, daß in den für die Untersuchung ausgewählten Ländern Forschungsgruppen mit erfahrenen einheimischen Juristen aus verschiedenen Berufsfeldern gebildet wurden. Unter der Leitung eines Koordinators bearbeiten so Richter, Staatsanwälte, Öffentliche Verteidiger, Rechtsanwälte, Professoren usw. das Thema anhand eines in Freiburg von mir 156

ausgearbeiteten Forschungsplanes. Dieser wurde zu Beginn der Arbeit bei einem mehrtägigen Seminar in Oaxaca/Mexiko im November 1993 mit den Koordinatoren diskutiert und von ihnen ohne Abänderung gebilligt. Der einheitliche Arbeitsplan {Instrumento Base, abgedruckt in Madlener/Zaffaroni (1996: 825-832)) soll die Vergleichbarkeit der Ergebnisse sichern. Für Argentinien, Brasilien und Mexiko wurden neben der jeweiligen Forschungsgruppe für das Bundesrecht weitere Gruppen in mehreren Bundesländern (Provinzen) gebildet, da es sich um Bundesstaaten handelt, die neben einer bundesstaatlichen Gerichtsorganisation in jedem einzelnen der Bundesländer und im jeweiligen Bundesdistrikt über eine vollständige Gerichtsorganisation mit eigenem Gefangniswesen, z.T. auch über eigene Prozeßgesetze, verfugen. Dadurch soll wenigstens bis zu einem gewissen Grad ein Einblick in die teilweise andere Rechtslage und Rechtswirklichkeit in den Bundesländern gegeben werden. Inzwischen haben im Rahmen des Forschungsprojekts nach dem Eröffnungskolloquium in Oaxaca acht weitere Kolloquien stattgefunden (San José, Quetzaltenango, Mazatlán, Salvador I, Recife, Salvador II, Guadalajara und Curitiba) sowie ein Treffen in Boa Vista. Das X. Kolloquium wird für Herbst 1998 vorbereitet. Die Kolloquien dienen nicht nur der Verständigung über den für jedes Thema einheitlichen Arbeitsplan, sondern auch der Diskussion der jeweils erzielten vorläufigen Ergebnisse. Darüber hinaus sollen sie auch mittels öffentlicher Veranstaltungen in der Fachwelt Interesse für die Forschungsthemen und Reformbereitschaft wecken. Diese Veranstaltungen fanden ein bemerkenswertes Echo: Oft kamen dazu mehrere Hundert Teilnehmer aus der näheren und weiteren Umgebung zusammen. Abgesehen von einer finanziellen Beteiligung der Europäischen Gemeinschaft an den ersten vier Kolloquien, die über ILANUD erlangt wurde, und des Goethe-Instituts an dem Kolloquium in Guadalajara sind die Kosten der Kolloquien stets von lateinamerikanischen Institutionen getragen worden. Besonderer Dank gebührt dafür neben den bereits genannten Institutionen der Universität von Mazatlán und den obersten Landesgerichten von Bahia, Oaxaca, Paraná und Pemambuco. Veröffentlicht werden nicht nur die Landesberichte (jeweils in der Sprache des Autors, also Portugiesisch oder Spanisch), sondern auch ein sog. Querschnitt, d.h. eine rechtsvergleichende Analyse (bisher in Spanisch). Diese Veröffentlichungen sind bereits in Lateinamerika erschienen (s.o. Fußnote 1) oder werden dort erscheinen, denn die Ergebnisse der Forschungsarbeit sollen im Hinblick auf anstehende Reformvorhaben an Ort und Stelle zugänglich sein.

III. Das traditionelle Bild der lateinamerikanischen Justiz Das traditionelle Bild oder Zerrbild der lateinamerikanischen Justiz sieht so aus, daß der Präsident der Republik die Zusammensetzung "seines" obersten Ge157

richts selbst bestimmt, d.h. dessen Richter ernennt, und zwar für die Dauer seiner Amtszeit. Dies bedeutet, daß er sie auswählt, möglicherweise mit Zustimmung des Parlaments, in dem er die Mehrheit hat. Die Amtszeit der Richter ist kurz, vier, fünf oder sechs Jahre, und stimmt mit der des Präsidenten weitgehend überein. Wird dieses Verfahren angewandt, dann hat der Präsident der Republik nicht zu befürchten, daß seiner Politik oder den Interessen seiner Parteifreunde (oder seines Clans) durch die Rechtsprechung Steine in den Weg gelegt werden könnten. Ist das oberste Gericht mit Parteifreunden, Gefolgsleuten und Freunden des Präsidenten der Republik versehen, dann setzt sich diese Ausrichtung auf die unteren Gerichte fort. Dies wird durch die Zuständigkeit des obersten Gerichts zur Ernennung der Richter an den Untergerichten bewirkt. Solche Verhältnisse finden sich in mehr oder weniger starker Ausprägung heute noch in Honduras, wo die Amtszeit der Richter am Obersten Gerichtshof vier Jahre beträgt, in Guatemala sechs Jahre und in Nikaragua sieben Jahre. Ähnlich ist es in mexikanischen Bundesstaaten, zum Beispiel in Veracruz-Llave (drei Jahre Amtszeit) und San Luis Potosí (sechs Jahre, also das berühmte mexikanische "sexenio"). Dies sind nicht die einzigen Anzeichen, die darauf hindeuten, daß es mit der Unabhängigkeit der Justiz in einigen Ländern nicht gut bestellt ist. In Guatemala beispielsweise gibt es bis heute keine Richterlaufbahn. Seit 1987 liegt dem Parlament ein Gesetzentwurf vor, der die Einführung der Richterlaufbahn zum Ziel hat. Er ist aber bisher nicht verabschiedet worden. Man spricht zwar von einer "carrera judicial de hecho" (Rivera Wöltke 1996: 268). Es fehlt aber eine gesetzliche Regelung, die dem Richter durch Garantien in der Ausgestaltung seines Dienstverhältnisses (insbesondere durch die Garantie der Unabsetzbarkeit) Unabhängigkeit verbürgt. Nicht viel besser steht es damit in Mexiko (s. Moreno Hernández 1996: 386/387). In anderen Ländern, z.B. in Honduras, ist die Bezahlung der Richter zumindest in dem unseren Amtsgerichten vergleichbaren Bereich so gering, daß die Richterämter nicht ordnungsgemäß besetzt werden können. Zur Übernahme dieser miserabel vergüteten Richtertätigkeit finden sich nur Juristen bereit, die nicht alle Einstellungsvoraussetzungen des Richtergesetzes (Ley de Carrera Judicial von 1980) erfüllen. Diese Kandidaten werden notgedrungen mangels besserer ernannt. Da sie aber die gesetzlichen Voraussetzungen für das Richteramt nicht erfüllen, können sie nicht auf Lebenszeit eingestellt werden. Dies gilt für die Mehrheit der Richter, die daher nur "interinos" sind (Suazo Lagos 1996: 337). Ein wichtiges Element der Unabhängigkeit fehlt ihnen. Art. 73 der Verfassung des mexikanischen Bundeslandes San Luis Potosí bestimmt, daß die Richter erster Instanz jederzeit nach dem Ermessen des obersten Landesgerichts entlassen werden können {"Los jueces de primera instancia serán nombrados y removidos libremente por el Supremo Tribunal de Justicia 158

del Estado."). Bemerkenswert ist auch das Gesetz über den öffentlichen Dienst des mexikanischen Bundeslandes Sinaloa. Dort wird in Art. 7 klipp und klar gesagt, daß Richter "empleados de confianza" sind. Schwindet das Vertrauen zu einem Richter, dann kann er aus seinem Amt entfernt werden. In anderen Rechtsordnungen finden sich nicht so deutliche Festlegungen wie in Sinaloa. Man darf aber davon ausgehen, daß vielerorts die Einstellung und sogar die Regelung dieselbe ist (s. González Zúñiga 1996: 509). Der Begriff "empleado de confianza" erinnert an den unseres "politischen Beamten". Die Unterschiede sind allerdings insofern erheblich, als unser "politischer Beamter" eine komfortable besoldungsrechtliche Versorgung genießt, während der "empleado de confianza" nach der Entlassung in aller Regel sich selbst überlassen bleibt. Er muß also ein großes persönliches Interesse daran haben, sich das Vertrauen der Entscheidungsträger zu erhalten, um nicht seine Stellung - seiner und seiner Familie wirtschaftliche Lebensgrundlage - zu verlieren. Zu Unrecht wird den Laienrichtern, die in mehreren Ländern (s. Madiener 1996b: 758-761) als Amts- oder Friedensrichter tätig sind und der Zahl nach die gelehrten Richter häufig übertreffen (in San Luis Potosí sind es mehr als 8.000; s. González Zúñiga 1996: 495f./517), im allgemeinen wenig Beachtung geschenkt (s. aber Brandt 1987). Zuständig sind sie für Bagatellangelegenheiten. Für die arme Landbevölkerung, die Mehrheit oder jedenfalls einen großen Teil der Landesbewohner, sind sie aber die Richter, zu denen der leichteste Zugang besteht, und was aus der Sicht der meist hochbezahlten Gesetzgeber als Bagatelle erscheint, stellt sich für die Dorfbewohner ganz anders dar. Diese Richter sind oft nur unvollkommen (z.B. in San Luis Potosí; s. González Zúñiga 1996: 495f.) oder gar nicht (z.B. in Panama; s. Guerra de Villalaz 1996: 702) der Dritten Gewalt zugeordnet. Ob ihre Unabhängigkeit ausreichend gewährleistet ist, steht dahin. In Nikaragua kann der Oberste Gerichtshof den juez local, der bis 1988 nur des Lesens und Schreibens mächtig sein mußte, seither aber Jurastudent "oder sonst mit Fachkenntnissen versehen" sein soll, jederzeit abberufen (Cuarezma Terán 1996: 665).

IV. Reformen Der geschilderte Zustand wird allerdings vielfach nicht mehr als hinnehmbar empfunden. In vielen Ländern haben daher Reformen eingesetzt. Es ist indessen nicht immer leicht zu entscheiden, ob die Politiker, die diese Reformen ausarbeiten und durch das Gesetzgebungsverfahren bringen, an einer Verbesserung der Unabhängigkeit der Justiz interessiert sind oder ob es ihnen nur darum geht, gegenüber der Öffentlichkeit den Schein zu wahren. Nicht selten werden Reformen aus außenpolitischen Gründen auf den Weg gebracht, etwa um Kritik aus den USA zu begegnen. Das wird nicht immer offenbar (s. aber Madiener 159

1993: 280, Anm. 16), dürfte aber häufig zumindest mitursächlich sein. Ob diese Reformen dann auch zielstrebig und sachgemäß umgesetzt werden, ist eine andere Frage. Mit dem Erlaß von Gesetzen allein ist es in Lateinamerika (und nicht nur dort) bekanntlich nicht getan. Das volkreichste hispanophone Land Lateinamerikas, Mexiko, hat als Bundesstaat den Justizaufbau von den USA übernommen. Vorbild war der Judiciary Act von 1789. Der Bund verfugt daher über einen dreistufigen Justizaufbau. Daneben besitzen auch die Bundesländer und der Bundesdistrikt ein eigenes Gerichtswesen. Von einer Unabhängigkeit der Justiz kann freilich kaum die Rede sein. Bekanntlich herrscht in Mexiko seit vielen Jahrzehnten der Partido de la Revolución Institucionalizada (PRI), dessen Herrschaft erst in letzter Zeit durch Gewinne der Oppositionsparteien allmählich in Frage gestellt wird. Ergebnis der jahrzehntelangen Einparteienherrschaft ist ein Filz, der Bund und Länder durchzieht und zur Stärkung der Zentralgewalt des Präsidenten der Republik beiträgt. Normative Unabhängigkeitsgarantien bedeuten hier wenig, wie die jüngste Reformgeschichte zeigt. Der derzeitige Präsident Ernesto Zedillo Ponce de León hat Ende 1994 sein "sexenio" begonnen und sogleich eine umfassende Justizreform eingeleitet (s. im einzelnen Madiener 1996b: 704/713/718). Diese stand allerdings unter keinem guten Stern. Sie begann damit, daß die verfassungsrechtliche Garantie der Unabsetzbarkeit, die für die Richter des Obersten Bundesgerichtshofs seit 1944 galt, durch einen Federstrich des Verfassungsgesetzgebers aufgehoben wurde. Alle 25 Richter wurden daraufhin zwangspensioniert. Zwei davon wurden übrigens anschließend wieder ernannt, was nur durch eine maßgeschneiderte Änderung der Verfassung möglich war, denn diese sieht vor, daß eine Ernennung zum Richter am Obersten Gerichtshof nur einmal erfolgen kann. Die Reform führte ein neues System der Richterwahl ein, das darauf zielt, den Einfluß des Präsidenten der Republik bei der Ernennung der Richter einzuschränken. Nach dem alten System hatte er dem Senat, der wie in den USA zuständig ist, lediglich einen Kandidaten fiir jedes zu besetzende Amt eines Richters am Obersten Bundesgerichtshof vorzuschlagen. Nach der Verfassungsänderung muß er ihm eine "terna" vorlegen, also eine Dreierliste. Allerdings ist dieses neue System gewissermaßen Zukunftsmusik. Auf die Neubesetzung der auf elf reduzierten Richterstellen am Obersten Bundesgerichtshof nach Zwangspensionierung der alten Amtsinhaber war es nicht anzuwenden. Dies hinderte eine Übergangsvorschrift. Danach hatte der gegenwärtige Präsident, der die Reform einführte, nicht elf Dreierlisten (mit insgesamt 33 Namen) einzureichen, sondern insgesamt lediglich 18 Kandidaten für die elf zu besetzenden Richterämter dem Senat vorzuschlagen. Das neue System der Dreierlisten soll aufgrund dieser Übergangsvorschrift erst im nächsten Jahrtausend Anwendung finden, unter der Voraussetzung, mag man hinzufügen, daß es

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dem dann amtierenden Präsidenten zusagt und er nicht etwa die Verfassung erneut ändern läßt. Die Amtsdauer der Richter am Obersten Gerichtshof soll nach der Reform 15 Jahre währen, aber auch diese Vorschrift war für die von Präsident Zedillo nach der Verfassungsänderung vorgenommenen Ernennungen aufgrund einer Übergangsvorschrift nicht anwendbar: Sechs Richter wurden für eine kürzere Amtszeit, fünf für eine längere und keiner für die in der reformierten Verfassung vorgesehene ernannt. Ein anderer Punkt, an dem Fragezeichen zu setzen sind, ist die Ausgestaltung des neu eingeführten Bundesjustizrats (Consejo de la Judicatura Federal). Dieser hat eine Schlüsselrolle inne. So kommt ihm zum Beispiel die Zuständigkeit für die Ernennung der Richter an den unteren Gerichten zu. Seine Einführung ist in Mexiko zurückhaltend aufgenommen worden, was mit seiner Zusammensetzung zu tun hat. Betrachtet man diese (Art. 100 Abs. 2 Bundesverfassung), dann fallt ein zahlenmäßig großer Anteil richterlicher Mitglieder ins Auge, denn vier der sieben Mitglieder sind Richter. Es muß aber bezweifelt werden, ob die Richterschaft auf diese Weise eine starke Vertretung im Rat erhält. Drei dieser Richter werden nämlich nach dem Verfahren der "insaculación" ausgewählt, d.h. sie werden durch das Los bestimmt. Damit ist nicht die geringste Gewähr dafür gegeben, daß die geeignetsten oder auch nur die Richter, die das Vertrauen ihrer Kollegen besitzen, in den Justizrat gelangen. Es steht zu befürchten, daß sie aufgrund dieser mangelhaften Legitimitätsbasis die schwächsten Mitglieder des Rats sind und den drei Vertretern politischer Instanzen (des Staatspräsidenten und des Senats) kaum Paroli bieten können. Zünglein an der Waage ist der Vorsitzende. Dieses Amt hat ex oficio der Präsident des Obersten Gerichtshofs inne. Die mexikanische Reform ist daher möglicherweise ein Beispiel dafür, daß manchmal Neuerungen eingeführt werden, die nach Tuniichkeit nichts verändern sollen. Es wäre aber falsch zu meinen, daß dies die vorherrschende Richtung im heutigen Lateinamerika wäre. Im Gegenteil zeigen die Reformen andernorts das ernsthafte Bemühen, die Justiz zu stärken und ein gewisses Gleichgewicht zwischen den Staatsgewalten herzustellen. Dies ist insbesondere in den Ländern festzustellen, die bewaffnete Konflikte hinter sich haben wie zum Beispiel El Salvador und Panama, aber auch in vielen anderen. Das Ende der Militärdiktaturen hat vielerorts zu einer Aufbruchstimmung geführt, die für Reformen günstig ist. Daß diese Reformen nicht leicht sind, liegt auf der Hand. Eine Stärkung der Justiz hat unvermeidlicherweise eine Verminderung der Macht des Präsidenten der Republik zur Folge, und diese Änderung wird nicht von allen politischen Kreisen gebilligt, vor allem nicht von denen, die an der Macht sind. Auch die Streitkräfte, die in nicht wenigen Staaten Lateinamerikas als weitere Staatsge161

walt angesehen werden und faktisch diese Position innehaben, sind an einer Stärkung der Dritten Gewalt kaum interessiert: Je unabhängiger die Justiz wird, desto mehr wächst die Gefahr, daß sie in die jüngste Geschichte der Streitkräfte hineinzuleuchten sucht. Dabei könnte es nicht nur um das Problem der Menschenrechtsverletzungen gehen, sondern auch um den Aufbau wirtschaftlicher Machtstellungen.

V. Erreichte Fortschritte Althergebrachte Mängel und halbherzige Reformen dürfen aber nicht den Blick darauf verstellen, daß in den letzten Jahren und Jahrzehnten auch viel geleistet und erreicht worden ist. Nicht wenige Ideen, die bei uns seit dem 2. Weltkrieg zur Stärkung der Rechtsprechenden Gewalt diskutiert worden sind, wurden auch in Lateinamerika diskutiert - und viele wurden dort umgesetzt.

1. Stellung des obersten Gerichts a) Richterwahl Das oben beschriebene traditionelle Bild eines obersten Gerichts, dessen Richter vom Präsidenten der Republik für die Dauer seiner Amtszeit bestellt werden, ist nicht mehr typisch. Für die Auswahl und Ernennung der Richter finden sich heute in mehreren Ländern interessante Lösungen mannigfaltiger Art. Festgehalten wird überall daran, daß die Justiz, die im demokratischen Staat im Namen des Volkes Recht spricht, einer Legitimation des Souveräns bedarf. Diese Legitimation kann nicht mehr durch direkte Wahl der Richter an den obersten Gerichten erlangt werden, wie zum Beispiel noch vereinzelt im 19. Jahrhundert (in Guatemala, Mexiko und Nikaragua)2. Sie findet ihre Grundlage vielmehr in der Ernennung der Richter des obersten Gerichts im Zusammenwirken des vom Volk gewählten Präsidenten der Republik mit den Abgeordneten oder Senatoren3. Dabei hatte in der Vergangenheit der Präsident der Republik meist ein starkes Übergewicht. Dies hat man in mehreren Ländern zu ändern versucht, wobei originelle Lösungen gefunden wurden. Sie setzen in der Regel

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Heute werden nur noch die filr Bagatellangelegenheiten zuständigen Laienrichter in einigen Ländern durch Volkswahl bestimmt (s. z.B. González Zufliga 1996: 495). In Deutschland liegt die Wahl der Richter an die Obersten Bundesgerichte ebenfalls in den Händen von Politikern: Der Richterwahlausschuß besteht aus 16 Bundestagsabgeordneten und 16 Landesministem; er tagt unter dem Vorsitz eines Bundesministers (Art. 95 Abs. 2 GG, §§ 1 ff. Richterwahlgesetz).

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beim Vorschlagsrecht an, um auf dieser Stufe des Auswahlverfahrens den Einfluß der Exekutive auszuschalten oder zu vermindern. Einige Länder geben dem Präsidenten der Republik gar kein Vorschlagsrecht mehr, zum Beispiel Costa Rica, El Salvador und Guatemala. In Costa Rica ist es allein Sache der Abgeordneten, die Kandidaten zu benennen, über die dann in einer Plenarsitzung auch abgestimmt wird. Reformbestrebungen zielen darauf, die Justiz, die Anwaltskammer und die Rechtsfakultäten an der Kandidatenauswahl zu beteiligen. Andernorts ist eine Beteiligung der Fachöffentlichkeit bereits verwirklicht, so in El Salvador (Noya Novais/Ramirez Amaya 1996: 175). Dort nominiert der Consejo Nacional de la Judicatura, dessen Mitglieder vom Parlament mit Zweidrittelmehrheit gewählt werden (Art. 187 Abs. 3 der Verfassung), die Hälfte der Kandidaten. Die andere Hälfte wird von den Juristenvereinigungen ("entidades representativas de Abogados") in geheimer Wahl bestimmt. Bemerkenswert ist die Zusammensetzung des Gremiums, dem in Guatemala die Ausarbeitung der Vorschlagsliste obliegt: Es steht unter dem Vorsitz eines Repräsentanten der Universitätsrektoren und besteht aus den Dekanen der juristischen Fakultäten sowie gewählten Vertretern des Colegio de Abogados y Notarios und der Gerichte. Jeder dieser drei Gruppen kommt Drittelparität zu (Rivera Wöltke 1996: 261). Eine Beteiligung der Justiz selbst am Auswahlverfahren für die Richter an den obersten Gerichten ist selten. Außer in Guatemala findet man sie z.T. in Brasilien. Der Einfluß der Justiz auf die Besetzung der höchsten Richterämter ist also im allgemeinen schwach, übrigens nicht anders als in Deutschland, wo die Richterschaft in den Richterwahlausschüssen des Bundes nach Art. 95 Abs. 2 GG auch nicht vertreten ist. Ein Kooptationssystem ist für die obersten Gerichte in keinem der untersuchten Länder vorgesehen. Da aber die obersten Gerichte meist für die Ernennung der Richter an den Untergerichten zuständig sind, kann man insofern - aber nur insofern - von einer Kooptation innerhalb der Justiz sprechen. Eine interessante Lösung hat man in Uruguay für ein Problem gefunden, das in Deutschland mehrfach bei Vakanzen am Bundesverfassungsgericht in den letzten Jahren Schwierigkeiten bereitet hat: die langdauemde Untätigkeit des zuständigen Wahlgremiums. Wählt das uruguayische Parlament binnen 90 Tagen nach dem Eintritt einer Vakanz am Obersten Gerichtshof keinen Nachfolger für den ausgeschiedenen Richter, dann rückt eo ipso der älteste Berufungsrichter in diese Stelle ein (Bermúdez Mastrangelo 1996: 775). Der sog. "Quereinstieg", das Einrücken von Juristen, die nicht aus der Richterlaufbahn kommen, in Richterämter an den obersten Gerichten wird überall (wenn auch nicht von allen, im allgemeinen jedenfalls nicht von den Berufsrichtern) als wünschenswert angesehen. Man hofft, auf diese Weise verhindern zu können, daß die obersten Gerichte sich abkapseln. Das Problem stellt sich al163

lerdings in den Ländern nicht, in denen kein Berufsrichtertum besteht oder diese Ämter vorwiegend nach politischen Gesichtspunkten vergeben werden; dort nämlich sind die Richter an den obersten Gerichten sämtlich oder meistenteils Quereinsteiger (oft nur auf Zeit), was auch wiederum erhebliche Nachteile mit sich bringt. In Ländern mit Berufsrichtertum sind jedoch bemerkenswerte Lösungen für den "Quereinstieg" gefunden worden. So gibt die brasilianische Verfassung der Staatsanwaltschaft und der Anwaltschaft das Recht, für ein Fünftel der an den Kollegialgerichten zu besetzenden Stellen ("quinto constitucional") Sechserlisten einzureichen. Aus diesen werden durch das betreffende Gericht Dreierlisten gebildet, die dann Grundlage des Auswahlverfahrens unter den vorgeschlagenen Anwälten und Staatsanwälten durch die politischen Instanzen sind (Art. 94, 107 Nr. I; s. ferner Art. 104 Nr. II, 111 § 1 Nr. I). Insgesamt muß man freilich feststellen, daß ein ideales System der Richterwahl bisher in Lateinamerika so wenig wie in Deutschland (s. Lamprecht 1995) gefunden worden ist. Die Richterwahl wäre daher durchaus ein Thema, das zwischen Deutschen und Lateinamerikanern mit Nutzen für beide Seiten auf der Suche nach besseren Lösungen diskutiert werden könnte. b) Gerichtspräsidentenwahl Das Präsidialsystem der Staatsverfassung mit der übermächtigen Stellung des Präsidenten der Republik hat in Lateinamerika eine so stark prägende Kraft, daß es häufig im Bereich der Justiz reproduziert wird: Auch die Stellung des Gerichtspräsidenten ist dann übermächtig. Gelegentlich wird er gar als "dictadorzuelo" gesehen (Noya Novais/Ramirez Amaya 1996: 207). Es kann daher auch zu Konflikten zwischen dem Gerichtspräsidenten und den Richtern des obersten Gerichts kommen, die durch Gerichtsverfahren ausgetragen werden (so z.B. 1997 im brasilianischen Bundesland Säo Paulo). Bedenkt man, daß die Justiz Verwaltungsautonomie besitzt und auch ihren Haushalt selbst verwaltet, so leuchtet ein, daß der Präsident des obersten Gerichts, wenn es ihm - wie oft - gelingt, diese Zuständigkeiten weitgehend bei sich zu konzentrieren, über eine außerordentliche Machtfülle verfügt. Um diese Machtposition nicht übermächtig werden zu lassen, ist die Amtszeit auf ein oder zwei, seltener auf vier Jahre begrenzt (s. dazu Väsquez Martinez 1989: 287/288). Ein Nachteil der kurzen Amtszeiten der lateinamerikanischen Gerichtspräsidenten ist freilich, daß in administrativen Dingen oft statt Kontinuität Sprunghaftigkeit festzustellen ist. Dies gilt z.B. für die Anschaffüngspolitik der Gerichtsbibliotheken, Veröffentlichungen usw. Die Delegation von Zuständigkeiten auf Ausschüsse ist manchmal ein Ausweg. Angesichts der Überlastung der Richter an den obersten Gerichten mit Verwaltungsangelegenheiten stößt man hier jedoch an Grenzen. 164

Von großer Bedeutung ist aber vor allem, wer den Gerichtspräsidenten auswählt. Die früher häufig anzutreffende Zuständigkeit des Präsidenten der Republik ist immer seltener geworden; Nikaragua hat sie vor wenigen Jahren im Zuge einer Verfassungsreform aufgegeben (Cuarezma Terän 1996: 652). Auch die Wahl durch das Parlament ist nur noch ausnahmsweise anzutreffen (z.B. in Honduras; s. Suazo Lagos 1996: 354). Durchgesetzt hat sich die Wahl des Präsidenten des obersten Gerichts durch die Richter dieses Gerichts. Politischen Instanzen kommt - im Gegensatz zu Deutschland - keine Mitwirkung zu. Es ist interessant, diese Regelung mit unserer zu vergleichen, die dem von der Exekutive ernannten Gerichtspräsidenten eine sehr starke Stellung auf Lebenszeit gibt (also bis zum Erreichen des Pensionsalters mit 65 Jahren). Vergleicht man das Gehalt der Präsidenten unserer obersten Bundesgerichte mit den Gehältern der übrigen Bundesrichter, deren Aufgabe "nur" die Rechtsprechung ist, so zeigt sich, daß sich die herausgehobene Stellung der Präsidenten auch in wesentlich höheren Gehältern und Pensionen widerspiegelt. Man erkennt im Vergleich mit Lateinamerika dort zum einen die Zurückdrängung des politischen Einflusses bei der Besetzung der Präsidentenstellen, während er sich bei uns in den letzten Jahrzehnten eher verstärkt hat, zum anderen das Bestreben, eine Zementierung hierarchischer Strukturen innerhalb der obersten Gerichte zu vermeiden. c) Verwaltungsautonomie Praktisch in allen lateinamerikanischen Ländern verwaltet die Justiz sich selbst. Sie ressortiert nicht beim Justizministerium, das oft gar nicht existiert (z. B. in Mexiko) und als ein Fremdkörper im System der Gewaltenteilung angesehen wird (s. Rivacoba 1991). Damit gibt es keine Dienstaufsicht des Justizministers über die Justiz, keine Einstellungen, Beförderungen und Versetzungen von Richtern durch das Justizministerium usw. Die Unabhängigkeit der Justiz wird dadurch zweifellos gestärkt. Für Lateinamerikaner ist es oft überraschend und schwer verständlich, daß bei uns die Justiz bei einem Ministerium, also bei der Exekutive, ressortiert, und es wird daraus die Folgerung abgeleitet, daß hier keine den beiden anderen Staatsgewalten gleichrangige Dritte Gewalt besteht. Das lateinamerikanische System der Verwaltungsautonomie im Bereich der Justiz weist freilich auch Nachteile auf. So hat es fast unvermeidlicherweise zur Folge, daß das oberste Gericht durch Verwaltungsaufgaben schwer belastet, oft überbelastet ist. Dies verstärkt sich noch, wenn, wie in einigen Ländern üblich (z. B. in Costa Rica), die Kriminalpolizei dem obersten Gericht unterstellt ist4.

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In Paraguay hat nach dem Ende der Diktatur Stroessners und dem Erlaß der neuen Verfassung ein Tauziehen zwischen der Generalstaatsanwaltschaft und dem Obersten Gerichtshof um die Kontrolle Ober die

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Ein weiterer Nachteil ist die Machtkonzentration, die dadurch beim obersten Gericht entsteht. Dieses ist regelmäßig zuständig für die Ernennung, Versetzung, Beförderung und Entlassung der Richter an den unteren Gerichten. Nur in wenigen Fällen bedarf es dabei der Mitwirkung einer anderen Staatsgewalt, z.B. in Uruguay der des Senats, wenn es um die Ernennung der Richter an den Appellationsgerichten geht (Bermúdez Mastrangelo 1996: 757). Hinzu kommt noch, daß es auch Disziplinargericht für die Richter an den Untergerichten ist. Dabei ist das Disziplinarrecht oft nur dürftig geregelt (anders aber z.B. in Panama; s. dazu Madiener 1996b: 753), was die Gefahr der Willkür mit sich bringt, die durch das Fehlen von Rechtsmitteln noch erhöht wird. Dies ergibt eine Machtfulle, die erdrückend ist und geeignet, den Richtern an den Untergerichten jegliche Unabhängigkeit gegenüber dem obersten Gericht zu nehmen. Dies ist in praktisch allen Ländern festzustellen. Entgegengesteuert werden soll diesen Schwierigkeiten insbesondere durch die Einrichtung von Institutionen nach dem Vorbild des spanischen Consejo General del Poder Judicial. Freilich muß ein solcher Rat auch sachgemäß zusammengestellt werden. Dies ist aber nicht immer der Fall (das mexikanische Beispiel wurde bereits erwähnt). Gelegentlich dominieren die politischen Kräfte ein solches Gremium selbst dann, wenn es (ausnahmsweise) allein aus Richtern besteht (s. Galván González 1996: 555). Im übrigen sind die Erfahrungen in Spanien keineswegs besonders günstig: Beklagt wird dort seit der Reform des Jahres 1985 eine zunehmende Politisierung dieses wichtigen Gremiums. Die Ausarbeitung einer mit der Zielsetzung der Institution - Stärkung der Dritten Gewalt - kongruenten Organisationsform steht noch aus (s. dazu rechtsvergleichend Barbero Santos 1991). Immerhin gibt es dafür auch in Lateinamerika bedenkenswerte Vorschläge (s. z.B. Nalini 1995b: 123). d) Haushaltsrecht Da die Justiz nicht beim Justizministerium ressortiert, ist sie auch von der Bevormundung durch das Justizministerium in Haushaltsdingen frei. In den mittelamerikanischen Ländern ist man darüber noch hinausgegangen. Hier wurde auch eine Lösung für die haushaltsrechtliche Unabhängigkeit der Justiz vom Parlament gesucht und gefunden. Der Justiz wird in diesen Ländern ein fester Anteil am Staatshaushalt verfassungsrechtlich garantiert, der - je nach Land - zwei bis sechs Prozent beträgt. Entwickelt wurde diese verfassungsrechtliche Garantie in Costa Rica, wo das Verfahren sich eingespielt und zu einer sehr guten, manchmal aufwendigen Ausstattung der Gerichte geführt hat. Die anderen mittelamerikanischen Länder sind dem Beispiel Costa Ricas ge-

Kriminalpolizei eingesetzt. Da es sich um eine Machtfrage handelt, ist nicht unbedingt eine rationale Entscheidung zu erwarten.

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folgt. Hier gibt es verschiedentlich noch Schwierigkeiten mit der Umsetzung, vor allem wenn das betreffende Land besonders arm ist, wie z.B. Honduras (s. dazu Suazo Lagos 1996: 376). Das System der verfassungsrechtlichen Garantie eines bestimmten Anteils der Justiz am Staatshaushalt findet aber auch außerhalb Mittelamerikas Interesse (s. z.B. González Zúñiga 1996: 506/523). Sicherlich kann das Prinzip eines garantierten Haushaltsanteils nicht auf jede beliebige Staatsverwaltung ausgedehnt werden. Bei der Justiz handelt es sich jedoch um ein Verfassungsorgan, dem im Rahmen der Gewaltenteilung besondere Bedeutung zukommt, so daß die Unabhängigkeit auch gegenüber dem Parlament wichtig ist. So gesehen stellt dieses System einen wesentlichen Fortschritt dar. Allerdings sollte es auch jeweils einen starken und unabhängigen Rechnungshof geben, damit die Verwaltungsautonomie bei gleichzeitig fest verbrieften Haushaltsmitteln nicht zur Verschwendung einlädt. Nicht überall scheinen die Rechnungshöfe eine wirkungsvolle Kontrolle auszuüben. Entwikkelt sich auf der Grundlage der Haushaltsautonomie mangels Rechnungshofkontrolle eine Selbstbedienungsmentalität (dagegen sind die Richter an den obersten Gerichten nicht immer gefeit), dann ist der Schaden für das Ansehen und die Glaubwürdigkeit der Justiz groß.

2. Richter an den Untergerichten Die besonderen Verfahren für die Richterwahl gelten fast ausnahmslos nur für die Richter an den obersten Gerichten. Gleiches gilt für die Gerichtspräsidentenwahl. Die administrativen Zuständigkeiten der Dritten Gewalt (einschließlich des Haushaltsrechts) liegen herkömmlicherweise beim obersten Gericht (anders in einigen Ländern, die in den letzten Jahren dafür besondere Gremien nach Art des spanischen Consejo General del Poder Judicial eingeführt haben, z.B. Mexiko). Wo also in den letzten Jahren und Jahrzehnten eine Verbesserung der Wahlverfahren, eine Stärkung des Haushaltsrechts usw. erzielt worden ist, kam dies vor allem den obersten Gerichten und deren Richtern zugute. Es wurde bereits angemerkt, daß die Richter an den Untergerichten weitgehend vom jeweiligen obersten Gericht abhängig sind, weil dieses für die Einstellung, die Versetzung, die Beförderung und die Entlassung zuständig ist und - dies ist von außerordentlicher Bedeutung! - die Disziplinargerichtsbarkeit ausübt. Diese ist oft nicht rechtsstaatlich ausgestaltet, was dem obersten Gericht eine fast unbeschränkte Macht über die Richter an den unteren Gerichten gibt. Selbst in einem für seine demokratische Tradition bekannten Land wie Costa Rica genügt u.U. ein Verdacht für die Anordnung einer Amtsenthebung (Art. 18 Ley Orgánica Judicial, s. Castillo González 1996: 116). In anderen Ländern steht die Entlassung eines Richters sowieso im freien Ermessen des obersten Gerichts (Beispiele s.o. unter III.). 167

Angesichts dieser Sachlage ist fraglich, ob diese Richter eine echte Richterstellung besitzen. Sie mögen von der Exekutive unabhängig sein. Sie sind es aber oft nicht in ihrer rechtsprechenden Tätigkeit im Hinblick auf die Macht der Richter des obersten Gerichts. Die obersten Gerichte zögern denn auch in vielen Fällen nicht, auf die Rechtsprechung der Untergerichte Einfluß zu nehmen. Dies mag nicht mit unsachlicher oder gar parteiischer Zielrichtung erfolgen. Tatsache ist aber, daß es Fälle gibt, in denen die obersten Gerichte oder deren Präsidenten Hinweise geben, wie generell oder auch in Einzelfallen zu verfahren ist (s. z.B. Suazo Lagos 1996: 377; Gimeno Sendra 1996: 50). Die obersten Gerichte beschränken sich also nicht auf ihre legitime Aufgabe, die Rechtsprechung der Untergerichte durch die Entscheidung über Rechtsmittel zu korrigieren, wenn dies erforderlich ist. Daß sich gelegentlich der Richter eines Untergerichts vor seiner Entscheidung beim obersten Gericht in delikaten Fällen Rat holt (Noya Novais/Ramirez Amaya 1996: 196), kann nicht verwundern, kommt es doch auch in Deutschland, wenn auch selten, vor, wie man in den letzten Jahren in der Presse lesen konnte. Für Hinweise von oben sind Richter an den Instanzgerichten nicht nur wegen ihrer rechtlich ungesicherten Stellung empfänglich, sondern weil ihre Ernennung nicht selten ein parteipolitischer oder persönlicher Freundschaftsdienst war, der sie nun ihrerseits zu Entgegenkommen verpflichtet. Wo die Auswahl der Richter mittels eines förmlichen Verfahrens stattfindet, wird doch beklagt, daß es ihm oft an Objektivität mangele (Castillo González 1996: 731) oder daß die Ernennung letztendlich unter Mißachtung der erzielten Ergebnisse erfolge (Suazo Lagos 1996: 732). Mancherorts wird man zum Richter ernannt aufgrund von Faktoren wie "la política, el amiguismo, el compadrazgo o el nepotismo" (Galván González 1996: 733). Daß auf diese Weise der objektiv geeignetste oder auch nur ein geeigneter Kandidat ausgewählt wird, dürfte eher die Ausnahme sein. Vergessen wir aber nicht, daß es Ämterpatronage überall gibt (zu Deutschland s. Lamprecht 1995: 88ff.). Nimmt man noch hinzu, daß diese Richter meist unzureichend bezahlt sind (ein fruchtbarer Boden für Korruption; Gimeno Sendra 1996: 52) und häufig an personell und sachlich unzureichend ausgestatteten Gerichten arbeiten, dann erhält man eine Vorstellung von den Problemen, die sich auf dieser Ebene des Gerichtswesens, auf der die meisten Fälle zu entscheiden sind, stellen.

VI. Ausblick Lateinamerika weist in geographischer und klimatischer, geschichtlicher und kultureller, politischer und wirtschaftlicher Hinsicht so viele Unterschiede auf, daß es überraschend wäre, wenn man auf dem Gebiet der Justiz Uniformität anträfe. Natürlich gibt es "die" lateinamerikanische Justiz nicht. Aber überall in 168

Lateinamerika stellt sich nach Militärdiktaturen und Bürgerkriegen, beim Übergang zum Mehrparteienstaat und der Modernisierung des Staatswesens die Aufgabe, den Rechtsstaat zu verwirklichen. Dazu gehört notwendigerweise eine unabhängige Justiz, die den Schutz der Menschenrechte gewährleistet. Auf dem Weg zu einer eigenständigen Dritten Staatsgewalt sind in einigen Ländern bemerkenswerte Neuerungen geschaffen worden, die insbesondere die Einmischung der Exekutive in Angelegenheiten der Justiz zu vermeiden geeignet sind. Wie sehr in unserem - mit Recht - auf die Justiz stolzen Land hier manches durcheinandergeht, ist wieder einmal kürzlich bei der Diskussion, ob Justiz- und Innenministerien zusammengelegt werden können, offenbar geworden. Nicht wenige Vertreter der deutschen Justiz wollen in der Zusammenlegung dieser beiden Ministerien einen Verstoß gegen die Gewaltenteilung sehen, obwohl das Justizministerium unzweifelhaft Teil der Exekutive ist. Könnte es vielleicht sein, daß die Verwaltung der Justiz doch eher zur Justiz gehört, wie das durchweg in Lateinamerika der Fall ist? Bemerkenswert ist auch, daß die obersten Gerichte in mehreren lateinamerikanischen Staaten das Recht der Gesetzesinitiative haben oder in sonstiger Weise am Gesetzgebungsverfahren beteiligt sind, wenn es sich um Justizgesetze handelt. Sie sind also vielfach nicht auf eine Anhörung beschränkt, sondern können bei der Reform der Justizgesetze selbst mitwirken. In Costa Rica kommt dem Obersten Gerichtshof sogar eine Art Vetorecht zu, denn wenn das Parlament sich über die von ihm eingeholte Stellungnahme des Gerichtshofs hinwegsetzen will, bedarf es dazu einer Zweidrittelmehrheit (Art. 167 der Verfassung; s. auch Art. 59 Nr. 1 Ley Orgänica del Poder Judicial). In mehreren Ländern (z. B. in Brasilien, Mexiko und Uruguay) tragen die Richter an den obersten Gerichten den Titel "ministro". Dieser Titel, der bei einem Richter verwundern mag, zeigt das Bestreben, sie den Ministem des Regierungskabinetts gleichzustellen und damit hervorzuheben, daß die Dritte Gewalt der Exekutive nicht nachsteht. Dies zeigt sich übrigens oftmals auch bei den Gehältern der Richter an den obersten Gerichten, die häufig denen der Spitzen der Exekutive nicht nachstehen und so im allgemeinen angemessen sind, was man allerdings von denen der Richter an den Untergerichten, wie bereits angemerkt, häufig nicht sagen kann. Die lateinamerikanische Justiz bietet heute ein vielgestaltiges Bild, auch weil sie in vielen Ländern im Umbruch ist. Einerseits finden wir Länder, bei denen die Unabhängigkeit der Justiz weitgehend verwirklicht ist, wie zum Beispiel Brasilien und Costa Rica. Andererseits stehen Reformversuche erst am Anfang, zum Beispiel in Guatemala und Honduras, und nicht immer sind die Aussichten für die Verwirklichung der Reformen gut, sei es aus politischen Gründen (z.B. in Guatemala) oder aus wirtschaftlichen (z.B. in Honduras). Schließlich kämpft eine Reihe von Ländern mit schweren Justizkrisen, zum Beispiel Argentinien und Venezuela. Besonders bedenklich ist die Lage in Peru, wo eine autoritäre 169

Exekutive nicht zögert, ihr unbequeme Richter des Amtes entheben zu lassen (s. dazu Landa 1997). Bei den anstehenden Reformen kann auf dem aufgebaut werden, was vielerorts schon erreicht ist, etwa bei der Neuordnung der Richter- und Gerichtspräsidentenwahl, der Selbstverwaltung der Justiz, dem Haushaltsrecht, der Gründung von Richterschulen, der Einfuhrung der Richterlaufbahn usw. Für nahezu jedes Problem, das sich im Bereich der Gerichtsverfassung stellt, kann man in dem einen oder anderen Land oder sogar in mehreren Ländern Lateinamerikas bereits bedenkenswerte Lösungen finden. Die innerlateinamerikanische Rechtsvergleichung könnte daher neben der internationalen bei der Justizreform eine wichtige Rolle spielen. Dies ergibt sich klar aus den bisher mit dem Forschungsprojekt erzielten Ergebnissen. Allerdings müßte dazu auch die Sprachenbarriere zwischen den hispano- und den lusophonen Regionen Lateinamerikas überwunden werden. Reformimpulse sind überall festzustellen, aber Reformen auf dem Gebiet der Gerichtsverfassung sind schwierig, wenn sie die Unabhängigkeit der Justiz stärken sollen und damit unvermeidlicherweise das Machtgefüge des Staates verändern. Der Besitz von Macht wird nur selten freiwillig aufgegeben. Dies gilt nicht nur für den Bereich der Politik, es ist eine allgemein menschliche Erfahrung. So sind in manchen Ländern echte Reformen eher durch das Erstarken der Opposition zu erwarten als aufgrund der Einsicht der Regierenden (z.B. in Mexiko). Gern wird auf die Reform des Prozeßrechts - auch dringlich und schwierig, aber politisch weniger heikel - ausgewichen, statt das grundlegende Problem der Unabhängigkeit der Justiz anzupacken. Eine wichtige Aufgabe ist die Einführung sachgemäß strukturierter Judikaturräte. Sie sollen zuständig sein für die Verwaltung der Justiz einschließlich ihres Haushaltes, für die Auswahl der Richter an den unteren Gerichten, ihre Ausund Fortbildung, für die Dienstaufsicht usw., mit anderen Worten: ihnen kommt eine Schlüsselrolle zu. Besonders wichtig sind auch rechtsstaatlich einwandfreie Regelungen für das Problem des Richterdisziplinarrechts: Es geht nicht an, daß die Richter, denen der Schutz der Menschenrechte anvertraut ist, ihrerseits schutzlos der Willkür der obersten Gerichte ausgeliefert sind. Daß hier zweckentsprechende und vertrauenswürdige Lösungen eingeführt werden, ist von großer Bedeutung. Nicht umsonst wird in mehreren Ländern, zum Beispiel in Brasilien (s. z.B. Cintra Junior 1995), seit einiger Zeit über die Einrichtung eines "control externo del Poder judiciario" gesprochen. Wenn von bedeutenden gesellschaftlichen Gruppen eine solche Kontrolle der Justiz gefordert wird, dann ist dies ein Zeichen für ein Unbehagen am Zustand der Justiz, das beachtet werden muß. Soll die Justiz nicht in Abhängigkeit geraten, so müssen unabhängige Instanzen gefunden werden, die möglichst schon innerhalb der Justiz dafür sorgen, daß die Bevölkerung zu ihr Vertrauen haben kann. Soweit zusätzlich außenstehende 170

Institutionen eingesetzt werden, sollten es jedenfalls keine politischen Instanzen sein. Das lateinamerikanische Recht kennt bereits solche unabhängigen Institutionen innerhalb der Justiz. So bestehen in Brasilien die sogenannten Corregedorias de Justina. Sie fuhren die Aufsicht über die Richter und sind Beschwerdestellen für das Recht suchende Publikum und die Anwälte. Geleitet werden sie von dem Corregedor Gera!, der von den Richtern für eine der des Gerichtspräsidenten gleiche Amtsperiode gewählt wird. Es ist dies eine bemerkenswerte Einrichtung, die anscheinend im hispanophonen Raum keine Entsprechung hat (die panamaischen Corregidurías sind gänzlich verschieden von der brasilianischen Institution; s. Guerra de Villalaz 1996: 702) und es verdiente, näher untersucht und weiterentwickelt zu werden. In Hispanoamerika sind dagegen in zunehmendem Maße Ombudsmänner am Werk (Versuchen, diese Institution in Brasilien auf Bundesebene einzuführen, war bisher kein Erfolg gegönnt - s. Maciel 1995). Den Ombudsmännern ist es allerdings - nach spanischem Vorbild - weitgehend, wenn auch nicht gänzlich, untersagt, Mißstände in der Justiz aufzugreifen - ganz anders als im Ursprungsland der Institution, in Schweden. In Mexiko, wo der Präsident der Comisión Nacional de Derechos Humanos (CNDH), der Ombudsmann des Bundes, Jorge Carpizo, während der ersten zwei Jahre seines Wirkens immer wieder Mißstände auf dem Gebiet der Justiz kritisiert hatte, wurde ihm 1992 die Zuständigkeit für die Bundesjustiz per Verfassungsänderung genommen (s. Madiener 1993: 284-285/289; 1996b: 698). Zu unbequem war dieser Mahner offensichtlich für die Bundesjustiz. Eine erweiterte Kompetenz der Ombudsmänner, die es ihnen erlaubte, Klagen der Bürger gegen Mängel der Justiz nachzugehen, wäre wünschenswert. Sehr lehrreich ist in dieser Hinsicht der Fall der 60.000 argentinischen Rentner, für die der Defensor del Pueblo de la Nación Argentina, der argentinische Bundesombudsmann, bei der Interamerikanischen Menschenrechtskommission im Oktober 1996 Beschwerde gegen den Obersten Gerichtshof Argentiniens eingereicht hat, weil dieser unzumutbar lange untätig geblieben war (s. Madiener 1997: 401). Es ist gar keine Frage, daß die Tätigkeit eines Ombudsmannes auch im Bereich der Justiz nützlich sein kann, ohne daß die Unabhängigkeit der Justiz dadurch in Gefahr käme. Die Justiz hat in Lateinamerika in den vergangenen Jahren durchaus auch Sternstunden erlebt und dabei gezeigt, daß sie als Dritte Gewalt ihr Gewicht in die Waagschale werfen kann. Zu denken ist an die Rolle des brasilianischen Bundesverfassungsgerichts (STF) 1994 bei der Amtsenthebung des Präsidenten der Republik, Fernando Collor de Mello. Ein anderes Beispiel ist der gescheiterte Putschversuch in Guatemala und die Rolle, welche dabei das Verfassungsgericht spielte. Nicht gerade als Sternstunden sind andere Ereignisse anzusprechen, die aber immerhin zeigen, daß die Justiz den Widerstand gegen die Exekutive zumindest 171

versucht, auch wenn diese dann zurückschlägt und sich aufgrund ihrer stärkeren Stellung schließlich durchsetzt. Hier ist die Amtsenthebung mehrerer Richter am Verfassungsgericht Perus durch Präsident Fujimori zu nennen (s. Landa 1997) und die Ernennung von zusätzlichen Richtern am Obersten Gerichtshof Argentiniens (s. Ley 23.744 v. 5./11.4.1990) durch Präsident Carlos Menem mit dem Ziel, die Mehrheitsverhältnisse zu ändern. Berühmtes Vorbild war wohl der Versuch des amerikanischen Präsidenten Franklin Delano Roosevelt im Jahre 1937, durch die Vermehrung der Richterzahl am Supreme Court ("Court packing") die Rechtsprechung im Sinne der Regierung zu beeinflussen. Da es seit einigen Jahren erklärtes Ziel der deutschen Entwicklungshilfepolitik ist, auch lateinamerikanische Länder bei Rechtsreformen zu unterstützen, ist abschließend zu fragen, inwieweit wir möglicherweise einen Beitrag leisten könnten für die Weiterentwicklung der Unabhängigkeit der Justiz in Lateinamerika. Dazu muß einerseits klar gesagt werden, daß die Gerichtsverfassung in viel stärkerem Maße als andere Rechtsgebiete eine hochpolitische Materie ist und daher auf ihre Reform nur wenig von außen eingewirkt werden kann. Andererseits wurde aber festgestellt, daß das Zusammenwirken vieler Faktoren erforderlich ist, wenn die Justiz in der Lage sein soll, als unabhängige Staatsgewalt ihres Amtes zu walten und die Menschenrechte zu schützen. Zu diesen Faktoren gehört auch die Besetzung der Richterämter mit gut ausgebildeten Juristen, so daß auch die Aus- und Fortbildung der Richter Bedeutung für die Unabhängigkeit der Justiz hat: Eine höchstmögliche Qualifikation der Richter ist eine der Voraussetzungen für eine unabhängige Judikatur. In praktisch allen Ländern ist aber festzustellen, daß es Defizite bei der praktischen Ausbildung der Richter gibt. Dies ist ein Erbe der Kolonialzeit, denn solche Defizite sind für die romanischen Länder, insbesondere auch für die iberische Halbinsel, kennzeichnend. Gerade in diesem Bereich liegt indessen eine Stärke unseres Ausbildungssystems. Es ist bedauerlich, daß bei der deutschen Entwicklungshilfe bisher dieser Aspekt nur eine marginale Rolle spielt. Die Bundesrepublik kann eine im wesentlichen gut funktionierende Justiz im Rechtsstaat vorweisen. In dieser Hinsicht ist ein deutscher Beitrag durchaus denkbar (s. Madiener 1996a: 28-34). Ein Forschungsprojekt wie das hier vorgestellte hat auch das Ziel, den rechtsvergleichenden Austausch zwischen den Ländern Lateinamerikas auf diesem Gebiet zu stärken. Besonders schwach ist er ausgebildet zwischen den hispanophonen und den lusophonen Regionen, die durch eine für viele seltsamerweise anscheinend kaum überwindbare Sprachbarriere getrennt sind. Wie ausgeführt, weisen mehrere Länder im Bereich der Justizinstitutionen sehr interessante Entwicklungen auf, die es verdienten, in anderen Ländern Lateinamerikas bekannt zu werden. Der innerlateinamerikanische rechtsvergleichende Austausch auf dem Gebiet des Gerichtsverfassungsrechts wurde durch die bisher neun in Mexiko, Mittel- und Südamerika veranstalteten Projektkolloquien 172

und die bisher veröffentlichten Ergebnisse des Forschungsvorhabens in Spanisch gefördert, und mit der bevorstehenden Herausgabe weiterer Landesberichte und Querschnitte in Portugiesisch und Spanisch wird dieser Weg weiter beschritten. Den lateinamerikanischen Kollegen, deren Mitarbeit die Durchfuhrung dieses Forschungsvorhabens erst ermöglicht hat, gebührt vor allem Dank. Es steht zu hoffen, daß der Ertrag ihrer Arbeit Reformen anregen und fordern wird.

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174

Kai Ambos

Strafprozeßreform in Lateinamerika im Vergleich Länderanalysen und strukturelle Probleme* I. Einführung Lateinamerika befindet sich derzeit in einem grundlegenden Prozeß der Justizreform. Auf strafprozessualem Gebiet wird in nahezu allen Ländern das traditionelle schriftliche Inquisitionsverfahren, das durch überlange Verfahrensdauer, unzählige Untersuchungshäftlinge (sog. "presos sin condena"f, Korruption und Fehlurteile geprägt ist2, vom mündlichen Akkusationsprozeß abgelöst (vgl. Gömez Colomer 1995/7: 1018ff.; überblicksartig Ambos 1996: 446ff.). Doch besteht über die Einführung des Akkusationsgrundsatzes - die Trennung in Anklage- und Urteilsfunktion (statt vieler Roxin 199524: 75f.) - hinaus nur

Ich danke Helen Ahrens, Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (Eschborn) sowie César Azabache (Peru), Reinaldo Imafla (Bolivien), Sergio Brown (Venezuela) und Gonzalo Fernández (Uruguay) fllr wichtige Hinweise. Ein Teil dieses Beitrags (I. und II. ohne Peru) wurde in einer früheren Fassung schon in der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (ZStW) 110 (1998: 22S-251) veröffentlicht. 1

Neuere (umstrittene) Zahlen bewegen sich zwischen 35% (Costa Rica) und 92% (Paraguay) der Gesamthaftbevölkerung, wobei Bolivien durch die gesetzliche ErmOglichung einer U-Haftentlassung gegen ein Eidversprechen (Fianza Juratoria, Gesetz 1685 v. 2.2.1996) die Zahl der U-Häftlinge von 91 auf 59,8% gesenkt haben will und damit nun an zweiter Stelle hinter Costa Rica steht; vgl. demgegenüber - von den hier untersuchten Staaten - Chile mit 43%, Venezuela mit 73,8% und Uruguay mit 85% (República de Bolivia, Ministerio de Justicia 1997; Comisión Andina de Juristas 1997: 87).

!

Vgl. zuletzt den Informe Especial "Justicia. Lenta y venal. Un agujero negro en América Latina", in: Visión, 86/6 (April 1996), nach S. 24 (aufgrund einer Studie der Hoover Institution); Llobet R. (1995: 3) m.w.N; CAJ (1996: 139ff.) und Davis/Lillo (1996: 131 ff.) geben etwa als durchschnittliche Verfahrensdauer fllr Ekuador 10 Monate (bei Raub), fllr Peru 921 Tage, ftlr Uruguay 2 Jahre und 8 Monate (bei Raub) und ftlr Chile I Jahr und 10 Monate (bei Diebstahl und Raub) an.

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wenig Einigkeit. Wenn es um so wichtige Fragen geht wie die Stellung der Verfahrensbeteiligten, die Ausgestaltung und Gewichtung der einzelnen Verfahrensetappen, die Beweisbeschaffung und -Präsentation sowie die - außerhalb einer Strafprozeßordnung zu regelnde - Gerichtsorganisation, bricht unter den von der Reform betroffenen Interessengruppen reger Streit aus. Solche Differenzen sind allerdings auch in Europa üblich 3 . Gleichwohl bietet die lateinamerikanische Reformdiskussion aufgrund der selektiven Rezeption des kontinentaleuropäisch-instruktorisch und angloamerikanisch-adversatorisch orientierten Verfahrensrechts auch für "entwickelte" Staaten - so überraschend dies für eine auf "Export" ausgerichtete Strafrechtswissenschaft auch klingen mag - einige interessante Ansätze. Der radikale Bruch mit einem jahrhundertealten schriftlichen Inquisitionsverfahren erweist sich als historische Chance, ein mündliches Akkusationsverfahren zu entwerfen, das - befreit vom hierzulande existierenden Korsett eines über 100 Jahre alten und damit praktisch nur punktuellen Reformen zugänglichen Akkusationsprozesses - den Stand der internationalen verfahrensrechtlichen Diskussion und Modemisierungstendenzen in sozial angepaßter Weise widerspiegelt. Allerdings wird diese Chance nicht immer ausreichend genutzt. Auch lassen sich die vorliegenden Entwürfe nicht ohne weiteres mit existierenden akkusatorischen Verfahrensmodellen vergleichen oder gar identifizieren. Gleichwohl soll hier mit Perron (1995: 560ff.) von drei Modellen in beweisrechtlicher Hinsicht ausgegangen werden, nämlich dem instruktorischen Verfahren, in dem das Gericht die Beweisaufnahme (mit)bestimmt, weil eine umfassende Amtsaufklärungspflicht besteht und eine Vorbereitung aufgrund der Ermittlungsakten möglich ist (Deutschland, Frankreich, Niederlande, Österreich und Portugal); dem adversatorischen Verfahren, in dem die Parteien die Beweise selbst beschaffen und in der (praktisch selten stattfindenden) adversatorischen Hauptverhandlung über die Schuldfrage präsentieren (USA, England) sowie dem gemischten Verfahren, das Elemente der instruktorischen und adversatorischen Verfahrensmodelle verbindet (Italien, Japan und Schweden) 4 . Im folgenden sollen die Strafprozeßentwürfe Chiles, Perus, Boliviens, Venezuelas, Paraguays und Uruguays näher dargestellt werden, der Länder also, mit denen - bis auf Uruguay - (längerfristige) deutsche Kooperationsprojekte angelaufen sind 5 . Neben dem Normalverfahren werden auch abgekürzte Verfahren 3

Vgl. zuletzt den instruktiven Tagungsbericht von Hoffmann (1997) zu einem europäischen Zeugenbeweisrecht.

'

Innerhalb dieser Verfahren gibt es freilich selbst wiederum zahlreiche weitere Unterschiede (vgl. Perron 1995: 552 sowie die in diesem Band veröffentlichten Landesberichte). In Lateinamerika versteht man unter gemischtem Verfahren eher das aus dem traditionellen Inquisitionsprozeß hervorgegangene und auf dem Code d'Instruction Criminelle (1808) basierende kontinentaleuropäische Verfahren - im Gegensatz zum adversatorischen angloamerikanischen Verfahren (vgl. Maier 2 1996a: 449ff.).

5

Nach Angaben von Ahrens (GTZ) auf der Hamburger Tagung befinden sich die Projekte mit Chile, Bolivien, Paraguay und Venezuela in einer zunächst vom BMZ auf zwei Jahre bewilligten Durchfilhrungs-

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einbezogen, da sie sich vor dem Hintergrund der allerorten geforderten Beschleunigung der Strafverfahren als besonders wichtig erweisen. Danach soll auf einige strukturelle Probleme der Justiz- bzw. Verfahrensreform in Lateinamerika aufmerksam gemacht werden.

II. Länderanalysen 1. Normalverfahren a) Chile Der im Juni 1995 der Abgeordnetenkammer des Kongresses vorgelegte und im August 1996 vom zuständigen Ausschuß verabschiedete Gesetzesentwurf Chiles lehnt sich stark an den lateinamerikanischen Musterentwurf, die deutsche und italienische7 sowie neuere lateinamerikanische Verfahrensordnungen (Argentinien8, El Salvador) an. Der insgesamt aus 534 Artikeln bestehende Entwurf unterscheidet zwischen einem ordentlichen Verfahren (2. Buch, Art. 240-391), das grundsätzlich fíir alle Offizialdelikte gilt, und besonderen Verfahrensarten (4. Buch, Art. 445-5349). Das ordentliche Verfahren besteht aus dem Ermittlungsverfahren (etapa de instrucción), einem Zwischenverfahren (vorher procedimiento intermedio, nun preparación del juicio oral) und dem mündlichen Hauptverfahren (juicio oral) mit der mündlichen Hauptverhandlung als Kernstück. Im Ermittlungsverfahren (Art. 240-328) ist zwischen einer Art Voruntersuchung (Art. 240ff.) und einer "formalen" Untersuchung (Art. 303ff.) zu unterscheiden. Der Ministerio Público, dessen Funktion u.a. der eines Staatsanwaltes entspricht10, ist grundsätzlich Herr des Ermittlungsverfahrens, unterliegt jedoch phase. In Peni, Kolumbien und Guatemala befinde man sich in der PrOfungsphase (wobei zwischenzeitlich das Guatemala-Projekt nach Auskunft von Ahrens, 1.7.1998, aufgegeben wurde). 6

Frühere Fassung: Proyecto de Ley de un nuevo Código de Procedimiento Penal (CPP), Santiago, 9.6.1995; aktuelle, hier verwendete Fassung: Cámara de Diputados, Proyecto de Ley "Código de Derecho Procesal Penal", Anexo Boletín N° 1630-07-1, agosto 1996 (beide Archiv d. Verf.). Dieser Entwurf "hangt" derzeit im chilenischen Senat. Zum geltenden chilenischen Verfahren vgl. etwa Vargas/Coma (1995: 27ff.).

7

Zum Ablauf des italienischen Verfahrens vgl. Hein (1995: 156ff.)

*

Zum argentinischen "Código Procesal Penal de la Nación" von 1991 (Bundesstrafprozeßordnung) vgl. instruktiv Gropengießer (1993).

*

Dazu zahlen - chronologisch - Verfahren für folgende Fälle: Verfehlungen (faltas), Privatklage, abgekürztes Verfahren, Verfahren für verfassungsrechtlich privilegierte Beschuldigte (!), Strafverfahren gegen Richter und Staatsanwälte, Auslieferung, Sicherungsmaßnahmen. Weiter enthält das 4. Buch Vorschriften zur Vollstreckung (Titel VIII).

10

Die erforderlichen Verfassungsänderungen wurden inzwischen verabschiedet (Informativo Andino 128, Lima, September 1997: 6). Das Organisationsgesetz des Ministerio Público wurde der Abgeordnetenkammer am 23.3.1998 vorgelegt.

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einer strengen richterlichen Kontrolle hinsichtlich verfahrensabschließender Entscheidungen (dazu sogleich). Er hat die Aufgabe, alle ihm zur Kenntnis gelangten Offizialdelikte mit Hilfe der Polizei zu verfolgen (Legalitätsgrundsatz). Besonderer Wert wird auf die genaue Regelung der polizeilichen Aufgaben und die funktionale Zuordnung der Polizei zum und ihre Kontrolle durch den Ministerio Público gelegt. Der Beschuldigte hat mit der ersten, gezielt gegen ihn gerichteten Ermittlungsverhandlung grundsätzlich umfassende Beteiligungs- und Akteneinsichtsrechte und den Anspruch auf Rechtsbeistand (Art. 6f., 107ff), freilich können bestimmte Ermittlungen für geheim erklärt werden (Art. 262). In der Voruntersuchung kann der Ministerio Público das Verfahren vorläufig einstellen (archivo provisional, Art. 241) oder erst gar keine Ermittlungen anstellen (Art. 242); dagegen kann das Tatopfer Beschwerde beim Ermittlungsrichter (juez de control de la instrucción) einlegen, der den Ministerio Público anweisen kann, die Sache weiterzuverfolgen (Art. 243). Der Ministerio Público kann weiter aufgrund des Opportunitätsgrundsatzes von der Verfolgung absehen, wenn es sich um eine Tat handelt, die wegen ihrer "insignificancia" das öffentliche Interesse nicht berührt (Prinzip der absoluten Geringfügigkeit oder Bagatelle); allerdings kann der juez de control diese Entscheidung - insbesondere bei einem entsprechenden Begehren des Tatopfers - aufheben und den Ministerio Público zur Strafverfolgung anhalten (Art. 244). Eine völlig autonome Einstellungsbefugnis besitzt der Ministerio Público nur im Falle mangelnden Tatverdachts (Art. 252, Abs. 3). Mit der Formalisierung der Untersuchung, die eine Art Voranklage darstellt, wird der Beschuldigte von den Ermittlungen unterrichtet (Art. 303)", und der Ministerio Público verliert seine - ohnehin nur sehr beschränkten - Einstellungsbefugnisse (Art. 308c). In einer Verhandlung vor dem juez de control zur Anhörung des oder der Beschuldigten hat der Ministerio Público zu entscheiden, ob er die Untersuchung "formalisieren" will oder nicht (Art. 306) oder das Verfahren unmittelbar in die Hauptverhandlung überleiten will (Art. 310). Weiter kann der Ministerio Público eine bedingte Aussetzung (suspensión condicional) des Verfahrens beim juez de control beantragen; dieser entscheidet unter Anhörung von Opfer und Nebenkläger und legt eine Frist fest, nach deren Verstreichen der Strafverfolgungsanspruch erlöscht (Art. 311). Der Strafverfolgungsanspruch erlöscht ebenfalls, wenn der juez de control Absprachen zur Schadenswiedergutmachung zwischen Täter und Opfer bezüglich Vermögensdelikten genehmigt (Art. 315). Nach Formalisierung der Untersuchung muß der Ministerio Público die Ermittlungen in einem Zeitraum von zwei Jahren zum Abschluß bringen (Art. 317) und innerhalb von 10 Tagen nach Abschluß entweder die Einstellung beim juez de control beantragen oder Anklage erheben

Dies erscheint sehr spät, doch kann immerhin schon vor der Formalisierung eine Unterrichtung beim juez de conlrol beantragt werden (Art. 266).

178

(Art. 318). Die Einstellung kann - im Rahmen einer Verhandlung (Art. 319) — endgültig oder zeitweise, vollkommen oder beschränkt vom juez de control angeordnet werden (Art. 318a, 320ff.). Dieser kann den Ministerio Público auch zur Klageerhebung zwingen, wenn der Nebenkläger es beantragt und ausreichender Tatverdacht besteht (Art. 328). Aus diesen Ausfuhrungen wird deutlich, daß die grundlegenden Unterschiede zur deutschen Strafprozeßordnung (dStPO) darin bestehen, daß einerseits die staatsanwaltschaftlichen Befugnisse strenger richterlicher Kontrolle unterliegen und anderseits dem Deliktsopfer eine starke Rechtsstellung eingeräumt wird. Mit der Anklage (Art. 329) wird in das Zwischenverfahren (Art. 329-345) übergeleitet. Herr des Zwischenverfahrens ist der schon erwähnte juez de control. Er leitet die mündliche und unmittelbare "Verhandlung zur Vorbereitung des Hauptverfahrens" (Art. 335), die innerhalb von 20 bis 30 Tagen nach der Ladung der Verfahrensbeteiligten (innerhalb von 24 Stunden) stattfinden soll (Art. 330). In ihr wird u.a. über die Prozeßvoraussetzungen entschieden (Art. 334, 338f.). Sie schließt mit dem Eröffnungsbeschluß (Art. 341, "auto de apertura del juicio oral"). Zweck des Zwischenverfahrens ist eher die Vorbereitung des Hauptverfahrens und die Beweissicherung (vgl. Art. 345) als eine Kontrolle der Anklage, denn der juez de control kann die Eröffnung, soweit ersichtlich, nicht ablehnen. Kernstück des Hauptverfahrens (Art. 346-391) ist die mündliche Hauptverhandlung (Art. 360ff.), die von folgenden Verfahrensgrundsätzen beherrscht wird (Art. 347ff.): ununterbrochene Anwesenheit von Richter und Staatsanwalt; Anwesenheit des Angeklagten und seines Verteidigers; Öffentlichkeit; Kontinuität und Konzentration; Mündlichkeit; Unmittelbarkeit (378, ex Art. 36412); "in dubio pro reo" und freie Beweiswürdigung (Art. 380). Die Leitung der Hauptverhandlung obliegt dem Richter (Art. 357ff.). Ihr Ablauf ähnelt stark der Hauptverhandlung nach der dStPO: Feststellung der Anwesenheit; Belehrung des Angeklagten; Verlesung des Eröffnungsbeschlusses; Verlesung der Anklage durch den Ministerio Público; Erklärungen weiterer Prozeßbeteiligter (Nebenund Zivilkläger); Stellungnahme des Angeklagten und seines Verteidigers; Beweisaufnahme; Schlußplädoyers; Beratung; Urteilsverkündung. Gegen die Urteile der als gemeinsame Eingangsinstanz fungierenden - aus drei Berufsrichtem bestehenden - Kollegialgerichte wird grundsätzlich nur die Revision (casación) zugelassen (Art. 415ff.); in Ausnahmefallen jedoch ein "außerordentliches Rechtsmittel" (Art. 409). Die Berufung (apelación) richtet sich nur

Danach sollen Zeugen und Sachverstandige "persönlich vernommen werden". Als Ausnahmen vom Unmittelbarkeitsgrundsatz beachte insbesondere Art. 367ff.

179

gegen Beschlüsse des juez de control (Art. 398 e.c.ff.). Damit besteht grundsätzlich ein Zweiinstanzenzug13. b) Peru Der peruanische Strafprozeßentwurf wurde in seiner letzten Fassung am 7. Oktober 1997 vom Parlament verabschiedet14, sein Inkrafttreten aber erneut wegen "haushaltsrechtlicher Bedenken" verschoben. Das Gesetz sieht im wesentlichen zwei Verfahrensphasen vor: Das Ermittlungsverfahren (Art. 92-285, 2. Buch) und das Hauptverfahren (Art. 286-354, 3. Buch). Daneben existiert ein 1. Buch, das Zuständigkeitsfragen und die Stellung der Verfahrensbeteiligten regelt (Art. 1-91); ein 4. Buch, das Vorschriften zu Verfahrensfragen, Fristen und Rechtsmitteln enthält (Art. 355-411); ein 5. Buch zu besonderen Verfahrensarten (Art. 412-472); ein 6. Buch zur internationalen justiziellen Zusammenarbeit (Art. 473-500) sowie (sieben) Schluß-, (neun) Übergangs- und (vier) Änderungsbestimmungen. Im Ermittlungsverfahren (Art. 92-285) wird zwischen einer polizeilichen Voruntersuchung (investigación policial preliminar, Art. 106ff.) und einer formalen Untersuchung (investigación formal, Art. 115 ff.) unterschieden. Die polizeiliche Voruntersuchung findet statt, wenn es "materiell unmöglich" ist, daß der Staatsanwalt unmittelbar die Leitung der Ermittlungen übernimmt. In diesem Rahmen handelt die Polizei im wesentlichen eigenständig und hat weitgehende Befugnisse, inter alia Hausdurchsuchungen und Sicherstellungen durchzufuhren (Art. 109 Nr. 10 und 11). Ihre Ermittlungen können außerdem unter Verschluß gehalten werden. Die formale Untersuchung findet in allen anderen Fällen statt, d.h. wenn der Staatsanwalt die Leitung der Ermittlungen übernehmen kann. Diese Art der Ermittlungen sollte die Regel sein, doch wird sie in der Praxis wohl - angesichts der weitgehenden polizeilichen Zuständigkeiten im Ermittlungsverfahren - zur Ausnahme werden. Das Ermittlungsverfahren endet mit der Einstellung des Falles (Art. 277ff.) oder mit der Anklage, wenn die Tat bewiesen worden ist (Art. 285). Falls keine ausreichenden Grundlagen zur Anklageerhebung existieren, soll die Einstellung mit richterlicher Beteiligung angeordnet werden: Es reicht nicht die eigenständige Entscheidung des Staatsanwalts, sondern dieser kann die Einstellung dem Richter nur vorschlagen. Diesem steht dann die endgültige Entscheidung zu; dies gilt auch im Falle einer Einstellung aufgrund des - vorsichtig anerkannten - Opportunitätsgrundsatzes (Art. 2).

14

Die Begründung dafür ist, daß eine einmalige Tatsachenfeststellung und -wtlrdigung durch ein dreiköpfiges Richterkollegium ausreichend sei und eine zweite Tatsacheninstanz (Berufung) nur eine Überflüssige Wiederholung darstelle. Código Procesal Penal (Ley 468/95-CR), Lima, 3.10.1997 (Archiv d. Verf.).

180

Insoweit kann man grob zwischen den Maßnahmen zur Vorbereitung der Hauptverhandlung (Art. 286ff.), der Hauptverhandlung selbst (Art. 299ff.) und dem Urteil (Art. 343ff.) unterscheiden. Innerhalb der Maßnahmen zur Vorbereitung der Hauptverhandlung ist insbesondere das Verfahren zur Zulassung der Anklage (Art. 286ff.) und die Ladung zur Hauptverhandlung (Art. 298) erwähnenswert. Die Anklage wird zugelassen, wenn sie die in Art. 285 enthaltenen Voraussetzungen erfüllt15. In der Hauptverhandlung gelten, wenigstens in normativer Hinsicht, die Grundsätze der Öffentlichkeit, Kontinuität, Konzentration, Kontradiktion, Unmittelbarkeit, physischen Identität von Richter und Angeklagten und der Präklusion (Art. 299). Diese Grundsätze erleiden allerdings einige Ausnahmen, insbesondere durch die Vorschriften, die die Verlesung von Akten und anderer Dokumente in der Hauptverhandlung erlauben (sogenannte oralización, vgl. Art. 306, 309, 325f., 335). Andererseits lehnen sich die Vorschriften über den Ablauf der Hauptverhandlung eher an das adversatorische System an, denn dem Richter wird eine disziplinarische, weniger eine leitende Funktion zugewiesen (Art. 302ff). Die Beweisbeschaffimg und -vorläge wird den Parteien überlassen. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang insbesondere Art. 323, Abs. 2, wonach "die Zeugen- und Sachverständigenvernehmung direkt von den Verfahrensbeteiligten durchgeführt wird"; ähnlich legt Art. 329 die Regeln für die Vernehmung fest und überläßt es dem Richter (etwas altertümlich als juzgador bezeichnet), "gegebenenfalls seine Befugnisse" auszuüben und "verbotene Fragen für unzulässig" zu erklären (Nr. 5). Andererseits versucht das Gesetz, eine sogenannte "juristisch-technische Debatte", in der die rechtliche Qualifikation der vorgeworfenen Taten diskutiert werden soll (Art. 335ff.), von der Diskussion über die Tatsachen im Rahmen der Beweisaufnahme zu trennen. Diese Trennung erscheint etwas gekünstelt und ist ein Erbe des bis dato geltenden schriftlichen Inquisitionsverfahrens von 1940; es besteht keinerlei Grund, sie in einem mündlichen, vom Unmittelbarkeitsgrundsatz bestimmten Verfahren aufrechtzuerhalten. Ein ähnliches Erbe des schriftlichen Inquisitionsverfahrens kann man in den Vorschriften zum Urteil erblicken, wenn dieses nicht unmittelbar nach Ende der Hauptverhandlung, sondern erst innerhalb von sechs Tagen in einer anderen Verhandlung verkündet werden soll (Art. 343). Die Einführung einer solchen Überlegungs- und Beratungszeit birgt die Gefahr in sich, daß der unmittelbare, aus dem Eindruck der Hauptverhandlung gewonnene Eindruck des Richters neutralisiert wird und die schriftlichen Verfahrensunterlagen aufgewertet oder gar zur eigentlichen Urteilsgrundlage werden.

Danach muß unter anderem der Name, das Atter und der Beruf des Angeklagten aufgeführt werden, die ihm vorgeworfenen Handlungen oder Unterlassungen, die diesen Vorwurf stützenden Beweise und die entsprechenden Strafvorschriften.

181

Als Rechtsmittel kommen grundsätzlich die Berufung (Art. 3 83 ff) und die Revision (Art. 386ff.) in Betracht. c) Bolivien Der bolivianische "Vorentwurf' von 199516 wurde nach einer gründlichen Überarbeitung durch eine vom Justizminister eingesetzte Comisión Revisora (Resolución Ministerial No. 00011, La Paz, 3.4.1996) Ende 1996 dem Kongreß vorgelegt17, jedoch erst nach den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Oktober 1997 vom Plenum grundsätzlich (en grande) verabschiedet18. Er besteht aus zwei Teilen mit insgesamt 603 Artikeln19. Der erste Teil enthält in sechs Büchern allgemeine Vorschriften (Art. 1-348), der zweite Teil die eigentlichen Verfahrensvorschriften (Art. 349-603). Dabei wird zwischen dem ordentlichen Verfahren (Art. 349-478), besonderen Verfahrensarten (Art. 479544)20, Rechtsmitteln (Art. 545-581) und der Strafvollstreckung (Art. 582-603) unterschieden. Das ordentliche Verfahren wird in ein vorbereitendes Verfahren (etapa preparatoria del juicio) und ein mündliches und öffentliches Hauptverfahren (juicio oral y público) unterteilt. Während das vorbereitende Verfahren sich stark an das dem französischen Recht entstammende Untersuchungsrichtersystem (vgl. dazu Barth 1995: lOOff.) anlehnt, überwiegen im Hauptverfahren adversatorische Strukturelemente. Im vorbereitenden Verfahren (Art. 349-423) hat der Ministerio Público den Sachverhalt mit Hilfe der Polizei (Policía Nacional) zu ermitteln, um das Hauptverfahren vorzubereiten (Art. 349). Der Ministerio Público weist die Polizei an, die ihm bei Kenntnis von einer Straftat innerhalb von acht Stunden (!) Mitteilung machen muß (Art. 365, 370ff.). Beide - Ministerio Público und Polizei - unterstehen jedoch untersuchungsrichterlicher Kontrolle21, insbesondere darf der Ministerio Público keine gerichtlichen Ermittlungshandlungen (actos

16

República de Bolivia-Ministerio de Justicia, Anteproyecto del Código de Procedimiento Pena!, La Paz 1995 (Archiv d. Verf.).

17

República de Bolivia-Ministerio de Justicia, Proyecto de Código de Procedimiento Penal, La Paz 1997. Der Entwurf ist Teil eines ehrgeizigen Reformprogramms, das u.a. auch zu einer grundlegenden Reform des StGB gefUhit hat (Ley No. 1768 v. 10.3.1997). Zwischenzeitlich wurden auch die Gesetzesvorhaben zum Consejo de la Judicatura und Defensor del Pueblo verabschiedet (Presencia, La Paz, 23.12.1997).

"

Die damit verbundene politische Zustimmung des Kongresses verhindert, daß der Entwurf automatisch mangels parlamentarischer Behandlung - "erlischt". Er wurde an den zustandigen Ausschuß (Comisión Constitucional) überwiesen. Mit seiner Verabschiedung ist Mitte 1998 zu rechnen.

19

Ohne "Disposiciones adicionales, transitorias y finales die die "parte fina!" bilden.

20

Dazu zahlen - chronologisch - Verfahren für folgende Fälle: abgekürztes Verfahren, schwierige Ermittlungen, Privatklage, SicherungsmaBnahmen, schuldfähige Jugendliche, mit eingeborenen Gemeinschaften zusammenhängende Angelegenheiten (!), Verfahren gegen privilegierte Beschuldigte, Schadenswiedergutmachung und habeas corpus (!).

21

Die Zuständigkeit des Untersuchungsrichters (Juez de instrucción) im Vorverfahren ergibt sich aus den allgemeinen Vorschriften, hier Art. 59, Nr. 1.

182

22

propiamente jurisdiccionales ), die Richter allerdings auch keine Handlungen vornehmen, die ihre Unparteilichkeit gefährden (Art. 352, Akkusationsgrundsatz). Auf der Grundlage des polizeilichen Ermittlungsergebnisses hat der Staatsanwalt gemäß Art. 379 mehrere Möglichkeiten: Er kann förmlich Anklage erheben (Nr. I)23, weitere Ermittlungen anordnen (Nr. 2), eine andere Verfahrensweise (suspensión condicional del proceso, procedimiento abreviado oder conciliación) anwenden (Nr. 4) oder - schon in diesem Verfahrensstadium das Verfahren einstellen (Nr. 3 und 5: oportunidad, desestimación oder archivo). Während der Staatsanwalt die gemäß Art. 379, Nr. 1 und 2 notwendigen Maßnahmen selbst vornehmen kann, muß er in den Fällen der Nm. 3-5 einen Antrag an den Untersuchungsrichter stellen (Art. 385-388, 389 i.V.m. 479, 390); nur wenn der Täter unbekannt ist, kann er selbst einstellen (Art. 391)24. Dagegen steht den Verfahrensbeteiligten Einspruch zu (Art. 392)25. Aus der Systematik dieses Titels ergibt sich, daß die eigentliche staatsanwaltliche Untersuchung erst mit den in Art. 379 vorgeschriebenen Entscheidungsmöglichkeiten beginnt. Bis zu diesem Zeitpunkt haben bloße (polizeiliche) Vorbereitungshandlungen (actos iniciales) stattgefunden26. Die staatsanwaltliche Untersuchung selbst ist von diesem Zeitpunkt an auf sechs Monate begrenzt (Art. 393). Zu ihrem Abschluß erhebt der Staatsanwalt Anklage, sofern eine "ernsthafte Grundlage" (fundamento serió) für eine öffentliche Aburteilung besteht; sonst beantragt er beim Untersuchungsrichter eine andere Verfahrensweise oder die Verfahrenseinstellung27 (Art. 415). In diesem Fall findet eine gerichtliche Abschlußverhandlung (audiencia conclusiva) statt, in der die verschiedenen Erledigungsmöglichkeiten mit den Verfahrensbeteiligten erörtert werden (Art. 416ff.). Dabei stellt der Untersuchungsrichter das Verfahren - nach einer komplizierten Abstimmungsprozedur (Art. 420) - ein, wenn offensichtlich keine Straftat vorliegt oder der Beschuldigte nicht daran teilgenommen hat und die Beweislage unter keinen Umständen eine Anklage trägt (Art. 421). a 21

2

Dieser Begriff bedarf freilich genauerer Klarung, die sich - soweit ersichtlich - im Entwurf nicht findet. Das sog. auto inicial de la instrucción des alten Art. 387, Nr. 1 wurde zu Recht abgeschafft, denn es entspricht inhaltlich der Anklage (vgl. Art. 390 alt und 382 neu).

'

Die ursprüngliche Einstellung mangels hinreichendem Tatverdacht (Art. 399) wurde unverständlicherweise gestrichen. Zu begrüßen ist hingegen, daß der ursprüngliche Art. 3S8 Abs. III gestrichen wurde (danach konnte der Staatsanwalt von der Anklage absehen, wenn er keine Grundlage dafUr sieht oder die Ermittlungen eine Verurteilung unwahrscheinlich erscheinen lassen).

"

Über den Einspruch entscheidet der vorgesetzte Staatsanwalt. Bestätigt er die Entscheidung, hat der Richter einzustellen. Dagegen steht dem Privatkläger und dem Opfer ein Rechtsbehelf zu (apelación, Art. 392, Abs. 3).

u

Für diese Auslegung spricht entscheidend, daß Kap. II dieses Titels mit "Anfangshandlungen" (actos iniciales) und Kap. III, das als erste Vorschrift Art. 379 enthalt, mit "Beginn der staatsanwaltschaftlichen Untersuchung ("inicio de la instrucción fiscal") Uberschrieben ist. Allerdings werden die Begriffe "instrucción" und "investigación" scheinbar gleichbedeutend verwendet (vgl. etwa Oberschrift Kap. IV, Art. 393 und Art. 415, S. 1).

27

Diese Möglichkeit ist auch schon, wie erwähnt, nach der polizeilichen Untersuchung vorgesehen (Art. 379).

183

Der Beschuldigte hat mit der ersten gegen ihn gerichteten Ermittlungshandlung Anspruch auf Verteidigerbeistand (Art. 11 f., 118, 128ff.) und grundsätzlich Beteiligungs- und Akteneinsichtsrechte (Art. 5, 121, 126); allerdings können, wie im chilenischen Entwurf, die Ermittlungen bis zu zehn Tage teilweise unter Verschluß gehalten werden (Art. 396). Das Hauptverfahren (Art. 424-478) ist der wesentliche Teil des gesamten Strafverfahrens (Art. 424) und wird von den Grundsätzen der Mündlichkeit, Unmittelbarkeit, Öffentlichkeit, Kontinuität (Art. 424ff.) sowie "in dubio pro reo" (vgl. Art. 47128) beherrscht. Die ebenfalls grundsätzlich festgelegte kontradiktorische bzw. adversatorische Ausrichtung (Art. 424) findet insbesondere bei den Vorschriften zur Beweisaufnahme konkreten Niederschlag (dazu sogleich). Das Verfahren trägt allerdings auch instruktorische Züge (insbes. Art. 43729), so daß im Sinne der eingangs genannten Differenzierung von einem gemischten Akkusationsprozeß gesprochen werden kann. Die mündliche und öffentliche Hauptverhandlung bildet das Kernstück des Hauptverfahrens. Sie kann (podrä) im Sinne des angloamerikanischen Schuldinterlokuts in zwei Phasen geteilt werden, so daß zunächst über die Schuldfrage und danach - sofern der Angeklagte für schuldig befunden wird - über die individuelle Strafzumessung entschieden wird (Art. 439f.)30. Die Hauptverhandlung wird jedenfalls auf Grundlage der Anklage31 (des Staatsanwaltes oder des Privatklägers) vorbereitet (Art. 442ff., 445) und läuft folgendermaßen ab (Art. 449ff.): Feststellung der Anwesenheit, Abnahme des Schöffeneids, Belehrung des Beschuldigten 32

(imputado), Verlesung und Begründung der Anklage , Erläuterung des Verteidigungsvorbringens, Vernehmung des Beschuldigten zur Sache33, Beweisaufnahme (Art. 455ff.) und Schlußdiskussion (Art. 463). In der Beweisaufnahme bestimmt der Vorsitzende zwar die Reihenfolge der relevanten Beweismittel (Art. 455) und vernimmt auch die Zeugen zur Person (Art. 458); bei der Vernehmung der Zeugen (und Sachverständigen) zur Sache fragen jedoch die Verfahrensbeteiligten vor dem Gericht (Art. 456 I, 458 II)34, n

29

Alt. 471: 1 verlangt die "absolute Gewißheit" von der Schuld des Angeklagten und impliziert damit, daß bei Zweifeln ein Freispruch erfolgen muß. Danach leitet der Vorsitzende die Hauptverhandlung.

50

Die - ohnehin wenig einleuchtende - Möglichkeit einer informalen Trennung wurde aufgehoben (Art. 458 alt).

11

Die Anklage hat dabei eine negative Begrenzungsfiinktion im Sinne von §§ 155, 264 StPO mit der Folge, daß dem Angeklagten bei Änderungen oder Erweiterungen zu seinen Lasten ausreichend Gelegenheit zur Verteidigung - u.U. unter "Aussetzung" der Verhandlung - gegeben werden muß (Art. 453,468).

32

Und des ErOflnungsbcschlusses (auto de apertura a juicio, Art. 449 II), den das Gericht wiederum auf der Grundlage der Anklage erlassen soll (Art. 445). Dieser Beschluß stellt allerdings keine gerichtliche Vorkontrolle dar, sondern scheint vielmehr rein deklaratorischer Natur zu sein. Dies bedarf genauerer Klärung.

"

Unter richterlicher Belehrung Uber sein Schweigerecht, aber in folgender Reihenfolge: Staatsanwalt, Privatkläger (querellante), Verteidiger, Richter (Art. 451).

14

Ebenso bei der Vernehmung des Beschuldigten (o. Anm. 33).

184

und der Vorsitzende "moderiert" lediglich (Art. 458 III). Im übrigen obliegt die Beweissammlung und -Präsentation grundsätzlich den Verfahrensbeteiligten (Art. 442 I, 446 I); das Gericht kann nur ausnahmsweise die Beschaffung zusätzlicher Beweismittel anordnen, muß aber dafiir Sorge tragen, daß die (beweisrechtliche) Tätigkeit der Verfahrensbeteiligten dadurch nicht ersetzt wird (Art. 462). Hier setzt sich also das adversatorische Strukturprinzip gegen eine nur beschränkte gerichtliche Aufklärungspflicht35 durch. In der Schlußdiskussion begründen Staatsanwalt, Antragsberechtigter und Verteidiger mit jeweiligen Replikmöglichkeiten ihre Schlußanträge, wobei dem Verteidiger das "letzte Wort" gebührt (Art. 463). Danach soll dem Tatopfer und dem Beschuldigten das - wirklich letzte - Wort gegeben werden (Art. 463 am Ende)36. Es folgt dann die (geheime) Beratung mit Abstimmung (Art. 464ff.), in der schon das Urteil redigiert und anschließend verlesen werden soll (Art. 467) 37 . Gegen das Urteil steht den Verfahrensbeteiligten nur die Revision zu (Art. 561 ff. i.V.m. 475). Als Besonderheit ist schließlich zu erwähnen, daß bei sog. "komplizierten Ermittlungen" (d.h. bei einer Vielzahl von Taten, Tätern und Opfern oder bei "jeglicher anderer Form organisierter Kriminalität", Art. 482) ein besonderes Verfahren vorgesehen ist (Art. 482-489), das u.a. längere Fristen (Art. 484) und einen zusätzlichen Haftgrund (Art. 485) vorsieht. d) Venezuela Der venezolanische Gesetzesentwurf in der Fassung vom 10. September 199738 wurde am gleichen Tag vom Rechtsausschuß (Comisión Legislativa) des Kongresses und Ende des Jahres vom Plenum verabschiedet. Er geht auf einen über 20 Jahre alten Entwurf zurück, der sich stark an den (damaligen) italienischen Entwurf Caneluttis (1963) anlehnt. Er wurde jedoch zwischenzeitlich grundlegend überarbeitet und stark der deutschen Verfahrensstruktur angeglichen39.

11

Die Aufklarungspflicht klingt immerhin im Wort "esclarecidos" in Art. 462 noch an.

16

Art. 463 ist - nach wie vor - unnötig kompliziert und mißverständlich. Diese Schlußdebatte mit ihren ReplikmOglichkeiten wird zu unnötigen Verzogeningen ffihren (obwohl angeordnet wird, daß dies vermieden werden soll!). Die Benutzung des Begriffs "letztes Wort" (ultima palabra) im Zusammenhang mit dem Verteidiger stiftet unnötig Verwirrung.

37

Ausnahmsweise - bei komplizierten Sachverhalten oder zu später Stunde - können die Gründe mündlich in zusammengefaßter Form verkündet werden (Art. 467 III). Diese sofortige Absetzungspflicht des Urteils impliziert eine nur geringe Qualität der UrteilsgrOnde in tatsachlicher und rechtlicher Hinsicht (vgl. auch den "dürftigen1' Art. 466).

"

Congreso de la República de Venezuela-Comisión Legislativa, Proyecto de Código Orgánico Procesal Penal, Caracas 10.9.1997 (Archiv d. Verf.).

M

Was ganz entscheidend auf eine - vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit mit Venezuela finanzierte - Studienreise venezolanischer Politiker und Juristen in die Bundesrepublik Mitte I99S zurückzuführen ist. In diesem

185

Somit dürfte die frühere Kritik an der nur unvollkommenen Überwindung des schriftlichen Inquisitionsverfahrens überholt sein40. In gerichtsorganisatorischer Hinsicht ist bemerkenswert, daß eine umfassende Laienbeteiligung durch Einführung sog. gemischter und Geschworenengerichte (tribunal mixto de escabinos oder tribunal de jurados) vorgesehen ist, freilich nie ohne richterliche "Kontrolle" (Art. 102ff., 158ff.)41. Der insgesamt 541 Artikel umfassende Entwurf besteht aus allgemeinen Grundsätzen (Art. 1-22) und Vorschriften (1. Buch, Art. 23-288) sowie Vorschriften zu dem ordentlichen Verfahren (2. Buch, Art. 289-371), besonderen Verfahren (3. Buch, Art. 372-48742), Rechtsmitteln (4. Buch: Art. 426-474), Strafvollstreckung (5. Buch: Art. 475-504) und sonstigen Fragen (Art. 505-541). Das ordentliche Verfahren ist in ein Vorverfahren (fase preparatoria), ein Zwischenverfahren (fase intermedia) und ein Hauptverfahren (juicio oral) unterteilt. Das Vorverfahren (Art. 289-329) wird vom Ministerio Público (Art. 11, 105ff.) geleitet, der mit Hilfe der ihm funktional zugewiesenen Polizei (Policía de Investigaciones Penales, Art. 107ff.) den Sachverhalt ermitteln soll (insbes. Art. 292f., 309, 318). Es beginnt (Art. 309) aufgrund einer Anzeige (Art. 294), Privatklage (Art. 301 ff.) oder anderer Kenntnisnahme einer Straftat (Art. 292). Es endet - insoweit verbessert der geltende Entwurf ältere Fassungen43 - durch Nichtzulassung der Anzeige oder Privatklage aufgrund eines staatsanwaltlichen Antrags an den Richter (desestimación, Art. 310f.), durch Einstellung durch den Staatsanwalt (archivo, Art. 322-324) oder auf dessen Antrag durch den Richter oder den vorgesetzten Staatsanwalt (sobresemiento, Art. 325-329) oder durch Erhebung der Anklage (Art. 329). Als Alternativen zur Strafverfolgung sind schon im 1. Buch vorgesehen (Art. 31-42): das Absehen von der Strafverfolgung aufgrund des Opportunitätsgrundsatzes (auf staatsanwaltlichen Antrag), das Erlöschen der Strafverfolgung bei Täter-Opfer-Ausgleich (acuerdos reparatorios) und die bedingte Aussetzung des Verfahrens mit der Möglichkeit einer Einstellung bei Erfüllung der Bedingungen. Damit geht der Entwurf auch für europäische Verhältnisse sehr weit.

Rahmen hielten sich die Juristen ca. zwei Wochen am Max-Planck Institut für ausländisches und internationales Strafrecht auf. In diesem Zusammenhang verdient auch das unermüdliche Engagement des Rechtsstaatsprogramms der Konrad Adenauer Stiftung (Ciedla, Buenos Aires) lobend Erwähnung. Vgl. auch die zahlreichen Zitate deutscher Strafrechtslehrer in der Begründung des Proyecto, S. 35ff. 40

Vgl. näher Struensee/Ambos (en colaboración con Binder/Riego/Vargas/Görtz-Leible) (1996); (noch) kritischer Maier (1996b). Die Gutachten beziehen sich auf eine Entwurfsfassung vom 23.3.1996.

41

Das tribunal mixto besteht grundsätzlich aus einem (vors.) Berufsrichter und zwei Laien (Art. 158), das tribunal de jurados aus einem (vors.) Berufsrichter und neun Geschworenen (Art. 164).

41

Dazu zählen - chronologisch - Verfahren fUr folgende Fälle: Privatklage, Flagranzfestnahme, verfassungsrechtlich privilegierte Angeschuldigte, Auslieferung, Abwesenheit des Angeklagten, Flucht von Inhaftierten sowie Verfehlungen (faltas) und ähnliche Delikte.

41

Nach dem Entwurf vom 23.7.1996 begann das eigentliche Verfahren noch mit der instancia, d.h. einer Art staatsanwaltlichem Eröffnungsvorschlag an das Gericht (Art. 232ff.).

186

Der Beschuldigte (Art. 121 ff.) hat in jeder Verfahrensphase Anspruch auf Verteidigerbeistand (Art. 12), auch schon im Vorverfahren (Art. 122 Nr. 3). Er hat umfassende Beteiligungs- und Akteneinsichtsrechte (Art. 313ff.), doch kann die Akteneinsicht teilweise oder ganz für bis zu 10 Tage verwehrt werden (Art. 313)44. Im Zwischenverfahren (Art. 330-334) findet eine mündliche Verhandlung (audiencia preliminar) vor dem Einzelrichter (Art. 103f.: juez de control) statt, in der die Beteiligten Anträge stellen und begründen können und u.a. über die genannten Alternativen zur Strafverfolgung informiert werden (Art. 331 f.). Der Richter entscheidet insbesondere über die (teilweise) Zulassung oder Ablehnung der Anklage (dann Einstellung), die gestellten Anträge (insbesondere bezüglich der Prozeßvoraussetzungen) sowie eventuelle Absprachen im Rahmen des Täter-Opfer-Ausgleichs (Art. 333); er erläßt gegebenenfalls den Eröffnungsbeschluß (auto de apertura a juicio, Art. 334). Die Vorschriften zum Hauptverfahren regeln die dem instruktorischen Anklageprozeß eigenen Grundsätze45 (Art. 335-343), seinen Ablauf (Art. 344361) und das Urteil (Art. 362-371). Nach Vorbereitung der Hauptverhandlung (Art. 344ff.) findet diese vor dem sog. Gericht des Hauptverfahrens statt, das, wie erwähnt, nur aus Richtern oder gemischt zusammengesetzt ist (Art. 103, 158ff.). In der Hauptverhandlung wird nach Vereidigung der Laien die Anklage und Verteidigung vorgetragen (Art. 347); es folgt die Belehrung und Vernehmung des oder der Angeklagten (Art. 349ff.) sowie die Beweisaufnahme (Art. 354ff.). Die Verhandlung schließt mit den Plädoyers von Staatsanwalt, Privatkläger und Verteidiger (mit einer Replikationsmöglichkeit von Staatsanwalt und Verteidiger), einer eventuellen Stellungnahme des Opfers und dem Schlußwort des Angeklagten (Art. 361). Nach der Beratung (Art. 362f.)46 wird das Urteil (Art. 365) verkündet und mündlich begründet (Art. 366); es soll innerhalb von zehn Tagen schriftlich abgesetzt sein (Art. 366 III). Gegen das Urteil steht die Berufung (Art. 444ff.), dagegen in bestimmten Fällen die Revision zu (Art. 453ff.). Die Rechtsmittelgerichte bestehen ausschließlich aus Berufsrichtern (Art. 103 )47.

44

45

Auch darin liegt eine Verbesserung gegenüber den ursprünglichen Vorschriften, insbes. Art. 60, Nr. 1 und 114. Unmittelbarkeit, Öffentlichkeit, Konzentration, Mündlichkeit, richterliche Leitung.

46

Berufsrichter und Laien entscheiden gemeinsam über die Schuldfrage, doch bleibt dem (Vorsitzenden) Berufsrichter die rechtliche Würdigung und - im Fall des tribunal de jurados - auch die Strafzumessungsentscheidung überlassen (Art. 363).

47

Doch hat die Laienbeteiligung Einfluß auf den Rechtsmittelgegenstand. So können im Fall einer einstimmigen Entscheidung des tribunal de jurados zur Schuldfrage nur Verfahrens- oder richterliche Subsumtionsfehler Revisionsgegenstand sein (Art. 457). Im konkreten Fall dürften die daraus folgenden Abgrenzungsfragen zu erheblichen Anwendungsproblemen führen.

187

e) Paraguay Der paraguayische Gesetzentwurf48 besteht aus 513 Artikeln und zwei Teilen. Der erste Teil enthält Vorschriften zu den prozessualen Grundsätzen und Grundlagen (Art. 1-30), zur Strafjustiz und den Prozeßsubjekten (Art. 31-115), zu den Verfahrenshandlungen und Nichtigkeitsgründen (Art. 116-171), zu den Beweismitteln (Art. 172-233), zu den Zwangsmaßnahmen (Art. 234-260) sowie zu den Kosten und Entschädigungen (Art. 261-278). Der zweite Teil regelt in vier Büchern das ordentliche Verfahren (Art. 279-410), besondere Verfahrensarten (Art. 411-453)49, Rechtsmittel (Art. 454-494) sowie die Strafvollstreckung (Art. 495-513). Im vorbereitenden Verfahren (Art. 279-353), das regelmäßig mit einer Anzeige an die Staatsanwaltschaft oder Polizei beginnt (Art. 284ff.), soll die die Ermittlungen leitende Staatsanwaltschaft alle Beweise zu Lasten und zugunsten des Beschuldigten zusammentragen (Objektivitätsgrundsatz, Art. 279f.). Sie bedient sich dabei der National- und der Justizpolizei (Art. 58, 62, 279 Abs. 2, 290, 318). Diese untersteht der Staatsanwaltschaft unmittelbar und hat ihr (und dem Richter) innerhalb von sechs Stunden nach Kenntnisnahme eines Delikts entsprechende Mitteilung zu machen (Art. 296). Alle staatsanwaltschaftlichen und polizeilichen Ermittlungshandlungen unterliegen richterlicher Kontrolle (Art. 282). Die Staatsanwaltschaft soll innerhalb von 20 Tagen ab Beginn der Ermittlungen beim Richter das weitere Vorgehen beantragen (Art. 301): Sie beantragt die Aburteilung, sofern ein ausreichender Tatverdacht besteht (Art. 301 Nr. 1 i.V.m. 303); folgt der Richter dem Antrag, hat er eine in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht ausreichend konkretisierte Verfügung zu erlassen (Art. 303). Sie beantragt die Zurückweisung der Anzeige, Privatklage (vgl. Art. 291 ff.) oder polizeiliche Ermittlungshandlungen, wenn die Tat keinen Straftatbestand darstellt oder ein Verfahrenshindernis besteht (Art. 301 Nr. 2 i.V.m. 305). Läßt der Richter diesen Antrag nicht zu, weist er die Staatsanwaltschaft an, einen neuen Antrag zur Fortsetzung des Verfahrens zu stellen (Art. 306). Die Staatsanwaltschaft kann weiter die endgültige oder vorläufige Einstellung aus bestimmten Gründen (Art. 301 Nr. 3 i.V.m. 307f.)50, die Einstellung aufgrund des Opportunitätsgrundsatzes (Art. 301, Nr. 4 i.V.m. 309, 18f.)51 oder die

"

Ministerio Público, Anteproyecto de Código Procesal Penal, 1996, 2da. edición (Archiv d. Verf.).

49

Dazu zahlen - chronologisch - folgende Verfahren: vor dem Friedensrichter, abgekürztes Verfahren, Privatklage, bei Mindeijahrigen, Sicherungsmaßregeln, bei die eingeborene Bevölkerung betreffenden Taten, Schadenswiedergutmachung.

50

Die Gründe ergeben sich (wohl) aus Art. 20 (Verfolgungsverjährung) und Art. 25, der als ErlSschensgründe u.a. das Zahlen eines Bußgeldes, die Zurücknahme des Stiafantrags und den Tod des Verletzten vorsieht.

51

Gemäß Art. 18 kann als Ausnahme vom Legalitätsgrundsatz das Absehen von der Verfolgung beantragt werden, wenn es sich um ein Bagatelldelikt handelt (Nr. 1), der Beschuldigte die Tatvollendung zu verhindern suchte (Nr. 2) oder einen schweren physischen oder moralischen Schaden davongetragen hat und

188

bedingte Verfahrensaussetzung (Art. 301, Nr. 5 i.V.m. 310, 21 )52 beantragen. In den letzten beiden Fällen hat sie weiter Ermittlungen zur Beweissicherung durchzuführen (Art. 311). Schließlich kann die Staatsanwaltschaft die Aburteilung im abgekürzten Verfahren (Art. 301, Nr. 6 i.V.m. 313, 424f.), die Einberufung einer Versöhnungsverhandlung (Art. 301, Nr. 7 i.V.m. 313)" oder die Anwendung einer Zwangsmaßnahme (Art. 301 Nr. 8) beantragen. Verwirft der Richter den staatsanwaltschaftlichen Antrag, soll dieser innerhalb von zehn Tagen einen neuen Antrag stellen; bestehen beide auf ihrer Ansicht, entscheidet der Generalstaatsanwalt oder der von ihm ernannte vorgesetzte Staatsanwalt. Bestätigt dieser den ursprünglichen Antrag, muß der Richter entsprechend entscheiden, unbeschadet eines Einspruchs des Privatklägers oder des Verletzten (Art. 316). Eine selbständige Einstellung ist nur möglich, wenn der Beschuldigte nicht festgestellt werden kann (Art. 315). Dagegen kann der Verletzte Einspruch vor dem Strafrichter erheben, der die Fortsetzung des Verfahrens anordnen kann (ebda.). Der endgültige Abschluß dieses Verfahrensabschnitts soll innerhalb von sechs Monaten seit Ermittlungsbeginn erfolgen (Art. 327). Hält die Staatsanwaltschaft einen ernsthaften Tatverdacht für gegeben, erhebt sie Anklage und beantragt die Eröffnung des Hauptverfahrens (Art. 350)54. Andernfalls ist die endgültige oder vorläufige Einstellung oder eine andere der genannten Entscheidungen zu beantragen (Art. 353). Der Beschuldigte muß vor der Anklageerhebung vernommen werden (Art. 87, Abs. 1, 352). Er hat spätestens zum Zeitpunkt der Vernehmung Anspruch auf einen Verteidiger (Art. 87, 97, 101). Die Verfahrensakten sind für die Verfahrensbeteiligten grundsätzlich zugänglich (nicht aber für Dritte, Art. 325), können aber teilweise bis zu zehn Tage auf Antrag der Staatsanwaltschaft unter Verschluß gehalten werden (Art. 326). Ähnlich wie in Venezuela besteht das Zwischenverfahren im wesentlichen in einer "vorläufigen Verhandlung", die nach einem fünftägigem Aktenstudium innerhalb von 10 bis 20 Tagen stattfinden soll (Art. 354). In dieser Verhandlung findet eine Beweisaufnahme statt, und der Richter versucht, zu einer versöhnlichen Lösung auf der Grundlage einer Schadenswiedergutmachung zu kommen

er in diesen Fällen den Schaden wiedergutgemacht hat; oder die zu erwartende Strafe verglichen mit einer schon verhängten oder einer fttr andere Taten zu erwartenden unwichtig erscheint (Nr. 4). In diesem Fall wird das Verfahren allerdings nur vorlaufig bis zum rechtskraftigen Urteil eingestellt (Art. 19, Abs. 2, 3). Im Übrigen ist die Einstellungsentscheidung grundsätzlich nur bezüglich des Begünstigten rechtskräftig, im Falle einer Bagatelle aber bezüglich aller Teilnehmer (Art. 19). 52

Gemäß Art. 21 ist dies aufgrund eines Antrags der Verfahrensbeteiligten möglich, wenn eine Strafaussetzung zur Bewährung zu erwarten ist, der Beschuldigte einverstanden ist, die Taten zugegeben und Wiedergutmachung geleistet oder seine entsprechende Bereitschaft zum Ausdruck gebracht hat.

53

Eine solche Versöhnungsverhandlung kann gemäß Art. 3IS beantragt werden, wenn ein Erloschen der Strafverfolgung aufgrund Schadenswiedergutmachung möglich ist (dazu o. Anm. 51 f.).

54

Der Privatkläger muß seine Anklage zum gleichen Zeitpunkt erheben (Art. 353).

189

(Art. 356). Die Verhandlung schließt mit einem - die Anklage (teilweise) zulassenden - Eröfihungsbeschluß, einer (vorläufigen) Einstellung oder bedingten Aussetzung des Verfahrens oder der Genehmigung einer versöhnlichen Lösung durch Wiedergutmachung (Art. 358, Nr. 1, 4, 5, 9)55. Eine endgültige Einstellung erfolgt, wenn aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen die Eröffnung nicht ausreichend begründet werden kann (Art. 361 ff.), andernfalls - die Abgrenzung bleibt unklar - kommt eine vorläufige Einstellung in Frage, die nach einem Jahr zum Erlöschen des Strafverfolgungsanspruchs fuhrt (Art. 364). Der Eröfihungsbeschluß setzt jedenfalls eine Anklage voraus (Art. 360 Abs. 3) und muß deshalb auch u.a. deren (veränderte) Zulassung und eine Konkretisierung von Tat und Täter enthalten (Art. 365). Die Anklage bestimmt und begrenzt damit den Prozeßgegenstand (dazu auch unten). Das Hauptverfahren besteht aus der Vorbereitung der Hauptverhandlung und dieser selbst. Sie wird insbesondere von den Grundsätzen der Unmittelbarkeit (Art. 368), Öffentlichkeit (Art. 370)56, Mündlichkeit (Art. 372)", Konzen58

tration und freien Beweiswürdigung (Art. 401 Abs. 1) beherrscht und vom Vorsitzenden Richter geleitet (Art. 374, 378). Sie kann, wie im bolivianischen Entwurf, in einen Teil zur Schuld- und einen anderen zur Straffeststellung geteilt werden (Art. 379ff.)59. Sie läuft folgendermaßen ab: Feststellung der Anwesenheit; ausführliche Belehrung des Angeklagten; Verlesung von Eröffnungsbeschluß und Anklage (Art. 385); Darlegung der Verteidigung; erneute Belehrung und Vernehmung des Angeklagten zur Sache durch den Staatsanwalt, Verteidiger und Gericht sowie (spontane) Befragung zur Klarstellung seiner Aussagen (Art. 387); Beweisaufnahme (Art. 391 ff.) und Schlußdiskussion (Art. 399). Der Vorsitzende leitet zwar grundsätzlich die Beweisaufnahme (Art. 391), doch bei der Vernehmung der Zeugen (und Sachverständigen) zur Sache fragen die Verfahrensbeteiligten zuerst und der Vorsitzende "moderiert" lediglich (Art. 394). Im übrigen kann das Gericht nur ausnahmsweise die Beschaffung zusätzlicher Beweismittel anordnen, muß aber dafür Sorge tragen, daß die (beweisrechtliche) Tätigkeit der Verfahrensbeteiligten dadurch nicht ersetzt wird (Art. 55

54

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59

Im Übrigen können auch andere Sach- oder Verfahrensentscheidungen getroffen werden, etwa die Anordnung der Korrektur bestimmter formaler Fehler der Anklage oder einer vorweggenommenen Beweisaufnahme (Art. 360, Nr. 2, 7). Ausnahmen: grundsatzlich Ausschluß von bis zu 12jährigen und von uniformierten Mitgliedern der Streitkräfte und Polizei (Art. 373). Ausnahmen: Verlesung von im Wege der vorweggenommenen Beweisaufnahme erhobenen Zeugenaussagen oder Sachverständigengutachten oder anderer Urkunden (comisión o informe), wenn der Zeuge oder Sachverständige nicht erscheinen können (Art. 375). Vgl. insbes. Art. 377f., wonach eine Aussetzung nur ausnahmsweise fUr 10 Tage zulässig ist und andernfalls (bei einer Unterbrechung) das Hauptverfahren von vome begonnen werden muß. Im Unterschied zum bolivianischen Entwurf muß die Hauptverhandlung aber auf Antrag des Beschuldigten geteilt werden, wenn die zu erwartende Strafe 10 Jahre abersteigen kann (Art. 381, Abs. 2).

190

398). Hier setzt sich also, wie im bolivianischen Entwurf, das adversatorische Strukturprinzip gegenüber einer nur beschränkten gerichtlichen Aufklärungspflicht durch. In der Schlußdiskussion halten Staatsanwalt, Privatkläger und Verteidiger (in dieser Reihenfolge) ihre Plädoyers, und es wird ggf. repliziert. Dabei steht dem Verteidiger - an dieser Stelle (wie im bolivianischen Entwurf) - das "letzte Wort" zu, das dann aber noch einmal - wirklich zuletzt - dem Angeklagten gegeben wird (Art. 399). Problematisch ist, daß das Schweigerecht des Angeklagten durch die mögliche Verlesung seiner früheren Erklärungen geschwächt wird (Art. 387, Abs. 4)60. Eine Erweiterung der Anklage in tatsächlicher Hinsicht ist unter der Voraussetzung möglich, daß dem Angeklagten ausreichend Gelegenheit zur Verteidigung gegeben wird (Art. 390). Eine rechtlich veränderte Beurteilung ist grundsätzlich zulässig, wurde sie allerdings von keinem Verfahrensbeteiligten erkannt, muß ebenfalls ausreichend Gelegenheit zur Verteidigung gegeben werden (Art. 404, Abs. 2, 4). Grundsätzlich unzulässig soll es allerdings sein, von anderen als den in der Anklage festgestellten und dem Eröffnungsbeschluß zugelassenen Tatsachen oder einem vollkommen anderen Tatbestand auszugehen (Art. 404 Abs. 1, 3). Diese Vorschriften bleiben unklar und werden praktische Schwierigkeiten hervorrufen, denn innerhalb der möglichen tatsächlichen und rechtlichen Abweichungen gegenüber der Anklage wird nicht überzeugend abgegrenzt. In tatsächlicher Hinsicht zumindest könnte die Einfuhrung eines prozessualen Tatbegriffs im Sinne von § 264 dStPO und die darauf basierende grundsätzliche Ausscheidung weiterer Taten im Sinne von § 266 dStPO weiterhelfen. Das Urteil ergeht grundsätzlich unmittelbar im Anschluß an die Hauptverhandlung nach geheimer Beratung (Art. 400). Es soll grundsätzlich - sofern kein komplexer Fall vorliegt - sofort abgesetzt und verlesen werden, so daß die Verfahrensbeteiligten sogleich eine Kopie erhalten können (Art. 403). Dagegen kommen als Rechtsmittel die "besondere" Berufung (Art. 471 ff.) und die "außerordentliche" Revision (Art. 482ff.) in Betracht. f) Uruguay Der uruguayische Gesetzesentwurf wurde am 17. Dezember 1996 vom Senat und am 15.10.1997 von der Abgeordnetenkammer verabschiedet61. Er besteht aus insgesamt 372 Artikeln und vier Büchern. Das erste Buch (Art. 1-228) ent-

60

Dies stellt außerdem eine weitere Ausnahme vom MUndlichkeitsgrundsatz dar (vgl. o. Anm. 57).

61

República Oriental del Uruguay, Diario de Sesiones de la Cámara de Senadores, No. 13S, tomo 379, 17.12.1996: 256ff. Dort finden sich auch die ursprünglichen Entwürfe von Senat (S. 3ff.) und Exekutive (S. 61 fT.). Der Entwurf soll noch dieses Jahr verabschiedet werden.

191

hält allgemeine Vorschriften, das zweite (Art. 229-290) regelt das Erkenntnisverfahren (etapa de conocimiento), das dritte (Art. 291-336) die Strafvollstrekkung und das vierte (Art. 337-372) besondere Verfahrensarten62. Das Verfahren erster Instanz ist im wesentlichen im zweiten Buch geregelt. Die etapa de conocimiento besteht in der ersten Instanz aus den "ersten" Verfahrenshandlungen, der Vorbereitung der Hauptverhandlung und der Hauptverhandlung selbst (Art. 229, Abs. 2). Das Ermittlungsverfahren ist nicht gesondert geregelt. Aus den Vorschriften zu den Verfahrensbeteiligten (Art. 46ff.) im Zusammenspiel mit den "ersten" Verfahrenshandlungen (Art. 242ff.) wird jedoch eine gewisse Struktur erkennbar. Danach ist der Ministerio Público der Herr der Strafverfolgung und kann unter bestimmten Voraussetzungen von der Strafverfolgung absehen (Opportunitätsgrundsatz, Art. 49). Nicht nur in den bekannten Bagatellfällen, sondern auch, wenn es sich um ein Fahrlässigkeitsdelikt handelt, das dem Beschuldigten einen eine Strafe übersteigenden Schaden zugefugt hat (Art. 49, Abs. 1); bei Vermögensdelikten, wenn der Beschuldigte Entschädigung geleistet hat (Art. 49 Abs. 2); wenn die Tat vier Jahre zurückliegt und keine Freiheitsstrafe zu erwarten ist (Art. 49, Abs. 3). Dagegen steht dem Gericht und dem Opfer allerdings die Beschwerde an den vertretenden Staatsanwalt zu, dessen Entscheidung dann verbindlich ist (Art. 50, Abs. 2). Darüber hinaus stehen dem Ministerio Público keine weiteren Befugnisse zu, und es bleibt offen, wie er ohne entsprechende Polizeiorgane ermitteln soll. Die Polizei taucht als Verfahrensbeteiligter überhaupt nicht auf, scheint aber eher dem Richter zu unterstehen, ordnet doch Art. 233 an, daß sie ihn - nicht den Staatsanwalt - bei Kenntnis von einer Straftat zu informieren habe. Damit wird der Staatsanwalt in der Regel erst ermitteln können, wenn er mittelbar aufgrund gerichtlicher Mitteilung Kenntnis von Straftaten erlangt hat, denn die in Art. 243.1. unterstellte unmittelbare Kenntnis dürfte praktisch selten sein. Hält der Staatsanwalt ein Verfahren für notwendig, beantragt er - innerhalb von 30 Tagen ab Kenntnis von der Tat (Art. 243.3.) - die "ersten" Verfahrenshandlungen beim zuständigen Gericht. Der Beschuldigte hat mit der ersten gegen ihn gerichteten Untersuchungshandlung alle Rechte, insbesondere das Recht angemessener Verteidigung (Art. 51,72). Läßt das Gericht den staatsanwaltschaftlichen Antrag zu, wird ein Verteidiger bestellt (Art. 245.1. i.V.m. Art. 72), und es kommt zu einer mündlichen, vom Gericht geleiteten Vorverhandlung zur Klärung der rechtlichen Situation des Beschuldigten {audiencia de resolución de la situación del imputado, Art. 246f., 238). Aufgrund dieser Verhandlung wird das Verfahren - auf Antrag des Staatsanwalts - entweder eingestellt (Art. 247.3. i.V.m. 247.4., Abs. 2) oder die 62

Dazu zahlen nur die Auslieferung, das habeas corpus-Verfahren und das Verfahren wegen Vergehen.

192

Aburteilung mittels eines sog. auto de procesamiento verfugt (Art. 247.4., Abs. 1, 247.5., 248ff). Dieser Beschluß, der keine Vorverurteilung darstellen soll (Art. 250.1.), regelt u.a. die Untersuchungshaft des Beschuldigten (Art. 251.1.). Die sich anschließende Vorbereitung der Hauptverhandlung, insbesondere die zusätzliche Beweissammlung63 soll 120 Tage nicht überschreiten (Art. 258). Die Hauptverhandlung selbst soll spätestens nach 30 weiteren Tagen durchgeführt werden (Art. 259.1.). In dieser sog. audiencia de conclusión de la causa können zwar noch einmal Beweise vorgelegt werden (Art. 260), doch beschränkt sich die eigentliche Verhandlung auf die Verlesung der Anklage und die Replik des Verteidigers (Art. 261.4. i.V.m. Art. 116, 119; Art. 261.5. i.V.m. 117) - wenn die Staatsanwaltschaft nicht ohnehin die Einstellung beantragt (Art. 261.6. i.V.m. 118.2.). Nur in komplizierteren Fällen, die allerdings nicht definiert werden, kann die Hauptverhandlung einmalig um 15 Tage verlängert werden (Art. 261.3., 261.7.). Gegen das - grundsätzlich sofort ergehende (Art. 261.7.) - Urteil steht dem Beschuldigten und der Staatsanwaltschaft unmittelbar die Berufung (Art. 267ff. i.V.m. 266) und mittelbar - gegen das Berufungsurteil - die Revision (Art. 280f. i.V.m. 266) zu.

2. Abgekürzte Verfahren Unter abgekürzten Verfahren wird hier jedes Verfahren verstanden, das kürzer als das ordentliche Verfahren ist oder zumindest diesen Anspruch erhebt. a) Chile Im chilenischen Entwurf findet sich ein - ausdrücklich als solches bezeichnetes - abgekürztes Verfahren {procedimiento abreviado, Art. 466-475) und ein Verfahren wegen Verfehlungen bzw. Übertretungen (faltas), das ebenfalls kürzer als das Normalverfahren ist. Dieses procedimiento por faltas (Art. 445-454) findet sich in dem Entwurf, weil ein Großteil der Verfehlungen in Chile immer noch kriminalstrafrechtlich erfaßt wird und Freiheitsstrafen in der Form der prisión bis zu 60 Tage nach sich ziehen kann (Art. 494ff. i.V.m. 21, 56 Código Penal-CP). In diesen Fällen soll ein vereinfachtes mündliches Verfahren aufgrund einer schriftlichen Vorlage des Ministerio Público stattfinden. Bei einem Geständnis des Beschuldigten wird sofort das Urteil verkündet, ansonsten findet eine verkürzte mündliche Verhandlung statt.

Die gesamte Beweisaufnahme soll in einer mündlichen, vom Gericht geleiteten Verhandlung unter aktiver Teilnahme von Staatsanwalt und Verteidiger stattfinden (Art. 238).

193

Das eigentliche abgekürzte Verfahren kommt grundsätzlich bei Taten mit einer Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren {presidio, reclusión menor en su grado máximo oder cualesquiera otras penas) aufgrund eines Antrags64 des Ministerio Público in Betracht (Art. 467, Abs. 1). Der Staatsanwalt kann diesen Antrag entweder schriftlich zum Abschluß der Ermittlungen (Art. 468, S. 1 Alt. 1 i.V.m. 318) oder mündlich in der Hauptverhandlung des Zwischenverfahrens (Art. 468 S. 1 Alt. 2 i.V.m. 330ff. 65 ) stellen. In letzterem Fall ist auch eine Änderung des Anklagevorwurfs und der beantragten Rechtsfolgen möglich, um die Rechtsfolgenkompetenz des Art. 467, Abs. 1 nicht zu überschreiten (Art. 468: 2). Die Durchführung des abgekürzten Verfahrens setzt jedoch die Zustimmung des Angeklagten - vom Gesetz unterschiedlich als acuerdo oder conformidad bezeichnet - voraus (Art. 468, S. 2, 470, 471, Abs. I)66. Der für die Entscheidung über den Antrag und die Sachentscheidung zuständige juez de control de la instrucción muß sich vergewissern, daß der Angeklagte aus freien Stücken zugestimmt hat, sein Recht auf ein mündliches Hauptverfahren kennt und die Folgen seiner Entscheidung absehen kann (Art. 470, 471 Abs. 1). Dabei muß er ihn insbesondere darüber aufklären, daß er mit seiner Zustimmung auch die Ermittlungsergebnisse und die in der Anklage festgestellten Tatsachen als wahr anerkennt (vgl. Art. 467, Abs. 2). Liegen diese Voraussetzungen vor und hat auch ein möglicher Privatkläger keine Einwände67, hat der Richter dem Antrag stattzugeben (Art. 471, Abs. 1); andernfalls wird er ihn - durch unanfechtbaren Beschluß (Art. 471, Abs. 3) - ablehnen und das Hauptverfahren eröffnen (Art. 471, Abs. 2)68. In der Hauptverhandlung trägt der Staatsanwalt zunächst die Anklage und das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen vor; danach erhalten die übrigen Verfahrensbeteiligten das Wort, wobei die Erklärung des Angeklagten die Aussprache abschließt (Art. 472). Im Falle einer Verurteilung darf die Strafe nicht über die in der Anklage oder Privatklage beantragte hinausgehen (Art. 473, Abs. 1). Weiter darf die Verurteilung nicht ausschließlich auf polizeilichen Ermittlungsergebnissen beruhen (Art. 473, Abs. 2). Die im Gesetz 18.21669

** Art. 467, Abs. 1 spricht untechnisch von "vorschlagen" (podrä proponer), wo doch nur Antrag gemeint sein kann (vgl. Art. 468: solicitud). 65 Gemäß Art. 310 besteht diese Möglichkeit aber auch schon in der Verhandlung zur Formalisierung der Untersuchung. "

Dabei spricht Art. 467, Abs. 2 noch von der Zustimmung des Angeklagten und des Verteidigers; die folgenden Vorschriften erwähnen den Verteidiger jedoch nicht mehr.

67

Gemäß Art. 469 kann der querellante nur Einwände geltend machen, wenn seine Privatklage rechtlich von der Anklage des Ministerio Püblico abweicht.

61

Dies hat natflrlich auch zur Folge, daß Uber den Anklagevorwurf nach den allgemeinen Regeln Beweis erhoben werden muß, ohne den Erklärungen der Verfahrensbeteiligten irgendeine Anerkennungswirkung oder sonstige beweisrechtliche Bedeutung zuzumessen (vgl. Art. 471, Abs. 2.2).

"

Gesetz 18.216 (Diario Oficial vom 14.5.1983) sieht die Strafaussetzung zur Bewährung, die (nur) nächtliche Inhaftierung und die kontrollierte Freilassung vor.

194

vorgesehenen Alternativen zur Freiheitsstrafe finden Anwendung (Art. 473, Abs. 3). Zivilrechtliche Ansprüche bleiben unberührt (Art. 473, Abs. 4). Das Urteil besteht - neben den üblichen Förmlichkeiten (u.a. Namen der Verfahrensbeteiligten, Unterschrift der Richter) - aus den tatsächlichen Feststellungen, der umfassenden Beweiswürdigung, der rechtlichen Würdigung und der Urteilsformel (Art. 474). Gegen das Urteil sind die Rechtsmittel der Berufung und Revision statthaft (Art. 475). b) Peru Ausgehend von der obigen Definition lassen sich im peruanischen Gesetz fünf abgekürzte Verfahrensarten ausmachen: • das vorweggenommene freisprechende Urteil (sentencia de absolución anticipada, Art. 291), der Artikel enthält jedoch typische Einstellungsgründe und dürfte deshalb nicht als Urteil bezeichnet werden; • die vorweggenommene Beendigung des Verfahrens im Rahmen der Hauptverhandlung (conclusión anticipada) gegen einen geständigen Angeklagten (Art. 319) und, als gesondertes Verfahren, bei einem Angeklagten, der sein Einverständnis mit den Anschuldigungen im Wege eines beschränkten plea bargaining erklärt (Art. 438ff.); • das Strafbefehlsverfahren (Art. 429ff.); • das Verfahren aufgrund wirksamer Zusammenarbeit (Art. 442ff.), das eine unmittelbare Hauptverhandlung zur Aburteilung der zusammenarbeitenden Person erlaubt (Art. 451, Abs. 2); • das Verfahren wegen Verfehlungen (faltas, Art. 459ff.). c) Bolivien Das abgekürzte Verfahren des bolivianischen Entwurfs entspricht dem chilenischen Vorschlag, ist allerdings teilweise unvollständig geregelt (Art. 479-481). Wie schon erwähnt, kann der Staatsanwalt auf der Grundlage der polizeilichen Ermittlungsergebnisse (Art. 379, Nr. 4, 389) oder zum Abschluß der formellen Untersuchung (Art. 415, Nr. 2) die Aburteilung im abgekürzten Verfahren beantragen. Der Antrag richtet sich an den Untersuchungsrichter (Art. 415, Nr. 2), der im Rahmen der audiencia conclusiva unter anderem darüber entscheidet (Art. 419, Nr. 6) und auch für die Sachentscheidung zuständig ist (Art. 59, Nr. 2). Der Antrag ist zulässig, wenn keine oder eine Freiheitsstrafe von bis zu 5 Jahren zu erwarten ist (Art. 479, Abs. 1) und der Angeklagte und sein Verteidiger zustimmen (Art. 479, Abs. 2). Die Zustimmung schließt die Anerkennung der in der Anklage festgestellten Tat und die Beteiligung daran ein (ebd.). Die Entscheidungsmöglichkeiten des Richters ergeben sich aus Art. 480. Aus Art. 480, Abs. 3 folgt, daß der Untersuchungsrichter aufgrund einer Anhö195

rung der Verfahrensbeteiligten (Art. 480, Abs. 1) den Antrag ablehnt und den Staatsanwalt entsprechend anweist (intimará)70, wenn er eine höhere als die beantragte Strafe für wahrscheinlich oder weitere Tataufklärung für erforderlich hält. In diesem Fall hat weder der ursprüngliche staatsanwaltliche Antrag noch das tatsächliche Anerkenntnis des Angeklagten Bindungswirkung (ebd.). Andernfalls, so muß man aus Art. 480, Abs. 2 folgern, gibt der Untersuchungsrichter dem Antrag statt und spricht aufgrund der Anhörung der Verfahrensbeteiligten ein Urteil. Dieses ist auf das tatsächliche Anerkenntnis des Angeklagten zu stützen und darf nicht über das vom Staatsanwalt beantragte Strafmaß hinausgehen. Gegen das Urteil findet - wie im Normalverfahren - das Rechtsmittel der Revision statt (Art. 481 i.V.m. 561ff.). d) Venezuela Auch der venezolanische Entwurf sieht nun ein abgekürztes Verfahren vor (Art. 373ff.), regelt jedoch praktisch nur dessen Voraussetzungen (Art. 373: alternativ bei Flagranzdelikt, Freiheitsstrafe bis vier Jahre oder Sicherungsmaßnahmen), ohne Rücksicht auf die Rechte des Beschuldigten zu nehmen: In allen Fällen findet grundsätzlich auf staatsanwaltlichen Antrag unmittelbar eine mündliche Verhandlung (innerhalb von 15 Tagen) statt, die allerdings bei geringfügigen Delikten lediglich in einer richterlichen Anhörung besteht (Art. 375). Durch die Integration des Flagranzdelikts in diese Verfahrensart (Art. 373, Nr. 1, 374 i.V.m. 257f.) wird das ursprünglich vorgesehene Flagranzverfahren, das ohnehin rechtsstaatlich bedenklich war71, hinfallig. Eine Abkürzung wird auch durch die Zulassung eines guilty plea in der mündlichen Verhandlung während des Zwischenverfahrens erreicht (Art. 377 i.V.m. 333 Nr. 4). Aufgrund des Geständnisses kann die Strafe bis zur Hälfte gemildert werden. Auch der Procedimiento en las Faltas y en Ciertos Delitos (Art. 386394470-487) hat abkürzende Wirkung und ist eine Folge der - in Lateinamerika allgemein (noch) üblichen - kriminalstrafrechtlichen Erfassung bestimmter Verfehlungen und Taten (3. Buch des CP), die im deutschen Recht größtenteils schon zu Ordnungswidrigkeiten herabgestuft wurden. Die Verkürzung gegenüber dem Normalverfahren besteht darin, daß sofort eine mündliche Anhörung anberaumt wird, die bei einem Geständnis des Beschuldigten mit der Verhän-

70

Diese Weisungsbefugnis des Untersuchungsrichters besteht allerdings im französischen Verfahren nur gegenüber der Gerichtspolizei (vgl. Barth 1995: 103).

71

Vgl. Art. 434ff. Entwurf v. 23.7.1996. Flagranzdelikt sollte dabei auch die Tat sein "por el cual el culpable se vea perseguido por la autoridad pública, por la persona agraviada o por el clamor público" (Art. 435). In inquisitorischer Manier wurde damit die Schuldfrage unter Mißachtung der Unschuldsvermutung schon vorgeklärt (culpable) und auf das Verfolgungsgefühl des Verdächtigen (se vea) und der Bevölkerung (clamor público) abgestellt.

196

gung einer Sanktion endet (Art. 387-389); andernfalls kommt es zu einer Hauptverhandlung mit Beweisaufnahme (Art. 390). Der Beschuldigte kann einen Verteidiger benennen (Art. 393). Rechtsbehelfe sind nicht statthaft (Art. 391). e) Paraguay Die Überleitung in das abgekürzte Verfahren kann aufgrund des staatsanwaltschaftlichen Antrags im vorbereitenden Verfahren (Art. 301, Nr. 6, 312) oder im Eröffnungsbeschluß aufgrund der vorläufigen Hauptverhandlung (Art. 354, 358 Nr. 8) erfolgen. Voraussetzung ist, daß es sich um eine Tat mit einer Höchststrafe bis zu 5 Jahren handelt, der Beschuldigte die Tat gesteht und mit diesem Verfahren einverstanden ist und der Verteidiger schriftlich bestätigt, daß der Beschuldigte freiwillig zugestimmt hat (Art. 424). Alles weitere regelt - allerdings unzureichend - Art. 425: Aufgrund eines entsprechenden Antrags von Staatsanwaltschaft, Privatkläger und/oder Beschuldigtem hört der Richter den Beschuldigten an und fallt eine Entscheidung. Im Falle einer Verurteilung darf die Strafe die beantragte nicht überschreiten, und es kann Berufung eingelegt werden (Art. 466, Nr. 9). Läßt er das abgekürzte Verfahren nicht zu, finden die Vorschriften zum Normalverfahren Anwendung ohne BindungsWirkung des staatsanwaltschaftlichen Strafantrags oder des Geständnisses des Beschuldigten. f) Uruguay Der uruguayische Entwurf sieht ein außerordentliches (Art. 262ff.) und ein Verfahren wegen Vergehen (367ff.) vor. Das außerordentliche Verfahren knüpft an die Vorverhandlung und die darin durchgeführte vorläufige Beweisaufnahme an. Ist diese vollständig und handelt es sich insbesondere um einen tatsächlich und rechtlich einfachen Sachverhalt (Art. 262.1.), kann das Gericht im Wege des summarischen Verfahrens sofort die Hauptverhandlung durchfuhren, aufgrund derer dann wie im Normalverfahren entschieden wird (Art. 263). Gegen diese Verkürzung können die Verfahrensbeteiligten Einspruch erheben, der jedoch vom Gericht zurückgewiesen werden kann (Art. 262.2.). Im Verfahren wegen Vergehen findet eine kontradiktorische mündliche Hauptverhandlung statt, wenn der Beschuldigte kein Geständnis ablegt (Art. 368). Eine Festnahme des Beschuldigten ist grundsätzlich verboten (Art. 369).

197

3. Zusammenfassende Würdigung a) Normalverfahren Die hier untersuchten Strafprozeßentwürfe leiten den überfalligen Wandel vom traditionellen schriftlichen Inquisitionsverfahren zum mündlichen Akkusationsprozeß ein. Dabei wird das instruktorische dem adversatorischen Verfahrensmodell tendenziell vorgezogen. Dies zeigt sich insbesondere daran, daß in allen hier untersuchten Entwürfen der (Vorsitzende) Richter die Hauptverhandlung leitet. Diese instruktorische Tendenz ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß der den Reformprozeß in Lateinamerika entscheidend beeinflussende Musterentwurf von 198872 stark an kontinentaleuropäischen Verfahrensordnungen 73

ausgerichtet ist . Freilich bestehen in der konkreten inhaltlichen Ausgestaltung und der Qualität der derzeit in der Diskussion befindlichen Entwürfe Unterschiede. Das Akkusationsprinzip ist in den Entwürfen Chiles, Boliviens, Paraguays und inzwischen auch Venezuelas konsequent verwirklicht, während der uruguayische Entwurf die Trennung zwischen Ermittlungs- und Urteilsfunktion nicht deutlich genug vollzieht. In Peru bestehen insbesondere Bedenken wegen der (polizeilichen) investigación preliminar. Was die Rolle der Verfahrensbeteiligten bei der Beweissammlung angeht, ist festzustellen, daß der chilenische, venezolanische und uruguayische Entwurf eher dem instruktorischen Verfahrensmodell folgen, während der peruanische, bolivianische und paraguayische dem gemischten oder gar adversatorischen Modell zuzuordnen sein dürften. b) Abgekürzte Verfahren Die große Zahl abgekürzter Verfahren in den hier vorgestellten Reformentwürfen erklärt sich mit der Notwendigkeit einer Verfahrensbeschleunigung. Doch darf dabei nicht vergessen werden, daß auch ein abgekürztes Verfahren ein angemessenes Gleichgewicht zwischen prozessualer Beschleunigung und der Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens, insbesondere der Wahrung der Rechte des Beschuldigten, suchen muß. Die mit abgekürzten Verfahren notwendigerweise verbundenen Garantieverluste (vgl. etwa Fezer 1994: 7ff. m.w.N.) müssen kompensiert werden. Insoweit gibt es einige Minimumstandards, deren Beachtung unentbehrlich ist:

72

Instituto Iberoaméricano de Derecho Procesal, Código Procesal Penal Modelo para Iberoamérica, 1989. Ausgangspunkt der Arbeiten zum Musterentwurf war die StPO der argentinischen Provinz Córdoba (vgl. Llobet R. 1995: 15ff.).

7>

Neben den Strafprozeßordnungen Frankreichs, Italiens und Spaniens insbesondere an der deutschen StPO.

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• Zum einen muß der Angeschuldigte zumindest einmal vor einem Richter erscheinen und in mündlicher und unmittelbarer Weise angehört werden. • Zum anderen impliziert eine angemessene Verteidigung des Beschuldigten, daß er ausreichend über die Folgen eines bestimmten abgekürzten Verfahrens belehrt worden ist. Diese Mindestbedingungen eines rechtsstaatlichen Verfahrens werden im Strafbefehlsverfahren, wie es in Art. 429ff. des peruanischen Gesetzes vorgesehen ist, nicht erfüllt. Denn dieses Verfahren erlaubt eine Freiheitsstrafe bis zu 4 Jahren mittels eines schriftlichen Verfahrens, bei dem der Beschuldigte nur gehört wird, wenn er innerhalb von 15 Tagen gegen den Strafbefehl einen Einspruch einlegt (Art. 433). Unterläßt er dies, wird der Strafbefehl zu einem Urteil mit Rechtskraftwirkung (Art. 432), ein Rechtsbehelf ist also nicht vorgesehen (Art. 432). Andererseits setzen sich die Möglichkeiten vorweggenommener Streiterledigung, insbesondere die conformidad, den bekannten Kritiken - Verzicht auf die materielle Wahrheit und Möglichkeit der Ausübung ungebührlichen Zwangs auf den Angeschuldigten - aus. Die wirksame Zusammenarbeit birgt die Gefahr falscher Beschuldigungen in sich, wie insbesondere die peruanische Erfahrung in der Terrorismusbekämpfung zeigt: Dort ist die Zahl der unschuldig Inhaftierten derart angewachsen, daß zwischenzeitlich sogar ein offizieller Ausschuß zur Begnadigung dieser Personen von der Regierung eingerichtet werden mußte. In den Entwürfen von Chile, Bolivien und Paraguay wird versucht, der solchen beschleunigten Verfahren entgegengehaltenen rechtsstaatlichen Kritik durch die Zustimmungserfordernis und die obligatorische mündliche Verhandlung (Chile) bzw. Anhörung der Verfahrensbeteiligten (Bolivien) bzw. des Beschuldigten (Paraguay) Herr zu werden. Dabei ist der chilenische Entwurf am besten gelungen, da er die Rechte des Angeklagten ausfuhrlich beschreibt und insbesondere durch das Verbot einer ausschließlichen polizeilichen Beweisgrundlage der Gefahr der "Verschriftlichung" und Beweismanipulation im abgekürzten Verfahren vorbeugt. Demgegenüber ähneln der peruanische, venezolanische und uruguayische Vorschlag eher dem deutschen - rechtsstaatlich bedenklichen - Unterwerfungsverfahren. Die auf den ersten Blick zu weit gehende Rechtsfolgenkompetenz der Entwürfe muß vor dem Hintergrund eines materiellen Strafrechts, das drastische Freiheitsstrafen androht (und schon deshalb einer grundlegenden Reform bedarf), relativiert werden. Mit der Festlegung der Strafgewalt auf bis zu 5 Jahre werden Taten erfaßt, die aus deutscher Sicht zur Kleinkriminalität gehören74. 74

Nach dem bolivianischen CP wird etwa die einfache Körperverletzung mit 6 Monaten bis 2 Jahren reclusión (Art. 271, Abs. 2), die mündliche Beleidigung mit 1 Monat bis zu 1 Jahr Zwangsarbeit (Art. 287), einfacher Diebstahl mit 1 Munat bis 3 Jahren reclusión (Art. 326, Abs. 1) bestraft. Der chilenische CP (Art. 21 ff.) enthält ein kompliziertes System unterschiedlicher Strafarten (etwa presidio, prisión, confinamiento) und - fllr die jeweilige Strafart geltende - Strafstufen (grado mínimo bis grado máximo).

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Die Zustimmung des Angeklagten steht immer unter dem Vorbehalt einer ausreichenden Erfassung des Sachverhalts und des Verfahrensstandes sowie der daraus möglicherweise erwachsenden Rechtsfolgen. Dem kann durch eine umfassende richterliche Belehrung, wie sie der chilenische Entwurf vorsieht, Rechnung getragen werden. Dies schließt aber nicht aus, daß es Fälle gibt, in denen der Angeklagte in einer gewissen, nicht unmittelbar erkennbaren psychischen Drucksituation zustimmt oder dies tut, ohne die rechtlichen Folgen seines Handelns zu übersehen. Dies liegt besonders nahe, wenn der Angeklagte nicht oder nicht angemessen verteidigt wird75. Insoweit liegt in der (zusätzlichen) Zustimmung des Verteidigers, wie sie der bolivianische und paraguayische Entwurf unmißverständlich festlegen, eine gewisse Mißbrauchssicherung. Damit wird freilich faktisch eine Art Pflichtverteidigung für das abgekürzte Verfahren eingeführt. Dies wiederum setzt ein funktionierendes System staatlich organisierter und subventionierter Verteidigung voraus, an dem es generell in Lateinamerika mangelt oder das sich noch im Aufbau befindet 76 . Ob das abgekürzte Verfahren - wie im übrigen auch das Normalverfahren - jedoch den in Art. 8 der Amerikanischen Menschenrechtskonvention niedergelegten fair-trialGrundsätzen genügt, hängt entscheidend von der Bereitstellung einer angemessenen Verteidigung ab. Natürlich begünstigt ein solches Zustimmungserfordernis auch prozessuale Absprachen zwischen den Verfahrensbeteiligten. Insoweit gilt die bekannte Kritik77, allerdings übernehmen der chilenische, venezolanische und bolivianische Entwurf Strukturelemente des angloamerikanischen Verfahrensmodells (plea guilty, plea bargaining) und wollen den Grundsatz der materiellen Wahrheit auf diese Weise bewußt durch konsensuale Elemente zurückdrängen. Verfahrenserledigende Absprachen werden also nicht nur in Kauf genommen, sondern sind das Ziel dieser Verfahrensweise. Umfassende Beteiligungs- und Zustimmungsrechte - und auch die Möglichkeit der Rechtsmitteleinlegung — werfen schließlich die Frage auf, ob bei Inkaufnahme von unter Umständen zeitintensiven Verhandlungen der Verfahrensbeteiligten zum Zwecke der Konsensbildung und der Beibehaltung einer mündlichen Verhandlung oder Anhörung eine wirkliche Beschleunigungs- und

Eine einfache Körperverletzung (Art. 397, Nr. 2) wird danach etwa mit "presidio menor en su grado medio", also mit 10 bis IS Jahren Freiheitsstrafe bestraft; eine einfache schriftliche Beleidigung (Art. 419) mit 5 bis 10 Jahren (die mündliche als falta, dazu sogleich); ein einfacher Diebstahl je nach Schadenshohe (Art. 446, Nr.l) mit 10 bis 20 Jahren. Verfehlungen (faltas) können immerhin noch 21 bis 60 Tage Freiheitsstrafe zur Folge haben (Art. 494). 73

76

77

Hierin liegt das zentrale Problem dieses konsensualen Elements aus der Sicht der Stellung des Beschuldigten (vgl. statt vieler: Weigend 1990b: 779f.). Vgl. etwa Garita Vllchez (1991). Im Rahmen der hier beschriebenen Prozeßreformen wird gerade auch die "defensa pública" (weiter) zu starken sein. Vgl. grundlegend Schünemann (1990); Gerlach (1992); Tscherwinka (1995); aus rechtsvergleichender Sicht Weigend (1990a: 31ff.; 19S2).

200

Entlastungswirkung erreicht werden kann. Das verfugbare empirische Material zum deutschen Strafverfahren78 legt eher den Schluß nahe, daß eine solche Wirkung nur durch Erledigung im Ermittlungsverfahren aufgrund eines weit verstandenen Opportunitätsgrundsatzes (einschließlich neuer Formen der Streitschlichtung79) oder durch ein im wesentlichen schriftliches Verfahren wie das Strafbefehlsverfahren gewährleistet werden kann. Ein solches schriftliches ab80

gekürztes Verfahren, wie etwa in Peru vorgesehen , ist abzulehnen, denn die schriftliche und inquisitorische Tradition der zum Großteil noch geltenden Verfahrensordnungen des Kontinents machen einen radikalen Bruch mit der Schriftlichkeit erforderlich, um der Gefahr ihrer Rekonstruktion und schleichenden Ausdehnung auch auf das Normalverfahren vorzubeugen.

III. Strukturelle Probleme der Reform Es handelt sich um strukturelle Probleme, denn sie zeigen sich in nahezu allen Ländern, die sich in einem Reformprozeß befinden. • Ein zentrales Problem stellt die Regelung des Verhältnisses zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft (Ministerio Público) dar. Obwohl schon nach dem geltenden Verfahrensrecht der Ministerio Público - zumindest nach der normativen Konzeption - die Funktion hat, die Ermittlungen der Polizei, insbesondere im Hinblick auf den Schutz der Rechte des Beschuldigten, zu kontrollieren, werden die Ermittlungen in nahezu vollkommener Autonomie von der Polizei durchgeführt. Die Polizei ist es, die letztendlich die entscheidenden Beweise zusammenträgt und der Staatsanwaltschaft vorlegt. Dieses polizeiliche Beweisbeschaffungs- und -Vorlagemonopol - um es einmal so zu bezeichnen - ist ganz entscheidend für den Ausgang des Verfahrens: Aufgrund dessen schriftlicher Struktur bilden die polizeilichen Beweise die nahezu ausschließliche Urteilsgrundlage. Vor allem deshalb betrachtet man es in ganz Lateinamerika als unentbehrlich, die polizeilichen Ermittlungen über eine bloß formale Leitung oder Aufsicht des Ministerio Público hinaus effektiver zu kontrollieren. So finden sich auch in den hier untersuchten Strafprozeßentwürfen ausdrückliche Vorschriften, die eine solche Kontrolle anordnen. Es ist jedoch festzustellen, daß eine effektive Kontrolle polizeilicher Ermittlungen erheblich erschwert wird, wenn der Polizei ein eigenständiger Ermittlungsbereich verbleibt bzw. ihr eine eigenständige Ermittlungs-

™ Vgl. die Sekundäranalyse von Dessecker/Geissler-Frank (1995: 271fT.) und Ambos (1998: 281). 79 Vgl. insbesondere zur Wiedergutmachung Kilchling (1996). Zur internationalen Entwicklung: Eser/ Walther (1996; 1997). 10

Auch das paraguayische Verfahren tendiert zu reiner Schriftlichkeit, wenn es nur eine Anhörung des Beschuldigten aufgrund schriftlicher Anträge vorsieht.

201

Zuständigkeit zugewiesen wird, etwa durch eine Art Vorermittlungsphase {investigación preliminar) im Falle Perus, und ihr darüber hinaus weitgehende eigenständige Zwangsrechte zugestanden werden. Aus rechtsvergleichender Sicht scheint die einzige Lösung darin zu bestehen, einen eigenständigen und unabhängigen Ministerio Público zu schaffen, der mit gewissen Befugnissen zur Sanktionierung derjenigen Polizisten ausgestattet ist, die sich weigern, staatsanwaltschaftliche Anordnungen zu erfüllen. Das bedeutet natürlich, daß die organisatorische und disziplinarische Kontrolle der Polizei, die herkömmlicherweise in den Händen des Innenministeriums liegt, zumindest teilweise an den Ministerio Público übergehen muß. Eine organisatorisch "sauberere" Lösung wäre deshalb sicherlich die Schaffung einer Justizpolizei (policía judicial), die unmittelbar dem Ministerio Público untersteht. • Ähnlich komplex ist das Verhältnis zwischen Ministerio Público und Gericht bzw. Richter im Vorverfahren bzw. Ermittlungsverfahren. Die Trennung zwischen Ermittlungs- bzw. Anklagefunktion und Urteilsfunktion ist für das akkusatorische System wesensbestimmend, so daß jegliche Vermischung dieser Funktionen vermieden werden sollte. In diesem Sinne hat der chilenische Vorentwurf von 1995 einen juez de control de la investigación, also eine Art Richter zur Kontrolle der Ermittlungen geschaffen, dessen einzige Aufgabe es ist, die Rechte des Beschuldigten im Hinblick auf Zwangsmaßnahmen zu gewährleisten. Der inzwischen erneut verabschiedete peruanische Gesetzesentwurf scheint auch dieser Lösung nahezustehen (Art. 56). Doch offenbar haben zahlreiche Entwürfe nicht genügend Vertrauen in die Arbeit des Staatsanwalts, wenn sie diesem keine eigenständige Befugnis verleihen, das Verfahren einzustellen, sondern nur ein entsprechendes Antragsrecht an den zuständigen Richter. In diesem Zusammenhang bedarf es auch einer Klärung, ob der im Ermittlungsverfahren tätige Richter mit dem im Hauptverfahren zuständigen Richter personenidentisch ist. Trotz dieser Probleme scheint das Modell einer - relativ unabhängigen - Staatsanwaltschaft (Ministerio Público) dem französischen Modell eines Ermittlungsrichters allemal vorzuziehen zu sein, denn nur so wird eine klare Trennung zwischen Anklage- und Urteilsfunktion auch in organisatorischer Hinsicht vermittelt. Doch auch eine solch unabhängige Staatsanwaltschaft muß kontrolliert und begrenzt werden, um neben Judikative, Legislative und Exekutive die Entwicklung eines "cuarto poder" zu verhindern. Eine praktisch unbegrenzte Zwangsgewalt im Ermittlungsverfahren ohne richterliche Beteiligung, wie etwa im Fall der kolumbianischen Fiscalía General de la Nación, erscheint zu weitgehend. • Ein weiteres Problem betrifft das Recht zur Verteidigung des Beschuldigten, insbesondere die Frage, wann dieses Recht wirksam wird. Das traditionelle lateinamerikanische Inquisitionsverfahren hat den Verfahrensbeginn regelmäßig von einem formalen Beschluß eines Justizorgans, etwa einem 202

Verfahrenseröffnungsbeschluß (auto de apertura del procesö), abhängig gemacht und an diesen Moment das Recht zur Verteidigung geknüpft. Dies hat zu einer mangelnden Verteidigung des Beschuldigten in der polizeilichen Vorermittlungsphase gefuhrt. Deshalb sehen die Reformentwürfe durchweg vor, daß das Recht auf Verteidigung schon mit der ersten (polizeilichen) Ermittlungsmaßnahme, die sich gegen eine Person richtet, sei es innerhalb eines Verfahrens im engeren begrifflichen Sinne oder nicht, wirksam wird. Es handelt sich also, in anderen Worten, darum, die Verbindung oder Anknüpfung des Verteidigungsrechts an einen formalen Verfahrensbeginn aufzulösen. • Das Opfer beteiligt sich im lateinamerikanischen Strafprozeß herkömmlicherweise als Privat- oder Nebenkläger. Bislang ist es jedoch noch nicht ausreichend gelungen, die Beteiligung juristischer Personen oder von Nichtregierungsorganisationen im Verfahren zu ermöglichen, von Organisationen also, die kollektive Interessen verfolgen und sich den Schutz kollektiver Rechtsgüter (Umwelt, öffentliche Sicherheit und Ordnung etc.) zur Aufgabe gemacht haben. In diesem Zusammenhang verdient Art. 83 des peruanischen Entwurfs Erwähnung, der diesen Organisationen erlaubt, als Zivilkläger (parte civil) dem Prozeß beizuwohnen. • Was die Grundsätze eines Strafverfahrens angeht, so reicht eine bloße Aufzählung nicht unbedingt aus, insbesondere dann nicht, wenn der konkrete Verfahrensablauf diesen Grundsätzen widerspricht, indem er sich stark an das traditionelle schriftliche Inquisitionsverfahren anlehnt. Dies ist der Fall in früheren Reformprojekten, etwa im Fall Guatemalas, aber auch in den aktuellen Entwürfen Perus und Uruguays, denn dort wird die Regel der Mündlichkeit durch zahlreiche Normen, die eine Verschriftlichung des Verfahrens erlauben, zur Ausnahme (Die Entwürfe sprechen in diesem Zusammenhang häufig von einer oralizaciön der Beweise.). • Unabhängig von diesen eher normativen Problemen stellt sich die grundsätzlichere Frage, wann eigentlich von einer wirklichen Reform gesprochen werden kann. Es bedarf sicherlich mehr als der bloßen Verabschiedung eines neuen Gesetzes; insbesondere dann, wenn ein solches Gesetz auf halbem Weg stehenbleibt, indem es zahlreiche schriftliche und inquisitorische Elemente des alten Verfahrens in das neue Verfahren übernimmt und somit den Erfolg der Gesamtreform gefährdet. So ist es eine nicht zu leugnende Tatsache, daß zahlreiche der bisher in Lateinamerika verabschiedeten "Reformen" nicht den Ansprüchen eines modernen mündlichen und rechtsstaatlichen Akkusationsprozesses genügen, denken wir etwa an das guatemaltekische Gesetz von 1991 oder die argentinische Bundesstrafprozeßordnung von 1993 (vgl. Gropengießer 1993). Das hat zur Folge, daß die nachträgliche Verabschiedung zahlreicher Sondergesetze zur "Reform der Reform" notwendig

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wird oder - das ist die noch schlechtere Lösung - diese Reform von vornherein desavouiert wird. Zunächst ist es also erforderlich, sich darüber bewußt zu werden, welche Art von Reform man anstrebt und welche Konsequenzen diese Reform für das gesamte Strafjustizsystem haben wird. Ein solcher Prozeß der Bewußtseinswerdung ist auch für die technische Zusammenarbeit vonnöten, denn nur dann kann diese ausreichend bestimmte "Ergebnisse" formulieren und deren Erreichbarkeit kontrollieren. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach den Hauptakteuren der Reform. Die bisher gesammelten Erfahrungen sind vielfaltig: Die Justiz selbst kann zum Motor der Reform werden (so im Fall Costa Ricas), die Legislative (die comisión legislativa des Kongresses von Venezuela) oder die Zivilgesellschaft (im chilenischen Fall mit einer breiten Allianz verschiedener Gruppen der Zivilgesellschaft) können die Initiative übernehmen. Dieses letzte Modell bietet auch noch am ehesten eine Gewähr dafür, daß die Reform ausreichend fachkompetent begleitet wird. Demgegenüber fehlt es der Exekutive (Justizministerium) und der Legislative (Rechtsausschuß) häufig an solcher Fachkompetenz. • Schließlich ist es notwendig, darüber nachzudenken, was die Implementierung der Reform hinsichtlich der Fortbildung und Ausbildung der Justizpraktiker (Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte), ihrer Integration in das neue System, der physischen Voraussetzungen einer neugestalteten Justiz (Gerichtsgebäude etc.) bedeutet. Es ist also ein interdisziplinärer Ansatz notwendig, der nicht nur darin bestehen kann, Fortbildungsprogramme zu formulieren, sondern auch die möglichen Kosten einer Reform zu veranschlagen. Es besteht sicherlich die allgemeine Meinung, daß das neue System auf lange Sicht kostengünstiger arbeitet als das alte, doch bedarf es in seiner Anfangsphase erheblicher Investitionen. Haushaltsrechtliche Argumente gegen die Reform können jedenfalls nur dann vorgebracht werden, wenn solide Berechnungen über deren Kosten vorliegen, nicht aber, wenn, wie im Fall Perus, überhaupt keine verläßlichen Zahlen vorliegen.

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Hans-Jürgen Brandt

Friedensgerichtsbarkeit als Alternative Erfahrungen mit einem System der Streitschlichtung in Peru I. Theoretischer Bezugsrahmen Wenn über Rechts- und Justizreform debattiert wird, dann steht i.d.R. die Frage der Optimierung des Justizapparats durch Veränderung des Prozeßrechts und der Gerichtsorganisation im Vordergrund. Selten wird darüber diskutiert, welchen Beitrag alternative Systeme wie Mediations- bzw. Schlichtungsinstanzen zur Konfliktregelung und zur Erhaltung des sozialen Friedens leisten können, obwohl es, wie in Peru, ermutigende Erfahrungen gibt, die dafür sprechen, derartige Systeme auch in anderen Ländern einzuführen. Im folgenden werden Ergebnisse aus zwei rechtssoziologischen und rechtsethnologischen Studien referiert, die im Rahmen des Projektes "Fortbildung von Laienrichtern bzw. Friedensrichtern in Peru" entstanden sind (Brandt 1987; 1990). Das Projekt wurde in den achtziger Jahren vom Justizforschungszentrum des Obersten Gerichtshofes von Peru durchgeführt und von der FriedrichNaumann-Stiftung gefördert. Empirische Datenbasis sind mehr als 200 Interviews mit Friedensrichtern in allen Landesteilen, die Analyse von rd. 6.000 Verfahren vor den Friedensgerichten und mehr als 1.000 Befragungen in der lokalen Bevölkerung. Die Ergebnisse werden durch neue Daten über die Justizreform nach Inkrafttreten der neuen peruanischen Verfassung von 1993 ergänzt. Ferner fließen Erfahrungen mit Instanzen der Streitschlichtung bzw. der Mediation in anderen Ländern in die Untersuchung ein. Hierzu zählt auch die Friedensgerichtsbarkeit in Venezuela, die 1994 geschaffen wurde. Sie ist in weiten Teilen von den peruanischen 207

Erfahrungen beeinflußt worden1. Schließlich wird geprüft, ob die Friedensgerichtsbarkeit in Peru fiir andere Länder Lateinamerikas als Modell dienen kann, in denen eine Diskussion über Alternativen zur formalen Justiz gefuhrt wird, • • • • 2 wie beispielsweise in Bolivien .

II. Die Justiz und die Bevölkerung Es wird kaum ein Land geben, in dem das Justizsystem nicht kritisiert wird. In einer Reihe von Studien, die in den Industrieländern durchgeführt worden sind, werden - trotz unterschiedlicher Rechts- und Justizsysteme - ähnliche Problemlagen sichtbar: Der Weg zur Justiz ist für die Masse der Rechtsuchenden durch Zugangsbarrieren behindert, wie die abstrakte und komplexe juristische Begrifflichkeit, die eingeschränkte juristische Wahrnehmung der Konflikte, die für juristische Laien schwer nachzuvollziehende juristische Logik, die kaum durchschaubaren gerichtlichen Verfahren, die Langwierigkeit der Prozesse, die hohen Kosten etc. Zweifellos charakterisieren diese Probleme auch die peruanische Justiz. Sie sind jedoch gravierender, denn das Rechtssystem und der Justizapparat befinden sich in einer permanenten Krise. Eine Flut von Gesetzen und Dekreten, die teilweise systemwidrig, inkohärent oder gar widersprüchlich sind, das Fehlen von systematischen Gesetzessammlungen, die regelmäßig aktualisiert werden, haben ein enormes Chaos verursacht, in dem sich selbst Experten häufig schwer zurechtfinden, geschweige denn juristische Laien. Die Ergebnisse unserer Befragungen in Peru zeigen, daß nur eine Minderheit der Bevölkerung auf das Konfliktlösungspotential des Rechtssystems vertraut3. Häufig gehörte Antworten sind: "Die Gesetze sind ungerecht, sie unterstützen nicht die Armen, sondern begünstigen die Reichen". Derartige Meinungen sind Ausdruck der sozialen Fragmentierung und der Tatsache, daß sich ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung von einem kleinen Sektor der Gesellschaft dominiert fühlt und sich nicht mit dem Rechtssystem identifiziert. Das Mißtrauen, das 64% der Bevölkerung gegenüber dem Rechtssystem hegt, hat auch kulturspezifische Dimensionen. Das staatliche Recht hat es bisher nicht vermocht, allgemeine Geltung auch in Sektoren der Gesellschaft Der Autor wurde im Rahmen einer Beratertätigkeit an den Diskussionen in Venezuela beteiligt. Der Richter am Obersten Gerichtshof von Venezuela, Dr. Alibrio Abreu Burelli, einer der "Väter" des Entwurfes des "Ley Orgánica De Tribunales y Procedimientos De Paz" (veröffentlicht in der Gaceta Oficial 4.634 Extraordinario, 22.9.93), bestätigte dem Autor, daß er von dem peruanischen Modell inspiriert worden war. 2

5

Der Justizminister Boliviens, Dr. René Blattmann, ließ 1994 die Einführung einer Friedensgerichtsbarkeit prüfen. Antworten der Bevölkerung auf die Frage nach dem Vertrauen in das Gesetz: Großes Vertrauen = 36,3%, geringes Vertrauen = 46,2%, kein Vertrauen = 17,5% (N = 972).

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mit Wurzeln in der indigenen Kultur zu erlangen. Andererseits sind die Rechtsüberzeugungen der indigenen Bevölkerung und das in weiten Landesteilen geltende Gewohnheitsrecht nur selten Quelle des peruanischen Rechts geworden4. Angesichts der ethnischen, kulturellen und sozialen Heterogenität der Gesellschaft Perus haben sich parallele rechtliche bzw. justizähnliche Systeme (in den Gemeinschaften der campesinos, der Urwaldindianer, der Slumbewohner) gebildet. Gemäß Art. 138 der Verfassung Perus geht die Befugnis, Recht zu sprechen "vom Volke" aus. Ungeachtet dessen wird die peruanische Justiz von der Bevölkerung als eine entrückte Instanz wahrgenommen, in der die Realität der ländlichen Bevölkerung oder der Bewohner der städtischen Elendsviertel unbekannt ist, in der die Werte und Gewohnheiten, die in den verschiedenen Gebieten des Landes gelten, nicht zur Kenntnis genommen werden, in der die Prozeßparteien häufig gezwungen werden, sich in einer Sprache auszudrücken, die ihnen fremd ist, nämlich in Spanisch anstatt in Quechua oder Aymara. Die extreme Langwierigkeit der Prozesse und eine institutionalisierte Korruption sind ebenfalls Ursachen für die negative Wahrnehmung. Einer Pressemeldung zufolge stauten sich im Obersten Gerichtshof im Jahr 1993 28.000 anhängige Verfahren. Der gesamte Justizapparat soll mit 250.000 bis 500.000 unerledigten Zivil- und Strafverfahren verstopft gewesen sein. Es ist nicht verwunderlich, daß die Repräsentanten der Justiz bei der Bevölkerung einen schlechten Ruf haben. Nach unserer Umfrage aus dem Jahr 1987 hatte die Hälfte der Bevölkerung die denkbar schlechteste Auffassung von den Berufsrichtern: Sie werden wahrgenommen als "ungerecht", "unmoralisch", "korrupt"....5. Nach einer im Jahre 1994 veröffentlichten repräsentativen Umfrage in Lima haben 70% der Bevölkerung kein Vertrauen in die Richter (Encuesta 1993/94). Die Justiz vermittelt ein Gefühl des Mißtrauens, der Angst und der Ablehnung. Vor diesem Hintergrund wurden seit den siebziger Jahren verschiedene Projekte der Justizreform versucht, die im Ergebnis jedoch keine substantiellen Beiträge zur Lösung der Krise des Rechts- und Justizsystems gebracht haben6.

4

Eine Ausnahme bildet Art. 149 der Verfassung von 1993, in dem zum ersten Mal die Existenz des Gewohnheitsrechtes in den "Comunidades Campesinas y Nativas" anerkannt wird. Allerdings wird die Anwendung auf diese Gemeinschaften beschränkt, wahrend tatsachlich die Systeme des Gewohnheitsrechts auch außerhalb Geltung erlangt haben.

5

Antworten der Bevölkerung auf die Frage nach dem Vertrauen in die Berufsrichter: Großes Vertrauen = 29,8%, geringes Vertrauen = 44,4%, kein Vertrauen = 25,8% (N = 962).

'

Die jüngste Justizreform wurde in der Amtszeit des Präsidenten Fujimori durchgeführt und ein neues Justizverfassungsgesetz erlassen (Ley Orgánica del Poder Judicial, nachfolgend L.O.D.P.J.). Unter Verletzung der Prinzipien der Gewaltenteilung wurden die Hälfte der Richter des Obersten Gerichtshofes und rd. zwei Drittel der übrigen Richter des Landes entlassen. Eine rechtsstaatliche Justiz dürfte kaum mit rechtswidrigen Methoden erreicht werden.

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III. Die Friedensgerichtsbarkeit durch Laienrichter als Alternative Die Friedensgerichtsbarkeit ist die unterste Instanz im peruanischen Justizsystem. In nahezu jeder Gemeinde soll nach bestimmten demographischen Kriterien mindestens ein Friedensgericht eingerichtet werden (Art. 61 L.O.D.P.J.). Während in größeren Städten Berufsrichter als Friedensrichter eingesetzt sind (sogenannte Jueces de Paz Letrados), werden diese Zuständigkeiten und Funktionen in kleineren Gemeinden und Siedlungen außerhalb der großen Städte von nichtprofessionellen Friedensrichtern, sogenannten Jueces de Paz no Letrados, wahrgenommen. Die Friedensgerichtsbarkeit durch juristische Laien, die von der Bevölkerung in allgemeinen Wahlen gewählt werden, ist in Peru von großer Bedeutung. Rd. 3.600 Friedensrichter sind im ganzen Land eingesetzt7. Sie bilden 68% aller Richter, d.h. nur 32% der peruanischen Richter sind Juristen. Hinsichtlich der Zuständigkeiten bestimmt das peruanische Justizverfassungsgesetz (Art. 64 L.O.D.P.J.): "Der Friedensrichter ist im wesentlichen ein Richter der Streitschlichtung. Er ist deshalb befugt, den Parteien Alternativen zur Lösung des Konfliktes vorzuschlagen, um die Schlichtung zu erleichtem; dagegen ist es ihm verboten, den Parteien einen Vergleich aufzuerlegen." Ebenso regelt das venezolanische Friedensrichtergesetz (Art. 3 L.O.J.P.), daß der Friedensrichter Konflikte und Kontroversen durch Schlichtung löst. Nur in dem Fall, in dem eine Streitschlichtung nicht erreicht wird, ist der peruanische Friedensrichter innerhalb einer Streitwertgrenze, die von der Justiz definiert wird, befugt, durch Urteil in den folgenden Fällen zu entscheiden: • Zahlung einer Geldschuld, • Zahlung von Alimenten. Die Zuständigkeit des venezolanischen Friedensrichters ist weniger rechtstechnisch gefaßt als die peruanische, dort heißt es: Der Friedensrichter ist zuständig, alle jene Konflikte und Kontroversen durch Schlichtung zu lösen, die ihm die Parteien präsentieren (Art. 7 L.O.J.P.). Der Laienrichter wird in seinen Pflichten und Verantwortlichkeiten durch das neue peruanische Justizverfassungsgesetz nicht mehr dem Berufsrichter gleichgestellt. Die Gleichbehandlung in der Vergangenheit wurde wegen der unterschiedlichen Berufsausbildung als ungerechtfertigt betrachtet. Nunmehr wird anerkannt, daß er nur über geringe Kenntnisse des materiellen und prozessualen Rechts verfügt. Deshalb ist es für ihn nicht mehr notwendig, ein Urteil juristisch zu begründen, vielmehr kann er nach seinem "Wissen und Gewissen" ("leal saber y entender") urteilen, wobei er die in der Verfassung verankerten 7

Zahl aus dem Jahr 1994, siehe Revilla (1994: B 9). In den achtziger Jahren waren noch 4.000 Friedensrichter eingesetzt. Sie bildeten 77% aller Richter des Landes. Siehe Brandt (1990: 87).

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Werte, aber auch die spezifische Kultur der Parteien und die örtlichen Gewohnheiten berücksichtigen muß (Art. 66 L.O.D.P.J.)8.

1. Die Charakteristiken der Friedensgerichtsbarkeit Auch wenn die Friedensgerichtsbarkeit in Peru die unterste Instanz des gesamten Justizapparates ist, wird bei näherer Untersuchung deutlich, daß die in Verfassung und Justizverfassungsgesetz postulierte Einheit der Justiz ein Mythos ist: Innerhalb der peruanischen Justiz existieren zwei diametral entgegengesetzte Systeme, in denen unterschiedliche Verfahren, Ziele, Werte und Normen gelten. Die Unterschiede zwischen beiden Welten sollen anhand von fünf Thesen erläutert werden: • In der Friedensgerichtsbarkeit werden andere Normen angewandt als in der formalen Justiz. • Die Wahrnehmung des Konfliktes ist in der Friedensgerichtsbarkeit breiter. • Die Ziele, die mit der Lösung des Konfliktes verfolgt werden, sind unterschiedlich. • Verfahren und Methoden der Konfliktlösung unterscheiden sich. • Schließlich wird gezeigt, daß die Friedensgerichtsbarkeit eine populäre Instanz ist, deren Dienste von den Justiznutzern sehr geschätzt werden. a) In der Friedensgerichtsbarkeit gelten andere Normen als in der formalen Justiz Die peruanische Gesellschaft ist ethnisch und kulturell stark differenziert. Typisch für die Friedensgerichtsbarkeit ist der Einfluß der im Bewußtsein der Bevölkerung - vor allem der Unterschichten - herrschenden Rechtsprinzipien, Verkehrssitten und des Gewohnheitsrechts9. Die Parteien wenden sich an den Friedensrichter, weil sie erwarten, daß er eine Lösung für ihre Kontroverse findet. Sie sind in der Regel nicht in der Lage, zwischen den Kompetenzen der Justiz, der Polizei und der Ordnungskräfte der Gemeinden zu unterscheiden. Der Friedensrichter, der im gleichen Ort der

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Auch diese Vorschrift ist aufgrund einer in dem Laienrichterprojekt in den achtziger Jahren immer wieder artikulierten Forderung in das Gesetz aufgenommen worden. Unter den in den Unterschichten - und damit in der breiten BevOlkemngsmehrheit - geltenden Rechtsprinzipien verstehen wir RechtsUberzeugungen, -gewohnheiten und -praktiken, die das soziale Leben in ländlichen Zonen und stadtischen Gebieten, den "pueblos jóvenes" genannten Ansiedlungen der Migranten und Armen, regeln. Mit Gewohnheitsrecht bezeichnen wir jene rechtlichen Regelungen, die in den landlichen Gebieten der Anden herrschen, deren Wurzeln auf die Kultur der Inkas bzw. Aymaras zurückgehen, sich aber mit den Nonnen der dominanten Gesellschaftsschicht vermischt haben.

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Konfliktparteien lebt und zu der gleichen sozialen Schicht gehört, fühlt sich moralisch verpflichtet, zu einer Lösung des Konfliktes beizutragen. Die lokale Bevölkerung erwartet, daß die Konflikte unter Berücksichtigung ihrer kulturellen Werte und Eigenarten gelöst werden, daß das Ergebnis der lokal wahrgenommenen Realität entspricht und nicht mit einer Rechtslage begründet wird, die ihnen fremd ist. Häufig haben Wahrnehmung und Definition des Konfliktes durch die Streitparteien kein Analogon in den Kategorien des staatlichen Rechts. In der Rechtsanschauung der andinen Kultur ist eine Überlagerung und Interaktion zwischen den Sphären "öffentlich" und "privat" oder "individuell" und "kollektiv" zu beobachten. Die Konfliktparteien verlangen regelmäßig vom Friedensrichter die Lösung von Konflikten, die in sogenannten "modernen" Sektoren der Gesellschaft als rein privat betrachtet und deshalb auch nicht vor Gericht ausgetragen werden. Dies ist deutlich bei Konflikten unter Paaren oder unter Familienangehörigen zu beobachten. Die Parteien streiten vor dem Friedensrichter beispielsweise in Fällen der Eifersucht oder wegen der Verletzung häuslicher Pflichten. Eine Reihe von Ansprüchen, die vor den Friedensgerichten erhoben werden, sind ohne gesetzliche Anspruchsgrundlage. Hierzu zählen z.B. die öffentliche "Deklaration der Lebensgemeinschaft" ("Declaración pública de una unión de hecho") eines Paares - im Unterschied zur Eheschließung - , die Versöhnung von Paaren, die Scheidung von Partnern einer Lebensgemeinschaft ("Separación de convivientes", siehe hierzu zahlreiche Beispiele bei Brandt 1990: 198ff.). Wenn sich der Friedensrichter strikt auf seine gesetzlich definierten Zuständigkeiten und Befugnisse beschränken und z.B. mangels Zuständigkeit eine Verhandlung ablehnen würde, hätten die Parteien den Eindruck, daß dieser Richter "zu nichts nutze ist". Deshalb befindet sich der Friedensrichter in einem Dilemma: Einerseits erwartet der Staat, daß er die Gesetze anwendet, bei deren Interpretation nur in seltenen Fällen das Gewohnheitsrecht einfließen kann, andererseits erwarten die Konfliktparteien eine Lösung durch den Friedensrichter unter Berücksichtigung des Gewohnheitsrechts und der lokalen Rechtsüberzeugungen. Keinesfalls wollen sie an ein Gericht des formalen Justizapparates verwiesen werden. In dieser Konfliktsituation neigt der Friedensrichter dazu, der Erwartungshaltung seines Umfeldes nachzugeben, d.h. jenem Sektor der Gesellschaft, dem er selbst angehört. Während für die formale Justiz selbstverständlich das Recht obligatorische Quelle für die Rechtsfindung ist, zeigt die empirische Analyse, daß für die Friedensrichter und die Konfliktparteien das staatliche Recht nur einen Referenzrahmen bildet, aus dem sie Lösungen für konkrete Probleme ableiten, wenn diese für anwendbar bzw. praktikabel gehalten werden10. 10

Es zeigt sich eine Hierarchie von Rechtsquellen, die sich radikal von deijenigen, die im Justizapparat gilt, unterscheidet: Werte, die in der ethnischen Gruppe gelten, Rechtsgewohnheiten und Gewohnheitsrecht sind

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Die Gefahr der Willkür oder des Machtmißbrauches wird in zweifacher Weise begrenzt: Einerseits beruht das Ergebnis der Schlichtung auf einem Konsens der Parteien und unterliegt der sozialen Kontrolle durch die örtliche Bevölkerung; andererseits führt die peruanische Justiz für die Friedensrichter Fortbildungskurse durch, in denen sie die Grenzen ihres Handlungsspielraumes erfahren". Kulturspezifische Normen der Verkehrssitte und des Gewohnheitsrechts dürfen nur insoweit angewendet werden, solange das Verfassungsrecht, vor al12

lern die Grundrechte, nicht beeinträchtigt werden . Aus diesem Grunde sind in der empirischen Untersuchung auch nur in ganz seltenen Ausnahmefällen Mißbrauchstatbestände festgestellt worden. b) Die Wahrnehmung des Konflikts Ein anderes Charakteristikum der Friedensgerichtsbarkeit ist die Wahrnehmung und die Definition des Konfliktes, die nicht durch Normen des materiellen und prozessualen Rechts begrenzt werden. Die Konflikte, die in der formalen Justiz Gegenstand von Anklagen oder Klageschriften sind und sich auf Tatbestände beziehen, die im Straf- bzw. Zivilgesetzbuch definiert sind, haben vielfach im Verhältnis der Parteien eine Vorgeschichte. Sie sind häufig der letzte sichtbare Ausdruck einer komplexen Streitsituation, die aus akkumulierten kleineren Vorkonflikten besteht. Häufig sind die hinter der Klage bzw. Anzeige liegenden, verborgenen Konflikte der eigentliche Grund für die Zwietracht der Parteien. Zum Beispiel kann eine Anzeige wegen Körperverletzung ihre Vorgeschichte in Eifersuchtskonflikten zwischen Nachbarn, Grenzstreitigkeiten etc. haben. Der ungelöste, schwelende Grundkonflikt kann dazu fuhren, daß er eines Tages für eine der Parteien unerträglich wird und in einer Körperverletzung seinen Höhepunkt findet. Der letzte Akt, die Straftat, ist dann sprichwörtlich "der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen bringt". In der formalen Justiz wird die Körperverletzung verhandelt und geahndet. Die Motive, die zu der Körperverletzung gefuhrt haben, werden zwar beim Strafmaß berücksichtigt, der Grundkonflikt, die Grenzstreitigkeit z.B., wird jedoch nicht im Strafverfahren gelöst. Anders in der Friedensgerichtsbarkeit: Hier bitten die Parteien den Friedensrichter um Vermittlung und Ausgleich. Alle wichtiger als das Gesetz und bilden die Grundlage für die Konfliktlosung. Mehr noch: Den gesetzlichen Regelungen wird mißtraut. Die schärfste Waffe, die ein Friedensrichter anwenden kann, um die Parteien zu einem Vergleich zu drangen, ist, das Gesetz anzuwenden. "

Von 1979 bis 1988 wurden im Rahmen des vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit geförderten Laienrichterprogramms im Schnitt 25 Seminare für Friedensrichter jährlich durchgeführt. Die Zahl der Teilnehmer schwankte zwischen ca. 1.500 und 800 Personen pro Jahr. 1989 wurde das Projekt an die Justiz Ubergeben. Seitdem werden die Foitbildungsmaßnahmen mit eigenen Mitteln der Justiz, wenn auch auf niedrigerem quantitativem Niveau, weitergeführt. Z.B. nahmen 1994 in 8 Deparlamentos 386 Friedensrichter und 254 kommunale Repräsentanten an den Kursen teil. Siehe Revilla (1994: B 9).

12

Dies ist nunmehr auch im Justizverfassungsgesetz festgelegt: Art. 66, Abs. 3 L.O.D.P.J. Vgl. auch Art. 149 der Verfassung.

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Aspekte, die den Konflikt generiert haben, können verhandelt werden. Der Friedensrichter bemüht sich um eine integrale Wahrnehmung der Kontroverse. Er beschränkt sich nicht darauf, die juristische Relevanz herauszufiltern. Nach der Offenlegung der eigentlichen Ursache des Streits versucht er, nicht nur einen Ausgleich für die Körperverletzung zu finden, sondern den Urkonflikt zu lösen und damit zu einem dauerhaften sozialen Frieden beizutragen. c) Ziele der Konfliktlösung in der Friedensgerichtsbarkeit Während in der formalen Justiz Ziele des Strafprozesses die Sanktion, die Wiedergutmachung, die Prävention und (theoretisch) die Resozialisation sind, strebt der Friedensrichter die Erziehung und Rehabilitation der Störer und schließlich ihre Reintegration in die örtliche Gemeinschaft an. In Zivilverfahren wird der Berufsrichter sich auf einen Ausgleich und die Wiederherstellung des Gleichgewichts zwischen den Interessen der Prozeßparteien in einem "Null-SummenSpiel" konzentrieren. Die Zielrichtung von Zivilstreitigkeiten in der Friedensgerichtsbarkeit unterscheidet sich hiervon: Im Vordergrund stehen die Wiederherstellung der interpersonellen Beziehungen, das soziale Gleichgewicht, die Aufrechterhaltung der Ordnung und des kommunalen Friedens, demgegenüber die erworbenen Rechte (z.B. Schadensersatzansprüche) in den Hintergrund treten. d) Die wichtigste Form der Konfliktlösung ist die Schlichtung bzw. der Vergleich (Conciliación) Die empirische Untersuchung in Peru zeigt, daß 64% der Konflikte, die in dieser Instanz eingehen, durch Vergleich bzw. Schlichtung gelöst werden13. Wenn sich die Parteien nicht einigen, existieren folgende Möglichkeiten: • Der Kläger, Anzeigende bzw. Beschwerdeführer nimmt die Klage oder Anzeige zurück, was in der Praxis selten vorkommt. • Der Fall bleibt weiterhin anhängig. • Der Richter entscheidet durch Urteil. • Der Friedensrichter verweist den Fall an den nächst höheren Berufsrichter, was ebenfalls selten vorkommt. Etwa 30% der Verfahren bleiben weiterhin anhängig, d.h. schwebend. Der Friedensrichter verschiebt eine Lösung durch Urteil auf unbestimmte Zeit, damit die Parteien darüber nachdenken, ob sie sich nicht doch noch einigen können. In der Praxis bedeutet diese Verzögerungsstrategie eine Verweisung des Konflik13

In der Sierra und in ländlichen Gebieten liegt der Anteil Uber 70%, wahrend er an der Küste und in städtischen Gebieten niedriger ist. Die hohe Erfolgsquote scheint typisch fllr Mediationsinstanzen zu sein. Einer Internet-Recherche zufolge werden z.B. auch in den Community Dispute Resolution Centers in Michigan/USA 70% aller Konfliktfälle durch Schlichtung gelost. Siehe auch Felstiner 1980: 197.

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tes an die familiären bzw. sozialen Instanzen in der Gemeinde. Vor allem in kleinen, ländlichen Gemeinschaften werden die Streitparteien dadurch, daß sie relativ eng zusammenleben und durch die soziale Kontrolle der örtlichen Bevölkerung gedrängt, einen gerechten Ausgleich zu finden. Wenn diese Bemühungen erfolglos sind, kann der Richter durch Urteil entscheiden, was sich jedoch nur in 0,8% aller Verfahren in dieser Instanz ereignet. Die Entscheidungsfindung kann häufig folkloristische Züge tragen und Methoden beinhalten, die gesetzlich nicht vorgesehen, aber manchmal äußerst effizient sind. Ein Beispiel ist ein Streit zwischen zwei campesinos um ein Huhn. Beide bestanden vor dem Friedensrichter darauf, Eigentümer des Tieres zu sein, konnten aber keine Beweise vortragen. Der Richter begab sich darauf mit den Parteien und dem Huhn zu einem Ortstermin, ließ dort das Huhn frei, das sofort in den Stall der einen Prozeßpartei lief. Der Richter entschied zu seinen Gunsten. Unsere Untersuchung deckte zahllose vergleichbare Entscheidungen und Anekdoten auf. e) Die Friedensgerichtsbarkeit ist eine sehr populäre Instanz Es ist nicht überraschend, daß unter allen formellen und informellen Instanzen der Konfliktlösung die Friedensgerichtsbarkeit von der Bevölkerung bevorzugt wird. Auf die Frage: "Wenn Sie einen Konflikt mit ihrem Nachbarn, einem Familienmitglied oder anderen Personen wegen einer Geldschuld oder einer körperlichen Auseinandersetzung haben sollten, an wen würden Sie sich wenden, um eine Lösung zu suchen?", antworteten 51% der nahezu 1.000 Befragten, daß sie den Friedensrichter aufsuchen würden. Der Rest würde sich an andere Instanzen wenden14. Fast jeder vierte Befragte gab an, mindestens ein Verfahren vor einem Friedensrichter gefuhrt zu haben. Daraus kann geschlossen werden, daß in jeder Großfamilie mindestens ein Mitglied eine direkte Erfahrung mit der Friedensgerichtsbarkeit gemacht hat. Unserer Hochrechnung zufolge werden in Peru außerhalb von Lima, wo es keine Laienrichter mehr gibt, 47% aller bei Gericht eingehenden Verfahren vor den Friedensrichtern verhandelt. Die Mehrheit der Prozeßparteien (63%) war mit dem Verhalten und den Amtshandlungen des Friedensrichters zufrieden.

Z.B. an die Polizei, den ältlichen Repräsentanten des Innenministeriums, d.h. den "Teniente Gobernador", die politischen Autoritäten der Gemeinden, den (professionellen) Richter der I. Instanz oder einen Rechtsanwalt.

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IV. Wandel der Rolle und der Funktionen der Friedensgerichtsbarkeit im Prozeß der Entwicklung der Gesellschaft Die statistische Analyse15 zeigt eine sehr signifikante Tendenz des Abnehmens der Vergleichsbereitschaft der Parteien im Prozeß der sozio-ökonomischen Entwicklung in Richtung auf eine "modernere" Gesellschaft mit höherem Lebensstandard. Die gesellschaftliche Rolle und die Effizienz der Friedensgerichtsbarkeit hängt von der Bereitschaft der Nutzer dieser Instanz ab, ihre Kontroversen durch Mediation zu regeln. Diese Bereitschaft wird durch sozioökonomische Faktoren des Ortes beeinflußt, denn diese haben ihrerseits einen Einfluß auf die sozialen Beziehungen. Wenn die Konfliktparteien durch verwandtschaftliche oder nachbarschaftliche Beziehungen oder durch die Reziprozität der andinen Kultur verbunden sind, dann ist die Tendenz sehr stark, das Gleichgewicht in den sozialen Beziehungen der Parteien durch eine Schlichtung oder einen Vergleich wiederherzustellen. Wenn dagegen die Distanz in den Beziehungen zwischen den Konfliktparteien einerseits und diesen im Verhältnis zum Richter andererseits wächst, verringern sich die Möglichkeiten, einen Vergleich auszuhandeln. Der Rollenwandel der Friedensgerichtsbarkeit im gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß wirft die Frage nach den Perspektiven auf. Ist es unvermeidbar, daß sich im Zuge der sozio-ökonomischen Entwicklung die Funktionen der Friedensgerichtsbarkeit als Schlichtungsinstanz in der Praxis allmählich so weit reduzieren, bis sie irrelevant werden? Oder handelt es sich um eine wichtige Instanz, die aufgewertet, reformiert und verstärkt werden müßte? Welche Erfahrungen, die mit dem peruanischen Modell gewonnen wurden, könnten auch für andere Länder interessant sein? Die Fragen führen in den Kern einer Debatte, die zwischen zwei entgegengesetzten rechtspolitischen Orientierungen oszilliert: Eine Position in diesem Meinungsstreit ist, daß in komplexen Gesellschaften ein relativ hohes Maß an Gerechtigkeit in erster Linie durch Reformen der Verfahrensvorschriften und des formalen Justizapparates erreicht werden kann. Für die Vertreter dieser Richtung sind informell geprägte Instanzen der Konfliktlösung im Ergebnis "armselige Instanzen für arme Leute". Konsequenterweise versuchen sie, die Laienrichter der Friedensgerichtsbarkeit durch Berufsrichter oder wenigstens durch Jurastudenten zu ersetzen16.

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Multiple Regressionsanalyse. Zu den statistischen Verfahren und Ergebnissen siehe Brandt (1990: 369ff., Anexo Cuadro 6.40:433ff.). Dieser Richtung folgt auch das peruanische Justizverfassungsgesetz, nach dem bei der Kandidatenauswahl für das Friedensrichteramt Juristen und Jurastudenten bevorzugt werden sollen (Art. 68 L.O.D.P.J.).

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Die zweite Meinungsrichtung sucht nach Alternativen zur formalen Justiz. Seit mehr als 20 Jahren wird dieses Thema weltweit von Juristen und Soziologen diskutiert (siehe z.B. Galanter 1980: 11; Abel 1980: 27). In den Industrieländern waren die frustrierenden Erfahrungen mit der Justiz Ausgangspunkt für die Debatte: die Flut von Prozessen, die hohen Kosten, die Stigmatisierung von Verurteilten anstelle ihrer Resozialisation, die zweitrangige Behandlung der Interessen der Opfer, die ausschließliche Behandlung der juristischen Aspekte der Konflikte etc. In einigen Ländern, z.B. in den Philippinen, bildete sich in den achtziger Jahren ein weiteres Motiv für die Suche nach Alternativen heraus: das Interesse an der Aufwertung der volkstümlichen Kultur, wie sie in einer Indigenisierung des staatlichen Rechtes zum Ausdruck gekommen ist, nach der die Traditionen und Rechtsgewohnheiten der Bevölkerung bei der Lösung von interpersonellen Konflikten berücksichtigt werden sollen (siehe Tadiar 1988: 299-300). Ziel dieser Debatte ist, einen Weg für die "Entprofessionalisierung" des Justizsystems bei personenbezogenen Konflikten zu finden und volkstümliche bzw. nachbarliche Instanzen der Mediation zu schaffen. Ergebnis dieser Tendenz sind z.B. in den Vereinigten Staaten die "Neighborhood Justice Centres" oder "Citizen Dispute Resolution Programs", die in den siebziger Jahren gebildet wurden (Felstiner/Williams 1980: 213), die "Community Justice Centres" oder "Neighborhood Mediation Centres" in Australien (Faulkes 1988: 89), die "Schiedskommissionen" in Norwegen für delinquente Jugendliche (Stangeland 1987: 285) oder die "Barangay Justice", die 1978 in den Philippinen geschaffen wurde17. Auch die 1994 in Venezuela eingerichtete Friedensgerichtsbarkeit ist von dieser Meinungsrichtung beeinflußt worden. Es ist nicht möglich, an dieser Stelle die Vor- und Nachteile der genannten Instanzen zu debattieren. Es soll jedoch versucht werden, die peruanische Friedensgerichtsbarkeit in einen weiteren Kontext zu stellen und einige gemeinsame Aspekte zu entwickeln: die Bedingungen, Vorteile und Grenzen der Schlichtungsinstanzen.

1. Voraussetzungen für die Entwicklung einer Schlichtungsjustiz Die Leistungsfähigkeit der Friedensgerichtsbarkeit wird von einer Reihe von Faktoren beeinflußt:

Die "Katarungang Pambarangay" ist eine kommunale Instanz, die ohne Streitweitbegrenzung den Zivilprozessen vorgeschaltet ist und ebenso in leichten Strafsachen, d.h. bei Vergehen, tätig wird. Der Vorsitzende dieser Instanz, ein gewählter Mediator, ist beauftragt, den Konflikt, teilweise mit Hilfe einer Kommission, durch eine Schlichtung zu lösen.

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a) Gemeinsame Werte und Interessen der Parteien Eine gemeinsame Werte- und Interessensbasis der Konfliktparteien trägt zu einer erfolgreichen Mediation bei. Dieser Grundkonsens ist häufig vorhanden, wenn beide Parteien in der gleichen sozialen Gruppe leben. Das Zusammenleben in einer kleinen Gemeinschaft oder in einem Dorf zwingt die Parteien, die Erwartungen, die in ihrem Umfeld herrschen zu berücksichtigen. In kollektiven Strukturen des Zusammenlebens kann niemand eine nonkonformistische Haltung riskieren, ohne mit der Isolierung bestraft zu werden. Durch eine erfolgreiche Mediation erlangt jede Partei die Position in der sozialen Gruppe zurück, die ihr gebührt, der Störer wird integriert, und das Gleichgewicht wird wieder hergestellt. Das Interesse an einem Vergleich nimmt im Prozeß der Modernisierung allmählich ab, die Verpflichtungen zur Solidarität und Reziprozität in der familiären Gruppe, unter den Nachbarn bzw. der örtlichen Bevölkerung verringern sich. Die modernen Gesellschaften tendieren zu einer Formalisierung der Konfliktlösung wegen der stärker anonymen und funktionalen Sozialbeziehungen. Ein Vergleich z.B. vor einem deutschen Zivilgericht wird selten geschlossen, weil die Parteien ihre sozialen Beziehungen reparieren wollen, sondern eher weil sie Prozeßrisiko und Kosten abwägen. b) Direkte Verhandlung der Parteien ohne Rechtsanwälte Die Chancen für eine erfolgreiche Mediation steigen, wenn die Konfliktparteien direkt verhandeln. In der Mehrheit der informellen volkstümlichen bzw. nachbarlichen Instanzen - mit Ausnahme der peruanischen Friedensgerichtsbarkeit ist es den Parteien untersagt, sich durch Rechtsanwälte vertreten zu lassen. Sie müssen direkt, ohne Filter {"face to face") verhandeln. Im Falle der philippinischen Barangay Justice wurde diese Regelung aus folgenden Überlegungen getroffen (Tadiar 1988: 304): Die Rechtsanwälte • verhandeln zu rechtstechnisch und kompliziert, • schaffen eine kämpferische und feindselige Atmosphäre, weil sie den Rechtsstreit gewinnen wollen, • substituieren ihre Mandanten. Diese Gründe gelten sicherlich auch für andere Instanzen der Mediation. Ein nordamerikanisches Sprichwort illustriert diese Erfahrung: "You can settle any dispute ifyou keep the lawyers and accountants out of it". c) Akzeptanz der Schlichtungsinstanz durch die Parteien Die Möglichkeiten der Mediation werden auch durch die Rechtskenntnisse und das Rechtsbewußtsein der Parteien beeinflußt. Wenn die Erwartungshaltung 218

einer der Parteien durch die Entscheidungsbefugnisse der formalen Justiz dominiert wird, wird diese Partei den Schlichter bzw. den Friedensrichter als einen ohnmächtigen Richter wahrnehmen. Sie wird der Auffassung sein, daß in dieser Instanz ihre Erwartungen nicht erfüllt werden können, und versuchen, den Prozeß vor den Schranken eines formalen Gerichts fortzuführen. Der Friedensrichter sollte nicht auf einer niedrigeren sozialen Rangstufe stehen als die Streitparteien, andernfalls würde er von diesen nicht akzeptiert werden. Aus diesem Grunde stammt z.B. der philippinische Barangay-Captain in Stadtteilen, in denen überwiegend Angehörige der Oberschicht wohnen, aus dieser Gesellschaftsschicht. d) Die Art der Konflikte muß für eine Mediation geeignet sein Es wurde bereits ausgeführt, daß hierzu in erster Linie Konflikte unter Personen zählen, die durch familiäre Beziehungen, die Nachbarschaft oder das Zusammenleben in einer kleineren örtlichen Gemeinschaft miteinander verbunden sind. Viele Konflikte scheiden wegen der Natur der Sache für eine Mediation aus18. In Strafrechtsfällen kommt eine Schlichtung z.B. nur bei leichten Vergehen in Betracht. In Fällen, die eine Sanktion des Straftäters erfordern, wie z.B. bei den meisten Delikten, wird der Friedensrichter bzw. der Schlichter das Verfahren besser einem mit Berufsrichtern besetzten Gericht überlassen.

2. Möglichkeiten und Risiken der Friedensgerichtsbarkeit Der sozio-ökonomische Entwicklungsprozeß wird nicht unausweichlich die Friedensgerichtsbarkeit als Schlichtungsinstanz verdrängen. Sie wird eine leistungsfähige Alternative für die Lösung folgender Verfahren bleiben: • interpersonelle Konflikte, wenn die Parteien zur selben sozialen Gruppe zählen und ein gemeinsames Interesse an der Wiederherstellung der sozialen Beziehungen haben; • Zivilrechtsstreitigkeiten im allgemeinen und Strafrechtsfalle, soweit es sich um leichte Rechtsverletzungen handelt (Vergehen, leichte Delikte etc.); • Streitigkeiten, die keine komplizierten Beweisaufnahmen erfordern; • Streitigkeiten, in denen die Parteien direkt ohne Mitwirkung von Rechtsanwälten verhandeln. "

Nach dem peruanischen Justizverfassungsgesetz ist es den Friedensrichtern verboten, in folgenden Fällen zu schlichten bzw. zu urteilen: in Angelegenheiten des Eherechts, Nichtigkeit von Rechtsakten und Vertragen, in Erbschaftsfüllen und Uber Verfassungsrechte (Art. 67 L.O.D.P.J.). Das Strafrecht wird nicht erwähnt. Die Kompetenzgrenzen des venezolanischen Friedensrichters sind wesentlich offener. Er kann alle örtlichen Konflikte, die ihm die Parteien präsentieren, vergleichen, lediglich seine Urteilskompetenz wird beschränkt (Art. 7, 8 L.O.J.P.).

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Die Erfahrungen aus den Vereinigten Staaten, Australien, Norwegen und den Philippinen zeigen, daß auch in modernen Seictoren der Gesellschaft ein Bedarf an Mediationsinstanzen besteht19. In der Asien-Pazifik-Region wurde 1985 die "Asia-Pacific-Organization for Mediation" mit Sitz in Manila/Philippinen gegründet, deren Ziel die Förderung der Mediation als Instrument der Streitbeilegung ist, von Bangladesch bis zu den Vereinigten Staaten. Der hohe Zufriedenheitsgrad der Konfliktparteien - nicht nur in Peru20 beweist die friedenstiftende Funktion der Mediationsinstanzen. Diese Aufgabe ist vor allem in Gesellschaften von Bedeutung, die sich in einem Umbruch befinden, die unter hohen sozialen Spannungen und einer wachsenden Gewalt leiden. In einer Situation, in der der Staat nicht mehr die öffentliche Ordnung zu garantieren vermag, kann die Friedensgerichtsbarkeit einen Beitrag zur Wiedererlangung und Aufrechterhaltung des sozialen Friedens - zumindest auf kommunaler Ebene - leisten. Ein weiterer Vorteil ist, daß die Schlichtungsinstanzen in pluriethnischen Gesellschaften mit heterogenen Entwicklungsniveaus es den Parteien erlauben, ihren Konflikt innerhalb ihres eigenen Wertesystems auszutragen. Auf diese Weise stützen die Mediationsinstanzen die Geltung der kulturellen Werte, was in Gesellschaften wichtig ist, deren Wertesysteme sich in einer Krise befinden. Schließlich entlastet die Friedensgerichtsbarkeit die formale Justiz, weil vor ihr ein großer Teil der Prozesse des Landes - in Peru etwa die Hälfte - verhandelt werden. Andererseits ist eine Aufwertung der Friedensgerichtsbarkeit nicht ohne Risiken. Eine Stärkung der sozialen Kontrolle auf der Nachbarschaftsebene, eine Beauftragung von Nachbarn als Friedensrichter mit der Kontrolle von Angelegenheiten, die nichts mit ihrer spezifischen Nachbarrolle zu tun haben, könnte im Extremfall zu einer unerträglichen Repression fuhren. Allerdings ist daran zu erinnern, daß die Systeme der Schlichtungsjustiz die freie und aktive Partizipation der Parteien zur Voraussetzung haben. Deshalb sollte die Gefahr nicht überbewertet werden, daß hiermit kommunale Instanzen geschaffen werden, die der Manipulation oder Marginalisierung von nonkonformistischen Bürgern dienen. Die Friedensgerichtsbarkeit als Schlichtungsinstanz ist ein komplementärer Teil des Justizsystems: Wenn die Parteien die Mediation nicht akzeptieren, wird das Verfahren an die Instanzen des formalen

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Die Diskussion über die Rezeption dieser Modelle ist in Europa kontrovers. Ober die Nachbarschaftsgerichte der USA wird gesagt, sie erklarten sich aus der Ghettoisienmg der Vorstädte, die eine hohe Verhaltenskonformität und soziale Kontrolle zur Folge hätte. "Für Großstädte etwa der Bundesrepublik besteht" - nach Hegenbarth (1980:48ff.; 6 8 ) - "kein Zweifel, daß weder an Bewußtseinsinhalte vorindustrieller Dörfer noch an den 'Fetisch einer Gemeinschaftlichkeit an sich' angeknüpft werden kann". Alles andere sei die utopische Sicht von 'Sozialromantikem', die im Nachbarschaftsgedanken ein Allheilmittel gegen alle zivilisatorischen Obel sehen. Es wird bezweifelt, ob die Mediationssysteme in ausdifferenzierten Industriegesellschaften mit ihren heterogenen und anonymen Sozialbeziehungen, dem Individualismus der Bürger und ihrem geringen Gemeinschafts- bzw. Nachbarschaftsgeist ihren Zweck erfüllen wurden.

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Zu den USA siehe Felstiner/Williams (1980:197).

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Justizsystems übertragen. Die Nutzung des einen oder anderen Justizsystems sollte eine Option der Konfliktparteien bleiben. In der Justiz- und Rechtsgeschichte hat es immer eine Koexistenz von informellen und formellen Formen der Konfliktlösung gegeben. Der Auffassung, daß der Prozeß der Modernisierung immer eine Perfektionierung des Rechtssystems bedingt, in der extralegale Rechtspraktiken und nichtjustizielle Instanzen überwunden werden, kann nicht gefolgt werden. Es gab - mit den Worten Abels (1974) - immer eine Dialektik zwischen modernen Formen der Justiz in tribalen Gesellschaften und tribale Formen der Justiz in modernen Gesellschaften.

Literaturverzeichnis ABEL, Richard L., 1974: A Comparative Theory of Dispute Institutions in Society, in: Law and Society Review, No. 8: 217-347. —, 1980: Delegalization: A Critical Review of its Ideology, Manifestations and Social Consequences, in: Blankenburg et al. ASIA-PACIFIC ORGANIZATION FOR MEDIATION (APOM), 1988: Transcultural Mediation in the AsiaPacific, Manila. BLANKENBURG, Erhard / KLAUSA, Ekkehard / ROTTLEUTNER, Hubert (Hrsg.), 1980: Alternative Rechtsformen und Alternativen zum Recht. Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 6, Opladen. BRANDT, Hans-Jürgen, 1987 : Justicia Popular: Nativos, campesinos, Lima: Fundación Friedrich Naumann/CDIJ. — , 1990: En nombre de la Paz Comunal. Un análisis de la justicia de paz en el Perú, Lima: Fundación Friedrich Naumann/CDIJ. ENCUESTA, 1993/94: El poder judicial: Habla la opinión pública, in: Debate No. 75: 43-47. FAULKES, Wendy, 1988: Mediation in Australia: State of Art 1987, in: A P O M . FELSTINER, William L.S. / WILLIAMS, Lynne A., 1980: Mediation as an Alternative to Criminal Prosecution: Ideology and Limitations, in: Blankenburg et al. GALANTER, Marc, 1980: Legality and its Discontents: A Preliminary Assessment of Current Theories of Legalization and Delegalization, in: Blankenburg et al. HEGENBARTH, Rainer, 1980: Sichtbegrenzungen, Forschungsdefizite und Zielkonflikte in der Diskussion Uber Alternativen zur Justiz, in: Blankenburg et al. REVILLA V., Ana Theresa, 1994: Poder Judicial: trabajando a favor de la justicia, in: El Peruano/Derecho Procesal, 21.11.94: B 9. STANGELAND, Per, 1987: Wege autonomer Konfliktregelung - Strafrecht und Nahgemeinde, in: Kriminologisches Journal, 19. Jhg., 285-302. TADLAR, Fred, 1988: Institutionalizing Traditional Dispute Resolution: The Philippine Experience, in: APOM.

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Franz Thedieck

Verwaltungskontrolle in Lateinamerika Wie aktuell das Thema der Verwaltungskontrolle weltweit ist, zeigt der im November 1997 veröffentlichte Bericht der französischen Zeitung "Le Monde" (28.11.1997: 1) über den Rechenschaftsbericht des Rechnungshofs, dem die nachfolgende Karikatur entnommen ist: 1994 und 1995 wurden 400 Millionen französische Francs für den Bau eines Kongreßzentrums in Paris ausgegeben, dessen Realisierung niemals in Angriff genommen wurde.

Quelle: Le Monde, 28.11.1997

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Obwohl an dem Nutzen des aufgegriffenen Themas kein Zweifel bestehen kann, zeigt sich allerdings schnell, welche Hindernisse einer angemessenen Behandlung entgegenstehen. Während das Thema der Verwaltungskontrolle in Deutschland breit dargestellt und analysiert ist, trifft dies auf die Situation in Lateinamerika bedauerlicherweise nicht zu. Wissenschaftliche Literatur existiert nur spärlich, ist zum großen Teil vor mehr als zwanzig Jahren verfaßt worden, deshalb veraltet und deckt häufig nur Detailaspekte ab. Aussagen zur Wirksamkeit der Kontrollelemente fehlen durchgehend. Das Thema ist angesichts der Vielzahl lateinamerikanischer Staaten zu weit gefaßt, und der nachfolgende Beitrag kann in dieser Form deren rechtlicher und kultureller Diversität unmöglich gerecht werden. Auch wenn der Verfasser die meisten lateinamerikanischen Länder aus eigener Anschauung kennt, kann er nicht in Anspruch nehmen, für ihre Gesamtheit das Thema angemessen darstellen zu können. Hierzu bedarf es vielmehr einer umfangreichen Felduntersuchung1. Im Bewußtsein dieser Beschränkungen wird nachfolgend versucht, die verschiedenen Kontrolloptionen für die lateinamerikanische Wirklichkeit mit der gebotenen Bescheidenheit und Zurückhaltung zu diskutieren.

I. Verfassungsrechtliche Ableitung Die Kontrolle der öffentlichen Gewalt2 ist das den Rechtsstaat schlechthin konstituierende Element. Am Anfang des Rechtsstaats steht die Überlegung, wie dem "fiireur de gouverner" (Montesquieu 1748) Einhalt geboten werden kann. Sämtliche Elemente des Rechtsstaatssystems zielen auf eine Zügelung staatlicher Macht durch ex ante- oder ex /?os/-Kontrolle ab. Den Aktionen des Rechtsstaats sind folgende Grenzen gesetzt: Gesetzmäßigkeit der Verwaltung

Dieses Prinzip umfaßt den Vorrang des Gesetzes und den verfassungsgeschichtlich späteren weitergehenden Vorbehalt des Gesetzes.

Mein erster Gedanke, dieses Handikap durch Interviews einheimischer resource-persons zu beheben, ist fehlgeschlagen. Ich habe versucht, Langzeit-Stipendiaten zu befragen, die sich bei der DSE aktuell in einer Fortbildung befinden. Dabei mußte ich feststellen, daß die Hälfte der potentiellen Interview-Partner ausfiel, weil sie - aus welchen Gründen auch immer - es vorzogen, keine Informationen zu geben. Die andere Hälfte konnte weitgehend Auskünfte Uber die vorhandenen Kontrollinstrumente geben, schloß jedoch bis auf eine Ausnahme eine Bewertung der Kontrolleffizienz, um die es mir in erster Linie ging, ausdrücklich aus. Dieser traditionelle Sprachgebrauch wird der verfassungsrechtlichen Dimension besser gerecht als der dem anglo-amerikanischen Kontext entlehnte Begriff des Öffentlichen Sektors.

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Kompetenzmäßigkeit staatlichen Handelns

Dieses Prinzip beinhaltet die Gewaltenteilung und -verschränkung einschließlich der Einhaltung zwischen- und binneninstitutioneller Zuständigkeitsregeln.

Kontrollierbarkeit

Die rechtliche und reale Möglichkeit, staatliches Handeln zu kontrollieren.

Justizförmigkeit

Das Verbot externer Eingriffe in die Rechtsprechung 3 .

Sämtliche vier Elemente hängen eng miteinander zusammen und bedingen sich gegenseitig, so stellt z.B. der Gesetzesvorbehalt eine Form der ex anteKontrolle staatlichen Handelns dar. Ein weiterer verfassungsrechtlicher Zusammenhang ergibt sich aus den Machtverhältnissen, die durch das Demokratieprinzip gekennzeichnet werden. Eine Demokratie besteht nur, ein Volk übt nur dann politische Herrschaft aus, wenn es die letzte Autorität hinter der Staatsgewalt darstellt. Erst eine effektive Kontrolle der Exekutive transformiert den autoritären Obrigkeitsstaat zum demokratisch verfaßten Rechtsstaat (Abendroth 1979: 257f.; siehe auch GarciaSayän 1995: 10). Vom Volk muß sich die durch Legislative, Judikative und Exekutive ausgeübte Staatsgewalt ableiten. Diese Idealanforderung an die Ausübung von Herrschaft konkretisiert sich für die Exekutive in unmittelbarer Form, z. B. in der Volkswahl der Bürgermeister und in mittelbarer Form in der Kontrolle der Verwaltung. Wahlen stellen eine unmittelbare Kontrolle über das Handeln der aus dem Amt scheidenden Regierung sowie des von ihr zu verantwortenden Verwaltungshandelns dar.

II. Zulässigkeit der Verwaltungskontrolle Es mag banal erscheinen, aber die Zulässigkeit einer unabhängigen Kontrolle der Verwaltung ist bei historischer wie aktueller Betrachtung keineswegs selbstverständlich. Mangels gerichtlichen Rechtsschutzes gegen Verwaltungsakte fand und findet im kommunistischen Herrschaftsbereich eine Kontrolle der Verwaltungstätigkeit nicht statt. Auch in Staaten, in denen eine gerichtliche Nachprüfung öffentlichen Handelns zulässig ist, besteht manchmal keine Möglichkeit, obsiegende Urteile gegen den Staat zu vollstrecken, die Durchsetzung des Kontrollergebnisses ist also vom Wohlwollen der Verwaltung abhängig. 3

Carl Schmidt (1970: 131) nennt diese vier einen Rechtsstaat konstituierenden Elemente.

224

Im feudalen und absolutistischen Staat stand der Satz "The King can do no •wrong" für eine Position, in der der König und die für ihn handelnde Exekutive außerhalb der Rechtsordnung stehen. Der König setzt Recht, spricht Recht, er unterliegt als höchste staatliche Instanz und aus metastaatlich abgeleiteter Legitimation nicht dem Recht, er ist "legibus solutus"*. Noch im 19. Jahrhundert wird der spätabsolutistische Rechtssatz "In Polizeysachen gilt keine Appellation" (von Oertzen/Hauschild 1996/97: 675f.) in Art. 45 der Preußischen Verfassung von 1848 wieder aufgegriffen, wonach die Verwaltungstätigkeit allein dem König zusteht und es auf diesem Gebiet keinen Rekurs gibt. Die anekdotische Episode des Müllers von Sanssouci scheint hierzu im Widerspruch zu stehen. Dessen Klage gegen die königliche Verwaltung, die ihm den Betrieb der lärmigen Mühle in unmittelbarer Nähe des königlichen Schlosses verboten hatte, blieb zunächst erfolglos. Erst als König Friedrich II. sich persönlich in den Rechtsstreit einmischte, um dem Müller zu dem ihm vermeintlich vorenthaltenen Recht zu verhelfen, hatte dessen Sache Erfolg, konnte sich also ein Bürger gegen die hoheitliche Verwaltungstätigkeit durchsetzen. Aber es handelte sich eben keineswegs um ein verfassungsmäßig vorgesehenes Kontrollorgan, das sich zu seinen Gunsten eingeschaltet hatte. Und der König verletzte durch sein Handeln rechtsstaatliche Prinzipien, wie die Unabhängigkeit der Justiz, und stellte sich hierdurch außerhalb des Gesetzes und über die Rechtsordnung. Gerade deshalb belegt diese Geschichte weder die Ab-, noch die Aufgeklärtheit des großen preußischen Monarchen. Ein rechtsstaatliches System ist im europäischen Kontext erst erreicht worden, als das eigentliche Machtinstrument der königlichen Regierung, nämlich das verwaltende Beamtentum, unter eine unabhängige Kontrolle gestellt wurde. Nachdem bereits 1714 in Preußen die Generalrechenkammer als Vorläufer heutiger Rechnungshöfe gebildet worden war, setzte eine unabhängige gerichtliche Kontrolle der Verwaltung in den konstitutionellen europäischen Verfassungsstaaten endgültig im Verlaufe des 19. Jahrhunderts ein. In Preußen wurde die interne Verwaltungskontrolle durch die Einrichtung unabhängiger Gerichte das Preußische Oberverwaltungsgericht - ergänzt.

III. Formen der Kontrolle Die Kontrolle der Verwaltung läßt sich unter den verschiedensten Kriterien kategorisieren5. Ich werde diese Kategorien hier ohne weitere Erläuterung nur kursorisch erwähnen, eine Detailanalyse wird erst unter dem nächsten Gliede4

'

Hierzu befindet sich die Tatsache in einer Schieflage, daß der König gleichwohl an Vertrüge gebunden ist, die er mit seinen adligen Untertanen schließt, wie die Magna Carla oder das Slatutum in favorem principum. Vgl. die Darstellung der verschiedenen Kontrollformen bei Hood (1979); zum deutschen Kontext Puttner (1996/97: 663).

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rungspunkt der Kontrollinstitutionen vorgenommen. Folgende Kontrollformen sind zu unterscheiden: • Rechtmäßigkeitskontrolle, • Zweckmäßigkeitskontrolle, • Wirkungskontrolle, einschließlich Evaluierung, • Effizienz- oder Wirtschaftlichkeitskontrolle, • politische Kontrolle, • Finanzkontrolle, einschließlich Haushaltskontrolle, • Mediation, • ex ante- und ex poii-Kontrolle, • Selbstkontrolle, • Fremdkontrolle, • förmliche und formlose Kontrolle, • gerichtliche Kontrolle, • verwaltungsinterne Kontrolle6.

IV. Kontrollinstrumente und -Institutionen 1. Parlamentarische Kontrolle Politische Kontrolle der Verwaltung kann durch verschiedene Institutionen ausgeübt werden, an erster Stelle durch das nationale Parlament. In aller Regel besteht in jedem Parlament ein permanenter Petitionsausschuß, der punktuelle Beschwerden der Bürger überprüft. Dieses Verfahren zeichnet sich dadurch aus, daß keine besonderen Voraussetzungen einzuhalten sind. Allerdings greift der Petitionsausschuß nicht in ein schwebendes gerichtliches Verfahren ein, er kann jedoch, nachdem der Petent gerichtlich unterlegen ist, anschließend eine Entscheidung zu dessen Gunsten treffen, und sei es durch eine von ihm angeregte gesetzliche Regelung. Dieses ist z.B. geschehen, als einem auf Seiten der internationalen Brigaden am spanischen Bürgerkrieg beteiligten Soldaten im Gegensatz zu den auf Seiten der Faschisten kämpfenden Wehrmachtsangehörigen de lege lata keine Entschädigung gezahlt werden konnte (siehe Vogel/Podlech/ Simon 1981:421). Eine weitere parlamentarische Kontrollmöglichkeit besteht in der Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, der sich neben anderen und politischeren Themen auch der Kontrolle von Verwaltungshandeln widmen kann7. Dieses Kontrollinstrument ist auch in allen demokratisch verfaßten lateinamerikanischen Staaten vorgesehen. 6

Zu Einzelheiten vgl. Hood (1979); HUper (1985), PUttner (1996/97).

7

Zu parlamentarischen Untersuchungsausschüssen vgl. Umbach (1981: 292).

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Selbstverständlich besitzt das Parlament auch außerhalb formeller Verfahren die Möglichkeit, während seiner Sitzungen Verwaltungsmißstände zu diskutieren. Es kann die Regierung zur Rechenschaft ziehen und je nach Ausgestaltung seiner Rechte Sanktionen verhängen, von der förmlichen Rüge bis zum Sturz einzelner Minister oder der Regierung. Bei der Gestaltung des Haushaltsplanes hat es das Parlament ebenfalls in der Hand, auf Verwaltungsmängel zu reagieren. Wenn es den Eindruck hat, daß von einer Verwaltungsstelle Aufgaben fehlerhaft wahrgenommen werden, wird das Parlament haushaltsmäßige Konsequenzen ziehen. Die Gesetzgebung stellt eine Form der ex awte-Kontrolle der Exekutive dar, deren Tätigkeit durch Gesetze Richtung und Grenzen gewiesen werden. 2. Gemeinderat Wenn auch zwischen einem Gemeinderat und einem nationalen Parlament grundlegende Unterschiede bestehen, gibt es im Bereich der Verwaltungskontrolle durchaus Parallelen. So kann der Rat konkrete Fälle überprüfen, in denen der Verwaltung fehlerhaftes Handeln vorgeworfen wird. Über den kommunalen Haushaltsplan kann der Gemeinderat Einfluß auf das generelle Verhalten der Kommunalverwaltung ausüben wie auch für zurückliegendes Fehlverhalten Sanktionen treffen. Innerhalb der relativ bescheidenen kommunalen Zuständigkeiten ist es ihm sogar möglich, eine ex awfe-Kontrolle auszuüben. Die in Nordrhein-Westfalen bestehende Möglichkeit, am förmlichen Verfahren der Verwaltungskontrolle teilzunehmen, ist eine interessante Variante der politischen Kontrolle der Verwaltung, die auch für den lateinamerikanischen Kontext beispielhaft sein könnte. Das förmliche verwaltungsinterne Widerspruchsverfahren wird in Angelegenheiten der Gemeinde von einem Ausschuß des Gemeinderats, dem Widerspruchsausschuß, durchgeführt. Anstelle einer Selbstkontrolle von Beamten durch Beamte werden die Bürger in den Kontrollprozeß einbezogen, wandeln sich von Objekten zu Subjekten der Verwaltungsentscheidung. Durch mehr Bürgernähe wird der Verwaltung insgesamt größere Legitimation vermittelt, der Bezug zwischen Demokratieprinzip und Verwaltungskontrolle wird so plastisch und konkret. 3. Verfassungsgerichtliche Kontrolle Die für die deutsche Rechtsstaatsentwicklung entscheidende Rolle des Bundesverfassungsgerichts besitzt in Lateinamerika keine vergleichbare Tradition. Erst seit der demokratischen Erneuerung Spaniens nach Franco, die viele Elemente des deutschen Verfassungslebens rezipiert hat, begann auch ein zaghafter Reformprozeß für die Einrichtung von Verfassungsgerichten. Traditionell wird ihre Rolle von der Corte Suprema übernommen. Wo ein Verfassungsgericht 227

eingerichtet wurde, hat es sich durchweg als Hüter der Verfassung auch in Krisensituationen bewährt, wie in Kolumbien oder Guatemala. Dort hat das Verfassungsgericht im Falle des autogolpe des Staatspräsidenten Serrano im Mai/ Juni 1993 mutig gegen die verfassungswidrige Exekutive Stellung bezogen und das Ausscheiden der kompromittierten Politiker durchgesetzt (González/Dubón 1994). Da aber die unmittelbare Geltung der Grundrechte in Lateinamerika durchweg nicht gewährleistet und auch die Verfassungsbeschwerdemöglichkeit in der Regel nicht eröffnet ist, wird es noch lange dauern, bis die Verfassungsgerichtsbarkeit einen entscheidenden Beitrag zur Verwaltungskontrolle leisten kann (vgl. Herdegen 1994). 4. Zivilgesellschaft In den Kontext der Verwaltungskontrolle durch den Souverän gehört auch die heute oft genannte Zivilgesellschaft. Der diesem zuweilen auch strapazierten Begriff zugrundeliegende Gedanke findet sich bereits im vergangenen Jahrhundert in Lorenz von Steins Schriften und umschrieb die Inkorporation bzw. Integration der Gesellschaft in den Staat. Wie so häufig ist die aus der amerikanischen politikwissenschaftlichen Diskussion stammende Formel der "civil Society" alles andere als klar. Sie kann emanzipatorisch verstanden werden als basisdemokratisches empowerment einer formal erstarrten Demokratie oder im konservativen Sinne als neoliberale Gesellschaftskraft und politischer Hebel zur Beseitigung kommunistischer Herrschaftssysteme. Gewerkschaften als eine der wichtigsten emanzipatorischen gesellschaftlichen Organisationen besitzen in Lateinamerika eine lange und bedeutende Tradition, die leider unter dem wirtschaftspolitischen Dogma des Neoliberalismus zunehmend abbröckelt. Die für Deutschland charakteristische Trennung zwischen zulässigen arbeitsbezogenen und unzulässigen politischen Streiks besitzt demgegenüber keine Parallele auf dem südamerikanischen Kontinent, so daß die Mittel des Arbeitskampfes auch zum Zwecke der Verwaltungskontrolle zur Verfügung stehen und hierzu auch tatsächlich eingesetzt werden. Die korporativ strukturierten Comités Cívicos in Bolivien verstanden sich als Gegengewicht gegen die Zentralregierung und ihren Verwaltungsapparat in La Paz. Auch sie setzen den Streik als Druckmittel gegen die Regierung ein. Der Verfasser hat selbst erlebt, daß in dem Departement Tarija Regierungsvertreter im Rahmen einer Großdemonstration festgesetzt wurden, weil ein gegebenes Versprechen, eine Stadt an das elektrische Netz anzuschließen, über Jahre nicht erfüllt worden war. Erst als nach einigen Tagen ein Pakt unterzeichnet worden war, wurden die Geiseln wieder freigelassen. Die Bürgerinitiativbewegung ist in Lateinamerika gegenüber Nordamerika und Europa verspätet. Gleichwohl gibt es sie in bedeutendem Ausmaße im Bereich der Menschenrechte - z.B. die Madres de la Plaza de Mayo in Buenos 228

Aires - und des Umweltschutzes. In Kolumbien ist der Umweltschutzsektor erfreulich gut entwickelt, die mehr als 100 NGOs werden durch eine nationale NGO -Holding Ecofondo kompetent gesteuert. Speziell gegen Verwaltungsfehler richten sich NGOs wie die argentinische Koordination gegen polizeiliche und behördliche Willkür CORREPI. Auch an der Genderthematik orientierte Bürgerinneninitiativen gewinnen an Boden. In Zukunft kann in Lateinamerika durchaus mit einem kräftigen Anwachsen der Bürgerinitiativbewegung gerechnet werden. 5. Medien Mit Ausnahme von Kuba ist heute ein offener kritischer Dialog überall in Lateinamerika möglich. Die Presse darf in einem Maße Kritik üben, welches vor 10 Jahren noch undenkbar war. Die Meinungsfreiheit ist weitgehend gegeben. Das bedeutet keineswegs, daß bereits ein befriedigender Zustand erreicht sei. 1997 wurden in Lateinamerika nach Angaben der Reporter ohne Grenzen 10 Journalisten ermordet, das ist mehr als jeder dritte der weltweit 26 registrierten Morde an Journalisten (ai-Journal 2/1998: 27). Im Januar 1997 löste die Ermordung des bekannten argentinischen Journalisten José Luis Cabezas große Bestürzung aus. Besonders beunruhigend ist, daß in diesem wie in den meisten anderen Fällen die Täter nicht ermittelt werden. Das spricht dafür, daß staatliche Stellen die Mörder decken und das Verschwinden kritischer Journalisten von diesen nicht als Bedrohung für die Demokratie empfunden wird. Gleichzeitig schafft die Straflosigkeit politischer Morde an Journalisten ein Klima der Gewalt, in dem Drohungen mit Gewalt gegen Journalisten zunehmen8. Es gibt aber auch weniger spektakuläre Aktionen gegen die Presse und andere Medien, von denen peruanische Journalisten berichteten. Das kritische Wochenmagazin "Caretas" unterliegt selbstverständlich keiner Zensur, aber häufig ist es Opfer von Unregelmäßigkeiten bei der Papierversorgung. Und als der Mehrheitsaktionär des Fernsehsenders "Frecuencia Latina", Baruch Ivcher, durch zu kritische Kommentare das Mißfallen der Regierung Fujimori erregte, entzog ihm diese kurzerhand seine peruanische Staatsbürgerschaft und damit sein Aufenthaltsrecht in Peru. Ivcher mußte das Land verlassen, was ihn praktisch um die Ausübung seiner Eigentumsrechte bei dem Fernsehsender brachte. Nach weiteren Vorwürfen, u.a. des Drogenschmuggels, wurde ein weiteres seiner Unternehmen enteignet. Eine der Regierung lästige Stimme war wirtschaftlich vernichtet und politisch mundtot gemacht worden9. Die fundamentale Bedeutung der Medien für das Funktionieren einer Demokratie braucht hier nicht hervorgehoben zu werden. Sie beruht explizit auf der *

Siehe das Interview mit dem argentinischen Anwalt Daniel Stragi in: ai-Joumal (2/98:26).

9

Vgl. Interview in der peruanischen Zeitung "El Comercio" vom I. Marz 1998: "Sigo tuchando por mis derechos. "

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Möglichkeit, jenseits staatlicher Kontrollinstrumente den öffentlichen Sektor zu kontrollieren. Nur ausnahmsweise sind staatliche Institutionen in der Lage gewesen, politische Skandale aufzudecken, wie die italienische Sondereinheit der Staatsanwaltschaft mani pulite°\ regelmäßig sind es die Medien, die Verwaltungskontrolle auch in politischen Dimensionen effektiv wahrnehmen, sei es die "Washington Post" in den USA oder "Der Spiegel" in Deutschland. 6. Rechnungshöfe Zur Kontrolle der öffentlichen Finanzen sind fast überall - so auch durchgehend in Lateinamerika - Rechnungshöfe eingerichtet worden. In Deutschland geht die Tradition zurück auf die General-Rechenkammer, die 1714 vom preußischen König eingerichtet wurde (vgl. Czasche 1996/97; Keisers 1996), und hier sind der Bundesrechnungshof und die Landesrechnungshöfe, ihre Unabhängigkeit sowie ihre Aufgaben verfassungsmäßig abgesichert. Rechnungshöfe können ihre Existenz aus dem Demokratieprinzip und der Volkssouveränität ableiten, sie sind also demokratisch legitimiert. Gleichwohl fugen sich die Rechnungshöfe nicht in die klassischen Staatsgewalten ein, von denen sie sämtlich unabhängig sind, noch stellen sie eine "vierte" Gewalt dar, unter der die Medien verstanden werden. Sie werden in Deutschland vielmehr als Gegengewichte zum parteienstaatlich durchdrungenen parlamentarischen Regierungssystem betrachtet. Es ist evident, daß die Staatsfinanzen Gegenstand einer intensiven öffentlichen Kontrolle sein müssen; groß ist die Gefahr der Manipulation und Korruption zu Lasten der öffentlichen Kassen. Aufgabe des Rechnungshofs ist es demnach, die Ordnungsmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit der öffentlichen Haushalts* und Wirtschaftsführung zu prüfen. Über seine Tätigkeit legt er in der Regel jährlich einen Rechenschaftsbericht vor, der dem Parlament zugeleitet wird und politische Wirkung entfaltet. Die Prüfungsaufgabe umfaßt die Rechtmäßigkeits- sowie Vollständigkeits- und Richtigkeitskontrolle von Belegen. Erst langsam vollziehen die Rechnungshöfe den gesetzlichen Auftrag der Wirtschaftlichkeitsprüfung in dem Sinne nach, daß sie die Exekutive beraten, wie sie mit einem Minimum an Ausgaben ihre Aufgaben wirkungsvoll wahrnehmen und Verbesserungsvorschläge entwickeln können. Auch die lateinamerikanischen Rechnungshöfe können auf eine nicht unbeträchtliche Tradition zurückblicken: Die Contraloria General de Chile besteht seit 1925. In anderen Staaten heißen die Institutionen auch Procuraduría Pública. Bei ihrer Qualifizierung haben deutsche entwicklungspolitische Beiträge eine nicht unerhebliche Rolle gespielt (vgl. Hemmer/Krell 1989). Sie stellen heute gefestigte Institutionen dar, die von der Exekutive durchaus gefürchtet 10

Vgl. die Bilanz in der "Neuen Zürcher Zeitung" vom 17. März 1998:4:"Manipulile vor der Verjährung?"

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werden, wie das peruanische Beispiel belegt, wo die Präsidentin des Rechnungshofs am Vorabend des Staatsstreichs des Staatspräsidenten Fujimori abgesetzt wurde, um möglichen Widerstand rechtzeitig zu beseitigen. Für die Aufgabenerledigung gilt, daß die Rechnungshöfe noch weitgehend traditionell vorgehen, insbesondere sich auf die formale Belegprüfimg konzentrieren, während die für die Wirtschaftlichkeitsprüfung wesentliche Beratungsrolle nur zögernd erlernt wird. 7. Ombudsmann Die Einrichtung des Ombudsmanns geht auf eine Verfassungskrise in Schweden zurück, die ein skandalös handelnder König aufgewirbelt hatte. Um die Wogen zu glätten, bediente man sich eines Vermittlers, des Ombudsmanns. Nach dem 2. Weltkrieg setzte der Siegeszug dieser Einrichtung in Europa, Nordamerika und Neuseeland ein. Auch Lateinamerika wird von dieser Entwicklung erfaßt, seit 1978 in Costa Rica diese Behörde eingerichtet wurde. Heute gibt es daneben einen Ombudsmann in Argentinien, Ekuador, wo auch das lateinamerikanische OmbudsmannInstitut beheimatet ist, Guatemala, Guyana, Kolumbien, Paraguay und Peru (vgl. Briceno 1995; Comisión Andina de Juristas 1995; Toranzo 1991). Da er vom Parlament bestellt und kontrolliert wird, handelt es sich bei dem Ombudsmann um ein Instrument der parlamentarischen Kontrolle. Der Ombudsmann ist Auge und Ohr des Parlaments: An seiner Statt geht er Beschwerden gegen die Exekutive nach, vermittelt und liefert einen jährlichen Bericht an das Parlament. Wichtig für seine "accesibilidad" ist der Umstand, daß das Verfahren keine Antragsvoraussetzungen kennt, sondern daß sich jeder Bürger jederzeit an den Ombudsmann wenden kann. Daneben kann der Ombudsmann auch von Amts wegen tätig werden. Der effektiven Verwaltungskontrolle dient es, daß der Ombudsmann ein umfassendes Akteneinsichts- und Herausgaberecht besitzt und zu dessen Realisierung zu allen öffentlichen Stellen Zugang hat. Er kann zur Sachverhaltsaufklärung und zur Mediation Gespräche mit den Amtsträgern anberaumen. Teilweise - wie in Peru - besitzt er auch ein Recht auf Gesetzesinitiative. Das formlos gestaltete Verfahren entlastet die Gerichtsbarkeit in erheblichem Umfang von Beschwerden gegen Verwaltungsentscheidungen. Erhebungen zeigen, daß der Ombudsmann schwerpunktmäßig mit folgenden Sachverhalten befaßt wird: • mit Menschenrechtsverletzungen und polizeilichen Übergriffen gegen Frauen und indígenas, • mit Mißständen im Sozial- und Gesundheitswesen, z.B. dem Recht auf stationäre Unterbringung oder auf eine medikamentöse Behandlung,

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• mit Beschwerden gegen Entscheidungen der Wirtschaftsverwaltung, insbesondere gegen Tarife der öffentlichen Versorgungsbetriebe, • mit Demarchen gegen Gefangnisverwaltungen und • mit Beschwerden über Entscheidungen der Arbeitsverwaltung, z.B. gegen eine zu spät geleistete Rentenzahlung. Allerdings sind seine Sanktionsmöglichkeiten eher schwach: Außer der Veröffentlichung von gerügten Fällen der Verwaltungspraxis kann er lediglich ein Verfahren gegen den inkriminierten Beamten einleiten. Aber über Massenmedien, die sich mit dem Ombudsmann verbünden können, kann ein starker Lösungsdruck und eine erzieherische Wirkung für die Verwaltung generell erzielt werden. Die meisten Fälle werden jedoch diskret gelöst im Bewußtsein, daß dieses Verfahren den gerügten Amtsträgern eine Korrekturmöglichkeit ohne öffentliches Aufsehen eröffnet. 8. Verwaltungsgerichtliche Kontrolle" Eine gerichtliche Kontrolle des Verwaltungshandelns existiert in allen lateinamerikanischen Staaten. Allerdings wird sie durch verschiedene Gerichtszweige wahrgenommen, eine gesonderte Verwaltungsgerichtsbarkeit ist durchaus noch nicht die Regel, allerdings gibt es in einigen Staaten bereits eine spezielle Verwaltungsgerichtsbarkeit wie die Finanzgerichte in Argentinien. Im allgemeinen können Maßnahmen der öffentlichen Verwaltung vor den Zivilgerichten angefochten werden. Die Verfahrensordnungen sind von spanischen oder nordamerikanischen Erfahrungen beeinflußt: Das argentinische Finanzgerichtsverfahren, das sich am Modell des US-amerikanischen tax court orientiert, wirkt mit seinen weitgefächerten Klagearten auf den deutschen Betrachter außerordentlich verwirrend. Allerdings stellt es die einzige Möglichkeit für den Steuerzahler dar, sich gegen ein Unrecht der Finanzbehörden zu wehren (vgl. Sanz de Urquiza 1995). Da die Verwaltungsgerichtsbarkeit in vielen Ländern des südamerikanischen Kontinents noch nicht eingeführt wurde, macht es im Hinblick darauf Sinn, die deutschen Erfahrungen kritisch aufzuarbeiten. Positiv und als Stärkung der Position des klageführenden Bürgers schlägt der Suspensiveffekt der Klage zu Buche, der die Wirkung der angefochtenen Verwaltungsentscheidung bis zum Verfahrensabschluß aufschiebt. Ein gewichtiger Einwand betrifft die Verfahrensordnungen, die vom Rechtsuchenden, aber nicht nur von diesem, häufig als Labyrinth empfunden werden. Kann er sich dagegen noch eines rechtskundigen Anwalts bedienen, gibt es gegenüber der langen Verfahrensdauer, die im übrigen auch in der Zivilgerichtsbarkeit endemisch ist, kaum Abhilfe. Wer zehn Jahre ab Widerspruch "

Vgl. zur deutschen Wirklichkeit von Oertzen/Hauschild (1996/97).

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gegen die Verwaltungsentscheidung bis zur letztinstanzlichen Entscheidung warten muß, verliert schon aus wirtschaftlichem Interesse häufig die Lust am Streiten, schluckt widerwillig eine als ungerecht empfundene Maßnahme oder setzt sich mit anderen Mitteln - häufig der Korruption, die wirtschaftlich effektiver, also "vernünftiger" ist - zur Wehr. Neben diesem gewichtigen Einwand sprechen auch die immensen Kosten, die mit der Einrichtung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit verbunden sind, gegen eine Übertragung auf Länder des Südens. Für jährlich 300.000 Verfahren werden in Deutschland 65 Verwaltungsgerichte mit ca. 3.000 hauptamtlichen Richtern benötigt (Zahlen für 1993 nach von Oertzen/Hauschild 1996/97: 679f.); dennoch sind die Ergebnisse siehe die lange Verfahrensdauer - nicht zufriedenstellend. Bei der Durchsetzung von Leistungsansprüchen zeigt sich die Unzulänglichkeit des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens in besonderer Weise: Bis er ein obsiegendes Urteil auf eine bestimmte medizinische Behandlung erreichen kann, ist der klagend Leidende häufig schon tot. Der Zugang zum Klageverfahren wird auch dadurch erschwert, daß der Klagefiihrer ein "berechtigtes" Interesse am Verfahren geltend machen muß (Rechtsschutzinteresse), was etwa bei der Beschwerde vor dem Ombudsmann entfallt. Für die Schweiz stellt Marti (1964: 6) eine - sicherlich unbewußte - parteiische Tendenz der Richter zugunsten der Verwaltung fest. Der Verfasser teilt diese Einschätzung, die gleichwohl schwer zu belegen ist. Berichtet wird aus Frankreich, aber auch aus Deutschland, daß beabsichtigte Klagen letztlich unterbleiben, weil die Betroffenen Angst haben vor Repressalien seitens der Verwaltung. Man spricht in diesem Zusammenhang von einem "semifreiwilligen Verzicht auf Rekurs". Zu bedenken ist auch, daß die ökonomischen und psychischen Zugangsbarrieren zu jedweder Gerichtsbarkeit in besonderem Maße gegen sozial schwache Gruppen wirken, das Instrument der Verwaltungsgerichtsbarkeit letztlich also einer privilegierten Klientel zugute kommt. Führen diese Mängel schon im europäischen Kontext dazu, daß die Verwaltungsgerichtsbarkeit wenig effizient arbeitet, daß sie häufig Steine statt Brot produziert, so trifft dieses erst recht für die wirtschaftlich größtenteils schwach entwickelten Länder Lateinamerikas zu. Dies wird von Gonzáles Pérez (1979: 404) ausdrücklich bestätigt und beim Namen genannt: "La administración pública ni ante el juez no deja de ser un sujeto privilegiado, que goza de una serie de prerogativas de hecho, en pugna abierta con la justicia." Wegen der um ein Vielfaches begrenzten Finanzmittel stellt sich die wirtschaftliche Frage viel schärfer, ein so "luxuriöses" Instrument wie die Verwaltungsgerichtsbarkeit wird man sich dort nicht leisten können und wollen.

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9. Verwaltungsinterne Kontrolle Verwaltungsinterne Kontrolle kann erfolgen durch verschiedene Institutionen: durch den Vorgesetzten über die Tätigkeit der ihm unterstellten Mitarbeiter, durch interne Rechnungsprüfungsämter, durch die Innenrevision, durch Fachund/oder Rechtsaufsicht der vorgesetzten Behörde, durch spezielle "Beauftragte" für den Haushalt, für Behinderte, für den Datenschutz, für Sicherheit und für die Gleichstellung von Frauen. Viele von diesen Kontrollinstanzen existieren auch in Lateinamerika. Arbeiten diese Stellen in Europa schon weniger zuverlässig als die externe Kontrolle, weil manchen Mängeln nicht oder nicht mit dem gebotenen Nachdruck nachgegangen wird, so gilt dies um so mehr für Lateinamerika, das generell unter einer größeren Korruptionsmarge leidet als die westeuropäischen Staaten (vgl. Transparency International, Korruptionsindex, Presseveröffentlichung vom 31.7.1997). Das Problem der verwaltungsinternen Kontrolle besteht darin, daß die überprüfende Instanz nicht unabhängig ist und daß sie bürokratisch arbeitet, also erst nach langen Zeitabläufen zu einem Ergebnis kommt (vgl. Orihuela 1991: 11). Wenn der Bürger seine Hoffnung schon kaum auf die defizitären Verwaltungsgerichte setzen kann, um wie viel weniger kann er es auf die interne Verwaltungskontrolle. Hier hat der Bürger in der Regel das Gefühl, der Verwaltung, ihren Rechtspraktiken und ihrer Ermessensausübung geradezu hilflos ausgeliefert zu sein (Hochmann 1991: 231; Orihuela 1991: 231; Chacón 1991: 7). Genauso vernichtend fallt das Urteil des ehemaligen guatemaltekischen Menschenrechtsbeauftragten und späteren Staatspräsidenten Ramiro de León Carpió (1994) aus: Das "triste pero realista diagnóstico" der Verwaltung ist gekennzeichnet von generalisierter Korruption, Sachverhaltsmanipulation, dem Fehlen kritischer Massenmedien, ungerechter Rechtsanwendung, Straflosigkeit von Verbrechen (impunidad) und politischer Gewalt. Zielt diese Beschreibung zwar unmittelbar auf die guatemaltekische Situation ab, so gilt sie doch in ähnlicher Weise für die meisten anderen lateinamerikanischen Staaten, die erst jetzt langsam Reformen des Justizwesens und der Verwaltung einleiten (León Carpió 1994). Unter diesen Rahmenbedingungen ist die verwaltungsinterne Kontrolle in Lateinamerika weitgehend wirkungslos und scheidet als effektives Kontrollelement definitiv aus. 10. Unabhängige Staatsanwaltschaft Die Figur der unabhängigen Staatsanwaltschaft existiert in einigen lateinamerikanischen Ländern, wie die Fiscalía General de la República in Venezuela, und stellt ein wichtiges Element in der Reformdiskussion dar. In ihren Aufgaben entsprechenden westeuropäischen Behörden vergleichbar, wird sie jedoch nicht vom Justizministerium, sondern von der Volksvertretung bestellt, besitzt Unab234

hängigkeit gegenüber der Exekutive und eine ebenso starke demokratische Legitimation wie der Ombudsmann. Ihre allgemeinen Aufgaben auf dem Gebiete der Strafrechtspflege, der Gerichtsverwaltung und des Srafvollzugs umfassen auch das Einschreiten gegen Verwaltungsunrecht, das strafrechtlich relevant ist. Dazu gehören Fälle von Korruption und Bestechlichkeit im Amt. Darüber hinaus kann die Staatsanwaltschaft Disziplinarverfahren gegen Beamte einleiten. 11. Dezentralisierung Die lateinamerikanische Literatur handelt die Dezentralisierung sehr wohl auch unter dem Thema Verwaltungskontrolle ab, jedoch eher unter dem Aspekt der hierarchischen Kontrolle (tutela) über Selbstverwaltungskörperschaften. Anders als hier intendiert, ist von solchen Autoren beabsichtigt, den als zu breit befürchteten Gestaltungsspielraum der Gemeinden einzuengen (vgl. Real 1976: 87ff.). Wird das breit angelegte und diskutierte Dezentralisierungskonzept auf den Fall der Devolution eingegrenzt, so kann es unter dem Gesichtspunkt der Verwaltungskontrolle nutzbar gemacht werden. Unter Devolution wird die Übertragung von Kompetenzen und Ressourcen von nationalen auf subnationale Verwaltungskörperschaften verstanden, wobei auch die Verantwortung für die übertragene Aufgabe mit übergeht. Zunächst einmal ist durchaus die Frage zu stellen, ob in einem solchen Prozeß der Machtverlagerung auf viel mehr Stellen und Menschen nicht mehr Kontrolle verloren geht als gewonnen wird. Dabei wird aber übersehen, daß Ausgangspunkt für fast alle Dezentralisierungsreformen die Tatsache ist, daß die zentralistisch aufgebauten Verwaltungen wegen der wachsenden Komplexität der Verwaltungsmaterie immer weniger in der Lage sind, zutreffende Entscheidungen zur rechten Zeit zu treffen sowie eine wirksame Kontrolle zu gewährleisten. Die kleineren dezentralen Verwaltungseinheiten zeichnen sich dadurch aus, daß der Bürger eine aktive Rolle bei der Vorbereitung und Durchführung öffentlicher Entscheidungen treffen kann. Dies beinhaltet bereits ein wichtiges Element der Verwaltungskontrolle. Darüber hinaus können Bürger oder Interessengruppen das Verwaltungsverhalten anhand von Auffälligkeiten oder offensichtlichen Mißständen leichter kontrollieren, als es ihnen auf Zentralebene möglich wäre. Der Bürgermeister, der trotz relativ bescheidener Finanzmittel Porsche fahrt und teure Auslandsreisen unternimmt, muß sich kritische Fragen hinsichtlich der Verwendung der öffentlichen Haushaltsmittel gefallen lassen. Bei einem Minister der Zentralregierung muß ein solches Verhalten nicht einmal auffallen.

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V. Bewertung und Ausblick Lenin wird der Ausspruch zugerechnet: "Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser." Allerdings folgt der Verfasser nicht der undifferenzierten Kontroll-Unkultur, die diesem Gedanken zugrunde liegt. Entscheidend ist vielmehr, durch wen und wie die Kontrollfunktion wahrgenommen wird. Verwaltungskontrolle ist eine Machtfrage, also untrennbar verbunden mit der Antwort auf die Frage, wer die politische Macht in der Gesellschaft ausübt. In einem totalitären Regime kann es keine Verwaltungskontrolle geben, ist sie ein Widerspruch in sich. Das Beispiel des KZ-Wächters in Auschwitz, der exemplarisch streng bestraft wird, weil er den Häftlingen weggenommene Gegenstände gestohlen hat, wird zu Recht als groteskes Ordnungselement in einem Unrechtsregime empfunden, das die Grundlagen jeglicher menschlicher Ordnung auf den Kopf gestellt hat. Autoritäre Instrumente von Verwaltungskontrolle greifen zu kurz: Ohne offene Gesellschaft kann es keinen Rechtsstaat geben, sagt Karl Popper (1977: 268). Die Lösung der Probleme einer unzulänglichen Verwaltungskontrolle liegt deshalb auch nicht in einer Anpassung technischer Instrumente, dies wäre ein Kurieren am Symptom. Das erklärt auch, weshalb die Übertragung von funktionierenden Modellen des Nordens in einen anderen gesellschaftlichen Kontext des Südens häufig scheitert. Viele der Defizite, die auch auf dem Gebiete der Verwaltungskontrolle in Lateinamerika anzutreffen sind, beruhen nicht auf technischen Details, die unzulänglich geregelt sind, sondern auf ungünstigen Rahmenbedingungen (vgl. Nolte 1996). Wirksame Verwaltungskontrolle muß sich deshalb an Konzepten emanzipatorischer Gesellschaftsentwicklung orientieren, oder - anders ausgedrückt - an einer Stärkung der Zivilgesellschaft (vgl. Real 1976: 87ff.). Mit der Orientierung an der politischen Machtfrage soll keineswegs einer Alles-oder-Nichts-Strategie das Wort geredet werden. Im Gegenteil kann und muß die Machtfrage graduell angegangen werden, sonst würde lediglich eine Apologetik für Inaktivität und Stillstand geliefert. Allerdings muß die Stoßrichtung des Reformprozesses stimmen, er muß eine schrittweise Verstärkung demokratischer Kontrollelemente bewirken. Richtschnur für Reformvorschläge ist also, ob die Kontrollelemente tendenziell die Zivilgesellschaft stärken oder eine autoritäre Machtausübung fordern. Eine weitere Rahmenbedingung für effektive Verwaltungskontrolle ist, daß Rechtsstaatlichkeit und wirtschaftliche Prosperität einander bedingen. Rechtsstaatsentwicklung setzt wirtschaftliche Prosperität voraus (vgl. Karpen 1994: 213). Wirtschaftliche Prosperität setzt wiederum berechenbare administrative Entscheidungen voraus, also u.a. effektiven Investitionssschutz und ein niedriges Korruptionsniveau (vgl. World Bank 1997: 13). Maßnahmen, die eine kompetitive Wirtschaftsentwicklung fördern und/oder die die Verwaltungskraft

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stärken, verbessern auch die Rahmenbedingungen für wirksame Verwaltungskontrolle. Positiv beurteile ich deshalb Ansätze, die die Funktion des Parlaments stärken, weil sie auf den Ausbau der Demokratie gerichtet sind. Hierzu zählen die Kontrollinstitutionen, die vom Parlament eingesetzt werden: • Ombudsmann, • Rechnungshof, • Petitionsausschuß und • die unabhängige Staatsanwaltschaft. Sie können zwar auch kumulativ keine Wunder bewirken, weil sie nur so stark sind wie das sie legitimierende Verfassungsorgan und auf die politisch-sozialen Ursachen des Kontrollversagens - die Rahmenbedingungen - nur graduell und indirekt einwirken. Sie leisten aber Beiträge zur Entwicklung demokratischen Bürgersinns und zur Veränderung der Tiefenstruktur einer Gesellschaft. Eine Stärkung verwaltungsinterner Kontrolle verspricht nur dann effektiven Schutz gegen Verwaltungsunrecht, wenn sie mit einem Ausbau von Partizipation einhergeht. Das Modell der mit Bürgern besetzten kommunalen Widerspruchsausschüsse ist ein Instrument, dem in der gegenwärtigen Diskussion zu wenig Beachtung geschenkt wird. Ebenso ist die (Wieder-)Einführung traditioneller indigener Kontrollorgane anzustreben, wenn sie in der Praxis noch nicht durch gegenläufige koloniale Einflüsse verschüttet sind, da sie ein Stück gelebter Demokratie darstellen. Die politische Stärkung der lokalen Ebene durch Devolution staatlicher Entscheidungsbefugnisse stellt auch ein wirksames Instrument zur Verwaltungskontrolle dar: Über den luxuriösen Lebenswandel machen sich die Gemeindeeinwohner viel eher Gedanken, als es die Landesbevölkerung tun könnte im vergleichbaren Fall eines Ministers. Sicherlich leisten in Deutschland die Verwaltungsgerichte einen bedeutenden Beitrag zur Verwaltungskontrolle, vor einer Übertragung in den lateinamerikanischen Kontext möchte ich allerdings eindringlich warnen. Solange die Rahmenbedingungen für ein rechtsstaatlich wirksames, korruptionsresistentes Justizwesen nicht gegeben sind, sollte dieser Reformansatz nicht verfolgt werden. Aus Gründen der Kosteneffizienz wäre die Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit ohnehin zum Scheitern verurteilt. Es gibt nicht ein Modell, das als Königsweg der Verwaltungskontrolle zu empfehlen wäre. Die Vielfalt und der Mix der Kontrollinstitutionen und -instrumente ist einem solchen Ansatz überlegen (vgl. auch Püttner 1996/97: 673), weil so für Lösungen Raum geschaffen wird, die sich gegenseitig ergänzen und überlagern. Ein Pluralismus von Kontrollinstitutionen beugt auch dem Entstehen einer übermächtigen Kontrollinstanz vor, die das beherrschende Element im Spiel der politischen Machtausübung werden könnte; er leistet also einen mehrstufigen Beitrag zur Stärkung des Prinzips der checks and balances in einem entwickelten Rechtsstaat. 237

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Carola Schmid

Justiz im Alltag: Die Rolle der Polizei in Lateinamerika I. Zur Polizei als Analyseobjekt der Demokratisierungsforschung Mit dem Niedergang der lateinamerikanischen Militärregime ab Mitte der 80er Jahre ging vielerorts die Hoffnung einher, die Menschenrechtsverletzungen in Lateinamerika würden nunmehr der Vergangenheit angehören. Wie man bald erkennen mußte, ist dem jedoch nicht so. Die Haupttäter in Sachen Menschenrechtsverletzungen sind inzwischen jedoch nicht mehr die Militärs, sondern die Polizisten. Sie betreiben in vielen lateinamerikanischen Ländern auf willkürlichste Weise Straßenjustiz (Waldmann 1996). Trotzdem ist die Polizei ein seltenes Analyseobjekt der Demokratisierungsforschung geblieben. Bei einer genaueren Betrachtung offenbaren sich dagegen - zusätzlich zu ihrer Täterschaft bei Menschenrechtsverletzungen - mindestens drei gute Gründe, dafür zu plädieren, die Institution Polizei in das Zentrum dieser Diskussion zu rücken: •

Erstens nützt ein formaler Rechtsstaat niemandem, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Organe im Alltag effektiv an das Recht zu binden. Dies gilt für alle seine Institutionen, für die Polizei aber in besonderem Maße, weil es ihre ureigene Aufgabe ist, Recht gegenüber der Bevölkerung durchzusetzen. Eine Institution mit dieser Aufgabe muß sich selbst an das Recht halten, wenn sie nicht das gesamte Rechtssystem verunglimpfen will. • Zweitens begegnen die Bürger dem Staat im Alltag sowohl als Täter als auch als Opfer am nachdrücklichsten, wenn sie mit der Polizei zu tun haben, weil

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diese Institution an der Schnittlinie zwischen Staat und Gesellschaft steht. Das Vertrauen in den Staat steht und fallt prinzipiell mit solchen Begegnungen. Im Falle Lateinamerikas sind sie aber noch sensibler, weil die Polizei durch ihre Verwicklungen in vorangegangenen grausamen Militärregimen jeden Vertrauensvorschuß verspielt hat. • Drittens ist Kriminalität eines jener Phänomene, das die Menschen in aller Welt in ihrer Lebensweise beeinträchtigt. Gelingt es einer Regierung nicht, sie auf ein erträgliches Maß zu reduzieren, so beeinträchtigt dies das Vertrauen in die Politik zusätzlich und schadet in sich demokratisierenden Staaten deren Konsolidierung. Nun ist die Kriminalität zwar nicht nur durch polizeiliche Maßnahmen zu reduzieren, immerhin ist sie aber eines der Haupttätigkeitsfelder der Polizei. Angesichts der Bedeutung der Polizei für eine substantielle Demokratie ist es fatal, daß kaum Material über die Polizeien der sich demokratisierenden Gesellschaften zur Verfügung steht. Die Informationen, die für Lateinamerika bis jetzt vorliegen, gehen fast ausschließlich auf die Vorarbeiten zu unserem erst im Juli 1997 angelaufenen Forschungsprojekt' zurück (eine der wenigen Ausnahmen ist der Sammelband von Martha Huggins [1991]). Dieses Projekt fragt nach den Faktoren, die die Polizei zu ihrem Handeln treiben, und nimmt mithin die Steuerbarkeit oder Reformierbarkeit der Polizei ins Visier. Der Artikel gliedert sich in zwei Hauptteile. Im ersten Teil wird zunächst eine ernüchternde Bilanz der Rechtsverstöße der lateinamerikanischen Polizeien gezogen. Anhand von zwei Länderbeispielen wird im Anschluß daran dargelegt, daß auch eine langjährige Demokratie keine Garantin für eine allmähliche Verfestigung rechtsstaatlicher Verhaltensstandards ist und daß die Polizei betreffende Rechtsreformen in ihrer Reichweite und Tiefenwirksamkeit begrenzt sind. Im zweiten Teil werden die Mechanismen diskutiert, die die Polizei anstelle des Rechts steuern und deshalb bei Reforminitiativen berücksichtigt werden sollten.

II. Zur Steuerbarkeit der Polizei durch Demokratisierung und Rechtsreform 1. Formen und Ausmaß der Rechtsverstöße der Polizei Wie wenig die Polizei in den lateinamerikanischen Demokratien das Recht respektiert, läßt sich an der Häufigkeit ihrer gravierendsten Vergehen zeigen: der illegitimen Gewalt und der Korruption. Die verfügbaren Daten sind zwar noch Gefördert durch die VW-Stiftung im Rahmen des Schwerpunkts Recht und Verhalten.

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nicht sehr systematisch, sie zeigen aber, daß sich seit der Demokratisierung Lateinamerikas hinsichtlich der Menschenrechtsverletzungen nur graduelle Verschiebungen ergeben haben. Peter Waldmann (1994; 1995) hat belegt, daß mit dem politischen Wandel zunächst ein Wandel der Haupttäter- und der Hauptopfergruppen einherging. War der Grundtypus der Menschenrechtsverletzungen während der Militärregierungen ein vom Militär (wenn auch unter freiwilliger oder erzwungener Mithilfe der Polizei) drangsalierter Oppositioneller, so sind heute die Polizisten die in Verruf geratenen eigenständigen Akteure und die von ihnen einer Straftat oder auch nur eines unsoliden Lebenswandels Verdächtigten die Opfer. Anhand der Materialien internationaler Menschenrechtsorganisationen läßt sich ohne jeden Zweifel belegen, daß auch die schlimmsten Praktiken der illegalen Gewaltanwendung im demokratischen Lateinamerika weiterhin an der Tagesordnung sind. Die Belege für Tötungen, darunter insbesondere für Exekutionen, den Mord an wehrlosen Straßenkindern, die Praxis des sogenannten Verschwindenlassens, für Folterungen mit Todesfolge usf. sind wahrhaft vielfältig (siehe Ambos 1997; Waldmann/Schmid 1996; Schmid 1997). Schwieriger ist es, vor dem Hintergrund dieser Daten ein klares Bild darüber zu gewinnen, ob sich die Gesamtsituation seit der Demokratisierung in den jeweiligen Ländern quantitativ besehen verbessert hat. Für den brasilianischen Fall wurde z.B. belegt, daß die Policía Militar ihren Anteil an der Gesamtheit aller Morde seit 1985 noch gesteigert hat. Laut den Daten des Americas Waich Committee gingen 1985 noch 14,9% aller Morde auf das Konto der Policía Militar, 1992 waren es bereits 23,3% (Adorno 1995: 72ff). Brasilien kann jedoch als Ausnahme gelten, weil in den meisten anderen Ländern das Gegenteil der Fall zu sein scheint. So wurde beispielsweise für Chile nach 1989 eine spürbare Verbesserung der Menschenrechtssituation konstatiert (Nolte 1989: 42f; 1996). Gleiches gilt für Argentinien, was sich anhand eines Indikators belegen läßt, der von dem Brasilianer Paul Chevigny eingeführt wurde. Er setzt die Tötungen durch Polizisten in ein Verhältnis zu den im Dienst getöteten Polizisten, um die in den einzelnen Ländern und zu verschiedenen historischen Zeitpunkten unterschiedlich große Bedrohung der Polizei durch Bürger bei der Analyse zu kontrollieren. Dieses Verhältnis lag in Buenos Aires zwischen 1983 und 1985 noch bei 25 : 1 (Chevigny 1991: 200ff.) und konnte sich rund zehn Jahre später laut Julio Maier je nach Region auf 1 5 : 1 bzw. 6 : 1 verbessern2. Trotz dieser positiven Tendenz darf nicht verschwiegen werden, daß die argentinische Polizei sehr viele Menschen umbringt und daß sie im Vergleich zu Getöteten Es lag in der Provinz Buenos Aires bei 15 : 1, in der Hauptstadt bei 6 : 1. Diese Daten sind einem Annex entnommen, den Julio B. J. Maier auf einer Tagung zur lateinamerikanischen Polizei in Panajachel/Guatemala 1995 zur Verfügung gestellt hatte. Sie wurden vom Equipo de Antropologia Politica y Juridica de la Facultad de Filosofia y Letras (Universidad de Buenos Aires) und dem Centro de Estudios Legates y Sociales (CELS), beide mit Sitz in Buenos Aires, zusammengetragen. In dem auf jener Tagung benihenden Sammelband (Waldmann 1996) ist der Annex nicht enthalten.

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wenig Verletzte produziert: Das Verhältnis liegt bei ca. 1 : 1! Dies macht deutlich, daß das Gebot der Verhältnismäßigkeit der Mittel ständig mißachtet wird. Noch beunruhigender ist, daß fast 50% der Taten der argentinischen Polizei als Exekutionen bezeichnet werden müssen, deren UnVerhältnismäßigkeit außer Frage steht (vgl. Maier 1995 in Fußnote 2). Diese Bemessung der Menschenrechtssituation an den Tötungen darf des weiteren nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich bei ihnen nur um die Spitze des Eisbergs handelt. Hinzu kommen andere Formen illegaler Handlungen, wie Körperverletzungen, Vergewaltigungen, Plünderungen und unrechtmäßige Verhaftungen bei Razzien in Armenvierteln usf., über die keine vergleichbar exakten Daten vorliegen. Dem Konto der Polizei können des weiteren die massenhaften Taten der Todesschwadronen zugeschlagen werden, weil deren Mitglieder sich hauptsächlich aus Polizeikreisen rekrutieren. Im Vergleich zu diesen Gewalttaten nehmen sich die Korruptionsfälle relativ harmlos aus, sie lassen aber gleichermaßen auf die mangelhafte Verankerung eines substantiellen Demokratieverständnisses in der Polizei schließen. In den lateinamerikanischen Polizeien findet sich die gesamte Palette der Korruptionsarten von der Erpressung von Geldern für normale polizeiliche Dienstleistungen über die bevorzugte Behandlung gegen Bezahlung bis hin zur fälschlichen Unterstellung von Straftaten, von deren Verfolgung gegen einen Obulus abgesehen wird (siehe die Beispiele bei: Waldmann/Schmid 1996; Schmid 1997). Korrupt, das muß einschränkend gesagt werden, ist selbstredend nicht nur die Polizei. Wenigstens die /ow-/eve/-Korruption hat die lateinamerikanischen Gesellschaften tief durchdrungen und ist sozial akzeptiert (vgl. Pritzl 1997). Die Polizei ist aber aufgrund ihrer Position und ihrer Verfugung über Zwangsmittel eine der korruptionsanfalligsten Institutionen. Deshalb können die Ergebnisse von Transparency International, festgehalten im "Internet Corruption Perception Index" (Transparency International 1997)3, vorsichtig auf die Polizei übertragen werden. Demnach finden sich fast alle lateinamerikanischen Länder im letzten Drittel der Gesamtstichprobe. Die einzigen schwer zu erklärenden Ausnahmen von dieser Regelhaftigkeit stellen Chile und Costa Rica dar. Sie stehen in einer Gruppe mit Frankreich, Japan, Spanien und Griechenland im Mittelfeld.

2. Beispiel Venezuela Eine These besagt, daß dieses unerfreuliche Auftreten der Polizei in den jungen Demokratien Lateinamerikas eine unliebsame Hinterlassenschaft vorangegangener Militärregierungen sein könnte. Die Polizei habe von ihnen VerhaltensDer "Internet Corruption Perception Index" wird jährlich von Transparency Internacional (Berlin) in Zusammenarbeit mit der Universität Göttingen erstellt. Er beruht auf der Befragung von international verkehrenden Geschäftsleuten und vergleicht 1997 Daten zu 32 Ländern.

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Standards übernommen, von denen sie sich in der kurzen seitdem vergangenen Zeit noch nicht lösen konnte. Mit dieser Überlegung geht häufig die Annahme einher, die Rechtsverletzungen durch die Polizei würden sich mit der Dauer der Demokratie auf ein "normales" Niveau einpendeln. Dafür spricht einerseits, daß sich die Menschenrechtssituation, wie eben beschrieben, in einigen Ländern seit der Demokratisierung etwas verbessert hat. Andererseits ist jedoch das venezolanische Beispiel zu berücksichtigen. Venezuela hätte mit über 40 Jahren Demokratie genug Zeit gehabt, um seine Demokratie zu konsolidieren und das Rechtsstaatsprinzip zu verwurzeln. Dennoch sind dort Korruptionsskandale allgegenwärtig. Im soeben zitierten "Internet Corruption Perception Index" nimmt Venezuela mit Kolumbien sogar über die Jahre hinweg stabile negative Spitzenplätze ein (Transparency Internacional 1997). Außerdem sind auch in Venezuela die gewalttätigen Übergriffe der Sicherheitsorgane gefurchtet, wobei die Polizeieinheiten die Militärs, die für nur 4% aller Taten verantwortlich zu machen sind, weit in den Schatten stellen. Von April bis Juni 1997 starben monatlich neun Menschen durch die Hand der Sicherheitskräfte, darunter Folteropfer und Exekutierte (Provea 1997). Diese Zahlen liegen im Vergleich mit anderen lateinamerikanischen Ländern zwar relativ niedrig: Das oben eingeführte Kriterium des Verhältnisses "von Polizisten getöteten Bürgern" zu "von Bürgern getöteter Polizisten" beträgt laut dem venezolanischen Polizeiforscher Luis Gerardo Gabaldón (1996: 272) "lediglich" 3,45 : 1. Im Vergleich zu Europa ist die Zahl aber extrem hoch. In der Bundesrepublik Deutschland wurden bei einer gegenüber Venezuela ca. 3-fachen Bevölkerungszahl seit 1950 jährlich zwischen 5 und 24 Menschen von der Polizei und zwischen 0 und 15 Beamte von Bürgern getötet (Jäger 1988: 8, 18). Damit ist Venezuela ein eindrückliches Beispiel dafür, daß auch eine langjährige und weitgehend stabile demokratische Tradition allein keine Garantin für eine Polizei ist, die die rechtlich vorgegebenen Grenzen ihres Handelns respektiert.

3. Beispiel Kolumbien Zweifellos sind diese rechtlichen Grenzen in Venezuela ebenso wie in anderen lateinamerikanischen Ländern bis jetzt nicht eng genug gezogen, und sie werden nicht konsequent genug kontrolliert (Ambos 1997; Lösing 1996: 393ff.; Gabaldón/Bettiol 1991-1992; Schmid 1997). Deshalb könnte argumentiert werden, daß zwar die Dauer der Demokratie allein keine Wirkung zeitigt, daß sie aber in Kombination mit Reformen des niederrangigen Rechts, die in Venezuela wohl versäumt wurden, Veränderungen zu initiieren imstande ist. Deshalb sei als zweites Beispiel das mit Einschränkungen demokratisch zu nennende Kolumbien angeführt.

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Kolumbien nimmt spätestens seit der jüngsten Gewaltwelle ab Anfang der 80er Jahre bei der Gewaltkriminalität internationale Spitzenplätze ein: In keinem anderen Land kommen sowohl Mord, Raub und Entführungen als auch die schwersten Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte und durch die Unzahl an weiteren Gewaltakteuren derart häufig vor wie in Kolumbien (Ambos 1997; Waldmann 1997). Die Gewalt, aber auch die Korruption, ist in Kolumbien laut Krauthausen (1997: 305fF.) in einer Weise zur Normalität geworden, daß zunehmend diejenigen in einen Nachteil geraten, die sich an die Gesetze halten. Innerhalb des Anteils der Morde, der den Sicherheitskräften zugerechnet wird, kann auch hier der größere Teil der Polizei zugeschrieben werden (Ambos 1997: 26). Daran haben zahlreiche die Polizei betreffende Rechtsund Verfassungsreformen der letzten 10 Jahre wenig ändern können, obwohl diese Reformen durchaus ambitioniert waren. Der erste Teil der Reformen trat bereits 1987 in Kraft. Damals wurden kleine Polizeistationen etabliert, die sogenannten CAIs (Centros de Atenciön Inmediata), die aufgrund ihrer leichten Erreichbarkeit für Bürgernähe sorgen sollten. Dieses Konzept wurde von den Kolumbianern aus Japan übernommen, wo es vorzügliche Erfolge verzeichnen konnte. Japan hat aber eine wesentlich geringere Kriminalitätsbelastung als Kolumbien, und seine Beamten sind bei weitem nicht so korrupt und gewalttätig wie ihre kolumbianischen Kollegen. Außerdem wurden die für ein solches Konzept notwendigen Kontrollen in Kolumbien zwar vorgeschrieben, aber nicht eingehalten. Im Resultat haben die abgelegenen CAIs den illegalen Definitionsfreiraum der Straßenpolizisten für willkürliche Akte deshalb noch erweitert. Ähnlich dysfunktional verliefen Dezentralisierungsbemühungen, die die Polizei an die Weisungen örtlich gewählter Vertreter binden. Diese im Ansatz allgemein positiv gewertete Maßnahme hatte die nichtintendierte Folge, daß die Polizei insbesondere im Hinterland nun häufig direkt narcotraficantes, mafiosos, dem Militär oder der Guerilla unterstellt ist, die ihre Vertreter in Machtpositionen plazieren konnten (Waldmann/Riedmann 1996; Riedmann 1996). Ebenfalls auf dem Papier äußerst fortschrittlich ist das Netz der Kontrollen, denen die Polizei ausgesetzt sein sollte. Die in modernen Polizeigesetzgebungen üblichen Kontrollformen (Busch u.a. 1985: 358ff.) wurden seit der Verfassungsreform von 1991 sogar progressiv erweitert. Die wichtigsten Neuerungen sind die Etablierung eines Ombudsmanns (Defensor del Pueblo) skandinavischen Musters, womit Kolumbien dem Vorbild anderer lateinamerikanischer Länder folgt (Madiener 1996: 27), sowie die Gründung einer speziellen anonymen Einheit für Menschenrechtsfragen (Ambos 1997). Diese Kontrollformen sind jedoch in der Praxis wenig erfolgreich. Zwar gehen regelmäßig Beschwerden gegen die Polizei ein, deren Verhalten bleibt aber meist straffrei. Der Hauptgrund dafür ist die Mauer des Schweigens, die die Polizei umgibt und

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sämtliche Ermittlungen ins Leere laufen läßt (Waldmann/Riedmann 1996; Riedmann 1996: 219ff.). Diesen Korpsgeist der Polizei konnte auch die jüngste Reform des Polizeirechts von 1993 nicht aufbrechen. Diese Reform beinhaltete neben einer Vereinfachung der polizeiinternen Hierarchieebenen, einer deutlichen Verbesserung der Besoldung und einer Aufstockung des Personals vor allem eine Anhebung der Einstellungsvoraussetzungen sowie eine deutlich verlängerte und inhaltlich reformierte Ausbildung: Die der einfachen Polizisten dauert mittlerweile für lateinamerikanische Verhältnisse vorbildliche 18 Monate, die der Offiziere die üblichen drei Jahre (Waldmann/Riedmann 1996: 19f). Mit diesem Wandel war die Hoffnung verbunden, den jungen Polizisten den Gedanken einer rechtstreuen Polizei nahezubringen, was unmittelbar während der Schulung sogar gewisse Erfolge gehabt haben mag. Er läßt sich aber in der kurzen Zeit nicht tief genug verankern, so daß er gegen Widerstände nicht gefeit ist. Auf diese Widerstände treffen die jungen Polizisten in der Person älterer Kollegen, sobald sie ihren Alltagsdienst antreten. Diese Kollegen können in der Mehrzahl der Fälle ihre Dienstauffassung durchsetzen, weil sie den Jüngeren gegenüber aufgrund ihrer Erfahrung und als Dienstvorgesetzte im Machtvorteil sind. Das training ort the job trägt somit dazu bei, daß die Polizeireform systematisch unterlaufen wird. An der Massenhaftigkeit der Rechtsverstöße der kolumbianischen Polizei hat sich folglich wenig geändert, was den Schluß zuläßt, daß eine fortschrittliche Gesetzgebung allein nicht den nötigen Erfolg haben kann.

4. Vorläufiges Fazit Korruption und Gewalt wurden zuvor gemeinsam behandelt, obwohl ins Auge stechende Unterschiede innerhalb der einzelnen lateinamerikanischen Länder bestehen. Die chilenische Polizei gilt z. B. als nur mäßig korrupt und dafür als extrem gewalttätig, für Venezuela trifft das Gegenteil zu, und Kolumbien bricht auf beiden Dimensionen internationale Rekorde. Immerhin scheinen sich, vom Spezialfall Kolumbien einmal abgesehen, die Gewaltakte im allgemeinen mit der Demokratie wenigstens etwas zu reduzieren: Pro 100.000 Einwohner wurden in Brasilien 4,06 (1982), in Argentinien 2,03 (1984), in Venezuela 0,75 (1989-90) und in Costa Rica 0,70 (1982) Personen von Polizisten getötet (Gabaldön 1996: 270). Die Korruption ist schwer meßbar und darüber, wann sie ansteigt oder wann sie reduziert wird, sind kaum Daten zu beschaffen. Sie ist aber wahrscheinlich das noch zählebigere Phänomen. Zu bedenken ist außerdem, daß Gewalt und Korruption eng miteinander verwoben sind, weil wenigstens ein Teil der Korruptionsgelder durch die offene oder subtile Androhung von Gewalt erst erpreßt werden kann: Illegale physische Gewalt wird in diesem Fall in illegitime erpresserische Gewalt überfuhrt. Allgemein sind deshalb 246

voreilige Schlüsse zum Verhältnis dieser polizeilichen Rechtsbrüche zueinander zu vermeiden. Für unser augenblickliches Thema ist die detaillierte Bestimmung dieses Verhältnisses aber verzichtbar, weil beide die Herrschaft des Rechts unterminieren und - wie die beiden Beispiele gezeigt haben - gegen eine einfache rechtliche Steuerbarkeit der Polizei sprechen.

III. Zu den das Recht beeinträchtigenden Mechanismen Es soll auf der Basis der beiden referierten Beispiele nicht behauptet werden, daß Demokratisierung und Rechtsreformen überhaupt keine Folgen für die polizeilichen Handlungen hätten und daß die die Polizei betreffenden Gesetze bereits vollständig demokratischen Ansprüchen genügen würden. Diese Beispiele sind aber deutliche Hinweise darauf, daß der papierene Rechtsstaat allein selbst wenn er lange besteht und selbst wenn Verfassungsreformen und Reformen des Polizeirechts lanciert werden - die Polizei offenbar nicht ausreichend in ihre Schranken weisen kann. Recht ist, in den Worten von Emesto Garzön Valdes (1997) mit Bezug auf die Verfassung ausgedrückt, eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für Rechtskonformität. Deswegen wird in unserer Forschung gefragt, welche Faktoren die Tatsache begünstigen, daß Polizisten das Recht allenthalben unterlaufen. Im Vordergrund stehen die Normensysteme der unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen und Subsysteme. Demnach ist das Verhalten der lateinamerikanischen Polizeien nicht ausschließlich als Abweichung vom Recht beschreibbar, sondern ebenso als informellen und subkulturellen Handlungsanweisungen folgend.

1. Die Unterminierung des Rechts Die Grundüberlegung ist, daß in Lateinamerika eine Unterminierung des formalen Rechts fortschreitet, die seine handlungsleitende Kraft erheblich schwächt und dadurch die informellen Normen indirekt stärkt. Die Annahme einer Unterminierung des Rechts in Lateinamerika baut auf fünf Bündeln von Einzelbefunden. Erstens ist die mangelnde Legitimität der rechtsetzenden Institutionen selbst zu berücksichtigen, die mindestens auf den Kolonialismus zurückgeht. Das Recht wurde seinerzeit vom Mutterland verabschiedet und sollte ohne wirksame Legitimitätsbasis in den Kolonien gleichsam von außen und oben implantiert werden (ein Zug, der sich im übrigen in inhaltlich leicht modifizierter Form bis heute fortsetzt; vgl. Garzón Valdés 1997). Entsprechend reich ist die Literatur an Beispielen dafür, daß das Recht zu jener Zeit nicht nur gebrochen, sondern 247

systematisch unterlaufen wurde. Nicht ohne Grund wird die für Lateinamerika typische Einstellung, der gemäß man das Gesetz ehrt, es aber nicht befolgt (la ley se acata, pero no se cumple), auf die Kolonialzeit zurückgeführt (Garzön Valdes 1997). Von Ausnahmen abgesehen, waren die Regierungen in der Folgezeit zum einen durch Putsche an die Macht gekommene Militärregierungen, zum anderen handelte es sich zwar um zivile Regierungen, sie beruhten aber meistens auf dem Konsens kleiner, bereits traditionell einflußreicher Minderheiten (z.B. der Agraroligarchien), die die Macht in informeller Absprache teilten sowie wechselseitig ausübten und denen, so sie gewählt waren, häufig Wahlbetrug vorgeworfen wurde. Die Legitimationsbasis beider Regimetypen war gleichermaßen brüchig, handelte es sich doch im ersten Fall um blanke Repression, im zweiten um eine prekäre Schein- oder Ersatzlegitimation, die z.B. durch die Bedienung klientelistischer Interessen gestützt wurde (Kornblith 1996: 367ff.; Calcagnotto 1992: 157ff.). Wo sich die Wirtschaft in einer Depression befindet, wie beispielsweise derzeit in Venezuela, sind die Demokratien in ihrer Legitimation folglich sofort zutiefst geschwächt, weil der Klientelismus darauf angewiesen bleibt, daß der Machtüberlegene über verteilbare Ressourcen verfugt. Diese durchgehend mangelhafte Legitimation der politischen Systeme schließt deren jeweilige gesetzgebende Organe mit ein, was die Akzeptanz der erlassenen Gesetze seitens der Bevölkerung reduzieren muß. Zweitens kann in vielen Fällen von einer Illegitimität des Rechts selbst gesprochen werden. Illegitim sind zuvorderst die Erlasse der Militärregime, die Unrecht zu Recht erklärten. In dieselbe Rubrik fallen aber auch noch heute bestehende Rechtssätze, die nicht Tat- sondern Personenmerkmale oder widrige Lebensbedingungen wie Landstreicherei zur Grundlage haben, repressive Spezialgesetze usf. Ihnen ist gemeinsam, daß sie einen immensen Ermessensspielraum eröffnen und willkürliche Verhaftungen provozieren (vgl. Lösing 1996: 393, 395ff.; Maier/Abregü/Tiscornia 1996: 171ff.; Gabaldön/Bettiol 19911992). Drittens hat die in einigen Ländern nur moderate, in anderen Ländern aber extreme politische Instabilität eine rechtliche Instabilität zur Folge. Wo sich nicht nur die Regierungen, sondern Systemtypen in kurzer Folge abwechseln, ist eine Kontinuität des Rechts nicht zu erwarten, weil neue Regime das Recht jeweils ihren Interessen entsprechend zu wandeln oder auszulegen pflegen. Aus der Sicht der Bevölkerung ist davon die für die Rechtssicherheit so wichtige Vorhersehbarkeit der Handlungsfolgen negativ betroffen. Viertens muß die Inkonsistenz des Rechtssystems berücksichtigt werden. Sie ergibt sich zu einem Teil aus der lateinamerikanischen Neigung zu EinzelDie noch weitere Ebenen umfassende Normeninkonsistenz wird in einem kurz vor dem Abschluß stehenden Forschungsprojekt von Peter Waldmann (Universität Augsburg) zum Thema „Diktatur und Anomie" behandelt, das von der VW-Stiftung und FORAREA gefördert wird.

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fallgesetzgebung (Pritzl 1997: 256f), zu einem anderen Teil aus der Praxis der sich abwechselnden Regime. Teils tauschten sie das Recht aus, teils regierten insbesondere die de yücto-Regierungen via Verordnungen, die dem gleichzeitig belassenen Recht zuwider liefen und es überlagerten. Aus diesem Chaos des Erlassens und Wiederaufhebens von Gesetzen (Garzón Valdés 1997) ergibt sich eine hohe Komplexität und Regulationsdichte bei gleichzeitiger geringer Abgestimmtheit des Rechts, die für die Bevölkerung undurchschaubar ist und wenig verläßlich wirkt. Die z.T. willkürliche Rechtsanwendung steigert diesen Zug des Rechts nur noch. Fünftens leidet das Recht schließlich unter der langjährigen Erfahrung seiner Wirkungslosigkeit, die sich aus zwei Merkmalen zusammensetzt. Zum einen aus der normativen und faktischen impunidad (Ambos 1997) der Menschenrechtsverletzungen der vorangegangenen Militärregime, der aktuellen Menschenrechtsverletzungen, der Korruption und der gewöhnlichen Kriminalität, die das Recht endgültig als brüchige Fassade erscheinen läßt. Im Extremfall Kolumbien bleiben augenblicklich etwa 97% aller Morde unsanktioniert (Krauthausen 1997). Die Wirkungslosigkeit des Rechts zeigt sich zum anderen im mangelnden Rechtszugang weiter Teile der Bevölkerung. Darunter leiden sowohl die Bewohner des ländlichen Raums (Brandt 1986) als auch arme Bevölkerungsgruppen in städtischen Vierteln, weil sie eine nur geringe Kenntnis vom Recht haben, das Bestreiten des Rechtswegs ihre finanziellen Möglichkeiten übersteigt usf. Darüber hinaus fuhrt die Unterminierung des Rechts ihrerseits zu einem semi-freiwilligen Verzicht auf die öffentliche Konfliktregelung, weil sich die Menschen von diesem Gang wenig versprechen. Alle diese Befunde treffen natürlich nicht auf ganz Lateinamerika in gleicher Weise zu. Vielmehr variieren sie in ihrer Gültigkeit und Wirkung, weil jedes Land seine eigene Rechtsgeschichte durchlebt hat. In der einen oder anderen Ausprägung und Zusammensetzung haben diese Faktoren aber im gesamten Lateinamerika vergleichbare Auswirkungen. Dem kodifizierten Recht mangelt es an allen wesentlichen Merkmalen der Rechtssicherheit. Der Staat versagt damit sowohl, was seinen Zweck angeht, das friedliche Zusammenleben der Bürger zu sichern, als auch, was die Kontrolle der Einhaltung der selbst gesetzten Regeln betrifft. In der Folge entziehen die enttäuschten Bürger dem Staat (auch auf anderen Gebieten) das Vertrauen (vgl. Krauthausen 1997), und sie sehen wenig Anlaß, das Recht zu befolgen.

2. Informelles Normensystem Die Situation, daß sich inklusive der Polizei kaum jemand am Recht orientiert, wird gelegentlich als durchaus übliche, wenn auch in Lateinamerika besonders große Kluft zwischen Recht und Rechtswirklichkeit beschrieben. Bei einem 249

solchen Ansatz gerät jedoch leicht aus dem Blick, daß sich unterhalb des Rechts nicht einfach "Nicht-Recht" oder Abweichung befinden und daß die Menschen, die das Recht mißachten, nicht gleichbedeutend regellos leben. Vielmehr folgen sie alternativen Regeln, die sowohl in einem komplementären als auch in einem konträren Verhältnis zum Recht stehen können. Der Begriff der Rechtswirklichkeit verleitet außerdem dazu, diese Regeln als vom kodifizierten Recht abhängig zu begreifen. Eine solche Abhängigkeit mag in Fällen gegeben sein, in denen sich formelle und informelle Normen parallel zueinander entwickelt haben, d.h. dort, wo Recht den kulturellen Vorstellungen mal folgt, mal vorauseilt, aber dennoch beide miteinander verwachsen sind. In Lateinamerika dagegen ist es realistischer, davon auszugehen, daß beide Normenebenen relativ unabhängig voneinander sind. Die Gründe dafür sind teils und ursprünglich darin zu sehen, daß das Recht wie in anderen Kolonialländern auch von außen implantiert wurde und fremd blieb, teils darin, daß dieses Recht nie echte Durchschlagskraft entfalten konnte (s.o.). Die Menschen werden dadurch geradezu auf die alternativen Regeln verwiesen, um ihr Zusammenleben zu organisieren. An Beispielen mangelt es nicht: Das Verständnis von Korruption als legitimes Mittel der Interessendurchsetzung und die verbreitete Selbstverständlichkeit, mit der öffentliche Posten ausgebeutet werden, fallen genauso darunter, wie die Legitimierung von Gewalteinsatz und die Lynchjustiz, die aus der Perspektive derer, die sie ausüben, die legale Justiz ersetzen sollen. Bei diesen alternativen Nonnen kann es sich um normative Neuschöpfungen handeln, es können aber auch althergebrachte Regeln sein. In einigen Regionen wurden z.B. von den indígenas vorkoloniale Rechtsvorstellungen sogar über Jahrhunderte hinweg aufrecht erhalten (vgl. Brandt 1986). Gleiches ist aus anderen Teilen der kolonisierten Welt bekannt. Diese Regelsysteme werden häufig als politische Kultur bezeichnet. Aus drei Gründen ist jedoch der Begriff der informellen Normen der für uns geeignetere. • Erstens zielt der Begriff der politischen Kultur explizit auf den Bereich des Politischen (Almond 1993; Berg-Schlosser/Rytlewski 1993). Der ist für die Erforschung der polizeilichen Handlungsmaßstäbe zwar nicht irrelevant, er ist aber zu eng, obgleich das Politische je nach Politikverständnis unterschiedlich weit gefaßt sein kann. Informelle Normen können sich dagegen prinzipiell auf alle Handlungsbereiche erstrecken. • Zweitens bezeichnet die politische Kultur in ihrer geläufigsten Definition die Wertebene (Almond 1993; Berg-Schlosser/Rytlewski 1993), die prinzipiell schwer zu fassen ist. Sie ist zwar in einem gewissen Rahmen empirisch abfragbar; Werte, Einstellungen usw. sind aber nicht notwendig handlungsbezogen (und nicht sanktionierbar), und Einstellung und Verhalten klaffen oft sehr weit auseinander. Normen, die sich aus Werten ableiten, haben dagegen den Vorteil, daß sie konkrete Handlungsanweisungen für bestimmbare Situa250

tionen sind, und sie sind in der Mehrzahl der Fälle sanktionsbewehrt. Diese Charakteristika machen sie empirisch faßbarer, weil Handlungen und Sanktionen beobachtbar sind. • Drittens geht der Begriff der politischen Kultur schließlich von einer gewissen Einheitlichkeit der Normvorstellungen über die gesamte Bevölkerung hinweg aus. Bei der Feinanalyse wird dagegen stärker ins Gewicht fallen, daß die politische Kultur in den verschiedenen Ethnien, Schichten, Regionen sowie Institutionen differiert (vgl. Thesing 1994: 12ff.): Die lateinamerikanischen Juristen beispielsweise dürften andere Normvorstellungen verinnerlicht haben als Polizisten. Die informellen Normen sind demnach nochmals untergliedert. Als Bezeichnung dafür bietet sich der Begriff der Subkultur an.

3. Subkultur der Polizei Was für die politische Kultur gesagt wurde, gilt allerdings auch für die informellen Normen in Subkulturen: Sie können ein zählebiges Hindernis für die Demokratisierung und den Rechtsstaat darstellen. Deshalb, darüber sind sich die maßgeblichen Autoren einig (vgl. Ambos 1997: 346; Pritzl 1997: 256f.), sei die politische Kultur durch einen gesamtgesellschaftlichen Lernprozeß dringend zu wandeln. Für die Subkultur der Polizei ist ein solcher Lernprozeß aufgrund ihrer Schlüsselstellung besonders wünschenswert. Seine Initiierung setzte aber die möglichst präzise Kenntnis des normativen Ist-Zustands voraus, um die zu erwartenden Widerstände und Konterstrategien abschätzen zu können. Nun könnte argumentiert werden, daß es sich bei den Übergriffen der Polizei um individuelle Akte und nicht um ein an subkulturellen Normen orientiertes Verhalten handelt. Dies ist jedoch sowohl angesichts der Masse der Übertretungen unwahrscheinlich als auch angesichts der Tatsache, daß die Polizisten sich gegenseitig vor strafrechtlicher Verfolgung schützen. Die Existenz einer spezifisch polizeilichen Subkultur bestätigt des weiteren die internationale Polizeiforschung (vgl. zusammenfassend Schmid 1996). Sie hat zwar bisher Lateinamerika kaum berücksichtigt, unsere Vorstudien deuten aber daraufhin, daß die lateinamerikanische Polizei mit ihren Kollegen an anderen Orten dieser Welt etliche Merkmale teilt5. Der wichtigste Grund für die Subkulturbildung dürften demnach dem Polizeiberuf immanente strukturelle Spannungen sein, worunter insbesondere das ambivalente Verhältnis zwischen Polizei und Bürgern zu zählen ist. Die Polizei soll die Bürger gleichzeitig schützen und verfolgen, die '

Eine noch genauere Differenzierung ergibt, daß auch das Verhältnis zwischen den einfachen Polizisten und den Offizieren sehr ambivalent ist. Deshalb haben die Offiziere nur eine eingeschränkte Kontrollmacht aber die Truppe (Punch 1980). In Lateinamerika wird diese Tendenz z.T. noch dadurch gefördert, daß die Mitglieder der verschiedenen Hierarchieebenen unterschiedlicher sozialer und/oder ethnischer Herkunft sind und ihre Ausbildung strikt getrennt erfolgt. Vgl. die Aufsätze in Waldmann (1996); Waldmann/Riedmann (1996); Schmid (1996).

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Bürger ihrerseits fordern und furchten die Polizei gleichermaßen. Bei den Polizisten führen diese Spannungen zu Statusunsicherheit, erwecken ein Gefühl des permanenten Angegriffenseins und schüren den Eindruck, sie könnten nur unter ihresgleichen Verständnis für ihre Lage finden (Holdaway 1984; zusammenfassend Schmid 1996). Inhaltlich gilt es darzulegen, inwieweit sich die polizeiliche Subkultur in Lateinamerika von anderen Normensystemen abhebt. Was einerseits ihr Verhältnis zum kodifizierten Recht anbelangt, so wurde ihr Abstand bereits zur Genüge dargelegt. Andererseits ist zu fragen, wie sehr die Polizisten von den Handlungsvorstellungen der Bevölkerung abweichen. Gegen allzu große Unterschiede spricht, daß auch die Bürger das Recht aufgrund seiner Unterminierung gewohnheitsmäßig brechen und, das wurde bereits in früheren Aufsätzen ausgeführt (Waldmann/Schmid 1996; Schmid 1997), daß sich bei einer genaueren Betrachtung der Vorstellungen vieler Bevölkerungsteile in der Tat zeigt, daß sie die Korruption stützen (vgl. Pritzl 1997: 20f.) und ein hartes Vorgehen gegenüber Straftätern prinzipiell für adäquat halten. Der dennoch zwischen Polizei und Bevölkerung feststellbare Unterschied in der Einstellung zu den Rechtsbrüchen ist ein gradueller. Zahlen viele Bürger bei echten Verkehrsvergehen noch freiwillig an den Polizisten, um das höhere offizielle Verwarnungsgeld zu vermeiden, so wollen sie doch nicht, daß ihnen Vergehen untergeschoben werden. D.h., sie sind zwar willens, gemeinsam mit dem Polizisten den Staat zu betrügen, wollen aber nicht willkürlich erpreßt werden. Hinsichtlich der illegalen Gewalt durch die Polizei ist es ähnlich. Wo die Gewalt gegen vermeintliche Kriminelle wenigstens scheinbar der von der Bevölkerung geforderten Effizienzsteigerung der Polizei dient, sind weite Teile der Bevölkerung einverstanden, nicht aber, wo die Gewalt unberechenbar und sadistisch wird. Für die Begründung der gegenüber anderen Ländern spezifisch lateinamerikanischen Ausprägung der Subkultur der Polizei können drei Faktoren ins Feld gefuhrt werden. Erstens seien die in der Tat hohen Kriminalitätsraten Lateinamerikas genannt, die die ohnehin in fast jeder Polizei vorkommenden Vorstellungen, hart durchgreifen zu müssen, anheizen. Wesentlich sind des weiteren die autoritär-militärischen Züge der dortigen Polizeien, die nicht nur durch vorangegangene Militärregime produziert sind. Der Doktrin der Nationalen Sicherheit, die in den lateinamerikanischen Demokratien gleichermaßen rezipiert und auf die einfache Kriminalität übertragen wurde, kommt eine ebenso prominente Rolle zu. Sie trug wesentlich zu der Vorstellung bei, gegen Kriminelle nicht nur hart vorgehen, sondern einen regelrechten "Krieg" gegen sie fuhren zu müssen (Schmid 1997). Die Dauer dieser Einflüsse verfestigte die gewaltbejahenden Handlungsmaßstäbe in einer Weise, daß sie durch das training on the job noch lange nach dem auslösenden Impuls von Generation zu Generation weitergegeben werden, und sie produzieren einen brain drain innerhalb der Subkultur: 252

Diejenigen, die sich an das Recht zu halten beabsichtigen, geraten in eine nachteilige Position und wandern ab (Pritzl 1997: 129). Ein letzter Faktor ist die in Lateinamerika ausgeprägte Fragmentierung der Gesellschaft, der mit der zu den Kernbeständen der internationalen Polizeiforschung zählenden These korrespondiert, nach der die Polizei um so mehr zur Gewalt neigt, je heterogener ihr Einsatzgebiet in sozialer Hinsicht zusammengesetzt ist (Wilson 1968). Das herausragende Element der polizeilichen Subkultur ist aber ihr Korpsgeist, der dem Gefühl entspringt, nur ein Polizist könne einen Polizisten verstehen. Dies fuhrt zum wichtigsten Gebot innerhalb der Polizei: zum Gebot absoluter Solidarität und Verschwiegenheit (Waldmann/Riedmann 1996; zusammenfassend Schmid 1996; für die Bundesrepublik Deutschland zuletzt Maibach 1996). Wenn ein Fehlverhalten eines Polizisten überhaupt sanktionswürdig erscheint, so herrscht die Auffassung vor, daß er innerhalb der Institution zur Rechenschaft gezogen werden sollte. Fast scheint es so, als hätten ausgerechnet die Polizisten die Logik des Gefangenendilemmas in seiner Konsequenz begriffen. Auf diesem Wege blocken sie die Kontrollversuche ab, was sämtliche Kontrollinstanzen zu spüren bekommen. Gleiches droht Reformen des Polizeirechts, die die Perspektive der Polizisten nicht berücksichtigen. Durch rigide Überwachung allein kann die Polizeiarbeit nämlich nur in Maßen kontrolliert werden, weil die Arbeit des Streifenpolizisten auf der Straße stets einen gewissen Autonomiespielraum beinhaltet und beansprucht, da sie schnelles und flexibles Handeln erfordert (vgl. Reiss/Bordua 1967). Reformen, die diesen Anforderungen aus der Sicht der Polizei nicht genügen, werden deshalb, das zeigt die amerikanische und europäische Forschung sehr deutlich (Holdaway 1984; Westley 1972; Schmid 1996), "funktional angepaßt". In den lateinamerikanischen Ländern dürften diese Anpassungsprozesse mangels der Wirksamkeit des Rechts wesentlich drastischer ausfallen.

IV. Abschließende Überlegungen Abschließend muß darüber nachgedacht werden, wie Polizisten ausgebildet werden können, die mit den ihrer Arbeit immanenten Freiräumen verantwortungsbewußt umzugehen vermögen, und ob unter den gegebenen Umständen weitere Rechtsreformen nichtintendierte Folgen haben könnten. Wenn nämlich mit hoher Wahrscheinlichkeit erwartet werden kann, daß Rechtsreformen unterlaufen werden, kann dies die Unterminierung des Rechts vertiefen. Deswegen ist die Umsetzung der augenblicklichen, den demokratischen Standards wenigstens weitgehend entsprechenden Gesetzgebung mindestens ebenso wichtig wie weitere Rechtsreformen (vgl. Garzón Valdés 1997). Langfristig verspricht die Produktion von Synnomie (Adler 1983; Westley 1972), d.h. die Harmonisie253

rung der informellen Normen mit dem Recht, mehr Erfolg als Kontrollmaßnahmen. Freilich ist es schwerer, informelle Normen zu wandeln, als kodifiziertes Recht zu reformieren. Nur weil es schwer ist, darf es aber nicht unversucht bleiben.

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Wolfgang S. Heinz

Rechtsberatungsprogramme in der Entwicklungszusammenarbeit Erfahrungen im internationalen Vergleich1 Rechtsberatungsprogramme werden seit Jahrzehnten vor allem in der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit (EZ) durchgeführt. Mit den weltpolitischen Veränderungen seit 1989 gewannen sie an Bedeutung. Nach dem Ende des OstWest-Konflikts wurde zunehmend nach den politischen Rahmenbedingungen erfolgreicher Entwicklung gefragt, wie in Deutschland zuerst das Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) über politische Rahmenbedingungen aus dem Jahr 1990 (BMZ 1990) und nachfolgend die Diskussion über politische Konditionalität deutlich machten. Die neue Gewichtung politischer Rahmenbedingungen fand ihren Ausdruck in den fünf politischen Kriterien von Bundesminister Spranger von 1991 (Spranger 1991), die Umfang und Art der Entwicklungszusammenarbeit von den Kriterien marktfreundliche Wirtschaftsordnung, entwicklungsorientiertes Regierungshandeln, politische Beteiligung der Bevölkerung, Achtung der Menschenrechte und rechtsstaatliche Verhältnisse abhängig machten. Im gleichen Jahr verabschiedete die Europäische Union ähnliche Kriterien (Europäische Union 1991). In der Wissenschaft hat sich eine umfassende Diskussion über Möglichkeiten und Grenzen der Unterstützung von Demokratisierungsprozessen durch Entwicklungszusammenarbeit entwickelt (Heinz 1994; Erdmann 1996). Die Diskussion über den spezifischen Beitrag der Förderung des Rechtsstaates und Rechtsbewußtseins scheint dagegen eher noch 1

Der Beitrag basiert auf einem 1996 für die Deutsche Gesellschaft filr Technische Zusammenarbeit (GTZ) erstellten Gutachten.

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am Anfang zu stehen. Es existieren keine einfachen, allgemeinen Modelle, Förderungsprogramme oder Sektorpapiere, an denen man sich orientieren könnte. Daher muß auch in diesem Beitrag eklektizistisch vorgegangen werden, indem an den verschiedenen Aktivitäten angesetzt wird. Nach einer kurzen Verortung von Rechtsprojekten als konstitutivem Element von Demokratisierungsprozessen wird ihre relative Bedeutung innerhalb der Demokratieforderung durch die EZ diskutiert. Ausführlicher werden die Erfahrungen ausgewählter Geber2, wie Deutschlands, der Niederlande, Skandinaviens, der USA, der Europäischen Union und der Weltbank behandelt. Abschließend werden die wichtigsten Lektionen für erfolgreiche Rechtsberatungsprogramme dargelegt, die aber natürlich kein geschlossenes Modell oder Programm darstellen.

I. Zum politischen Verständnis von Rechtsprojekten Im Vordergrund dieses Beitrages stehen Projekte und Erfahrungen, bei denen die Förderung von Rechtsbewußtsein, Rechtsinstitutionen und anderen Dimensionen des Rechtsstaates (Thesing 1997) direkt oder indirekt zur Konsolidierung der Demokratie beitragen sollen. Beispiele hierfür sind: • das Verfassungsrecht im Sinne der Überprüfung, ob Gesetze mit den in der Verfassung niedergelegten Grundwerten und Staatszielen übereinstimmen; • das Verwaltungsrecht, bei dem der Staatsbürger staatliches Handeln von der Justiz überprüfen lassen kann; • das Strafrecht, bei dem die Grundrechte des oder der Angeklagten während der Voruntersuchung und dem Gerichtsverfahren respektiert werden sollen, aber auch • das Zivilrecht, etwa bei Landkonflikten zwischen Kleinbauern und Großgrundbesitzern. Allgemein soll durch das Recht sichergestellt werden: • die körperliche und seelische Unversehrtheit des einzelnen angesichts möglicher staatlicher, aber auch privater Übergriffe; • die Einhaltung fundamentaler Menschenrechte, die der Artikulierung, der Organisierung und der Vertretung individueller und von Gruppeninteressen innerhalb der Grenzen demokratischer Gesetze dient (Meinungs-, Versammlungs-, Vereinigungsfreiheit etc.); 2

Ich bin mir der paternalistischen Bedeutung dieses Begriffs (engl, donor) bewußt, aber er ist in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit immer noch verbreitet. Bei den hier dargestellten Erfahrungen handelt es sich ganz Uberwiegend um staatliche EZ oder Technische Zusammenarbeit (TZ). Die Aufarbeitung der Erfahrungen privater EZ steht noch weitgehend am Anfang.

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• die politische Beteiligung der Bevölkerung auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene, sowohl in Fragen der Entwicklung des Landes als auch in anderen Bereichen, etwa wenn Institutionen zur Wahlkontrolle Teil des Justizsystems sind (es ist hier daran zu erinnern, daß auch politische Teilhabe als Menschenrecht kodifiziert ist, vgl. Art 25 des Paktes der Vereinten Nationen von 1966 über bürgerliche und politische Rechte); • die Einhaltung auch der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte, die in Verfassungen und Gesetzen sowie in internationalen Menschenrechtsabkommen definiert sind. Die daraus folgenden spezifischen Staatenpflichten werden zunehmend vom UN-Komitee für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte in "Allgemeinen Kommentaren" genauer definiert (wie vom UN-Menschenrechtsausschuß bei den bürgerlichen und politischen Rechten). Bei der Durchsetzung einer stärkeren politischen Beteiligung der Bevölkerung spielt die Justiz eine eher indirekte Rolle; sie soll v.a. •

über das Verfassungs- und Verwaltungsrecht Rechte des einzelnen gegenüber dem Staat schützen, einschließlich des Anspruchs auf Entschädigung bei Fehlverhalten staatlicher Stellen und Funktionäre; • die Ansprüche von armen Bevölkerungsschichten gegenüber politisch, wirtschaftlich und/oder sozial überlegenen Akteuren sicherstellen (Landrechte z.B.) und die hier weit verbreitete Straffreiheit von Elitenangehörigen abbauen helfen 3 ; sowie

In den 80er Jahren wurde zuerst in Nord-, dann in Südamerika und in Asien ein neuer Ansatz der Entwicklung durch Recht propagiert. Rechtsnonnen sollten genutzt werden, um aktiv und vorbeugend die Interessen benachteiligter Bevölkerungsgruppen zu vertreten (vgl. Bryde 1986: 11 (T.; Brandt 1988; Espiritu 1988). Rechtshilfe wurde jetzt, so Hans-JUrgen Brandt, ein langjähriger Rechtsberater der Friedrich-NaumannStiftung in Peru, "als ein Instrument der Demokratisierung von Macht und der Veränderung der ökonomischen und sozio-politischen Rahmenbedingungen gesehen. Die Arbeit des Juristen erhielt eine entwicklungspolitische Orientieiung. Zum Recht zählen auch internationale Prinzipien, Konventionen, selbst wenn der betreffende Staat sie nicht anerkannt hat, femer das Gewohnheitsrecht, wobei veisucht wird, ungerechte bzw. anachronistische Rechtsgewohnheiten durch Bildungsarbeit zu Uberwinden. Das Recht wird als Mittel des Kampfes für Freiheits- und Gleichheitsrechte, ftlr politische Partizipation, für eine gerechte ökonomische Ordnung, ftlr soziale Leistungen des Staates, gegen Unterdrückung, Willkür und Menschenrechtsverletzungen eingesetzt" (Brandt 1993: S). Zielgruppen dieses Projekttyps waren u.a. Fischer, Kleinbauern, Landarbeiter, Slumbewohner, Frauengruppen, Gewerkschaften, ethnische Minderheiten. Wesentliche Elemente dieses auch legal resources approach genannten Ansatzes sind: - Stärkung von Basisorganisationen vor Ort, damit diese ihre eigenen Interessen gegenüber Staat und Justiz vertreten. Ohne eine gut organisierte "Klientelgruppe" funktionieren Justizreformen meist nicht, weil der Faktor politischer Druck von zentraler Bedeutung dafllr ist, daß es die zuständige Bürokratie innerhalb des Staates mit Reformbestrebungen ernst nimmt; - frühzeitig gut vorbereitete "Modellfälle" vor Gericht zu bringen, in denen die Interessen der armen Bevölkerung vertreten werden. Der Rechtsanwalt wird von dem organisierten Teil dieser Bevölkerung hierzu beauftragt; - der Auf- und Ausbau von Rechtshilfe fUr die Armen soll eine bessere Stellung dieser Bevölkerungsgruppe im Gerichtsverfahren sicherstellen; und - die Ausbildung von Laienrichtern soll die Bevölkerung an der Zivilgerichtsbarkeit und, in klar umrissenen Grenzen, auch an dem einfachen Strafrecht beteiligen (Schöffen, Laienrichterausbildung).

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• den rechtsstaatlichen Rahmen für Meinungs-, Organisations- und Versammlungsfreiheit (Vereins- und Mediengesetze z.B.) setzen und ausfüllen. Besonders in Krisensituationen, wie in Zeiten von Ausnahmeinistand und Militärdiktatur, kann der Beitrag der Justiz zumindest in einer politisch noch nicht klar definierten Situation, aber sogar während einer Diktatur entscheidend sein - oder sie kann, wie in Argentinien und Chile, versagen (Heinz/Frühling 1998 i.E.). Für die Erreichung dieser Ziele ist nicht nur die Unterstützung formaler Justizinstitutionen notwendig, sondern es müssen auch Justizforschung, Institutionen zum Schutz der Menschenrechte und zur ordentlichen Justiz alternative Konfliktlösungsmechanismen, die auf Vergleich und Schlichtung abstellen, einbezogen werden (statt vieler Bryde 1986; US AID 1994; Dieng 1996). Ebenso gehören dazu eine rechtsstaatliche Ausbildung aller in Polizeifunktionen aktiven staatlichen Stellen, eine Sensibilisierung der Medien, ein Erziehungssystem, das Rechtsbewußtsein und staatsbürgerliche Bildung fördert, und eine spezielle Unterstützung für Bevölkerungsgruppen (im Sinne von empowerment), die besonders der Gefahr von Diskriminierung ausgesetzt sind, weil sie in der Gesellschaft keine Stimme haben, d.h. nicht konfliktfähig sind. Maßnahmen zur Verbesserung der Justiz haben keine Chancen auf Erfolg, wenn nicht parallel dazu das Rechtsbewußtsein gestärkt und ein intaktes System zum Schutz der Menschenrechte geschaffen wird. Daher muß der Schutz der Menschenrechte zu einem integralen Teil der Förderung von Rechtsstaatlichkeit gemacht werden. Private, unabhängige Menschenrechts-Nichtregierungsorganisationen erfüllen Aufgaben der Informationssammlung, Dokumentation, öffentlichen Kritik, Hilfe für Opfer, Vorschläge für konkretes Regierungshandeln auf Verwaltungs- und gesetzgeberischer Ebene. Häufig sind sie darüber hinaus auch auf den Gebieten Lobbyarbeit und Menschenrechtserziehung tätig. Bei ihnen können idealtypisch vier Arten unterschieden werden, deren Entstehen und Arbeitsmöglichkeiten von der innenpolitischen Situation und der Unterstützung aus dem Ausland abhängen: • die reine Selbsthilfeorganisation, die sich vor allem der Informationssammlung, Dokumentation und öffentlichen Kritik widmet. Unter Diktaturen oder diktaturähnlichen Verhältnissen ist - wenn überhaupt - häufig nur eine solche Arbeit möglich und mit erheblicher persönlicher Gefahrdung verbunden; • ein zweiter Organisationstyp, der auch pro-aktiv an Gesetzentwürfen, Lobbyarbeit und Menschenrechtserziehung arbeitet, also versucht, auf Gesetzgebung und Politik im präventiven Sinn der Verhinderung zukünftiger Menschenrechtsverletzungen einzuwirken; • ein dritter Typ, bei dem über nationale, regionale und internationale NRODachverbände (z.B. in Zentralamerika) eine Koordinierung und gegenseitige Stärkung der Arbeit stattfindet. Diese können allgemeine Menschenrechtsar259

beit als Bezug haben oder auch spezifische Themen wie Straßenkinder, Folter und "Verschwindenlassen"; und • als vierter Typ internationale zwischenstaatliche Institutionen wie die Interamerikanische Menschenrechtskommission oder die Afrikanische Kommission fiir Menschenrechte und Rechte der Völker. Nach der verstärkten internationalen Kritik an Menschenrechtsverletzungen in verschiedenen Ländern haben auch Regierungen seit den 80er Jahren ihre eigenen Menschenrechtsinstitutionen geschaffen, wie z.B. eine Abteilung fiir Menschenrechte im Präsidialamt in Kolumbien und eine staatliche Menschenrechtskommission in El Salvador, den Philippinen und Indonesien. Das UN-Programm fiir Beratungsdienste und technische Hilfe im Bereich der Menschenrechte unterstützt diese nationalen Institutionen, wie sie in der UN-Sprache genannt werden, mit Seminaren, Experten und Stipendien. Im Einzelfall ist immer zu prüfen, inwieweit diese Institutionen lediglich als Sprachrohr und Verteidiger menschenrechtsverletzender Regierungen4 auftreten oder auch ernsthafte Ermittlungen zu Übergriffen betreiben. Namen wie "Menschenrechtsberater, -kommission oder -institut" sagen für sich allein kaum etwas über ihre Förderungswürdigkeit aus. Zu wichtigen Aufgaben von Staat und Gesellschaft müssen darüber hinaus der Aufbau und die Entwicklung eines allgemeinen Rechtsbewußtseins, das in enger Verbindung zu einer staatsbürgerlichen Erziehung (civic education) vermittelt werden sollte, gerechnet werden. Besonders wichtige Zielgruppen sind die arme Stadt- und Landbevölkerung, Analphabeten und gefährdete Bevölkerungsgruppen wie Angehörige indigener Völker und Minderheiten. Die Arbeit mit dem Ziel, ein Rechtsbewußtsein zu schaffen, kann jedoch nur Früchte tragen können, wenn sie mit realen Verbesserungen im Umgang von Staat, Polizei, Militär und Justiz mit dem Bürger einhergeht. Auch diese Stellen müssen als Zielgruppen für Menschenrechts- und allgemeine Rechtserziehung angesehen werden. Der Staat muß hierbei wichtige Aufgaben erfüllen: die Reform von Polizei und Militär, soweit es Polizeiaufgaben wahrnimmt, und der Justiz, wobei es in erster Linie nicht um technische Reformen geht, die auch wichtig sind (Ausbildung, Ausrüstung, Management), sondern um die Orientierung an den Menschenrechten des Bürgers, die Kontrolle von Gewaltausübung innerhalb der Organisation und die politische Lösung von Gewalt- und Verbrechensproblemen (kriminologische Forschung, Aktionsprogramme zur Verringerung von Kriminalität, zur Rehabilitierung der Täter, Hilfe für die Opfer u.ä.). Wie deutlich geworden sein dürfte, wird im vorliegenden Artikel ein integrierter, komplexer Ansatz für die Förderung von Rechtsberatungsprogrammen 4

Hiermit sind Regieningen gemeint, die Uber einen längeren Zeitraum ein erhebliches Maß an Menschenrechtsverletzungen zulassen, ohne erkennbare Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Es versteht sich, daß es in fast allen Landern der Welt zu einzelnen Menschenrechtsverletzungen kommt.

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vertreten, der die vielfaltigen Dimensionen des Verständnisses, der Durchsetzung und der differentiellen Folgen von Recht für verschiedene Bevölkerungsgruppen holistisch betrachtet. Damit wird ein rein technokratischer Modernisierungsansatz im Rechts- und Justizbereich als unzureichend abgelehnt, weil dieser auf absehbare Zeit keine nachhaltigen Wirkungen erreichen kann.

IL Die Bedeutung der Rechtsberatung innerhalb der Demokratieforderung Zu den wichtigsten bilateralen Gebern gehören die USA, Deutschland, die Niederlande und die skandinavischen Länder und unter den multilateralen Institutionen die Europäische Union, die Weltbank und die Interamerikanische Entwicklungsbank. Bei den Gebern variierte das Gewicht des Rechtsbereiches unter den Aktionsfeldern der Demokratieförderung in den Jahren 1991 und 1994/95 erheblich, zwischen 5% der Projektmittel (Schweden 1994/95, EU 1993), 11,9% (Kanada 1993-95) und 22,8% bzw. 15,4% (USAID 1991-93, 1994)5. In der konzeptionellen Arbeit hat das Development Assistance Committee (DAC) der OECD in den letzten Jahren eine wichtige Rolle dabei gespielt, Gebererfahrungen auf den Gebieten Zivilgesellschaft, Partizipation, Menschenrechte, Privatisierung, demokratische Dezentralisierung, Förderung von Investitionen und Rechtssysteme aufzuarbeiten. Der abschließende Bericht über eine dreijährige Studienarbeit wurde 1997 veröffentlicht (OECD/DAC 1997). Ein Überblick zu den wichtigsten EZ-Gebern zeigt, daß fast alle auf der Ebene von Programmpapieren Vorstellungen zur Förderung von Demokratie und Menschenrechten formuliert haben, wozu auch das Aktionsfeld Rechtsstaatlichkeit gehört. Es gibt jedoch nur selten Sektorpapiere, die allgemeine und spezifische Ziele und Evaluierungskriterien/-standards zu den Projekten formulieren würden, und es fehlen öffentlich zugängliche Evaluierungen zum Sektor und zu einzelnen Projekten. Nur die United States Agency for International Development (USAID) hat über Jahre hinweg systematische Konzepte zur Demokratieforderung und zu Rule of Law entwickelt. Projekte wurden z.T. auch regionübergreifend evaluiert. Insgesamt fehlt es jedoch auch hier an Evaluierungen auf der Projekt- und Sek-

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Daten nach Robinson (1996, Statistischer Anhang). Die Daten sind schwer zu vergleichen, da praktisch jeder bi- und multilaterale Geber unterschiedliche Aktionsfelder unterscheidet, die sich auch noch zum Teil untereinander überlappen, so daß Projekte und Aktivitäten z.T. nur mit Muhe den Aktionsfeldern eindeutig zugeordnet werden können.

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torebene6 und an konzeptionellen Ansätzen, wie der Projektfortschritt in bezug auf das weitere politische Umfeld bewertet werden kann. Es existieren Konzepte, aber keine klaren Indikatoren, die als Grundlage für Evaluierungen herangezogen werden könnten. Von den vier Weltregionen des Südens ist die Diskussion über Rechtsstaatlichkeit und Justizreform in Lateinamerika am ältesten und auch fachlich am fortgeschrittensten, freilich ohne daß sich dies•jbisher in einer effektiven Umsetzung vieler Reformprojekte ausgedrückt hätte . In Südostasien hat sich v.a. seit den 80er Jahren die Diskussion auf Menschenrechte und den Zugang zu einem Rechtssystem konzentriert, das unabhängiger von der jeweiligen Exekutive und weniger korrupt werden sollte (die Philippinen sind ein Beispiel für besonders aktive Bemühungen um Rechtsreformen) (vgl. Espiritu 1986; Kanniah/Raman 1986; Scoble/Wiseberg 1985). Im Nahen Osten spielen Rechtsstaatlichkeit und Justizreform noch eine eher begrenzte Rolle. Diese Themen beginnen aber in Diskussionen über Zivilgesellschaft, Menschenrechte und Demokratie in den letzten Jahren eine stärkere Rolle zu spielen (vgl. Faath/Matthes 1992; Faath 1993; Waltz 1995). In Afrika steht die Diskussion in der politischen Wissenschaft noch weitgehend am Anfang, während es in der Rechtsethnologie Forschunganstrengungen gibt, die aber bisher nur wenig auf die Praxis durchgeschlagen haben. Es fehlt vor allem an Forschung über die Rechtswirklichkeit, aber auch zu Rechtsnormen und zur Vereinbarkeit unterschiedlicher, konkurrierender Rechtssysteme in rechtspluralistischen Systemen (vgl. Benda-Beckmann 1996). In Osteuropa stehen im Mittelpunkt der Rechtsprojekte vor allem das Wirtschaftsrecht und seine Umsetzung (Knieper/Boguslavskij 1995; Fade 1996; für den Maghreb Dutt 1994).

III. Die Erfahrungen ausgewählter Geber In diesem kurzen Beitrag können die Geberaktivitäten nicht breit dargestellt werden. Zu typischen Aktivitäten gehören: • Aus- und Fortbildungsveranstaltungen für Richter und Justizbeamte; • Hilfen bei der Einrichtung vor- und außergerichtlicher Konfliktlösungsmechanismen;

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Für Menschenrechtsprojekte gibt es einige Evaluierungen, aber diese gehen nur marginal auf die Justiz ein (vgl. z.B. HIVOS 1992; Stolz u.a. 1996). Statt vieler und als Bestandsaufnahme siehe BMZ (1993), Ambos (1996), Nolle (1996) und DSE (1996; 1998).

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• Maßnahmen zur Verbesserung eines gleichberechtigten Zugangs zum Rechtssystem für arme und andere diskriminierte Bevölkerungsgruppen; • die Unterstützung von Nichtregierungsorganisationen und Selbsthilfegruppen, die im Rechtsbereich arbeiten; • Durchführung von Studien und Tagungen zur Unabhängigkeit der Justiz; • AusUuschprogramme für Richter; • Hilfe für die Justizverwaltung beim Personal- und Informationsmanagement (Auftau einer aussagekräftigen Justizstatistik, Gründung von Fachzeitschriften, Veröffentlichung der Urteile von oberen Gerichten usw.) (Lingnau 1996: 797, modifiziert und ergänzt durch den Verf.).

1. Niederlande und Skandinavien Die Niederlande, Kanada und Schweden gehören zur Gruppe der "Like-minded Countrhs", die seit den 70er Jahren eine aktive Politik im Bereich der Meng

schenrechts- und Demokratieforderung verfolgen . In diesen Ländern existieren eigene Menschenrechtsinstitute9, die seit 1985 das Jahrbuch "Human Rights in Developing Countries" herausgeben. Es enthält Beiträge zu Schwerpunktthemen und Länderanalysen 10 . Im Rahmen der Nordischen Kooperation existiert eine eigene Arbeitsgruppe zu Menschenrechten und Entwicklungszusammenarbeit. In den Niederlanden macht die Forscherin Benda-Beckmann (1996) seit langem darauf aufmerksam, daß in vielen Ländern von einem Rechtspluralismus ausgegangen werden müsse. Sie wurde von der niederländischen staatlichen Entwicklungszusammenarbeit damit beauftragt, diese gezielt in der Frage der gesellschaftlichen Ansatzpunkte bei der Förderung von Rechtsstaatlichkeit zu beraten. D e Projekte sind zu zahlreich, um hier dargestellt zu werden. Die dänische EZ unterstützte z.B. den Obersten Gerichtshof Mosambiks (Kopiergeräte, Computer etc.), die African Society for International and Comparative Law für legal aid dinics und paralegal training in der Elfenbeinküste, Ghana, Sambia und Tansania, die Internationale Juristenkommission in ihrer Menschenrechtsarbeit in Entwicklungsländern und die Ausbildung von Richtern in Uganda. Schweden *

Zu den Niederlanden siehe Dutch Human Rights and Foreign Policy Advisory Committee (1984; 1987), DCIS et al. (1992), DGIS/NOVIB (1993), NOVIB (1992; 1993), Baehr (1994: 143-155), Cranenburg (1