Vergangenheitsbewältigung in Lateinamerika 9783964567802

Die Aufarbeitung der Menschenrechtsverbrechen, die während der jüngsten Militärdiktaturen in Lateinamerika begangen wurd

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Vergangenheitsbewältigung in Lateinamerika
 9783964567802

Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
Wahrheit und Gerechtigkeit oder Vergessen? Vergangenheitsbewältigung in Lateinamerika
Menschenrechte im Übergangsprozeß zur Demokratie
Wahrheitskommissionen in Lateinamerika
Zu Beginn der 90er Jahre: Lateinamerikas Generäle zeigen keine Reue
Verdrängen und Erinnern in Argentinien
"Ich fühle mich als Mörder". Die Bekenntnisse des (ehem.) Korvettenkapitäns Francisco Scilingo
Zur "rechtlichen" Struktur der Repression und strafrechtlichen Vergangenheitsbewältigung in Argentinien.
"Das Ziel rechtfertigt niemals die Mittel"
Was hat sich durch die Erklärung der Stabschefs in Argentinien verändert?
20 Jahre Madres de Plaza de Mayo. Geschichte, Selbstverständnis und aktuelle Arbeit der Madres de Plaza de Mayo in Argentinien
Rede des chilenischen Staatspräsidenten Patricio Aylwin
Zur "Verrechtlichung" der Repression und zur strafrechtlichen Vergangenheitsbewältigung in Chile
Sich erinnern heißt, die Vergangenheit noch einmal mit dem Herzen durchleben
Soziale und psychische Probleme der (Nicht-)Aufarbeitung der Vergangenheit in Chile
Ein Schritt vorwärts - und zwei zurück? Der "Fall Letelier" im Prozeß der Rückgewinnung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Chile
Nur die Wahrheit macht uns frei (Auszüge aus einem Brief an den uruguayischen Staatspräsidenten Sanguinetti
Vergangenheitsbewältigung, Menschenrechte und Straflosigkeit in Bolivien
Verdrängen, Vergessen, Versöhnen: Vergangenheitsbewältigung in Zentralamerika
Autorenverzeichnis

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Detlef Nolte (Hrsg.) Vergangenheitsbewältigung in Lateinamerika

Schriftenreihe des Instituts für Iberoamerika-Kunde • Hamburg Band 44

Detlef Nolte (Hrsg.)

Vergangenheitsbewältigung in Lateinamerika

Vervuert Verlag • Frankfurt am Main 1996

Institut für Iberoamerika-Kunde • Hamburg

Verbund Stiftung Deutsches Übersee-Institut Das Institut für Iberoamerika-Kunde bildet zusammen mit dem Institut für Allgemeine Überseeforschung, dem Institut für Asienkunde, dem Institut für Afrika-Kunde und dem Deutschen Orient-Institut den Verbund der Stiftung Deutsches Übersee-Institut in Hamburg. Aufgabe des Instituts für Iberoamerika-Kunde ist die gegenwartsbezogene Beobachtung und wissenschaftliche Untersuchung der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Lateinamerika. Das Institut für Iberoamerika-Kunde ist bemüht, in seinen Publikationen verschiedene Meinungen zu Wort kommen zu lassen, die jedoch grundsätzlich die Auffassung des jeweiligen Autors und nicht unbedingt die des Instituts darstellen.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Vergangenheitsbewältigung in Lateinamerika / [Institut für Iberoamerika-Kunde ; Verbund Stiftung Deutsches ÜberseeInstitut]. Detlef Nolte (Hrsg.). - Frankfurt am Main : Vervuert, 1996 (Schriftenreihe des Instituts für Iberoamerika-Kunde, Hamburg ; Bd. 44) ISBN 3-89354-244-2 NE: Nolte, Detlef [Hrsg.]; Institut für Iberoamerika-Kunde : Schriftenreihe des Instituts...

© Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1996 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Konstantin Buchholz Printed in Germany: Rosch-Buch, Hallstadt

INHALTSVERZEICHNIS Detlef Nolte Wahrheit und Gerechtigkeit oder Vergessen? Vergangenheitsbewältigung in Lateinamerika

7

Manuel Antonio Garretón Menschenrechte im Übergangsprozeß zur Demokratie

29

Esteban Cuya Wahrheitskommissionen in Lateinamerika

33

Detlef Nolte Zu Beginn der 90er Jahre: Lateinamerikas Generäle zeigen keine Reue

67

Osvaldo Bayer Verdrängen und Erinnern in Argentinien

72

Kai Ambos "Ich fühle mich als Mörder". Die Bekenntnisse des (ehem.) Korvettenkapitäns Francisco Scilingo

77

Kai Ambos Zur "rechtlichen" Struktur der Repression und strafrechtlichen Vergangenheitsbewältigung in Argentinien. Ein Kommentar aus juristischer Sicht

86

"Das Ziel rechtfertigt niemals die Mittel" Fernsehansprache des Stabschefs des argentinischen Heeres, General Martin Antonio Balza, vom 25.4.1995

96

Wolfgang S. Heinz Was hat sich durch die Erklärung der Stabschefs in Argentinien verändert?

100

Kuno Hauck/Rainer Huhle 20 Jahre Madres de Plaza de Mayo. Geschichte, Selbstverständnis und aktuelle Arbeit der Madres de Plaza de Mayo in Argentinien

108

Rede des chilenischen Staatspräsidenten Patricio Aylwin an die Nation vom 4. März 1991 anläßlich der Bekanntgabe des von der Kommission "Wahrheit und Versöhnung" erstellten Untersuchungsberichts

128

Kai Ambos

Zur "Verrechtlichung" der Repression und zur strafrechtlichen Vergangenheitsbewältigung in Chile

139

Elizabeth Lira

Sich erinnern heißt, die Vergangenheit noch einmal mit dem Herzen durchleben

152

David Becker

Soziale und psychische Probleme der (Nicht-)Aufarbeitung der Vergangenheit in Chile

167

Rainer Huhle

Ein Schritt vorwärts - und zwei zurück? Der "Fall Letelier" im Prozeß der Rückgewinnung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Chile

182

Luis Pérez Aguirre

Nur die Wahrheit macht uns frei

204

(Auszüge aus einem Brief an den uruguayischen Staatspräsidenten Sanguinetti) Kai Ambos

Vergangenheitsbewältigung, Menschenrechte und Straflosigkeit in Bolivien

207

Sabine Kurtenbach

Verdrängen, Vergessen, Versöhnen: Vergangenheitsbewältigung in Zentralamerika

213

Autorenverzeichnis

226

Detlef Nolte

Wahrheit und Gerechtigkeit oder Vergessen? Vergangenheitsbewältigung in Lateinamerika Ein historischer Zufall hat dazu geführt, daß im vergangenen Jahr (1995), 50 Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur und der Nürnberger Prozesse, in einigen Ländern Lateinamerikas die Diskussion über die Aufarbeitung der Verbrechen gegen die Menschenrechte, die während der jüngsten Militärdiktaturen begangen wurden, erneut aufflammte. Dies gilt selbst für Länder, die bereits vor mehr als zehn Jahren zur Demokratie zurückgekehrt waren und versucht hatten, einen politischen und juristischen Schlußstrich unter die Vergangenheit zu ziehen. Zur neuerlichen Virulenz der Vergangenheitsbewältigung haben einerseits spektakuläre Gerichtsverfahren gegen zentrale Akteure der Repression, andererseits die öffentlichen Bekenntnisse von Militärs zu den Menschenrechtsverletzungen beigetragen, die in einigen Fällen aufgrund eines "Demonstrationseffektes" auch in Nachbarländern Auswirkungen zeitigten. So beteiligten sich beispielsweise am 20. Mai 1996 zwischen 30.000 und 50.000 Personen an einem Schweigemarsch durch Montevideo, um des 20. Jahrestags der Ermordung der beiden uruguayischen Oppositionspolitiker Zelmar Michelini und Héctor Gutiérrez Ruiz in Buenos Aires zu gedenken. Die Demonstration stand unter dem Motto "Verdad, memoria y nunca más" ("Wahrheit, Erinnerung und niemals mehr") — ein Leitmotiv, das treffend die Kernelemente der aktuellen Diskussion über die Vergangenheitsbewältigung in Lateinamerika zusammenfaßt. Mit dem Schweigemarsch und anderen Aktionen' sollte die Diskussion in Uruguay über die Menschenrechtsverletzungen während der Militärdiktatur (1973-1984) wiederbelebt werden. Gefordert wurden eine endgültige Klärung des Schicksals der Verschwundenen und - in Anlehnung an öffentliche Erklärungen des Stabschefs des argentinischen Heeres — eine Distanzierung der militärischen Führung von

Siehe den Brief des Koordinators von Servicio Paz y Justicia (SERPAJ) in Uruguay, des Priesters Luis Pérez Aguirre, an den uruguayischen Staatspräsidenten Julio Maria Sanguinetti, abgedruckt im vorliegenden Band. 7

den Gewaltakten der Vergangenheit. Militär wie politische Führung haben auf beide Forderungen ablehnend reagiert. In Argentinien hatte die Tageszeitung "Pägina 12" im März 1995 Auszüge aus einem Buch ("£/ vuelo") ihres Mitarbeiters Horacio Verbitsky veröffentlicht, das ein ausfuhrliches Interview mit dem ehemaligen Korvettenkapitän Adolfo Francisco Scilingo enthält, in dem dieser ausfiihrlich über die Repressionspraxis in der Marine während der Militärdiktatur berichtet2. Besonders schockierend ist seine Darstellung der Praxis des "Verschwindenlassens" von Personen. Politische Gefangene wurden betäubt und dann aus Flugzeugen der Marine über dem offenen Meer abgeworfen. Nach Schätzungen des Offiziers wurden auf diese Weise allein in einem der Folterzentren, der Marineschule ESMA, rd. 2.000 Personen beseitigt. Das Interview war Auslöser für eine erneute umfassende Auseinandersetzung mit der Repressionspraxis während der Militärherrschaft in Argentinien, zumal sich im Dezember 1995 zum zehnten Mal das Ende der Prozesse gegen die Junta-Mitglieder wegen der Menschenrechtsverletzungen während der Militärdiktatur (19761983) jährte. Im Chile bestätigte der Oberste Gerichtshof im Mai 1995 das Urteil — sieben Jahre Haft — gegen den ehemaligen Geheimdienstchef, General (i.R.) Manuel Contreras, und einen seiner Mitarbeiter als Anstifter des Attentats, dem der chilenische Oppositionspolitiker Orlando Letelier 1976 in Washington zum Opfer gefallen war. Bis Oktober konnte sich Contreras mit Rückendeckung der Heeresführung der Haft entziehen. So hielt er sich mehrere Monate in einem Marinekrankenhaus auf. In dieser Zeit kam es zu Sympathiebekundungen von Offizieren3 und Spannungen zwischen der Regierung und den Streitkräften4. Die Reaktion des Militärs in den drei Ländern offenbart zugleich den unterschiedlichen Umgang der Streitkräfte in Lateinamerika mit den Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit. Während in Chile die Heeresführung die Verurteilung von Contreras als ungerecht kritisierte und ihre Machtergreifung einmal mehr rechtfertigte, verkündete im Nachbarland Argentinien der dortige Stabschef des Heeres, General Balza, die Pflicht zum Ungehorsam bei Befehlen, die gegen ethische Grundwerte verstoßen5: "... niemand ist verpflichtet, einen unmoralischen Befehl oder einen Befehl, der von den Gesetzen oder den militärischen Dienstvorschriften abweicht, zu befolgen. Wer es trotzdem tut, begeht 3

Zum Interview mit Scilingo und dem Buch von Verbitsky (1995) siehe ausfuhrlicher den Beitrag von Ambos im vorliegenden Band.

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Der mitverurteilte (6 Jahre) Brigadegeneral Pedro Espinoza trat seine Strafe am 10.6.1995 an, nachdem er kurz zuvor aus dem Heer entlassen worden war. Am 22.7. besuchten mehr als 1.500 Personen — darunter rund 100 Heeresoffiziere — in einer Karawane von 300 Fahrzeugen den in Tiltil einsitzenden Espinoza.

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Zum Fall Contreras und seinen Implikationen siehe ausführlicher den Beitrag von Huhle im vorliegenden Band.

5

Der Text der Fernsehansprache, in der er diese Erklärung abgab, ist im vorliegenden Band abgedruckt. Zu den Implikationen dieser Rede für das Selbstverständnis des argentinischen Militärs siehe den Beitrag von Heinz im vorliegenden Band.

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eine rechtliche Verfehlung, die entsprechend ihrer Schwere bestraft wird. Ohne Euphemismus erkläre ich mit aller Deutlichkeit: - Es begeht eine Straftat, wer die Verfassung verletzt. - Es begeht eine Straftat, wer unmoralische Befehl erteilt. — Es begeht eine Straftat, wer unmoralische Befehle befolgt. — Es begeht eine Straftat, wer zur Erreichung eines bestimmten Zieles, das er für gerechtfertigt hält, ungerechtfertigte, unmoralische Mittel anwendet." In einem späteren Gespräch mit dem uruguayischen Senator Rafael Michelini, dessen Vater 1976 in Argentinien ermordet worden war, verglich General Balza die Tötungsmethode der argentinischen Militärs, betäubte Gefangene über dem offenen Meer aus Flugzeugen zu stürzen, mit den Gaskammern der Nazis (Pägina 1Z 28.10.1995:10). Im Nachbarland Uruguay verwiesen die Militärs demgegenüber auf die nach ihrer Ansicht bestehenden Unterschiede zum argentinischen Fall und die 1989 in einem Plebiszit abgesegnete Amnestie, die nach ihrer Ansicht einen Schlußpunkt unter die Vergangenheitsbewältigung setzte. Die geschilderten Ereignisse zeigen, daß die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen nicht nur eine rechtliche Dimension hat, die sich auf die Bestrafung oder Amnestierung der Verbrechen gegen die Menschenrechte bezieht, sondern auch eine moralisch-ethische und eine historische Dimension aufweist. Grundsätzlich lassen sich zwei Phasen der Aufarbeitung der diktatorischen Vergangenheit in Lateinamerika unterscheiden, die sich teilweise überschneiden und bei denen die Länder unterschiedlich weit vorangeschritten sind: die Phase unmittelbar nach dem Übergang zur Demokratie, in der das Thema der strafrechtlichen Bewältigung der Menschenrechtsverletzungen während der vorausgegangenen Diktaturphase auf der Tagesordnung stand. In einer zweiten, späteren Phase geht es um die Frage der geistigen Bewältigung der diktatorischen Vergangenheit, ihre politische Aufarbeitung und die Frage des Erinnems an dieses düstere Kapitel der Geschichte.

Militärdiktaturen, Menschenrechtsverletzungen und Straflosigkeit Unter den Militärdiktaturen, die seit den 60er Jahren bis in die 80er Jahre Lateinamerika wie Krebsgeschwüre überwuchert hatten, wurden die Menschenrechte tausendfach mißachtet und mit Füßen getreten. Menschen wurden gefoltert, ohne Gerichtsurteil ins Gefängnis geworfen und ermordet. Einen Sonderfall bildete Peru. Dort wurden die schwersten Menschenrechtsverletzungen nicht in der Phase der Militärherrschaft (1968-1980), sondern unter den nachfolgenden Zivilregierungen, die über demokratische Wahlen an die Macht gelangt waren, verübt. Auch in anderen Ländern - wie z.B. in Kolumbien - wurden unter zivilen, verfassungsmäßigen Regierungen massive Menschenrechtsverletzungen begangen. Die politische Repression wurde von unterschiedlichen Akteuren ausgeübt: den regulären Streit- und Polizeikräften, der Geheimpolizei, militärischen 9

Sondereinheiten und privaten, von den offiziellen Stellen geduldeten Terrorgruppen (Todesschwadronen). Ende 1992 wurde in Paraguay das Archiv der dortigen Geheimpolizei entdeckt, in dessen Akten erstmals eindeutige Beweise für die enge, grenzüberschreitende Zusammenarbeit der militärischen Geheimdienste im südlichen Lateinamerika in der Phase der Militärdiktaturen gefunden wurden. Das 1996 in Argentinien wieder aufgenommene Ermittlungsverfahren wegen der Ermordung des ehemaligen Oberbefehlshabers des chilenischen Heeres und verfassungstreuen Generals, Carlos Prats, der in Buenos Aires 1974 vermutlich einem Attentat des chilenischen Geheimdienstes zum Opfer fiel, hat die Querverbindungen erneut in Erinnerung gerufen. Die Kooperation überspannte jedoch den gesamten Kontinent. Argentinische "Fachleute" in den Techniken des schmutzigen Krieges waren Anfang der 80er Jahre in Zentralamerika als Ausbilder aktiv und leisteten auch ihren bolivianischen Waffenbrüdern "Amtshilfe". Noch 1994 gab es vor dem Hintergrund des Aufstandes in Chiapas Presseberichte über einen Meinungsaustausch zwischen mexikanischen und argentinischen Militärs und Polizisten. Besonders perfide war die Methode des "Verschwindenlässens" mißliebiger Personen: Tatsächliche oder vermutete politische Gegner wurden verschleppt, gefoltert und ermordet. Die Leichname ließen die Mörder verschwinden. Sie verscharrten sie auf geheimen Friedhöfen, versenkten sie im Meer oder versuchten auf andere Weise ihre Verbrechen zu verbergen. Besonders extensiv griffen die argentinischen Militärs auf dieses Repressionsinstrument zurück, Osvaldo Bayer nennt es deshalb auch den "argentinischen Tod". Da die Leichen beseitigt worden waren und die staatlichen Stellen (Polizei, Militär, Geheimdienste) unter Tolerierung oder Mitwisserschaft der Gerichte die Festnahme der besagten Personen leugneten, konnte die betreffende Regierung weder von den Angehörigen noch von ausländischen Regierungen für das Schicksal der "Verschwundenen" verantwortlich gemacht werden. Weite Teile der Bevölkerung wurden eingeschüchtert und Sympathisanten des Regimes konnten sich einreden, daß die staatliche Repression gar nicht so schlimm sei und die "Verschwundenen" untergetaucht seien. Besonders grausam war diese Art der politischen Verfolgung für die Angehörigen der Opfer, die über Jahre in einem Wechselbad des Hoffens und der Verzweiflung gelassen wurden, wohl ahnend, daß die "Verschwundenen" nie wieder auftauchen würden. Säuglinge und Kleinkinder von Verschwundenen wurden von den Mördern ihrer Eltern adoptiert oder zur Adoption weitervermittelt. In Argentinien wurden inhaftierte schwangere Frauen in der Regel so lange am Leben gelassen, bis sie entbunden hatten, um dann ermordet zu werden. Zum besseren Verständnis einiger Probleme der neuen Demokratien in Lateinamerika — und insbesondere der Menschenrechtsproblematik - ist es notwendig, sich den Modus des Übergangs von der Diktatur zur Demokratie zu vergegenwärtigen: Die Militärregime, die in den 80er Jahren abgelöst wurden, waren nicht durch einen Volksaufstand gestürzt worden, obgleich es in ihrer Endphase in einigen Ländern zu machtvollen Demonstrationen gegen das Regime gekommen war. Dabei kam neben den traditionellen politischen und sozialen Handlungsträgern, wie Parteien oder Gewerkschaften, auch neuen sozialen Akteuren Bedeutung zu, 10

die häufig im Umfeld und unter dem Schutz der katholischen Kirche arbeiteten. Von zentraler Bedeutung waren die Menschenrechtsorganisationen, die beim Kampf gegen die Militärdiktaturen in vorderster Linie standen. Berühmt geworden sind die "Mütter der Plaza de Mayo" die aus Protest gegen das Verschwinden von Angehörigen regelmäßig Demonstrationen auf der "Plaza de Mayo", dem Platz vor dem Amtssitz des Präsidenten in Buenos Aires, abhielten 6 . Trotz der Proteste zogen sich die Streitkräfte, sieht man vom argentinischen Fall ab, weitgehend intakt in die Kasernen zurück. Sie konnten deshalb Bedingungen für ihren Rückzug und die Rückkehr zur Demokratie diktieren. In den meisten Ländern gingen dem Übergang zur Demokratie Verhandlungen zwischen dem Militär oder Teilen des Militärs und Teilen der zivilen Opposition voraus, um den Modus des Regimewechsels zu regeln. In der Regel wurden die Gespräche zwischen den gemäßigten Kräften in Militär und Opposition (den "Tauben") geführt, die sich immer wieder gegenüber den "Falken" im eigenen Lager durchsetzen mußten. Der Übergangsprozeß verlief nicht geradlinig, sondern glich einem steten Auf und Ab, sein Ausgang schien aus der Sicht der damaligen Akteure ungewiß: Die demokratische Regimeopposition mußte immer wieder ein Scheitern in Rechnung stellen. Als Preis für die Rückkehr zur Demokratie mußte in der Regel auf eine Bestrafung der Mörder und Folterknechte verzichtet werden. In Lateinamerika spricht man in diesem Zusammenhang vom Problem der "impunidad" (Straflosigkeit). Die herrschenden Militärs hatten in der Regel Amnestiegesetze verabschiedet, um einer strafrechtlichen Verfolgung durch nachfolgende Zivilregierungen vorzubeugen, und deutlich gemacht, daß sie eine Aufhebung dieser Gesetze nicht tolerieren würden. Insofern waren die demokratischen Regierungen gezwungen, Kompromisse mit den ehemaligen Machthabern einzugehen. Eine Ausnahme bildete zeitweilig Argentinien. Dort wurde den Mitgliedern der verschiedenen Militäijunten, die das Land von 1976 bis 1983 regiert hatten, und besonders exponierten Foltergenerälen der Prozeß gemacht und langjährige oder lebenslange Haftstrafen ausgesprochen. Bereits während der Präsidentschaft von Raul Alfonsin (1984-1989) wurde jedoch sehr schnell unter Berufung auf die Gehorsamspflicht der Kreis der für die Verbrechen zu belangenden Offiziere immer enger gezogen. Unter seinem Nachfolger Carlos Menem wurden zum Jahresende 1990 alle wegen Verbrechen gegen die Menschenrechte Verurteilten begnadigt, auch die noch einsitzenden Junta-Ge neräle. In Bolivien wurde General Garcia Meza, der sich 1980 in einem blutigen Putsch an die Macht katapultiert hatte, mit einigen seiner Helfershelfer rechtskräftig verurteilt. Nach seiner Auslieferung durch Brasilien sitzt er (seit März 1995) in Haft 7 . Sein ehemaliger Innenminister, Oberst Luis Arce Gömez, wurde wegen Drogenvergehen 1989 an die USA ausgeliefert. In Chile wurde ein Sondergefängnis 6

Zur Geschichte der "Madresde Plaza de Mayo" siehe den Beitrag von Hauck/Huhle im vorliegenden Band.

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Zur rechtlichen Aufarbeitung des Falles siehe den Beitrag von Ambos im vorliegenden Band. 11

gebaut, in dem Militärs und Polizisten einsitzen, die wegen einiger spektakulärer Menschenrechtsverbrechen verurteilt worden waren, die nicht durch das 1978 verabschiedete Amnestiegesetz abgedeckt wurden - darunter seit Oktober 1995 der ehemalige Chef der Geheimpolizei, General Contreras. In Paraguay wurde 1996 der letzte Chef der Geheimpolizei des Stroessner-Regimes, Pastor Coronel, in mehreren Verfahren zu insgesamt 68 Jahren Haft verurteilt. Die peruanische Regierung bestätigte demgegenüber im vergangenen Jahr den allgemeinen Trend in Lateinamerika, indem sie ein Amnestiegesetz für alle Verbrechen gegen die Menschenrechte verabschiedete — auch für solche, die im Ausland Aufsehen erregt und zu Protesten geführt hatten. Ein Sonderweg wurde in Uruguay beschritten. Dort stimmten im April 1989 in einer Volksabstimmung 56% der Wähler für die Beibehaltung eines von der Regierung eingebrachten und vom Parlament verabschiedeten Amnestiegesetzes für Verbrechen gegen die Menschenrechte, die während der Militärherrschaft begangen worden waren; 41,3% waren für seine Aufhebung.

Verantwortungsethik gegen Gesinnungsethik Es mag sein, daß es als Voraussetzung für die Rückkehr zur Demokratie keine andere Alternative gab, als auf eine Bestrafung der Mörder und Folterknechte zu verzichten. Hier ergab sich für die Politiker, aber auch für den einfachen Bürger und die Menschenrechtsorganisationen8 ein nur schwer aufzulösendes moralisches Dilemma. Sie mußten zwischen zwei ethischen Werten abwägen, denen unter den gegebenen politischen Bedingungen nicht gleichzeitig Folge geleistet werden konnte. Auf der einen Seite stand der moralische Anspruch, daß Unrecht gesühnt werden muß und die Verantwortlichen bestraft werden sollen. Diese Forderung konnte in der Praxis mit dem Wert, welcher der Konsolidierung der Demokratie zugemessen wurde, kollidieren. Eine kompromißlose Durchsetzung des Rechts barg Gefahren für die Demokratie, weil die Schuldigen immer noch zu viel Macht besaßen und diese zum Schutz ihrer Interessen auch gegen die demokratischen Instanzen einzusetzen bereit waren: In Argentinien kam es während der Präsidentschaft von Raul Alfonsin zu mehreren Militärrevolten; in Uruguay weigerten sich Offiziere, die wegen Menschenrechtsverletzungen angeklagt waren, vor Gericht zu erscheinen. In Chile wurde noch im Mai 1993 das Heer in Alarmbereitschaft versetzt, die Generäle tagten im Kampfanzug und unter Bewachung schwerbewaffneter Eliteeinheiten, um durch diese Drohgebärde gegen die vor den Gerichten anhängigen Verfahren wegen Menschenrechtsverletzungen zu protestieren. Und in Peru ließ das Militär 1993 Kriegsgerät durch die Straßen der Hauptstadt Lima rollen, um Druck auf den

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In Argentinien kam es über die Frage der Reaktion auf die Menschenrechtspolitik der Regierung Alfonsin zu Auseinandersetzungen unter den Menschenrechtsorganisationen (siehe den Beitrag von Hauck/Huhte über die "Mütter der Plaza de Mayo" im vorliegenden Band).

Kongreß auszuüben, der die Verwicklung der Streitkräfte in das Verschwinden und die Ermordung eines Universitätsprofessors und mehrerer seiner Studenten (der Fall "La Cantuta") untersuchte9. Das Spannungsverhältnis zwischen beiden Werten — der Durchsetzung des Rechts und der Sicherung der Demokratie — wurde durchgehend in einer Weise aufgelöst, daß unter Berufung auf die Bewahrung eines gegenwärtigen und zukünftigen Gutes, der Demokratie, die Ereignisse der Vergangenheit, die Menschenrechtsverletzungen, nicht geahndet wurden. Die Politik des Ausgleichs mit den Tätern, die in der Mehrzahl der lateinamerikanischen Länder betrieben worden war, wurde offiziell mit der Notwendigkeit der Aussöhnung, inoffiziell mit dem Hinweis auf die immer noch große Macht der für die Menschenrechtsverletzungen Verantwortlichen, d.h. den Widerstand der Militärs gegen eine Bestrafung ihrer Taten, gerechtfertigt. In den Auseinandersetzungen um die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen während der Militärdiktaturen wurde von vielen Politikern gegenüber den Vertretern von Menschenrechtsorganisationen gern auf die alte Unterscheidung zwischen einer "Gesinnungsethik", die sie den Menschenrechtsaktivisten unterstellten, und einer "Verantwortungsethik", die sie für sich selbst in Anspruch nahmen, zurückgegriffen, die von Max Weber in seinem berühmten Vortrag von 1919 über "Politik als Beruf' paradigmatisch herausgearbeitet worden war. Dort führte er aus: "Wir müssen uns klar machen, daß alles ethisch orientierte Handeln unter zwei voneinander grundverschiedenen, unaustragbar gegensätzlichen Maximen stehen kann: Es kann 'gesinnungsethisch' oder 'verantwortungsethisch' orientiert sein es ist ein abgrundtiefer Gegensatz, ob man unter gesinnungsethischen Maximen handelt - religiös gesprochen - : 'Der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim', oder unter der verantwortungsethischen: daß man für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat Wenn die Folgen einer aus reiner Gesinnung fließenden Handlung übel sind, so gilt ihm (dem Gesinnungsethiker D.N.) nicht der Handelnde, sondern die Welt dafür verantwortlich, die Dummheit der anderen Menschen oder der Wille Gottes, der sie so schuf. Der Verantwortungsethiker dagegen rechnet mit eben jenen durchschnittlichen Defekten der Menschen, .... , er fühlt sich nicht in der Lage, die Folgen eigenen Tuns, soweit er sie voraussehen konnte, auf andere abzuwälzen. Er wird sagen: diese Folgen werden meinem Tun zugerechnet" (Weber 1993: 70-71). Auf den begrenzten Handlungsspielraum demokratischer Politiker hat u.a. der uruguayische Präsident Sanguinetti in einem rückblickenden Essay (Sanguinetti 1991b)10 über seine erste Amtsperiode (1985-1990) - auch aus eigener Erfahrung - hingewiesen. Der sich an einer Verantwortungsethik ausrichtende Politiker kann aus seiner Sicht moralische Prinzipien, die er für richtig hält, nicht um jeden Preis durchzusetzen versuchen, unbeschadet der möglichen negativen Konsequenzen

'

Siehe ausfuhrlicher dazu den Beitrag von C u y a im vorliegenden Band.

10

Sanguinetti (1991b: 69) zitiert ausführlich M a x Weber.

13

dieses Handelns. Darin besteht für Sanguinetti die zentrale Komponente einer Ethik der Transition, die sich an der folgenden Handlungsmaxime ausrichten sollte: "Versuche immer sicherzustellen, daß die Handlungen keine Folgen haben, die deinen guten Intentionen widersprechen. ... Sonst kann der demokratische Idealismus zu einem Traum verkommen, der dann zum Alptraum wird" (Sanguinetti 1991a: 9). Auch von Politikern in anderen lateinamerikanischen Ländern wurde auf eine vergleichbare Argumentation zurückgegriffen, so z.B. vom ehemaligen argentinischen Präsidenten Alfonsin, wenn er ausfuhrt: "Diejenigen, die unsere Entscheidung kritisieren, die Verfahren und möglichen Urteile gegenüber den (für die Menschenrechtsverletzungen D.N.) Verantwortlichen einzugrenzen, gehen von einer vollständig auf Vergeltung ausgerichteten Vorstellung von Strafe aus. Nach dieser Konzeption ist es eine moralische Pflicht, jedes Vergehen zu bestrafen; falls dies nicht geschieht, wird ein Unrecht begangen, das durch keinerlei anderen sozialen Nutzen kompensiert werden kann. Im Gegensatz dazu sind für diejenigen unter uns, für die eine derartige Konzeption von Strafe sowohl aus einer rationalen Sichtweise schwer zu rechtfertigen ist als auch mit den Grundsätzen einer sozialen Moral kaum in Übereinstimmung gebracht werden kann, Strafen nur dann moralisch gerechtfertigt, wenn sie dabei helfen, eine Gesellschaft vor noch größerem Schaden zu bewahren" (Alfonsin 1993: 18). Hinter diesen Ausführungen verbirgt sich ein äußerst relativistisches Rechtsverständnis, das möglicherweise die argentinische Rechtspraxis widerspiegelt. Zumal es sich bei den angesprochenen Verbrechen nicht um Kavaliersdelikte, sondern um Massenmord, Folter u.ä. handelt. Zudem stellt sich die Frage, die ex post und post factum nur schwer zu beantworten ist, ob die Demokratie bei einer stringenteren Verfolgung von Verbrechen gegen die Menschenrechte tatsächlich gefährdet gewesen wäre. In vielen lateinamerikanischen Ländern manifestiert sich eine Tendenz, verantwortungsethische Postulate zum Selbstzweck werden zu lassen und ethische Grundfragen auszublenden. Dies gilt beispielweise für die Weigerung des uruguayischen Präsidenten Sanguinetti unter Hinweise auf das Amnestiegesetz von 1989, noch einmal in eine Diskussion über die Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur und das Schicksal der Verschwundenen einzutreten. Es mag unter strategischen Gesichtspunkten ratsam sein, bei politischen Entscheidungen die Kräfteverhältnisse und die Verwirklichungschancen für bestimmte ethisch begründete Politiken in Rechnung zu stellen und in diesem Sinne nach der Logik einer Verantwortungsethik zu handeln. So wäre es unverantwortlich, bei der Bewältigung der Menschenrechtsproblematik einen Umsturz zu riskieren. Diese strategische Vorsicht schließt aber nicht aus, das Menschenrechtsthema unter veränderten Rahmenbedingungen — z.B. nach einer Schwächung des Militärs erneut aufzugreifen. Soweit dies unter Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien möglich ist — z.B. durch die richterliche Neuauslegung von Normen, die Einbeziehung völkerrechtlicher Gesichtspunkte, die Wiederaufnahme noch nicht abgeschlossener Verfahren etc. - , kann dies auch eine strafrechtliche Verfolgung 14

enschließen. Auf jeden Fall muß eine Neuaufnahme der politischen Diskussion iber die Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit möglich sein. Unbeschadet der Kritik, die man an den häufig gesinnungsethisch motivierten Verhaltensweisen der Gründerinnen der "Madres de Plaza de Mayo"u oder den Piilippiken eines Osvaldo Bayer12 in Argentinien aus einer pragmatischen Schtweise zuweilen auch üben kann, sind diese als "moralisches Gewissen" einer Gesellschaft notwendig, damit das Thema Vergangenheitsbewältigung nicht völlig von den "Sachzwängen" beherrscht wird und sich Politiker nicht allzu bequem hnter dem Argument einer "Verantwortungsethik" verschanzen können. Zumal sich die "Gesinnungsethiker" beim Thema Menschenrechtsverletzungen hiufig auf starke Meinungsströmungen in der Gesellschaft stützen können. So wurden die Begnadigungen der Junta-Mitglieder in Argentinien von einer Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt. In Chile waren nach einer nationalen Meinungsumfrage (CERC) vom Juli 1995 43% der Befragten für eine Aufklärung der Menschenrechtsverletzungen während der Militärherrschaft und die Bestrafung der Schuldgen, 18,7% für eine strafrechtliche Verfolgung nur der schwersten Fälle, 14,5% fir eine Aufklärung mit anschließender Amnestie, und nur 17,6% hielten das Problem für gelöst (El Mercurio. Internationale Ausgabe 20.-26.7.1995: 5). In der Praxis wissen Gesellschaften zwischen dem ethisch Wünschenswerten uid dem unter den gegeben Umständen Machbaren zu unterscheiden. Es mag sein, daß unter bestimmten Bedingungen eine Gesellschaft von der Bestrafung d«r Folterknechte und Mörder in Uniform im Hinblick auf ein höheres Gut absehen miß, sie kann aber nicht auf eine moralische Verurteilung der Taten (und der Titer) verzichten. Dies ist sie den Opfern und ihren Angehörigen schuldig, die scnst nur schwer in die Gesellschaft reintegriert werden können. Deshalb muß sehr genau zwischen einer Amnestie oder Begnadigung von Verbrechen gegen dii Menschenrechte, die unter bestimmten Umständen zum Prozeß der Befriedung urd Aussöhnung in den betreffenden Gesellschaften beitragen kann, und einem m>ralischen Freispruch unterschieden werden. Ein gewöhnlicher Mörder, der begradigt wird, erhält dadurch auch keine moralische Rechtfertigung für seine Taten. Viele Apologeten einer Amnestie — vor allem wenn sie den Tätern nahestehen — scheinen eine politische Amnestie mit sozialer Amnesie zu verwechseln. Nach ilrer Vorstellung sollen mit der Amnestie der Mörder und Folterknechte gewissemaßen deren Taten kollektiv und zwangsweise vergessen werden. Mit Blick aif die Zukunft dürfen die Verbrechen aber nicht vergessen werden, noch kann eiie Gesellschaft, ohne Schaden zu nehmen, auf deren ethische und moralische Verurteilung verzichten.

Siehe Artikel über die Madres de Plaza de Mayo im vorliegenden Band. "2

Siehe den Beitrag von Osvaldo Bayer im vorliegenden Band. 15

Die "Wahrheitskommissionen" Als Ausweg aus dem Dilemma zwischen der gesellschaftlichen Forderung nach Aufklärung der Verbrechen gegen die Menschenrechte und einer moralischen Verurteilung der Taten auf der einen Seite und den rechtlichen und machtpolitischen Hindernissen, die einer juristischen Aufarbeitung der Vergangenheit in den Weg gelegt wurden, griffen viele lateinamerikanische Regierungen auf das Instrument von "Wahrheitskommissionen" zurück13. Diese Kommissionen, die sich aus nationalen, zuweilen auch aus internationalen Notablen und Experten zusammensetzten, wurden von den betreffenden Regierungen geschaffen und mit dem Auftrag versehen, möglichst umfassend und zugleich exemplarisch die schwersten Menschenrechtsverletzungen während der vorausgegangenen Diktaturperioden zu untersuchen und zu dokumentieren. Die Kommissionen konnten Empfehlungen zum besseren Schutz der Menschenrechte in der Zukunft und im Hinblick auf den Umgang mit den Opfern und Tätern erarbeiten. Den Kommissionen kam aber keine richterliche Funktion zu, obgleich eine nachfolgende juristische Aufarbeitung von Einzelfallen nicht ausgeschlossen war. Da es aber in der Regel nachfolgend zu keinen Gerichtsverfahren kam, weil die Justiz nicht ermitteln wollte oder konnte, bestand ein Problem der "Wahrheitskommissionen", für das sie nicht verantwortlich sind, darin, daß sie in gewisser Weise zugleich Ankläger und Richter waren: Die Schuld der in den Kommissionsberichten als Täter identifizierten Personen wurde nicht in einer einem Gerichtsverfahren vergleichbaren Weise — mit Verteidigung, Entlastungszeugen etc. — nachgewiesen. Dieser Mangel ist aber auf die Behinderung bzw. Verhinderung der normalen Rechtsfindung durch die autoritären Machthaber zurückzufuhren. Und es ist vorzuziehen, zumindest über das "Urteil" der "Wahrheitskommissionen" als über gar kein "Urteil" zu verfugen. Unbeschadet ihres Namens zielte die Arbeit der "Wahrheitskommissionen" nur zu einem Teil auf die Aufdeckung der Wahrheit über die Verbrechen während der Militärdiktaturen, sehr viel wichtiger war eine "offizielle Anerkennung der Wahrheit" bzw. eine "offiziell sanktionierte Tatsachenfeststellung" (vgl. Hayner 1996: 21-22). Der offiziellen Anerkennung und Verurteilung der Menschenrechtsverletzungen durch die "Wahrheitskommissionen" kommt nach Aussagen von Ärzten und Therapeuten, die Repressionsopfer und ihre Angehörigen betreuten14, größte Bedeutung bei der Aufarbeitung der Traumata aus der Zeit der Diktatur zu. Durch die Berichte der "Wahrheitskommissionen" erfuhr das von staatlicher Seite zugefugte private Leid eine soziale und politische Anerkennung, nachdem zuvor, in der Phase der Diktatur, die Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen von

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In einigen Ländern, wie z.B. in Peru (siehe den Beitrag von Cuya im vorliegenden Band), setzten die Parlamente Untersuchungsauschüsse ein, die sich mit besonders gravierenden Menschenrechtsverletzungen befaßten und eine den Wahrheitskommissionen vergleichbare Funktion erfüllen sollten.

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Siehe die beiden Artikel von Lira und Becker im vorliegenden Band.

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staatlicher Seite immer negiert worden waren. Die Erfahrung, daß vor Repräsentanten des Staates Zeugnis über die Schrecken der Vergangenheit abgelegt werden kann, daß diesen Aussagen Glauben geschenkt wird und Vertreter des Staates Mitgefühl ausdrücken, war für die seelische Gesundung und gesellschaftliche Wiedereingliederung der Opfer außerordentlich wichtig. Die "Wahrheitskommissionen" leisteten insofern einen wichtigen Beitrag zur sozialen Rehabilitierung der Opfer und zur Überwindung ihrer Traumata, und ihre Arbeit richtete sich gegen totalitäre Tendenzen der vorausgegangenen autoritären Regime. Diese totalitären Neigungen zeigten sich bei den Bestrebungen der Militärs, ihre Verbrechen zu verbergen und zu verleugnen, wie sie sich in besonderer Weise im Hinblick auf die "Verschwundenen" manifestierten. Die Regimegegner sollten nicht nur vernichtet, sondern in gewisser Weise auch zur Unperson gemacht werden, indem man sie "verschwinden" ließ und ihre persönliche Lebensgeschichte (bzw. deren tragisches Ende) zu tilgen trachtete, ähnlich wie im Stalinismus die in Ungnade gefallenen Gegner nicht nur ermordet, sondern auch nachträglich von offiziellen Fotos retuschiert wurden, als ob sie nie existiert hätten. Die Rekonstruktion der Vergangenheit ist somit Teil eines nachträglichen Kampfes gegen die Diktaturen. Deshalb ist es auch so wichtig, das Schicksal der Verschwundenen aufzuklären, den Opfern ihre Würde wiederzugeben und ihre Geschichte zu rekonstruieren. Die "Wahrheitskommissionen" haben sich zu einem weitverbreiteten Instrument der Vergangenheitsbewältigung in Lateinamerika, aber auch in anderen Weltregionen entwickelt, wobei dort zu einem Teil auf den lateinamerikanischen Erfahrungen aufgebaut wurde. So haben sich beispielweise südafrikanische Politiker ausfuhrlich über die chilenische "Wahrheitskommission" informiert. Die drei wichtigsten lateinamerikanischen "Wahrheitskommissionen" waren aufgrund ihres Vorbildcharakters und der internationalen Resonanz ohne Zweifel die argentinische, die chilenische und die salvadoranische: In Argentinien setzte Präsident Alfonsin im Dezember 1983 eine "Nationale Kommission über das Verschwinden von Personen" ein, die in dem im November 1984 veröffentlichten Bericht "Niemals mehr" (Nunca Mäs) mit fast 9.000 Fällen von "Verschwundenen" die Spitze des Eisbergs der Menschenrechtsverletzungen in Argentinien dokumentierte. Schätzungen gehen aber von bis zu 30.000 Opfern der Terrorherrschaft der argentinischen Militärs aus. In Chile berief Präsident Aylwin im April 1990 eine "Nationale Kommission der Wahrheit und Versöhnung" ein, die den Auftrag erhielt, die während der Militärherrschaft begangenen Menschenrechtsverletzungen, bei denen die Opfer zu Tode gekommen waren, zu untersuchen und zu dokumentieren. Insgesamt listet der Kommissionsbericht 164 Opfer politischer Gewalt und 2.115 Opfer von Menschenrechtsverletzungen auf - darunter 957 "Verschwundene" — weitere 641 Fälle bedürfen einer abschließenden Klärung. Der Bericht wirft den Staatsorganen sy-

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stematische Menschenrechtsverletzungen vor und kritisiert die Untätigkeit der Justiz während der Militärherrschaft15. In EI Salvador, das zwischen 1980 und 1992 von einem blutigen Bürgerkrieg zwischen konservativen Kräften und einer linksrevolutionären Guerilla erschüttert wurde, der ca. 70.000 Menschenleben kostete, war die Schaffung einer international zusammengesetzten "Wahrheitskommission" Ergebnis des Friedensabkommens (vom Januar 1992) zwischen der Regierung und der Guerilla. Am 15. März 1993 wurde der Kommissionsbericht, der den bezeichnenden Titel "Vom Wahnsinn zur Hoffnung" trägt, vorgelegt. Insgesamt registrierte die Kommission 22.000 Hinweise auf schwere Menschenrechtsverletzungen, die sich in El Salvador im Zeitraum zwischen Januar 1980 und Juli 1991 ereignet hatten, womit allerdings nicht die Gesamtzahl der Gewaltakte erfaßt wurde. 85% der Fälle wurden nach den Zeugenaussagen Agenten des Staates bzw. mit ihnen verbündeten paramilitärischen Gruppen und Todesschwadronen angelastet, 5% der Guerilla. Zu den Ursachen staatlicher Gewalt heißt es im Bericht: "Die Zeugnisse verweisen übereinstimmend darauf, daß diese Gewalt auf einer politischen Konzeption beruhte, die die Begriffe politischer Oppositioneller, Subversiver und Feind zu Synonymen werden ließ. Personen, die von den offiziellen Vorstellungen abweichende Ideen vertraten, riskierten eliminiert zu werden, als ob sie bewaffnete Feinde auf dem Schlachtfeld wären... Die Guerillabekämpfiing fand in ihrer extremsten Form Ausdruck in einem weitgefaßten Konzept, das da lautete, 'dem Fisch das Wasser zu entziehen'. Die Bewohner von Gebieten, in denen es eine aktive Präsenz der Guerilla gab, wurden auf Verdacht mit der Guerilla in einen Topf geworfen, sie gehörten ihr entweder an oder waren ihre Helfer und riskierten deshalb, eliminiert zu werden." Nur fünf Tage nach Bekanntgabe des Kommissionsberichts brachte die Regierung ein Amnestiegesetz für alle vor dem 1. Januar 1992 begangenen politischen Verbrechen ein, das vom Parlament mit großer Mehrheit verabschiedet wurde. Eine neuere Studie zählt in den vergangenen 21 Jahren weltweit insgesamt 19 "Wahrheitskommissionen" in 16 Ländern auf (Hayner 1996: 20). Die lateinamerikanischen "Wahrheitskommissionen"16 hatten zum Teil offiziellen Charakter, zum Teil gingen sie auf Initiativen von Menschenrechtsorganisationen zurück, die Dokumentationen über die Repression während der Militärherrschaft erstellten. Dies war der Fall in Brasilien, Uruguay, Kolumbien und Honduras". In einigen Fällen, dies gilt insbesondere fiir Peru, hatten offizielle Untersuchungskommissionen

Zu den Reaktionen auf den Bericht der "Wahrheitskommission" siehe die in "Lateinamerika. Analysen-Daten-Dokumentation". Beiheft Nr. 10 (Juli 1991) wiedergegebenen Dokumente. Siehe hierzu den ausführlichen Bericht von Cuya im vorliegenden Band. In Honduras hatte die dortige unabhängige Menschenrechtsorganisation CODEH einen 1.000 Seiten umfassenden Bericht Uber die Menschenrechtsverletzungen im Zeitraum 1982 bis 1990 erstellt. Ende 1993 legte der Menschenrechtsbeauftragte einen Bericht über 184 Fälle von Verschwundenen vor.

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zu Menschenrechtsverletzungen vor allem die Funktion der "Reinwaschung" staatlicher Funktionsträger 18 . Das Thema "Wahrheitskommissionen" bleibt aktuell: In Haiti legte Anfang 1996 eine von der Regierung im November 1994 eingesetzte Kommission ihren Bericht vor, in dem die Menschenrechtsverletzungen seit 1986 untersucht werden. Und in Guatemala haben sich die Guerilla und die Regierung (bzw. das Militär) gleichfalls auf die Einsetzung einer "Wahrheitskommission" zur Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen geeinigt.

Vergangenheit und Gegenwart: Erinnern oder Vergessen Die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen während der Diktaturperiode hat zwei Dimensionen, deren Gewichtung sich im Zeitverlauf verschiebt: — die Dimension der unmittelbar Beteiligten oder Betroffenen, d.h. das Problem, wie mit den Tätern und Opfern (bzw. deren Angehörigen) aus der Zeit der Militärherrschaft in der unmittelbar nachdiktatorialen Phase umgegangen wird und wie beide in die Gesellschaft reintegriert werden; — die Dimension der Interpretation dieser Vergangenheit durch die Gesellschaft bzw. zentrale politische Akteure (und der Lehren die daraus gezogen werden). Auf beiden Ebenen besteht ein direkter Bezug zur Gegenwart: — Erstens ist der Umgang mit den Tätern ein Indikator für die Macht- bzw. Kräfteverhältnisse in der Gesellschaft und für die Stärke überkommener autoritärer Strukturen. — Zweitens haben der Staat und die Gesellschaft eine Verantwortung gegenüber den Opfern bzw. ihren Angehörigen, wenn schon die Täter amnestiert werden mußten. Die Menschenrechtsverletzungen während der Militärdiktaturen haben in den betreffenden Ländern eine offene Wunde hinterlassen, weil sich in der großen Mehrheit der Fälle die Straflosigkeit durchsetzte. Die Straflosigkeit hat traumatische Auswirkungen für die Opfer und ihre Angehörigen 19 . Die Art und Weise, wie die Vergangenheit aufgearbeitet wird, hat neben materiellen, medizinischen und psychotherapeutischen Maßnahmen entscheidende Auswirkungen auf die Chancen einer gesellschaftlichen Wiedereingliederung der Opfer (bzw. ihrer Angehörigen). — Drittens ist die Interpretation der Vergangenheit von den moralischen Bewertungsmaßstäben der Individuen, aber auch den vorherrschenden Wertvorstellungen in einer Gesellschaft abhängig. Insofern sagt die Bewertung der

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Siehe die Studie von Cuya im vorliegenden Band.

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Zu dieser sozialpsychologischen Dimension siehe die Beiträge von Lira und Becker im vorliegenden Band.

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Vergangenheit und die Art und Weise, wie man die Vergangenheit erinnert, auch etwas über die politisch-moralische Befindlichkeit der betreffenden Gesellschaft aus. Die Auseinandersetzung über die Aufarbeitung der Vergangenheit ist auch eine Auseinandersetzung zwischen Wertvorstellungen in der Gegenwart. Insofern greift Mario Vargas Llosa (1995) in der aktuellen Diskussion über die Vergangenheitsbewältigung in Lateinamerika zu kurz, wenn er fordert "die Vergangenheit zu begraben, um die Zukunft aufbauen zu können". Im Kern geht es darum, einen Grundkonsens über die Deutung besonders gewaltsamer und schmerzhafter Erfahrungen in der Geschichte der betreffenden Länder zu erreichen oder zu bewahren. Dies ist deshalb so wichtig, weil es sich nicht nur um einen Konsens über Ereignisse, sondern auch über Werte, die mit der Deutung dieser Ereignisse zusammenhängen, handelt. Letztlich wird über die Gültigkeit dieser Werte in der Gegenwart für die Mehrheit der Bevölkerung und strategisch wichtige Akteure (z.B. das Militär) entschieden. Falls sich wichtige gesellschaftliche und politische Akteure weigern, ohne Wenn und Aber anzuerkennen, daß es sich bei der vom Staat angeordneten Folterung und Ermordung von Oppositionellen um verabscheuungswürdige Verbrechen handelt, dann gibt es in der betreffenden Gesellschaft keinen Grundkonsens über die Werte, welche die Grundlage für ein friedliches Zusammenleben bilden und die zugleich die Basis fiir eine allgemein akzeptierte Rechtskultur darstellen. Dies setzt voraus, daß man sich der eigenen Geschichte, vor allem ihren Schattenseiten stellt und sie nicht zu verdrängen sucht. Nur so kann ein Grundkonsens der Gesellschaft im Negativen wie im Positiven über Grundwerte, die es zu verteidigen gilt, und Sachverhalte, die es auf jeden Fall zu vermeiden gilt, aufgebaut werden. Daß dies schwierig ist, hat in Deutschland die Aufarbeitung der NS-Zeit gezeigt und die Diskussion über die Bewältigung des Erbes der DDR erneut bewiesen. Dies gilt auch für andere europäische Länder, wie das späte Eingeständnis unserer französischen Nachbarn zeigt, daß die Franzosen während der deutschen Besatzung eben nicht nur ein Volk von Widerstandskämpfern gewesen waren. Die Erinnerung an die Vergangenheit und deren gedankliche Aufarbeitung ist deshalb nicht nur ein individueller, sondern auch ein kollektiver Prozeß. In diesem Zusammenhang sind die Ausfuhrungen von Eli Wiesel, einem Überlebenden des Holocaust, in einem Interview mit der argentinischen Zeitung "Pägina 12" (20.12.1995, 4) von Interesse: "Frage: Glauben Sie, daß die Erinnerung ein persönlicher oder sozialer Prozeß ist? Ist die soziale Erinnerung die Anhäufung von individuellen Erinnerungen oder muß sie von Seiten des Staates organisiert werden? Antwort: Ich glaube, daß die Erinnerung auf sehr vielen unterschiedlichen Ebenen arbeitet. In den Gesellschaften, auf persönlicher Ebene. Eine Gesellschaft kann ohne Erinnerung nicht leben. Denn wenn es keine Erinnerung gibt, dann gibt es keine gemeinsame Kultur, weder gemeinsame Beziehungen noch Bedeutungen. 20

Frage: Aber gewöhnlich ist es so, daß sich die Gesellschaften nach den großen Tragödien nicht erinnern wollen. Antwort: Ich weiß nicht, wie die Situation dort ist (in Argentinien, D.N.), aber ich weiß z.B., daß sich dies in den USA nach der McCarthy-Ära ereignete. Ich erinnere mich daran, daß ich eines Tages einen Journalisten kennenlernte, der sehr tapfer, sehr mutig gewesen war. Sie hatten ihn zwei Jahre unter Druck gesetzt, damit er seine Freunde denunziere, und er hat geschwiegen. Er hat nichts mitgeteilt. Deshalb sagte ich zu ihm: 'Du mußt darüber schreiben'. Und er antwortete mir: 'Ich kann und will nicht über das Thema sprechen, ich bin sehr beschämt'. Ich verstand nicht. 'Weshalb schämst Du Dich, wenn Du sehr mutig gewesen bist?' Und er antwortete mir: 'Aber ich bin Teil einer Gesellschaft, die nicht mutig gewesen ist.'" Mit den "Wahrheitskommissionen" und der Veröffentlichung ihrer Berichte ist der Prozeß der Aufarbeitung der Vergangenheit folglich nicht abgeschlossen. Auch wenn von interessierter Seite immer wieder die Forderung nach einem Schlußstrich erhoben wird. Dazu heißt es in einem Kommentar in der uruguayischen Presse zur aktuellen Diskussion in diesem Lande zutreffend (Gatto 1996: 39): "Man sagt, daß man lediglich jegliche Untersuchung verhindern wolle, die alte Wunden wieder öffnet. Man fugt hinzu, daß das Land neue Herausforderungen angehen muß und es keinen Wert hat, zu Ereignissen zurückzukehren, die zeitlich immer weiter zurückliegen. Es ist allerdings so, daß die Wunden aus dem einfachen Grund nicht wieder geöffnet werden können, weil sie sich niemals geschlossen haben. Und mehr noch, es handelt sich nicht darum, irgendjemanden strafrechtlich abzuurteilen, sondern es geht darum, die Toten ohne Grab zu beerdigen, die immer noch in der Vorstellungswelt der Uruguayer herumstreifen. Es geht auch darum, Anstrengungen zu unternehmen, um das schrecklichste schwarze Loch unserer Geschichte nicht zu vergessen. Das gleiche Loch, das einen Großteil unserer mühsam aufgebauten Traditionen verschlang, zu untersuchen, die Untersuchungen zu vertiefen und zu verstehen, was passiert ist, nachzuforschen hinter der bloßen Aneinanderreihung von Ereignissen, schadet niemandem. Im Gegenteil, es hilft dabei, Gegenmittel zu entwickeln, damit es sich nicht wiederholt. Wie es auch der Demokratie gut tut, daß es Veranstaltungen zur Erinnerung an die Vergangenheit und ein Denkmal gibt, das noch errichtet werden muß und für die zukünftigen Generationen all den Schmerz und all das Leid in Erinnerung rufen soll." Interessant ist, wie sich weltweit die Argumente gleichen. Hierzulande wie in Lateinamerika wurde und wird häufig das Argument vorgetragen, die Vergangenheit, die trenne, hinter sich zu lassen, und sich statt dessen auf die Zukunft zu konzentrieren. Bemerkenswert ist, daß dieses Argument vor allem auf seiten der Täter oder ihrer Sympathisanten vorgetragen wird, so gut wie nie von seiten der Opfer. "Es heißt, Schweigen zu bewahren und zu vergessen. Das einzige, was unter diesen Umständen zu tun übrig bleibt nach der Zeit, die vergangen ist, ist vergessen!" (aus einer Rede General Pinochets vom 13.9.1995 im Clubdela Unión, zitiert in El Mercurio. Internationale Ausgabe 14.-20.9.1995:5). Dieser Ausspruch 21

von General Pinochet markiert eine der Grundhaltungen zum Thema Vergangenheitsbewältigung in Lateinamerika, die mit einer anderen kontrastiert, wie sie in den Ausfuhrungen des ehemaligen chilenischen Präsidenten (1990-1994) Patricio Aylwin in einem Zeitungsinterview (El Mercurio. Internationale Ausgabe, 3.9.8.1995: 6) zum Ausdruck kommt: "Es ist nicht gut, wenn die Völker diese Tragödien vergessen! Ganz im Gegenteil, man darf sie nicht vergessen. Damit sie sich niemals wiederholen, ist es ratsam, daß sie im historischen Gedächtnis der Nationen erhalten bleiben. Es ist notwendig zu wissen, was geschehen ist." Es geht darum, die eigene Geschichte anzuerkennen, um Lehren für die Zukunft daraus zu ziehen. Dies wird niemals ein abgeschlossener Prozeß sein. So gilt es, neue Generationen zu sozialisieren, und die Gesellschaft regelmäßig neu zu "impfen", damit sie genügend Antikörper gegen ein erneutes Aufkommen von menschenverachtenden Militärdiktaturen oder anderen Formen autoritärer Herrschaft aufbauen kann. Das verstärkte Auftreten neofaschistischer Gruppen nach der deutschen Wiedervereinigung hat diese Notwendigkeit auch hierzulande erneut in das öffentliche Bewußtsein gerufen. Das Wissen über die Ereignisse der Vergangenheit stößt bei den nachwachsenden Generationen durchaus auf Interesse. Eine Meinungsumfrage, die in Argentinien im April 1995 nach den Enthüllungen des Marineoffiziers Scilingo durchgeführt wurde, zeigte, daß die jüngeren stärker als die älteren Jahrgänge an einer Aufklärung der Ereignisse der Vergangenheit interessiert waren. Auf die Frage "Halten Sie es für positiver, die Vorgänge hinsichtlich der illegalen Repression und der Verschwundenen zu kennen oder zu vergessen?" antworteten 80% der 18-20jährigen und 70% der 21-29jährigen mit "zu kennen". Dieser Prozentsatz ging danach kontinuierlich zurück — bis auf 53% bei den 55 bis 70jährigen (Clarin 7. Mai 1995: 15). Eine umfassende Vergangenheitsbewältigung stößt allerdings auf Grenzen, weil sie zu einem bestimmten Zeitpunkt der Frage nach den politischen Verantwortlichkeiten für das Aufkommen der Militärregime (sowohl auf Seiten ihrer Anhänger als auch ihrer Gegner) bzw. den zivilen Nutznießern ihrer Herrschaft nachgehen müßte. Da sich viele der damaligen Akteure aus Überzeugung oder Opportunitätsgesichtspunkten mit der Demokratie arrangiert haben und politische Führungspositionen einnehmen, besteht erwartungsgemäß wenig Interesse, in eine derartige Debatte einzutreten, zumal im Extremfall erneut alte Konfliktfronten heraufbeschworen werden könnten. Eine Auseinandersetzung mit der politischen Gewalt in der Vergangenheit sollte gleichwohl auch die Taten selbsternannter, messianistischer Eliten einschließen, die ihre Heilsbotschaft den Gesellschaften mit Gewalt aufzwingen wollten und glaubten, "im Namen des Volkes" morden zu dürfen. Davon zu trennen ist die Frage des Widerstandsrechtes gegen Diktatoren. Man sollte sich aber vor einem Aufrechnen der Gewalt "von unten" und der Gewalt "von oben" hüten, der "zwei Dämonen", wie sie in der argentinischen Diskussion zuweilen genannt werden. Zum einen übertraf in fast allen Ländern der staatliche Terror den Terror linksextremer Bewegungen um ein Mehrfaches. 22

Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die unschuldigen Opfer, die keiner der beiden Konfliktparteien zuzurechnen waren. Zweitens ist für das Zusammenleben einer Gesellschaft, ihre ethischen Fundamente, der staatliche Terror weit verhängnisvoller als die Anschläge kleiner terroristischer Gruppierungen. An die Träger des staatlichen Gewaltmonopols sind strengere moralische Maßstäbe anzulegen als an andere Gruppen.

Aussöhnung: Reue und Verzeihen Eng mit dem Modus der Vergangenheitsbewältigung ist das Thema der Aussöhnung verknüpft, die auf drei Voraussetzungen basiert. Die Verbrechen der Vergangenheit dürfen nicht verdrängt werden, die Täter müssen Reue zeigen, und die Aussöhnung muß als ein individueller Prozeß perzipiert werden, der nicht von oben verordnet, bestenfalls gefördert werden kann. Auf die erste Voraussetzung hat der chilenische Politikwissenschaftler Oscar Godoy sehr präzise am Ende des für Chile ereignisreichen Jahres 1995 hingewiesen: "jede Aussöhnung bewahrt die Erinnerung an die Schuld und die Opfer, selbst wenn sie die Täter vergißt. Auch wenn das Amnestiegesetz es nicht erlaubt, denjenigen, die die Verbrechen begangen haben, d.h. den Verursachern des Verschwindenlassens, Schuld zuzuweisen, kann dieses Gesetz die Schuld selbst nicht tilgen, und noch weniger die Erinnerung der Opfer. Die Schuld wird das Gewissen der Mörder belasten und auf irgendeine Weise zum Ausdruck kommen, einem Gesetz der Zeit folgend und auf unvorhersehbaren Wegen. Die Schuld ist überdies in unserer kollektiven Erinnerung festgeschrieben: Wir wissen, daß dies geschah, daß es nicht geschehen durfte und daß es nie mehr geschehen wird" (Godoy 1995: 10). Verzeihen ist darüber hinaus ein individueller Prozeß, der nicht von oben verordnet werden kann. Der chilenische Präsident Aylwin hat diese Notwendigkeit in seiner Rede anläßlich der Bekanntgabe der Ergebnisse der "Wahrheitskommission" in eindringlichen Worten vorgetragen: "Vergebung kann nicht durch ein Dekret erzwungen werden, sie verlangt die Bereitschaft zur Reue auf der einen und Großherzigkeit auf der anderen Seite." In einem Gespräch mit dem tschechischen Präsidenten Václav Havel führte der ehemalige polnische Oppositionelle und Berater von Solidarnosc Adam Michnic aus:"... als ich noch im Gefängnis saß, habe ich mir selbst zwei Dinge versprochen: daß ich niemals zu einer gewalttätigen Organisation gehören würde, die mir Befehle gibt, gegen den Kommunismus zu kämpfen; und zweitens, daß ich mich niemals an jemandem rächen würde. Andererseits fuhr ich fort, mir selbst eine bestimmte Strophe aus einem Gedicht von Zbigniew Herbert zu wiederholen, der schrieb: 'Und vergib nicht, weil es nicht in deiner Macht liegt, im Namen derjenigen zu vergeben, die im Morgengrauen verraten wurden'. Ich denke, wir sind zu solch einer Dialektik verdammt. Wir können nur für uns selbst Absolution erteilen; Absolution im Namen anderer anzubieten, liegt nicht in unserer Macht. Wir können versuchen, 23

Menschen davon zu überzeugen, daß sie vergeben, aber wenn sie Gerechtigkeit wollen, haben sie das Recht dazu, sie einzufordern" (Michnik/Havel 1993:25-26). Diese persönliche Komponente der Aussöhnung wird von vielen lateinamerikanischen (Real-)Politikern verkannt, die glauben, das Beste für eine Aussöhnung getan zu haben, und sich beklagen, wenn die Opfer bzw. deren Angehörige eine andere Position vertreten. Die Aussöhnung würde den Opfern von Menschenrechtsverletzungen (sofern sie noch am Leben sind) bzw. deren Angehörigen leichter fallen, wenn die Täter wenigstens Ansätze fiir einen Gesinnungswandel erkennen ließen. Darin liegt auch die Bedeutung der aktuellen Diskussion über die Vergangenheitsbewältigung und der Forderungen an die Militärs, sich von ihren damaligen Taten zu distanzieren und einen Gesinnungswandel zu zeigen. Drei Tage, nachdem Präsident Aylwin den Bericht der chilenischen "Wahrheitskommission" bekanntgegeben hatte, veröffentlichte der Ständige Ausschuß des chilenischen Episkopats eine Erklärung zum Kommissionsbericht. Darin baten die Bischöfe, wie zuvor Präsident Aylwin, um "Gesten, mit denen Personen und Institutionen, die an diesen schmerzhaften Menschenrechtsverletzungen beteiligt waren oder bei der Erfüllung ihrer Pflicht versagt haben, Reue zeigen. Das Land erhofft und braucht eine Geste der Reue." Ähnliche Überlegungen hatte der argentinische Bischof von San Isidro, Jorge Casaretto, nach der Begnadigung der Junta-Mitglieder in einem Kommentar für die in Buenos Aires erscheinende Tageszeitung "Clarin" (8.1.1991) angestellt. Unter der Überschrift "Sie müssen bereuen" schreibt er mit Blick auf die zum Jahresende erfolgten Begnadigungen: "... ich bin zu der Überzeugung gelangt, daß die Aussöhnung der Argentinier vor allem über unsere inneren Einstellungen erfolgen muß. Viele fragen sich, ob die Begnadigungen wirklich zu der ersehnten Aussöhnung beitragen ... Ohne mich auf politisches oder juristisches Terrain begeben zu wollen, denke ich, was die inneren Einstellungen betrifft, daß etwas an sich Gutes, wie das Verzeihen (dies ist eine Begnadigung), das Eingestehen der Verfehlung, Reue und die Bereitschaft zur Veränderung voraussetzt." Andernfalls "fürchte ich, daß die Begnadigungen ihr Ziel, die Argentinier auszusöhnen, nicht erreichen werden." In der Mehrzahl der Länder haben sich die Militärs in den vergangenen Jahren nicht öffentlich von der Vergangenheit distanziert, sondern ihr Verhalten immer wieder gerechtfertigt20. Dies hat zu einer bleibende Kluft in den jeweiligen Gesellschaften geführt, was die Bewertung der Vergangenheit und die aus der Geschichte zu ziehenden Lehren betrifft. Auf diese Tatsache und ihre Konsequenzen für die Demokratie hatte der chilenische Politikwissenschaftler Luis Maira (1991) nach der Diskussion über den Bericht der "Wahrheitskommission" in einem prägnanten Kommentar hingewiesen: "... es erscheint unbedingt

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Siehe die Stellungnahmen im Artikel "Lateinamerikas Generäle zeigen keine Reue" im vorliegenden Band.

notwendig, eine wenigstens in Grundzügen übereinstimmende Sicht der jüngsten Vergangenheit zu teilen, die es erlaubt, würdig die Toten zu begraben und die notwendigen Lehren aus einer sehr schwierigen Periode unserer Geschichte zu ziehen. ... Nach Bekanntwerden der von Heer und Marine im Nationalen Sicherheitsrat vorgelegten offiziellen Dokumente mußten wir mit Bedauern feststellen, daß dies nicht möglich sein wird. Über viele Jahre, möglicherweise für Dekaden, haben sich die Ereignisse, die sich im Zeitraum vom Ende der 60er Jahre bis März 1990 ereigneten, in zwei parallelen und gegensätzlichen Interpretationen der Geschichte "kristallisiert". Und dies ist — ob wir es wollen oder nicht — ein Hindernis auf dem Weg, das politische Zusammenleben im Übergangsprozeß zu festigen." Insofern ist es nicht verwunderlich, daß der Prozeß der Aussöhnung in Ländern wie Chile nicht vorangeschritten ist. Nach einer repräsentativen Meinungsumfrage (CERC) vom Juli 1995 äußerten sieben von zehn Befragten (69%), daß die Chilenen hinsichtlich der tragischen Ereignisse der Vergangenheit nicht versöhnt sind (versöhnt 27%; w.n./k.A. 4%) (El Mercurio. Internationale Ausgabe 20.26.7.1995: 5). Bleibt zu hoffen, daß durch die Erklärung von General Balza in Argentinien auch unter den Militärs in den Nachbarländern ein Reflektionsprozeß angeregt wird bzw. durch den "Demonstrationseffekt" der Druck aus den betreffenden Gesellschaften auf die Militärs zunimmt. Möglich ist, daß, wie zuerst in Argentinien und zuletzt in Uruguay, einzelne Militärs aus der Schweigefront ausbrechen. Dort wurde am 5. Mai 1996 in der uruguayischen Tageszeitung "El País" ein Brief des ehemaligen Kapitäns zur See, Jorge Trócoli, abgedruckt, in dem er Stellung zu den Menschenrechtsverletzungen während der Militärherrschaft nimmt und sich individuell zur Verantwortung des Militärs für die Taten bekennt: "Ich habe niemanden getötet, ich weiß nichts über das Thema der Verschwundenen, aber nicht wegen eines humanitären Altruismus, sondern weil ich (glücklicherweise) diese Situation nicht erleben mußte. Aber ich bin kein Heuchler, ich bekenne, daß die Streitkräfte, denen ich angehörte, es wissen und es getan haben. Deshalb übernehme ich als eines ihrer Mitglieder auch die Verantwortung für die Toten und Verschwundenen" (abgedruckt in: Búsqueda 9.5.1996: 52).

Menschenrechte heute Unbeschadet der Wunden der Vergangenheit kann man feststellen, daß es in den vergangenen zehn Jahren substantielle Fortschritte beim Schutz der Menschenrechte in Lateinamerika gegeben hat, die in engem Zusammenhang mit dem Prozeß des Übergangs von autoritären Systemen zu Demokratien stehen. In vielen Ländern wurden besondere Einrichtungen geschaffen (Menschenrechtsbeauftragte, Ombudsmänner etc.), die über den Schutz der Menschenrechte wachen sollen. Zugleich hat sich die Menschenrechtsproblematik verlagert. Es handelt sich in der Mehrzahl der Länder nicht mehr um die traditionellen Menschenrechtsver25

letzungen, die an politischen Oppositionellen begangen werden, sondern vielmehr um Verhaltensweisen der Sicherheitskräfte (oder von Privatpersonen) gegenüber gewöhnlichen Kriminellen oder Straftatverdächtigen (wie Mißhandlungen oder Folterungen zur Erzwingung von Geständnissen, extralegale Hinrichtungen, Selbstjustiz, unmenschliche Haftbedingungen etc.), die in den Berichten von Amnesty International, des US-Außenministeriums und internationaler wie nationaler Menschenrechtsorganisationen umfassend dokumentiert sind. Bekannt und auf traurige Weise berühmt geworden sind die "Todesschwadronen", die Kinder und Jugendliche in den Straßen von Rio de Janeiro, Bogotá oder Guatemala-City hingerichtet haben, und die "soziale Säuberung", die gegenüber Bettlern, Prostituierten oder Homosexuellen betrieben wurde. Wenn aber bei der Verfolgung gewöhnlicher Krimineller rechtsstaatliche Prinzipien mißachtet und in den Sicherheitsorganen inhumane Praktiken tradiert werden, gerät die Demokratie in Gefahr. Von der "sozialen Säuberung" zur "politischen Säuberung" ist es, wie die historischen Erfahrungen in Lateinamerika zeigen, nur ein kleiner Schritt. Deshalb gilt es, Institutionen zu stärken, die über die Einhaltung der Menschenrechte wachen können. Dazu gehört vor allem die Justiz, deren Effizienz gesteigert und die in vielen Ländern grundsätzlich reformiert werden muß. Das Thema der Justizreform ist eng mit der Thematik der Menschenrechtsverletzungen während der Militärregime (oder auch in der Gegenwart) verknüpft. Es ist eine beklagenswerte Tatsache, daß in vielen Ländern - immer mit ehrenwerten persönlichen Ausnahmen — die Justiz in der Zeit der Militärherrschaft eine beschämende Rolle gespielt hat, indem sie deyácto-Regierungen legitimierte, die Augen vor Menschenrechtsverletzungen verschloß und sich allzu servil den autoritären Machtinhabern unterwarf. Aufgrund dieser Erfahrung benötigt Lateinamerika nicht nur eine effiziente und fachlich kompetente Justiz, sondern auch eine Justiz, die auf die demokratische Ordnung verpflichtet ist; eine Justiz, die sich nicht — wie in der Vergangenheit — neutral verhält gegenüber dem Bruch oder der Außerkraftsetzung der Verfassung; eine Justiz, die autoritäre Übergriffe auf die bürgerlichen Grundrechte nicht passiv toleriert. Selbst aus der rein materialistischen Perspektive ausländischer Unternehmer ist die Sicherung der Menschenrechte in den Gastländern ein wichtiger Faktor. Dazu heißt es in einem Leitartikel in der "Neuen Zürcher Zeitung" (Internationale Ausgabe, 26./27.8. 1995: 1) unter der Überschrift: "Wozu Menschenrechte in Lateinamerika?": "Menschenrechte sind auch gut für's Geschäft. Denn wo die Menschenrechte ungestraft verletzt werden, ist kein Rechtsstaat. Und wo dieser fehlt, ist eine gedeihliche ökonomische Entwicklung in Frage gestellt, weil potentielle Investoren in einem Staat ohne verläßliches Recht für langfristige Kapitalanlagen zu wenig Sicherheit haben. Wie soll die Justiz ein Schuldbetreibungsverfahren korrekt durchfuhren, wenn sie nicht einmal Mord und Folter ahndet? Die Menschenrechte sind ein Indikator: Wo sie außer Kraft gesetzt sind, muß man annehmen, daß die ganze Rechtsverfassung eines Staates schlecht ist." In einer Situation starker Konkurrenz um ausländische Direktinvestitionen kann 26

sich die Qualität des Rechtssystcms zu einem Faktor von wachsender Bedeutung entwickeln. Bleibt zu hoffen, daß der kombinierte Druck von Kommerz und Moral zu einer Reform der Rechtssysteme und zu einem besseren Schutz der Menschenrechte beiträgt. *

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Das vorliegende Buch hat eine lange Vorgeschichte. Der Anstoß ging von Kai Ambos (Max-Planck-Institut, Freiburg) 21 aus, der an das Institut für IberoamerikaKunde herantrat, um Möglichkeiten zu erkunden, das aufsehenerregende und aufschlußreiche Interview des argentinischen Journalisten Horacio Verbitsky mit dem ehemaligen Korvettenkapitän Francisco Scilingo in einer Publikation des Instituts abzudrucken, um es einem breiteren Publikum in Deutschland zugänglich zu machen. Zunächst war an eine Broschüre oder ein Beiheft der Institutszeitschrift (Lateinamerika. Analysen-Daten-Dokumentation) gedacht. Das breite Echo auf Presseveröffentlichungen zu diesem Themenkomplex und Gespräche mit Kollegen in Deutschland und in Lateinamerika führten schließlich zu dem Entschluß, das Thema "Vergangenheitsbewältigung in Lateinamerika" in einem Buch abzuhandeln, wobei das Schwergewicht auf die Erfahrungen in Argentinien und Chile gelegt werden sollte. Die Übersetzungen aus dem Spanischen wurden, soweit nicht anders vermerkt, vom Herausgeber vorgenommen.

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Z u m T h e m e n k o m p l e x siehe auch die aktuelle Studie von A m b o s (1996).

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Manuel Antonio Garretón

Menschenrechte im Ubergangsprozeß zur Demokratie1 Die Militärregime der vergangenen Dekaden machten für die lateinamerikanischen Gesellschaften aus dem Menschenrechtsthema eine explizit politische Frage. Dies bedeutet nicht, daß es in Lateinamerika historisch keine Menschenrechtsverletzungen gegeben hätte. Vielmehr wurde durch die systematische Repression unter diesen Regimen das Leben in einer elementaren, geradezu biologischen Dimension des Überlebens und der physischen Integrität zu einem zentralen Problem der betroffenen Gesellschaften. Gegen diese gesellschaftliche Regression wurde unter Berufung auf die Menschenrechte angegangen. Der Kern des Menschenrechtsproblems in den demokratischen Übergangsprozessen liegt in den vorausgegangenen Militärregimen. Das Anliegen betrifft nicht so sehr gegenwärtige oder zukünftige Voraussetzungen, um die Einhaltung der Menschenrechte zu gewährleisten. Diese gelten mit dem Abtreten der Militärs und dem Übergang zur Demokratie als gesichert. Es betrifft vielmehr die Notwendigkeit, sich in der Gegenwart mit einem ungelösten Problem der Vergangenheit auseinanderzusetzen, den Menschenrechtsverletzungen, die sich unter den autoritären Regimen ereignet hatten und in dessen Mittelpunkt die Opfer der Repression stehen. "Nunca más" ist deshalb weniger ein Programm für die Zukunft als Anklage gegen die Vergangenheit, da die Zukunft unter den Bedingungen der Demokratie gesichert scheint. Dies bedeutet, daß die Menschenrechtsfrage kein den neuen politischen Systemen genuines Problem ist, sondern ein Erbe, ein Vermächtnis der vorausgegangenen Regime betrifft. Sie konstituiert eine "autoritäre Enklave" in den entstehenden Demokratien, aber nicht die einzige. Postautoritäre politische Systeme müssen sich in der Regel mit vier vererbten "autoritären Enklaven" auseinandersetzen: Die erste betrifft das Menschenrechtsproblem, das bereits angesprochen wurde. Als zweite "autoritäre Enklave" ist das institutionelle Erbe zu nennen, d.h.

Auszüge aus einer umfassenderen Studie "Human Rights in Processes of Democratization. The Chilean Case" für die UNESCO. Division of Human Rights, Democracy and Peace.

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die Koexistenz von demokratischen Normen mit überkommenen Verfassungskomponenten oder Gesetzen, die die Demokratie einschränken. Bei der dritten handelt es sich um die Enklave der Akteure, sie umfaßt Gruppen, Organisationen und Sektoren, vor allem im Militär oder in Verbindung zum Militär stehend, die nicht voll in das demokratische Kräftespiel integriert sind oder sogar gegen die Demokratie konspirieren. Die vierte "autoritäre Enklave" findet sich seltener in den Ländern Lateinamerikas, die unter dem "neuen Autoritarismus" der Militärs gelitten haben, sondern gewöhnlich in Gesellschaften, die keine vorherigen demokratischen Erfahrungen aufweisen oder über mehrere Generationen unter autoritären Regimen lebten. Sie betrifft die allgemeine Verbreitung von antidemokratischen und autoritären Werten, Mentalitäten und Einstellungen. Im Übergangsprozeß und im weiteren Prozeß der Demokratisierung wird die Menschenrechtsfrage Gegenstand einer umfassenden Strategie gegen die "autoritären Enklaven", die diese explizit oder implizit als Ganzes betrachtet, Prioritäten setzt und sie verknüpft. Mit anderen Worten, es ist nicht möglich, die "autoritären Enklaven" zu überwinden, falls man sie nicht umfassend angeht. Ein Scheitern bei der Überwindung dieser Enklaven läßt den Transitionsprozeß unvollendet und die neue Demokratie verstümmelt. Außerdem wird die demokratische Konsolidierung, die eine soziale Demokratisierung und Modernisierung sowie, gelegentlich, tiefgreifende wirtschaftliche Reformen einschließt, verzögert oder behindert. Dieses erste die Menschenrechtsfrage betreffende Dilemma im politischen Übergangs- und Demokratisierungsprozeß überlappt sich mit einem anderen, das als Dilemma zweier miteinander verflochtener Handlungslogiken oder Rationalitäten bezeichnet werden kann. Auf der einen Seite gibt es im Übergangsprozeß Vertreter einer ethisch-symbolischen Logik, die eine radikale Lösung und letztendlich die Wiederherstellung der Situation vor den massiven Menschenrechtsverletzungen, die durch das autoritäre Regime begangenen wurden, vorschlagen. Weil dies aber nicht möglich ist, fordern sie ein Höchstmaß an Wahrheit und die Verbreitung von Informationen über die Verbrechen, die vom Staat und der Militärregierung begangen wurden, wie auch die gerichtliche Verfolgung und Bestrafung deijenigen, die verantwortlich sind, und die größtmögliche institutionelle und symbolische Wiedergutmachung für die Opfer. Dies ist ein Ideal, das nicht verwirklicht werden kann und dessen utopische Forderungen all die ethischen, epischen, doktrinären und radikalen Komponenten der Ideologie der Menschenrechte aufnimmt, wie sie sich im Westen entwickelt hat. Diese Logik verkörpert in gewisser Weise das Grundprinzip aller Kämpfe gegen autoritäre Regime, die dem Akteur als Subjekt, wie er in der Menschenrechtsbewegung zum Ausdruck kommt, einen besonderen Stellenwert einräumt. Demokratie wird mit den Menschenrechten identifiziert und verwechselt und ihnen untergeordnet. Dem steht eine machtpolitische Logik gegenüber, die im Kern auf die Durchsetzung eines demokratischen Systems und dessen Sicherung ausgerichtet ist, ausgehend von der Prämisse, daß dies nicht nur die conditio sine qua non zur Lösung der überkommenen Menschenrechtsprobleme ist, sondern auch gewährleistet, daß Menschenrechtsverletzungen in der Zukunft verhindert werden. Hier 30

wird das Menschenrechtsproblem der Demokratiefrage untergeordnet, weil das Hauptanliegen der Übergang von einem autoritären System zur Demokratie und deren Konsolidierung ist. Deshalb wird diese Logik auch häufiger von politischen (als von gesellschaftlichen) Akteuren betont, die gewöhnlich auf staatlicher Ebene agieren. Falls die Geister, die die Vertreter einer ethischen Handlungslogik quälen, das Vergessen und die Straflosigkeit sind, so werden die Fürsprecher einer machtpolitischen Logik vom Gespenst autoritärer Rückfälle verfolgt. Beide konkurrierende Handlungslogiken stellen, wenn auch meist verdeckt, die jeweils andere als Bedrohung dar, um die eigene Position zu rechtfertigen. Von der einen Seite wird argumentiert, daß eine radikale Lösung des Menschenrechtsproblems autoritäre Regressionen heraufbeschwört. Auf der anderen Seite wird behauptet, daß es der Demokratie ohne die Lösung des Menschenrechtsproblems an Legitimität ermangeln wird. Im Kontext der Auseinandersetzungen mit dem autoritären Regime scheinen sich beide handlungsleitende Logiken zu vermischen, wobei grundsätzlich die ethische Logik den politischen Diskurs dominiert. Doch obgleich sich die Akteure im Übergangsprozeß zur Demokratie auf die ethische Logik berufen, lassen sie sich in ihrem Verhalten, wie es scheint, eher von der politischen Logik leiten und stellen die Lösung ethischer Fragen bis zur Errichtung der Demokratie zurück. Sobald dieses Ziel erreicht ist, entlädt sich jedoch die latente Spannung zwischen beiden Handlungsprinzipien in einem offenen Konflikt zwischen staatlichen Akteuren (der demokratischen Regierung) und sozialen Akteuren (der Menschenrechtsbewegung). Die demokratische Bewegung und die Menschenrechtsbewegung, die zuvor gleichgesetzt wurden, werden nun durch diesen Widerspruch gespalten. Wobei die Intensität dieses Konfliktes von Land zu Land variiert. Generell muß man feststellen, daß es keine definitive Lösung für das allgemeine Problem der Menschenrechtsverletzungen, die unter autoritären oder totalitären Regimen begangen wurden, geben kann, noch historisch gegeben hat. Das Problem betrifft ein nicht wiedergutzumachendes historisches Übel. In dieser Hinsicht kann, legt man strenge Maßstäbe an, kein Übergangsprozeß zur Demokratie, was dieses spezifische Problem betrifft, als erfolgreich abgeschlossen betrachtet werden, auch wenn er zu einer authentischen Demokratie fuhrt oder wenn diese Demokratie als konsolidiert angesehen werden kann. Es handelt sich um ein Problem, das nicht gelöst werden kann, auch wenn es nicht mehr akut ist. Dessen ungeachtet sind es gerade die Einbettung der Menschenrechtsproblematik in das strategische Problem der "autoritären Enklaven" und das Vorhandensein der beiden oben skizzierten handlungsleitenden Logiken, die es ermöglichen, zu Bewertungskriterien zu gelangen, die für eine Analyse der unterschiedlichen historischen Lösungswege herangezogen werden können, die Gesellschaften in der Frage der Menschenrechte in einer postautoritären Konstellation beschritten haben. Anders formuliert, diese Lösungen sollten im Zusammenhang damit betrachtet werden, wie die "autoritären Enklaven" in den Demokratisierungs-

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Prozessen überwunden wurden und wie die beiden handlungsleitenden Logiken am besten kombiniert werden können. Es ist nicht möglich, nachträglich zu klären, welche Auswirkungen eine radikalere Menschenrechtspolitik auf den Demokratisierungsprozeß gehabt hätte. Dies bedeutet aber nicht, daß die jeweils angewandte Politik die einzig mögliche gewesen wäre oder daß man nicht hätte mehr erreichen können. Auf jeden Fall müßte eine radikalere, umfassendere, und definitive Lösung des Menschenrechtsproblems die politischen Parteien, die Regierung, das Parlament, die Opfer von Menschenrechtsverletzungen und die Menschenrechtsorganisationen einbinden. Dies bedeutet aber, daß es notwendig würde, die öffentliche Debatte mit Akteuren, die Verantwortung tragen, neu zu entfachen. Falls dies nicht geschieht, besteht das Risiko, daß der Konflikt über die Menschenrechtsproblematik in die Privatsphäre abgedrängt und der status quo der Straflosigkeit begünstigt wird. Im weiteren Prozeß der demokratischen Konsolidierung erhält die Frage des "nunca más" eine auf die Zukunft gerichtete Bedeutung. Sie umfaßt nicht mehr allein die Verhinderung eines autoritären Rückfalls, sondern auch den Wunsch, das Leben unter den ethischen Prinzipien der Menschenrechte zu verbessern. Das Dilemma, das sich im Konsolidierungsprozeß stellt, betrifft die Frage, ob man im Hinblick auf die Vergangenheit zuläßt, daß die Menschenrechtsproblematik vergessen wird oder ob das Thema weiter auf der Tagesordnung bleibt, womit gleichzeitig anerkannt wird, daß die bisherigen Lösungen als vorläufig zu betrachten sind. Unabhängig davon, ob diese Lösungen substantiell verbessert werden können, sollte die Menschenrechtsagenda auf die Reform von zwei Institutionen ausgerichtet sein, die die Menschenrechtsverletzungen unter den autoritären Regimen erst ermöglichten: Militär und Justiz. Anders formuliert, notwendig ist eine grundlegende Überprüfung und Neuausrichtung des Straf- und Gewaltinstrumentariums des Staates. Diese Reform verknüpft beide Bedeutungsinhalte des "nunca más": Sie betrifft die Vergangenheit und die Ursachen der Menschenrechtsverletzungen, und sie ist auf die Zukunft ausgerichtet, um zu verhindern, daß sich die Ereignisse der Vergangenheit wiederholen.

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Esteban Cuya

Wahrheitskommissionen in Lateinamerika1 Nach Interventionen humanitärer Organisationen, wie Brot für die Welt, Diakonisches Werk, Pax Christi etc., verweigerte die Bundesrepublik Deutschland 1994 mehreren hohen kolumbianischen Offizieren die Einreisevisa. Die Militärs waren ursprünglich zu Fortbildungsprogrammen und zur Prüfung von Waffensystemen und Ausrüstungsmaterial, das die kolumbianischen Streitkräfte erwerben wollten, eingeladen worden. Die Namen der Offiziere, denen man die Einreisevisa verwehrte, erschienen auf einer Liste von Menschenrechtsverletzern, die in einem 1992 in Brüssel veröffentlichten Buch enthalten war, das den Titel "Staatsterrorismus in Kolumbien" trägt. In der Schweiz wurde im gleichen Jahr einem chilenischen Botschafter die Akkreditierung verweigert, weil er von dort lebenden exilierten Chilenen als ehemaliger Richter wiedererkannt worden war, der eng mit dem Pinochet-Regime und den Folterknechten der Geheimpolizei kollaboriert hatte. 1995 verweigerte die spanische Regierung dem General Luis Pérez Documet die diplomatische Anerkennung als Militárattaché der peruanischen Botschaft in Madrid, weil er angeklagt wurde, an der Entfuhrung und Ermordung eines Professors und von neun Studenten der Universität "La Cantuta" in Lima im Juli 1992 beteiligt gewesen zu sein. Wenn auch die große Mehrheit der für die Menschenrechtsverletzungen in Lateinamerika Verantwortlichen völlige Straffreiheit genießt und als "ehrbare Bürger" frei durch die Welt reist, gelingt den internationalen humanitären Organisationen zuweilen doch eine derartige moralische Sanktion. Aber selbst diese bescheidenen Erfolge wären nicht möglich gewesen, wenn nicht zuvor die nationalen Menschenrechtsorganisationen die risikoreiche Arbeit auf sich genommen hätten, nach der Wahrheit zu suchen und Gerechtigkeit einzufordern.

Vom Herausgeber gekürzte, aus dem Spanischen übersetzte und redaktionell überarbeitete Fassung einer längeren Studie des Nürnberger Menschenrechtszentrums.

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I. Wahrheit oder Aussöhnung? 1. Schwamm drüber und Neubeginn Mit der Rückkehr zu zivilen Regierungen nach einer Periode der Militärherrschaft kam in vielen lateinamerikanischen Staaten die zentrale Debatte auf: Was soll mit den Verantwortlichen für die Menschenrechtsverletzungen geschehen? Wie sollen Gesellschaften rekonstituiert werden, die derart mißhandelt worden waren? Wie soll der innere Frieden wiederhergestellt, wie eine nationale Aussöhnung erreicht werden, ohne dem Recht Geltung zu verschaffen? In der Regel waren die Militärregime, bevor sie abtraten, bestrebt gewesen, die Periode der Geschichte zu versiegeln, in der sie auf illegitime Weise die Macht ausgeübt hatten, und sie versuchten, jegliche Möglichkeit einer nachfolgenden strafrechtlichen Verfolgung ihres Regierungshandelns und ihrer Menschenrechtsverletzungen zu neutralisieren. Mit der Illusion, den Schrecken ihrer Taten zu tilgen, und dem Anspruch auf Vergessen und Straflosigkeit haben diese autoritären Regime am Ende ihrer Herrschaft - oder ihre Nachfolgeregierungen - Gesetze "der Gehorsamspflicht", "der Hinfälligkeit des Straftatbestandes", "des Schlußpunktes", "der Amnestie" etc. verabschiedet 2 . Auf diese Weise wollten sie ignorieren, daß der Anspruch auf Gerechtigkeit ein Menschenrecht universellen Charakters ist, das der staatlichen Gewalt vorund ihr übergeordnet ist. Jene, die aus ihren Machtpositionen heraus die Menschenrechte verletzt hatten, wollten leugnen, daß Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach dem internationalen Recht nicht veijähren und nicht amnestiert werden können. In einigen Fällen waren Verfahren gegen die Machtinhaber Teil des Wahlprogramms von Bewegungen, welche die Militärs in der Staatsfiihrung ablösen wollten. In der Praxis entzogen sie sich, einmal an die Macht gelangt, dieser Verpflichtung, "um die Demokratie zu retten". Aber der Schrei nach Gerechtigkeit der Angehörigen von Opfern wie auch der Kampf von Anwälten, Journalisten, Priestern, Richtern, Politikern sowie Aktivisten in den nationalen und internationalen Menschenrechtsorganisationen haben zur Schaffung von Kommissionen gefuhrt, die die Wahrheit aufdecken sollten: So wurden von offiziellen Stellen in Argentinien die CONADEP (Comisión Nacional sobre la Desaparición de Personas), in Chile die Comisión de Verdad y Reconciliación und in El Salvador die Comisión de la Verdad geschaffen. In anderen Länder, wie Brasilien, Uruguay, Paraguay und Bolivien, entstanden die "Wahrheitskommissionen" aufgrund von — manchmal geheimen — Initiativen von Menschenrechtsorganisationen oder -aktivisten, ohne daß diese Kommissionen über ein offizielles Mandat der Regierungen verfugten.

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Einen ausgezeichneten Überblick über die Gesetze zur Straflosigkeit in Chile, Brasilien, Honduras, Guatemala, Argentinien, Uruguay, El Salvador, Nikaragua und Surinam vermittelt Norris (1992).

2. Wahrheit, Gerechtigkeit und Aussöhnung Die für die Menschenrechtsverletzungen Verantwortlichen ebenso wie bestimmte Gesellschaftssektoren, die nicht unter der offiziellen Gewalt gelitten hatten, schlugen vor, rasch zu einer Aussöhnung der Gesellschaft zu gelangen, um das Land wieder aufzubauen. Sie waren nicht daran interessiert, die Wahrheit zu ergründen oder dem Recht Geltung zu verschaffen. Sie ignorierten, daß 1985 die Interamerikanische Menschenrechtskommission festgelegt hatte, daß "jede Gesellschaft das unverzichtbare Recht besitzt, die Wahrheit über das Geschehene zu kennen genauso wie die Ursachen und Umstände, in denen derart abartige Verbrechen begangen werden konnten, um auf diese Weise zu verhindern, daß sich diese Vergehen in der Zukunft wiederholen werden." Familienangehörige und Freunde der Opfer, Menschenrechtsgruppen und andere gesellschaftliche Gruppen forderten auch deshalb die Aufdeckung der Wahrheit und die Anwendung des Rechts als Vorbedingung für eine nationale Aussöhnung. Wie es Luis Pérez Aguirre (1990: 131) ausdrückte: "Man hat gesagt, in den Ereignissen der Vergangenheit herumzustochern, bedeute, erneut die Wunden der Vergangenheit aufzureißen. Wir fragen uns, für wen und wann sich diese Wunden geschlossen haben. Sie sind offen, und die einzige Möglichkeit, sie zu schließen, wäre eine echte nationale Aussöhnung, die auf der Wahrheit und der Gerechtigkeit hinsichtlich dessen aufbaut, was sich ereignet hat. Eine Aussöhnung basiert auf diesen minimalen Grundvoraussetzungen." Der peruanische Jurist Carlos Chipoco (1994: 83-106) präzisiert darüber hinaus, daß die Wahrheit vollständig, offiziell, öffentlich und unparteiisch sein müsse. Er fügt hinzu, daß die Suche nach der Wahrheit aus folgenden Gründen wichtig sei: aus einer moralischen Verpflichtung gegenüber den Opfern, ihren Familienangehörigen und Verwandten; um die Schuldigen aufzuspüren und zu bestrafen; um die Demokratie und die Kontrolle der Bürger gegenüber den öffentlichen Institutionen zu verfestigen; um zu verhindern, daß sich derartige Menschenrechtsverletzungen wiederholen. Das Recht auf die Wahrheit ist Teil der Wiedergutmachung des Schadens, der von Funktionären des Staates verursacht wurde. Die Wiedergutmachung muß ökonomische, soziale, medizinische und rechtliche Maßnahmen umfassen. Auf der Grundlage seiner Erfahrungen in Chile hat der Arzt und Psychotherapeut Carlos Madariaga (1994: 9-11) darauf hingewiesen, daß eine konzeptionelle Verwirrung darüber besteht, was unter Wiedergutmachung zu verstehen sei. Er erläutert, daß die Regierungsstellen in der Regel "Wiedergutmachung" auf eine reduktionistische Weise verstünden, indem sie materielle Lösungen auf Kosten juristischer, ethischer, soziopolitischer und psychosozialer Aspekte bevorzugten. Diese Tatsache habe in den Opfern ein starkes Gefühl von Frustration und Enttäuschung hervorgerufen, d.h. psychosoziale Zustände, die die laufenden Bemühungen um eine Wiedergutmachung weitgehend fehlschlagen ließen.

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3. Die "Wahrheitskommissionen" Die "Wahrheitskommissionen" sind Untersuchungsorgane, die mit dem Ziel geschaffen wurden, Gesellschaften zu helfen, die mit schwierigen Situationen politischer Gewalt oder mit Bürgerkriegen konfrontiert gewesen waren, um sich kritisch mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Auf diese Weise sollen tiefsitzende, von der Gewalt erzeugte Traumata überwunden werden und so verhindert werden, daß sich derartige Ereignisse in naher Zukunft wiederholen. Durch die "Wahrheitskommissionen" will man die Ursachen der Gewalt ergründen, die schwersten Menschenrechtsverletzungen untersuchen und die Verantwortlichkeiten feststellen. Die Arbeit der "Wahrheitskommissionen" ermöglicht - falls sie ihren Auftrag ernst nehmen und ehrlich arbeiten —, die Strukturen des Terrors und seine Verankerung in Staat und Gesellschaft aufzudecken. Diese Untersuchungen eröffnen die Möglichkeit, die Erinnerung an die Opfer wachzuhalten, eine Politik der Wiedergutmachung in die Wege zu leiten, das Recht durchzusetzen und zu verhindern, daß jene, die direkt oder indirekt die Menschenrechte verletzt haben, weiterhin öffentliche Ämter bekleiden und auf diese Weise den Rechtsstaat verhöhnen. Ohne eine Auseinandersetzung mit der jüngsten, kritischen Vergangenheit wird es nicht möglich sein, den circulus viciosus von Gewalt und Unterdrückung zu durchbrechen. Denn die Nichterfüllung der gerechtfertigten Erwartungen der Angehörigen der Opfer und die Verheimlichung der Wahrheit bringt den Staat in Verruf und erhält die sozialen Spannungen aufrecht. In einigen Ländern war die Suche nach der Wahrheit das Ergebnis eines rechtlichen oder formalen Prozesses. Die Regierungen "beauftragten" eine Gruppe von Experten, wie z.B. in Argentinien, Chile, El Salvador und auch in Haiti. In diesen Ländern wurden die "Wahrheitskommissionen" aufgrund eines gesetzlichen Auftrags eingesetzt, dem politische Verhandlungen oder Übereinkommen vorausgingen, die in gewisser Weise die Untersuchungen erleichterten. In verschiedenen Ländern entstanden die "Wahrheitskommissionen" als Ergebnis der Aktivitäten von Menschenrechtsorganisationen, die häufig eine Arbeit im Geheimen entfalten mußten, um schwere Fälle staatlicher Gewalt zu untersuchen. So geschah es in Brasilien mit der Arbeit der Erzdiözese von Säo Paulo, die unter der Führung von Kardinal Evaristo Arns das wertvolle Dokument "Brasil Nunca Mais " erarbeitete. In Paraguay veröffentlichte das Comité de Iglesias para Ayuda de Emergencias (CIPAE) gleichfalls eine Reihe von Untersuchungen über die Stroessner-Diktatur unter dem Titel "Paraguay Nunca Más". Die gleiche Stoßrichtung hatten die Bemühungen des Servicio Paz y Justicia in Uruguay mit dem Bericht "Uruguay Nunca Más" und die Arbeit des Zusammenschlusses von kolumbianischen und ausländischen Menschenrechtsorganisationen, die den informativen Bericht "El terrorismo de Estado en Colombia" veröffentlichten. Aber es gab auch Fälle, in denen die "Wahrheitskommissionen" mit dem Ziel der Vertuschung geschaffen wurden, um der "offiziellen Wahrheit" moralische Rückendeckung zu geben. Dies geschah beispielsweise in Peru mit der Comisión 36

Uchuraccay, die 1983 vom Schriftsteller Mario Vargas Llosa geleitet wurde und das Massaker an acht Journalisten und einem einheimischen Führer, der sie begleitet hatte, untersuchte. Das gleiche gilt für einige einseitige Untersuchungen, die in Kolumbien, Nikaragua und Mexiko in Auftrag gegeben wurden. Nach der Wahrheit der Menschenrechtsverletzungen zu suchen, wenn die Ereignisse noch frisch sind, birgt Risiken sowohl für die Untersuchenden als auch für Informanten, Zeugen und Angehörige der Opfer. Der ungerechtfertigte Verdacht, daß die Aktivisten in Menschenrechtsorganisationen die Subversion unterstützten wie auch die Angst offizieller Stellen, daß derartige Organisationen in ihren Archiven über Material zu polizeilichen und militärischen Gewaltakten verfugen, hat häufig dazu geführt, daß die militärische oder polizeiliche Führung Durchsuchungen ihrer Büros durchführte und ihre Mitglieder verhaftete, verschwinden ließ oder ermordete. In Argentinien durchsuchten die Militärs mit juristischer Rückendeckung die Büros der Liga Argentina por los Derechos del Hombre, der Asamblea Permanente de Derechos Humanos, des Movimiento Ecuménico de Derechos Humanos, des Centro de Estudios Legales y Sociales (CELS) und nahmen mehrere ihrer Mitglieder fest. Agenten des Staates durchsuchten in den Jahren der Diktatur die Büros der Vicaría de la Solidariad in Chile, des Servicio de Paz y Justicia in Uruguay wie auch der Asamblea Permanente de Derechos Humanos und der Comisión Nacional de Derechos Humanos y Defensa de la Democracia in Bolivien3. Das gleiche Schicksal erlitten die Büros der Comisión de Derechos Humanos in El Salvador und des Servicio de Paz y Justicia in Ayacucho/Peru wie auch andere Menschenrechtsorganisationen des Kontinents. Die Geschichte des Kampfes für Menschenrechte lehrt uns, daß jede Organisation Vorkehrungen treffen muß, um den Schaden möglichst gering zu halten, falls die Mächte des Todes angreifen. Es müssen bestimmte Grundregeln der Sicherheit eingehalten werden, um die Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisationen und diejenigen, die mit ihnen zusammenarbeiten, zu schützen. Gleiches gilt für die dokumentierten Zeugenaussagen und die Archive. Während der Recherchen für den Bericht "Brasil Nunca Mais" und während seiner Erstellung befolgte die Arbeitsgruppe eine Vielzahl von Sicherheitsvorkehrungen, um keine Spuren ihrer Aktivitäten zu hinterlassen. In ihren mündlichen Mitteilungen benutzten sie eine verschlüsselte Sprache. "Schokolade" war ein Begriff, der verwendet wurde, um sich auf geheime Dokumente zu beziehen. Die Dokumente wurden auf Mikrofilm aufgenommen und mehrfach entwickelt, damit eine Kopie im Ausland aufbewahrt werden konnte. Man benutzte die Auslandsreisen von Personen mit diplomatischem Status, um Dokumente hinauszuschmuggeln und finanzielle Unterstützungsleistungen für die Untersuchungen ins Land zu bringen.

Dabei wurde der Abgeordnete Marcelo Quiroga Santa Cruz ermordet. 37

Die Wahrheit kann auf vielerlei Weise rekonstruiert werden, indem die Aussagen der Zeugen zusammengefaßt und unterschiedlichste dokumentarische Quellen gesichtet werden: — Sicherlich gehören die Zeugenaussagen der Überlebenden von militärischen Operationen wie auch die Berichte von Familienangehörigen von Opfern und anderen Zeugen zu den wichtigsten Informationen, um bei der Suche nach der Wahrheit voranzukommen. Diese Personen benötigen einen besonderen Schutz, bis der Frieden und die nationale Aussöhnung sich konsolidiert haben. In Peru wie auch in El Salvador gibt es zahlreiche Fälle von Zeugen von Menschenrechtsverletzungen, die, kurz nachdem sie die Medien oder die offiziellen Untersuchungskommissionen unterrichtet hatten, verschwanden oder ermordet wurden. Die Vereinten Nationen (ONUSAL) unterstützten die "Wahrheitskommission" in El Salvador und stellten ihr technisches Gerät zur Verzerrung und Entzerrung von Stimmen zur Verfügung. Auf diese Weise wollte man die Identität der Informanten und ihre Zeugenaussagen schützen. Zugleich wurden die Befragungen aus Angst vor militärischen Einschüchterungsversuchen häufig in Botschaften oder an geheimen Orten durchgeführt — fern der Augen und Ohren des Militärs. — Häufig verfugen die Familienangehörigen von Opfem über eine Vielzahl von Dokumenten — Anzeigen, Rechtsmittel, Autopsieberichte, Zeugenaussagen vor Richtern und Staatsanwälten —, die von Menschenrechtsorganisationen gleichfalls archiviert werden müssen. Auf offizieller Ebene konnten die Menschenrechtsorganisationen oder die "Wahrheitskommissionen" zuweilen auf die Unterstützung von Richtern und Staatsanwälten in verschiedenen Regionen außerhalb der Hauptstadt zurückgreifen, um mehr über die Menschenrechtsverletzungen zu erfahren. In Peru registrierten einige Provinzstaatsanwaltschaften Fälle von Folterungen und Verschwindenlassen, die den Menschenrechtsorganisationen noch nicht zur Kenntnis gekommen waren. — Die über die ganze Welt verstreuten Gemeinden von Exilierten bewahren in der Form von Briefen, Mitteilungsblättern, Rechtsmitteln und anderen Dokumenten eine große Menge von Informationen über Fälle von Menschenrechtsverletzungen auf, über die sehr wenig in den betreffenden Ländern bekannt ist. — Auch einige internationale Geldgeber, die den protestantischen Kirchen nahestehen und die Arbeit von Menschenrechtsorganisationen in Lateinamerika unterstützten, verfugen über historische Archive, die wichtige Dokumente für Untersuchungen und die Suche nach der Wahrheit enthalten.

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- Auch wenn es sehr schwierig ist, so ist es doch möglich, an vertrauliche Papiere zu gelangen, die innerhalb der Streitkräfte zirkulieren, in Form von Examensarbeiten, Befehlen, Aktionsplänen, Strategien, Doktrinen und philosophischen Begründungen des "inneren Krieges". Die Publikationen des Militärs (Jahresberichte, Zeitschriften, Mitteilungsblätter, Bücher) sind gleichfalls Quellen, auf die man nicht verzichten kann. - In mehreren Ländern haben Mitglieder der Streitkräfte oder der Polizei, die mit den Menschenrechtsverletzungen nicht einverstanden waren, wertvolle Informationen über die offizielle Struktur des Terrors, Geheimoperationen etc. beigesteuert. In einigen Fällen haben Gewissensbisse oder das Gefühl, von den Vorgesetzten verraten worden zu sein, Militärs oder Polizisten dazu gebracht, die illegalen Aktivitäten ihrer Institutionen anzuprangern. Manchmal haben diese Personen versucht, mit Menschenrechtsorganisationen in Verbindung zu treten. Auch wenn Dissidenten im Militär oder bei der Polizei äußerst wichtige Informationen zur Aufdeckung der Wahrheit liefern können, war es in solchen Fällen wegen des Risikos einer Infiltration von Menschenrechtsorganisationen durch die Sicherheitsorgane notwendig, mit größter Vorsicht vorzugehen. - Unbeschadet der Probleme mit der Zensur kann auch die Tagespresse eine wichtige Informationsquelle für die Untersuchungen der "Wahrheitskommissionen" darstellen, denn sie gab die offizielle "Kriegsberichterstattung" wieder und berichtete über Verhaftungen, Vorwürfe von Folter, Morde etc. Darüber hinaus fanden sich wertvolle Informationen über die Repression in den Publikationen von Gewerkschaften, Universitäten, Kirchen etc. - In einigen Ländern erhielten die "Wahrheitskommissionen" von einzelnen diplomatischen Vertretungen reichhaltiges Material über Menschenrechtsverletzungen. Die von der Botschaft der Vereinigten Staaten zur Verfugung gestellten Dokumente enthielten beispielsweise eine Menge Beweismaterial über die Todesschwadronen, die mit der Unterstützung der CIA und des salvadoranischen Heeres in den 80er Jahren aktiv waren. Organisationen wie das Internationale Rote Kreuz oder Amnesty International können gleichfalls wichtige Informationen über die geschundenen Opfer und die mutmaßlich Verantwortlichen beisteuern. - Eine weitere wichtige Informationsquelle ist das Menschenrechtszentrum der Vereinten Nationen. Dort sind vielfach offizielle Informationen zu finden, die in den betreffenden Ländern nicht bekannt sind. Das chilenische Militärregime hat die VN in einigen Fällen über Bürger informiert, deren Verschwinden es im Lande selbst verleugnete, ja es übergab sogar Listen von Verhafteten oder Freigelassenen, die im Inland verheimlicht worden waren. Diese offiziellen Dokumente dienten später als Grundlage, um in Chile Gerichtsverfahren zu eröffnen. 39

II. Die Entwicklung der "Wahrheitskommissionen" 1. Offiziell eingesetzte Kommissionen a) Argentinien In Argentinien wurden zwischen 1976 und 1983 die Menschenrechte von Tausenden von Personen auf systematische Weise durch die institutionalisierte Repression der Streitkräfte verletzt. Menschenrechtsorganisationen gehen von ca. 30.000 Verschwundenen und Ermordeten während des schmutzigen Krieges aus. Um der Debatte über die Verschwundenen ein Ende zu bereiten, veröffentlichten die Streitkräfte ein Verfassungsdekret (acta institucional), in dem sie kundtaten, "daß allein das Urteil der Geschichte genau feststellen kann, wer die Verantwortung für ungerechtfertigte Methoden und unschuldige Tote trägt", und daß alle Aktionen in diesem Krieg "im Dienst" erfolgt seien. Darüber hinaus gaben die argentinischen Militärs öffentlich ihren Wunsch bekannt, daß den verschwundenen und toten Feinden "Gottes Gnade zu Teil wird" (Verbitsky 1985: 30). Präsident Raúl Alfonsin erklärte aus gegebenem Anlaß, daß es nach so viel Gewalt "keinen Mantel des Vergessens geben kann". Deshalb war einer seiner ersten Rechtsakte die Schaffung einer "Wahrheitskommission", die den Auftrag erhielt, die Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen, die während der Militärdiktatur in den Jahren 1976 bis 1983 begangen worden waren. Die "Nationale Kommission über das Verschwinden von Personen" (Comisión Nacional sobre la Desaparición de Personas — CONADEP) wurde per Gesetzesdekret (Decreto Ley 187/130) vom 15.12.1983 geschaffen. Zu den 13 Kommissionsmitgliedern gehörten der Schriftsteller Ernesto Sábato, der die Kommission leitete, und der Erzbischof von Neuquén, Jaime F. de Nevares. Um die CONADEP ins Leben zu rufen, mußte die Regierung Konflikte mit dem Kongreß durchstehen. Dort tendierte die Mehrheit dazu, die Untersuchungen über die Verschwundenen einem internen Ausschuß zu übertragen. Der Furcht vor den Militärs und das Desinteresse einiger Volksvertreter waren so groß, daß es der Senat versäumte, seine drei Mitglieder für die CONADEP zu benennen, wie es das Abgeordnetenhaus getan hatte. Als die CONADEP ihre Arbeit aufnahm, sah sie sich mit einer Vielzahl von Problemen konfrontiert, die sie dank der entschlossenen Unterstützung nationaler und internationaler Menschenrechtsorganisationen überwinden konnte. Die ersten angestellten Mitarbeiter der CONADEP, die selbst an den Wochenenden und Feiertagen ihrer Verpflichtung nachkamen, gaben bald ihre Arbeit wieder auf, überwältigt und erschüttert von den Schrecken, die sie Tag für Tag durch die direkten Zeugnisse der Repressionsopfer erfahren hatten. Dank der Anstrengungen von Ernesto Sábato und des Drucks von Menschenrechtsorganisationen wie der "Madres de Plaza de Mayo" hatten einige der Mitglieder der "Wahrheitskommission" die Möglichkeit, ins Ausland zu reisen und die Anzeigen von exilierten Argentiniern in den USA, Frankreich, der Schweiz, Spanien, Mexiko und in 40

anderen Ländern aufzunehmen. Der CONADEP gelang es, die Unterstützung des Außenministeriums zu gewinnen, das "Büros für Anzeigen" des gewaltsamen Veschwindenlassens während der Militärdiktatur in diplomatischen Vertretungen Argentiniens einrichtete. Nach neun Monaten, in denen mehr als 50.000 Seiten an Zeugenaussagen und Anzeigen zusammengetragen wurden, veröffentlichte die CONADEP im November 1984 das Ergebnis ihrer Untersuchungen unter dem Titel "Nunca Más. Informe de la Comisión Nacional sobre la Desaparición de Personas". Dort legte sie Zeugnis von 8.960 Fällen des gewaltsamen Verschwindenlassens von Personen ab, die durch Aussagen ausreichend belegt sind. Die CONADEP schließt nicht aus, daß sich in einer Schlußbilanz die Zahl der Opfer noch erhöht, weil viele andere Fälle noch nicht abschließend untersucht und verifiziert werden konnten, so daß die Zahl von 8.960 Verschwundenen nicht als definitiv angesehen werden kann. Der Bericht von CONADEP verweist darauf, daß es in Argentinien 340 geheime Verhaftungszentren gab, die unter dem Befehl von höheren Offizieren der Streitund Sicherheitskräfte standen. Dort waren die Gefangenen unter unmenschlichen Bedingungen untergebracht, dort wurden sie allen erdenklichen Erniedrigungen und Folterungen unterworfen und ermordet. Die CONADEP deckte auf, daß es zwischen den höheren Offizieren der Streitkräfte und der Polizei eine Art "Blutpakt" gab, der die Beteiligung aller an den Menschenrechtsverletzungen beinhaltete. Die "Wahrheitskommission" verbreitete auch eine Liste von 1.351 Personen, die an der Repression mitgewirkt hatten, darunter Offiziere der Streitkräfte und der Polizei, Richter, Ärzte, Journalisten und katholische Priester, die als Militärgeistliche am schmutzigen Krieg beteiligt waren. Die CONADEP legte den verschiedenen Staatsorganen mehrere Empfehlungen vor, darunter die Fortführung der Untersuchungen durch die Gerichte, wirtschaftliche Hilfsleistungen und Stipendien für die Angehörigen der Opfer und die Verabschiedung von Rechtsnormen, die das gewaltsame Verschwindenlassen zum Verbrechen gegen die Menschlichkeit erklären. Darüber hinaus empfahl die CONADEP obligatorischen Unterricht über die Menschenrechte in den staatlichen Ausbildungszentren, einschließlich der von Militär und Polizei, sowie die Aufhebung noch bestehender repressiver Gesetze. Viele Empfehlungen warten immer noch auf ihre Umsetzung. Und die schmerzliche Wahrheit tritt immer noch als kollektives Trauma zutage, das einer umfassenden Therapie bedarf. Trotz der Untersuchungen der Kommission und den Anklagen von Menschenrechtsorganisationen in Argentinien beförderte der Kongreß Hunderte von Militärs, die in Entführungen, Folterungen und das Verschwindenlassen von Personen verwickelt und auf der Liste der CONADEP als Menschenrechtsverbrecher aufgeführt worden waren. Selbst Alfredo Ast}z, Kapitän zur See, verantwortlich für die Entführung und Ermordung der französischen Nonnen Alice Dornon und Leonie Duquet sowie für das Verschwindenlassen und die Ermordung der jungen Schwedin Dagmar Ingrid Hagelin, neben anderen Opfern, war bis 1995 befördert worden und im Dienst. Im Jahr 1977 war es Astiz gelungen, sich in die Gruppe 41

der Helfer der "Mütter der Plaza de Mayo" einzuschleusen, die zu unterstützen er vorgab. Astiz bewegte sich ungehindert in den Büros der Madres. So kam er zu den Informationen, die später dazu dienten, 12 Personen zu entfuhren, darunter die Gründerin der "Mütter der Plaza de Mayo", Azucena Villaflor de Vincenti. "Wissen Sie, wieviele Astiz' es in der Marine gab? Dreihundert Astiz'", sagte der Konteradmiral Horacio Mayorga, der ehemalige Chef des Marinestützpunktes Trelew, im Jahr 1985. "Die Offiziere der ESMA waren emsthafte Personen, die für das Vaterland töteten", fügte er hinzu (Verbitsky 1995: 21). Deshalb kämpfen die Menschenrechtsorganisationen in Argentinien immer noch gegen die Gesetze zur Straflosigkeit, fordern ihre Aufhebung wie auch "die Entfernung all deijenigen aus ihren Ämtern, die in die Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur verwickelt waren." "Reumütige" Folterer haben zwischenzeitlich durch neue Erkenntnisse dazu beigetragen, das Schicksal Tausender von Opfern der Repression aufzuklären. b) Chile Nach dem moralischen und politischen Verschleiß des Diktators Augusto Pinochet, der fast 17 Jahre das Land regiert hatte, wählten die Chilenen einen gemäßigten Vertreter der Opposition, den Christdemokraten Patricio Aylwin, zum Präsidenten, der seine unumstößliche Verpflichtung zur Verteidigung der Menschenrechte bekundet hatte. Seinen Versprechen treu bleibend schuf Präsident Aylwin per Dekret (Decreto Supremo Nr. 355) vom 24.4.1990 die Comisión Nacional de Verdady Reconciliación. Ihr gehörten acht Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens an, darunter zwei ehemalige Mitarbeiter des Militärregimes. Geleitet wurde sie von dem Anwalt und ehemaligen Senator (der Radikalen Partei) Raúl Rettig, deshalb wurde sie auch Rettig-Kommission genannt. Folgende Aufgaben wurden der "Wahrheitskommission" übertragen: "Ein möglichst vollständiges Bild der schweren Menschenrechtsverletzungen, ihrer Vorgeschichte und der Umstände zu erstellen. - Informationen zusammenzutragen, die es erlauben, die Opfer zu identifizieren, ihr Schicksal und ihren Verbleib festzustellen. - Maßnahmen zur Wiedergutmachung und Rehabilitierung zu empfehlen, die für gerechtfertigt erachtet werden; und - die rechtlichen und administrativen Maßnahmen vorzuschlagen, die aus ihrer Sicht ergriffen werden müssen, um neue schwere Vergehen gegen die Menschenrechte zu verhindern." -

Es wurde festgelegt, daß Ereignisse untersucht werden sollen, "die zwischen dem 11. September 1973 und dem 11. Mai 1990 geschehen waren und zum Tod oder Verschwinden führten, egal ob sie im Land selbst oder im Ausland passiert sind". Die gesamte Untersuchung sollte über einen Zeitraum von neun Monaten vom 9. Mai 1990 bis zum 9. Februar 1991 durchgeführt werden.

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Mehr als 60 Personen unterschiedlicher nationaler und internationaler Menschenrechtsorganisationen arbeiteten voll — als Anwälte, Sozialarbeiter, Dokumentare, Systemanalytiker und Sekretärinnen - an der Aufarbeitung der Informationen, die die Kommission erhielt, mit. Die Kommission empfing mehr als 3.400 Angehörige von Ermordeten und Verschwundenen, die häufig mehrere Fälle vortrugen. Bis zum Abschluß des Berichts konnten 641 Fälle nicht definitiv aufgeklärt werden. Viele der Angehörigen benötigten nach ihrer Aussage sozialtherapeutische und psychologische Hilfe, da die Erinnerung an das Geschehene in ihnen eine emotionale Krise hervorgerufen hatte. Die Kommission griff bei ihrer Arbeit auf die Archive von mehr als 100 Organisationen (Menschenrechtsgruppen, wissenschaftliche, politische und religiöse Organisationen) zurück. Einige Kommissionsmitglieder konnten ins Ausland reisen, um Angehörige von Repressionsopfem zu befragen. Die Botschaften und Konsulate im Ausland wie auch die Gouverneursämter und Intendanturen im Inneren waren verpflichtet, Meldungen über Verschwundene weiterzuleiten. Auf die Anfragen nach Informationen über Opfer der Diktatur reagierten die Krankenhäuser und das Zivilregister positiv. Demgegenüber bekundeten die Polizei und die Streitkräfte — auch wenn sie in 70% der Fälle die Briefe der Kommission beantworteten - fast immer "daß die Dokumente über die Verschwundenen aufgrund rechtlicher Vorschriften schon verbrannt oder zerstört worden sind." Nur wenige der 160 Mitglieder der Streitkräfte und der Polizei, die die Kommission befragen wollte, waren zur Zusammenarbeit bereit und steuerten sehr begrenzt Informationen bei. Die Mehrheit der Offiziere und anderer Mitarbeiter der Sicherheitskräfte, so die Antwort der zuständigen Stellen, seien schon entlassen worden und nicht mehr Angehörige der betreffenden Institutionen. In ihrer Untersuchung konnte die Kommission die umfassende Macht belegen, über die die Geheimpolizei (Dirección de Inteligencia Nacional — DINA) verfugte, die in den ersten vier Diktatuijahren Kopf und Herz des Repressionsapparats war. Ihre Aktionen gingen über die chilenischen Grenzen hinaus und forderten u.a. in den USA, Argentinien, Italien und Paraguay Opfer. Zu den bekanntesten Attentaten der DINA gehören die Ermordung von General Carlos Prats in Buenos Aires (September 1974), die Ermordung des Ex-Ministers der Regierung Allende, Orlando Letelier, in Washington D.C. (September 1976) und das Attentat auf den Christdemokraten Bernardo Leighton in Rom (Oktober 1975). Die Kommission stellte fest, daß die DINA eine "Organisation war,... die über dem Gesetz stand", und sie "wurde vor jeglicher Kontrolle geschützt". Es wird angefugt, "auch wenn die DINA formal der Junta unterstand, war sie in der Praxis nur dem Präsidenten der Junta und späteren Staatspräsidenten verantwortlich" (Comisión Verdad 1991: 101).

Ergebnis der Untersuchungen der "Wahrheitskommission" war ein Bericht, der drei Teile umfaßte: — die Aufzählung der Menschenrechtsverletzungen, — Empfehlungen zur Wiedergutmachung,

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— die Auflistung der Opfer: Ein Band von 635 Seiten enthält biographische Angaben zu den 2.279 Personen, bei denen die Kommission zu der Überzeugung gelangt war, daß sie als Opfer von Menschenrechtsverletzungen starben oder verschwanden. Darunter befinden sich 132 Mitglieder der Sicherheitskräfte und 957 Verschwundene. Auf die Struktur der Menschenrechtsverletzungen und die Empfehlungen der Kommission wurde von Präsident Aylwin ausfuhrlich in seiner Rede anläßlich der Bekanntgabe der Ergebnisse des Kommissionsberichts eingegangen (der Redetext ist im vorliegenden Band abgedruckt). Am 8. Februar 1992 schuf die chilenische Regierung, einer der Empfehlungen der "Wahrheitskommission" folgend, per Gesetz (ley 19.123) die Corporación Nacional de Reparación y Reconciliación, um den Angehörigen von Opfern der Diktatur Wiedergutmachungsleistungen für den Schaden, den das Pinochet-Regime verursacht hatte, zukommen zu lassen. In den Jahren, die dem Untersuchungsbericht der "Wahrheitskommission" folgten, gelang es Menschenrechtsorganisationen und den Angehörigen von Verschwundenen, die sterblichen Überreste einiger der Opfer der Diktatur ausfindig zu machen, die auf geheimen Friedhöfen begraben worden waren. Zugleich wurden noch mehr Beweise hinsichtlich der kriminellen Vergehen von Agenten der Geheimpolizei DINA und ihres Leiters, General Contreras, zusammenzutragen. Contreras wurde schließlich 1995 wegen seiner Beteiligung an der Ermordung von Orlando Letelier in Washington D.C. zu sieben Jahren Haft verurteilt4. Parallel dazu gab es Bestrebungen innerhalb der Regierung, einen Schlußstrich unter die rechtliche Aufarbeitung der Pinochet-Diktatur zu ziehen 5 .

3. El Salvador a) Die "Wahrheitskommission" Die Einsetzung einer "Wahrheitskommission" war in El Salvador Ergebnis der Friedensvereinbarungen, die unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen über einen Zeitraum von drei Jahren (1989-1992) zwischen der Regierung und der Guerillabewegung FMLN (Frente Farabundo Martí para la Liberación Nacional) nach mehr als zehn Jahren Bürgerkrieg ausgehandelt wurden. Das Friedensabkommen wurde schließlich am 16. Januar 1992 in Chapultepec/Mexiko unterzeichnet. Artikel 5 des Abkommens trägt den Titel "Überwindung der Straflosigkeit". Dort heißt es: "Der Kommission kommt die Aufgabe zu, besonders schwerwiegende Gewaltakte zu untersuchen, die sich seit 1980 ereignet haben und die aufgrund

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Siehe zum Fall Letelier/Contreras ausführlicher den Beitrag von Rainer Huhle im vorliegenden Band.

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Hierzu und zu den Gegenreaktionen siehe den Beitrag von Becker im vorliegenden Band.

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der Spuren, die sie in der Gesellschaft hinterlassen haben, besonders dringlich die öffentliche Kenntnis der Wahrheit erfordern". Dabei sollte die Kommission folgende Überlegungen berücksichtigen: a. "die außergewöhnliche Tragweite, die den zu untersuchenden Ereignissen zugeschrieben werden kann, ihre Merkmale und Auswirkungen sowie die soziale Erschütterung, die sie hervorriefen; und b. die Notwendigkeit, Vertrauen in die positiven Veränderungen zu schaffen, die der Friedensprozeß anstößt, und den Übergang zur nationalen Aussöhnung voranzubringen." Außerdem enthielt die Kommission durch die Friedensvereinbarungen den Auftrag, Empfehlungen "rechtlicher, politischer und administrativer Art zu erarbeiten, die Maßnahmen enthalten können, die dazu beitragen, eine Wiederholung derartiger Gewaltakte zu verhindern, wie auch Initiativen, die auf die nationale Aussöhnung ausgerichtet sind". Die Mitglieder der Kommission wurden vom Generalsekretär der Vereinten Nationen, Javier Pérez de Cuellar, berufen. Ihr gehörten an: der ehemaligen kolumbianische Präsident Belisario Betancur, der ehemalige venezolanische Außenminister Reinaldo Figueredo und der ehemalige Präsident des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofs Thomas Buergenthal. Die Kommission führte, unterstützt von einer Gruppe nationaler wie internationaler Assistenten und Mitarbeiter, ab dem 13. Juli 1992 Untersuchungen durch, die sich über acht Monate hinzogen, um danach ihren umfangreichen Bericht vorzulegen, der den Titel "Vom Wahnsinn zur Hoffnung" trägt. Der Bericht umfaßt 212 Seiten und zwei Anhänge, die Zeitungsberichte, Fotografien, medizinische Gutachten, Listen von Opfern der Streitkräfte und der Guerilla sowie eine Liste von verschwundenen Personen enthalten. Die Arbeit wurde aktiv von der Menschenrechtsabteilung von ONUSAL6 unterstützt, die der Kommission technische und logistische Hilfe zukommen ließ, um Untersuchungen durchzufuhren und die Identität von Zeugen und Informanten zu schützen, von denen viele nur auszusagen bereit waren, wenn man ihnen absolute Vertraulichkeit und Sicherheit verbürgte. Verschiedene ausländische Regierungen und internationale Organisationen arbeiteten gleichfalls mit der Kommission zusammen und stellten ihr vertrauliche Dokumente zur Verfugung. Die Kommission untersuchte zunächst die staatliche Gewalt gegen politische Oppositionelle. Dazu gehörte die Ermordung von sechs Jesuiten und zweier Bediensteter in der Universidad Centroamericana (1989), weil der Verdacht bestand, von dort seien Befehle und Aktionspläne an den FMLN übermittelt worden. Danach analysierte die Kommission verschiedene extralegale Hinrichtungen, wie die Ermordung von Führern des Frente Democrático Revolucionario, nordamerikanischer Nonnen, holländischer Journalisten und auch die Übergriffe gegen

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ONUSAL (Organización de las Naciones Unidas para El Salvador) war die von den Vereinten Nationen (VN) aufgebaute Organisation zur Absicherung des Friedensprozesses in El Salvador.

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Menschenrechtsorganisationen, Fälle von Verschwindenlassen, die Massaker an Campesinos (die Fälle "Mozote", "Rio Sumpul" und "El Calabazo"). Die Kommission machte das salvadoranische Heer für 4.281 Morde und die Polizei für 1.656 Morde im Untersuchungszeitraum verantwortlich. Sie untersuchte auch die Morde, die von Todesschwadronen begangen worden waren, denen 817 Opfer zugeschrieben wurden, wenn auch am Ende nur vier Fälle — darunter der des Erzbischofs von San Salvador, Oscar Arnulfo Romero, - dargestellt wurden. Die "Wahrheitskommission" untersuchte auch die Gewaltakte des FMLN gegen seine Gegner, wie die Ermordung von Bürgermeistern, Richtern und die extralegalen Hinrichtungen von Bauern, die mit der Regierung zusammengearbeitet hatten, die Ermordung US-amerikanischer Militärs etc. Der FMLN wurde für insgesamt 342 Verbrechen verantwortlich gemacht. Die Kommission empfahl eine Reform der Strafgesetzgebung und der Justiz sowie Säuberungen bei den Streitkräften, der Polizei und der öffentlichen Verwaltung. Personen, die an Menschenrechtsverletzungen beteiligt gewesen waren, sollten mindestens zehn Jahre keine öffentlichen Ämter bekleiden dürfen. Außerdem wurde der Vorschlag unterbreitet, die Aktivitäten der Todesschwadronen zu untersuchen, die immer noch straflos ihr Unwesen trieben. Die Kommission schlug ferner vor, daß die Regierung El Salvadors gegenüber den Gewaltopfern und/oder ihren Angehörigen eine materielle und moralische Wiedergutmachung leisten sollte (Landzuteilungen, Stipendien etc.).

b. Die "gemeinsame Gruppe zur Untersuchung illegaler bewaffneter, politisch motivierter Gruppierungen"

Aufgrund des Fortdauerns schwerer Gewaltakte in El Salvador nach Unterzeichnung des Friedensabkommens schlug der Generalsekretär der VN der salvadoranischen Regierung acht Monate nach Übergabe des Berichts der"'Wahrheitskommission" vor, eine Untersuchungskommission zu den Todesschwadronen einzusetzen. Nach Überwindung von Widerständen im Militär stimmte die Regierung dem Vorschlag unter der Bedingung zu, daß der Kommission zwei vom Präsidenten designierte "unabhängige" Persönlichkeiten angehören sollten. Außerdem zählten der salvadoranische Menschenrechtsbeauftragte (procurador para la defensa de los derechos humanos) und der Leiter der Rechtsabteilung von ONUSAL dazu. Es wurde festgelegt, daß die Kommission nur die Aktivitäten der Todesschwadronen im Zeitraum von Januar 1992 bis Dezember 1993 untersuchen sollte. Dazu gehörten 49 kriminelle Anschläge auf Mitglieder des FMNL, Gewerkschafter, lokale Führer und Mitglieder in Genossenschaften, die in verschiedenen Zonen El Salvadors verübt worden waren. Die Kommission nahm ihre Arbeit im Februar 1994 auf und wandte sich an die Bevölkerung mit der Bitte um Mithilfe. Dank der Unterstützung einer Vielzahl von Institutionen, wie der katholischen Kirche, dem Gewerkschaftsdachverband, der Menschenrechtskommission, der Botschaften verschiedener Länder, des FBI 46

sowie des Außen- und Verteidigungsministeriums der USA konnte die Kommission wertvolle Informationen, nicht zuletzt im Hinblick auf die Entstehungsgeschichte der Todesschwadronen zusammentragen und zeigen, daß diese auch von rechtsradikalen Kreisen in anderen lateinamerikanischen Ländern unterstützt und finanziert wurden. Im Hinblick auf die Situation der Todesschwadronen zum Zeitpunkt, als die Untersuchung durchgeführt wurde, kommt die Kommission zu dem Ergebnis, daß "es klare Anzeichen für die Existenz illegaler bewaffneter Strukturen gibt, die im Verborgenen operieren, über umfassende logistische, ökonomische und politische Kapazitäten verfügen, sich aus Privatpersonen und Staatsbediensteten, Zivilisten wie Mitgliedern der Sicherheitskräfte zusammensetzen" (Informe Grupo Conjunto 1994: 27). In der Vergangenheit hatten die Todesschwadronen in Gruppen von bis zu zehn Personen agiert, unter denen es Freiberufler und Angehörige der Mittelschichten gab, die in der Regel in ihren normalen Berufen arbeiteten und sich nur zur Planung und Ausfuhrung von Gewalttaten zusammenfanden. Daneben gab es illegale operative Einheiten in den Sicherheitskräften, sowohl in der Polizei als auch in der Nationalgarde, der Finanzpolizei und vor allem in den Streitkräften. Die Mitglieder der Todesschwadronen erfreuten sich "einer besonderen Protektion", die sie vor einer rechtlichen Verfolgung und anderen Maßnahmen schirzte, d.h. sie konnten davon ausgehen, daß ihre Handlungen straffrei bleiben würcen. Die Vorschläge der Kommission zielten deshalb u.a. auf eine bessere Personalauswahl, Ausbildung und Ausstattung von Polizei, Staatsanwaltschaft und Justiz. 4. Peru

Von 1980 an, nachdem 12 Jahre Militärregierung(en) vorausgegangen waren, durchlebte Peru eine Situation des inneren Krieges, in dem der Staat von einer Guerillabewegung, dem "Sendero Luminoso", herausgefordert wurde. Diese Bewegung griff mehr und mehr auf terroristische Praktiken zurück, die Tausende von Opfern forderten, nicht allein unter den Sicherheitskräften, sondern in der Hauptsache unter Bauern, Führern intermediärer Organisationen, Gemeindefunktionärer und unter der Bevölkerung im allgemeinen. Auch die Sicherheitskräfte haben eine große Zahl schwerwiegender Übergriffe zu verantworten, wie Folterungen und cas Verschwindenlassen von Personen. Der innere Krieg hat mehr als 30.000 Todesopfer und mehr als 5.000 Verschwundene gefordert. Verschiedentlich schuf der Staat durch den Kongreß oder die Exekutive "Walrheitskommissionen", um Verantwortlichkeiten bei besonders schwerwiegenden Vlenschenrechtsverletzungen feststellen zu lassen. In der Regel sind die jeweligen Regierungen dabei den Forderungen der politischen Opposition oder

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ausländischer Regierungen nachgekommen, die um die Menschenrechte in Peru besorgt waren7. Die Mehrzahl dieser Kommissionen wurde mit der eindeutigen Absicht geschaffen, die offizielle Politik gegenüber der Guerilla zu rechtfertigen. Selten wirkten die Untersuchungen, die in Peru in Auftrag gegeben wurden, befriedend oder stellten sie das Recht wieder her. Die Straflosigkeit für die Menschenrechtsverletzer wurde zur offiziellen Norm. Wenn einmal versucht wurde, die Ereignisse von Grund auf aufzudecken und die Verantwortlichen für Vergehen gegen die Menschenrechte ans Licht zu zerren, meldete sich schnell die militärische Macht, um zu zeigen, daß die Armee unantastbar ist. Auf diese Weise wurde eine Bestrafung der Schuldigen verhindert8. Mangels eines klaren Verständnisses für das Gewaltphänomen in Peru, mangels Unterstützung durch die Justiz und mangels der für die Erfüllung ihres Auftrages notwendigen materiellen Ressourcen konnten die diversen Untersuchungskommissionen in Peru in der Mehrzahl der Fälle ihre Recherchen nicht überzeugend abschließen noch ihre Informanten und Zeugen schützen. Viele Personen ließ man verschwinden, oder sie wurden von den Sicherheitsorganen oder "unbekannten Gruppen" ermordet, nachdem sie als Zeugen ausgesagt oder Anschuldigungen erhoben hatten. a) Die Untersuchungskommission zum Tod der Journalisten in Uchuraccay Auslöser für diese Kommission war der nationale und internationale Skandal, der durch die brutale Ermordung von acht Journalisten und eines einheimischen Führers am 26. Januar 1983 in der andinen Ortschaft Uchuraccay in der Provinz Ayacucho hervorgerufen wurde. Die Provinz befand sich aufgrund des Anstiegs der Gewalt im Ausnahmezustand und unter militärischer Kontrolle. Anwälte und Journalisten aus der Region Ayacucho hatten den Verdacht gehegt, daß die Streitkräfte zu einer Strategie des schmutzigen Krieges übergegangen waren, die Folterungen, das Verschwindenlassen und die Ermordung von Campesinos in Gebieten, in denen der Sendero Luminoso aktiv war, beinhaltete. Acht Journalisten beschlossen, nach Uchuraccay zu reisen, um vor Ort mit eigenen Augen den neuen Kurs der Kriegsfuhrung gegen die Guerilla zu untersuchen. Auf ihrem Weg, bei der Suche nach der Wahrheit, ereilte sie der Tod. Wenn auch die Regierung ihr Interesse bekundete, daß die Wahrheit über das Massaker an den Journalisten aufgedeckt werde, suchte sie im Grunde nach einer 7

Aus eigener Initiative versuchten Justiz und Exekutive selten, die Menschenrechtsverletzungen aufzuklären. Sowohl der Präsident des Obersten Gerichtshofs als auch die nationale Staatsanwaltschaft (Fiscalía de la Nación) arbeiteten in den vergangenen 15 Jahren eher darauf hin, die Aufklärung von Vergehen, die durch die Menschenrechtsorganisationen angezeigt wurden, zu verhindern.

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Dies zwang beispielsweise den Staatsanwalt Carlos Escobar Pineda, der das Massaker von Cayara/ Ayacucho untersuchte, das Land zu verlassen und in den USA um Asyl nachzusuchen. Dr. Augusto Zuñiga, Anwalt von COMISEDH, mußte ins Exil nach Schweden gehen, nachdem er Opfer eines Attentats geworden war und dabei einen Arm verloren hatte.

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"akademischen" Abstützung der offiziellen Version der Tragödie, wie sie zuvor vom Präsidenten, basierend auf den Berichten der militärischen Führung in Ayacucho verkündet, worden war. Präsident Fernando Belaunde Terry schuf am 27. Januar 1983 per Regierungsverfügung (resolución suprema) die Comisión Investigadora de los Succesos de Uchuraccay, mit dem Ziel "zur Aufdeckung einer Wahrheit beizutragen, die das nationale Gewissen und die öffentliche Meinung der übrigen Welt dringlich einfordern". Es wurde im Dekret festgelegt, daß der Kommission keine juristische oder polizeiliche Kompetenz zukomme. Die Kommission setzte sich aus dem Schriftsteller Mario Vargas Llosa, dem Journalisten Mario Castro Arenas und dem Juristen Abraham Guzmán Figueroa zusammen. Sie wurde von drei Anthropologen, einem Juristen, einem Psychoanalytiker, zwei Linguisten und einem Historiker unterstützt. Die Untersuchung wurde zwischen dem 28. Januar und dem 28. Februar 1983 durchgeführt und schloß Interviews mit den militärischen, polizeilichen und politischen Stellen in der Unruheregion und die Einsichtnahme in geheime Dokumente der Streitkräfte sowohl in Ayacucho als auch in Lima ein. Die Kommission war nur vier Stunden vor Ort in Uchuraccay und während einer Dorfversammlung (cabildo abierto) präsent, die vom militärischen Kommando in Ayacucho einberufen worden war. Nach Aussage der Militärs herrschte in Uchuraccay eine sehr gespannte und aggressive Stimmung Fremden gegenüber, die das Leben der Kommissionsmitglieder in Gefahr brachte. Deshalb sei es nicht ratsam, sich länger in der Zone aufzuhalten, in der sich die Tragödie abgespielt hatte. Abgesehen von der begrenzten Zeitspanne, um am Ort des Verbrechens selbst Untersuchungen anzustellen, waren die Kommissionsmitglieder mit einer Sprachbarriere konfrontiert, weil die Mehrzahl der Einwohner von Uchuraccay, die man der Ermordung der Journalisten bezichtigte, nur Quechua sprachen und nur sehr wenige das Spanische beherrschten9. Der Bericht und eine dazugehörige Dokumentation wurde den Behörden am 4. März 1983 überreicht. Gleich danach wurden von der Regierung große Anstrengungen unternommen, für die internationale Verbreitung des Berichts zu sorgen, da nach Ansicht der Untersuchungskommission keine Verantwortung des Staates für das Massaker nachgewiesen werden konnte. Im Bericht wird festgestellt: "Die Kommission ist zu der absoluten Überzeugung gelangt, daß die Dorfbewohner, die sich zu diesem Zeitpunkt (dem 26. Januar 1983) in Uchuraccay befanden, die neun herankommenden Fremden (die Journalisten und den Führer) mit einer Gruppe "senderistas " verwechselten, die ohne Zweifel heranrückten, um sie für das Lynchen einiger der ihren zu bestrafen, das sich vor einigen Tagen im gleichen Dorf ereignet hatte. Diese Vergeltungsaktion wurde in den Dörfern, die "senderistas " getötet hatten, befürchtet sowie erwartet und versetzte die Dorfbewohner

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Einige an der Tat Beteiligte und einige Zeugen wurden in den vier Monaten nach dem Verbrechen ermordet oder verschwanden (siehe den Bericht "Muerte de mujer de Gavilán produce estupor e indignación", in: El Diario, Lima 5.6.1983: 4).

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in einen schreckhaften, furchtsamen und zornigen Gemütszustand ...". Weiter heißt es: "Die Kommission ist der relativen Überzeugung, daß die Journalisten ohne vorherige Planung, massiv, ohne daß vorher ein Wortwechsel erfolgte, von einer Menge angegriffen worden sein müssen, in der sich eine Mischung aus Angst und Wut entzündete und sie mit einer Grausamkeit ausstattete, die ihnen selten in ihrem täglichen Leben und unter normalen Umständen zu eigen ist." Die Untersuchungskommission bekräftigt, daß "sie zu der absoluten Überzeugung gelangt ist, daß die Ermordung der Journalisten von den Dorfbewohnern in Uchuraccay begangen wurde, vielleicht mit Unterstützung von Bewohnern benachbarter Gemeinden, ohne daß zum Zeitpunkt des Gemetzels Ordnungskräfte daran beteiligt waren." Nach dem zuständigen Gericht in Ayacucho, das den Fall gleichfalls untersuchte, hingegen, "wurden die Bauern aus Uchuraccay durch Druck der Streitkräfte gezwungen, die Journalisten anzugreifen. Die Kommandeure von Militär und Polizei handelten als Anstifter zum Verbrechen." Das Gericht identifizierte 27 Dorfbewohner als Ausführende des Massakers und den General d e m e n t e Noel y Moral (Chef des politisch-militärischen Kommandos in Ayacucho) mit fünf weiteren Polizeiofiizieren sowie einem Marineoffizier als geistige Autoren 10 . b) Die Untersuchungskommission zu den Gefangnismassakern (1986) Das Massaker an mehr als 250 politischen Häftlingen, das am 18. und 19. Juni 1986 durch Einheiten der Republikanischen Garde (Guardia Republicanä) und der peruanischen Kriegsmarine begangen wurde, führte zur Einsetzung einer parlamentarischen Untersuchungskommission. Die Mehrzahl der des Umsturzes beschuldigten Häftlinge wurde hingerichtet, nachdem sie sich ergeben hatten. Das Gefängnis El Frontön in El Callao wurde mit Artillerie beschossen, obgleich die meuternden Häftlinge keine Gefahr darstellten. Es gab keinerlei Interesse, die Verwundeten und Überlebenden zu bergen. Der internationale Druck zur Aufdeckung der Wahrheit über das Massaker war sehr groß, weil es sich zu einem Zeitpunkt ereignet hatte, als in Lima die Sozialistische Internationale tagte. Die vom Kongreß im August eingesetzte Kommission benötigte mehr als ein Jahr, um ihre Arbeit aufzunehmen, und spaltete sich von Anfang an in zwei Blöcke, weil die Abgeordneten der Regierungspartei keine ernsthafte und unabhängige Untersuchung zur Identifizierung der Schuldigen durchführen wollten, sondern eher auf eine Vertuschung hinarbeiteten. Die Kommission hatte das Recht, Polizisten und Mitglieder der Kriegsmarine, Minister, Richter, Staatsanwälte und Familienangehörige der Opfer als Zeugen vorzuladen. Ursprünglich hatten die höchsten Autoritäten des Landes versprochen, daran mitzuarbeiten, daß die Verantwortlichen für das Gefängnismassaker identi-

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Siehe den Bericht in der Zeitschrift SI über "Las versiones de Uchuraccay" vom 16. März 1987: 75.

fiziert und sich derartige Ereignisse niemals wiederholen würden. Präsident Alan Garcia versprach, eine eingehende Untersuchung des Massakers durchzufuhren, und ging sogar so weit zu erklären: "Entweder gehen Sie (die dafür Verantwortlichen) oder ich gehe". Am Ende mußte keiner der Verantwortlichen seinen Hut nehmen. Die Untersuchungen zeigten, daß Regierungsmitglieder die Häftlinge einige Tage vor dem Massaker mit dem Tod bedroht und der Kriegsmarine und Polizei befohlen hatten, die Gefangnismeuterei niederzuschlagen, ohne die möglichen Folgen abzuschätzen. Anschließend bemühte sich die Regierung, die Wahrheit zu vertuschen. Da es keinen Konsens hinsichtlich der Interpretation der vorliegenden Informationen und im Hinblick auf die Verantwortung gegenüber dem Land gab, die Wahrheit offenzulegen, spaltete sich am Ende die Untersuchungskommission des Kongresses und präsentierte zwei Berichte: einen der Abgeordneten der Regierung und ihrer Verbündeten, der angenommen wurde und die Regierung entlastete, und einen Minderheitsbericht der Opposition, der die Regierung belastete. Kurz nach Vorlage der Berichte verwies der Oberste Gerichtshof die Verfahren gegen die Verantwortlichen für das Gefangnismassaker an die Militärgerichtsbarkeit. Dort wurden die Hauptverantwortlichen freigesprochen. Später, nach juristischen Untersuchungen und diplomatischen Verhandlungen, die sich über sieben Jahre hinzogen, fällte der Interamerikanische Menschenrechtsgerichtshof 1994 ein Urteil zum Massaker im Gefängnis El Frontón, und verpflichtete die peruanische Regierung, die Familienangehörigen von drei der Opfer zu entschädigen". c) Die Nationale Kommission über Gewalt und Befriedung Nach acht Jahren schwerer interner Gewaltakte setzte der Senat am 12. April 1988 eine "Sonderkommission zur Untersuchung der Ursachen der Gewalt und von Alternativen für eine nationale Befriedung" ein, die von Senator Enrique Bernales Ballesteros geleitet wurde. Die Untersuchungen der Kommission und die Aufarbeitung der Informationen zogen sich über sechs Monate bis zum 18. Oktober 1988 hin. Die Kommission holte mit großem Engagement die Meinungen zur Gewaltproblematik von zahlreichen politischen, kirchlichen, gewerkschaftlichen, akademischen und anderen Organisationen ein, die bereitwillig kooperierten. Die Kommission erweckte große Hoffnungen, daß endlich das Problem der Gewalt und des Terrorismus umfassend angegangen würde. Der Bericht wurde im Februar 1989 veröffentlicht. Er bietet, basierend auf einem interdisziplinären Ansatz, einen theoretischen Rahmen zur Analyse der Ursachen der Gewalt in Peru. Nach einer Beschreibung der Entstehung der bewaffneten Gruppierungen Movimiento Revolucionario Túpac Amaru und Sendero

Siehe hierzu "Netra Alegría y otros, contra el Estado peruano", in: Informativo Andino CAJ, Nr. 98 v. 30.1.1995: 5. 51

Luminoso und ihrer kriminellen Handlungen durchleuchtet die Kommission gleichfalls das Verhalten der Streitkräfte und der Polizei bei der Bekämpfung der Guerilla. Hinsichtlich der sozialen Kosten der Gewalt zwischen 1980 und 1988 kommt die Kommission nach der Auswertung der Daten privater Forschungsinstitute und des Verteidigungs- bzw. des Innenministeriums zu dem Ergebnis, daß 11.305 Todesopfer zu beklagen sind. Davon sind 661 Mitglieder der Ordnungskräfte, 6.348 Mitglieder der Guerilla und 4.269 unbeteiligte Zivilisten. Zugleich stellt die Kommission fest: "Die Zahl der Toten, die als Aufständische aufgelistet werden, scheint, stellt man alles in Rechnung, überhöht. Dies würde das Eingeständnis bedeuten, daß der Sendero Luminoso über ein starkes Heer verfugt, da zur Zahl der Toten noch die Verwundeten und Gefangenen hinzugezählt werden müßten." Deshalb erfolgt der Hinweis, daß unter dieser Rubrik möglicherweise Bauern, die zum Kampf für den Sendero gepreßt wurden, oder Verschwundene gezählt wurden (DESCO/CAJ 1989: 374). Der Bericht schließt mit 18 allgemeinen Empfehlungen zur Befriedung des Landes. Dazu gehören: — "Eine nationale Debatte über die Gewalt und die Befriedung anzustoßen, damit die Vorschläge der Kommission in der Bevölkerung diskutiert werden". _ "Ein Nationales Friedensabkommen anzustreben, das von allen repräsentativen Institutionen der peruanischen Gesellschaft unterzeichnet werden soll." — "Die Schaffung einer Nationalen Friedenskommission und die Erarbeitung einer neuen integralen Strategie der Guerillabekämpfung, die eine strikte Respektierung der Verfassung, der Gesetze, der Menschenrechte und die Bestätigung der zivilen Autorität einschließt"12. — "Eine Überprüfung, Revision und Modifizierung der Anti-Terrorgesetzgebung und des Militärstrafrechts." Leider fand der Kommissionsbericht, obgleich er vom Senat in einer Plenarsitzung am 18. Oktober 1988 angenommen worden war, bei den zuständigen Regierungsstellen nicht ausreichend Berücksichtigung. Die Regierung Fujimori schuf zwar eine Nationale Friedenskommission, zugleich ließ sie aber der Verfassung widersprechende Unterdrückungsgesetze verabschieden und verbündete sich mit dem Militär, indem sie ihm freie Hand bei der Bekämpfung der Gewalt ließ und darauf verzichtete, eine umfassende Antwort auf das Problem zu suchen.

Die K o m m i s s i o n verwies darauf, "zu den Fehlem und Irrtümern, deren Wiederholung es zu korrigieren und vermeiden gilt, gehören Menschenrechtsverletzungen, wie Verbrechen an der unschuldigen Zivilbevölkerung, extralegale Hinrichtungen, Folterungen, willkürliche Verhaftungen, das Verschwindenlassen und Willkürakte, verurteilungswürdige Handlungen, in die anscheinend Mitglieder der Streitkräfte und der Polizei verwickelt sind."

d) Untersuchungskommission über paramilitärische Gruppen (Mai 1989) Zwischen 1986 und 1989 kam es in Peru zu systematischen Morden an Führern der politischen Opposition, Anwälten und Aktivisten der Linken sowie anderen Personen, die der Unterstützung der Subversion beschuldigt wurden. Zugleich waren verschiedene Journalisten, Priester, Wissenschaftler, die sich mit der Gewalt beschäftigten, Opfer von Attentaten oder Einschüchterungsmaßnahmen. Selbst mehrere Richter wurden von paramilitärischen Gruppen, die der Regierung nahestanden, bedroht und der Schwäche gegenüber dem Terrorismus des Sendero Luminoso bezichtigt. Die paramilitärischen Gruppen versuchten, die Verbrechen an vermuteten Anhängern des Sendero Luminoso mit dem Argument zu rechtfertigen, daß sie die Demokratie verteidigten und von der Unfähigkeit der Regierung genug hätten, den Terrorismus zu stoppen. Für viele dieser Attentate übernahm ein Comando Rodrigo Franco die Verantwortung, das frei in Gebieten unter militärischer Kontrolle operieren konnte. Neben diesem Kommando bekannten sich zu Attentaten: der Comando Antisenderista Peruano, der Movimiento Hoya Vive, der Peletön Punitivo Peruano, der Comando Manuel Santana Chiri und der Comando de Aniquilamiento Cipiriano Gil. Auffällig ist, daß viele der paramilitärischen Gruppen Namen von Führern der Regierungspartei APRA annahmen, die vom Sendero Luminoso ermordet worden waren. In verschiedenen Regionen Perus wurde auf diese kriminellen Aktivitäten hingewiesen und von der Regierung Maßnahmen gefordert, um ihnen ein Ende zu bereiten. Eine Delegation13 verschiedener gesellschaftlicher Organisationen suchte mit dem gleichen Anliegen den Präsidenten des Kongresses auf. Am 25. Mai 1989 wurde schließlich eine Untersuchungskommission des Kongresses geschaffen, die einen Monat später ihre Arbeit aufnahm. Zu Beginn ihrer Untersuchungen interviewte die Kommission den Innen- und den Verteidigungsminister, Direktoren von Pressemedien (die vom Comando Rolando Franco mit dem Tode bedroht worden waren), die Polizeifuhrung und Vertreter der Justiz. In diesen ersten Interviews tauchten Anhaltspunkte für eine Komplizenschaft von Polizei und Militär mit den paramilitärischen Gruppen auf. Diese Verdachtsmomente erhärteten sich in den Gesprächen mit Familienangehörigen von Opfern oder mit Überlebenden von Attentaten. Die Untersuchungskommission entdeckte schon bald, daß hohe Funktionäre im Innen- und im Landwirtschaftsministerium heimlich Waffen aus Nordkorea eingeführt hatten, die paramilitärischen Gruppen, die im Inneren der Regierungspartei APRA organisiert worden waren, übergeben wurden.

"

Zur Delegation gehörten u.a. der Weihbischof von Lima, Augusto Beuzeville, der Dekan der Anwaltskammer von Lima, Fernando Vidal, der Präsident der Asociación Nacional de Centros de Desarrollo, Manuel Iguíñiz, der Generalsekretär der Confederación General de Trabajadores del Perú, Pablo Checa, und die Exekutivsekretärin da Coordinadora Nacional de Derechos Humanos, Pilar Coli.

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Dank des Einsatzes der Opposition und einiger Pressemedien konnte die Kommission Beweismaterial hinsichtlich der Komplizenschaft hoher Regierungsfunktionäre mit den paramilitärischen Terrorkommandos zusammentragen. Die Untersuchungen deckten u.a. auf, daß einige Staatsunternehmen Mitglieder des Comando Rodrigo Franco zu Tarnungszwecken beschäftigten, und stellten fest, daß die paramilitärischen Gruppen auf Räumlichkeiten Zugriff hatten, die auch von Präsident Alan Garcia im Wahlkampf benutzt worden waren, und daß sie über Fahrzeuge, Büros und Gelder des Innenministeriums verfugen konnten. Aufgrund des Fehlens gemeinsamer Kriterien und einer klaren Verpflichtung aller, die Wahrheit hinsichtlich der paramilitärischen Gruppen bis aufs letzte zu ergründen, spaltete sich die Kommission in zwei Gruppen, die ihre Berichte getrennt bekanntgaben. Im Minderheitsbericht wiesen die Abgeordneten darauf hin, "daß die Aktionen des Comando Rodrigo Franco darauf ausgerichtet sind, Aktivitäten von Personen zu verhindern, die sich in der Öffentlichkeit kritisch oder in Opposition zum Regime gezeigt haben". Sie erläutern desweiteren, daß nach ihren Untersuchungen die paramilitärischen Gruppen das Ziel verfolgen: a) Untergrundkämpfer zu eliminieren; b) abweichende Meinungen, Opposition und Kritik an der Regierung zum Schweigen zu bringen. Der Bericht der Minderheit schrieb den paramilitärischen Gruppen 220 Gewaltakte zu, von denen sich 64 in Gebieten unter militärischer Kontrolle ereignet hatten. Im Minderheitsbericht vom 26. Oktober 1989 wurde direkt der Innenminister Agustín Mantilla beschuldigt, das Comando Rodrigo Franco organisiert zu haben und dessen Chef zu sein. Deshalb forderte die Minderheitsgruppe seine Ablösung und die Einleitung eines Gerichtsverfahrens. Außerdem empfahl sie, daß einige hohe Polizeioffiziere, die in Verbindung zum Comando Rodrigo Franco standen, vom Dienst suspendiert werden sollten. Spätere taktische Allianzen führten dazu, daß die Personen, die beschuldigt worden waren, paramilitärische Gruppen zu unterstützen oder ihnen anzugehören, straflos blieben. Mit Unterstützung der Abgeordneten von Cambio 90, der politischen Gruppierung von Präsident Fujimori, wurde im Kongreß eine Verfassungsklage gegen Ex-Präsident Alan Garcia und mehrere seiner Minister wegen des Gefängnismassakers und den Verbindungen zu paramilitärischen Gruppen verhindert. 1994 wurde der umstrittene Ex-Innenminister Agustín Mantilla sogar ins Parlament gewählt. e) Die Untersuchungskommission zum Fall La Cantuta (April 1993) Am 16. Juli 1992 verübte der Sendero Luminoso eines seiner brutalsten Attentate. In Lima explodierte im Stadtteil Miraflores eine Autobombe und tötete 22 Personen, darunter einige Kinder. Mehr als 100 Personen wurden verletzt. 164 Wohnungen, vier Wohnhäuser, zwei Hotels und ein Einkaufszentrum wurden zerstört. Der Sachschaden belief sich auf rd. 25 Mio. US$. Der Anschlag ereignete sich zu einem Zeitpunkt, als die Regierung die baldige Niederlage des Terrorismus verkündet hatte. 54

Vor diesem Hintergrund versuchten die Militärs im Morgengrauen des 18. Juli ihre Fähigkeit unter Beweis zu stellen, die Verantwortlichen für das Attentat von Miraflores schnell zu fassen. Eine Sondereinheit begab sich direkt zur Universität La Cantuta, die zu diesem Zeitpunkt niemand ohne Kontrolle der Streitkräfte betreten konnte. Mit einem großem militärischen Aufgebot entführten sie vor mehreren Zeugen den Professor Hugo Muñoz Sánchez und neun Studenten, die anschließend ermordet und heimlich verscharrt wurden. Am 24. Juli legten der Rektor der Universität La Cantuta wie auch die Familienangehörigen der Opfer das Rechtsmittel auf habeas corpus für den Professor und die Studenten ein. Die Eingaben vor Gericht und die Anfragen bei Polizei und Militär blieben jedoch ohne Ergebnis. Ende 1992 stellte der Oberste Gerichtshof das Verfahren ein, u.a. weil keine Tatopfer präsentiert werden konnten. Aufgrund der Anschuldigungen, die von verschiedenen Abgeordneten im Hinblick auf die Verantwortlichkeit des Militärs für die Entführung des Professors und der neun Studenten von La Cantuta erhoben wurden, beschloß die Verfassunggebende Versammlung am 2. April 1993 die Einsetzung eines Menschenrechtsausschusses, der in der Hauptsache diesen Fall untersuchen sollte und von Roger Cáceres Velásquez geleitet wurde. Als der Ausschuß mit seiner Arbeit begann und die Aussagen verschiedener Zeugen der Entfuhrung der Familienangehörigen entgegennahm, "erkrankten" hohe Heeresoffiziere oder befanden sich auf Auslandsreise, damit sie keine Stellungnahmen vor dem Ausschuß abgeben mußten. Dies war der Fall beim Verteidigungsminister, General Víctor Malea, und dem Oberkommandierenden des Heeres, General Nicolás Hermoza Ríos. Den direkt der Entführung beschuldigten Militärs wurde keine Aussagegenehmigung erteilt. Später wurden die Mitglieder der Opposition, die an der Untersuchung des Falles beteiligt waren, in ihren Wohnungen und Abgeordnetenbüros mehrfach telefonisch mit dem Tode bedroht. Das Dokument einer innermilitärischen Gruppierung, des Grupo de Comandantes, Mayores y Capitanes — COMACA, in dem wegen des La Cantuta-Falles hohe Heeresoffiziere, wie die Generäle Juan Rivero Lazo und Luis Pérez Documet, sowie der Anwalt und persönliche Berater von Präsident Fujimori, Vladimiro Montesinos, belastet werden, wurde dem Verfassunggebenden Kongreß durch den Abgeordneten Henry Pease präsentiert und auf diese Weise bestehende Verdachtsmomente erhärtet. Daraufhin lud der Kongreß den Chef des gemeinsamen Oberkommandos der Streitkräfte, General Nicolás Hermoza Ríos, vor. Obgleich dieser fünf Monate zuvor vor einem Zivilgericht eingestanden hatte, daß in der Universität La Cantuta eine militärische Durchsuchungsaktion stattgefunden hatte, verlas er dieses Mal, am 20. April 1993, eine Erklärung, wonach das Heer auf keinerlei Weise an den untersuchten Vorgängen in der La Cantuta beteiligt gewesen sei. Nachfolgend — in Reaktion auf direkte Beschuldigungen, für das Verschwinden des Professors und der neun Studenten der La Cantuta verantwortlich zu sein — ließen die Streitkräfte zwei Tage lang motorisierte Einheiten und Kriegsgerät durch die Straßen der Hauptstadt Lima rollen, um auf diese Weise den Kongreß und 55

das Land einzuschüchtern und Druck auf den Ausschuß auszuüben, mit den Untersuchungen nicht weiter fortzufahren. Die Kommandierenden der fünf Militärzonen wurden nach Lima beordert, um öffentlich ihre Solidarität mit dem Oberkommandierenden der Streitkräfte zu demonstrieren. Darüber hinaus veröffentlichte das Oberkommando des Heeres in den nationalen Medien ein Kommunique, in dem es behauptete, daß "der plumpe Versuch, das peruanische Heer wegen einer angeblichen Menschenrechtsverletzung zu beschuldigen und dabei auf boshafte Weise unechte und von einer kleinen Oppositionsgruppe von Abgeordneten erdachte Dokumente zu benutzen, kein isolierter Vorgang ist, sondern Teil einer Kampagne bildet, die systematisch mit der finsteren Absicht inszeniert wurde, das Ansehen der Streitkräfte zu untergraben ... ihre Handlungsfähigkeit gegenüber dem Terrorismus einzuschränken, Mißtrauen unter den Bürgern zu säen, die Einheit und den Zusammenhalt der Streitkräfte zu beeinträchtigen und eine fruchtlose Konfrontation zwischen den Staatsgewalten heraufzubeschwören". Die Untersuchungskommission erreichte die Mitarbeit von Heeresgeneral Rodolfo Robles, der ihr wertvolle Informationen übergab, indem er den Modus der Entführungsoperation im Fall La Cantuta beschrieb. Vor Morddrohungen gegen seine Person und seine Kinder mußte Robles in Argentinien um Asyl nachsuchen. Wenig später gelang es aufgrund von Dokumenten, die von Militärs zugespielt wurden, die in Verbindung zu COMACA standen, den Ort, an dem der Professor und die Studenten von La Cantuta ermordet worden waren, wie auch die geheimen Gräber zu entdecken. Damit konnten die Streitkräfte nicht weiter Lügen verbreiten, aber sie waren bestrebt, weiter die Wahrheit zu verbergen. Wie im Fall der blutig niedergeschlagenen Gefangnismeuterei spaltete sich die Untersuchungskommission in zwei Gruppen, die ihre Berichte getrennt und mit völlig abweichenden Folgerungen erstellten. Die Vertreter der Regierung Fujimori präsentierten einen beschämenden Bericht mit absurden und arroganten Spekulationen, die von den weiteren Untersuchungen gänzlich widerlegt wurden. Die Ermittlungen wurden schließlich vom Obersten Gerichtshof an die Militärgerichtsbarkeit verwiesen, wobei er sich auf kurz zuvor verabschiedete verfassungswidrige Gesetze der Regierung Fujimori berief. Aufgrund des internationalen Skandals, den das Verbrechen von La Cantuta heraufbeschworen hatte, wurden einige der für die Tat Verantwortlichen mit Strafen von zwei bis zwanzig Jahren belegt. Aber wenige Monate später wurden die Mörder, die "verurteilt" worden waren, von der Regierung Fujimori amnestiert. f) Eine kritische Würdigung Was in Peru geschehen ist, zeigt, daß die Untersuchungskommissionen, die geschaffen worden waren, nicht den notwendigen Rückhalt in der Bevölkerung besaßen und nicht über die Fähigkeit verfugten, unparteiisch das Vorgehen der Regierung im Kampf gegen die Guerilla zu beurteilen. Die Folgerungen von Eguiguren (1990: 267) im Hinblick auf das Scheitern der parlamentarischen Untersuchungskommissionen in Peru sind zutreffend, wenn er schreibt: "Im peruanischen 56

Fall fügen sich verschiedene Faktoren zur virtuellen Ineffizienz der Untersuchungskommissionen zusammen: An erster Stelle ist die Konjunkturabhängigkeit zu benennen, die vielmals ihre Bildung umgibt, als Antwort auf Skandale oder wichtige Nachrichten, die später an Interesse und Aktualität verlieren, was in der Praxis zur Deaktivierung der betreffenden Kommission fuhrt. Zweitens liegen viele der Gegenstände, die untersucht werden sollen, jenseits dessen, was eine parlamentarische Kommission angehen sollte und kann, sei es wegen des Umfanges des Themas oder weil es sich um Aspekte handelt, die hauptsächlich der Staatsanwaltschaft oder Justiz obliegen sollten. Drittens sind der Widerstand oder die Passivität der offizialistischen Mehrheiten zu benennen, die das Parlament beherrschen, ... die mit ihren Manövern die Bestrebungen zur Kontrolle durch die Opposition behindern oder vereiteln. Hinzu kommt der Mangel an materiellen und persönlichen Ressourcen, an denen die Kommissionen leiden, der geringe Einsatz und der Mangel an Seriosität, der auf diesem Feld viele unserer Abgeordneten kennzeichnet, wie auch das Fehlen rechtlicher Normen, das den Untersuchungen Autorität und Effizienz nimmt." Es hat sich überdies gezeigt, daß die Untersuchungskommissionen in Peru in der Mehrzahl der Fälle nicht in der Lage waren, ihre Informanten zu schützen. Viele von ihnen verschwanden oder wurden ermordet, nachdem sie Zeugnis abgelegt oder Anschuldigungen vorgetragen hatten. Nachdem im vergangenen Jahr (1995) ein allgemeines Amnestiegesetz für Zivilisten, Polizisten und Militärs, die wegen Menschenrechtsverletzungen in den vergangenen 15 Jahre angeklagt worden waren, verabschiedet wurde, fordern verschiedene Menschenrechtsorganisationen von der peruanischen Regierung die Schaffung einer "Wahrheitskommission", die alle Verletzungen der Menschenrechte und internationaler humanitärer Übereinkommen untersuchen und dabei helfen soll, diese tragische Etappe der peruanischen Geschichte abzuschließen. Es ist richtig, was die Coordinadora Nacional de Derechos Humanos (1995) sagt: "Es ist schädlich, die Zukunft auf einer Geschichte aufzubauen, die zum Schweigen gebracht wurde".

III. Nicht offiziell eingesetzte Kommissionen 1. Bolivien: Das Komitee für die Einleitung eines Verfahrens gegen Garcia Meza Nach 18 Jahren Militärdiktaturen kehrte Bolivien im Oktober 1982 zu einer demokratischen Verfassung zurück. Zwischen 1965 und 1982 waren zahlreiche Opfer von Menschenrechtsverletzungen zu verzeichnen gewesen. Nach Aussagen des Comité Impulsor del Juicio contra Garcia Meza nahm mit dem Militärputsch durch General Hugo Banzer vom August 1971 eine der blutigsten de facto-Regierungen in der Geschichte des Landes ihren Anfang. So wurden mehr als 14.000 57

illegale Festnahmen angezeigt, wobei die Betroffenen häufig grausamen Folterungen unterworfen wurden; es gab mehr als 6.000 Exilierte; mehr als 70 Personen ließ man "verschwinden". Während der 16 Tage dauernden Diktatur des Oberst Alberto Natusch (1979) ermordeten Agenten der Regierung in La Paz 76 Personen, weitere 146 "verschwanden". Dem Regime von García Meza (1980-81) werden 52 Morde und das "Verschwindenlassen" von 22 Personen zugeschrieben. Nach der Rückkehr zu einer demokratischen Verfassung wurde über die Frage diskutiert, was im Hinblick auf die Verbrechen der Diktaturen geschehen soll. Aber es wurde kein Konsens darüber erzielt, welche Fälle untersucht werden sollten. Da sich die Justiz und die Führungen der politischen Parteien in ihrer Mehrheit aus den gleichen Personen zusammensetzten, die während der Diktaturen aktiv gewesen waren, bestand kein ausreichender Wille, alle Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen zu bestrafen. Sehr zaghaft unterschrieb Präsident Hernán Siles Suazo am 28. Oktober 1982 ein Dekret (Decreto Supremo Nr. 241), mit dem die Comisión Nacional de Desaparecidos geschaffen wurde. Diese Kommission untersuchte bis April 1983 die Ermordung von 14 politischen Gefangenen durch die Regierung Banzer und das Verschwinden von 22 Personen während der Herrschaft von García Meza. Im demokratischen Übergangsprozeß erreichte man schließlich nur einen Konsens hinsichtlich der Notwendigkeit, die Vergehen während der Gewaltherrschaft von General Luis García Meza zu untersuchen. Der Kongreß schloß nach einer Entscheidung vom 25. Februar 1986 eine Untersuchung von Ereignissen, die dem Militärputsch von García Meza vorausgingen, aus. Nutznießer dieser Entscheidung war insbesondere Ex-Diktator Hugo Banzer. Der Gewerkschaftsdachverband COB (Central Obrera Boliviana), die katholische und die methodistische Kirche, die Universität San Simón in La Paz, Journalistenverbände, Menschenrechtsorganisationen und die Angehörigen von Opfern initiierten mit Unterstützung einiger Politiker ein "Verfahren zur Feststellung der Verantwortlichkeit" {juicio de responsabilidades) gegen den General Luis García Meza und 55 seiner wichtigsten Mitarbeiter - zunächst im Februar 1984 vor dem Kongreß, und später im April 1986 vor dem Obersten Gerichtshof. Eine ausgewählte Gruppe von Anwälten und Jurastudenten, Journalisten wie auch Angehörigen von Diktaturopfern leistete über fünf Jahre einen Beitrag zur Arbeit des Comité Impulsor del Juicio, um mehr als 30.000 Seiten zusammenzustellen und aufzuarbeiten, die über die Taten der Diktatur gesammelt worden waren, und darauf aufbauend die Schriftsätze fur die Anklage vorzubereiten. Als der Kongreß beschloß, den Ex-Diktator vor dem Obersten Gerichtshof anzuklagen, und die Justiz einen Haftbefehl erließ, tauchte García Meza unter. Einen Monat später verfugte die Justiz die Beschlagnahmung der Besitztümer des Ex-Diktators sowie die Aberkennung seiner Bürgerrechte und erneuerte den Haftbefehl und den Fahndungsaufruf. Aus dem Untergrund richtete García Meza diverse Drohungen gegen Menschenrechtsorganisationen und versuchte, führende Politiker zu erpressen, damit sie ihm Schutz als Preis fur sein Schweigen 58

gewährten. Auch der Oberste Gerichtshof wurde mehrfach unter Druck gesetzt, um den Prozeß zu verzögern und/oder zu verwässern. Das Comité Impulsor del Juicio de Responsabilidades fuhr unbeschadet der Drohungen, die gegen seine Mitarbeiter gerichtet wurden, mit seiner Arbeit fort, erarbeitete Rechtsmittel für die Anklage und verbreitete massiv in Zeitungen, im Radio und im Fernsehen Informationen zum Verfahren. Fürs Fernsehen wurden sogar sieben kleinere Dokumentationen vorbereitet. Das Comité konnte nachweisen, daß hohe Offiziere des bolivianischen Heeres paramilitärische Gruppen ausgebildet und geleitet hatten, die im ganzen Land diverse terroristische Attentate verübten, oppositionelle Politiker ermordeten, Sprengkörper auf friedliche Demonstranten warfen, die Büros von politischen, religiösen und kulturellen Organisationen angriffen und ein Attentat gegen ein Flugzeug verübten, in dem Führer einer politischen Vereinigung reisten. Die Nachforschungen bestätigten, daß alle diese Attentate mit dem Ziel verübt worden waren, den Staatsstreich zu rechtfertigen, unter Verweis auf die vermeintliche Unfähigkeit der Regierung, den Terrorismus unter Kontrolle zu bekommen. Auch prominente Unternehmer waren an der Vorbereitung des Putsches beteiligt und profitierten später von Staatsaufträgen (Comité Impulsor 1992: 39). Es konnte belegt werden, daß der Nachrichtendienst des Heeres, der Oberst Luis Arce Gómez unterstand, eine "schwarze Liste" vorbereitet hatte, auf der Personen aufgeführt waren, die eliminiert werden sollten. Die Untersuchungen zeigten schließlich, daß auf Befehl der autoritären Machthaber der Abgeordnete Marcelo Quiroga, acht Führungsmitglieder des MIR, der Priester Luis Espinal und noch weitere Personen ermordet wurden. Es konnte nachgewiesen werden, wie die Todesschwadronen organisiert wurden, die in verschiedenen bolivianischen Städten straflos ihr Unwesen trieben. Das Comité konnte belegen, daß der nationalsozialistische Kriegsverbrecher Klaus Altmann (alias Klaus Barbie) während der Herrschaft von García Meza mit dem Nachrichtendienst des Heeres zusammenarbeitete und mit dem Ehrenrang eines Oberstleutnants belohnt wurde. Unter den ausländischen Beratern konnten auch der Major der argentinischen Streitkräfte, Julio César Durand, und die italienischen Neofaschisten und Terroristen Stefano Delle Chiaie und Pierluigi Pagliagi ausgemacht werden (Comité Impulsor 1992: 78). Nach einem sechs Jahre dauernden Verfahren vor der bolivianischen Justiz wurden 1992 schließlich General Luis García Meza und Luis Arce Gómez (beide in Abwesenheit) zu jeweils 30 Jahren Haft verurteilt. Seit März 1995 sitzt Garcia Meza im Gefängnis Chonchoroco in La Paz ein, nachdem ihn Brasilien ausgeliefert hat. Weitere fünfzig Personen, die in die Verbrechen verwickelt waren, wurden gleichfalls verurteilt. Oberst Luis Arce Gómez, der als Innenminister von Garcia Meza fungiert hatte und fur die Organisierung der paramilitärischen Terrorgruppen der Diktatur direkte Verantwortung trug, war bereits am 10. Dezember 1989 von der bolivianischen Polizei und Agenten der US-amerikanischen DEA (Drug Enforcement Agency) gefaßt worden, drei Jahre nachdem er vor der Justiz abgetaucht

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war. Er wurde sofort, ohne die bolivianische Justiz einzuschalten, in einem Flugzeug der DEA nach Miami gebracht und dort vor einem Bundesgericht angeklagt. Auch wenn das Comité Impulsor del Juicio de Responsabilidades eine "Wahrheitskommission" war, die nicht aufgrund eines gesetzlichen Mandats, sondern des ethischen Imperativs von Teilen der bolivianischen Gesellschaft geschaffen wurde, war seine Arbeit sehr effizient, und es gelang ihm, die Mehrheit der staatlichen Organe des Landes auf die Suche nach der Wahrheit über diesen Abschnitt der bolivianischen Geschichte zu verpflichten. Seine Mitglieder arbeiteten mit der Überzeugung, daß "weder Haß noch das geringste Anzeichen von Rache unsere Handlungen während dieser ununterbrochenen Anwesenheit als Ankläger über sechs Jahre und sechs Monate geleitet haben. Wir glaubten, daß der Schaden, den die Diktatur dem Lande zugefugt hat, unermeßlich war, aber vor allem glaubten wir, daß die Straflosigkeit dieser Diktatur ein noch größerer Schaden wäre."

2. Brasil Nunca Mais Die Untersuchungen zur Erfassung der Menschenrechtsverletzungen während der Diktaturperiode (1964-1985) wurden von Mitarbeitern der Erzdiözese von Säo Paulo geleitet. Die letzte Verantwortung lag bei Kardinal Evaristo Ams und dem Pastor der presbyterianischen Kirche, Jaime Whright. Rund 30 Personen aus dem Umfeld der Diözese arbeiteten mehr als fünf Jahr bei absoluter Geheimhaltung, um an Dokumente heranzukommen, sie zu analysieren, die enthaltenen Informationen zu überprüfen und sie nach vorher festgelegten Kriterien zu verarbeiten. Die Untersuchungen wurden im August 1979 begonnen und im März 1985 abgeschlossen. In diesem Zeitraum gelang es, die Informationen aus 707 Prozeßakten von Verfahren vor dem höchsten Militärgericht systematisch zu erfassen. Ein Charakteristikum des Berichtes liegt deshalb darin, daß er sich vor allem auf offizielle Dokumente stützt, auf Verfahren die vor Militärgerichten gegen Anhänger und Aktivsten der Opposition geführt wurden. Die Untersuchungsergebnisse wurden in einem Band von mehr als 5.000 Seiten mit dem Titel "Brasil Nunca Mais" wiedergegeben, der als Röntgenbild der politischen Repression und der Anatomie des Widerstands betrachtet werden kann. Eine Synthese des Berichtes wurde im Sommer 1985 als Buch veröffentlicht. Dort werden Informationen über die Menschenrechtsverletzungen in den Jahren 1964 bis 1979 zusammengestellt. Das Buch "BrasilNunca Mais" beschreibt nicht nur die grausamen und erniedrigenden Strafen und Foltern, sondern enthält auch historische Informationen über die Entstehung des Militärregimes, die Entwicklung des Repressionsapparates und die Perversion des Strafrechts, das die Verletzung der Menschenrechte begünstigte. Auf der Grundlage der Zeugenaussagen wurde die Geschichte der Folterzentren rekonstruiert. Im Bericht werden die diversen Foltermethoden der Sicherheitskräfte beschrieben. Der Bericht "Brasil Nunca Mais" enthält zudem Zeugenaussagen über die Arbeit von Agenten der CIA, wie den Fall von Dan Mitrione, der brasilianische Militärs und Polizisten in "wissenschaftli60

chen Methoden" zur Gewinnung von Geständnissen und Erkenntnissen unterrichtet haben soll. "Brasil Nunca Mais " gibt außerdem an, daß zwischen 1964 und 1979 125 Fälle registriert wurden, bei denen die Staatsmacht aus politischen Gründen Personen verschwinden ließ. Eine Liste mit den Namen von 444 Folterern aus den Reihen von Polizei und Militär, die aus strategischen Gründen nicht in der veröffentlichten Fassung "Brasil Nunca Mais" enthalten war, wurde von der Erzdiözese von Säo Paulo am 22. November 1985 in den Tageszeitungen "Folha de Säo Paulo" und "Jornal do Brasil" veröffentlicht. Nach der Veröffentlichung von "Brasil Nunca Mais" publizierten die Streitkräfte unter dem Titel "Brasil Sempre" ein wütendes Gegendokument, in dem sie ihre Aktionen rechtfertigten, die nach ihrer Darstellung zur Rettung des Vaterlandes vor dem Ungeheuer des Kommunismus und dem Chaos durchgeführt worden waren. "Brasil Nunca Mais" übermittelt die Forderung, die Erinnerung an die Toten zu respektieren. Deshalb die immer wiederkehrende Forderung, offenzulegen, wo sich die Verschwundenen befinden, und ihre sterblichen Überreste den Angehörigen zu übergeben, um so die Ehre der Opfer wiederherzustellen. Deshalb die Anklage im Bericht "BrasilNunca Mais" (S. 272): "Wie lange wird es in Brasilien Frauen geben, die nicht wissen, ob sie Witwen sind, wie lange Kinder, die nicht wissen, ob sie Waisen sind, menschliche Wesen, die vergeblich vor unversöhnlich verriegelten Türen warten, in einem Brasilien, daß wir, naiv, für frei von derartigen Grausamkeiten hielten." Erst 1995 verabschiedete die brasilianische Regierung schließlich ein Gesetzesdekret (Nr. 869/95) mit dem Ziel, den Angehörigen von 136 während der Militärdiktatur verschwundenen Personen wirtschaftliche Wiedergutmachungszahlungen (bis zu 150.000 US$ pro Familie) zu gewähren.

3. Paraguay Nunca Más 1954 kam nach einem Staatsstreich General Alfredo Stroessner an die Macht, die er in den kommenden 35 Jahren nicht mehr abgeben sollte. Stroessner wurde am 2. Februar 1989 durch einen Militärputsch gestürzt. Seitdem häufen sich die Berichte über die Menschenrechtsverletzungen, die während seiner langen Herrschaft begangen worden waren. Die Periode der Herrschaft von General Stroessner prägte die paraguayische Gesellschaft mit den Zeichen der Angst und des Terrors. "Die Angst, die unser politisches System erzeugt, ist so gewiß und so augenscheinlich, daß es keiner scharfsinnigen Studien, noch eines ausgefeilten wissenschaftlichen Instrumentariums bedarf, um sie nachzuweisen", bestätigte 1974 der Priester Ramón Juste und fugte hinzu: "Der bloße Versuch, öffentlich etwas zu sagen oder zu schreiben, das als Kritik am System interpretiert werden kann, ist schon ein Zeichen großen Mutes und zuweilen auch von selbstmörderischer Verwegenheit" (Revista Acción, Oktober 1974: 21/24). 61

Bereits im September 1976 hatte die Internationale Liga fur Menschenrechte eine Liste mit 203 politischen Gefangenen in paraguayischen Gefängnissen veröffentlicht, von denen manche schon mehr als 18 Jahre eingekerkert waren. Die Liste enthielt auch Fälle von Gefangenen, die in der Haft gestorben waren (Stephansky/Alexander 1976: 35-38). Seit seiner Gründung im Jahr 1976 registrierte und dokumentierte das Comité de Iglesias para Ayudas de Emergencia — CIPAE mit Unterstützung verschiedener internationaler Organisationen systematisch Gewaltakte im Land. Da bereits verschiedene religiöse Einrichtungen durch die Sicherheitskräfte durchsucht worden waren, unternahm CIPAE von Anfang an alle erdenklichen Sicherheitsvorkehrungen, um den Großteil der Archive in "sicheren Häusern" zu verstecken, Kopien anzufertigen oder die Dokumente sogar auf Mikrofilm aufzunehmen. 1984 beauftragte CIPAE seine Mitarbeiter, die Informationen über die Gewalt und ihre Auswirkungen in Paraguay zu systematisieren. Es bestanden große Befürchtungen, daß die Sicherheitskräfte versuchen würden, die Menschenrechtsorganisationen vollständig zum Schweigen zu bringen. Deshalb stießen die Bemühungen, Informationen zusammenzutragen, auf große Schwierigkeiten, weil die Angehörigen von Opfern durch die Angst paralysiert waren. Das Ergebnis der Untersuchungen wurde ab Mai 1990 in einer Serie von vier Bänden unter dem Titel "Paraguay: Nunca Mâs" veröffentlicht, in denen die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen während der Stroessner-Diktatur aufgelistet wurden. Im ersten Band wird darüber informiert, daß 360.000 Personen von insgesamt drei Millionen Einwohnern mit den Gefängnissen des Stroessner-Regimes Bekanntschaft machten. Gleichzeitig wird geschätzt, daß ca. 1,5 Millionen Paraguayer gezwungen waren, ins Exil zu gehen (CIPAE 1990: 212). Weiteres wichtiges Material zur Dokumentation der Menschenrechtsverletzungen während der Stroessner-Diktatur wurde von der Katholischen Kirche in Misiones unter dem Titel "Koâga Roneeta (jetzt reden wir) — Zeugnis der Landarbeiter über die Repression in Misiones 1976-1978" veröffentlicht. In diesem Buch wird die Brutalität der Polizei und des Militärs gegen hunderte von Aktivisten der Ligas Agrarias Cristianas und der Juventud Agraria Cristiana dokumentiert, weil das Stroessner-Regime glaubte, die Kirche sei von den Kommunisten infiltriert. Neben der Beschreibung vieler Fälle von Folterungen und der Ermordung von Landirbeiterfuhrern versucht das Buch, hunderte von Personen zu identifizieren, d:e mit dem Repressionsapparat als Richter, Bürgermeister und auf andere Weise zusammengearbeitet haben. Ende 1993 entdeckte man in Paraguay durch Zufall das Archiv der Geheimpolizei, das erstmals die Zusammenarbeit der Sicherheitskräfte im Coro Sur belegte. Aus den zahlreichen Dokumenten wird das Schicksal einer großen Zahl von exilierten und verhafteten argentinischen, uruguayischen, bolivianischen, brasilianischen, chilenischen und paraguayischen Oppositionellen ersichtlich, v/elche die Geheimpolizei der verschiedenen Länder in "Ausübung von Amtshilfe" verschwinden ließ.

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4. Uruguay Nunca Más Mit den Präsidentschaftswahlen vom November 1984, von denen immer noch bestimmte Kandidaten durch das scheidende Militärregime ausgeschlossen worden waren, kehrte Uruguay nach 111/2 Jahren Militärdiktatur zur Demokratie zurück. Der neu gewählte Präsident José María Sanguinetti trat sein Amt im März 1985 an. Obwohl er sich als Präsidentschaftskandidat verpflichtet hatte, die Wahrheit über die Menschenrechtsverletzungen aufzudecken, die Verantwortlichen zu bestrafen und die Opfer der Diktatur zu entschädigen, stieß er später im Präsidentenamt auf viele Hemmnisse, als er sein Versprechen auch umsetzen wollte. Am 22. Dezember 1986 verabschiedete die Regierung Sanguinetti das Gesetz Nr. 15.848 über die "Hinfälligkeit des Anspruchs auf Strafverfolgung des Staates", womit der Staat darauf verzichtete, die Menschenrechtsverletzungen, die während der Militärdiktatur begangen worden waren, zu untersuchen und gerichtlich aburteilen zu lassen. Drei Jahre später wurde am 16. April 1989 der Vorschlag, dieses Gesetz zu widerrufen, in einer Volksabstimmung abgelehnt. Der Servicio de Paz y Justicia veröffentlichte in Zusammenarbeit mit anderen nationalen und internationalen Organisationen im April 1989 das Buch "Uruguay Nunca Más", in dem über die Menschenrechtsverletzungen zwischen 1972 und 1985 berichtet wird. Als Ergebnis der Studie wurde aufgezeigt, daß in Uruguay zwischen 1971 und 1981 127 politische Morde an oppositionellen Aktivisten oder Politikern begangenen wurden. 32 Personen starben während der Verhöre an der Folter, 53 wurden bei Feuergefechten mit den Sicherheitskräften erschossen. Weitere 13 Uruguayer wurden Opfer extralegaler Hinrichtungen, neun begingen im Gefängnis Selbstmord, 20 starben im Gefängnis an der Folge von Krankheiten. Die Studie dokumentiert auch das Verschwinden von 32 Personen in Uruguay. Weitere 127 uruguayische Staatsbürger verschwanden in Argentinien, drei in Chile und zwei in Paraguay. Diese Informationen wurden von einer dazu geschaffenen offiziellen Untersuchungskommission des Kongresses über "die Situation verschwundener Personen und die Tatbestände, die sie verursachte" bestätigt.

IV.

Allgemeine Schlußfolgerungen

- Die "Wahrheitskommissionen" sind eine Reaktion auf die Ineffizienz oder Unfähigkeit der Justiz, dem Recht bei Menschenrechtsverletzungen Geltung zu verschaffen. - Die lateinamerikanischen "Wahrheitskommissionen" weisen eine große Varianz im Hinblick auf ihre Organisationsstruktur, ihre Aufgaben und Arbeit sowie ihren Beitrag zum Demokratisierungsprozeß auf.

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- Die "Wahrheitskommissionen" haben mehrheitlich zum nationalen Betriedungsprozeß beigetragen, indem sie die verheimlichte Geschichte von Gewalt aufdeckten und Möglichkeiten eröffneten, die für die Menschenrechtsverletzungen Verantwortlichen zu bestrafen. -

Falls die Untersuchungen der "Wahrheitskommissionen" nicht zu einer Bestrafung der Menschenrechtsverbrecher fuhren, können sie zu einem Instrument der Straflosigkeit, zu einem offiziellen Mittel werden, um die Vergangenheit hinter sich zu lassen, ohne die Wunden zu heilen.

-

Damit der Arbeit der "Wahrheitskommissionen" Erfolg beschieden ist, bedürfen sie außer der Mitarbeit von Menschenrechtsorganisationen einer breiten Unterstützung in der Bevölkerung, die politische, kirchliche, akademische, gewerkschaftliche und andere Organisation einbezieht. Die Suche nach der Wahrheit ist erfolgversprechender - im Sinne einer Befriedung der Gesellschaft — , falls die Arbeit der Kommissionen in ein Gesamtprojekt gesellschaftlicher Aussöhnung eingebettet ist, das von der Mehrheit der Bevölkerung getragen wird.

-

Die Aussichten, die ganze Wahrheit zu ergründen, sind günstiger, wenn die Kommissionen ihre Arbeit unmittelbar nach Ende der Gewaltperiode aufnehmen.

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Untersuchungen, die noch in einem Klima der Gewalt durchgeführt werden, bergen das Risiko, parteiisch und unvollständig zu sein, da es gefährlich ist, öffentlich die für die Menschenrechtsverletzungen Verantwortlichen zu identifizieren und zu benennen.

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Unabhängige Kommissionen werden eher die Wahrheit ergründen können als Kommissionen, denen Anhänger oder Repräsentanten von Regierungen angehören, die der Menschenrechtsverletzungen bezichtigt werden.

-

Umfassende Untersuchungen der Ereignisse während der gesamten Gewaltperiode und darauf bezogene Wiedergutmachungsleistungen tragen eher zur Wiederherstellung des sozialen Friedens bei als Teiluntersuchungen und Teillösungen.

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Detlef Nolte

Zu Beginn der 90er Jahre: Lateinamerikas Generäle zeigen keine Reue1 Vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion um die Aufarbeitung der Vergangenheit in Lateinamerika werden nachfolgend Stellungnahmen von hohen Militärs wiedergegeben, die die Entwicklung während der Militärherrschaft in drei Ländern — Argentinien, Uruguay und Chile — maßgeblich beeinflußt hatten und sich Anfang der 90er Jahre rückblickend zu ihrer Politik äußerten. Dabei zeigen sich Kontinuitätslinien, aber — wie im argentinischen Fall — auch Brüche. Argentinien: Am 29.12.1990 hatte Präsident Menem acht hohe Offiziere — darunter die ehemaligen Präsidenten und Juntachefs Jorge Videla und Roberto Viola —, die 1985 wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen während der Militärdiktatur zu lebenslanger bzw. zu 17 Jahren Haft verurteilt worden waren, begnadigt. Gleichfalls begnadigt wurden der ebenfalls zu lebenslanger Haft verurteilte ehemalige Führer der Guerillabewegung "Montoneros", Mario Firmenich, und drei zivile Funktionsträger der Militärdiktatur. Noch am Tag seiner Entlassung aus der Haft richtete Ex-General Videla einen Brief an den Oberkommandierenden des Heeres, General Bonnet, der den folgenden Wortlaut hatte: "Der Staatspräsident hat entschieden, die ihm aufgrund Artikel 86, Absatz 6 der Verfassung zustehenden Befugnisse wahrzunehmen. Davon betroffen sind diejenigen, die die Streit-, Sicherheits- und Polizeikräfte kommandierten und dabei Befehle der Regierung ausführten, die die Nation gegen die subversive Aggression verteidigten, die verhinderten, daß sich in unserem Vaterland ein totalitäres Regime etablierte und die den Fortbestand des demokratischen und republikanischen Systems ermöglichten. Ich verbrachte sechs Jahre im Gefängnis, überzeugt davon, daß die Ableistung meiner ungerechten Strafe ein Akt der Pflichterfüllung darstellt. Deshalb habe ich nie meine Freilassung gefordert. In allen meinen öffentlichen Erklärungen habe ich allein die Rehabilitierung des Heeres und die Wiederherstellung der militärischen Ehre gefordert.

Der vorliegende Text enthält Auszüge (und einige Ergänzungen) aus einem Artikel, der ursprünglich in "Nord-Süd aktuell" 5(1991)2: 225-231 und in gekürzter Form in der "Frankfurter Rundschau" vom 14.5.1991: 14 erschienen war.

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Ich respektiere die Entscheidung des Präsidenten. Ich muß gleichwohl ausdrücken, daß immer noch eine volle Genugtuung für die Institution aussteht. Ich wiederhole an dieser Stelle mein Mitgefühl mit dem Schmerz deijenigen, die Tote, Verwundete oder Verstümmelte zu beklagen haben, die bei der Verteidigung des Vaterlandes oder falscher Ideale gefallen sind. Und ich bitte Gott, daß er für immer den Haß zwischen den Argentiniern auslöscht, damit wir uns in Frieden, geeint und in Freiheit versöhnen können. Grüße an den Oberbefehlshaber mit meinen besten Empfehlungen. Jorge Rafael Videla". Der Oberkommandierende des Heeres, General Martin Bonnet, hatte seinerseits bereits am Tag der Freilassung der inhaftierten Militärs erklärt, daß mit der Begnadigung ein Wunsch des Heeres in Erfüllung gehe und ein Beitrag zu einer historischen Wiedergutmachung gegenüber den Streitkräften geleistet werde. Insofern ist die Erklärung von General Balza vom April 19952 ein Indiz für einen beachtlichen Einstellungswandel in den Streitkräften. Interessante Einblicke in die Denkweise der argentinischen Militärs im Hinblick auf die illegale Repression bei der Bekämpfung der Guerilla vermittelt ein Interview mit dem nordamerikanischen Historiker und Spezialisten für die Geschichte des argentinischen Militärs, Robert Potash (Clarín 24.3.1996: 20-21), in dem dieser ein Gespräch erwähnt, das er mit General Roberto Viola 1977 geführt und in dem er das Thema der Bekämpfung der Guerilla angeschnitten hatte. "Ich fragte ihn: Warum benutzt man nicht die Justiz? Und er gab mir eine sehr eigenartige Erwiderung. Er antwortete mit einer Frage, die mehr oder weniger lautete: Falls in den Vereinigten Staaten die Guerilleros von Patty Hearst vom gleichen Prozentsatz der Bevölkerung unterstützt würden, der hinter der Guerilla in Argentinien steht - den er auf 1% bezifferte (zwischen 150.000 und 200.000 Personen) - , oder falls in den USA ungefähr 2 Millionen Personen die Guerilla unterstützten, könnte die Justiz dann funktionieren?... nach seiner Meinung war es nicht möglich, die Justiz einzusetzen, um gegen die Guerilla vorzugehen ..." Uruguay: Am 7. März 1991 veröffentlichte die in Montevideo erscheinende Wochenzeitung "Búsqueda" ein Interview mit dem letzten Oberkommandierenden des Heeres während der Militärherrschaft und Verteidigungsminister der ersten Regierung Sanguinetti (1985-1990), General (i.R.) Hugo Medina, dessen wichtigste Passagen nachfolgend wiedergegeben werden. Im Interview wird Folter (tortura) zuweilen mit dem Begriff "Zwang ausüben" (apremiar) umschrieben. "Frage: Und warum haben die Streitkräfte, nachdem sie sich entschlossen hatten, den Terrorismus zu bekämpfen, nicht auf traditionelle Konzepte der Kriegsführung zurückgegriffen, sondern sich für die Methoden des schmutzigen Krieges entschieden? Medina: (Schweigen) Gut... (Seufzer) Der Kampf gegen den Terrorismus entwickelte sich zunächst in einer etwas unkoordinierten Weise. Es gab keine formale 2

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Die Erklärung ist im vorliegenden Band abgedruckt.

Entscheidung, zum schmutzigen Krieg überzugehen. Keiner wollte ihn, er entwickelte sich unmerklich. Etwas im nachhinein zu bestimmen, ist viel einfacher, als eine Sache zu definieren, die sich gerade herausbildet. Keiner dachte, daß wir uns auf dem Weg zu einem schmutzigen Krieg befanden. Es war notwendig, schnell Informationen zu erlangen, weil sie lebenswichtig waren. Es gab Grundsätze, die wir immer befolgten, obgleich die Leute heute, mit leichten Vorurteilen behaftet, dies bezweifeln mögen. Ich habe dies in einer Fernsehreportage ... gesagt: Hier gab es fünftausend Gefangene. Unter Anwendung von Kriterien, die nicht die unseren waren, hätte es viertausend Tote geben können, und die gab es nicht. Es gab sehr wenige Tote. Man nahm sie gefangen, man verhörte sie, man holte Informationen aus ihnen heraus, und man steckte sie ins Gefängnis. Frage: Sie sprechen von wenigen Toten, als ob dies ein Verdienst wäre. Tatsache ist, daß es sie gab, und gerade darin liegt die Tragik. Medina: Aber es war Krieg ... es war Krieg ... so wie heute, wo die Zivilbevölkerung bombardiert wird und Menschen sterben ... Frage: Entschuldigen Sie mich, General. Es ist eine Sache, in einem Gefecht oder auf dem Schlachtfeld oder als Folge einer kriegerischen Handlung zu sterben, und eine andere, an der Folter zu sterben. Medina: So ist es. Und ich sage Ihnen, daß ich darüber viel nachgedacht habe, weil es mich sehr beschäftigt hat. Ich glaube, keine dieser Personen starb aufgrund der Willensentscheidung des Tötenden, aufgrund der Tatsache, daß ein Verhör mit Tötungsabsicht geführt wurde. Sie starben aufgrund von Auswüchsen, weil jene, die verhörten, die Kontrolle verloren, sei es durch die Fortsetzung der Folter oder weil Eile geboten war. Vergessen Sie nicht, es gab Informationen, die sofort vorliegen mußten, weil davon das Leben eines Kameraden oder einer Gruppe von Kameraden abhängen konnte. Es gab mehrere derartige Fälle, und die Erfahrung lehrte, daß es nicht ratsam war zu warten. Deshalb ereigneten sich diese Dinge. Frage: Es fallt mir wirklich schwer, so wie Sie zu denken. Medina: Es ist so, daß Sie und andere Personen sich an ihren Schreibtischen sitzend bei einer Tasse Kaffee daran machen, über diese Dinge nachzudenken und Belastungsmaterial anzuhäufen, da Entlastendes schwer zu finden ist, weil nichts vorliegt, und Sie enden damit, den Verhörenden den Kittel des Folterers und Sadisten umzuhängen, was sie in Wirklichkeit nicht sind. Sie haben einfach nur Druck ausgeübt, weil die Umstände sie dazu zwangen ... Frage: Hatten Sie jemals wegen all dieser Dinge Gewissensbisse? Medina: Nein ... Frage: War es ein Fehler Zwang auszuüben? Medina: Nein Frage: Haben Sie jemals den Befehl gegeben, gegen einen Gefangenen Zwang auszuüben? Medina: Ja." 69

Chile: Das chilenische Heer und sein Oberkommandierender nahmen sich 23 Tage Zeit, um auf die Rede von Präsident Aylwin zu reagieren, in der er die Ergebnisse der Kommission Rettig bekanntgegeben hatte3, die die schwersten Menschenrechtsverletzungen während der Militärherrschaft untersucht hatte. In einer von Präsident Aylwin einberaumten Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates, die der Kanalisierung der Kritik aus den Reihen der Streitkräfte dienen sollte, gaben die vier Oberkommandierenden der Teilstreitkräfte und der Polizei am 27. März 1991 die offiziellen Positionen ihrer Institutionen bekannt, die danach öffentlich gemacht wurden, die des Heeres noch am gleichen Abend in einer Ansprache des Oberkommandierenden General Pinochet vor den Offizieren der Garnison von Santiago4. Pinochet und die Generalität des Heeres erklärten ihre grundsätzliche Diskrepanz mit dem Inhalt des Berichts der Kommission Rettig, der sie Parteilichkeit vorwarfen, und sie lehnten es entschieden ab, sich wegen — aus ihrer Sicht unbewiesener — Menschenrechtsverletzungen auf die Anklagebank setzen zu lassen. Die Intervention des Militärs am 11. September 1973 wurde einmal mehr gerechtfertigt, Todesopfer auf den damals herrschenden inneren Kriegszustand zurückgeführt. Die Heeresführung sah keinen Grund, um Verzeihung zu bitten, und lehnte eine Rehabilitierung der Opfer der Militärherrschaft und Entschädigungsleistungen für ihre Angehörigen ab. Eine ähnliche Position bezog die Marineführung. Die Oberkommandierenden der Polizei und - noch stärker - der Luftwaffe nahmen demgegenüber eine konziliantere Haltung ein. In einer verklausulierten Passage seiner Rede vor den Offizieren der Garnison von Santiago machte General Pinochet in überaus zynischer Form die Regierung der Unidad Populär für die nachfolgenden Ereignisse verantwortlich. Zugleich enthielt die Erklärung der Heeresführung deutliche Drohungen: "Für einen bedeutenden Teil der Nation, der die Heldentat des 11. September 1973 verstand, muß das wahre "Niemals mehr" vor allem von jenen kommen, die mit ihren verschiedenen ideologischen Experimenten das Land zu einer unvermeidlichen Reaktion der legitimen Verteidigung gegenüber der offenen Illegitimität, der man verfallen war, führten. Es ist notwendig, daß man in Chile "niemals mehr" ein Projekt der Art und Auswirkungen, wie es die Unidad Populär darstellte, zu verwirklichen trachtet. Andernfalls können die Erfahrungen nicht verhindert werden, die der legitime Gewalteinsatz aufgrund der ihm eigenen Charakteristika mit sich bringt oder nur schwer vermeiden kann." Die größte Dreistigkeit erlaubte sich allerdings der ehemalige Chef des chilenischen Geheimdienstes DINA, General (i.R) Manuel Contreras, der 1995 als Auftraggeber der Ermordung des ehemaligen chilenischen Außenministers Letelier in Washington (1976) rechtskräftig verurteilt wurde und seit Oktober 1995

3

Die Rede ist im vorliegende Band abgedruckt. Zur Rettig-Kommission siehe den Beitrag von C u y a im vorliegenden Band sowie die A u s f u h r u n g e n in den Artikeln von Nolte, Lira und Becker.

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Die wichtigsten D o k u m e n t e sind abgedruckt in: Lateinamerika. Analysen-Daten-Dokumentation, Beiheft 10 (1991).

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im Gefängnis sitzt5, in einem Interview, das er am 25.März 1991 im chilenischen Fernsehen gab und dessen Wortlaut später veröffentlicht wurde. In diesem Interview stritt er alle tausendfach belegten Vorwürfe einfach ab. Er warf der von Präsident Aylwin eingesetzten Kommission die Verbreitung von Halbwahrheiten vor. Sie sei überdies parteiisch besetzt gewesen und von den Marxisten getäuscht worden. Der chilenische Geheimdienst habe keinerlei Menschenrechtsverletzungen begangen, es habe keine Folterungen, keine "Verschwundenen" und auch keine heimlich begrabenen Opfer der Repression gegeben. Frage: Entschuldigung, Sie bekräftigen, daß in der DINA niemals gefoltert wurde? Contreras: Nein, niemals wurde in der Weise, wie man uns unterstellt, gefoltert. Gut, wenn Sie unter Folter das Verhör eines Gefangenen, eines Festgenommenen verstehen, dann muß auch die Behandlung der irakischen Kriegsgefangenen durch die Nordamerikaner, die mit gefesselten Händen und verbundenen Augen abgeführt werden, so bezeichnet werden, weil man uns deswegen kritisiert hat. Frage: Dies hat auch die DINA getan? Contreras: Auf die gleiche Weise. Trotz allem haben wir uns an die Vorschriften für Kriegsgefangene gehalten. Frage: Aber meiner Meinung nach war der Krieg am Persischen Golf nicht die gleiche Art von Krieg ... Contreras: Es war nicht die gleiche Art von Krieg, weil unser Krieg ein subversiver, geheimer und grausamer Krieg war, viel schlimmer als der Krieg am Persischen Golf. Frage: Mit anderen Worten, wie Sie mir andeuten, ist in einem subversiven Krieg die Folter erlaubt ... Contreras: Nein. Niemals habe ich gesagt, daß die Folter erlaubt war. Frage: Hat man nun gefoltert oder nicht gefoltert? Contreras: Man hat nicht gefoltert. Man hat die Gefangenen verhört, aber weil es eine marxistische Maxime gibt, nach der jeder Gefangene, wenn er freigelassen wird, behaupten soll, er sei gefoltert worden, werden es alle behaupten. Das ist normal ... Frage: General, sprechen wir ein wenig über den Staatspräsidenten Patricio Aylwin. Er hat bei der Bekanntgabe des Rettig-Berichtes auf sehr christliche Weise im Namen aller Chilenen die Angehörigen der Opfer um Verzeihung gebeten. Sind Sie bereit, um Verzeihung zu bitten? Contreras: Es gibt nichts, was ich zu bereuen habe und für das ich um Verzeihung bitten müßte ..."

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Zum Fall Letelier/Contreras siehe den Beitrag von Huhle im vorliegenden Band. 71

Osvaldo Bayer1

Verdrängen und Erinnern in Argentinien Von Dachau zur ESMA Wenn man nach Dachau kommt, schämt man sich, der menschlichen Rasse anzugehören. Ich, als Argentinier, schämte mich darüber hinaus, Argentinier zu sein. Warum? Die Scham, ein Mensch zu sein, erfaßt an diesem Ort jeden, der nur ein Minimum an Empfindsamkeit bewahrt hat. Zu sehen, wie Menschen fähig waren, andere menschliche Wesen einzusperren, sie des höchsten Gutes, ihrer Freiheit, zu berauben, sie darüber hinaus zu foltern, sie von ihren Familien zu trennen, sie nur deshalb zu ermorden, weil sie sich zu anderen Weltanschauungen bekannten oder aus rassischen Gründen, ist ein Beleg dafür, zu welcher geistigen Perversion, zu welchem Sadismus und zu welcher Feigheit jene fähig sein können, die das staatliche Gewaltmonopol ausüben, jene Zivilisten und Söldner in Uniform, die als Henkersknechte dienten. Dachau bleibt für immer ein Symbol in der Menschheitsgeschichte. Dieses Konzentrationslager, in dem Vertreter der deutschen Linken, Juden, Zigeuner und Homosexuelle gefangengehalten wurden, diente zudem als Schule für die Häscher der Diktatur. Dort wurden die zukünftigen Wächter der Konzentrationslager ausgebildet, die von 1933 an in Deutschland wie Pilze aus dem Boden schössen. Dort lehrte man zu foltern und den Häftling bis zur vollständigen Erniedrigung zu demütigen. Dort, wenige hundert Meter von der idyllischen Stadt Dachau entfernt, deren Name nun für immer der Fluch anhaftet, der Sitz der strukturierten Gemeinheit als Herrschaftsform gewesen zu sein. Aber die Stadt flieht nicht vor ihrer Verantwortung gegenüber der Geschichte: Ihre Erinnerung an die Schande ist beständig. Nicht nur erhält man das Konzentrationslager als nicht zu leugnenden Beweis dieser Schande, sondern Jahr für Jahr veranstaltet man dort Begegnungen von Historikern, Soziologen, Psychologen, Lehrern und in der Hauptsache Studenten, um die Erinnerung lebendig zu halten und nach Wegen zu suchen, dem Recht auf Leben, auf Würde und Freiheit des menschlichen Wesens Verbreitung zu verschaffen. Als ich nach Dachau kam und

Der vorliegende Beitrag beruht auf zwei in der argentinischen Tageszeitung "Pägina 12" erschienenen Artikeln, die in leicht gekürzter Form übernommen wurden. Von Osvaldo Bayer autorisierte und durchgesehene Übersetzung aus dem Spanischen von Detlef Nolte.

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sah, was man in dieser Stadt unternimmt, um die Beweggründe für die Verbrechen gegen die Menschlichkeit immer weiter zu ergründen und zu versuchen, ihnen ein Ende zu bereiten, begann ich gerade deshalb noch stärker an mein Land Argentinien zu denken. Wir versuchen, unseren gesamten Wundschorf zu verbergen. Wir haben die offenen Wunden unserer geistigen Krätze und den extremen Mangel an Zivilcourage in unserer Gesellschaft mit Gesetzen der Gehorsamspflicht, des Schlußpunktes und mit Begnadigungen verdeckt. Als ich Dachau betrat, mußte ich an die ESMA denken. Vielleicht der beschämendste Ort für das menschliche Gewissen, weil man dort nicht allein die Gefangenen herausholte, um sie lebendig ins Meer zu werfen, sondern man sie vorher auf die erniedrigendste Weise folterte, man sie auf die demütigendsten Formen der Knechtschaft reduzierte, man die Kinder und Ehefrauen der Gefangenen folterte, denen man vorher ihr Eigentum raubte, oder man sogar ihre Kinder als Beute verteilte. Was man mit den jungen Frauen anstellte, ist ein besonderes Kapitel, dessen nur die Argentinier fähig sind, mit ihren extremen Komplexen eines Machismo, der sich nur gegenüber dem wehrlosen Opfer beweist, aber nicht an der Front. Jedes andere Volk hätte nicht zugelassen, daß die ESMA immer noch als Schule dient, die heranwachsende Jugendliche besuchen. Aber bei uns ist alles möglich. Wie war und ist es möglich, daß der Fregattenkapitän Astiz in Freiheit ist, der vielleicht eines der niederträchtigsten Beispiele in der Menschheitsgeschichte ist, weil er heimtückisch Frauen auslieferte, die nur dem Verbleib ihrer Kinder nachforschten, mit seiner Veranlagung als Kuppler, der alte verzweifelte Frauen verriet, die ihm ihr Leid anvertrauten, und dessen einziger Akt von "Schneid" darin bestand, von hinten auf eine unbewaffnete Jugendliche zu schießen? Selbstverständlich war er der erste, der sich im Malwinen-Krieg ergab, noch bevor die Engländer einen Schuß abgegeben hatten. Daß die ESMA immer noch eine Schule ist, Astiz während zweier Präsidentschaftsperioden im Dienst blieb und sogar befördert wurde, offenbart ganz unverblümt die Feigheit unserer Politiker und die Korruption unserer Gesellschaft. Als man mich einlud, auf dem Historikerkongreß in Dachau einen Vortrag zu halten, war ich außerordentlich beschämt. Was sollte ich den Universitätsprofessoren und Sozialwissenschaftlern sowie den Zuhörern, die den großen Vortragssaal füllten, berichten? Etwa, daß es in der ESMA nicht einmal eine Gedenktafel gibt, die an die Tausende von Personen erinnert, die dort niederträchtig ermordet wurden? Oder daß im April 1995, als die "Mütter der Plaza de Mayo" vor dieser Höhle der Perversion demonstrierten, der Innenminister befahl, sie mit einer blinden Wut niederzuknüppeln, die die Angst vor der Wahrheit symbolisierte? Was werde ich auf diesem Kongreß in Dachau sagen? Daß die geistigen Väter der Methode, Menschen verschwinden zu lassen, — des "argentinischen Todes" — alle frei sind und daß Funktionäre dieser Diktatur heute Minister der Demokratie sind? Ich sagte, dies sei die "argentinische Wahrheit" oder, genauer gesagt, die Wahrheit des demokratischen Argentiniens, oder die Art und Weise der Argentinier, 73

die Demokratie zu interpretieren. Ich erklärte, die beste Weise, die Gesellschaft zu begreifen, der ich angehöre, sei, die Strafen, zu denen die wegen der Ereignisse von La Tablada Festgenommenen verurteilt wurden, mit der Freiheit zu vergleichen, der sich ein bekennender Folterer wie Juan Simón oder andere Geständige, wie der Kapitän Scilingo oder der Sergeant Ibáñez, erfreuen. Es reicht völlig aus, das folgende Beispiel zu benennen, um die vollständige Unmoral der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit zu belegen: Der Pater Puigjané, der am Überfall auf die La Tablada-Kaseme nicht beteiligt gewesen war, wurde zu zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt. Während gleichzeitig der General Galtieri, dessen Verhalten während der Repression in Rosario in seiner Schändlichkeit die gemeinsten Verbrechen in der Menschheitsgeschichte übertraf - wie z.B. das Verschwindenlassen von zwei jungen Blinden und der Raub ihrer Habseligkeiten oder das Verbrechen, dessen er kürzlich vom Polizeioffizier Talavera beschuldigt wurde, eine Handgranate gegen ein wehrloses Ehepaar geworfen zu haben, das in einem Auto eingeschlossen worden war und bei lebendigen Leib verbrannte —, gegen diesen General wurde von der Justiz der Demokratie das Verfahren eingestellt. Innerlich bewegt verließ ich Dachau, als ich sah, daß die Ethik immer wieder triumphiert und die Erinnerung sich nicht auslöschen läßt. Dort sind sie, die Namen der Mörder, für immer. Ich versprach den Anwesenden, in Buenos Aires eine Initiative ins Leben zu rufen, deren Ziel es ist, daß sich die ESMA für immer in das lebendige Gewissen für das Ausmaß an Schändlichkeit verwandelt, zu dem man in unserem Land in den Jahren der Methode des "argentinischen Todes" gelangt war. Es wird ein langer Weg sein, daran hege ich keinen Zweifel.

Der Schulhof der lebendigen Schüler Aber es gibt auch ein anderes Argentinien. Ich habe es vor kurzem erlebt, im Schulhof des Gymnasiums Nicolás Avellaneda. Ein jugendlicher Innenhof; ein Klima voll angespannter Erwartungen. Als wären wir alle in einen Tempel eingetreten, in welchem man dem Frühling die Weihe geben wird. In diesem gegenüber dem tiefblauen Himmel offenen Tempel waren wir alle Jugendliche, von der Direktorin über die Lehrer bis zu den Schülern, unter der Sonne, als wenn alles gerade aufgeblüht wäre. Dort an der Wand, Zeugin immer wiederkehrender Schulpausen, enthüllten die Schüler folgende Gedenktafel: "In Erinnerung an die Schüler, die während der letzten Militärdiktatur verschwunden sind: DIE IHRE AUGEN VOR DER VERGANGENHEIT VERSCHLUSSEN, WERDEN BLIND FÜR DIE ZUKUNFT. Centro de Estudiantes de Nicolás Avellaneda." Der Beifall, die Erregung. Aber auch die Freude. Sie schauten mich an, damit ich reden sollte. Ich näherte mich fast auf Zehenspitzen, um nicht den Zauber des Frühlings zu brechen, und sprach: "Die Geschichte hat ihre Fristen und ihre Symbole. Hätte ich mir vielleicht zwei Dekaden zuvor, im europäischen Exil, so etwas vorgestellt? Im Schulhof 74

eines argentinischen Gymnasiums zu sprechen, einem unserer Gymnasien, zum Gedenken an die Schüler, die Opfer eines mitleidlosen Systems, einer grausamen und scheinheiligen Gesellschaft wurden. Aber es gibt noch etwas Schöneres: daß die Schüler selbst und ihre Lehrer etwas so Edles, so durch und durch Anständiges und Mutiges, ja, so Poetisches angestoßen haben. Danke, Danke, vielen Dank. Mehr bleibt mir nicht zu sagen. Danke an die Erinnerung an unsere geliebten verschwundenen Mädchen und Jungen, Dank an ihre le:dtragenden Eltern und Dank an mich selbst, weil mir dies eine große Kraft verleih, im Prozeß des Aufklärens und des Erinnerns fortzufahren. Die Zeit und die Geschichte fuhren zu einer Klärung und legen in aller Deutlichkeit offen, klar abgegrenzt, die Lüge auf der einen Seite und die wahren Werte auf der anderen. Hier auf dieser schlichten und so bedeutungsvollen Feier ist die unbestechliche Seite dar menschlichen Seele vertreten, die Ethik des Gefühls, die Schritt für Schritt über die schwarze Nacht des hinterlistigen Putsches und die Folter, die Entführungen und das Verbrechen triumphiert; welche die Angst nimmt und das aufklären wird, was für immer verborgen schien. Wir sind hierher gekommen, wie wir sagten, mit einem unermeßlichen Schmerz und mit einer überaus großen Freude, mit diesen beiden extremen und erlösenden Gefühlen, die nur diejenigen durchleben können, die an die Liebe und die menschliche Solidarität glauben. Liebe Schüler, liebe Lehrer: Der unermeßliche Schmerz überkommt uns wegen der Jugendlichen, die gerade die Augen für das Leben geöffnet hatten und von den Ungeheuern der Nacht ermordet wurden, die heutzutage in Freiheit durch unsere Straßen Spazierengehen. Denken wir einen Augenblick an diese heranwachsenden Leben, die abgebrochen wurden, kaum daß die Illusionen und die Träume geboren waren. Zu denken, daß sie frei diese Schulhöfe bevölkern, mit ihrem Lächeln und ihren hohen und wohlklingenden Stimmen. Sie kamen mit Augen voller Blumen und Vogelschwingen in ihren Köpfen. Und wir vermochten nicht, sie zu vereidigen. Wir vermochten nicht, sie den Ketten der brutalen Henker zu entreißen. Die feige und heuchlerische Gesellschaft zog es vor, ihre Fenster zu verschließen und zuzulassen, daß die Boten des Todes die Besten unserer Kinder mitnahmen. Jene, die nachzudenken wußten, jene, die zu reden begriffen, jene, die verstanden, daß die Wahrheit im christlichen Wort der Nächstenliebe und nicht in der Ang:st vor der Kapuze über dem Kopf der Opfer, den elektrischen Folterwerkzeugen oder der Macht liegt. Man hat sie uns weggenommen, und die Gesellschaft sagte achselzuckend: Es wird wohl einen Grund geben. Anstatt sich selbst zu fragen: Waren sie nicht im Recht, «oder falls nicht, reagierten sie vielleicht gegen eine ungerechte Gesellschaft, die wir ihnen vorgegeben haben? Aber Jugendliche von 15, 16 oder 17 Jahren zu foltern und zu ermorden, nur weil sie sich nach Ansicht der Stützen einer bis auf die Knochen korrupten Gesellschaft im Irrtum befanden, ist der grau75

samste Kindermord in der Menschheitsgeschichte. Gewiß, mit ihren Kindern war diese Gesellschaft außerordentlich grausam, aber bei den Henkern beeilte sie sich, sie zu begnadigen. Gegen die Heranwachsenden, alle Grausamkeit; gegen die Henker, den Kniefall und das Recht auf Gegendarstellung im Femsehen. Die argentinische Tragödie durcheilte die Gänge, Innenhöfe und Klassenzimmer unserer Schulen. Man wollte die Wände weißtünchen mit Schlußpunktgesetzen, Gesetzen zur Gehorsamspflicht oder Begnadigungen. Aber die schönen Gesichter unserer Kinder schauten uns erneut und jedesmal fester an, und ihre Stimmen begannen jedesmal stärker in den Gängen, Höfen und Klassenzimmern zu vibrieren. Und das ist die große Freude und der Grund zum Jubeln: daß sie ihre heutigen Mitschüler wachgerüttelt haben, die mit dieser Gedenktafel und dieser Feier ihnen gegenüber ihre Herzen öffnen wollten. Sie sind schon zurückgekehrt. Sie sind schon unter uns und werden es jeden Tag sein, in allen Pausen, bei allen Festen des Unterrichtens und des Wissens. Dieses, was so einfach, so bescheiden erscheint, hat jedoch eine große Zukunft: die Erinnerung, um daraus zu lernen. Von diesen Heranwachsenden zu lernen, die das Leben bereits als eine Verpflichtung ansahen, um eine Welt mit mehr Brüderlichkeit zu verwirklichen. Diese Gedenktafel ist dies und nichts anderes. Weil die Welt, die uns umgibt, uns dazu drängt. Wir Jugendliche dürfen nicht resignieren — und ich werde mich mein ganzes Leben als Jugendlicher betrachten, weil ich mich nicht geschlagen geben will vor der Arbeitslosigkeit und dem Elend und der Gewalt gegen die Kindheit, die Vernachlässigung des Erziehungs- und des öffentlichen Gesundheitswesens, dem Mangel an Wohnungen und der Schutzlosigkeit. Nicht resignieren vor einem oberflächlichen und obszönen Konsumismus, den ständigen Anschlägen auf die Landschaft und die Natur, der Welt von immer wohlhabenderen Reichen und immer bedürftigeren Armen. Ist dies die Welt, die wir unseren Kindern und Enkeln hinterlassen wollen, oder werden wir uns dafür einsetzen, ihnen eine Welt zu hinterlassen, in der das Grün grün sein wird, in deren Flüssen klares Wasser fließt, die Sonne uns Licht und Freude bringt und nicht Krebs und Magengeschwüre, und vor allem Menschenwürde. Dies möchte diese Gedenktafel ausdrücken: das Nein zur Gewalt, aber das Ja zur Rebellion gegen die Ungerechtigkeit; das Ja zur offenen Hand gegenüber dem Bedürftigen und das Nein gegen die Versklavung des Menschen durch die Interessen anderer Menschen und Nationen. Für die Wahrheit und die Solidarität einstehen. Darum dieser Gruß an jene, von denen wir niemals geglaubt haben, daß sie verschwunden sind. Heute sind sie zurückgekehrt, sie sind wieder bei uns, mit klarem Blick. Sie wurden uns weggenommen, als sie in das Alter der Liebe eintraten. Aber sie kehren mit der Erfahrung zurück, diese Liebe an Euch weiterzugeben. Die Henker beginnen ihre Verbrechen zu beweinen. Sie, die Opfer, sind von Mal zu Mal stärker und schöner. Sie sind an unserer Seite. Schreiten wir zusammen voran. Für das Leben, die Poesie, die Landschaft, die Schönheit und die Freude." 76

Kai Ambos'

"Ich fühle mich als Mörder". Die Bekenntnisse des (ehem.) Korvettenkapitäns Francisco Scilingo "Ich war in der ESMA1. Ich bin Kollege von Rolön und Pernias". Mit diesen Worten stellte sich der ehemalige Korvettenkapitän Francisco Scilingo dem argentinischen Journalisten Horacio Verbitsky ("Pägina 12") vor. So begann ein erschütterndes Gespräch, in dem sich das erste Mal ein (ehemaliger) Militärangehöriger darüber ausgelassen hat, wie während der Militärdiktatur der sogenannte "schmutzige Krieg" gegen die Opposition geführt wurde. Scilingo beschreibt jene Vernichtungsaktionen, mit denen politische Häftlinge beseitigt wurden, die in der Sprache der ESMA als "der Flug" (el vuelo) bezeichnet wurden; er beschreibt, wer an ihnen teilnahm, in welcher Regelmäßigkeit sie stattfanden und wie lange sie dauerten. Die damals herrschenden Militärs erfanden mit dem "Verschwindenlassen" von Personen ein neues Verbrechen, das bis heute auf dem Kontinent und in anderen Ländern von ähnlichen Regimen dankbar nachgeahmt wird. Doch trotz zahlreicher Untersuchungen, u.a. einer von der ersten nachautoritären Regierung eingesetzten "Verschwundenenkommission" (CONADEP) unter dem Vorsitz des Schriftstellers Ernesto Säbato2, übernahmen die damals verantwortlichen Militärs niemals die Verantwortung für die begangenen Verbrechen. Bevor Scilingo sich an den Journalisten Verbitsky wandte, hatte er dem ehemaligen Diktator Jorge Rafael Videla und seinen Nachfolgern in der Marineführung, den Admirälen Jorge Ferrer und Enrique Molina Pico, geschrieben. Er verlangte, daß sie der argentinischen Öffentlichkeit die während der Militärdiktatur erlassenen Befehle sowie eine vollständige Liste der während des sogenannten "antisubversiven Krieges" Verschwundenen bekanntmachten. In seinem Brief an Videla (wiedergegeben in: Verbitsky 1995a: 181-182) schrieb Scilingo:

Übersetzungen aus dem Spanischen Kai Ambos und Irina Weiss. '

Die ESMA war die berüchtigte Mechanikerschule der Kriegsmarine (Escuela de Mecánica de la Armada), in der Oppositionelle während der Militärdiktatur (1976-1983) inhaftiert und systematisch gefoltert wurden. Zahlreiche "verschwanden" danach.

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Siehe hierzu den Beitrag von Cuya im vorliegenden Band.

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"Im Jahr 1977, als ich Leutnant zur See war und in der Mechaiikerschule der Marine arbeitete ... Sie waren damals der militärische Oberbefehlshaber, und ich führte Befehle der Exekutive aus, deren Kihrung Sie innehatten, nahm ich an zwei Flügen teil, der erste mit 13 Subversiven ... und der andere mit 17 Terroristen .... Man hatte ihnei mitgeteilt, daß sie in ein im Süden gelegenes Gefängnis evakuiert werfen würden und daß sie deshalb geimpft werden müßten. Sie haben zinächst eine Dosis Anästhetikum erhalten, die dann während des Flugs mit einer höheren Dosis verstärkt wurde. Sie wurden schließlich in baden Fällen nackt aus den Flugzeugen in den Atlantik geworfen. Ich habe persönlich niemals den Schock, den mir die Ausfüllung dieses Befehls verursacht hat, überwinden können, denn obwohl wr uns mitten in einem schmutzigen Krieg befanden, erschien mir doch die Art der Exekution des Feindes wenig ethisch, um von Militärs angwendet zu werden, aber ich glaubte, daß ich von Ihnen eine angemessen» öffentliche Anerkennung Ihrer Verantwortung für diese Taten erwartm durfte. Als Antwort auf das Thema der Verschwundenen haben Sie gesagt: Es gibt Subversive, die unter veränderten Namen leben, amere starben im Gefecht und wurden unter N.N. beerdigt, und schließlici schlössen Sie nicht einzelne Exzesse Ihrer Untergebenen aus. Wo bleib ich dabei? Glauben Sie, daß diese Verlegungen, die wöchentlich durchgeführt wurden, das Produkt eigenmächtiger Exzesse waren? ... Hören wir doch mit dem Zynismus auf. Sagen wir doch di; Wahrheit. Geben Sie die Liste der Toten bekannt, auch wenn Sie damJs nicht die Verantwortung übernahmen, ihre Hinrichtung abzuzeichnen. Die ungerechte Verurteilung, die Sie, wie Sie sagen, erliten haben, gründete sich auf die Unterschrift eines Präsidenten, der da: Verfahren angeordnet hatte, auf die Unterschrift des Staatsanwalts, de die Strafe beantragte, auf die Unterschrift der Richter, die schließlich d;s Strafmaß festlegten. Alle, ob sie sich irrten oder nicht, haben siih zu ihrer Handlung bekannt und ihre Unterschrift daruntergesetzt. Noch heute belastet uns die Verantwortung für Tauende von Verschwundenen, ohne uns dazu zu bekennen und die Wahrhiit zu sagen, und Sie sprechen von Rehabilitierung. Die Rehabilitierungwird nicht per Dekret erreicht." Scilingo hat diesen Brief mit der Drohung beendet, daß er ihrveröffentlichen werde, wenn sich Videla nicht öffentlich zu seiner Verantwortungiekenne. Videla hat niemals geantwortet. Ebensowenig hat Scilingo von den anieren Militärangehörigen eine Antwort erhalten. In einem Brief an den argentinisihen Präsidenten Menem bat er diesen um die Genehmigung, vor der Staatsanwalschaft aussagen und den Brief an Videla veröffentlichen zu dürfen. Weiter ?at er um eine Privataudienz, in der er "die Gedanken meines Oberkommandiermden bezüglich 78

des von mir vorgebrachten Themas kennenlernen" wollte. Menem hat ihm ebenfalls nicht geantwortet, vielmehr ihn danach als unglaubwürdigen Kriminellen bezeichnet und das Militär wieder einmal verteidigt. Verbitsky hat das Interview dann - in gekürzter Form - in der Zeitung "Pagina 12" vom 3.3.1995 und in der Originalfassung in einem Buch veröffentlicht 3 . Doch gerade Menem hatte schon Monate zuvor seine Glaubwürdigkeit dadurch verspielt, daß er die in schwere Menschenrechtsverletzungen verwickelten Marineoffiziere Pemias und Rolön dem Senat zur Beförderung vorschlug. Pernias und Rolön, die s:ch wohl von ihren militärischen Kollegen im Stich gelassen fühlten, brachen wicfer Erwarten erstmals den zwischen den Militärs geschlossenen Pakt des Schweigens. Sie berichteten in einer Senatsanhörung im November 19944 den verdutzten Senatoren insbesondere von den in der Mechanikerschule der Marine (ESMA) üblichen Praktiken. Die Folter stellte dort, so Pernias, einen integralen Bestandteil der Verhöre dar und sei so brutal gewesen, daß viele Gefolterten Zyanid (Blausäuresdz) mit sich trugen, um sich, wenn sie die Schmerzen nicht mehr aushielten, umbringen zu können. Dabei habe, so Rolön, jedes Mitglied der Marine aufgrund eires Rotationssystems an diesen Methoden teilnehmen müssen, ob er es gewollt habe oder nicht. Viele wurden schließlich für diese Aktivitäten im "antisubversiven Kampf' noch geehrt. Eine Möglichkeit, sich dem zu entziehen, gab es nicht, man hätte sich allenfalls eine Degradierung einhandeln können. Die entsetzten Senaioren lehnten die Beförderungen ab und desavouierten damit den Präsidenten. Nach den Ausführungen von Scilingo wird ersichtlich, daß es einen umfassenden Plan zur heinlichen und massenhaften Liquidierung von Regimegegnem gab und darüber hinaus eine Mitwisserschaft, wenn nicht sogar explizite Unterstützung aus den Reihen der katholischen Kirche existierte. Nach dem Putsch erläuterte Admiral Luis Maria Mendia den Offizieren des Militärbezirks Puerto Belgrano, wo Scilingo zeitweilig stationiert war, in einer Ansprache im Kino des Militärstützpunktes, "da3 spezielle militärische Operationen vorgesehen waren, sie den Umständen gemiß eingesetzt werden würden, um sie dem Kampf gegen einen Feind anzupassender nicht im Organisationsschema vorgesehen war. ... Im Hinblick auf Subversive, die zum Tode verurteilt waren oder eliminiert werden sollten, erläuterte er, daß sie fliegen würden und, da es Personen gebe, die Probleme hätten, würden einige nicht am Ziel ankommen. Und er sagte, daß man sich mit den kirchlichen Stellen abgesprochen hätte, ich weiß nicht auf welcher Ebene, um eine christliche und wenig gewaltsame Form zu finden" (Verbitsky 1995a: 26). Dazu heißt es später im Interview (Verbitsky 1995a: 38-39):

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Verbitsky ( 995a: 25-74). Scilingo trat dann auch im argentinischen Femsehen in der Sendung "Hora clave' auf, einen Ausschnitt davon sendete der ARD-Weltspiegel am 26.3.1995. Vgl. auch "Süddeutscle Zeitung vom 7.3.1995; LA Regional Reports - Southern Cone, 20.4.1995: 3.

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Ihre Anhönng ist ebenfalls in Verbitsky (1995: 155-168 [Pemias] und 169-177 [Rolön]) dokumentie-t.

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— Die Militärgeistlichen billigten diese Methode? — Ja. Nach dem ersten Flug, trotz all dem, was ich gerade sage, fiel es mir persönlich sehr schwer, damit zurechtzukommen. Als ich zurückkam, dachte ich kühl, daß alles in Ordnung sei, aber in mir sah es anders aus. Ich denke, daß dies ein menschliches Problem ist, wenn ich jemanden hätte erschießen müssen, hätte ich mich genauso gefühlt. Ich glaube nicht, daß es irgendeinem Menschen Spaß macht, einen anderen zu töten. Am nächsten Tag fühlte ich mich nicht sehr gut und sprach daraufhin mit dem Kaplan der Schule, der eine christliche Erklärung zu diesem Thema fand. Ich weiß nicht, ob er mich wirklich trösten konnte, aber zumindest half er mir, mich besser zu fühlen.

— Welches war die christliche Erklärung? — Ich erinnere mich nicht mehr genau, aber er sagte, daß dies ein christlicher Tod sei, weil sie nicht litten, weil es nicht traumatisch sei, daß man sie eliminieren müsse, daß Krieg Krieg sei, daß sogar in der Bibel die Eliminierung des Unkrauts vom Weizenfelde vorgesehen sei. Er gab mir eine gewisse Unterstützung. Nachfolgend wird das Interview mit Scilingo (in deutscher Übersetzung) wiedergegeben, wie es in "Pägina 12" abgedruckt war 5 :

— Wie bezogen sie sich "darauf, wenn sie sich miteinander darüber unterhielten? — Man nannte es einen Flug. Es war normal, auch wenn es in diesem Moment wie eine Abnormität erscheint. So wie auch Pernias oder Rolön den Senatoren sagten, daß das System der Folter regulär als Mittel angewandt wurde, um Informationen vom Feind zu erhalten, gleiches gilt für dieses Mittel. Als ich den Befehl erhielt, ging ich in den Keller, wo diejenigen waren, die fliegen würden. Unten blieb niemand zurück. Dort wurden sie informiert, daß sie in den Süden verlegt werden würden und daß man sie aus diesem Grund impfen müsse. Man gab ihnen eine Injektion, ich meine eine Dosis, die betäubte, um sie ruhigzustellen. So schläferte man sie ein.

— Wer setzte die Spritze? — Ein Marinearzt. Danach hob man sie auf einen Lastwagen der Kriegsmarine, einen grünen Lastwagen mit einer Segeltuchplane. Wir fuhren zum Aeroparque. Von da an behandelte man die Subversiven wie Zombies und lud sie in das Flugzeug.

— Denken Sie immer noch an sie mit diesem Wort oder verwenden Sie es nur, weil wir aufnehmen? — Ich beschreibe es, wie es in diesem Moment war.

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Die Fassung in "Pägina 12" ist gegenüber dem Originalinterview in Verbitsky (1995a) gekürzt und redaktionell bearbeitet (Umstellung und Zusammenziehen von Fragen und Antworten). Der Herausgeber dankt Horacio Verbitsky für die Genehmigung des Abdrucks dieser Interviewfassung.

- Deswegen wechsle ich jetzt die Zeit. Denken Sie jetzt noch an "Subversive"? - Nein. - Wie würden Sie es heute mit ihren Worten ausdrücken? - Als ich all das tat, was ich tat, war ich davon überzeugt, daß es Subversive waren. Heute kann ich nicht sagen, daß es Subversive waren. Es waren Menschen. Wir waren so überzeugt, daß niemand fragte, es gab keine Wahl, wie Rolön dem Senat sagte. Daß sich das Land in einer chaotischen Situation befand, ja. Aber heute sage ich Ihnen, daß sich diese auf andere Weise ohne Problem hätte lösen lassen. Das glaube ich heute, und es gab keine Notwendigkeit, sie zu töten. Man hätte sie an jedem Ort des Landes verstecken können. - Wer war daran beteiligt? - Die Mehrheit der Marineoffiziere machte einen Flug mit, es ging darum, die Leute rotieren zu lassen, eine Art von Kommunion. - Worin bestand diese Kommunion? - Es war etwas, was man machen mußte. Ich weiß nicht, was die Henker durchleben, wenn sie töten, die Klingen hinunterziehen oder die elektrischen Stühle vorbereiten. Niemand tat es gern, es war nichts Angenehmes. Aber es wurde gemacht, und man nahm an, daß es die beste Form war, es wurde nicht darüber diskutiert. Es war etwas Höheres, das man für das Land tat. Ein höheres Werk. Wenn man den Befehl erhielt, redete man nicht mehr über dieses Thema. Man führte den Befehl automatisch aus. Sie kamen nach dem Rotationsprinzip aus dem ganzen Land. Der eine oder andere wird sich entzogen haben können, aber nur durch Zufall. Wenn es nur eine kleine Gruppe gewesen wäre, aber das stimmt nicht: Es war die gesamte Kriegsmarine. - Wie war die Reaktion der Gefangenen, als Sie ihnen von der Impfung und der Verlegung erzählten? - Sie waren zufrieden. - Und sie ahnten nicht, worum es sich handelte? - Überhaupt nicht. Keinem war bewußt, daß er sterben würde. Nach dem Start gab der Arzt, der mitflog, ihnen eine zweite Dosis, ein sehr starkes Beruhigungsmittel. Danach waren sie vollkommen eingeschläfert. - Was machten Sie, als die Gefangenen eingeschlafen waren? - Das ist sehr morbide. - Morbide ist, was Sie taten. - Es gibt vier Dinge, die mir Übelkeit verursachen: die zwei Flüge, an denen ich teilnahm, die Person, deren Folterung ich sah, und die Erinnerung an das Geräusch der Ketten und der Fußschellen. Ich sah sie nur ein paar Mal, aber ich kann dieses 81

Geräusch nicht vergessen. Ich möchte nicht davon sprechen. Lassen Sie mich gehen. - Das ist nicht die ESMA. Sie sind aus freiem Willen hier und können gehen, wann Sie wollen. - Ja, ich weiß schon. Ich wollte das nicht sagen. Es gibt Details, die wichtig sind, aber es fallt mir schwer, sie zu erzählen. Ich denke daran, und es trifft mich wie ein Schlag. Man zog die Ohnmächtigen aus und, wenn der Kommandant der Maschine den Befehl gab, je nachdem, wo sich das Flugzeug befand, öffnete man die Luke und man warf sie nackt einen nach dem anderen hinaus. Das ist die Geschichte. Eine makabre Geschichte, real und keiner kann sie bestreiten. Man benutzte Skyvans der Präfektur und Electras der Marine. Ich war ziemlich nervös wegen der besonderen Umstände und wäre beinahe hingefallen und in die Tiefe gestürzt. Ich rutschte aus, und man hielt mich fest. - Wie brachten Sie die schlafenden Leute bis zur Luke? - Zu zweit. Wir trugen sie bis zur Luke. - Was schätzen Sie, wieviele Personen so umgebracht wurden? - 15 bis 20 jeden Mittwoch. - In welchem Zeitraum? - Zwei Jahre. - Zwei Jahre, hundert Mittwoche: 1500 bis 2000 Menschen. - Ja. - Sie haben zwei Flüge im selben Monat erwähnt. - Ja, im Juni oder Juli 1977. Der zweite Flug war an einem Samstag. Auch bei diesem zweiten Flug gab es gemäß der damaligen Theorie der Kriegsmarine spezielle Gäste. - Was bedeutet das, "spezielle Gäste"? - Hochrangige Offiziere der Kriegsmarine, die nicht teilnahmen, aber mit auf den Flug kamen, um uns Rückhalt zu geben, z.B. Kapitäne von großen Kriegsschiffen oder höhere Offiziere von anderswo. - Und was machten sie? - Nichts. Es war eine Form von moralischer Unterstützung für die Aufgabe, die man ausführte. Sie saßen zunächst, und dann, während der Operation, standen sie auf und schauten zu. - Welches Marinepersonal begleitete die Flüge? - Im Cockpit saß die normale Flugzeugbesatzung. 82

- Und bei den Gefangenen? - Zwei Offiziere, ein Unteroffizier, ein Korporal und der Arzt. Auf meinem ersten Flug wußte der Präfekturkorporal überhaupt nicht, welches die Mission war. Als ihm an Bord klar wurde, was er machen sollte, bekam er einen Nervenzusammenbruch. Er fing an zu weinen. Er verstand nichts, er sprach wirres Zeug. Ich wußte nicht, wie ich einen Mann aus der Präfektur in solch einer kritischen Situation behandeln sollte. Zum Schluß schickten sie ihn in die Kabine. Schließlich hatten wir die Subversiven ausgezogen... - Sie, der andere Offizier, der Arzt,... - Nein, nein. Der Arzt gab ihnen nur die zweite Injektion und nichts weiter. Danach ging er in die Kabine. - Warum? - Sie sagten, wegen des hippokratischen Eides. - Fiel es niemandem auf, daß eine so schwerwiegende Entscheidung, wie Menschen das Leben zu nehmen, nicht von einer Norm abgeleitet wurde, die in verantwortlicher Weise gegengezeichnet war? - Nein. Es gibt keine Streitkräfte, wo alle Befehle schriftlich erfolgen, damit wäre es unmöglich zu befehlen. Das System, das entwickelt worden war, um subversive Elemente zu eliminieren, war institutionalisiert, es konnte Erschießen oder eine andere Art der Eliminierung bedeuten. - Fragte niemand, warum keine Erschießungsbefehle unterschrieben und öffentlich durch ein Erschießungskommando exekutiert wurden? - Doch, das war eines der Themen, die in diesem Treffen mit Mendia erläutert wurden. Man gab nicht bekannt, was mit den Gefangenen geschah, um die Information zu vermeiden und beim Feind Unsicherheit hervorzurufen. Das war die theoretische Erklärung, die sie uns gaben. Mit der Zeit stellte sich heraus, daß der Grund ein anderer war, denn viele Jahre später, in den Gerichtsverhandlungen, sagte niemand, was passiert war. Man kann es akzeptieren, nicht zu reden, wenn es sich um Kriegsgeheimnisse handelt, für einen gewissen Zeitraum. Aber wenn der Krieg vorbei ist, ist das Geschichte, und ich denke sogar, daß es der Republik guttut, nicht nur zu wissen, was man getan hat, sondern es ist geradezu eine Pflicht, daß die Listen der Gefallenen oder Toten übergeben werden, egal durch welches Verfahren, damit ein fiir allemal diese ungewöhnliche Situation der Verschwundenen ein Ende hat. Warum hat man der Bevölkerung nicht die Wahrheit gesagt, nach 20 Jahren, wenn man als argentinische Kriegsmarine handelte, wenn wir Befehle ausführten, die uns ordnungsgemäß über die Befehlskette übermittelt wurden? - Die sizilianische Mafia gehorchte gleichfalls Befehlen von Toto Riina. Befehle zu befolgen, sagt nichts über eine Institution aus. 83

— Aber wenn Sie einer bewaffneten Organisation angehören, erhalten Sie immer Befehle, befolgen Sie immer Befehle und erteilen Sie immer Befehle. In der Marine gibt es keine Kameraden, sondern höhere und niedrigere Dienstgrade. — Aber diese Befehle müssen rechtmäßig sein. — In der Kriegsarmee gibt es keine Befehle, die nicht rechtmäßig wären. Jetzt, wenn Sie mich fragen, was ich heute denke, ist das eine andere Sache, aber in diesem Moment hatte ich keine Zweifel. — Was denken Sie heute? — Wenn es rechtmäßige Befehle gewesen wären, müßte sich niemand schämen, der ganzen Welt zu sagen, was passiert ist, wie gekämpft wurde. Wenn Sie von mir verlangen, daß ich bestimme, ob wir im Rahmen oder außerhalb der Gesetze handelten, glaube ich, daß wir wie gewöhnliche Verbrecher handelten. — Zweifelte damals niemand auch nur einen Moment an der Rechtmäßigkeit der Befehle, Gefangene von einem Flugzeug aus ins Meer zu werfen? Standen die christliche Bildung und die militärische Erziehung nicht in Widerspruch dazu? — Die wenigen, die die Kriegsmarine verließen, haben sich dem offensichtlich widersetzt. Fast alle dachten wir, daß wir Verräter wären, Verzeihung, daß sie Verräter wären. — Von wie vielen weiß man, daß sie gingen? — [Der Fregattenkapitän Jorge] Busico und ein anderer, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnere. — Fühlten sich auch andere Ihrer Kameraden verwirrt? — Im tiefsten Innern fühlten sich alle verwirrt. — Aber redeten sie darüber miteinander? — Es war tabu. — Sie gingen hin, warfen 30 Personen lebendig ins Meer, kamen zurück und redeten untereinander nicht über das Thema? — Nein. — Sie gingen zur Routine über, als hätte das alles nicht existiert? — Ja. Die ganze Welt möchte es auslöschen. Ich kann es nicht. Das ist das Schlüsselthema. Wenn das, was ich sage, stimmt, daß man innerhalb der militärischen Normen handelte, Befehle erfüllte und es keinen Zweifel gibt, daß alles in Ordnung war, warum verheimlicht man es? Aber Sie sagen mir, daß wir wie eine Bande vorgingen.

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— Sie gingen wie eine Bande vor und machten Dinge, die gegen das Kriegsrecht, internationale Konventionen, die christliche Moral, die jüdische Moral und die islamische Moral verstoßen. — Das Erschießen ist eine andere Immoralität. Oder ist das besser? Wer leidet mehr: der, der weiß, daß er erschossen wird, oder der, der durch diese Methode starb? - Man verweigert keinem Menschen das Recht zu wissen, daß er sterben muß. Auch in einer Grenzsituation gehört dies zum grundsätzlichen Respekt vor der menschlichen Würde. — Darin stimme ich mit Ihnen überein. Wenn ich auf der anderen Seite wäre, würde ich auch vorziehen, es zu wissen. Sie haben recht. In jenem Moment dachte ich nicht daran. - Kommt Ihnen dies, von allem anderen einmal abgesehen, nicht wie eine Riesenfeigheit vor: den Blick der Person zu vermeiden, die man töten wird, man nimmt die Getäuschten zufrieden mit, um später zurückkommen zu können und festzustellen, daß nichts geschehen ist, um sich weder an Blicke noch an Schreie zu erinnern? - Wenn man es so vorträgt, ist es möglicherweise so. Daß dies keine normale Handlung war, bezweifle ich heute nicht. Ich verurteile es, und nicht, weil ich mich rechtfertigen will. Ich glaube, daß man das nicht rechtfertigen kann. Aber ich glaube auch, daß man nicht rechtfertigen kann, es weiter zu verheimlichen. Scilingo selbst hat die Erlebnisse bei den Flügen nie überwunden. Als er seine Zweifel noch im aktiven Militärdienst gegenüber seinen Vorgesetzten äußerte, ließen diese ihn psychiatrisch untersuchen. Von da an war seine militärische Karriere beendet, da er für die Marine als nicht mehr vertrauenswürdig galt. Scilingo hat niemals verwunden, daß die Marine seine Selbstzweifel wegen der Flüge nicht akzeptieren konnte. Heute wirft er seinen damaligen Vorgesetzten vor, daß sie ihn und seine Kameraden "in Verbrecher verwandelt" hätten. Als er das Schweigen nicht mehr ertrug, beantragte er seine Entlassung aus der Marine und suchte die Antworten auf seine Fragen außerhalb der Institutionen.

Literaturverzeichnis: VERBITSKY, Horacio, 1995a: El vuelo, Buenos Aires. , 1995b: La solución final, in: Página 12,3.3.1995; noch einmal nachgedruckt in: Página 12 vom 5.3.1995.

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Kai Ambos

Zur "rechtlichen" Struktur der Repression und strafrechtlichen Vergangenheitsbewältigung in Argentinien Ein Kommentar aus juristischer Sicht Liest man das Interview Verbitskys mit Scilingo sowie die Dokumentation der Senatsanhörungen von Rolón und Pernias1, fühlt man sich an die schon 1985 von der Comisión Nacional sobre la Desaparición de Personas (CONADEP) gestellte Frage erinnert, wie es möglich gewesen sei, "die Straflosigkeit (impunidad) solch vieler Taten, die augenscheinlich nach dem gleichen 'modus operandi' und vor zahlreichen Zeugen begangen wurden, zu wahren" (CONADEP 1985: 391). Die Frage reicht über die Militärherrschaft (1976-1983) hinaus, wenn aus heutiger Sicht nach der (strafrechtlichen) Vergangenheitsbewältigung der nachfolgenden demokratischen Regierungen Alfonsin (1983-1989) und Menem (seit 1989) gefragt wird. Sie kann an dieser Stelle keinesfalls umfassend untersucht, sondern nur aus strafrechtlicher Sicht beleuchtet werden. Dabei ist die Frage der "rechtlichen" Struktur des Repressionsapparates während der Diktatur von der Frage der strafrechtlichen Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzung nach der Diktatur zu trennen.

Zur "rechtlichen" Struktur der Repression Eine nach außen sichtbare rechtliche oder normative Struktur des argentinischen 'Repressionsapparates hat es nicht gegeben. Zur Koordinierung des "antisubversiven Kampfes" haben sich die Streitkräfte vielmehr einen "Aktionsplan" zurechtgelegt (Sancinetti 1988: 24ff.). Danach wurde — grob gesprochen - das Land in mehrere Zonen aufgeteilt, innerhalb derer die Operationen unter dem Kommando der zuständigen Teilstreitkraft (Heer, Luftwaffe oder Marine) durchgeführt wurden.

1

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Im Original in: Verbitsky (1995).

Das Heer sollte alle repressiven Aktivitäten in operativer Hinsicht überwachen. Grundsätzlich sollten die verschiedenen Streitkräfte voneinander unabhängig agieren, damit, so General Viola, "sich die verschiedenen Teilstreitkräfte in ihren Aktivitäten untereinander nicht stören"2; es war jedoch vorgesehen, daß eine Streitkraft auf Ersuchen einer anderen diese unterstützte. Aus rechtlicher Sicht ist entscheidend, daß jegliche Möglichkeit juristischer Kontrolle per se ausgeschlossen wurde. Die beschriebene Struktur war also faktischer, nicht normativer Natur. Die Junta hat dies in ihrem "Abschlußdokument" (Documento Final) selbst anerkannt, wenn sie von "Plänen", nicht aber von "Normen" spricht: "Alle Operationen gegen die Subversion und den Terrorismus, die von den Streit- und Sicherheitskräften ... durchgeführt wurden,... wurden gemäß Plänen vollzogen, die von den Oberbefehlshabern der Streitkräfte und von der Militäijunta seit ihrer Konstituierung gebilligt und überwacht wurden"3. Demnach bestanden also ein gemeinsamer Aktionsplan oder mehrere Einzelpläne, die unter Ausnutzung der hierarchischen Organisations- und Befehlsstruktur der Streitkräfte und einer eigens geschaffenen funktionell-horizontalen Aufgabenverteilung ausgeführt wurden. Mangels der formell-normativen Ausgestaltung dieser Struktur, lag das zentrale Problem des Verfahrens gegen die Ex-Juntamitglieder {juicio a los ex comandantes4) gerade darin, diesen nachzuweisen, daß sie durch ihre Befehle oder aufgrund des genannten Plans bestimmte Straftaten der Untergebenen ursächlich ausgelöst hatten (Problem der vertikalen Verantwortlichkeit) und daß gleichgeordnete Funktionen und Verantwortlichkeiten bestanden (Problem der horizontalen Verantwortlichkeit)5. Strafrechtsdogmatisch ging es in diesem und geht es in ähnlich gelagerten Fällen um die Frage, ob die Vorgesetzten als (mittelbare) Täter oder nur Teilnehmer (Anstifter) gehandelt haben. Täterschaft setzt voraus, daß die Vorgesetzten das Tatgeschehen auch nach Befehlserteilung beherrscht haben (sog. "Tatherrschaft") und die ausfuhrenden Untergebenen quasi als ihre "Werkzeuge" gehandelt haben; oder es muß mindestens nachgewiesen werden, daß die Kontrolle des Tatgeschehens kraft eines organisatorischen Machtapparates innerhalb einer

2

Zitiert nach Sancinetti (1988: 25), der auf das juicio a los ex comandantes Bezug nimmt (dazu Anm. 4).

5

Original in: Boletín Oficial, B.A., 2.5.1983 (zitiert nach Sancinetti 1988: 25 f.).

4

Es handelt sich dabei um das Verfahren gegen die Kommandanten der Militärjunten, das zunächst beim obersten Militärgericht (Consejo Supremo de las Fuerzas Armadas — CSFA) anhängig war, dann aber von der ordentlichen Gerichtsbarkeit übernommen und mit Urteilen der Cámara Nacional de Apelaciones und einer Revisionsentscheidung des CSJ abgeschlossen wurde (vgl. insbesondere das Urteil der Cámara vom 9.12.1985, in: Fallos CS, Bände 3091 und II, fast 1.900 Seiten, "causa originariamente instruida por el Consejo Supremo de las Fuerzas Armadas en cumplimiento del decreto 158/83 del Poder Ejecutivo Nacional". Bei Sancinetti (1988: 221-228/243 f.) finden sich die Entscheidungsgründe beider Urteile; er verfaßte auch eine fundierte und kritische Analyse. Vgl. ebenfalls Maier (1995).

5

Ein weiteres Problem bestand dann noch in der zeitlichen Verantwortlichkeit, da die Militärjunten ein Rotationssystem praktizierten (näher Sancinetti 1988: 33 ff.). 87

strengen Befehlshierarchie erfolgte, also in diesem Sinne eine vollkommene Kontrolle der Hintermänner über die physischen Täter bestand (sog. "Täter hinter dem Täter"6). Im Kern geht es um den Unrechtsgehalt und die Vorwerfbarkeit des betreffenden Verhaltens. Der unbefangene Beobachter wird dem Befehlsgeber und Vorgesetzten regelmäßig einen größeren moralischen Vorwurf als dem Befehlsausfuhrenden und Untergebenen machen. Ersterer entscheidet grundsätzlich über die Durchfuhrung einer bestimmten 'Operation' und benutzt die Untergebenen nur als 'Werkzeuge' zur Ausfuhrung seines Befehls. Er hat also mehr 'Verantwortung' für die eigentliche Tat als die nur seinem Befehl folgenden Untergebenen. Folglich muß in diesen Fällen (ausnahmsweise) von mittelbarer Täterschaft ausgegangen werden, da der Vorgesetzte als "Täter hinter dem Täter" kraft eines "organisatorischen Machtapparates" die Tatherrschaft über den Untergebenen als Tatmittler besitzt7. In den Äußerungen Scilingos findet sich auch ein Beleg für die informelle Struktur des Repressionsapparats: Frage: "Fiel es niemandem auf, daß eine so schwerwiegende Entscheidung, wie Menschen das Leben zu nehmen, nicht von einer Norm abgeleitet wurde, die in verantwortlicher Weise gegengezeichnet war?" Antwort: "Nein. Es gibt keine Streitkräfte, wo alle Befehle schriftlich erfolgen, es wäre unmöglich, zu befehlen. Das System, das entwickelt worden war, um subversive Elemente zu eliminieren, war organisch ..."

6

Vgl. zuletzt den Bundesgerichtshof in Neue Juristische Wochenschrift 1994: 2703 ff., 2706 (strafrechtliche Verantwortlichkeit von Mitgliedern des Nationalen Verteidigungsrates der DDR für vorsätzliche Tötungen von Flüchtligen durch Grenzsoldaten an der innerdeutschen Grenze): "Es gibt ...Fallgruppen, bei denen trotz eines uneingeschränkt verantwortlich handelnden Tatmittlers der Beitrag des Hintermanns nahezu automatisch zu der von diesem Hintermann erstrebten Tatbestandsverwirklichung fuhrt. Solches kann vorliegen, wenn der Hintermann durch Organisationsstrukturen bestimmte Rahmenbedingungen ausnutzt, innerhalb derer sein Tatbeitrag regelhafte Abläufe auslöst. Derartige Rahmenbedingungen mit regelhaften Abläufen kommen insbesondere bei staatlichen, unternehmerischen oder geschäftsähnlichen Organisationsstrukturen und bei Befehlshierarchien in Betracht. Handelt in einem solchen Fall der Hintermann in Kenntnis dieser Umstände, nutzt er insbesondere auch die unbedingte Bereitschaft des unmittelbar Handelnden, den Tatbestand zu erfüllen, aus, und will der Hintermann den Erfolg als Ergebnis seines eigenen Handelns, ist er Täter in Form der mittelbaren Täterschaft." Die herrschende strafrechtliche Lehre spricht in diesem Zusammenhang von der "Fungibilität des Tatmittlers", die dem "Schreibtischtäter die Tatherrschaft verleihe".

7

Eine mittelbare Täterschaft scheidet grundsätzlich aus, wenn der sog. Tatmittler, hier also der Untergebene, irrtumsfrei und voll schuldfähig handelt, also nicht bloß willenloses Werkzeug des Hintermannes ist. Andererseits erscheint in solchen Fällen eine Mittäterschaft auch unangemessen, da sie ein arbeitsteiliges, auf einem gemeinsamen Tatentschluß beruhendes Handeln voraussetzt, hier aber der Täter alleine und aufgrund eines Befehls des Vorgesetzten handelt. Bleibt die Möglichkeit einer Anstiftung, die jedoch vor dem Hintergrund der institutionellen Einbindung des Untergebenen und organisatorischen Kontrolle durch den Vorgesetzten unbillig erscheint. Deshalb ist mittelbare Täterschaft in der Form des "Täters hinter dem Täter" anzunehmen.

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Frage: "Fragte niemand, warum die Erschießungsbefehle nicht unterschrieben wurden und in öffentlicher Form durch ein Erschießungskommando ausgeführt wurden?" Antwort: "Doch, das war eines der Themen, die ... erläutert wurden. Man gab nicht bekannt, was mit den Gefangenen geschah, um die Information zu vermeiden und beim Feind Unsicherheit hervorzurufen. Das war die theoretische Erklärung, die sie uns gaben. Mit der Zeit stellte sich heraus, daß der Grund ein anderer war, denn viele Jahre später, in den Gerichtsverhandlungen, sagte niemand, was passiert war." (Verbitsky 1995: 28) Die Nichtschriftlichkeit des Verfahrens war also eine bewußt gewählt Strategie, um die spätere Rekonstruktion der Repression und einzelner Taten, letztlich also die strafrechtliche Vergangenheitsbewältigung, zu erschweren. Im übrigen herrschte — jedenfalls aus der Sicht der regierenden Junta — die Doktrin des "unbedingten Gehorsams" (obediencia absoluta o pasiva) gegenüber den Befehlen der Vorgesetzten. Nach argentinischem Militärrecht haftet grundsätzlich der Vorgesetzte, der den Befehl erteilt hat (Art. 514 Cödigo de Justicia Militär CJM) (ausführlicher Ambos 1996: Kap. 4). Der Untergebene haftet nur bei einem Befehlsexzeß, und zwar als Teilnehmer (nicht Täter). Er hat weiter ein Gegenvorstellungsrecht bei (offensichtlich) rechtswidrigen Befehlen (Art. 675 CJM, sog. obediencia reflexiva). Die Befehlsverweigerung wird allerdings — dies ist angesichts der hierarchischen Organisationsstruktur der Streitkräfte entscheidend — bestraft (Art. 667, 674 CJM), und eine Gegenvorstellung entbindet den Untergebenen nicht von der Ausführung des einmal erteilten Befehls (Art. 675 CJM). Vor dem Hintergrund dieser — noch geltenden (!) — Rechtslage und der faktischen Machtverhältnisse während der Diktatur erscheint die lapidare Äußerung Scilingos zu dieser Problematik ("Es war ein Befehl, und man hatte ihn auszuführen") verständlich, wenngleich sie aus rechtsstaatlicher Sicht dadurch nicht weniger bedenklich wird.

Zur strafrechtlichen Vergangenheitsbewältigung Die demokratisch legitimierten Regierungen Alfonsin und Menem haben — nach der zunächst begrüßenswerten Etablierung der CONADEP und der Aufhebung der Selbstamnestie der Militärs8 — schon drei Jahre nach Ende der Militärdiktatur begonnen, mit einer umfassenden Amnestiegesetzgebung, den sogenannten "leyes de impunidad", den Schleier des Vergessens über die begangenen Menschenrechts'

Mittels der Gesetzesverordnung 22.924 (Decreto-Ley 22.924 v. 22.9.1983, veröffentlicht am 27.9. 1983, in: Legislación Argentina, Jg. 1983-B: 1681 f.) wurden alle Delikte zwischen dem 25.5.1973 und dem 17.6.1982 für unverfolgbar erklärt. Das Gesetz wurde jedoch schon drei Monate nach seiner Verkündung durch Gesetz 23.040 (Ley 23.040, beschlossen am 22.12.1983, verkündet am 27.12. und veröffentlicht am 29.12., in: Legislación Argentina, Jg. 1983-B: 1813) vom Kongreß (!) für verfassungswidrig, nichtig und ohne "jegliche juristische Wirkung" erklärt.

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Verletzungen zu legen9. Den noch unter Alfonsin erlassenen Gesetzen 23.492 (Dezember 1986), besser bekannt als sogenanntes "Schlußpunktgesetz" (Ley de Punto Final), und 23.521 (Juni 1987), besser bekannt als "Gesetz des pflichtgemäßen Gehorsams" (obediencia debida), folgten zahlreiche Begnadigungen durch Präsident Menem. Die Opfer der Menschenrechtsverletzungen mußten sich demgegenüber mit der Verabschiedung von Entschädigungsregelungen begnügen, deren praktische Ergebnisse noch abzuwarten bleiben10. a) Die "Ley de Punto Final" Die Ley de Punto Final (siehe Legislación Argentina, Jg. 1986-B: 1100) bestimmt in Art. 1: "Es erlösche die Strafverfolgung hinsichtlich jeder Person, deren... Erscheinen nicht innerhalb von 60 Tagen nach Verkündung dieses Gesetzes angeordnet worden ist, wegen ihrer vermuteten Teilnahme... an den Delikten des Art. 10 des Gesetzes 23.049"... Unter den gleichen Bedingungen erlöscht die Strafverfolgung gegen jede Person die bis zum 10.12 1983 Delikte begangen hat, die mit der Begründung gewaltsamer Formen der politischen Aktion verbunden sind". Weiter wurde bestimmt, daß die zuständigen ordentlichen Gerichte (cámaras federales) den Stand der beim Consejo Supremo de las Fuerzas Armadas (CSFA) anhängigen Verfahren innerhalb der 60-Tage Frist klären sollten (Art. 2). Eine eventuell notwendige Untersuchungshaft von Mitgliedern der Sicherheitskräfte unterliegt den speziellen Vorschriften des Art. 309-318 CJM (Art. 3). Die 60-TageFrist ruht u.a. bei Zuständigkeitsstreitigkeiten zwischen dem CSFA und den cámaras federales (Art. 4). Demnach wurde eine Verfolgung praktisch aller Straftaten, die während des genannten Zeitraums begangen wurden, 60 Tage nach Verkündung des Gesetzes ausgeschlossen, sofern nicht ein Tatverdächtiger innerhalb dieses Zeitraums zar Vernehmung geladen worden war. Lediglich die Delikte, "Ersetzung des Personen'

Obwohl der Wahlsieg Alfonsins Uber die Peronisten entscheidend auf sein Versprechen der Bestrafung der Menschenrechtsverletzer zurückzuführen war. Hierzu Sancinetti (1989: 49): "Aber niemaid hätte an diese Alternative (einen Wahlsieg Alfonsins) glauben können, wäre da nicht das ernsthafte Versprechen gewesen, die während der Militärregierung stattgefundenen Verletzungen fundamentar Rechte einer Überprüfung zu unterziehen". Zum Versprechen Alfonsins siehe auch Garro/Dahl (19!7: 302).

10

Verordnung Nr. 70/91 [Boletín Oficial (BO) vom 16.1.1991 sowie Anales de Legislación Argentna (ADLA), LI-A, 1991:332 ff. sowieGesetzNr. 24.043 und Verordnung Nr. 2722 (BO) vom 2.1.1992 sowie ADLA, LII-A, 1992: 30 f.); vgl. auch den Bericht Argentiniens an den UN-Menschenrechtsaisschuß (UN-Dok. CCPR/C/75/Add.l, 23.2.1994, par. 25).

"

Art. 10 des Gesetzes 23.049 (Ley 23.049, beschlossen am 9.2.1984, verkündet am 13.2. und veröffeitlicht am 15.2., in: Legislación Argentina, Jg. 1984-A: 6 f f , hat den Código de Justicia Militar refirmiert), bezieht sich auf Delikte, die zwischen dem 24.3.1976 und 26.9.1983 zur Verfolgung des "Terrorismus" begangen wurden (Nr. 1) und im Código Penal sowie in militärischen Sondergesefcen enthalten sind (Nr. 2).

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standes" und "Entwenden" und "Verstecken" Minderjähriger12 (Art. 5, Gesetz 23.492) wurden ausgenommen. b) Die "Ley de Obediencia Debida" Dieses Gesetz (siehe Boletín Oficial 9.6.1987) stellt die unwiderlegbare Vermutung auf, daß Militärangehörige bis zum Brigadegeneral nicht für die Delikte des — oben genannten (Anm. 11) - Art. 10, Nr. 1 des Gesetzes 23.049 strafbar sind, da sie "aufgrund pflichtgemäßen Gehorsams" gehandelt haben (Art. 1). Darunter wird genauer verstanden, daß "... die erwähnten Personen in einem Zustand des Zwangs, dem Vorgesetzten untergeordnet und in Erfüllung von Befehlen gehandelt haben, ohne ... die Möglichkeit der Untersuchung, Opposition oder des Widerstandes gegen diese (Befehle) hinsichtlich ihrer Zweckmäßigkeit und Legitimität (Art. 1)". Zwischen niederen und höheren Dienstgraden wird insofern eine Differenzierung vorgenommen, als bei den höheren die 'Gehorsamsvermutung' widerlegt werden kann, wenn innerhalb von 30 Tagen vor (!) Verkündung des Gesetzes gerichtlich entschieden wurde, daß die betroffenen Personen "Entscheidungsgewalt hatten und an der Erarbeitung von Befehlen mitwirkten" (Art. 1). Das Gesetz wird von Amts wegen auf alle schwebenden Verfahren angewendet (Art. 3). Ausgenommen sind lediglich die schon im Gesetz 23.492 aufgeführten Delikte und die "erpresserische Aneignung von unbeweglichen Sachen" (Art. 2). Art. 11 des Gesetzes 23.049, das den "pflichtgemäßen Gehorsam" als Strafausschlußgrund in den CJM eingeführt hat, wird von Gesetz 23.521 verdrängt (Art. 6). c) Untergesetzliche Regelungen Neben diesen Gesetzen wurden vorbereitend und begleitend Weisungen bzw. Richtlinien an die Staatsanwälte erlassen, die das vordergründige Ziel hatten, die Verfahren wegen Menschenrechtsverletzungen zu beschleunigen und, soweit möglich, zusammenzuziehen. Eine genauere Analyse dieser Weisungen macht allerdings deutlich, daß es der Exekutive darum ging, möglichst viele Verfahren erst gar nicht aufzunehmen bzw. die Ermittlungen einzustellen13. Am 24.4.1986, also noch vor dem Punto Final-Gesetz, erteilte der Verteidigungsminister dem Generalstaatsanwalt des "Obersten Rates der Streitkräfte"

Dabei handelt es sich um die berüchtigten Taten, mittels derer sich Militärangehörige Kinder von verschwundenen oder hingerichteten Regimegegnern "angeeignet" haben (sustitución de estado civil de menores). Zunächst wurde der Personenstand des betreffenden Kindes annulliert und dann ein neuer registriert. Das schloß in der Regel das "Verstecken" und "Entwenden" Minderjähriger ein (sustracción y ocultación de menores). Vgl. nurGarro/Dah! (1987: 333): "... a closer reading of those directives discloses the Government's intention to encourage the General Prosecutor to dismiss as many cases as possible". 91

(Consejo Supremo de las Fuerzas Armadas) ein ganzes Paket von Weisungen14. Nach offizieller Lesart sollte damit dem Eindruck entgegengetreten werden, daß es bei der "Vielzahl von Verfahren ... (um) eine kollektive Aburteilung der Mitglieder der Streitkräfte" gehe, also gleichsam die Institution auf der Anklagebank sitze. Deshalb wurde der Militärgeneralstaatsanwalt angewiesen: — (a) sich über alle anhängigen Verfahren zu informieren und ihre Verknüpfung mit schon laufenden Verfahren zu betreiben; — (b) die Verfahren nach den sie betreffenden Armee-Einheiten zu ordnen. Weiter sollte das Verfahren gegen die ehemaligen Juntageneräle (juicio a los ex comandantes) als eine Art Modell für das weitere prozessuale Vorgehen dienen. Neue Ermittlungen bezüglich gleicher Taten sollten nicht mehr angestrengt werden, die Beweisgrundsätze und -Würdigung dieses Urteils sollten übernommen werden und dementsprechend aus tatsächlichen oder Rechtsgründen eingestellt werden, wenn auch die entsprechenden Taten in diesem Verfahren eingestellt worden waren. Materiell-rechtlich wurde — vor Verabschiedung des oben dargestellten Sondergesetzes — angeordnet, den Grundsatz des "pflichtgemäßen Gehorsams" (Art. 514 CJM) zugunsten Tatverdächtiger großzügig anzuwenden. Nach dem Punto Final-Gesetz wurden dann auch den Staatsanwälten der ordentlichen Gerichtsbarkeit ähnliche Weisungen erteilt. Zunächst verpflichtete Präsident Alfonsin im Januar 1987 per Verordnung den Procurador General de la Nación, die Bundesstaatsanwälte (fiscales federales) anzuweisen, sich bei weiteren Strafverfolgungsmaßnahmen amjuicio a los ex comandantes zu orientieren (Decreto 92/87 vom 22.1.1987, in: Sancinetti 1988:245-248). Dementsprechend erließ der Procurador General per Beschluß vom 3.2.1987 folgende, die Ausfuhrung des Punto F/'«a/-Gesetzes begleitende Weisungen (Resolución 2/87 vom 3.2.1987, in: Sancinetti 1988: 249-252): — Konzentration der Ermittlungen auf Fälle, die im juicio a los ex comandantes bewiesen worden waren; darüber hinaus nur Verfolgung von Taten, die als "ausreichend glaubwürdig" angesehen werden können; — Ermittlungen nur gegen Personen, bei denen "sichere Indizien" zugunsten einer Anklageerhebung bestehen; — Beschränkung auf Personen, die aufgrund ihres hohen militärischen Ranges ("en la cadena de mando") einen effektiven Entscheidungsspielraum hatten oder auf rangniedere Personen, sofern diese "grausame Taten" begangen haben; — Veijährungsverkürzung, indem (a) bei Realkonkurrenz die Veijährung nicht unabhängig zu laufen beginnt und sie (b) bei Freiheitsberaubung nicht erst mit Beendigung des Delikts, sondern schon dann beginnt, wenn "der vermutliche Verantwortliche" (Dienstvorgesetzte, Anm.d.Verf.) einen "entscheidungserheblichen Einfluß" auf das Schicksal des willkürlich Festgenommenen verloren hat oder sobald das Andauern der Festnahme glaubhaft gemacht worden ist;

Ministro de Defensa, Instrucciones al Fiscal General del Consejo Supremo de las Fuerzas Armadas, 24.4.1989, in: Sancinetti (1988: 229-231); kritisch Garro/Dahl (1987: 333 ff.).

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-

Bevorzugte Abwicklung von Verfahren, bei denen es um - die oben genannten — Taten gegen Mindeijährige geht.

d) Die Begnadigungen Der noch amtierende Präsident Menem hat regen Gebrauch von seinem Begnadigungsrecht (Art. 86 Nr.6 Verf.) gemacht15 und den noch inhaftierten Militärs, darunter zahlreichen wichtigen Generälen, die Verbüßung ihrer gesamten Strafe erspart: - In den ersten beiden Fällen16 wurden Militärs und Zivilpersonen begnadigt, die Delikte im "Krieg gegen die Subversion" begangen hatten. Nach der amtlichen Begründung ging es dabei um die "nationale Einheit, Versöhnung und Befriedung" ohne "Gefühl der Rachsucht". Die Begnadigung wurde für Verurteilte und für in schwebenden Verfahren befindliche Personen für anwendbar erklärt. - Die Verordnung 1004/89 (Decreto 1004 v. 6.10.1989, veröff. am 10.10.1989, in: Legislación Argentina, Jg. 1989-C: 2676) hat Militär- und Sicherheitspersonal begnadigt, das an den Putschversuchen der Streitkräfte zwischen April 1987 und Dezember 1988 beteiligt gewesen war. - Die Verordnung 1005/89 (Decreto 1005 v. 6.10.1989, veröff. am 10.10.1989, in: Legislación Argentina, Jg. 1989-C: 2679) hat im Falkland-Krieg beteiligtes Personal begnadigt. - Die Verordnungen 2741 bis 2746/9017 haben zahlreiche Militärs, darunter die Generäle Videla, Massera, Agosti, Viola, Lambruschini, Camps, Richeri und Suárez Masón, sowie mehrere zivile Mitarbeiter des Militärregimes und der Guerillaführer Firmenich begnadigt.

Zusammenfassende Schlußfolgerungen Zahlreiche Fälle ungesühnter Menschenrechtsverletzungen (vgl. Ambos 1996) machen deutlich, wie die faktische impunidad der Jahre der argentinischen Diktatur zu einer "impunidad legalizada" unter den demokratischen Regierungen wurde. Was die zwei formellen Straffreiheitsgesetze der Alfonsin-Ära nicht geschafft haben, nämlich die Straffreistellung der leitenden und hauptverantwortlichen

"

Insgesamt wurden 277 Personen begnadigt, vorwiegend Militärs, darunter jedoch auch 64 Ex-Guerilleros(vgl. Tappatá de Valdez 1990:26). Während der Präsidentschaft Menems wurden bis November 1991 21 Begnadigungsverordnungen erlasssen (H. Cámara de Diputados de la Nación, Secretaría Parlamentaria, Dirección de Información Parlamentaria, B.A., 8.11.91).

"

Verordnungen 1002 (Militärpersonal) und 1003 (Zivilpersonen) v. 6.10.1989, veröff. am 10.10.1989, in: Legislación Argentina, Jg. 1989-C: 2669ff.

"

Decreto 2741 bis 2746 v. 19.12.1990, alle veröffentlicht am 3.1.1991, in: ADLA LI-A, 1991:305 ff. Decreto 1098/91 hat 2743/90 korrigiert (ADLA LI-C, 1991:2974). Decreto 2742 hat den Führer der Montoneros, Mario Eduardo Firmenich, begnadigt.

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Militärs für die Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur, vurde durch die zahlreichen Exekutivverordnungen Präsident Menems zur Begiadigung der noch nicht begünstigten Militärs und Polizisten erreicht18. Diese mit völkerrechtlichen Verfolgungs- und Bestrafungspflichten unvereinbare Paxis19 einer umfassenden" impunidad-Gzs,e\zgcb\mg' führte dazu, daß sich die Miitärgerichtsbarkeit — sonst ein wesentlicher Faktor der impunidad — regelmälig mit einer Verschleppung der Verfahren begnügen konnte und nur selten zur iache äußern mußte. Im übrigen operieren faktische Mechanismen der impunidad. Das Militär interveniert direkt oder indirekt - über die Exekutive — in laufende Vefahren. Die ordentliche Justiz sieht sich jedoch nicht nur militärischem Druck, ondem auch politischer Einflußnahme ausgesetzt20. In diesem Zusammenhaig erhalten Vorwürfe von Menschenrechtsorganisationen, daß "impunity was ooted in the judicial system" (Amnesty International 1992: 58) erneut aktuelle Beleutung. Die fehlende Unabhängigkeit der Justiz stellt somit eine wesentliche Viraussetzung der impunidad dar. Schließlich führen die im vorliegenden Band dokumentierten Zeignisse dem Leser plastisch vor Augen, wohin bedingungsloser Gehorsam innerhalbmilitärischer Strukturen führen kann. Es bleibt zu hoffen, daß die Äußerungen des gigenwärtigen Oberkommandierenden des argentinischen Heeres, General Martii Balza, auf allgemeine Zustimmung innerhalb der Streitkräfte stoßen. Balza vetrat in einer grundlegenden Stellungnahme (abgedruckt im vorliegenden Band) zir argentinischen Vergangenheit die Ansicht, daß niemand verpflichtet sei, einen uimoralischen oder gesetzeswidrigen Befehl auszuführen und daß die Erteilung sowü Ausführung solcher Befehle bestraft werden müsse21. Dies entspricht der gegenwärtigen Rechtslage im Völkerstrafrecht. Danach kann ein bloßes "Handelnauf Befehl" bei den in Rede stehenden Verbrechen nicht mehr als Strafbefreiunggrund anerkannt werden; je nach Lage des Falles kommt allenfalls eine Strafnilderung in Betracht22.

"

Damit blieben letztlich alle Menschenrechtsverletzer von (voller) Strafverbüßung/erschont (Van Dyke/Berkley 1992: 249; Maier 1995: 147 f.).

"

Vgl. zur Völken-echtswidrigkeit der argentinischen Rechtslage insbesondere Kokott (987); allgemein sowie zu den genannten Ländern Ambos (1996: Kap. 4)

!0

Dies zeigte sich etwa in der Ernennung von vier zusätzlichen Richtern zum Oberstn Gerichtshofs (Corte Suprema de Justicia) durch Präsident Menem im Jahre 1989 (vgl. US-Deprtment of State 1993). Dabei ging es dem Präsidenten vornehmlich darum, ihm genehme Richter anzusetzen und die Verfassungsmäßigkeit der Begnadigungen abzusichern (Tappata 1990: 27).

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Weiter kritisierte er in dieser Rede (vom 25.4.1995) die "illegitimen Methoden" uri "Verbrechen" des Heeres und forderte zur Kooperation bei der Suche nach "Verschwundenen" auf. )ies wiederholte er im Juni in einem amtlichen Kommunique an alle Heereseinheiten. Am 4.5.199 schlössen sich die Oberkommandierenden von Marine und Luftwaffe dieser Kritik im Ken an (Amnesty International 1995: 8 f.; Latin American Regional Reports-Southern Cone 1 Jun< 1995: 7).

"

Bei den sogenannten internationalen Verbrechen, insbesondere Folter und "Versciwindenlassen", wird von der offensichtlichen Rechtswidrigkeit des Befehls ausgegangen, so daß iie Möglichkeit

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eines unvermeidbaren Verbotsirrtums entfällt und sich der Untergebene die Tat vorwerfen lassen muß. Auch eine schwierige Konfliktsituation des Untergebenen kann hier angesichts des verletzten Rechtsgutes grundsätzlich nicht zum Strafausschluß führen, allenfalls strafmildernd berücksichtigt werden (näher Ambos 1996: Kap. 4).

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Fernsehansprache des Stabschefs des argentinischen Heeres, General Martin Antonio Balza, vom 25.4.1995

"Das Ziel rechtfertigt niemals die Mittel" Die schwierige und dramatische Botschaft, die ich heute der argentinischen Gesellschaft übermitteln möchte, sucht ein schmerzhaftes, nie geführtes Gespräch über die Vergangenheit zu beginnen, die wie ein Gespenst über dem kollektiven Gewissen schwebt, das wie in diesen Tagen unabänderlich aus den Schatten zurückkehrt, wo es sich zuweilen verbirgt. Unser Land hat ein Jahrzehnt erlebt, die 70er Jahre, das von der Gewalt, dem Messianismus und der Ideologie geprägt war. Eine Gewalt, die mit dem Terrorismus begann, die nicht einmal während der Demokratie aufhörte, in der wir von 1973 bis 1976 lebten, und die eine Repression auslöste, die uns heute erschüttert. In der Geschichte aller Völker, auch der kultiviertesten, gibt es schwierige, finstere, fast unerklärliche Epochen. Wir sind diesem Schicksal nicht entgangen, das so häufig die Völker vom rechten und zu rechtfertigenden Weg abzulenken scheint. Diese Vergangenheit des Kampfes zwischen Argentiniern, des Brudermordes, hinterläßt uns Opfer und Täter von gestern, die ihre Rollen häufig vertauschen, abhängig von den Zeitläufen, abhängig von der Sichtweise, abhängig von der vom Schmerz geprägten Meinung deijenigen, die aufgrund einer Abwesenheit, die nicht wiedergutzumachen, nicht zu erklären ist, mit leeren Händen zurückblieben. Diese Spirale der Gewalt hat in unserem noch jungen Land eine nie dagewesene Krise hervorgerufen. Die Streitkräfte, darunter das Heer, für das zu sprechen ich die Verantwortung trage, glaubten irrigerweise, daß der soziale Körper nicht über die notwendigen Antikörper verfüge, um der Geisel entgegenzutreten, und es übernahm mit der Zustimmung vieler die Macht. Das Heer, ausgebildet und unterwiesen in der klassischen Kriegsführung, wußte nicht, wie es unter voller Respektierung der Gesetze dem wahnsinnigen Terrorismus die Stirn bieten sollte. Dieser Irrtum führte dazu, daß der Individualisierung des Gegners Vorrang gegeben wurde. Er wurde aufgespürt, ohne seine Menschenwürde zu respektieren. Die dazu notwendigen Informationen wurden durch — in einigen Fällen — illegitime 96

Methoden beschafft, wobei Leben ausgelöscht wurde. Dabei wurde vom Weg abgewichen, der zu jedem gerechtfertigten Ziel nur über die Anwendung gerechtfertigter Mittel fuhrt. Einmal mehr wiederhole ich: Das Ziel rechtfertigt niemals die Mittel. Einige wenige benutzten die Waffen zur persönlichen Bereicherung. Es wäre einfach, die Gründe zu finden, die diese und andere Irrtümer in der Führung erklären, denn es ist immer deijenige verantwortlich, der eine Führungsposition innehat. Aber ich glaube aufrichtig, daß dieser Moment schon vorüber ist und es nun an der Zeit ist, die entsprechende Verantwortung zu übernehmen. Daß einige seiner Mitglieder eine Uniform entehrten, die zu tragen sie nicht verdienten, entwertet nicht die selbstlose und stille Pflichterfüllung der Männer und Frauen des damaligen Heeres. Es sind fast zwanzig Jahre trauriger und schmerzlicher Ereignisse vergangen, es kann keinen Zweifel daran geben, daß die Stunde gekommen ist, mit beiden Augen zu schauen. Wenn wir dies tun, erkennen wir nicht nur das Übel bei dem, der in der Vergangenheit unser Feind war, sondern auch unsere eigenen Fehler. Wenn wir gerecht sind, schauen wir die anderen an, und schauen wir uns selbst an. Wenn wir gerecht sind, werden wir ihre Fehler und unsere Fehler erkennen. Wenn wir gerecht sind, dann sehen wir, daß wir an der Konfrontation zwischen den Argentiniern nahezu alle schuldig sind, durch Handlungen oder ihre Unterlassung, durch Abwesenheit oder Exzesse, durch Zustimmung oder Ratschläge. Wenn ein sozialer Organismus sich ernsthaft in Gefahr bringt und so weit geht, den Tod zwischen Landsleuten zu säen, ist es naiv zu versuchen, einen einzigen Schuldigen, auf der einen oder anderen Seite, zu finden, weil die Schuld im Grunde genommen im kollektiven Unterbewußtsein der gesamten Nation liegt, auch wenn es einfach ist, sie einigen wenigen aufzubürden, um uns selbst von ihr zu befreien. Sind wir realistisch, unbeschadet der Anstrengungen der politischen Führung Argentiniens glauben wir, daß der ersehnte Augenblick der Aussöhnung noch nicht gekommen ist. Das Blut des Kindes, des Vaters, des Ehemannes, der Mutter, des Freundes abzuwaschen, ist eine schwere Aufgabe voller Tränen, voll tiefer Betrübnis und bedeutet, mit leerem Blick zu leben, sich zu fragen, warum ... warum hat es mich getroffen ... und damit jeden Tag erneut zu beginnen. Diejenigen, die in diesem schmerzhaften, kritischen Augenblick ihre Angehörigen verloren haben, egal in welcher Position und unter welchen Umständen, werden Generationen benötigen, um den Verlust zu verkraften und Sinn in einer echten Aussöhnung zu finden. An sie sind diese Worte nicht gerichtet, weil ich für sie keine Worte habe, ich kann ihnen nur Respekt zollen, angesichts des Schmerzes schweigen und anbieten, daß ich alles unternehmen werde, damit sich die Vergangenheit nie mehr wiederholt. An die übrigen, die wir das Glück hatten, nicht das Liebste im Kampf zwischen den Argentiniern zu verlieren, wende ich mich und bitte Sie alle und jeden

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einzelnen in der Position, in der sich jeder im Hinblick auf dieses Drama der gesamten Gesellschaft befindet, um Verantwortung und Respekt. Verantwortung, um nicht den Schmerz zum vorübergehenden Banner für wen auch immer zu machen. Verantwortung, daß wir die Schuld auf uns nehmen, für das, was wir in dieser Stunde getan oder unterlassen haben. Respekt für alle Toten, indem wir damit aufhören, sie mit den Attributen zu belegen, die die einen wie die anderen lange Zeit mit sich herumtrugen. Sie alle haben schon Rechenschaft abgelegt dort, wo nur die Wahrheit zählt. Die Listen der Verschwundenen gibt es nicht in der Teilstreitkraft, die unter meinem Kommando steht. Falls es der Wahrheit entsprechen sollte, daß sie in der Vergangenheit existiert haben, so sind sie nicht bis heute erhalten geblieben. Keine Liste würde an den verwaisten Tisch einer jeden Familie das geliebte Antlitz zurückbringen, keine Liste würde es erlauben, die Toten zu begraben, die nicht vorhanden sind, noch ihren Angehörigen dabei helfen, einen Ort zu finden, um ihrer zu gedenken. Gleichwohl, ohne daß ich ihre Rekonstruktion anordnen kann, weil es sich um eine individuelle Gewissensentscheidung handelt, sichere ich öffentlich die entsprechende Vertraulichkeit und die Bekanntgabe der Ergebnisse unter meiner ausschließlichen Verantwortung zu, falls es jemanden im Heer geben sollte, der über Listen verfügt oder aufgrund seiner Erinnerung in der Lage sein sollte, die Vergangenheit zu rekonstruieren. Dieser Schritt soll nichts anderes als einen langen Weg in Angriff nehmen, er ist nur ein kleiner Beitrag zu einem Werk, das nur von allen gemeinsam verwirklicht werden kann. Ein Werk, das eines Tages mit der Aussöhnung unter den Argentiniern seinen krönenden Abschluß finden soll. Über diese Worte habe ich lange nachgedacht, und ich weiß, wenn ich sie ausspreche, wird es immer noch Gruppen geben, die damit nicht einverstanden sein werden. Ich nehme diese Kosten auf mich, überzeugt davon, daß die Notwendigkeiten des Augenblicks und das Amt, das ich die Ehre habe zu repräsentieren, mich dazu verpflichten. Trotzdem würde eine Entschuldigung allein wenig nützen, wenn wir bei unserer Verpflichtung, die Vergangenheit zu überprüfen, nichts daraus lernen würden, damit wir sie in der Zukunft nicht wiederholen. Ohne gänzlich neue Worte zu suchen, sondern unter Berufung auf die alten militärischen Dienstanweisungen, befehle ich dem argentinischen Heer im Angesicht der gesamten argentinischen Gesellschaft einmal mehr, daß: — niemand verpflichtet ist, einen unmoralischen Befehl oder einen Befehl, der von den Gesetzen oder den militärischen Dienstvorschriften abweicht, zu befolgen. Wer es trotzdem tut, begeht eine rechtliche Verfehlung, die entsprechend ihrer Schwere bestraft wird. Ohne Euphemismus erkläre ich mit aller Deutlichkeit: — Es begeht eine Straftat, wer die Verfassung verletzt. 98

— Es begeht eine Straftat, wer unmoralische Befehl erteilt. — Es begeht eine Straftat, wer unmoralische Befehle befolgt. — Es begeht eine Straftat, wer zur Erreichung eines bestimmten Zieles, das er für gerechtfertigt hält, ungerechtfertigte, unmoralische Mittel anwendet. Das Verständnis dieser wesentlichen Gesichtspunkte begründet das republikanische Leben eines Staates, und wenn dieser Staat in Gefahr gerät, ist das Heer nicht der einzige Rückhalt des Vaterlandes, Worte, die den militärischen Ohren von vielen viele Male zugeflüstert wurden. Im Gegenteil, der Rückhalt, den eine Nation besitzt, entspringt den Führungsgruppen in allen ihren Institutionen, dem Lehrkörper ihrer Universitäten, ihrer Kultur, ihrem Volk, ihren politischen, religiösen, gewerkschaftlichen, unternehmerischen Institutionen und auch ihren militärischen Führungsgruppen. Dies zu verstehen, definitiv die apokalyptische Sicht und den Hochmut aufzugeben, den Dissens zu akzeptieren und den Willen des Souveräns zu respektieren, ist der erste Schritt, den wir seit Jahren zu gehen im Begriff sind, um die Vergangenheit hinter uns zu lassen und dabei zu helfen, das Argentinien der Zukunft aufzubauen, ein Argentinien, das im Schmerz gereift ist, das sich eines Tages wieder geschwisterlich umarmen kann. Wenn es uns nicht gelingt, den Schmerz zu verarbeiten und die Wunden zu schließen, werden wir keine Zukunft haben. Wir dürfen den durchlebten Schrecken nicht mehr verleugnen, nur so können wir in unserem Leben als Gesellschaft nach vorne blicken, den Kummer und das Leid überwinden. In diesen für unsere Gesellschaft entscheidenden Stunden möchte ich Ihnen als Stabschef des Heeres mitteilen, daß ich, indem ich für dessen Kontinuität als Institution der Nation einstehe, unseren Teil der Verantwortung für die Irrtümer dieses Kampfes zwischen Argentiniern, der uns heute erneut bewegt, übernehme. Ich bin mir der Anstrengungen bewußt, die wir alle mit Blick auf die Zukunft unternehmen. Deshalb danke ich den Männern und Frauen, die ich mit Stolz befehlige. Sie repräsentieren die Wirklichkeit eines Heeres, das unter sehr harten Bedingungen arbeitet, die republikanischen Institutionen respektiert und sein Bestes im Dienst für die Gesellschaft gibt. Ich bitte um Gottes Hilfe, was ich darunter verstehe oder was jeder auf seine Weise darunter verstehen mag, und bitte um die Unterstützung aller Frauen und Männer unseres geliebten Landes, um den Weg des Gesprächs zu beginnen, der die Eintracht in der verwundeten argentinischen Familie wieder herzustellen vermag.

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Wolfgang S. Heinz

Was hat sich durch die Erklärung der Stabschefs in Argentinien verändert ? Ende April 1995 erklärten die Stabschefs von Armee, Luftwaffe und Marine, im Krieg gegen die Subversion während der letzten Militärregierung seien illegale Methoden angewandt worden. Die Regierung Menem war überrascht. Sie hatte auf eine Aussöhnung mit den Streitkräften durch den Gnadenerlaß für die 1985 verurteilten Militärs und Meuterer von 1987 und 1988 gesetzt. Das Selbstbekenntnis kam zu einem Zeitpunkt, wo es niemand mehr erwartet hatte. In den zwölf Jahren der neuen argentinischen Demokratie hatte kein führender Militär zugegeben, daß systematische Menschenrechtsverletzungen in den Jahren 1976-1983 stattgefunden hatten. Der frühere Polizeichef von Buenos Aires, General Ramón Camps, hatte sich zwar 1981 in mehreren Interviews geäußert, wurde aber aufgrund seiner erratischen Persönlichkeit kaum ernst genommen. Konteradmiral a.D. Horacio Mayorga hatte mit Blick auf die Proteste gegen den Marineoffizier Astiz wegen der Beteiligung an Menschenrechtsverletzungen geäußert: "Die Leute machen sich Sorgen um Astiz. Wissen Sie, wieviele Astiz' es in der Marine gab ? 300 Astiz'. ... Daß sie Menschen getötet haben ? Natürlich. Alle Welt wußte, daß wir sie eliminiert haben" (vgl. Verbitsky 1995: 21)'.

Der Kapitän zur See Astiz war von der französischen Justiz wegen der Ermordung zweier französischer Nonnen in Argentinien in Abwesenheit verurteilt worden. 1995 war er auf offener Straße zweimal angegriffen worden und erhielt daraufhin Polizeischutz. Aufgrund dieser Zwischenfälle und französischen Drucks - Präsident Menem wollte 1996 Frankreich einen Staatsbesuch abstatten - nahm Astiz Ende 1995 auf Drängen der Marineführung und als "Opfer" für die Institution seinen Abschied.

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Legate der Militärdiktatur Zu den wichtigsten Legaten der letzten Militärdiktatur (1976-83) gehören die Verantwortung für systematische Menschenrechtsverletzungen, die militärische Niederlage im Krieg gegen England um die Malvinen und die nachgewiesene Regierungsunfähigkeit der Streitkräfte, der letzte Punkt ein Vorwurf, den verschiedene Militärführungen immer wieder den Politikern gemacht hatten. Mit Raúl Alfonsin trat 1983 ein Präsident sein Amt an, der gute politische Ausgangsbedingungen vorfand, um eine emsthafte Reform der zivil-militärischen Beziehungen durchzusetzen. Die Niederlage im Malvinen-Krieg, Spannungen zwischen den drei Teilstreitkräften und die zunehmend bekannt gewordenen systematischen Menschenrechtsverletzungen in den Jahren 1976 bis 1983 hatten zu einem erheblichen Prestigeverlust des Militärs gefuhrt. Im Wahlkampf hatte Alfonsin die Bestrafung der für Menschenrechtsverletzungen verantwortlichen Offiziere versprochen, diese aber gleichzeitig in drei Gruppen aufgeteilt: in die politisch verantwortliche Spitze; eine zweite Gruppe, die Exzesse bei der Ausfuhrung von Befehlen begangen habe; und eine dritte, die nur Befehle befolgt habe. Bestraft werden sollten nur die ersten beiden Gruppen. Auf Vorschlag der Regierung hob der Kongreß das 1983 erlassene Selbstamnestiegesetz der Militärregierung auf. Per Dekret beschloß die Regierung, die Mitglieder der ersten drei Militäijunten und zwei Montonero-Führer vor Gericht zu stellen. Der Präsident ernannte eine Kommission zur Aufklärung der Verschwundenenschicksale (vgl. Comisión Nacional sobre la Desaparición de Personas 1984). Menschenrechtsorganisationen hatten eine parlamentarische Kommission gefordert, sich aber nicht damit durchsetzen können. Alfonsin setzte auf eine Selbstreinigung des Militärs durch die Militäijustiz. Die Prozesse gegen die ersten drei Militäijunten fanden anfangs vor dem Obersten Militärgericht (Consejo Supremo de las Fuerzas Armadas) statt. Nach zögernden Ermittlungen verkündete das Gericht schließlich, es sei nicht in der Lage, den noch erforderlichen Zeitumfang für die Ermittlungen abzuschätzen und könne Form und Inhalt der Einsatzbefehle der Militärregierungen nicht beanstanden. Überdies ließe sich die Anklage eines Exzesses nur dann erheben, wenn nachgewiesen werden könne, daß das mutmaßliche Opfer nicht für subversive Aktivitäten verantwortlich gewesen sei2. Nach dieser Erklärung zog das Bundesberufungsgericht den Prozeß an sich, der 1985 nach den Regeln der Militärprozeßordnung stattfand. Das Gericht klagte die Offiziere nicht wegen des Putsches von 1976 an, sondern aufgrund konkreter Fälle von Folter und Verschwindenlassen, für die sie verantwortlich waren (Congreso de la Nación 1987). In seinem Urteil räumte das Gericht ein, daß 1976 eine schwerwiegende Krisensituation bestand, die die Sicherheitskräfte überforderte. Die Oberbefehlshaber hätten jedoch eine kriminelle Form der Terroristen2

Zur Argumentation von Anklage und Verteidigung siehe Osiel (1986). 101

bekämpfung eingeführt. Es verurteilte die Generäle Videla und Viola, die Admirä e Massera und Lambruschini sowie Luftwaffengeneral Agosti zu Haftstrafen ur.d zum Verlust ihres militärischen Ranges. Vier Offiziere wurden freigesprochen. Historisch war die Verurteilung von hochrangigen Offizieren aufgrund vcn Menschenrechtsverletzungen eine seltene Ausnahme, nicht nur in Lateinamerika. Jetzt luden Gerichte mehr als 400 Offiziere wegen Menschenrechtsverletzungen vor. Die innermilitärische Kritik an der Regierung wurde immer stärker, aber auch die Kritik an einer Militärführung, die solche Prozesse politisch zuließ. Die Kritik konzentrierte sich auf drei Punkte. Für die Verteidiger der Angeklagten hatten Politiker und Gesellschaft dem Militär klar den Auftrag erteilt, den Terrorismus schnellstmöglich auszumerzen, und begannen nun mit den Prozessen die Sieger hierfür zur Rechenschaft zu ziehen. Prozesse vor zivilen Gerichten wurden grundsätzlich abgelehnt, widersprach doch eine solche Behandlung von Generälen dem langjährigen Privileg des fuero militar, der allein die Militärjustiz für solche Fälle einsetzte. Die Belastungszeugen wurden rundweg als Subversive bzw. deren Angehörige angesehen und ihnen damit jegliche Glaubwürdigkeit abgesprochen. Wenn ein Gericht ihren Zeugenaussagen Glauben schenken würde, so hieß es, gelänge den Terroristen damit eine späte Rache an denjenigen, die sie besiegt hatten. Die Ablehnung jeglicher Untersuchung von Aktivitäten der Terrorismusbekämpfiing durch die Offiziere war einhellig und kompromißlos. Kaum e.n Offizier hat sich diesem Konsens gegenüber fragend, kritisch oder gar ablehnerd geäußert (Waisbord 1991; Heinz 1995a). Der Versuch einer Militärreform schlug nach den zunehmenden Spannungen (Militärrebellionen 1988, 1989) weitgehend fehl. Immerhin wurde das Militärgesetzbuch geändert. Bei normalen Straftaten müssen sich Militärs jetzt zum ersten Mal seit 1823 vor zivilen Gerichten verantworten. Die Militärjustiz wurde aber nicht abgeschafft. Unter Präsident Carlos Menem kam es zu einem radikalen Einschnitt in der Militärpolitik. Kurz nach seinem Amtsantritt verfügte er einen Gnadenerlaß zugunsten von 174 Teilnehmern an den ersten drei Militärrebellionen. Ein zweiter Gnadenerlaß führte zur Freilassung der früheren Generäle Videla, Viola, Galtieri, Suärez Mason, Camps und mehr als 30 weiteren Armee- und Marineoffizieren, 64 ehemaligen Aktivisten der Guerilla (die meisten lebten im Exil) und des Montonero-Führers Firmenich. 63% der Bevölkerung im Großraum Buenos Aires lehnten den Gnadenerlaß ab, während sich 23% dafür aussprachen. Bereits drei Jahre nach dem Prozeß von 1985 hatten hochrangige Armeeoffizieie gefordert, diesen Kampf als gerecht anzuerkennen3. Der frühere Militärdiktator Videla verteidigte nach seiner Entlassung den "Schmutzigen Krieg" auf einen Kameradschaftsessen. Die argentinische Gesellschaft hätte den Militärs für ihren

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Vgl. die Beiträge von drei Armeeoffizieren in der "Revista Militar" (Daract 1988; Diaz Bessoie 1988; Menendez 1988) und die ausfuhrliche Rechtfertigung der Aufstandsbekämpfung durch d:n Verteidiger von General Camps, General Osiris G. Villegas (1990).

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Dienst an der Nation einen Preis zahlen müssen (vgl. Nolte 1991). Die Regierung Menem stellte daraufhin eine Strafanzeige wegen "Verteidigung einer Straftat" mit Bezug auf Artikel 213 StGB, der hierfür eine Gefängnisstrafe zwischen sechs Monaten und zwei Jahren vorsieht. Die Regierung Menem mußte sich aber auch mit den Opfern der letzten Militärdiktatur auseinandersetzen. Mit der Ley de Reparación Histórica erhielten 8.300 frühere politische Gefangene eine Entschädigung des Staates. Gegen einen Gesetzentwurf, der die Angehörigen von Familien, die "Verschwundene" zu beklagen haben, vom Wehrdienst ausgenommen hätte, wurde vom Präsidenten ein Veto eingelegt. Da 1995 der allgemeine Wehrdienst abgeschafft wurde, stellt sich diese Frage allerdings nicht mehr.

Militärische Rechtfertigungen der Repression Die letzte Militäijunta unter General Bignone hat in ihrer abschließenden Erklärung zum Kampf gegen den Terrorismus eine offizielle Stellungnahme der Streitkräfte abgegeben, die für viele Offiziere bis 1995 die gültige Sprachregelung darstellte4: — Es hatte in Argentinien einen terroristischen Angriff auf den Staat gegeben, der vom internationalen Kommunismus unterstützt wurde. Der Krieg gegen den Terrorismus, der zahlenmäßig ungewöhnlich stark (7.000-15.000 aktive Kämpfer) und überdurchschnittlich gut militärisch gerüstet war, wurde von der Militäijunta gewonnen. — Viele Terroristen wären bereits während der Militärdiktatur 1966-73 von den Gerichten verurteilt worden und dennoch zum bewaffneten Kampf zurückgekehrt. — Die Streitkräfte hätten als Institution gehandelt und seien als solche für ihre Handlungen verantwortlich; eine Bestrafung einzelner Offiziere könne daher nicht akzeptiert werden. — Im Einzelfall wäre es zwar zu Exzessen gekommen, aber für diese sei der Übereifer einzelner Offiziere verantwortlich gewesen. Eine Strategie der Menschenrechtsverletzungen hätte es nicht gegeben. Bignone nahm in einem 1992 veröffentlichten Buch noch einmal die alte Verteidigungslinie auf. Er bestätigt darüber hinaus, daß er das Dekret unterzeichnet habe, nach dem alle Fallunterlagen über "subversive Elemente" im Innenministerium zu vernichten seien. Gleich in der Einleitung zum Buch betont er, er hätte seine (positive) Meinung zum Proceso (1976-83) nicht geändert. Er beklagt einen perversen Plan, um das Ansehen der Streitkräfte zu untergraben, die doch eine

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Vgl. Final Document of the Military Junta regarding the War against Subversion and Terrorism: The Fundamental Concepts, 1983, in: Loveman/Davies (1989: 205-211).

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der Basisinstitutionen der Demokratie seien und denen man aufgrund ihres entschiedenen Vorgehens die heutige Demokratie verdanke. Hierfür werden neben der Regierung Alfonsin der Kongreß, die Medien und Menschenrechtsorganisationen verantwortlich gemacht. Die gegenüber der "Subversion" angewandten Methoden der Militärdiktatur werden insgesamt als korrekt bezeichnet: "Aunque se hubieran cometido errores y hasta excesos, éstos se habrían dado en un marco absolutamente legítimo encuadrado en fines últimos de la profesionalidad castrense y policial" (Bignone 1992: 216). Eine genauere Untersuchung des Aufbaus des Repressionsapparats zeigt freilich ein anderes Bild. Es gab eine relativ große Autonomie niedriger und mittlerer Dienstränge in den grupos de tarea, die die Festnahmen vornahmen. Die Selektion der zu tötenden politischen Gefangenen erfolgte, soweit bekannt, auf der Grundlage der von den Militärgeheimdiensten zusammengestellten Informationen zu den einzelnen Personen. Die Präferenz für das Verschwindenlassen war die strategische Antwort auf die internationalen Proteste gegen die letzten Hinrichtungen unter Franco in Spanien und gegen die Behandlung der politischen Gefangenen durch Pinochet in Chile. Die Militärführung ging damals davon aus, daß diese Methode die Gefahr von Protesten in Argentinien und in der Weltöffentlichkeit minimieren würde (vgl. Waisbord 1991; Heinz 1995b)5.

"El vuelo" und die Erklärungen der Stabschefs Achtzehn Jahre nach dem letzten Militärputsch und elf Jahre nach der Rückkehr zur Demokratie kam es im November 1994 unerwartet zu einer neuen Konfrontation mit der Vergangenheit. Die Regierung hatte die Beförderung der beiden Fregattenkapitäne Pernias und Rolón zu Kapitänen zur See beantragt, der der Senat zustimmen mußte. Bei der Befragung der Offiziere hatte Pernias das System des Staatsterrorismus bestätigt. Er sprach über Folter und die Injektionen, die den politischen Gefangenen verabreicht wurden, um sie vor den Flügen ruhigzustellen, bei denen sie dann aus Flugzeugen in den Atlantik geworfen wurden. Ein dritter Offizier, Korvettenkapitän (a.D.) Scilingo, wandte sich an die Presse und berichtete über seine Erfahrungen bei der Ermordung politischer Gefangener. In seinen Gesprächen mit dem Journalisten Horacio Verbitsky bestätigte er die Anwendung der Folter und das "Verschwindenlassen" politischer Gefangener, indem sie aus Flugzeugen gestoßen wurden. Er sprach von 1.500-2.000 Opfern aus dem Folterzentrum ESMA. Am wichtigsten war seine Aussage, daß es sich um ein System zur Beseitigung der Gefangenen handelte und die Verantwortung durch eine Rotation auf die größtmögliche Zahl von beteiligten Offizieren verteilt wurde. Sein Bericht wurde von Verbitsky (1995) unter dem Titel "El vuelo" (Der Flug) veröffentlicht. Auch Armeefeldwebel Ibáñez bestätigte, daß während der Diktatur 5

Für einen Vergleich mit Chile und Uruguay siehe Heinz (1995b).

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Gefangene aus einem geheimen Lager aus Flugzeugen lebend ins Meer geworfen seien, und sprach von 2.300 Opfern (Der Tagesspiegel, 27.4.1995). Ein Unteroffizier der Gendarmeria (Grenzschutz) sprach über Folter und geheime Exekutionen (LAWR 13.7.1995:303). Insgesamt erbrachten die Berichte kaum neue Informationen, die nicht schon vorher, etwa in dem Bericht "Nunca Mas", veröffentlicht worden waren. Der entscheidende Unterschied war jedoch, daß Täter selbst berichteten — im offenen Widerspruch zu den jahrelang wiederholten Aussagen der Militärfiihrung. Ende April 1995 folgten die großes Aufsehen erregenden Erklärungen der Stabschefs von Armee, Marine und Luftwaffe. Sie stimmten darin überein, daß im Kampf gegen die Guerilla illegale Methoden von den Streitkräften angewandt wurden, Unterschiede gab es aber in der Klarheit der Aussagen, den erklärenden Entschuldigungen und dem Grad der Reue. Admiral Molina Pico betonte, daß die Militärs damals auf eine Art und Weise reagierten, die nicht mit der legalen Ordnung und nicht einmal mit den Gesetzen de Kriegsfuhrung vereinbar gewesen wäre. Es seien schwere Irrtümer und unkontrollierbare Greueltaten im Kontext der dem Krieg eigenen Grausamkeit begangen worden. Davon distanziere er sich heute und schließe aus, daß sie sich jemals in Zukunft wiederholen werden. Er erkannte auch an, daß die Urteile im Prozeß von 1985 die Wahrheit über die angewandten Methoden enthielten (Frankfurter Rundschau, 6.5.1995). Luftwaffenbrigadier Paulik sprach in Gegenwart von Präsident Menem von gravierenden Fehlern beim Vorgehen des Militärs und vom Schrecken, der allerdings von beiden Seiten verbreitet worden sei. Man könne nicht nur eine Seite anklagen. Am weitesten ging Armeegeneral Martin Balza. Er fände keine Worte für die Angehörigen der Opfer, sagte er. "Ich kann ihnen nur Respekt zollen, angesichts des Schmerzes schweigen und anbieten, daß ich alles unternehmen werde, damit sich die Vergangenheit nie mehr wiederholt." Er wandte sich gegen diejenigen, die unmoralische Befehle anordnen und ausfuhren. Auch der Bruch der verfassungsmäßigen Ordnung sei eine Straftat. Einer der hardliner, Armeegeneral (a.D.) Bussi, meinte dagegen: "Nirgends auf dem nationalen Territorium ist gefoltert worden. Man müßte Balza fragen, wo, wann und wie er Folterungen gesehen hat, denn davon weiß ich nichts" (Frankfurter Rundschau, 6.5.1995). Auch der Führer der peronistischen Guerilla (Montoneros), Mario Firmenich, meldete sich zu Wort. Seine Selbstkritik fiel eher bescheiden aus. Seit 1955 hätte sich ein Bürgerkrieg in Argentinien entwickelt, den die Montoneros nicht begonnen hätten. Sie müßten nicht das Verschwindenlassen von irgendjemandem bereuen. Er äußerte keine Kritik an der Ermordung von Expräsident Aramburu, mit der die Gewalteskalation 1970 ihren Anfang genommen hatte.

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Schlußbetrachtung In den ersten Jahren der neuen Demokratie haben hohe argentinische Militärs vor allem vor einem Wiedererstarken der Subversion und des Terrorismus gewarnt. 1993 sprach sich dann jedoch Armeestabschef General Balza für die Konsolidierung des demokratischen Systems und die Beachtung der Menschenrechte aus. Er widersprach einer unreflektierten Gehorsamspflicht und erinnerte daran, daß die Konsequenzen aus der Befolgung von Befehlen beachtet werden müßten. Die Ausführung unmoralischer Befehle lehnte er ab (Clarin, 10.11.1993). Die Stellungnahmen der Stabschefs von Armee, Marine und Luftwaffe zum Krieg gegen die Subversion stellten eine seltene Selbstkritik der Führung der Streitkräfte dar. Zwar lassen sich die genauen Auswirkungen innerhalb des Militärs aus Mangel an Daten (fehlende Umfrage- und Interviewmöglichkeiten) noch nicht genau bestimmen, aber die Erklärungen werden wichtige Konsequenzen haben. Der wichtigste Effekt: Durch sie wird das weitgehend homogene und vom Rest der Gesellschaft isolierte Geschichtsbild des Militärs über seine Rolle bei der Aufstandsbekämpfung nachhaltig in Frage gestellt. Zum ersten Mal war es die eigene Führungsspitze, die die Anwendung illegaler Methoden öffentlich zugab. Damit ist es in Zukunft kaum mehr möglich, den Mythos einer im Kern legalen Aufstandsbekämpfung, bei der es bedauerlicherweise zu einigen Exzessen gekommen sei, aufrechtzuerhalten. Dies ist besonders wichtig angesichts der Tatsache, daß viele Offiziere, die unter der Diktatur niedrige oder mittlere Dienstränge innehatten, heute die Streitkräfte führen (in der Vergangenheit hat sich der Senat nur selten geweigert, den von den Regierungen Alfonsin und Menem vorgeschlagenen Beförderungen seine Zustimmung zu geben). Sollten sich daher die Auffassungen von General Balza unter den Offizieren durchsetzen, so wäre dies ein großer Durchbruch. Eine neue Grundsatzposition könnte sich herausbilden, nach der sich die Streitkräfte in Zukunft der gewählten Regierung unterordnen und sich auch bei einem nicht auszuschließenden innenpolitischen Einsatz an Verfassung und Gesetze halten würden. Letztlich hängt es von Parteien, Kongreß und Regierung ab, ob sich für das Militär neue Interventionsspielräume ergeben.

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Kuno Hauck / Rainer Huhle

20 Jahre Madres de Plaza de Mayo Geschichte, Selbstverständnis und aktuelle Arbeit der Madres de Plaza de Mayo in Argentinien

Plaza de Mayo, 30. April 1977: Eine neue Geschichte beginnt Die Plaza de Mayo mit dem Regierungssitz des Staatspräsidenten ist politisches Zentrum der Millionenstadt Buenos Aires und Ausgangspunkt für jede Besichtigung der Innenstadt. Am 25. Mai 1810 waren dort die ersten Menschenmassen zusammengeströmt, um die politische Unabhängigkeit Argentiniens von Spanien zu feiern. Am 30.4.1977 versammelten sich zum ersten Mal 14 Mütter an diesem historischen Ort, der ihnen ihren Namen geben sollte. Unter ihnen waren die später ermordete Azucena Villaflor de Devincenti und Maria del Rosario Carballeda de Cerruti, die noch heute zu den bekanntesten Sprecherinnen der Madres gehört. Die ersten Orte, an denen sich die Mütter trafen, waren jedoch die Kirchen im Stadtzentrum von Buenos Aires gewesen, da sie sich dort am sichersten fühlten. Bei einem solchen Treffen in der Kirche von Stella Maris ganz in der Nähe des Regierungspalastes schlug Azucena Villaflor (später die erste Präsidentin der Madres) vor, in die Büros der Regierung an der Plaza de Mayo zu gehen. Dies erwies sich als folgenschwerer Schritt. Da an diesem 30.4. alle Geschäfte geschlossen waren, wurde beschlossen, das Treffen auf den nächsten Freitag zu verschieben. Später wurde dann der Donnerstag gewählt, da man meinte, daß der Freitag Unglück bringe. Die Aufforderung eines Polizisten, nicht vor dem Präsidentenpalast stehenzubleiben, sondern sich zu bewegen, war der Auslöser für ihren Rundgang um die Statue der Justitia, die in der Mitte des Platzes herausragt. "Später beschrieben sie ihren Gang als Marsch und nicht als Rundgang, denn sie fühlten, daß sie auf ein Ziel zugingen" (Guzman Bouvard 1994: 70). Seit 1977 "gehört" am Donnerstagnachmittag um 15.30 Uhr die Plaza de Mayo den Madres.

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Ein Jahr zuvor, am 24. März 1976, war die verfassungsmäßige Regierung von Isabel Perön durch einen Putsch gestürzt worden, und die Militärs übernahmen unter der Führung von General Jorge Videla die Staatsmacht. Sie beendeten damit eine Zeit, in der von verschiedenen Gruppen, vor allem von regierungsnahen paramilitärischen Gruppierungen, bereits äußerst gewalttätiger Terror ausgeübt worden war. "Die Auflösung demokratischer Einrichtungen sollte den Militärs uneingeschränkte und unkontrollierte Machtpositionen in allen gesellschaftlichen Bereichen verschaffen" (Thun 1985:44). Die Ideologie dieser Militärdiktatur war, anders als bei früheren Militärregierungen, offen totalitär. In den Worten eines hohen Militärs: "Dies ist ein Krieg, und wir sind die Gewinner. Sie können sicher sein, wenn im letzten Krieg die Armeen des Reiches gewonnen hätten, hätte der Kriegsgerichtsprozeß in Virginia stattgefunden und nicht in Nürnberg" (Clarin 18.3.1981). Weltweit hat das größte Aufsehen das "Verschwindenlassen" von Tausenden von Menschen erregt, die von zivilgekleideten oder uniformierten Sicherheitskräften verhaftet und in geheime Gefangenenlager verschleppt wurden, wo sie fast immer gefoltert und ermordet wurden. "Die Bühne war frei für eine der schlimmsten Perioden des Terrors und der Menschenrechtsverletzungen in der modernen Geschichte" (Guzman Bouvard 1994: 24). Nach jahrelangem systematischem Schweigen werden heute allmählich die grausigen Einzelheiten dieser Maschinerie des "Verschwindenlassens" durch Geständnisse einzelner Täter bekannt (vgl. Verbitsky 1995). Allgemein wird die Zahl der "verschwundenen" Personen von argentinischen Menschenrechtsorganisationen auf 30.000 geschätzt, obschon im offiziellen Bericht der CONADEP, der "Nationalen Kommission zur Klärung des Schicksals vermißter Personen" nur 9000 Personen aufgeführt sind. Auch die Madres haben immer darauf bestanden, daß es mindestens 30.000 "Verschwundene" gibt. Diese Zahl ist sicher symbolisch zu verstehen und repräsentiert womöglich eine noch viel längere Liste von Fällen, je nach dem, ab welchem Jahr gerechnet wird. Denn die Methode des "Verschwindenlassens" hat schon in den Jahren 1974/75 mit dem Auftauchen der AAA (Antikommunistische Argentinische Allianz) begonnen. Die Familie eines/einer "Verschwundenen" war den stärksten psychischen Belastungen ausgesetzt. Das tragische Ereignis hat oftmals Zerwürfnisse bis in den Familienkern mit sich gebracht und somit das einzige Rückzugsgebiet des Individuums gegen die Staatsmacht zerstört. Das "Verschwinden" ihrer Kinder war eine Wasserscheide für die Frauen, die die Gruppe der Madres gebildet haben" (Guzman Bouvard 1994: 65). Vorher waren die meisten ganz normale argentinische Hausfrauen gewesen, die sich für Politik nicht mehr interessierten als andere Argentinierinnen. Ironischerweise waren es gerade staatliche Stellen, die dazu beigetragen haben, daß die Madres zusammengekommen sind. Auf den Korridoren von Ministerien und Polizeistationen sind sich die Mütter begegnet und haben miteinander ihre Geschichten verglichen.

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Weiße Windeln als Erkennungszeichen Im September 1977 beschlossen die Madres, an der jährlichen Wallfahrt von Buenos Aires nach Lujän teilzunehmen, um in der Öffentlichkeit auf das Schicksal ihrer "verschwundenen" Söhne und Töchter aufmerksam zu machen. Damit sie sich aber während der Prozession gegenseitig erkennen würden, wurde nach längerer Diskussion beschlossen, weiße Kopftücher zu tragen. In Wirklichkeit waren die ersten Kopftücher Windeln, die die meisten Mütter noch von ihren eigenen Kindern aufgehoben hatten. Nachdem sie in Lujan damit große Aufmerksamkeit erregt hatten, wurde beschlossen, daß dies ihr Erkennungsmerkmal sein sollte. Die weißen Kopftücher sollten auch als Kontrast zur Brutalität des Militärregimes gesehen werden. Ebenso symbolisieren die Kopftücher "Friede, Leben und mütterliche Bindung und repräsentierten die Forderung nach familiärer Verbundenheit und ethischen Werten in der Öffentlichkeit" (Guzman Bouvard 1994: 75).

Drei folgenschwere Monate In den Monaten Oktober bis Dezember 1977 überschlugen sich die Ereignisse für die Madres. Ungefähr 150 von ihnen trafen sich im Oktober außerhalb von Buenos Aires und besprachen, welche weiteren Schritte sie gehen sollten. Es war der Beginn einer zukünftigen Organisationsstruktur. Die Zahl der Madres wuchs ständig an und betrug bis Ende des Jahres ungefähr 300. Trotzdem wurden sie von den Zeitungen weiterhin ignoriert. Ein bedeutender Schritt war, eine Annonce in einer großen argentinischen Zeitung mit den Namen aller bis dahin bekannt gewordenen "Verschwundenen" zu veröffentlichen. So erschien die erste Annonce der Madres am 5.10.1977 mit der Überschrift "Wir fragen nach nichts anderem als der Wahrheit." Auf diese Weise wurde die Existenz der Madres und ihrer Mission im ganzen Land enthüllt, zu einer Zeit, als weder Radio, Fernsehen noch Zeitungen über die "Verschwundenen" berichteten. Die Folgen dieser Bekanntheit sollten die Madres hart treffen. Am 8.12.1977, nach einem Treffen in der Kirche vom Hl. Kreuz, wurden zwei Gründungsmitglieder und eine Nonne verhaftet. Am 10. Dezember, zwei Tage später, wird Azucena Villaflor vor ihrem Haus zusammen mit einer anderen französischen Nonne und einem jungen Künstler entfuhrt. Seitdem wurden sie nicht mehr gesehen. Die Entfuhrungen konnten später mit einem jungen blonden Mann in Verbindung gebracht werden, der sich Gustavo Nino nannte und als Alfredo Astiz erkannt wurde. Alfredo Astiz, ein junger Offizier der Kriegsmarine, hatte sich in die Gruppe, die die Madres unterstützte, eingeschlichen. "Er verriet und lieferte Menschen mit der gleichen Feigheit aus, mit der er während des Krieges um die Falkland-Inseln die Insel Südgeorgien, ohne einen einzigen Schuß abzugeben, 110

an die englischen Truppen übergab. Astiz, später "der Engel des Todes" genannt, wurde unter der verfassungsmäßigen Regierung Alfonsins befördert," kommentierte der Schriftsteller Osvaldo Soriano (1986: 69) diesen exemplarischen Fall. Die nachfolgende Regierung handelte nicht anders. Ende 1993 empörte sich die argentinische Öffentlichkeit über die Beförderung eines weiteren Offiziers, Antonio Pemias, der in die gleichen Morde verwickelt war. Präsident Menem beschimpfte diejenigen, die diese eindeutig bewiesenen Zusammenhänge enthüllten, als "unverschämte Lügner". Die Entfuhrung Azucena Villaflors war ein schrecklicher Schlag für die Madres. Vorbei war der Glaube, älteren Frauen würde nichts geschehen. Vielen wurden jetzt erst die Risiken für sich selbst und ihre Familien bewußt, und es kam vorübergehend zu einem starken Rückgang der Mitgliederzahl. Die Nachfolgerin Azucena Villaflors als Präsidentin der Madres, Hebe de Bonafini, sagt dazu im Rückblick: "Die Kraft, weiterzumachen, haben uns schließlich unsere Kinder gegeben. Wir sind die ersten Mütter, die von ihren Kindern geboren wurden. Wir wollten nicht, daß ihr Blut umsonst vergossen sein würde" (Bruns 1992: 109). 1978 war das Jahr der Fußballweltmeisterschaft in Argentinien. Der größte Teil der Bevölkerung versank für kurze Zeit in einen schönen kurzen Traum, der mit dem Weltmeistertitel endete. Die Militärregierung nutzte die Ausnahmesituation auf ihre Weise. Die Madres wurden mittels Knüppel und Tränengas von der Plaza de Mayo ferngehalten, um zu vermeiden, daß die internationale Presse auf sie aufmerksam wurde. Dennoch schafften es die Madres, die Gelegenheit wahrzunehmen, um die ausländischen Touristen zu erreichen. Hunderte von Postkarten wurden an ausländische Politiker und Journalisten gesandt. Nicht ohne Erfolg: Es kam zur Gründung einer ersten Unterstützergruppe im Ausland durch Liesbeth Den Uyl, der Frau des niederländischen Premierministers. Ende 1978 fand die erste Auslandsreise von Hebe de Bonafini statt, die sie nach Nordamerika und Westeuropa führte und bei der sie mit Politikern und Journalisten zusammentraf. Im Jahr darauf wurde sie in Italien von Staatspräsident Sandro Pertim und dem Papst empfangen. Es folgten Reisen nach Schweden, Nordkorea, Kanada, Australien. Auf ihren Reisen lernten die Madres die Macht der internationalen Aufmerksamkeit kennen, die ihnen Schutz vor Todesdrohungen gab. Die ständige Aktivität gab den Madres Hoffnung und das Gefühl, daß sie ihre Kinder nicht aufgegeben hatten. Nach zwei Jahren Arbeit stellte sich die Frage, ob sie als loser Zusammenschluß von unermüdlichen Müttern weitermachen sollten oder ob sie ihrem Kampf eine breitere Grundlage geben sollten. Es wurde entschieden, in organisierter Form weiterzukämpfen, und am 22.8.1979 wurden die Madres de Plaza de Mayo als Verein registriert. Es wurde eine 11-köpfige Kommission mit Hebe de Bonafini als Präsidentin gewählt. Die folgenden Monate waren gekennzeichnet von einer massiven Zunahme der Gewalt gegen die Madres, die sie zwang, "Blitzlicht-Märsche" zu jeweils wechselnden Uhrzeiten zu organisieren. Erst 1980 wurde die Plaza wieder "zurückerobert".

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Die letzten Jahre der Militärdiktatur Internationale Anerkennung wird den Madres 1980 zuteil, als sie Adolfo Pérez Esquivel (SERPAJ) zur Verleihung des Friedensnobelpreises begleiten und den Friedenspreis des Norwegischen Volkes erhalten. Diese Anerkennung bringt ihnen Einladungen in ganz Westeuropa. Weitere Preise sollten später folgen. Zwei weitere wichtige Schritte zur Stärkung der Organisation werden im gleichen Jahr gemacht: — Es erscheint das erste Bulletin der Madres, gedruckt im Haus von Hebe de Bonafini in La Plata, mit der Überschrift : "Wahrheit — Gerechtigkeit - Friede und Liebe". — Durch die Hilfe einer holländischen Unterstützungsgruppe werden einige kleine Räume in der Straße Uruguay gekauft und das erste Büro eingerichtet. 1981 verschärft sich der Diskurs der Madres gegenüber der Militärjunta und gipfelt im Dezember im ersten ihrer 24-Stunden-Märsche, an dem fast 80 Madres teilnehmen. "Marsch des Widerstandes" wurde er von den Madres genannt, denn es galt, der Diktatur 24 Stunden lang zu widerstehen. Seit dieser Zeit findet einmal im Jahr, im Monat Dezember, der "Marsch des Widerstandes" statt. Die dabei ausgegebenen Leitparolen sind ein Spiegel der Entwicklung der Ausdrucksweise und der zentralen Anliegen der Madres: 1981: 1982: 1983: 1984: 1985: 1986: 1987: 1988: 1989: 1990: 1991: 1992: 1993: 1994: 1995:

"Aparición con Vida" (Rückkehr der "Verschwundenen" als Lebende) "Verurteilung und Bestrafung der Schuldigen" "Gefängnis für die Massenmörder" "Schluß mit dem Militär" "Der Widerstand geht weiter" "Wir weichen nicht zurück" "Gegen den zivilen und militärischen Autoritarismus" "Widerstehen heißt kämpfen" "Wir vergessen nicht, wir vergeben nicht" "Rebellion um zu kämpfen, Mut um weiterzumachen" "Kämpfen immer, zurückweichen niemals" "Solidarität und Kampf oder Hunger und Repression" "Klarer Kopf, solidarisches Herz, kämpfende Faust" "Widerstand und Kampf heute für den Sieg von morgen" "Die Kinder übernehmen den Stab"

Mit dem Beginn des Malvinen-Krieges im März 1982 überrollte Argentinien eine Welle des Nationalismus. Die Madres nahmen nicht an den Solidaritätsbekundungen teil, stellten aber ihre Position klar heraus. "Die Malvinen sind argentinisch, die 'Verschwundenen' auch", erklärte Hebe de Bonafini 1988. Diese konsequente Haltung trug ihnen eine erbitterte Polemik ein, in der sie als "Vaterlandsverräterinnen" beschimpft wurden. 112

Die bedingungslose Kapitulation am 14.6.1982 läutet das Ende der Militäijunta ein, die sich ein Jahr später durch ein Amnestie-Gesetz aller Verantwortung entziehen will. Die Zeit des Übergangs ist von großen Massenkundgebungen gekennzeichnet. Dem Aufruf der Madres folgend, nehmen am 19. August 1983 40.000 Menschen an einem Protestmarsch gegen das Amnestiegesetz teil. Noch am Vorabend der Machtübergabe an den demokratisch gewählten Präsidenten Raúl Alfonsin veranstalten die Madres den letzten Marsch gegen die Militärmacht, bei dem die Silhouetten von 30.000 "Verschwundenen" getragen werden. Zur Amtseinführung von Raúl Alfonsin am 10.12.83 waren die Madres offiziell eingeladen. Sie hatten somit nationale und internationale Anerkennung für ihren Mut und Widerstand erhalten. "Die Madres waren zum Symbol des Widerstands geworden in einem Land, das seine Stimme verloren hatte" (Guzman Bouvard 1994: 126).

Eine große Enttäuschung: Die Madres und die Regierung Alfonsin Nach den Wahlen glaubten viele in Argentinien an eine durchgreifende Wende. Der neugewählte Präsident rief eine "Nationale Kommission zur Klärung des Schicksals vermißter Personen" (CONADEP) unter der Leitung des Schriftstellers Ernesto Sábato ins Leben, die aber keine Befugnis hatte, Zeugen vorzuladen oder Aussagen zu erzwingen. Die Madres waren bitter enttäuscht, lehnten bei ihrem nationalen Treffen eine Zusammenarbeit mit der CONADEP ab und erinnerten daran, daß Sábato 1976 nach einem Mittagessen mit Videla den General herzlich und kultiviert genannt hatte. "Wir haben die CONADEP zurückgewiesen, weil sie nicht vom Volk, sondern von einem Staatsapparat gewählt wurde" (Asociación de Madres de Plaza de Mayo 1988). Die Entscheidung der Madres zeigte, daß die Meinungen darüber, wie die Menschenrechte unter der neuen Demokratie verwirklicht und gesichert werden konnten, sehr unterschiedlich waren. So teilten sich auch die Menschenrechtssorganisationen in zwei Gruppen. Vor allem der "Centro de Estudios Legales y Sociales" CELS (Zentrum für Rechts- und Sozialstudien), die Asamblea Permanente, aber auch ein Teil der Madres hielten es für notwendig, die demokratisch gewählte Regierung zu unterstützen.

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Exkurs: Menschenrechtsorganisationen in Argentinien In Argentinien bestehen neben den Madres eine Reihe weiterer Menschenrechtsorganisationen. Fast alle entstanden während der Zeit der Diktatur. Zwar ist ihnen allen gemeinsam die Orientierung an den Grundprinzipien der Menschenrechtsarbeit als oberstem Kriterium, doch gibt es Unterschiede in Arbeitsform und Schwerpunktsetzungen, die aus den spezifischen Entstehungsbedingungen der einzelnen Organisationen zu erklären sind. Etwa gleichzeitig mit den Madres bildete sich auch eine Gruppe von Großmüttern, die die gemeinsame Suche nach ihren entführten und "verschwundenen" Enkelkindern verband. Da diese Enkel — fast immer waren es Kleinstkinder, bisweilen sogar erst in der Haft geborene Kinder — mit ihren Müttern "verschwunden" waren, waren diese Großmütter also auch Mütter von "Verschwundenen" und gingen mit den Madres auf die Plaza de Mayo. Daher ihr Name: "Abuelas de Plaza de Mayo". Ihre Hauptaktivität besteht bis heute in der Feststellung der Identität dieser Kinder und in juristischen Bemühungen, sie ihren Entfuhrern (die sie teilweise adoptiert hatten) zu nehmen und in ihre wirklichen Familien zurückzufuhren. Anders als die Madres arbeiten sie stark mit juristischen Mitteln. Besonderes Gewicht messen sie der genetischen Untersuchung der wahren Abstammung von adoptierten Kindern bei, sobald der Verdacht besteht, sie seien von Angehörigen der Repressionskräfte, die die Eltern dieser Kinder ermordeten, entfuhrt worden. Eine weitere Selbsthilfeorganisation von Angehörigen der Opfer der Diktatur sind die "Familiares de Desaparecidos y Detenidos por Razones Políticas" (Familienangehörige von "Verschwundenen" und politischen Häftlingen). Sie gründeten sich bereits im Herbst 1976. In "Famiiiares" sind alle Verwandten, nicht nur Mütter vertreten. Auch der "Centro de Estudios Legales y Sociales" (CELS) entstand in engem Zusammenhang mit den Bemühungen von Familienangehörigen, das Schicksal ihrer Kinder aufzuklären. CELS bildete sich 1979 auf Initiative des bekannten Anwalts — und Vaters einer "verschwundenen" Tochter — Emilio Mignone aus einer Arbeitsgruppe der APDH (s.u.) und hat sich vor allem der juristischen Arbeit und der Dokumentation gewidmet. Die "Asamblea Permanente por los Derechos Humanos" APDH (Ständige Menschenrechtsversammlung) wurde Ende 1975, also noch vor der offiziellen Machtübernahme der Militärs, in der Zeit der massenhaften Entfuhrungen und politischen Morde durch die rechtsperonistischen Geheimbünde (insbesondere die AAA = Anti-Kommunistische Allianz) während der Regierung Isabel Peróns gegründet. Von Anfang an waren in der APDH

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prominente Politiker der damaligen Opposition, vor allem der Radikalen Partei, vertreten. Ihre Arbeit war daher immer relativ nah an den offiziellen Institutionen, was einerseits zu hoher Effizienz ihrer Arbeit, andererseits aber auch zu erheblichem Mißtrauen seitens der Opfer und ihrer Organisationen führte, die der Unabhängigkeit der APDH nicht trauten. In den letzten Jahren ist die Aktivität der APDH deutlich geringer geworden. 1994 hat sie Präsident Menem wegen seiner öffentlichen Rechtfertigung der Verbrechen der Diktatur ausgeschlossen. Der "Servicio Paz y Justicia" SERPAJ (Dienst für Frieden und Gerechtigkeit) wurde 1974 von Adolfo Pérez Esquivel, dem Friedensnobelpreisträger von 1980, gegründet und versteht sich als Organisation gewaltloser Friedens- und Menschenrechtsarbeit. Sein Schwerpunkt liegt im erzieherischen und sozialen Bereich. Er hat vielfach eng mit den Madres zusammengearbeitet. Der "Movimiento Ecuménico por los Derechos Humanos" MEDH (Ökumenische Menschenrechtsbewegung) ist ein Zusammenschluß kirchlicher Organisationen verschiedener Konfessionen. Neben Öffentlichkeitsarbeit und Menschenrechtserziehung liegt der Schwerpunkt von MEDH vor allem in der Opferbetreuung (Gefangenenbetreuung, psychologische Hilfe für Familienangehörige aller Opfergruppen). Die wohl älteste argentinische Menschenrechtsorganisation ist die "Liga Argentina por los Derechos del Pueblo" (Argentinische Liga für die Rechte der Völker), die 1937 während der Diktatur von General Uriburu gegründet wurde und in der Tradition der Internationalen Liga für Menschenrechte arbeitet. Sie hat einige hervorragende Menschenrechtsanwälte. Eine besondere Rolle spielt der kleine "Movimiento Judío por los Derechos Humanos" (Jüdische Menschenrechtsbewegung), der immer sehr eng mit den Madres zusammengearbeitet hat, unter denen ja eine relativ große Zahl von jüdischen Frauen sind. Die blutigen Anschläge auf israelische Einrichtungen in Buenos Aires, aber auch die Beschäftigung mit deutschen und argentinischen Nazis sind gemeinsame Arbeitsfelder. Auch Amnesty International ist (seit 1984) in Argentinien aktiv. Es gibt derzeit 20 regionale Arbeitsgruppen. Neben der weltweit üblichen Arbeitsmethodik von AI widmen sich die argentinischen Gruppen auch stark der Menschenrechtserziehung. Neben den mehr oder weniger "generalistischen" Menschenrechtsorganisationen haben auch zahlreiche berufsspezifische Gruppen, teilweise als "Menschenrechtssekretariate" von berufsständischen Organisationen oder Gewerkschaften, wichtige Menschenrechtsarbeit geleistet. Hervorzuheben ist vor allem die professionelle Arbeit von Psychiatern, Ärzten und Sozialarbeitern in der Betreuung der zahlreichen überlebenden Opfer der Repression.

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Der Konflikt spitzte sich bezeichnenderweise an der Losung der Madres "Aparición con vida" (Sinngemäß: "Bringt sie uns lebendig zurück") zu. Etliche Organisationen weigerten sich, an einer Kundgebung der Madres unter dieser Parole teilzunehmen. Schon als die Madres 1981 auf ihrem zweiten "Marsch des Widerstands" mit diesem Slogan an die Öffentlichkeit traten, wurden sie von vielen als verrückt bezeichnet. Tatsächlich jedoch war er eine wohlüberlegte Antwort auf die Politik der Regierung, die das Problem der "Verschwundenen" mit dem Bericht der CONADEP für erledigt betrachten wollte. Die Mütter der "Verschwundenen" wollten sich nicht auch noch zu Müttern von Toten machen lassen, deren Kapitel abgeschlossen ist: "Warum sollen wir Leichen akzeptieren, solange die Mörder ungestraft herumlaufen?" (Guzman Bouvard 1994: 147). Von Anfang an verstanden sich die Madres in der Rolle des Kindes aus dem Märchen "Des Kaisers neue Kleider" (Guzman Bouvard 1994: 132). Bald wurde deutlich, daß es bei den Differenzen mit der Regierung Alfonsin um weit mehr als taktische Fragen ging. Der Großteil der Madres hielt eine grundlegende Transformation der argentinischen politischen Kultur für notwendig. Sie sahen in der Präsenz und dem Einfluß der Militärs auf das politische System das Grundübel, das nur von der Wurzel her beseitigt werden konnte. Sie glaubten, daß es ohne eine radikale Reduzierung der Macht des Militärs keine wahre Demokratie geben würde. So war es nur folgerichtig, daß sich der Streit zwischen den Madres und der Regierung zuspitzte. Die Madres warfen Alfonsin vor, er regiere das Land mit zwei Gesichtern, einem für die Militärs und einem für die Bevölkerung. Alfonsin seinerseits ging so weit, in einem Telegramm an das französische Außenministerium Hebe de Bonafini als Lügnerin zu bezeichnen, "bezahlt vom internationalen Marxismus" (Guzman Bouvard 1994: 156). Die wichtigsten Anlässe für Auseinandersetzungen waren: — der Schlußbericht der CONADEP, der wegen des Weglassens der Namen der Menschenrechtsverbrecher kritisiert wurde; — der Umgang mit den "Verschwundenen". Alfonsin hatte im ersten Monat seiner Regierung Telegramme an eine Reihe von Familienangehörigen geschickt mit dem Inhalt, daß ihre Verwandten tot seien. Diese Tot-Erklärung wurde von den Madres nicht akzeptiert. Ebenso wandten sie sich gegen eine Exhumierung und Identifizierung der Opfer, gegen nachträgliche Ehrungen und gegen die finanzielle Entschädigung der Familienangehörigen; — das Urteil im Prozeß gegen die Militärjunta vom 9.12.85, bei dem zwar führende Köpfe der Diktatur verurteilt, mehrere Generäle aber freigesprochen wurden; — Die Gesetze des "Punto Final" (Schlußpunkt) und der "Obediencia Debida" (Gehorsamspflicht), die zur Einstellung fast aller noch laufender Verfahren wegen Menschenrechtsverletzungen geführt haben. Das wichtigste Ziel der Madres, die Bestrafung der Mörder, wurde nur in einigen wenigen Fällen und für kurze Zeit erreicht. So wurde eine langfristig 116

orientierte Öffentlichkeitsarbeit zu einem wesentlichen Moment der offenen und erbitterten Auseinandersetzungen mit der Regierung Alfonsin und auch mit der seines Nachfolgers. Zum wichtigsten Instrument wurde für die Madres dabei die 1984 gegründete Zeitung "Madres de Plaza de Mayo".

Radikalisierung der Bewegung und Spaltung Die Madres fühlten sich verraten und glaubten nicht mehr, daß die politischen Kräfte ihnen Gerechtigkeit zuteil werden lassen würden. Die Enttäuschung führte zu einer weiteren Radikalisierung der Forderungen, die vor allem am 10. Jahrestag der Gründung der Madres (30.4.1987) mit aller Schärfe in die Öffentlichkeit getragen wurden: "Wir werden nicht von der Plaza weichen, wir werden nicht schweigen, wir werden nicht vergessen, wir werden uns nicht fugen, wir werden nicht vergeben" (Hebe de Bonafini): "Jetzt bleibt keine Wahl: Rückkehr der 'Verschwundenen* als Lebende und Bestrafung der Schuldigen" (El Periodista, No. 139, 1987). Im Verlauf dieser Radikalisierung kam es zu einer Spaltung der Madres. Im Januar 1986 verließ rund ein Dutzend Mütter die Organisation und gründete die Vereinigung "Madres de Plaza de Mayo - Linea Fundadora" (Mütter der Plaza de Mayo — Gründerinnenlinie). Die meisten gehörten zum Kern der Mütter, die von Anfang an dabei waren. Die Mütter, die die "Gründerinnenlinie" bildeten, versuchten ihre Ziele innerhalb des politischen Systems zu verfolgen und nicht als radikale Opposition gegenüber der Regierung. Sie hatten ihr Büro etliche Jahre im MEDH (s. Exkurs). Heute treffen sie sich in den Räumen von SERPAJ (s. Exkurs). Die "Gründerinnenlinie" teilt auch nicht den Protest der Madres gegen die Exhumierung der Opfer (s.u.), sondern begrüßt diese Arbeit als zusätzlichen Beweis dafür, daß die Exhumierten wirklich gefoltert und umgebracht worden sind. Neben den politischen Differenzen war auch Kritik am Führungsstil von Hebe de Bonafini ein wesentliches Motiv für die Trennung.Trotz der Differenzen beteiligen sich aber auch die Mitglieder der "Gründerinnenlinie" an den Märschen jeden Donnerstag auf der Plaza.

Die Madres heute Am 9. Juli 1980 löste der Peronist Carlos Menem Raul Alfonsin als Präsident ab. Eine der ersten Amtshandlungen des neugewählten Präsidenten war die Begnadigung der letzten noch inhaftierten Mitglieder der Militärjunta. So konnte eine heftige Auseinandersetzung der Madres auch mit der neuen Regierung nicht ausbleiben. Auf einer Reise durch Europa mit dem Ziel, eine breite Front gegen die Begnadigung der Militärs zu erreichen, bezeichnet Hebe de Bonafini Präsident 117

Menem als "basura", als Müll, und wurde daraufhin als Vaterlandsverräterin bezeichnet und wegen Beleidigung vor Gericht angeklagt. Schon längst beschränkt sich die Opposition der Madres nicht mehr auf die Frage der "Verschwundenen" und der Todesopfer der Diktatur. Ohne sich vor den Karren einer politischen Partei spannen zu lassen, haben sie immer öfter auch aktuelle Themen aufgegriffen. Daß dazu die nach wie vor gegebenen staatlichen Übergriffe auf Leben und Freiheit der Argentinier gehören, liegt nahe. Kritik an den Zuständen in Gefangnissen, an Folter und anderen Mißhandlungen durch die Polizei oder die Brandmarkung der gerade unter Menem wieder stärker gewordenen Versuche von Pressezensur gehören zu den regelmäßigen Themen der Zeitschrift "Madres de Plaza de Mayo" in den letzten Jahren. Wer die Monatszeitung durchblättert, stellt aber fest, daß die Madres in den letzten Jahren auch als scharfe Kritikerinnen der neoliberalen Wirtschaftspolitik der argentinischen Regierung aufgetreten sind. Sie sehen in diesem Engagement durchaus einen Zusammenhang mit ihrem Kampf gegen die Militärdiktatur, da sie der Überzeugung sind, daß schon einmal ein ähnlicher Wirtschaftsplan "zu 30.000 'Verschwundenen' geführt hat" (Asociación de Madres de Plaza de Mayo 1988). Bei ihren Kundgebungen und in der Zeitung fordern sie folglich die Verwirklichung aller Menschenrechte einschließlich der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte. Aus ihrem Selbstverständnis als Mütter ergibt sich die Sorge um das Wohlergehen aller Kinder, nicht nur der eigenen, "verschwundenen". Diese Sorge drückt sich aus im Interesse an Gesundheitsfürsorge, Erziehung, Vollbeschäftigung, Basisbeteiligung in der Politik und der institutionellen Fortschreibung des Friedens. Die "Mütter der Plaza de Mayo" sind inzwischen auf der ganzen Welt bekannt. Ihr Beispiel hat längst in anderen Ländern, wo es auch "Verschwundene" gibt, Schule gemacht. So demonstrierten Mütter mit weißen Kopftüchern in Kolumbien, Chile, Paraguay, Peru, Uruguay, El Salvador und selbst in Lybien und der Türkei. Delegationen von Müttern von "Verschwundenen" aus Chile, Guatemala, El Salvador, Nikaragua und Honduras besuchen sie in Abständen.

Die "Asociación Madres de Plaza de Mayo" Die "Verschwundenen" der Diktatur sind heute nicht mehr das einzige Motiv, sich den Madres anzuschließen. Unter den neuen Mitgliedern finden sich z.B. Mütter, deren Kinder unter gewaltsamen Umständen ums Leben gekommen sind, sei es bei Fußballspielen, in Discotheken oder beim Militärdienst. Die "Asociación Madres de Plaza de Mayo "zählt heute ungefähr 2.500 Mütter und ist in zahlreichen Untergruppen in ganz Argentinien vertreten. Die Madres werden von einer Unterstützergruppe gefordert, in der sie die Zukunft ihrer Bewegung sehen. Diese Gruppe, die sich u.a. aus Journalisten, Künstlern, Rechtsanwälten, Psychologen, Psychiatern und Medizinern zusammensetzt, ist vor allem für die Herausgabe der Monatszeitschrift "Madres de Plaza

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de Mayo", ihrem wichtigsten Informationsorgan, mitverantwortlich, das ins Englische, Französische und Italienische übersetzt wird. Ein Netz von Unterstützergruppen gibt es in weiteren acht Ländern: in Deutschland, Frankreich, Holland, Italien, Kanada, Australien, Dänemark und Spanien. Wegen ihres Engagements für die Menschenrechte haben die Madres zahlreiche internationale Preise erhalten, u.a. 1992 den "Sacharow-Preis" des Europäischen Parlaments für geistige Freiheit. In Argentinien selbst ist die Arbeit der Madres zur Verbreitung der Menschenrechtsidee auch heute ein großes Ärgernis. Sie sind weiterhin Morddrohungen und Überfallen ausgesetzt. Zu ihren bemerkenswertesten Aktivitäten gehören: — ein Radioprogramm bei einem UKW-Sender in Buenos Aires, jeden Freitag um 9 Uhr. Die Bandbreite der Themen umfaßt die Menschenrechte im engeren Sinn, Politik, Wirtschaft, Arbeiterbewegung, Kultur, Gesundheit, Erziehung und Musik; — ein Seminar an der Juristischen Fakultät der Universität in La Plata mit Vorlesungen von Hebe de Bonafini über Menschenrechte; — Referate und Teilnahme an verschiedenen Diskussionsveranstaltungen im gesamten Land; — ein "Schriftstellerinnen"-Workshop für Mütter, der zur Herausgabe eines Buches führte; — Solidaritätsbriefe, z.B. an Inhaftierte im Hungerstreik, die EZLN in Mexiko, die Israelische Botschaft nach dem verheerenden Bombenanschlag vom Juli 1994; — Öffentliche Stellungnahmen zu aktuellen Themen, wie z.B. der Situation in den Gefängnissen, der Misere der Rentner, der Verfolgung von Homosexuellen, der Todesstrafe.

Das politische Grundverständnis der Madres 1986 schrieb Thomas Scheerer in seinem Nachwort zur deutschen Ausgabe des Berichts der CONADEP "Nunca Más" über die Madres: "Ihre Rolle im öffentlichen Leben Argentiniens ist heute wohl leider als marginal einzuschätzen. Vor allem der Regierung und den parlamentarischen Parteien sind sie ein lästiger und als fanatisch abgetaner Gegner geworden" (CONADEP 1987: 263). Das zweite ist heute so wahr wie damals. Präsident Alfonsin, der Architekt der Nach-Proceso-Demokratie, sagte über die Madres, sie hätten "ein politisches Ziel, das nicht mit den nationalen Interessen übereinstimmt," oder: "Wir können erst dann sagen, daß sie sich innerhalb der Demokratie befinden, wenn sie sich klar gegen die elitäre Vorstellung aussprechen, die beanspruchte, die Macht mittels 119

Terrorismus zu ergreifen." Präsident Menem polemisiert ebenfalls immer wieder heftig gegen die Madres. Die erste Behauptung Scheerers dagegen trifft heute eher noch weniger als damals zu. Die Madres sind immer noch eine politisch-moralische Größe in Argentinien, an der schwer vorbeizukommen ist. Nicht nur die Donnerstagsrunden auf der Plaza de Mayo sind auch nach fast 20 Jahren noch gut besucht. Der jüngste "Widerstandsmarsch" im Dezember 1995 zog mehr Teilnehmer an als in den Jahren zuvor. Sein Motto machte deutlich, daß sich die Madres des Problems bewußt sind, daß ihre ureigenste Rolle irgendwann zu Ende geht: "Los Hijos toman la posta" — "Die Kinder übernehmen den Stab" in einem Stafettenlauf, der noch über viele Runden auszutragen ist.

Die Politik des Unpolitischen — oder: die Kraft der Unabhängigkeit Die Madres waren von Anfang an, unter der Militärdiktatur wie unter den beiden folgenden demokratischen Regierungen, der Schrecken der Herrschenden, weil sie so konsequent unpolitisch politisch handelten. Dies war keine Pose oder Ausdruck irgendeiner Ideologie, sondern Produkt der Lebensgeschichte der meisten Mütter, die eben nicht aus Familien der politischen Linken kamen, wie etwa die Mehrzahl der chilenischen Mütter, sondern aus "normalen" Familien der Unterund Mittelschicht. Noch 1977 adressierte Hebe de Bonafini einen Brief an 'den Präsidenten, den Mann, den Vater, den Sohn" Videla mit der ganz naiv geäußerten Bitte um Aufklärung (Martin 1989: 88). Ihr politischer Lernprozeß geschah als familiärer Lernprozeß: durch die Lehren der eigenen Kinder und dann durch die schrecklichen Lehren, die sie bei der Suche nach ihnen machten. So entwickelte sich ihre unnachgiebige Prinzipientreue, die nie irgendwelche Rücksicht auf realpolitische Erfordernisse nahm. Sie trug ihnen Haß und Ablehnung ein, ist aber auch der Grund dafür, daß das politische Gewicht der Madres immer noch groß ist. Während fast alle "realpolitischen" Projekte des demokratischen Argentinien in den Jahren seit 1983 mehr oder weniger gescheitert sind, viele nicht mehr existieren, sind die Madres wegen ihrer "Sturheit" nach wie vor ein Faktor in der öffentlichen Meinung und im politischen Leben Argentiniens. Sie stören mit inrer ausschließlich an politischer Moral orientierten politischen Logik die Logik der Macht so sehr, daß Präsident Menem gegen die Vorsitzende der Madres, Hebe de Bonafini, einen Zivilprozeß wegen Beleidigung fuhrt. Die Madres gehörten aus dieser Prinzipientreue heraus auch zu den ganz wenigen Gruppen in Argentinien, die sich nicht von der nationalistischen Welle während des Malvinen-Kriegs mitreißen ließen, sondern das Manöver scfort durchschauten und auf der Frage der Menschenrechte und der Aufklärung des Schicksals der "Verschwundenen" insistierten. Während viele politische Organisationen — bis hinein in die Menschenrechtsorganisationen - mehr oder weniger der nationalistischen Welle folgten, bewiesen die Madres ihre vollkommene Unabhängigkeit von politischen Konjunkturen und damit letztlich eine hoch120

politische Konsequenz. In einem Manifest des gleichen Jahres stand ein Satz, in dem sie dies selbst sehr klar umrissen: "Wir Madres kämpfen nicht um irgendeine Macht, wir gehen auf die Straße, um das Leben zu verteidigen, Anfang und Ende aller Rechte. Wir haben keine ideologische, soziale oder religiöse Fahne" (Martin 1989: 93).

Beispiel Exhumierungen Dem Nazi-Vorbild von "Nacht- und Nebelaktionen" folgend, hatten die argentinischen Militärs die Technik des Verschwindenlassens von Gefangenen zu grausiger Perfektion entwickelt. Nach dem Ende der Diktatur war die Aufklärung des Schicksals dieser "Verschwundenen" nicht nur eine Forderung, sondern ein tiefes Bedürfnis in weiten Teilen der argentinischen Bevölkerung. Alle Menschenrechtler waren sich darin einig. Unterschiedliche Ansichten und Hoffnungen gab es über das wahre Schicksal dieser "Verschwundenen". Viele Angehörige hegten die Hoffnung, sie seien noch am Leben. Die Madres selbst baten bei ihrem ersten Besuch den neugewählten Präsidenten Alfonsin, er möge alles tun, "die Freilassung der Personen zu gewährleisten, die als "verschwunden" gelten und irgendwo im Land gefangengehalten sein könnten" (Scheerer in CONADEP 1986: 262). Andere teilten diese Hoffnung nicht und gingen davon aus, daß ihre Angehörigen tot waren, so z.B. Emilio Mignone, Rechtsanwalt, Vater einer "verschwundenen" Tochter und Präsident der Menschenrechtsorganisation CELS (Cohen 1992: 52). Das Problem war, daß die letztere Meinung mit der offiziellen Ansicht übereinstimmte und damit Gefahr lief, auch der offiziellen Politik des "Begrabens" der "Verschwundenen" Vorschub zu leisten. Die Militärs hatten in einer Erklärung kurz vor ihrem Abtreten in einer offiziellen Botschaft an die Nation erklärt, daß die "Verschwundenen", so weit sie nicht untergetaucht oder im Ausland seien, als im Kampf getötet zu gelten hätten. Auch Politiker der neuen Regierung tendierten in diese Richtung. Die Madres wehrten sich gegen diese zynische Für-tot-Erklärung ihrer Kinder, ohne daß deren Schicksal und die Verantwortlichkeiten wirklich aufgeklärt würden. Ihre Haltung wurde in diesem Punkt von allen Menschenrechtsorganisationen und auch von einem Teil der demokratischen Opposition geteilt. Was lag also näher, als der Wahrheit auf die Spur zu kommen, z.B. indem man den Hinweisen auf verborgene Gräber von "Verschwundenen" nachging. Dies geschah ab 1984 auf Betreiben vor allem der "Abuelas de Plaza de Mayo" und führte zur Identifizierung einer Reihe von "Verschwundenen" als Tote. Für alle Menschenrechtsorganisationen außer den Madres war dies ein wichtiger und legitimer Weg - der im übrigen von offizieller Seite nicht oder nur halbherzig unterstützt wurde —, der Forderung nach Aufklärung des Schicksals der "Verschwundenen" nachzukommen. Die Madres dagegen wandten sich gegen die Exhumierung. In einem berühmt gewordenen Zwischenfall im März 1985 auf dem Friedhof von Mar del Plata protestierten sie eines Tages lautstark gegen eine solche Exhumierung eines Leichnams, der die betreffende Mutter nicht zugestimmt 121

hatte (Cohen 1992:166f; Guzman Bouvard 1994:149f), und erreichten immerhin, daß danach Exhumierungen nur noch nach Zustimmung der Angehörigen vorgenommen wurden. Die entschiedene Ablehnung jeder Exhumierung durch die Madres war schwer vermittelbar und isolierte sie von allen anderen Organisationen. Die Gründe für ihre Haltung waren vielschichtig. Eine Mutter hatte z.B. im November 1984 ein Paket mit Leichenteilen zugestellt bekommen samt einem anonymen Drohbrief, in dem erklärt wurde, man habe ihre Tochter getötet. Das Schreiben nahm ferner auf die Suche der Mutter nach ihrer Tochter mit dem Satz Bezug: "Wir haben entschieden, ihnen einen Teil von dem, was von ihr übrigblieb, zu schicken. So wird Ihre Sehnsucht endlich befriedigt werden, Ihre Tochter vor dem von Jehova vorgesehenen Termin wiederzusehen." Gipfel des Zynismus war, daß sich die Leichenteile als die eines fremden Mannes herausstellten (Cohen 1992: 86f). Solche Erlebnisse waren ein Grund, warum die Madres sich weigerten, "Leichen in Empfang zu nehmen." Sie sahen in den Exhumierungen aber auch eine politische Strategie, das Verschwundenenproblem aus der Welt zu schaffen, sie von Müttern von "Verschwundenen" zu Müttern von Toten zu machen. Daher ihre elementare Forderung nach "lebendigem Wiedererscheinen" der "Verschwundenen". Für sich genommen, erschien diese Haltung den meisten unlogisch, widersinnig. Sie widersprach sogar den spontanen Gefühlen vieler Familienangehöriger, die die Gewißheit des Todes ihrer Angehörigen wollten, um endlich um sie trauern zu können. Hinter der Forderung nach "lebendigem Wiedererscheinen" steht letztlich der Wille, sich nicht mit Toten abspeisen zu lassen, die psychische Spannung der Ungewißheit um das Schicksal der "verschwundenen" Kinder als Quelle der eigenen Kraft zu erhalten, so lange bis das Problem der "Verschwundenen" nicht nur kriminologisch, sondern auch politisch gelöst ist. Und diese politische Lösung kann nur sein: Bestrafung der Täter und aller politisch Verantwortlichen. Die Toterklärung der "Verschwundenen", so empfinden es die Madres, soll ein Schritt zu einer falschen Aussöhnung sein. Es ist auf existentieller, familiärer Ebene der gleiche Kampf gegen den Schlußpunkt, wie er auf politischer Ebene gegen das Schlußpunktgesetz (d.h. die Festschreibung der "Straflosigkeit") gefuhrt wurde. Aus diesem Zusammenhang leiteten die Madres ihre Selbsteinschätzung als starke Mütter ab (was wohl implizit die anderen für schwach erklärte), die letztlich unbesiegbar blieben, solange sie an ihren Prinzipien festhielten. Diese Betonung ihrer Mütterlichkeit und der daraus resultierenden Verantwortung wird von Feministinnen kritisiert, die eine "gesellschaftsverändernde Mütterlichkeit" ablehnen. Daß sie auch von Seiten der patriarchalischen Macht als Pervertierung der Mutterrolle kritisiert wird, dürfte nicht überraschen. "Ich kann mir die Jungfrau Maria nicht schreiend, protestierend, Haß versprühend vorstellen, als man ihr ihren Sohn, unseren Gott, entriß", wird ein Heeresoffizier zitiert (Guzman Bouvard 1994: 184).

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Beispiel Entschädigungen Aus der Ablehnung des Politischen durch das Unpolitische, aus der Konfrontation des Staates mit dem, was er vielen Familien angetan hatte, entwickelte sich allmählich ein neuer, umfassender politischer Begriff von Familie bzw. auch umgekehrt ein neuer Begriff von Politik (nach der Logik dieser verallgemeinerten Familie). So wie die Ablehnung von Exhumierungen beinhaltet auch die Kritik an Entschädigungszahlungen vor allem eine Ablehnung der Vereinzelung von Familienschicksalen. Die Madres verstehen sich als die Mütter aller "Verschwundenen", ja aller Verfolgten. Maria del Rosario de Cerruti, eine der prominenteren Sprecherinnen der Madres, nannte es die "Sozialisierung meiner Mutterschaft." Letztlich kann das familiäre Problem der "Verschwundenen" für die Madres nur gelöst werden, wenn es für alle gelöst wird, d.h. wenn es zu einer umfassenden politischen Veränderung, einer wirklichen Revolution der Verhältnisse kommt. So wird aus der radikalen Famiiiarisierung des Politischen eine radikale Politisierung des Familiären. Der - vielleicht in irgendeiner Schicht der Seele doch als aussichtslos empfundene — Kampf um das "lebendige Wiedererscheinen" der Kinder erfährt seine Überhöhung in dieser Verallgemeinerung zum Kampf der Mütter aller für die Kinder aller. Die Entstehung neuer sozialer Bewegungen unter der Jugend verstehen die Madres konsequenterweise als "Mehrfachgeburten", gewissermaßen als politische Mutterschaften. Dem gegenüber stand immer wieder der Standpunkt von Müttern, die — aus der Sicht der Madres — diese Schritte zur symbolischen Mutterschaft aller, zur politischen Mutterschaft, nicht nachvollzogen hatten und gewissermaßen beim Ausgangspunkt blieben: bei der Sorge um die Probleme ihrer eigenen Familie. Die Frage spitzte sich z.B. zu bei den von der Regierung Alfonsin angebotenen Entschädigungen für die Angehörigen der "Verschwundenen". Die Madres hatten nicht nur den - teilweise durchaus begründeten — Verdacht, daß die Regierung die Mütter mit der Entschädigung zur Anerkennung der Toterklärung ihrer Kinder drängen wollte. Es war auch die Entrüstung über einen Akt, den sie als Versuch verstanden, ihren Widerstand zu kaufen. Und es war ein Sich-Wehren gegen jede Vereinzelung ihrer Schicksale, gegen individuelle Lösungen, die ja ihr Verständnis von kollektiver, sozialer Mutterschaft unterminieren mußten. Es gab aber Mütter, die nicht nur die Entschädigung gut brauchen konnten, sondern sie auch als anerkennenswerten Versuch der Regierung sahen, wenigstens ein Stück Wiedergutmachung zu leisten. So kam es zu Spaltungen. Ahnliche Debatten gab es auch in anderen lateinamerikanischen postdiktatorialen Situationen, wobei aber nirgendwo eine ähnlich radikale Position wie die der argentinischen Madres Gewicht fand. Daß die Annahme bzw. Verweigerung von Entschädigungszahlungen für erlittenes Unrecht immer ein moralisches Dilemma aufwirft, zeigt nicht zuletzt, daß ja unter den NS-Opfern durchaus vergleichbare Debatten stattfanden.

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Beispiel Gedenkstätten Auch die Bemühungen, des Schicksals der "Verschwundenen" durch Ehrungen zu gedenken, wiesen die Madres zurück, selbst in Fällen, in denen die Ehrungen von gänzlich unverdächtiger Seite kamen, z.B. von Studenten, die einen Hörsaal nach einer "verschwundenen" Kommilitonin benennen wollten. Gedenken ist fiir die Madres sinnlos, ja kontraproduktiv, wenn es nicht Ausdruck gegenwartsbezogenen politischen Kampfes ist. Gedenken durch Ehrungen scheint die Assoziation zum Totengedenken und somit zur Toterklärung zu wecken. Die einzig akzeptierte Form ist das Gelöbnis, den Kampf der "Verschwundenen" weiterzuführen (Guzman Bouvard 1994: 155ff). Einer der Grundsätze der Madres heißt: "Es gibt keinen nutzlosen Schmerz" (Oria 1987: 135). "No hay dolor inútil" war auch der Wahlspruch des ersten Kongresses der lateinamerikanischen "Föderation von Familienangehörigen von 'Verschwundenen'" (FEDEFAM) 1981. Und umgekehrt läßt sich dann aus dieser Logik heraus sagen: Schmerz, der keinen Nutzen für die Veränderung der Gegenwart und Zukunft bringt, hat auch keinen Sinn. Die Parole des 15. Widerstandsmarsches im Dezember 1995 "Die Kinder übernehmen den Stab" ist nicht nur die Beschwörung der Fortführung des eigenen Vermächtnisses in die Zukunft, sie erhält ihre ganze Bedeutung erst in diesem Kontext des nützlichen bzw. unnützen Schmerzes.

Die Forderung nach der Bestrafung der Schuldigen In ihrer Ablehnung der impunidad, der Straflosigkeit von Menschenrechtsverbrechen, sind sich die Madres mit ausnahmslos allen Menschenrechtsorganisationen einig. Doch auch hier gibt es Nuancen, die die Argumentation der Madres von anderen abheben. Während viele lateinamerikanische Menschenrechtsorganisationen, insbesondere die stark christlich inspirierten, betonen, daß es beim Kampf gegen die Straflosigkeit gar nicht in erster Linie um Strafe oder um das Einsperren, sondern vor allem um Einsicht, Schuldbekenntnis, Reue und schließlich Versöhnung gehe, verlangen die Madres mit Nachdruck, daß die Mörder und Folterer der Diktatur hinter Gitter kommen. Auf einem ihrer Märsche führten sie ein Kunstwerk in Form eines lebensgroßen Käfigs voller Verbrecher der Diktatur mit. In der Bildunterschrift zu einem Foto dieses Werks hieß es u.a.: "Kunst, um Wünsche darzustellen" (Zeitschrift Madres 127, Januar 1996, S.13). Die Madres betonen, daß es bei der Forderung nach Bestrafung nicht nur um die Feststellung der Schuld von einzelnen Tätern gehe. Es geht ihnen auch darum, den institutionellen Charakter von Schuld und Verantwortlichkeit zu verdeutlichen. Nicht nur einzelne Priester oder Militärs haben Verbrechen begangen, die (katholische) Kirche als Institution ist schuldig, die Armee in ihrer Gesamtheit ist zu einer verbrecherischen Vereinigung geworden. Auf paradoxe Weise machte Hebe de Bonafini diese Position der Madres deutlich, als sie den Stabschef des 124

argentinischen Heeres, General Martin Balza, nach dessen im Namen des Heeres vorgetragenen, aufsehenerregenden Schuldbekenntnis angriff. Während die meisten Beobachter den Mut des Generals lobten und die erstmalige ausdrückliche Ablehnung der Gehorsamspflicht für verbrecherische Befehle durch den Befehlshaber einer Teilstreitkraft als epochemachenden Einstellungswechsel hervorhoben, nannte die Vorsitzende der Madres den General öffentlich einen Mörder und Vertuscher von Verbrechen, was ihr prompt eine weitere Beleidigungsklage eintrug. Soweit öffentlich bekannt ist, war General Balza während der blutigsten Jahre der Diktatur im Ausland. Direkte persönliche Verwicklungen in die Repression sind ihm bisher nicht nachgewiesen worden. Gerade dies dürfte der Punkt für die Vorsitzende der Madres gewesen sein: In einer verbrecherischen Organisation gibt es keine Unschuldigen, jedes Glied einer solchen Institution ist mitschuldig. Der Angriff auf die Institution wird jedoch seinerseits in sehr personalisierter Form gegen den obersten Repräsentanten dieser Institution vorgetragen. Dieses paradoxe Vorgehen kennzeichnet erneut den Primat der moralischen Dimension über die politische Analyse in der Positionsbestimmung der Madres.

Beharrlichkeit, Kooperation, Anarchismus Keine politische oder sonstige organisierte gesellschaftliche Gruppe hat in den letzten Jahren in Argentinien Massen gegen die Politik der Regierung mobilisieren können, weder gegen ihre Wirtschaftspolitik noch gegen die wieder stärker werdende politische Repression und die damit verbundenen Menschenrechtsverletzungen. Auch die Madres nicht. Dennoch sind sie nach wie vor ein wesentlicher politischer Faktor in Argentinien. So sehr ihre "Sturheit" auch Freunde und Partner bisweilen stört, es ist nicht zu übersehen, daß eben diese Eigenschaft ihnen erlaubt hat, als eine der wenigen moralischen Instanzen im Land bestehen zu bleiben. Es ist sicher kein Zufall, daß sich die Madres ganz besonders bitter mit der Katholischen Kirche auseinandersetzen, mit der gesellschaftlichen Instanz, an die gemeinhin besonders hohe moralische Ansprüche gestellt und auch Erwartungen gerichtet werden und deren fuhrende Vertreter gerade in Argentinien so schmählich mit der Diktatur kooperiert haben, wie im Zusammenhang mit den Enthüllungen des Kapitäns zur See Scilingo erneut deutlich geworden ist (Verbitsky 1995). In einem offenen Brief der ausländischen Unterstützergruppen der Madres an den Papst vom Oktober 1995 wird ganz deutlich ausgesprochen, daß in Argentinien die Madres an Stelle der Kirche die Funktion eines ethischen Gewissens der Nation übernommen hätten: "Sie sind die Verteidigerinnen der moralischen und christlichen Werte, die eigentlich die kirchliche Hierarchie verkörpern und predigen sollte. Die langen Jahre der Unbeugsamkeit und des Mutes haben sie zum ethischen Gewissen der Nation gemacht" (Zeitung Madres, Nr. 127, Jan. 1996, S. 6). In einer politischen Kultur, in der — nicht zuletzt dank der programmatischen Undefinierbarkeit des Peronismus — das Hin- und Hergleiten zwischen den 125

verschiedensten politischen Optionen fast selbstverständlich ist, muß diese Beharrlichkeit der Madres besonders befremden. Gleichzeitig erweckt sie aber auch besondere Bewunderung. Die Madres wollen keine "politikfahige Gruppe" sein. Sie suchen keine Bündnispartner, sondern Gleichgesinnte. Die Madres kooperieren nicht, sondern sie akzeptieren Kooperation, wenn es sich um die Unterstützung einer Sache handelt, die in ihren Augen gerecht ist. Dies gilt für sie überall auf der Welt. Auch gegenüber kommunistischen Regimen bewahrten die Madres ihre Prinzipienfestigkeit, Furchtlosigkeit und Unnachgiebigkeit in allen Fragen, die ihnen wichtig sind. Maria del Rosario de Cerruti berichtete über den Besuch einer Delegation der Madres in Nordkorea. Die Madres wollten, wie überall auf der Welt, mit ihren Kopftüchern demonstrieren. Obwohl alle sagten, das ginge nicht, taten sie es. "Die Madres sagen: 'Wenn du es willst, kannst du es.' Und so setzten sie es durch." Maria de Cerruti fugte hinzu: "Dies ist der Anarchismus der Madres. Wenn wir irgendwohin gehen, tun wir, was wir für richtig halten. Wir fragen nicht um Erlaubnis. Für uns gibt es keine Gesetze, keine Etikette, all diesen Quatsch. Wir meinen mit Anarchismus nicht das Töten von Menschen, wir töten niemanden, aber wir werden kämpfen, bis sie uns einsperren, bis zur letzten Minute unseres Lebens" (Guzman Bouvard 1994: 226).

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Rede des Chilenischen Staatspräsidenten Patricio Aylwin an die Nation vom 4. März 1991 anläßlich der Bekanntgabe des von der Kommission "Wahrheit und Versöhnung" erstellten Untersuchungsberichts1 Liebe Mitbürger, heute abend wende ich mich an Sie, um über ein schmerzliches Thema zu sprechen, das noch immer Ursache einer Spaltung unter den Chilenen ist: die Menschenrechtsverletzungen, die in den letzten Jahren begangen wurden. Als ich mein Regierungsamt übernahm, sprach ich davon, daß diese offene Wunde in der Seele unseres Volkes nur dann vernarben wird, wenn es uns gelingt, uns auf der Grundlage von Wahrheit und Gerechtigkeit wieder miteinander zu versöhnen. In dieser Absicht wurde die nationale Kommission "Wahrheit und Versöhnung" geschaffen, in die angesehene Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens von hoher moralischer Autorität berufen wurden mit dem Ziel, alle ihnen bekannt werdenden Vorkommnisse zu dokumentieren, zu sammeln und zu analysieren, um daraus schließlich nach Recht und Gewissen einen Bericht über die schwerwiegendsten Menschenrechtsverletzungen, die in unserem Land zwischen dem 11. September 1973 und dem 11. März 1990 begangen wurden, zu erstellen. Unter 'schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen' wird, dies halte ich hier ausdrücklich fest, in diesem Bericht verstanden: die Fälle der Verschwundenen, der Exekutierten und der zu Tode Gefolterten, für die der Staat die moralische Verantwortung trägt, weil diese Taten von seinen Organen oder von Personen in seinen Diensten verübt wurden, desgleichen auch Entfuhrungen und Anschläge auf das Leben von Menschen, die von Privatpersonen ausgeführt und politisch motiviert waren. Nach neun Monaten mühevoller Arbeit gab die Kommission den vorliegenden Bericht heraus, wie er einstimmig von allen ihren Mitgliedern angenommen und mir am 8. Februar dieses Jahres vorgelegt wurde. In Erfüllung dessen, was ich 1

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Übersetzung aus dem Spanischen Ricarda Nolte.

damals angekündigt habe, bringe ich nun heute das Ergebnis dieser Arbeit der Nation zur Kenntnis. Aus diesem Grund wurde der vollständige Text den höchsten öffentlichen, sozialen und moralischen Instanzen des Landes sowie auch den Massenmedien zugeleitet. Nachdem ich diesen Bericht nun sorgfältig gelesen habe, ist es mir ein Bedürfnis, noch einmal Dank abzustatten an die Mitglieder der Kommission und deren Mitarbeiter für ihren selbstlosen Einsatz, ihre staatsbürgerliche Haltung, ihr Verantwortungsbewußtsein und die Objektivität, mit der sie ihre Aufgabe erfüllt haben. Ich meine, daß ihr wertvoller Beitrag den Dank aller Chilenen verdient.

I. Was steht nun in diesem Bericht? 1. Aufzählung der Fakten Auf den ersten 1.094 Seiten zählt der Bericht nach der Erörterung der ihm zugrundeliegenden Leitideen und der Beschreibung des historisch-politischen und des juristisch-institutionellen Rahmens, innerhalb dessen die Vorkommnisse sich ereigneten, in chronologischer Reihenfolge all diejenigen Fälle auf, bei denen es sich nach Überzeugung der Kommission um eine Verletzung der Menschenrechte handelte und Menschen starben oder verschwunden blieben. Die Opfer werden einzeln aufgeführt und das Geschehen und die Umstände, unter denen es sich zutrug, angegeben. Ausgehend von der Vorstellung, daß es "bestimmte humanitäre Werte gibt, die nicht nur von seiten des Staates, sondern auch von allen politischen Akteuren respektiert werden sollten" und in Übereinstimmung mit dem Dekret, das die Einsetzung der Kommission verfügte, bewertet der Bericht als Verletzung der Menschenrechte "nicht nur solche Taten, die von Organen des Staates verübt wurden, sondern auch die Taten von Einzelpersonen, die unter politischer Vorgabe handelten." Die Aufzählung teilt den vorgegebenen Zeitraum in drei Abschnitte ein: Der erste umfaßt den Zeitraum zwischen dem 11. September und dem 31. Dezember 1973, während dessen es fast im gesamten Land zu einigen äußerst spannungsgeladenen Konfrontationen kam, viele politische Gefangene exekutiert wurden und es die ersten Verschwundenen gab; dem schließt sich die von der DINA beherrschte Zeitperiode an, die bis August 1977 andauerte, in der von einer systematischen Vorgehensweise gesprochen werden kann mit dem Ziel der Auslöschung derjenigen, die die Organisation als politisch gefährlich einstufte, und in der es auch die größte Zahl an Verschwundenen gab. Schließlich folgt der Zeitraum, in dem die DINA durch den CNI ersetzt wurde. In diesen letzten Jahren kam es, nach einer Zeit relativer Ruhe, zu zahlreichen gewalttätigen Aktionen mit tödlichem Ausgang. Dazu zählen Attentate, begangen von bewaffneten Gruppen oder Terroristen, gleichermaßen wie Aktionen zu deren Bekämpfung und schließlich Vorkommnisse in Verbindung mit den von 1983 an stattfindenden Protesttagen. 129

Für jede Zeitperiode werden Art und Ausprägung der Repressionsorgane angegeben, die bevorzugt von ihnen angewandten Vorgehensweisen, die Foltermethoden und die Art und Weise der Exekution ihrer Opfer. Auch werden von Privatpersonen unter Vorgabe politischer Zielsetzung begangene Übergriffe aufgezählt sowie Aktionen politischer Gewalt, bei denen Todesopfer zu beklagen waren. Erwähnung findet auch die Haltung der verschiedensten gesellschaftlichen Akteure angesichts jener Vorfalle: Politiker, soziale Gruppierungen, die Kirche und die Massenmedien. Die Bilanz jener gesamten Zeitperiode ergibt 2.279 Opfer, von denen 164 von der Kommission als "Opfer politischer Gewalt" angesehen werden und 2.115 als "Opfer einer Verletzung der Menschenrechte". Letztere werden ihrerseits unterteilt in: a) durch Organe des Staates oder durch Personen in seinem Auftrag zu Tode gekommenen Personen — durch Kriegsgerichte zum Tode verurteilt 59 — durch Übergriffe während der Protesttage zu Tode gekommen 93 — angeblich auf der Flucht erschossen 101 815 — sonstige Hinrichtungen oder zu Tode Gefolterte Teilsumme 1068 b) Personen, die durch Organe des Staates festgenommen wurden und verschwunden blieben c) Bei von Privatpersonen unter Vorgabe politischer Motive begangenen Attentaten zu Tode gekommene Personen Gesamtsumme

957

90 2115

Der Bericht gibt auch an, daß der Kommission 641 weitere Einzelfalle bekannt sind, über die sie sich noch kein abschließendes Urteil bilden konnte, und sie es deshalb für notwendig erachtet, weitere Untersuchungen anzustellen. Schließlich bringt die Kommission zum Ausdruck, "daß die Justiz angesichts jener Vorfälle nicht energisch genug gehandelt hat" (S. 126), was "unwillentlich, aber dennoch in bedeutendem Maße zu einer Verschlimmerung der Tendenz zur systematischen Verletzung der Menschenrechte führte; und zwar sowohl unmittelbar, da der Schutz der Festgenommenen in den vorgetragenen Fällen nicht gewährleistet war, als auch aufgrund dessen, daß den Repressionsorganen bei Verübung ihrer strafbaren Handlungen zunehmend Straffreiheit sicher zu sein schien" (S. 128).

2. Empfehlungen Auf den 74 folgenden Seiten (von S. 1096-1168) gibt die Kommission gemäß dem bei ihrer Einrichtung erteilten Auftrag "Empfehlungen für Maßnahmen zur 130

Wiedergutmachung und fiir Entschädigungsleistungen, wie sie ihr nach Recht und Gesetz angemessen erscheinen", und sie macht "Vorschläge zur Verabschiedung von gesetzlichen und administrativen Maßnahmen", die ihrem Urteil nach "vorbeugend getroffen werden müssen", um erneute Verletzungen der Menschenrechte zu verhindern oder ihnen vorzubeugen. a) Wiedergutmachung gegenüber den Opfern Nachdem zum Ausdruck gebracht worden ist, daß "das Verschwinden oder der Tod eines geliebten Menschen einen unwiederbringlichen Verlust darstellen", weswegen "zwischen den vorgeschlagenen Maßnahmen und dem Schmerz, der Ohnmacht und den Hoffnungen der Opfer im Grunde keine Relation hergestellt werden kann", so muß doch gesagt werden, "daß moralische und auch materielle Wiedergutmachung eine fiir den Übergang zu einer umfassenderen Demokratie unerläßliche Aufgabe darstellen". Dies vor allem, "wenn man unter Wiedergutmachung ein Bündel von Maßnahmen versteht, das den Anteil des Staates und seine Verantwortung für die Ereignisse und Umstände, die Gegenstand dieses Berichtes sind", anerkennt. Auch wird betont, daß "diese Wiedergutmachung das Anliegen der gesamten chilenischen Gesellschaft zu sein hat. Es muß dies ein Prozeß sein, der, gestützt auf die Wahrheit, zur Anerkennung der vorgelegten Fakten fuhrt, den Opfern ihre moralische Würde wiedergibt und in der Folge den mehr oder minder direkt betroffenen Familien ein besseres Leben ermöglicht.... Der Prozeß der Wiedergutmachung setzt den Mut voraus, sich der Wahrheit zu stellen und Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, er verlangt großherziges Eingestehen der Fehler und die Bereitschaft zu verzeihen, um schließlich dahin zu gelangen, daß die Chilenen wieder zueinander finden" (S. 1096). Auf der Ebene der moralischen Wiedergutmachung schlägt der Bericht vor, "öffentlich den guten Ruf der Opfer wiederherzustellen", wozu Beispiele angeführt werden. Er selbst macht gleichfalls den Vorschlag, ein besonderes Verfahren einzuführen, mit dem Verschwundene für tot erklärt werden können. Die soziale Belange betreffenden Empfehlungen sollen dazu beitragen, sowohl den "moralischen wie den materiellen Schaden wiedergutzumachen, von dem die direkten Angehörigen der Opfer betroffen sind." Zu diesem Zweck schlägt er, neben anderen Maßnahmen, kraft Gesetzes die Zahlung einer einheitlichen Rente vor sowie die Bereitstellung von Mitteln, die diesen Angehörigen eine besondere Behandlung im Gesundheitswesen zukommen lassen, ferner Wiedergutmachungsleistungen im Ausbildungsbereich und bei der Behebung von Wohnproblemen, in einigen Fällen die Erlassung von Schulden sowie die Befreiung vom Wehrdienst, die den Kindern der Opfer gewährt werden soll. In diesem Zusammenhang schlägt der Bericht auch die Einrichtung einer unabhängigen Stiftung öffentlichen Rechts vor, die von einem Gremium angesehenster und geachtetster Persönlichkeiten zu leiten wäre und in der Aufgabe fortfahren sollte, "dem Verbleib der Verschwundenen" nachzuforschen, die Fälle möglicher Opfer zu begutachten, über die die Kommission sich noch kein 131

abschließendes Urteil bilden konnte, die Archive und die Zeugnisse über die Menschenrechtsverletzungen zu registrieren und zu erhalten, Familienangehörigen der Opfer juristischen Beistand und soziale Unterstützung zu leisten sowie weitere Funktionen wahrzunehmen, die das Gesetz vorsieht. Angesichts des schwerwiegenden Problems, "den Verbleib der Opfer" im Falle der "Verschwundenen" wie auch bei "denjenigen, die exekutiert wurden, ohne daß an deren Angehörige die sterblichen Überreste überführt wurden", aufzuklären, wird vorgeschlagen, "das Verschweigen diesbezüglicher Informationen unter Strafe zu stellen", zugleich aber denjenigen, die zur Aufklärung dieser Fälle beitragen, Vertraulichkeit zu garantieren und ihnen im Falle einer Beteiligung die Entbindung von ihrer Verantwortung zuzusagen (S. 1161). b) Vorbeugende Maßnahmen zur Verhinderung erneuter Menschenrechtsverletzungen Nachdem der Bericht klargestellt hat, daß "in dem Zeitraum, in dem jene Menschenrechtsverletzungen begangen wurden, die dringend gebotene Pflicht zur Respektierung der Menschenrechte nicht fest genug im Bewußtsein der Nation verankert war", formuliert er zahlreiche Vorschläge zur Verbesserung der Gesetzgebung des Landes in diesem Bereich. Angestrebt wird auch eine Reform der Justiz, damit diese ihre Rolle als Garantin der persönlichen Grundrechte auch wirklich ausfüllen kann. Desgleichen gibt er Empfehlungen, wie im Bewußtsein der Streit- und Ordnungskräfte der Wert der Menschenrechte fest verankert werden kann mit der daraus folgenden Verpflichtung, deren Achtung bei der Ausübung der jeweiligen Funktionen stets zu gewährleisten. Schließlich wird die Schaffung einer Institution vorgeschlagen, deren Aufgabe es sein soll, die Menschenrechte zu schützen, und die versuchen soll, von der Erziehung der Kinder und Jugendlichen an bis hin zu allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ein kulturelles Klima zu schaffen, in dem die Achtung der Menschenrechte ihren festen Platz hat.

3. Opfer Schließlich enthält der Bericht in einem zweiten, 635 Seiten umfassenden Band in alphabetischer Reihenfolge einen kurzen biographischen Abriß zu jedem einzelnen der 2.279 Personen, die nach Überzeugung der Verfasser als Opfer der Verletzung von Menschenrechten starben, verschwunden blieben oder als Opfer politischer Gewalt ums Leben kamen, unter ihnen auch 132 Mitglieder der Streitoder Ordnungskräfte. Bis hierhin reicht nun die Zusammenfassung der Ergebnisse des Berichts. Hoffen wir, daß alle ihn lesen und darüber nachdenken werden. Ich lade Sie alle ein, dies zu tun.

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II.

Notwendige Überlegungen

Erlauben Sie mir nun, einige Überlegungen mit Ihnen zu teilen, die mich in meinem Bewußtsein als Mensch, als Chilene und als Präsident der Republik bei der Lektüre dieses Berichts wie auch beim Austausch von Meinungen zu diesem Thema mit Personen, die die verschiedensten Bereiche unseres Vaterlandes repräsentierten, zutiefst bewegt haben.

1. Das Thema der Wahrheit Die Verpflichtung zur Wahrheit ist die Grundlage allen menschlichen Zusammenlebens. Dies gilt für die vielfaltigsten Bereiche des sozialen Lebens, vom familiären Bereich angefangen bis hin zur Weltgemeinschaft. Die Wahrheit muß innerhalb von familiären Beziehungen gleichermaßen Gültigkeit haben wie im Schoß der Nationen und in den Beziehungen zwischen ihnen. Wo die Wahrheit nicht respektiert wird, bleibt das Vertrauen in die Menschen erschüttert, dann kommt es zu Zweifeln, zu Abwertungen, und demzufolge zu Haß und zur Versuchung der Gewalt. Die Lüge ist der Wegbereiter der Gewalt und unvereinbar mit dem Frieden. In bezug auf die Verletzungen der Menschenrechte in unserem Land wurde die Wahrheit lange Zeit verschwiegen. Während einige sie öffentlich anklagten, leugneten sie andere, die davon wußten, ab, und diejenigen, die sie hätten untersuchen sollen, taten dies nicht. So erklärt sich, daß viele, vielleicht sogar die Mehrheit, dies einfach nicht wahrhaben wollten, und diese Diskrepanz wurde zu einem erneuten Faktor der Spaltung und des Hasses unter den Chilenen. Der Bericht, den ich heute der Öffentlichkeit übergebe, deckt die Wahrheit auf. Durch die in dem Bericht vorgelegten Beweise und das Gewicht seiner Autoren — viele von ihnen Anhänger und Mitarbeiter des vorherigen Regimes - muß diese Wahrheit von allen akzeptiert werden. Niemand wird sie mehr guten Glaubens abstreiten können. Damit will ich nicht sagen, daß es sich um eine "offizielle" Wahrheit handelt. Der Staat hat nicht das Recht, eine Wahrheit "aufzuzwingen". Aber ich bin von ihr überzeugt, und ich rufe alle meine Landsleute dazu auf, sie anzunehmen und in Zukunft danach zu handeln. Wenn diese Wahrheit von allen geteilt wird, dann wird sie, so grausam und schmerzlich sie auch sein mag, dazu beitragen können, den Streit und die Spaltung unter den Chilenen überwinden zu helfen. Die Anerkennung dieser Wahrheit ist unabhängig von dem Urteil, das sich jeder einzelne über die politischen Ereignisse dieses Zeitraums oder die Legitimität des 11. September 1973 bilden mag. Darüber wird die Geschichte urteilen. Aber welches Urteil in dieser Frage auch immer gefallt werden mag, so wird doch die Tatsache nicht aus der Welt zu schaffen sein, daß die Menschenrechtsverletzungen, die dieser Bericht beschreibt, begangen wurden. So wird dort versichert, "daß die Situation des 11. September 1973 und die daraus sich ergebenden Folgen ganz

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objektiv die Menschenrechte in Gefahr brachten und Übergriffe wahrscheinlicher machten, wenn dies auch keinesfalls gerechtfertigt war" (S. 24). Auch geht es nicht an, um diese Wahrheit abzuleugnen oder zu verkennen, vom Vorhandensein eines vermeintlichen "inneren Kriegszustands" zu sprechen, der vorgelegen haben soll, noch von der Notwendigkeit, das Vaterland gegen den Terrorismus zu verteidigen. Wir alle wissen — und der Bericht bestätigt dies — daß die Streit- und Ordnungskräfte rasch die Kontrolle über das gesamte Land erlangten, dies war zumindest nach ein paar Tagen der Fall. Auf der anderen Seite hat auch der Krieg seine Gesetze, und nichts berechtigt dazu, Gefangene zu foltern und zu exekutieren, noch ihre sterblichen Überreste einfach verschwinden zu lassen.

2. Das Thema des Verzeihens und der Versöhnung Viele meiner Landsleute denken, daß es nun endlich Zeit sei, unter das Geschehene "einen Schlußstrich zu ziehen". Um das Wohl Chiles willen sollten wir, statt in die Vergangenheit, die uns trennt, in die Zukunft schauen, die uns aufs neue vereint. Noch haben wir, wenn wir eine wahrhaft demokratische Gesellschaft aufbauen, Fortschritt und soziale Gerechtigkeit erzielen wollen, zu vieles zu leisten, um unsere Kräfte dabei zu vergeuden, in Wunden zu rühren, die doch nicht zu heilen sind. Rufen wir uns doch die Worte in Erinnerung, die Seine Heiligkeit, Johannes Paul II., während seines Besuches zu uns sprach: "Chile ist aufgerufen zur Verständigung, nicht zur Konfrontation. Man kann nicht damit fortfahren, die Gräben zu vertiefen. Dies ist die Stunde der Vergebung und der Versöhnung." Wer könnte nicht dieses Anliegen teilen? Um es indessen verwirklichen zu können, muß man jedoch zunächst einmal klarstellen, wer diejenigen sind, denen Unrecht angetan wurde und die aufgerufen sind zu verzeihen, und wer diejenigen, die Unrecht getan haben und denen verziehen werden muß. Ich kann nicht stellvertretend für einen anderen das Verzeihen übernehmen. Vergeben kann nicht durch ein Dekret erzwungen werden, sie verlangt die Bereitschaft zur Reue auf der einen und Großherzigkeit auf der anderen Seiten. Wenn es im Auftrag des Staates Handelnde waren, die soviel Leid verursachten, und wenn die dafür eingesetzten Organe des Staates nicht willens oder in der Lage waren, dies zu verhindern oder zu bestrafen, und wenn hinzukommt, daß auch die eigentlich notwendige gesellschaftliche Reaktion, die dies hätte verhindern können, ausblieb, dann tragen notwendigerweise Staat und Gesellschaft in ihrer Gesamtheit die Verantwortung, und zwar, weil sie einerseits handelten und andererseits das Handeln unterließen. Die gesamte chilenische Gesellschaft ist gegenüber den Opfer der Menschenrechtsverletzungen in der Schuld. Aus diesem Grunde verteilen sich die Vorschläge zu moralischer und materieller Wiedergutmachung auf alle gleichermaßen. Aus dem gleichen Grund nehme ich es auf mich, in meiner Eigenschaft als Präsident der Republik als Vertreter der gesamten Nation zu sprechen und in unser aller Namen die Angehörigen der Opfer um Verzeihung zu bitten. 134

Und aus eben diesem Grund bitte ich die Streit- und Ordnungskräfte und alle diejenigen, die an den begangenen Exzessen beteiligt waren, feierlich darum, ein Zeichen zu setzen, anzuerkennen, wieviel Leid verursacht wurde und daran mitzuarbeiten, dieses Leid vermindern zu helfen. Das chilenische Volk hat seinen Streit- und Ordnungskräften immer Wertschätzung entgegengebracht. Man bringt sie in Verbindung mit dem Ruhm des Vaterlandes, mit der Tapferkeit der Chilenen und auch mit selbstlosen Aktionen im alltäglichen Leben wie bei Not- und Katastrophenfallen. Die Bereitschaft zur Versöhnung in einem wahrhaft geeinten Chile erfordert es, die Hindernisse, die den Blick auf dieses Urteil heute noch verstellen, endlich beiseite zu räumen. Wir alle müssen dazu beitragen. Bei mehr als einer Gelegenheit habe ich zum Ausdruck gebracht, daß es mein höchstes Streben als Regierender ist, die nationale Einheit in einem demokratischen Chile zu erreichen. Dieses Ziel verlangt von uns allen und von jedem einzelnen eine große Anstrengung, um sich in den anderen hineinzuversetzen und zu versuchen, einander zu verstehen, demütig zu sein beim Eingeständnis der eigenen Fehler und Grenzen wie auch Großherzigkeit zeigen zu können, wenn es um die Fehler der anderen geht.

3. Das Thema der Gerechtigkeit Gerechtigkeit ist die höchste der sozialen Tugenden und die unerläßliche Grundlage des Friedens. Aber wir wissen auch, daß durch die dem Menschen eigenen Beschränkungen die vollkommene Gerechtigkeit ein unerreichbares Gut in dieser Welt darstellt, was nicht verhindert, daß wir alle immer nach größtmöglicher Gerechtigkeit streben. Gerechtigkeit bedeutet nicht Rache, sondern schließt sie im Gegenteil aus. Ein Verbrechen wird nicht wieder gutgemacht noch bestraft, indem man zu diesem Zwecke ein anderes begeht. Niemand hat das Recht, seinem Nächsten Schaden zuzufügen, noch viel weniger die Berechtigung, unter dem Vorwand der Gerechtigkeit sich an fremdem Leben zu vergreifen. Wer dies tut, begeht gleichfalls ein Verbrechen gegen die Menschenrechte und verdient größte soziale Ächtung. Wenn man Selbstjustiz zuläßt, ersetzt man das Recht durch Gewalt, und das Gesetz des Stärkeren siegt über Vernunft und Gerechtigkeit. In diesem Thema der Menschenrechtsverletzungen hat die Klärung und das Annehmen der Wahrheit, wie sie aus dem Bericht zu entnehmen ist, ganz wesentlich Anteil daran, den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Auch ist es wichtig, daß Recht gesprochen wird, daß die moralische Rehabilitierung der Opfer stattfindet und daß die Wiedergutmachungsleistungen an die Angehörigen, die der Bericht vorschlägt, in Kraft treten. Aber dies reicht nicht aus. Der Wunsch nach Gerechtigkeit erfordert auch, daß der Verbleib der Verschwundenen geklärt und persönliche Verantwortlichkeiten festgestellt werden. Was das erste betrifft, so ist die in diesem Bericht enthaltene Wahrheit unvoll135

ständig, da die Kommission in der Mehrzahl der Fälle der Verschwundenen wie bei den Hingerichteten, deren sterbliche Überreste nicht an die Angehörigen übergeben wurden, keinerlei Möglichkeiten fand, deren Verbleib aufzuklären. Was die Feststellung der Verantwortlichkeiten betrifft, so ist dies eine Aufgabe, die in einem Rechtsstaat den Gerichten zukommt und die in Übereinstimmung mit den geltenden Gesetzen und mit den Garantien eines rechtsstaatlichen Verfahrens in Angriff zu nehmen ist. Die Kommission "Wahrheit und Versöhnung" konnte diesen Aspekt nicht näher vertiefen, da das Dekret, das sie ins Leben rief, ihr zugleich aufgrund der eindeutigen Gebote der Verfassung diese Befugnis vorenthielt. Im einen oder anderen Fall hat die Kommission die entsprechenden Untersuchungsergebnisse bereits den dafür zuständigen Gerichten zugeleitet. Ich hoffe, daß diese ihre Funktion in angemessener Weise erfüllen und die Untersuchungen in vollem Umfang zu Ende fuhren, wobei meiner Auffassung nach das geltende Amnestiegesetz kein Hindernis sein kann.

4. Terrorismus und Gewalt Die hier dargelegten Kriterien sollten indessen von niemandem als Zeichen der Toleranz oder Schwäche im Kampf gegen den Terrorismus gewertet werden. Meine Regierung hat entschieden, mit aller Kraft dem Terrorismus und jeder Form von Gewalt, von wem auch immer sie ausgeht, den Kampf anzusagen. Von großer Bedeutung ist es, auch wirklich wirksame Methoden der Bekämpfung anzuwenden, um dem ein fiir allemal ein Ende zu setzen. Die in anderen Ländern gemachte Erfahrung lehrt, daß die Wege des Rechts hierbei weitaus größere Wirkung erzielen als die simple bewaffnete Konfrontation. Auch weigern wir uns entschieden zu akzeptieren, daß es zur Bekämpfung des Terrorismus, der in anderen Nationen geächtet wird, eben weil er gegen die Menschenrechte verstößt, unerläßlich sein soll, Methoden anzuwenden, die ganz ähnliche Menschenrechtsverletzungen nach sich ziehen. Dies auch schon deshalb, weil jene Methoden, abgesehen davon, daß sie aus moralischer Sicht inakzeptabel sind, in der Praxis dazu verhelfen, die Spirale der Gewalt immer weiter zu drehen.

III.

Entscheidungen

Angesichts des hier vorliegenden Berichts, dessen Ergebnisse ich hier kurz zusammengefaßt habe, unter Berücksichtigung der vorangestellten Überlegungen und mit dem Ziel, mit größtmöglicher Verantwortung, Effizienz und mit Hilfe rascher Entscheidungen den aus den Menschenrechtsverletzungen resultierenden Problemen zu begegnen, halte ich es für notwendig, die im nachfolgenden erläuterten Maßnahmen zu treffen:

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1.

Ich rufe eindringlich alle meine Landsleute dazu auf, die Wahrheit, wie sie in diesem Bericht enthalten ist, zu akzeptieren und ihr Verhalten danach auszurichten.

2.

In Übereinstimmung mit den Empfehlungen des Berichts gebe ich öffentlich und in feierlicher Weise den Opfern ihre Würde als Menschen wieder, die entwürdigt wurden, als man sie eines Vergehens bezichtigte, das ihnen nie bewiesen wurde, und ihnen sowohl die Gelegenheit als auch die geeigneten Mittel absprach, sich zu verteidigen.

3.

Im Verlauf dieses Monats wird die Regierung dem Kongreß einen Gesetzentwurf vorlegen, mit dessen Hilfe die Vorschläge des Berichts in bezug auf eine einheitliche Rentenzahlung zur Wiedergutmachung an die direkten Angehörigen der Opfer, die Einfuhrung eines Verfahrens, das es ermöglicht, Verschwundene für tot erklären zu lassen, weitere Leistungen im sozialen Bereich sowie die Schaffung einer Institution öffentlichen Rechts, die sich mit den im Bericht angegebenen Aufgaben näher befassen soll, konkretisiert werden.

4.

Am heutigen Tage habe ich dem Obersten Gerichtshof eine Note zukommen lassen, der ich den Text des Berichts anfügte und in der ich darum ersuchte, die zuständigen Gerichte anzuleiten, mit größtmöglicher Sorgfalt die gegenwärtig anhängigen Prozesse in Fragen der Menschenrechtsverletzungen wie auch diejenigen, die unter Berufung auf die Ergebnisse, die die Kommission "Wahrheit und Versöhnung" ihnen übermittelte, noch eingeleitet werden sollten, voranzutreiben. Auch habe ich dem Gericht vergegenwärtigt, daß meiner Auffassung nach das geltende Amnestiegesetz, das die Regierung respektiert, kein Hindernis darstellen sollte, die gerichtliche Untersuchung einzuleiten und Verantwortlichkeiten festzustellen; dies gilt insbesondere für die Fälle der Verschwundenen.

5.

Die Regierung verlangt mittels des Justizministers in Übereinstimmung mit Artikel 26 ff des Strafprozeßrechts die Einschaltung der Staatsanwaltschaft in erster Instanz immer dann, wenn dies erforderlich erscheinen sollte.

6.

Die Oberkommandierenden der Streitkräfte und den obersten Befehlshaber der Carabineros habe ich persönlich um die Mitwirkung der Institutionen, denen sie vorstehen, bei der Feststellung des Verbleibs der Verschwundenen und derjenigen Hingerichteten gebeten, deren sterbliche Überreste nicht den Angehörigen übergeben wurden.

7.

Auch wird die Regierung an die Ordnungs- und Sicherheitskräfte besondere Anweisungen ergehen lassen, mit den Gerichten auf das gewissenhafteste zusammenzuarbeiten.

8.

Dem Kongreß wird in nächster Zukunft ein Gesetzesvorschlag vorgelegt werden, der auf den Vorschlägen der chilenischen Sektion zur Schaffung eines Ombudsmanns fußt, die sich die Regierung zu eigen gemacht hat, 137

um die Einrichtung des "defensor del pueblo" (Anwalt des Volkes) zu begründen, dessen Aufgabe es sein wird, darüber zu wachen, daß die Menschenrechte respektiert und umfassend geltend gemacht werden können. 9.

Schließlich wird das Justizministerium in Kürze einen Arbeitsausschuß einsetzen, der die notwendigen Gesetzentwürfe vorbereitet, damit die von der Kommission "Wahrheit und Versöhnung" zum besseren Schutz der Menschenrechte vorgeschlagenen Reformen in unsere Gesetzgebung eingefügt werden können.

Unabhängig von dem oben Dargelegten ergreife ich die Gelegenheit, um anzukündigen, daß, in Übereinstimmung mit einigen der im Bericht gemachten Vorschläge, die Regierung Gesetzentwürfe vorbereitet hat, die die Rechtsprechung verbessern und modernisieren sollen. In dem Wissen, daß zu diesem Bereich ein breiter nationaler Konsens besteht, möchte ich vorschlagen, rasch die notwendigen Übereinkommen zu treffen, damit diese Justizreform demnächst in einer Weise angegangen werden kann, die ihre parlamentarische Diskussion und Annahme in kürzester Frist gestattet.

IV.

Bitte an die Chilenen

Am Ende meiner Ausfuhrungen möchte ich alle meine Landsleute darum bitten, sich mit Mut und Verantwortungsbewußtsein um die Annahme dieser Wahrheit zu bemühen. Denn wir müssen imstande sein, aus unseren Erfahrungen zu lernen, damit niemals mehr etwas Vergleichbares in Chile geschehen kann. Und dies ist eine Aufgabe für uns alle, von der niemand sich ausschließen kann. Sollten hingegen aber Schmerz, Entsetzen und die nur allzu gerechtfertigte Empörung uns zu Haß und Gewalt treiben, würden wir alsbald erneut denselben Weg beschreiten. Dies würde aber den Kampf Bruder gegen Bruder aufs neue entfachen, unsere wiedergewonnene Demokratie zerstören und die Hoffnung auf Frieden zunichte machen, die wir doch alle hegen. Alle Chilenen können indessen sicher sein, daß die Regierung in Übereinstimmung mit den moralischen Prinzipien, die sie leiten, ihre Pflicht erfüllen wird, ohne anderes im Auge zu haben als Gerechtigkeit, Versöhnung und das Wohl des Vaterlandes. Aber dies ist nicht allein Aufgabe der Regierung. Dies gilt gleichermaßen für die anderen Staatsorgane, die Polizei- und Streitkräfte, die Kirche, die sozialen Organisationen, die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit. Sie alle bitte ich um ihre Mitarbeit, damit wir gemeinsam, in Respekt voreinander und mit Hilfe füreinander, mit Verständnis und Großherzigkeit das Notwendige zu tun imstande sind, um die Wunden der Vergangenheit zu heilen und in Gerechtigkeit, Fortschritt und Frieden eine neue Zukunft für Chile aufzubauen.

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Kai Ambos

Zur "Verrechtlichung" der Repression und zur strafrechtlichen Vergangenheitsbewältigung in Chile Während sich die argentinischen Militärs für ihre Verbrechen während der Militärdiktatur nach den jüngsten Enthüllungen schon mehrfach entschuldigt haben, scheinen die chilenischen Streitkräfte, allen voran ihr inzwischen 80jähriger Oberkommandierender, General Augusto Pinochet, nichts zu bedauern. Für Pinochet und seine Gefolgsleute war der Putsch gegen den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende im Jahre 1973 notwendig, um das Land vor dem marxistischen Chaos und dem wirtschaftlichen Ruin zu retten. In einer kürzlich vor dem Rotary Club von Santiago gehaltenen Rede ging Pinochet sogar soweit, seine Herrschaft als "weich"zu bezeichnen, so daß man nicht von einer Diktatur sprechen könne. Weiter äußerte der ehemalige Diktator: "... Wir machten dieses Land anders und größer, und wir erst ließen es in Freiheit ... Es gab andere, die dafür kämpften, den Frieden im Land zu sichern ... und von Terroristen begangene Aggressionen aufzudecken. Ohne jeglichen Beweis sind diese Personen heute im Gefängnis" (zitiert nach Guardian Weekly 17.9.1995). Und dabei genießt Pinochet als "Vater des Wirtschaftswunders" nicht nur im Rotary Club eine überraschende Popularität — wie zuletzt die Feier seines achtzigsten Geburtstags gezeigt hat —, die es ihm und auch seinen Kollegen erlaubt, Kritik an den Streitkräften als Institution wegen der begangenen Menschenrechtsverletzungen selbstbewußt zurückzuweisen. So äußerte etwa Verteidigungsminister Pérez Yoma, daß die Streitkräfte "als Institution nichts mit den Fällen der Festgenommenen und Verschwundenen zu tun haben", es sich dabei vielmehr um "individuelle Exzesse" handele (Informativo Andino 107/Dezember 1995: 6). Freilich sehen sich die chilenischen Streitkräfte auch in einer wesentlich günstigeren Lage als ihre argentinischen Kollegen: Sie haben weder einen Krieg verloren (wie die Argentinier beim Konflikt um die FalklandInseln), noch werden sie mit Enthüllungen im Stile eines Scilingo konfrontiert; schließlich haben sie den demokratischen Übergang auch rechtlich mit einer ihren Einfluß wahrenden Verfassung abgesichert.

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Die "Verrechtlichung" der Repression in der Diktatur Geht man — zugegebenermaßen vereinfachend — von zwei Phasen der Repression (1973-1978 und 1978-1989) aus1, läßt sich eine zunehmende "Verrechtlichung" oder Institutionalisierung der Repression mit Beginn der zweiten Phase feststellen. In der ersten Phase, in der es vor allem um die faktische Eliminierung bzw. Exilierung der politischen Opposition ging2, läßt sich die Repression rechtlich an der Institutionalisierung der Menschenrechtsverletzungen durch die Gründung der Geheimpolizei Dirección de Inteligencia Nacional (DINA) festmachen (Juni 1974)3. Die Selbstamnestie von 1978 setzte dann gleichsam einen rechtlichen Schlußpunkt hinter diese erste Phase und sicherte schon frühzeitig den straflosen Rückzug der Militärs aus der politischen Verantwortung ab. In der zweiten Phase war dann — neben einer selektiven Gewaltanwendung4 — in zunehmendem Maße die Legalisierung der Repression und institutionelle Absicherung der Militärherrschaft über die eigentliche Zeit der formalen Diktatur hinaus zu beobachten5. So bereitete das Militär insbesondere mit der Verabschiedung der neuen Verfassung im Jahr 19806 einen ihm genehmen demokratischen Übergang (transición) vor und sicherte sich seinen Einfluß für die nachdiktatoriale Zeit. Die Verfassung von 1980 sowie die Amnestie von 1978 (u.a. gesetzliche Regelungen7) bilden — mit unterschiedlicher Funktion — bis heute die zentralen rechtlichen Grundlagen in der Diskussion um die Bewältigung der chilenischen Ver-

'

Zu weiteren Repressionsphasen etwa Frühling (1983: 512, 519, 529).

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Zwischen 1973 und 1976 ist von einer Zahl von mindestens 1.800 Toten und von ca. 42.000 Verhaftungen auszugehen. Etwa 20.000 Chilenen sollen in den ersten beiden Jahren nach dem Putsch exiliert worden sein. Zu den Zahlen (aufgrund der Berichte von Menschenrechtsorganisationen) Nolle (1991b: 75-79). Die dort vorgetragenen Schätzungen der Toten zwischen 1973 und 1976 bewegen sich zwischen 1.200 und 30.000 (!). Weitere Nachweise zu den Menschenrechtsverletzungen bei Ambos, 1996: Kap. 2).

3

Näher zur DINA, die im August 1977 durch die Central Nacional de Informaciones (CNI) ersetzt wurde: AW/e (1991b: 84ff); Schmid(\9&9: 1780; Informe de la Comision de Verdad y Reconciliación (1991: 11, 13).

4

Die selektive Gewaltanwendung zeigte sich zum einen in einem deutlichen Rückgang der Opfer politischer Gewaltakte und der "Verschwundenen" und zum anderen in einem Anstieg der Einschüchterungsversuche aktiver Regimegegner, insbesondere ab 1987 (vgl. Nolle 1991b: 78, Tabelle 1/79-84, Tabelle 2).

5

Vgl. Schmid (1989: 179): "The regime increasingly began to use the legal system for repression"; Frühling (1983: 529): "... progressive legal institutionalization of the use of force".

6

Constitución Política de la República de Chile, Diario Oficial de la República de Chile, Leyes anotadas y concordadas, edición especial diciembre 1991 (deutsch in Bustos 1987: 252 ff.). Diese zwischenzeitlich (1989 und 1991) reformierte - Verfassung stammt vom 24.10.1980 und ist am 11.3.1981 in Kraft getreten (kritisch Bustos 1987; Barbero 1988: 119, 129; Comisión Andina de Juristas 1994: 34 ff.).

'

Etwa die staatlichen Sicherheitsgesetze (Leyes de Seguridad del Estado)', vgl. auch Garretón (1992/93).

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gangenheit. Zusammengenommen haben es beide Instrumente den Sicherheitskräften erlaubt, Geschwindigkeit und Qualität des demokratischen Wandels ganz entscheidend mitzubestimmen und in ihrem Interesse zu verzögern.

a) Die Verfassung von 1980 Mit der "Verfassung der Diktatur"8 verfolgten die Militärs im wesentlichen zwei Ziele: die Legalisierung der Repression während der Diktatur und die Sicherung ihres Einflusses nach deren Beendigung. Das erstgenannte Ziel wurde durch eine Reform des Ausnahmezustandsrechts erreicht (Art. 39 f. Verf.). Der Präsident, damals auch der Vorsitzende der Militäijunta, kann verschiedene Ausnahmezustände erlassen9, wobei er nur in einem Fall der Zustimmung des Kongresses bedarf10. Jeder der Ausnahmezustände hat bestimmte menschenrechtlich relevante Rechtsfolgen, doch diente insbesondere der sogenannte unbenannte Ausnahmezustand des 24. Übergangsartikels dem hier interessierenden Zweck einer verfassungsrechtlichen Absicherung der Repression. Er wurde sofort mit dem Inkrafttreten der Verfassung, also im März 1981, erlassen und galt bis zum Ende der Diktatur, also bis März 1989". Unter diesem Ausnahmezustand, der für sechs "erneuerbare" Monate bei Gewalthandlungen gegen die öffentliche Ordnung oder bei Gefahr für den inneren Frieden erlassen werden konnte, hatte der Präsident die Befugnis mittels Exekutiwerordnungen (decretos supremos), — Hausarrest von bis zu 5 Tagen anzuordnen, bei "terroristischen" Akten bis zu 15 Tagen; — die Vereinigungs- und Informationsfreiheit bezüglich neuer Veröffentlichungen zu beschränken;



So der gleichnamige Titel der Untersuchung von Bustos (1987).

'

(1) Den Kriegszustand (estado de asamblea, Art. 39,40 Nr. 1); (2) den Belagerungszustand (estado de sitio, Art. 39,40 Nr.2); (3) den Notstand (estado de emergencia, Art. 39,40 Nr.3); (4) den Katastrophenzustand (estado de catástrofe, Art. 39, 40 Nr.4); (5) den sogenannten unbenannten Ausnahmezustand des 24. Übergangsartikels. Vgl. auch das als Ausfiihrungsgesetz erlassene "Verfassungsorganisationsgesetz der Ausnahmezustände" (Ley Orgánica Constitucional de los Estados de Excepción, Gesetz 18415 vom 14.6.1985,), das nach Ende der Militärdiktatur durch das Gesetz 18.906 vom 24.1.1990 geändert wurde. Näher Barbero( 1988: 120 ff.); Bustos {ml: 191 ff.); Ambos (1996: Kap. 3).

10

Nur beim Belagerungszustand. Im übrigen kann der Kongreß nur eine schwache Kontrolle mittels eines Äußerungsrechts (Art. 40 Nr.2), im Falle des estado de emergencia bzw. catástrofe mittels einer Informationspflicht des Präsidenten (Art. 41 Nr.6) ausüben. In diesen Fällen kann der Präsident jedoch sogar nach der 15. Übergangsbestimmung der Verfassung den Ausnahmezustand alleine ausrufen. Im übrigen ist der — ebenfalls von dieser Verfassung geschaffene — "Nationale Sicherheitsrat" beteiligt (dazu näher weiter unten).

"

Daneben herrschte der estado de emergencia vom 11.9.1973 (Tag des Putsches) bis zum August 1988, der estado de sitio vom 11.9.1973 bis März 1978, November 1984 bis Juni 1985 sowie September 1986 bis Januar 1987 (vgl. Nolle 1991a: 92; Schmid 1989: 180; Barbero 1988: 120 f.).

141

— ein Einreiseverbot oder die Ausweisung von Personen anzuordnen, die eine "totalitäre, auf dem Klassenkampf basierende Doktrin" propagieren, gegen die Interessen Chiles handeln oder eine Gefahr für den inneren Frieden darstellen; — eine bis zu dreimonatige Verbannung anzuordnen. Dabei galten die verhängten Maßnahmen unter diesem (und allen anderen) Ausnahmezuständen grundsätzlich bis zu ihrer Aufhebung; Zwangsexilierung und Einreiseverbot behielten jedoch darüber hinaus Geltung (Art. 41 Nr.7 Verf.). Rechtsschutz war nicht vorgesehen, allenfalls eine Wiedervorlage an die erlassende Stelle. Der ersten demokratischen Regierung des Präsidenten Aylwin ist es zwar gelungen, das beschriebene Ausnahmezustandsregime in der ersten Verfassungsreform des Jahres 198912 etwas menschenrechtsverträglicher zu gestalten, doch blieb der besonders problematische "unbenannte Ausnahmezustand" unangetastet (vgl. näher Ambos 1996: Kap 3). Das Ziel der Aufrechterhaltung des militärischen Einflusses über die Zeit der Diktatur hinaus wurde durch die verfassungsrechtliche Absicherung militärischen Einflusses in Legislative und Judikative erreicht. Zu nennen sind insbesondere folgende Maßnahmen: — Gründung eines Consejo de Seguridad National (Nationaler Sicherheitsrat) als "think tank" zu Problemen der nationalen Sicherheit, aber auch mit darüber hinausgehenden Funktionen13, mit militärischer Stimmenmehrheit (Art. 95 f. Verf.)14. — Sicherung des Amts des militärischen Oberkommandierenden für Pinochet bis zum Jahre 1998 (Art. 93,25 i.V.m 8., 13. und 14. Übergangsbestimmung); — Ernennung statt Wahl von (neun) Senatoren für 8 Jahre durch den Präsidenten (Pinochet), um längerfristig eine konservative Mehrheit im Senat festzuschreiben (Art. 45 i.V.m. 32 Nr. 6)15. — Ernennung von Richtern am Obersten Gerichtshof und am Verfassungsgericht {Corte Suprema de Justicia16, Tribunal Constitucional11), die, sofern vor

12

Vgl. das Verfassungsreformgesetz Nr. 18.825 v. 17.8.1989, in: Diario Oficial de la República de Chile: 51 (Art. 39), 52 f (Art. 41).

"

So wählt er etwa zwei Mitglieder des Verfassungsgerichts (Art. 81 c. Verf.).

14

Er bestand ursprünglich - als stimmberechtigten Mitgliedern - aus dem Präsidenten der Republik, den Präsidenten von Senat und Corte Suprema, den Oberkommandierenden der Teilstreitkräfte und dem Direktor der Carabineros, also vierMilitärs gegenüber drei Zivilisten. Durch das Verfassungsreformgesetz Nr. 18.825v. 17.8.1989 (Anm. 12) wurde zusätzlich der Direktor des nationalen Rechnungshofes hineingenommen, so daß nun den vier Militärs auch vier Zivilisten gegenüberstehen. Ein Verfassungsänderungsentwurf vom 22.8.1995 sah vor, daß der Präsident der Abgeordnetenkammer als weiteres stimmberechtigtes Mitglied in den Consejo einrückt und dem Präsidenten der Republik ein ausschlaggebendes Stimmrecht gewährt wird (Art. 3).

15

So behielten die Konservativen trotz ihrer Wahlniederlage bei den Wahlen vom Dezember 1989 eine Mehrheit von 25 Senatoren (davon 16 gewählt und 9 ernannt) zu 22 Senatoren des demokratischen Bündnisses Concertacíon (Carretón 1992/93: 141).

"

10 der 17 CSJ-Richter wurden noch von der Militärdiktatur ernannt.

142

Inkrafttreten der Verfassung ernannt, auf Lebenszeit, sonst bis zum 75. Lebensjahr im Amt bleiben können (Art. 77 Abs. 2 i.V.m. 8. Übergangsbestimmung). Angesichts dieser Rechtslage ist es nicht übertrieben, wenn der chilenische Jurist und Menschenrechtsexperte Roberto Garretön schreibt, daß es sich beim chilenischen Übergang zur Demokratie um "einen Übergang, der unter der Bedingung der Annahme der vom autoritären Regime aufgezwungenen Regeln gestanden hat" (Garretön 1992/93:141)18 gehandelt habe. So verwundert es nicht, daß den demokratischen Regierungen eine konsequente strafrechtliche Ahndung der Menschenrechtsverletzungen, die während der Diktatur begangen worden waren, bis heute schwerfallt.

b) Die Amnestie von 1978 Diese als Gesetzesverordnung im April 1978 erlassene Amnestie dient laut offizieller Begründung dazu, "die Verbindungen, die die chilenische Nation einigen, zu stärken und dabei heute sinnlose Haßgefühle hinter uns zu lassen... (und wegen) der Notwendigkeit einer eisernen nationalen Einheit"19. Sie amnestiert "Täter, Teilnehmer oder Begünstiger" von Delikten, die während der Dauer des Belagerungszustands zwischen dem 11.9.1973 und dem 10.3.1978 begangen worden waren, sofern gegen die betroffenen Personen kein Verfahren läuft oder sie verurteilt wurden (Art. 1). Die nach dem 11.9.1973 von Militärgerichten Verurteilten werden ebenfalls amnestiert (Art. 2). Die Amnestie findet keine Anwendung auf bestimmte Delikte, die jedoch keine typischen Menschenrechtsverletzungen darstellen20 (Art. 3); weiter nicht auf die Personen, gegen die das Verfahren 192-78 des Militärgerichts Santiago läuft21 (Art. 4). Zusammenfassend wird also eine Art Generalamnestie für alle während des Belagerungszustandes im Kampf gegen die Gegner des Militärputsches begangenen Taten gewährt. Außer Vergewaltigung werden schwere Menschenrechtsverletzungen nicht von der angeordneten Straflosigkeit ausgenommen. Diese Norm steht damit in krassem und offensichtlichem Widerspruch zum völkerrechtlichen Bestrafungsgebot bei schweren Menschenrechtsverletzungen und verletzt insbesondere das "right to an effective remedy" (ausführlicher hierzu Ambos 1996: Kap. 4). Ihre Consejo de SeguridadNational zwei

"

Wie erwähnt (Anm. 13) wählte der militärisch domininierte Richter des Verfassungsgerichts.

"

Zu den zivil-militärischen Beziehungen ausführlich C A / ( 1 9 9 4 : 24 ff.).

äesDecreto-LeyNr. 2191 v.

18.4.1978, in:

Diario Oficial Nr.

"

Begründung

20

Mit Ausnahme der Vergewaltigung. Weiter werden u.a. ausgenommen: schwerer Raub, Drogenhandel, Verführung Minderjähriger, Brandstiftung, Betrug, Bestechung, Schmuggel.

30.042 vom 19.4.1978.

21

Es handelt sich dabei um das Verfahren wegen der Ermordung des Außenministers der AllendeRegierung, Orlando Letelier, und seiner Sekretärin in Washington D.C. im September 1976.

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Anwendbarkeit auf (laufende) Strafverfahren wegen Menschenrechtsverletzungen wird deshalb auch bis heute in Chile äußerst kontrovers diskutiert.

Vergangenheitsbewältigung in der Demokratie a) "Wahrheit-Gerechtigkeit-Entschädigung" versus faktische Straflosigkeit Trotz sehr weitgehender Wahlversprechen mußte der 1989 gewählte Präsident Aylwin sehr bald erkennen, daß die von der Junta erlassene Amnestie kaum Raum für eine Strafverfolgung der zwischen 1973 und 1978 begangenen Taten läßt. Aus der versprochenen "Widerrufung oder Nichtigerklärung" der Amnestie wurde nichts22, obwohl dies laut Meinungsumfragen einem weitverbreiteten Bedürfnis der Bevölkerung entsprochen hätte (Americas Watch 1992: 5, Anm. 11). Gesetzesentwürfe der Regierungskoalition, mit denen eine restriktive Auslegung der Amnestie verfolgt wurde, scheiterten am Widerstand der Opposition. Statt dessen blieb der ersten nachdiktatorialen Regierung nichts anderes übrig, als eine an den Werten "Wahrheit-Gerechtigkeit-Entschädigung" orientierte Menschenrechtspolitik zu proklamieren (Garretón 1992/93: 142 ff.). Zur "Aufklärung der Wahrheit über die schwersten Menschenrechtsverletzungen" und "Aussöhnung aller Chilenen" 23 wurde deshalb im April 1990 die Comisión Nacional de Verdad y Reconciliación, nach ihrem Vorsitzenden kurz "Rettig-Kommission" genannt, eingesetzt. Dabei sollten besonders "schwere Menschenrechtsverletzungen" staatlicher Organe, aber auch solche privater Gruppen untersucht werden. Als besonders "schwere Menschenrechtsverletzungen" wurden das "Verschwindenlassen", Hinrichtungen, Folter mit Todesfolge durch staatliche Organe sowie Entfuhrungen und Attentate durch private Gruppen betrachtet (Art. 1). Der Bericht der Kommission wurde im Februar 1991 von Präsident Aylwin bekanntgegeben und im März 1991 veröffentlicht 24 . Darin wurde u.a. festgestellt, daß das — in den lateinamerikanischen Militärdiktaturen übliche — Argument der Bedrohung der nationalen Sicherheit durch eine organisierte "Subversion", die nur mittels eines "schmutzigen Krieges" habe eliminiert werden können, für den Fall Chile jedenfalls nicht gegolten habe:"... in der Mehrzahl geschahen die Taten weder in der Hitze einer bewaffneten Auseinandersetzung, noch unmittelbar danach.

Vgl. mit weiteren Auszügen aus dem Wahlprogramm der Concertación Nolte (1991a: 3). Art.l der Gründungsverordnung der Kommission, Ubersetzt zitiert nach Nolte (1991a: 4). Sie findet sich im Original in: La Nación, Santiago de Chile, Sonderausgabe v. 5.3.1991: 2 f. Zuerst in La Nación, Sonderausgabe v. 5.3.1991; danach als dreibändiges Werk. Zu den Hintergründen und Reaktionen auf die Einsetzung der Komission und ihren Bericht vgl. Nolle (1991 a) sowie die Beiträge von Cuya, Becker und Lira im vorliegenden Band.

144

Im Gegenteil, es handelte sich um Angriffe gegen wehrlose oder festgenommene Personen" (Informe 1991: 6)25. Weiter beklagte die "Rettig-Kommission", daß die mehr als 2.000 von ihr untersuchten und von staatlichen Organen begangenen Menschenrechtsverletzungen mit Todesfolge praktisch straflos geblieben sind (Informe 1991: 22). Die Arbeit der Kommission wurde durch eine im Februar 1992 etablierte "Nationale Korporation für Entschädigung und Versöhnung" (Corporación Nacional de Reparación y Reconciliación) fortgesetzt26. Sie hat etwa 3.200 offengebliebene Fälle von Menschenrechtsverletzungen aufgrund eines bis Ende 1995 verlängerten parlamentarischen Auftrags untersucht. Weiter hat sie monatliche Entschädigungszahlungen an mehr als 4.000 der im "Rettig Bericht" identifizierten Opfer geleistet, 821 Ausbildungsstipendien gewährt und für 63 Gewaltopfer Wohnungen bereitgestellt (US-Department of State 1995; Human Rights Watch/Americas 1994: 1 f.). So wichtig die beschriebenen Aktivitäten auch gewesen sein mögen, so haben sie doch die Frage, wie mit den vergangenen Menschenrechtsverletzungen strafrechtlich umgegangen werden soll, nicht beantwortet. Eine Bilanz ist — aus der Opferperspektive - eher ernüchternd: Zu exemplarischen Verurteilungen kam es bisher nur im Fall der Ermordung des Ex-Außenministers von Salvador Allende, Orlando Letelier, und seiner Sekretärin in Washington D.C. im September 197627. In einem weiteren Fall, dem des 1976 ermordeten spanischen Bediensteten der VN Carmelo Soria, hatte die Corte Suprema am 24. Mai 1995 die Anklage zugelassen, später aber das Verfahren unter Berufung auf das Amnestiegesetz eingestellt. Es scheint also so, als werde nur in Fällen mit diplomatischen Implikationen eine ernsthafte Strafverfolgung betrieben. Die übrigen von der "Rettig-Kommission" dokumentierten Fälle sind straflos geblieben, oder es kam nur zu milden Bestrafungen28. Bis Ende 1994 sind ca. 100 Fälle aufgrund der Amnestie endgültig und 800 vorläufig eingestellt worden, während nur 300 rechtshängig geblieben sind29. Immerhin ist es Menschenrechtsorganisationen und -anwälten gelungen, bis Mitte 1995 noch 180 Strafverfahren mit 555 Opfern am

25

Vgl. auch Informe (1991: 23), wo festgestellt wird, daß die Streitkräfte schon innerhalb weniger Tage nach dem Putsch eine effektive Kontrolle über das gesamte Land ausübten.

26

Ley 19.123 vom 8.2.1994, in: Diario Oficial vom 8.2.1992 sowie Colección Texlos Legales Nr. 131, Santiago 1992: 86 ff.

27

In diesem Fall, der von der Amnestie ausgenommen worden war, wurden — nicht zuletzt wegen des diplomatischen Drucks der USA - der ehemalige Chef des Geheimdienstes DINA, General Manuel Contreras, und sein Mitarbeiter, Brigadegeneral Pedro Espinoza, zu 7 bzw. 6 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt.

2

Etwa der Fall der lebendig in Brand gesetzten Studenten Carmen Gloria Quintana und Rodrigo Rojas, der zur Verurteilung eines Beteiligten zu 600 Tagen Haft führte (näher Ambos 1996: Kap

*

2). 29

Das US-Department of State (1995; siehe auch Human Rights Watch/Americas 1994: Kap. 2: 3) gibt an, daß 1993 14 Fälle von Militärgerichten eingestellt wurden und der Oberste Gerichtshof in sieben Fällen die Anwendung der Amnestieverordnung bestätigt hat. 145

"Leben" zu erhalten. Zusammenfassend muß jedoch festgestellt werden, da3 das Konglomerat von Amnestie, konservativer höchstrichterlicher Rechtsprechung und — wie üblich — parteilicher Militärgerichtsbarkeit Straffreiheit für Menschenrechtsverletzer garantiert hat30. Angesichts des fortbestehenden Einflusses der chilenischen Streitkräfte und der nicht zu unterschätzenden Popularität ihres Oberkommandierenden Pinochet kann sich jeder Versuch, ein Verbrechen der Diktatur strafrechtlich aufzuarbeiten, leicht zur Regierungskrise ausweiten. Betrachtet man etwa den Skandal um den Kommandanten der Carabineros, General Rodolfo Stange, wegen seiner vermutlichen Verwicklung in ein Massaker an drei Mitgliedern der Kommunistischen Partei im Jahr 1985 (Fall der degollados31), wird die mangelnde Durchsetzungsfahigkeit des demokratisch gewählten Präsidenten bei Konflikten mit hochrangigen Mitgliedern der Sicherheitskräfte deutlich. Gegen Stange wurde auf Ersuchen des (zivilen) Gerichts wegen der (versuchten) Verdeckung des Verbrechens und Behinderung der Rechtspflege durch ein Militärgericht ermittelt, das jedoch — besiätigt von der Corte Suprema — kein rechtswidriges Verhalten entdecken konnte. Präädent Frei forderte Stange schon im April 1994 auf, den Dienst zu quittieren. Dieser weigerte sich jedoch und akzeptierte lediglich, sich beurlauben zu lassen. Mach seinem "Urlaub" trat er jedoch — gegen den Willen der Regierung — am 17. Juli sein Amt wieder an. Ahnliche Konzessionen mußte die Regierung im Fall "Letelier" machen: Obwohl 65,8% der Chilenen die Verurteilung von Manuel Contreras und des Mitangeklagten Espinozas begrüßten (Latin American Regional Repcrt Southern Cone 10.8.1995: 1), schien es lange Zeit so, als könne Contreras seiner Strafe entgehen32. Die Streitkräfte haben zwar letztlich seine Festnahme geduldet, doch mit ihrer Kritik an dem Verfahren und ihrer monatelangen Protektion gleichzeitig klargemacht, daß weitere Verurteilungen und Inhaftierungen nicht einfach hingenommen werden.

10

Vgl. etwa Americas Watch (1992: 6): "Combined with the amnesty of 1978, which is miscpplied by the Supreme Court to terminate vigorous investigations..., the military's jurisdiction has eisured that - with few exceptions ... - human rights prosecutions are not adequately pursued" Auch US-Department of State (1993): "In practice... military tribunals and the Supreme Court frequently used the Amnesty Law to close investigations of human rights abuses allegedly committed by numbers of the security forces before the facts and criminal responsibility had been established". Zui Rolle der Corte Suprema und zur Militärgerichtsbarkeit vgl. näher Ambos (1996: Kap. 2/Kap. 4).

11

In diesem Fall verurteilte ein ordentliches Gericht im März 1994 IS Beamten einer ehemaligen Geheimdiensteinheit der carabineros sowie ihren zivilen Informanten wegen Entführung, Terra-ismus und Totschlag zu Freiheitstrafen zwischen lebenslänglich und 40 Tagen. Weiter vurden Entschädigungszahlungen in Millionenhöhe angeordnet.

"

Nach Bestätigung des unterinstanzlichen Urteils durch die Corte Suprema im Mai 1995 wegerten sich Contreras und Espinoza, ihre Strafe anzutreten. Espinoza verschanzte sich schon zwe Tage vor dem Urteilsspruch in einer Armeekaseme, Contreras begab sich zunächst auf sein Landgit und dann in ein Marinekrankenhaus. Trotz vorheriger gegenteiliger Äußerungen solidarisierte sici dann auch Ex-Diktator Pinochet mit den Verurteilten und sprach von einem unfairen und pditisch motivierten Verfahren. Espinoza wurde am 20. Juni 1995 inhaftiert, Contreras erst am 21. October 1995 .

146

b) "Aufklärung" vs. "punto final" Die tiefgreifenden Meinungsunterschiede zwischen den Streitkräften und den ihnen nahestehenden politischen Kräften {Pacto Unión por Chile) auf der einen, und den Opfern der Diktatur und den demokratischen Sektoren der Zivilgesellschaft, auf der anderen Seite, sind mit der im Jahre 1995 wieder stärker gewordenen Debatte über ein Ende strafrechtlicher Ermittlungen erneut aufgebrochen. Drängen die militärischen Kreise mehr und mehr auf ein "Vergessen" und ein Ende aller Ermittlungen, bestehen die Opfer auf "Wahrheit und Gerechtigkeit" in den noch anhängigen Fällen von Menschenrechtsverletzungen33. Schon jetzt ist ersichtlich, daß eine unbefristete Strafverfolgung der begangenen Menschenrechtsverletzungen nicht mehr zur Diskussion steht. Der aktuelle Streit dreht sich um die Frage, wieviel "Aufklärung" von den Streitkräften vor einem endgültigen "punto final" noch zugelassen wird. Einige Abgeordnete der konservativen Opposition hatten am 18. Juli 1995 einen Gesetzentwurf zur endgültigen Einstellungen aller Ermittlungen in Menschenrechtsfallen in den Kongreß eingebracht. Danach sollten die Art. 409 und 413 der Strafprozeßordnung (Código de Procedimiento Penal — CPP) dahingehend geändert werden, daß Verfahren wegen Taten, die unter die Amnestie von 1978 fallen, endgültig - nicht nur vorläufig - eingestellt werden. Hintergrund dieses Vorschlags ist ein unter Straf- und Menschenrechtsjuristen geführter Streit, ob in diesen Fällen noch bis zur Feststellung der Täter weiterermittelt werden müsse, also zunächst nur vorläufig eingestellt, oder sofort endgültig eingestellt werden könne34. Der Entwurf sah weiter vor, daß die gegenwärtig laufenden Ermittlungsverfahren wegen der genannten Delikte innerhalb von 90 Tagen nach Veröffentlichung des Gesetzes abgeschlossen werden, und zwar entweder durch eine endgültige Einstellung oder eine Anklage. Im Fall einer endgültigen Einstellung sollten jedoch die Ermittlungen solange weitergeführt werden, bis das Schicksal des vermeintlichen Opfers geklärt oder seine körperlichen Überreste gefunden worden sind. Dies festzustellen, sei die Verpflichtung aller "zivilisierten Staaten". Verfahrensbeschlüsse dürfen allerdings nur diesem Ziel dienen und unterliegen — ebenso wie alle Ermittlungsmaßnahmen — strengster Geheimhaltung und Anonymität. Zuwiderhandlungen werden mit Strafe bedroht. Sollten in diesem Zusammenhang Durchsuchungen von militärischen oder militärisch kontrollierten Objekten notwendig werden, werden diese der Militärgerichtsbarkeit übertragen. Werden schließlich körperliche Überreste eines "Verschwundenen" gefunden, sollten die nächsten Verwandten informiert werden.

31

Zum Jahrestag des Putsches am 11.9.1995 äußerte Pinochet zuletzt kategorisch, daß es nun reiche mit den Angriffen auf die Streitkräfte: "Die einzige Sache, die uns nun bleibt..., ist zu vergessen und nicht mit einem Prozeß, in dem man immer wieder (die Archive) öffnet und die Leute ins Gefängnis wirft. Nein, Vergessen, das ist das richtige Wort" (Jnformativo Andino 105/0ktober 1995:2).

34

Zu dieser Diskussion näher Ambos (1996).

147

Eigentlich haben die demokratischen Regierungen Aylwin und Frei ein solches, einen formalen Schlußpunkt {"punto final") setzendes Gesetz immer abgelehnt35 und als Minimalziel die Aufklärung des Schicksals der während der Diktatur "Verschwundenen" proklamiert. Doch waren sie aufgrund der Machtverhältnisse gezwungen, auf die Forderungen der Streitkräfte und der Opposition zu reagieren. So hat Präsident Aylwin schon im August 1993 versucht, die Verfahren gegen Militärangehörige per Gesetz zu beschleunigen und zeitlich zu begrenzen. Dieses Vorhaben scheiterte jedoch. Aylwins Nachfolger Frei legte am 22. August 1995 — als direkte Reaktion auf den konservativen Vorstoß — einen Gesetzentwurf vor, der "Normen festlegen" sollte, um "zur Aufklärung der Wahrheit bezüglich des Schicksals der Festgenommenen und Verschwundenen und anderer Menschenrechtsfälle beizutragen"36. Danach sollen zur Aufklärung bestimmter Taten37, die zwischen dem 11. September 1973 und 10. März 1978 von Militärangehörigen oder Zivilisten begangen worden waren, 15 Sonderrichter von den "Cortes de Apelaciones " ernannt werden (Art. 1, 2). Alle anhängigen Verfahren sollen innerhalb von 15 Tagen nach Veröffentlichung des Gesetzes von den befaßten ordentlichen oder Militärgerichten an die zuständige "Corte de Apelaciones " verwiesen werden. Auf Antrag der Verfahrensbeteiligten können vorläufig eingestellte Verfahren wiederaufgenommen werden (Art. 3). Die Sonderrichter haben nach besonderen Verfahrensregeln zu ermitteln (Art. 4), mittels derer die Geheimhaltung des Verfahrens und die Anonymität von Beschuldigten und Zeugen - unter Strafandrohung (Art. 5) — sowie eine beschleunigte Verfahrenserledigung garantiert werden sollte. Die Beschuldigten sollten weder inhaftiert noch einem Strafverfahren unterworfen werden. Alles dieses ähnelte sehr dem Oppositionsentwurf, doch ging die Regierung in zwei wichtigen Bereichen weiter. Zum einen sollten die Ermittlungsbefugnisse der Sonderrichter sich auch auf militärische Einrichtungen beziehen; es findet in diesem Fall also keine Zuständigkeitsübertragung auf die Militärgerichtsbarkeit statt (so der Oppositionsentwurf). Dies hat natürlich erhebliche Kritik der Streitkräfte hervorgerufen, für die es schlicht undenkbar ist, daß "normale" Richter in ihrem "Hoheitsbereich" Ermittlungen anstellen. Zum anderen sollte eine endgültige Verfahrenseinstellung nur in zwei Fällen erfolgen können [Art. 4 f.)]: Zum einen, wenn man den Körper oder die körperlichen Überreste einer "verschwundenen" Person entdeckt hat; zum anderen, wenn "begründet und aufgrund eines nachgewiesenen Sachverhaltes" festgestellt wurde, daß der "Verschwundene" verstorben ist und es unmöglich ist, seine körperlichen Überreste aufzufinden, 35

Vgl. die oben erwähnten Wahlversprechen der Concertación sowie — jüngst - LARR-SC, 10.8.1995:1; Informativo Andino 104/September 1995: 2. Frei äußerte sich bei Vorlage des im folgenden erwähnten Reformpakets mit den Worten: "... una ley de puntofinal no me parecejusta ni éticamente aceptable" (Comunicado del Presidente al Senado, 22.8.1995).

36

"Proyecto de Ley que fija normas para contribuir efectivamente al esclarecemiento de la verdad en torno aI destino del los detenidos desaparecidos y otros casos sobre derechos humanos".

57

Entführung, rechtswidrige Festnahme (durch Amtsträger), rechtswidrige Anwendung von Zwang, Bildung einer kriminellen Organisation, Totschlag und damit zusammenhängende Taten (vgl. Art. 141, 143, 148-150, 292 und 391 Código Penal).

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aber die Umstände seines Todes genau aufgeklärt werden konnten. Die Regierung begründete diese Erschwerung einer endgültigen Einstellung mit der Rechtsprechung des Interamerikanische Gerichtshofs für Menschenrechte und damit, daß auf diese Weise "das Ende der Verfahren unter der Bedingung der Aufklärung der Wahrheit steht". Die Sonderrichter sollten sich wieder ihren alten Aufgaben widmen, wenn alle Verfahren endgültig eingestellt worden sind oder spätestens nach zwei Jahren, wobei sie in diesem Fall aber die noch offenen Verfahren weiterführen sollten (Art. 6). Dies bedeutet im Ergebnis, daß sich die Regierung gegen eine bloß zeitliche Ausschlußfrist entschied, vielmehr alleiniges Kriterium für die Beendigung einer Verfahrens die endgültige Einstellung gemäß Art. 4 f) sein sollte. Damit war die Regierung den Streitkräften sicherlich entgegengekommen. Doch machte sie ihrerseits solche Zugeständnisse regelmäßig - ganz im Sinne der chilenischen "transiciónpactada" (Garretón 1992/93: 141) — von einer weiteren Demokratisierung abhängig. So hatte Frei den genannten Gesetzentwurf an (weitere) Verfassungsänderungen gekoppelt38. Um diese durchzusetzen, hatte sich die Regierung schließlich in der Frage der Vergangenheitsbewältigung im November 1995 auf einen Kompromiß mit der Opposition geeinigt. Danach sollte die zukünftige Verfahrensweise in Fällen von zwischen dem 11. September 1973 und dem 10. März 1978 "Verschwundenen" in fünf Artikeln geregelt werden. Während die in beiden Vorentwürfen enthaltene umfassende Geheimhaltung jeglicher Angaben über Täter und Tat [Art. 1 b)] sowie die Anonymisierung von Informanten (Art. 4) ebenso beibehalten wurde wie die Pflicht zur Benachrichtigung der Angehörigen bei Auffinden der körperlichen Überreste eines Verschwundenen [Art. 1 c)], wurden in den strittigen Fragen der Behandlung eines Beschuldigten, der Verfahrenserledigung und der Sonderrichter — nicht vollkommen klare — Kompromißlösungen vorgeschlagen: — Nach Art. 1 a) kann der Beschuldigte lediglich geladen (Art. 247 Abs. 1 CPP), nicht aber angeklagt oder Freiheitseinschränkungen unterworfen werden (251 ff., 274 ff. CPP); auch seine persönlichen Angaben bleiben gemäß Art. 1 b) geheim. — Durch den Ausschluß von Art. 279 bis CPP soll eine endgültige Verfahrenserledigung durch Einstellung garantiert und das schon erwähnte "Durchermitteln" bis zur vollständigen Tataufklärung verhindert werden. Art. 279 bis liefert das zentrale Argument für ein solches "Durchermitteln" — auch und gerade bei Vorliegen des Einstellungsgrundes der Amnestie (Art. 408 Nr. 5 CPP i.V.m. Art. 93 Nr. 3 CP) —, da die Norm durch die Formulierung

"Proyecto de Ley con el que se inicia un proyecto de reforma de la Constitución Política de la República". Damit soll u.a. eine Änderung der Wahl und Zusammensetzung des Verfassungsgerichts und des Nationalen Sicherheitsrates sowie die Abschaffung der Figur der ohne Wahl ernannten Senatoren (senadores designados, Art. 45 Verf.) erreicht werden. Mit einem weiteren Ändemngsentwurf zu den "Leyes Orgánicas Constitucionales de la Fuerzas Armadas y de Carabineros " soll dem Präsidenten das ausschließliche Entlassungsrecht der hochrangigen Mitglieder der Sicherheitskräfte eingeräumt werden. Derzeit hängt dies von einem Vorschlag des jeweiligen Oberkommandierenden ab (Proyecto v. 22.8.1995).

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"unbeschadet der Fortsetzung der Ermittlungen bis zu ihrer Erschöpfung" ("sin perjuicio de continuar las indagaciones del sumario hasta agotarlas") auf Art. 413 CPP Bezug nimmt. Dieser wiederum macht eine endgültige Einstellung von der Erschöpfung der Ermittlungen abhängig, konkret dem Nachweis von Tatopfer und Täter. Vorläufig eingestellte Verfahren können allerdings gemäß Art. 1 f) bei begründetem Verdacht wiedereröffnet werden. — Nach Art. 3 "sollen" Sonderrichter zwar ernannt werden, doch wird dies zum einen in das Ermessen des Präsidenten der Corte Suprema gestellt (Art. 4 1. Satz), zum anderen erfolgt die Ernennung von "einem oder mehreren" grundsätzlich nur für ein Jahr. Zudem sind Ermittlungsmaßnahmen in Einrichtungen der Streitkräfte oder Carabineros oder Vernehmungen dieser Personengruppen den Militärgerichten vorbehalten [Art. 1 d)]. Jeder Richter ist verpflichtet, Informationen über "Verschwundene" entgegenzunehmen und diese an den erkennenden Richter zur Verifizierung weiterzuleiten (Art. 4, Abs. 2). Dieser Kompromiß, der am 5. Dezember 1995 vom Verfassungsausschuß des Senats verabschiedet wurde, hat allerdings nicht nur auf seiten der Regierung, sondern auch auf Seiten der Opposition Widerstände hervorgerufen: Die mitregierende Sozialistische Partei lehnt ihn ebenso ab wie offen mit den Streitkräften sympathisierende Teile der Opposition39.

Schlußbemerkung Der Prozeß der Vergangenheitsbewältigung in Chile ist äußerst vielschichtig. Es gibt kein "Alles oder Nichts", eine vollkommene Straffreistellung ist ebenso inakzeptabel und unrealistisch wie die konsequente Verfolgung aller Täter. Die faktischen Machtverhältnisse und der rechtliche Rahmen der transición zwingen die demokratischen Regierungen zu Kompromissen mit den ehemaligen Machthabem, die für die Opfer der Verbrechen der Diktatur und ihre Angehörigen häufig wie ein Schlag ins Gesicht und eine zweite Verletzung ihrer Rechte wirken müssen. Doch sind diese Kompromisse solange notwendig, solange die wiedergewonnene Demokratie noch damit beschäftigt ist, die von der Diktator hinterlassenen autoritären Altlasten abzutragen. Ob sich dabei die Gefühle der Opfer als Verhandlungsmasse eignen, mag aus moralischer Sicht fraglich sein; realpolitisch betrachtet hat die Regierung keine Alternative, wenn sie die Demokratisierung der chilenischen Gesellschaft vorantreiben will, ohne eine erneute Intervention der Streitkräfte zu riskieren — jedenfalls solange Augusto Pinochet deren Oberbefehlshaber ist.

"

Am 30.11.1995 haben ehemalige Minister der Pinochet-Regierung und Abgeordnete der konservativen Opposition ein "Manifest" gegen die zwischen Regierung und Opposition (Renovación Nacional) vereinbarten Verfassungsänderungen unterzeichnet (LARR-SC, 28.12.1995: 6.).

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Elizabeth Lira

Sich erinnern heißt, die Vergangenheit noch einmal mit dem Herzen durchleben1 Der vorliegende Text handelt von der Erinnerung und dem Vergessen 23 Jahre nach dem Militärputsch und sechs Jahre, nachdem der politische Übergangsprozeß in Chile eingeleitet wurde. Die chilenische Militärdiktatur, die von 1973 bis 1990 an der Macht war, wurde im gesamten Zeitraum schwerer Menschenrechtsverletzungen angeklagt. Eine der ersten Maßnahmen der Regierung des Übergangs bei der Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen war die Schaffung der "Nationalen Wahrheits- und Versöhnungskommission" (auf deren Ergebnisse im vorliegenden Buch an anderer Stelle ausfuhrlicher eingegangen wird). In den Schlußfolgerungen des Berichtes der Kommission wurde die Verantwortung von Funktionären des Staates oder von Personen, die in ihrem Auftrag handelten, für diese Verbrechen offiziell anerkannt. Neben den im Bericht dokumentierten Todesfallen wurden Tausende von Personen - insbesondere in den Jahren zwischen 1973 und 1975 — festgenommen und über Monate oder Jahre in Haft gehalten, ohne daß Anklage erhoben wurde. Die Mehrheit wurde freigelassen, ohne daß es zu irgendeinem Verfahren gekommen war. Die Haltung der Justiz während der Militärdiktatur war ein zusätzlicher Belastungsfaktor und begünstigte die systematischen Menschenrechtsverletzungen (Americas Watch 1991). Die Menschenrechtsverletzungen können nicht allein als vereinzelte, individuelle Übergriffe analysiert werde. Sie haben sehr viel weiterreichende Implikationen. Sie erlauben nicht allein, die Reaktion des Systems auf Konflikte, sondern auch ein allgemeines Klima politischer Bedrohung zu erfassen, das eine Atmosphäre chronischer Angst schuf (Lira 1988). Die Verfolgung deijenigen, die vom politischen Regime als "Feinde" identifiziert wurden, umfaßte nicht nur die politischen Führer, sondern auch Priester oder Ordensleute, Gewerkschaftsführer, Mitglieder linker Parteien, Menschenrechtsaktivisten, wie auch Mitglieder der

Der Titel wurde einem Text von Eduardo Galeano "Recordar. Del latín recordis. Volver a pasar por el corazón" aus dem "Libro de los abrazos" angelehnt.

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gesamten Gesellschaft. Einige der subjektiven Folgen waren die Angst, die Konfusion sowie dauerhafte Zustände von Anspannung bei den direkt von der politischen Repression betroffenen Personen, die unter dem Gefühl der Schutzund Wehrlosigkeit, der Ohnmacht litten. Am meisten betroffen waren allerdings jene, die nicht in der Lage waren zu erkennen, was ihnen tatsächlich passieren könnte. Sie erlebten die konstante Bedrohung als etwas Unerträgliches, als eine endlose Folter, unabhängig davon, ob die Drohungen Wirklichkeit wurden oder nicht. Im politischen Umfeld des Übergangs zur Demokratie wurde gesagt, "es sei notwendig, die historische oder soziale Erinnerung aufrechtzuerhalten". Dies wurde als kollektiver Prozeß des Erinnerns an die Ereignisse verstanden, die sich während der Diktatur ereignet hatten. Es wurde aber gleichfalls gesagt, "es sei notwendig, die Menschenrechtsverletzungen im Namen des sozialen Friedens zu vergessen und zu verzeihen". Die Erinnerung wird als die Fähigkeit verstanden, Ereignisse und Erfahrungen der Vergangenheit ins Gedächtnis zu rufen. Wir definieren die Erinnerung als die Fähigkeit, vergangene Bewußtseinszustände und alles, was mit ihnen verknüpft ist, zu konservieren und zurückzurufen. Die Erinnerung wird gleichfalls definiert als Gesamtheit der psychischen Funktionen, die es erlauben, uns die Vergangenheit als Vergangenheit vorzustellen. Ausgehend von diesen grundlegenden Definitionen unterscheiden wir die "soziale Erinnerung" als ein spezifisches Konzept, das sich auf die Erinnerung der subjektiven Prozesse bezieht, die verknüpft sind mit historischen Ereignissen, die Einfluß auf die Gesellschaft ausgeübt haben und das Alltagsleben ihrer Mitglieder beeinflußten. Die soziale Erinnerung ist eine Erinnerung des Sinnes, der den Ereignissen gegeben wurde, der Art und Weise, wie man sie gedeutet hat. Und sie begründet nicht notwendigerweise eine "objektive" Erinnerung der Ereignisse. Erinnerung ist nicht Geschichte, genausowenig wie sie notwendigerweise eine kritische Sichtweise impliziert. Erinnern ist eine Rekonstruktion von vergangenen Gefühlen, Empfindungen und Wahrnehmungen. Es ist sowohl mit sozialen Ereignissen als auch mit privaten Erlebnissen verknüpft. Neue Erfahrungen können zu einer Neubewertung der Vergangenheit führen. Falls es dazu kommt, ist es möglich, derartige Erinnerungen von anderen Erfahrungen zu unterscheiden, die nicht psychologisch umgedeutet wurden. Die Erinnerung ermöglicht eine rückblickende Reflexion und begründet die Notwendigkeit zu ergründen, auf welche Weise die Vergangenheit weiterhin im Alltag der Chileninnen und Chilenen gegenwärtig ist. Die Vergangenheit wurde als "eine offene Wunde" bezeichnet. Für viele Frauen und Männer, die unauslöschlich von der Diktatur gezeichnet wurden, heilt diese Wunde nicht. Diese Personen sind die Angehörigen von Verschwundenen, die Witwen, die Waisen und die Gefolterten. Für sie machen es die Straflosigkeit der Täter und der politische Vorschlag verschiedener gesellschaftlicher und politischer Akteure, die Vergangen-

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heit zu vergessen, nahezu unmöglich, ihre Traumata aufzuarbeiten und sici auf eine echte Aussöhnung einzulassen. Diese "offene Wunde" beeinflußt nicht allein die Opfer und ihre Angehöngen, sondern betrifft die gesamte chilenische Gesellschaft. Sie ist Teil der historischen Widersprüche, mit denen das Land seit den Anfangen im 16. Jahrhundert bis zu den sozialen und politischen Konflikten des 19. und 20. Jahrhunderts konfrontiert war. Zu Beginn der 70er Jahre verschärften sich die sozialen und politischen Konflikte, und die chilenische Gesellschaft sah sich einmal mehr mit dem grundsätzlichen Dilemma konfrontiert: Wie kann man aus Chile ein Land der Freiheit machen und gleichzeitig die institutionelle und politische Ordnung bewahren; wie kann man wirtschaftlichen Fortschritt erreichen, ohne daß cieser ausbeuterische Lebensverhältnisse für die Mehrheit impliziert; wie kann man ohne politische Repression die soziale Ordnung aufrechterhalten und gleichzeitig Bedingungen sozialer Gerechtigkeit schaffen — ohne Friedhofsruhe? Dieses Dilemma zu ergründen, bleibt eine Aufgabe der Gegenwart, die wesentlich mit der Vergangenheit in Verbindung steht, mit dem politischen Trauma von 1973 und den in Angriff genommenen Aufgaben, um dieses Trauma auf politischer, sozialer und sozialpsychologischer Ebene anzugehen.

Unsere Erinnerung Die Militärdiktatur legte die autoritären Elemente frei, die in den sozialen Strukturen und Beziehungen der chilenischen Gesellschaft vorhanden waren. Es ist so, als sei die Diktatur der chemische Faktor bei der Entwicklung eines Fotos gewesen, der Bilder erscheinen ließ, die bis dahin unsichtbar gewesen warer. Die ausgesprochen antidemokratischen Charakterzüge dieser Gesellschaft haben ihre tiefen Wurzeln in den Modalitäten der familiären, schulischen und universitären Sozialisation, im Arbeitsleben und den politischen Institutionen des Landes. Aus dieser Perspektive stigmatisierten der ideologische Diskurs des Militärregimes und seine "Autorität" verschiedene politische Gruppen als "Feind; des Vaterlandes", er diente zur Rechtfertigung der politischen Repression der Konfrontation und der Menschenrechtsverletzungen. Er war zuletzt aufgrund der Kontrolle und Zensur der Massenmedien "der" politische Diskurs überhaipt. Unter diesen Bedingungen wurde die Bedeutung des Begriffes "Vater.and" verändert. Es war von nun an nicht mehr möglich, sich auf diese gemeinsame Identität zu beziehen, die von politischen Traditionen und Überzeugungen wie auch von einer ähnlichen Erziehung und Sozialisation genährt wurde. Die sogenannten Subversiven, Extremisten, Linken wurden als Nicht-Chilenen definiert, als Vaterlandsfeinde und Verräter, die deshalb nicht nur dem Ausschluß sondern auch der Vernichtung anheimgestellt wurden. Die antagonistischen Lesarten der Realität, die entwickelt worden waren, schienen die sozialen Beziehungen zu

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dämonisieren und brachten Schrecken und Tod hervor. Danach herrschten für viele Jahre Angst und Schweigen. Das öffentliche Schweigen begleitete den privaten Schrecken und das private Leid. Die öffentliche Normalisierung, die auferlegt wurde, erfolgte über die Reinigung der Straßen, die Verzierung der Plätze, der Gebäude und der Denkmäler. Durch das Überdecken der Losungen auf den Wänden wie auch der Wand- und Straßenmalereien wurde versucht, die Erinnerung an die Politik, an politische Ideen und Akteure auszulöschen. Die politische Repression erfolgte im Rahmen einer tiefgreifenden wirtschaftlichen, technologischen und institutionellen Modernisierung. Diese Transformationen, die von der Militärregierung als "Modernisierungen" bezeichnet wurden, stießen bei vielen Chilenen auf Unterstützung und Begeisterung, während die Bedrohung und die politische Repression ein Land von Feinden schufen.

Das Dilemma des Vergessens und der Erinnerung im chilenischen Transitionsprozeß In Südamerika hat nur die paraguayische Diktatur länger überlebt als die chilenische. Die Anstrengung, die Diktatur abzulösen und zu zivilen Regierungen zurückzukehren, stieß auf objektive und subjektive Hindernisse. Folter, Entführungen und das Verschwindenlassen wie auch andere Formen politischer Repression können als traumatische Erfahrungen durch die Opfer erlebt werden. Sie können ein individuelles Trauma hervorrufen, das den Zusammenbruch der psychischen Struktur impliziert. Dies ereignet sich in einem Kontext, in dem es zu einem teilweisen Zusammenbruch des sozialen Gefuges gekommen ist, den sogenannten "Ausnahmezuständen", in denen die verfassungsmäßigen Rechte außer Kraft gesetzt sind. In anderen Worten, die rechtlichen und politischen Strukturen, die vermeintlich das Leben und die Rechte der Mitglieder einer gegebenen Gesellschaft schützen, können für die Mehrheit in den Perioden des "Ausnahmezustands" bedrohlich und verheerend werden. Aus einer psychologischen Sicht haben wir vom sozialen Schaden gesprochen, der den Individuen als Folge der durch die Menschenrechtsverletzungen hervorgerufenen Traumata zugefügt wurde2. Das Konzept des Traumas war von zentraler Bedeutung, um die subjektive Wirkung und die Folgen der Menschenrechtsverletzungen zu verstehen. "Extreme Traumatisierung" (Lira/Becker/Castillo 1990) ist ein spezifisches Konzept, das

2

Man geht davon aus, daß sämtliche Personen, die während der ersten drei Jahre des Militärregimes festgenommem wurden, physisch und psychisch gefoltert worden waren. Aus diesem Grund spricht man von einer Zahl von mehr als 200.000 Gefolterten im gesamten Zeitraum.

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auf die politische Bedeutung dieser Art von Traumata verweist und eng mit der Theorie von Bettelheim (1979) verknüpft ist. Dieses Konzept betont den radikalen Bruch in den Lebensschicksalen der Individuen und den dauerhaften Einfluß auf ihre Identität, ihre Familie und ihre sozialen Beziehungen. Unter derart bedrohlichen Bedingungen wurden die Grenzen zwischen Realität und Fantasie verschoben, insbesondere weil die Realität schlimmer war als die perverseste Fantasie, die man sich vorstellen konnte. Im nachhinein und als Folge war es schwierig, zwischen der Innen- und der Außenwelt zu unterscheiden. Der Prozeß der Symbolisierung war verzerrt worden. Die externe Welt, der Körper, die Gefühle und die Worte wurden von neuen Bedeutungen durchdrungen, die in Verbindung zur Situation von Verfolgung und Folter standen. Die Persönlichkeitsspaltung ist der Hauptverteidigungsmechanismus, um unter dauerhaft bedrohlichen Lebensbedingungen zu überleben, insbesondere in einer Situation von Folter. Die Persönlichkeitsspaltung formt die nachfolgenden Reaktionen, die als Hauptcharakteristika des Traumas beschrieben wurden. Mittels der Dissoziation schafft man eine teilweise Auflösung des Ichs, um einem überwältigenden Angstgefühl zu entgehen, das zu einem vollständigen Zerfall der Persönlichkeit fuhren kann (Weinstein/Lira 1987). Das erste therapeutische Ziel, wenn die Opfer eine klinische Behandlung während der Diktatur verlangten, war die Katharsis über die Rekonstruktion der traumatischen Erfahrungen, ihre emotionale Aufarbeitung, ihre Verknüpfung mit Bedeutungen existentieller Art und in der Lebensumwelt der Personen sowie ihre Verbindung zu deren Lebenserfahrungen (Lira/Weinstein 1984; Cienfuegos/Monelli 1983). Es ist wichtig, daraufhinzuweisen, daß wir es unbeschadet der beobachteten psychopathologischen Folgen nicht allein mit der Psychopathologie zu tun haben, sondern mit konkreten Ausdrucksformen politischer Gewalt, die individuelle Körper und persönliche Lebensschicksale gezeichnet und zerstört sowie die sozialen Interaktionen als Folge von Menschenrechtsverletzungen beeinträchtigt haben (Lira 1988). Sich selbst als "Überlebenden" zu bezeichnen, impliziert anzuerkennen, daß Lebensgefahr bestand, es eine Zeit gab, in welcher der Tod umging, und daß die Nähe des Todes Spuren hinterlassen hat, etwas Todbringendes in den Personen zurückließ, die überlebten. Es scheint, daß viele, die keine Überlebenden sind, glauben, daß mit dem Vergessen des Terrors, der die Opfer betraf, dann auch der bisher nicht anerkannte kollektive Schrecken vergessen werden könnte. Unbeschadet dieses Wunsches bleibt das Vergangene als traumatische Folge der Vergangenheit gegenwärtig. Zu Beginn der Regierung des Übergangs zeigten sich die verschiedenen Einstellungen im Hinblick auf Vergangenheit mit aller Deutlichkeit. Als der Bericht der Wahrheits- und Versöhnungskommission bekannt wurde, wurden diese unterschiedlichen Positionen von verschiedenen Sektoren breit erläutert. Pinochet und seine Parteigänger unterstrichen seine historische Rolle für Chile. Pinochet war der Held, der das Vaterland vor dem totalitären Kommunismus geret156

tet, Gesetz und Ordnung wiederhergestellt, die verfassungsmäßigen Grundlagen einer modernen Demokratie geschaffen und einenfriedlichemÜbergang auf gesetzlichem Wege von einem autoritären Regime zu einer gewählten Regierung ermöglicht hatte. Das war die wahre Vergangenheit. Sie beschrieben die Vergangenheit als einen endlosen Krieg gegen die Subversion. Sie akzeptierten zwar, daß einige Personen unter diesen Bedingungen ums Leben gekommen waren, aber sie riefen in Erinnerung, daß sie gegen Feinde des Vaterlandes gekämpft hatten. Die Sichtweise der Opfer und der Menschenrechtsorganisationen war denn genau entgegengesetzt. Sie hatten in der Vergangenheit die politische Repression erlitten. Sie forderten Gerechtigkeit und die öffentliche Anerkennung der Menschenrechtsverletzungen, die sich in der chilenischen Gesellschaft ereignet hatten. Im Hinblick auf diese entgegengesetzten Sichtweisen, die sich innerhalb der Gesellschaft verfestigt haben, ist es wichtig, Informationen anzufügen, die sich auf Meinungsumfragen aus dem Zeitraum August bis September 1990, d.h. nach dem Regierungsantritt der demokratischen Regierung (März 1990), beziehen. In einer Umfrage von GEMINIS antworteten 85% der Befragten in Santiago, daß nur ein Teil der Menschenrechtsverletzungen, die sich während der Militärherrschaft ereignet hatten, bekanntgeworden sind. Der gleiche Prozentsatz begrüßte die Schaffung der Wahrheits- und Versöhnungskommission. Im Hinblick auf die Übergriffe der Vergangenheit erklärten 31,5%, daß es notwendig sei, ein Verfahren durchzuführen und anschließend die Schuldigen zu begnadigen. 52,9% sagten, es sei notwendig, eine gerichtliche Untersuchung durchzuführen und anschließend die Verantwortlichen zu bestrafen. Nur 7,9% akzeptieren die Notwendigkeit zu untersuchen, ohne eine Strafe ins Auge zu fassen. In diesem Moment spiegelten diese Antworten das zentrale ethische Anliegen der chilenischen Gesellschaft im Hinblick auf das Menschenrechtsproblem wider. In einer im gleichen Zeitraum durchgeführten Umfrage des CERC (Centro de Estudios de la Realidad Contemporänea) befürchteten nur 23% der Chilenen Spaltungen und Konfrontationen, zu denen es kommen könnte, falls über die Menschenrechtsverletzungen offen gesprochen würde. Obgleich die entgegengesetzte Sichtweise nicht die dominierende war, wurde sie mit der Zeit zum Hauptargument, um sich mit den Menschenrechtsverletzungen auseinanderzusetzen, indem das Risiko politischer Gewalt hervorgehoben wurde, das mit den Forderungen nach Gerechtigkeit und Wahrheit verbunden sei. Konfrontiert mit der Drohung unkontrollierbarer Emotionen und politischer Gewalt, fürchteten sich die Chilenen vor Konflikten, sie überbewerteten den Konsens und vermieden das Risiko politischer Instabilität. Sie zensierten ihre Worte und ihre Taten aus Furcht, der Schrecken könnte zurückkehren. Aber damit ermöglichten sie, daß die jüngste Vergangenheit die Gegenwart beherrscht und für Ruhe sorgt. Nichtsdestotrotz gibt es permanente Signale in der Gesellschaft, daß die offenen Wunden nicht heilen.

157

Die Bedrohungen und die traumatischen Erfahrungen als Folge der politischen Repression bedürfen später einer sozialen Gültigmachung des politischen Ursprungs dieses Leids. Ohne die soziale Anerkennung bleiben die Traumata nur privates Leid und können nicht angegangen werden. Der Bericht der Wahrheitskommission baut eine Brücke zwischen dem privaten Leid und der Politik. Der Bericht weist daraufhin, daß während all der Jahre diesen Zeugnissen, diesen Schmerzen kaum Gehör geschenkt wurde. Die Erfahrung, vor Repräsentanten des Staates Zeugnis abzulegen - die erstmals die Angehörigen der Opfer, weil sie ihre Geschichte erzählten, weder disqualifizierten noch demütigten, sondern im Gegenteil ihnen zuhörten, sich ergriffen zeigten und dem Leid Respekt erwiesen - war für sich, wie die Familienangehörigen erklärten, ein Schritt zur Gesundung. Als Präsident Aylwin öffentlich den Bericht entgegennahm, bekannte er sich zur Verantwortung des Staates für die politische Repression und zu seiner Verpflichtung zur sozialen Wiedergutmachung3.

Frauen und Erinnerung Der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano (1989) schrieb: "recordar" (erinnern): vom lateinischen 'recordisnoch einmal mit dem Herzen durchleben". Dies impliziert einen Prozeß der Aufarbeitung, der es erlaubt, die privaten Erfahrungen von sozialen Erfahrungen zu unterscheiden. Ich möchte über eine Dimension der Auswirkungen der Menschenrechtsverletzungen, dieser "offenen Wunde", Überlegungen anstellen wie auch über den Stellenwert der Erinnerung und des Vergessens in den Frauen, die Opfer der politischen Repression und insbesondere der Folter gewesen waren. Allerdings ist es mir nicht möglich, darüber zu sprechen, ohne auf das Umfeld der Solidarität von Frauen und Männern Bezug zu nehmen, die das Netz zur Verteidigung des Lebens bildeten, das in der Hauptsache auf Menschenrechtsorganisationen aufbaute. Diese Arbeit erlaubte es, auf die dringenden und unmittelbaren Bedürfnisse der Personen einzugehen, die Verletzungen ihrer Menschenrechte erlitten hatten, eine wirksame Solidarität aufrechtzuerhalten und das Geschehene zu dokumentieren, als Grundlage für Anzeigen, die rechtliche Verteidigung sowie für soziale, medizinische und psychologische Zuwendung. Eben diese Arbeit und die Anstrengungen, die Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren, gingen als direkte Informationen in den Bericht der Wahrheitskommission ein. Andere Formen des Widerstandes, die eine soziale Erinnerung schufen, nahmen die Form von Poesie, Essays, Romanen, geheimen Schriften, Videos, Filmen,

3

Die Rede von Präsident Aylwin ist im vorliegenden Band abgedruckt.

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Theaterstücken, "Aktionskunst"4, Gemälden, Fotografien, Wandmalereien und Wandteppichen {"arpilleras") an. Diese künstlerischen und kulturellen Beiträge waren Teil der gespeicherten Erinnerung von Fragen und Antworten. Sie wurden zum Ausdruck einer lebenden Erinnerung, einer kulturellen Dokumentation der Diktatur. Die Rolle der Frauen, ihr Leid wie ihr Widerstand während der Diktatur zeigten sich in besonderer Weise an zwei Beispielen dieser kulturellen Dokumentation. Das erste sind die "arpilleras", die weltweit zu einem Symbol des Leidens der Chilenen unter der Militärdiktatur wurden. Das zweite ist das Theaterstück - und später der Film — "Der Tod und das Mädchen" von Ariel Dorfman, in dem Grundfragen hinsichtlich der politischen und privaten Antworten auf die Diktatur in den ersten Jahren des Übergangs aufgeworfen werden.

Die "arpilleras" Bei den "arpilleras "handelt es sich um kleine Wandteppiche aus besticktem Sackleinen, auf denen Bruchstücke von Geschichten erzählt werden. Farbige Wandteppiche herzustellen, hat Tradition in Chile. Während der Diktatur wurden die "arpilleras"TAI einem Ausdruck der individuellen und kollektiven Erinnerung. Die ersten, die sich dieser Ausdrucksform bedienten, waren Frauen, die ihre Kinder und Ehemänner suchten, die festgenommen worden waren und seitdem als verschwunden galten. Später nahm die Zahl der Werkstätten zu, in denen "arpilleras " hergestellt wurden. Sie waren Teil eines solidarischen Umfeldes. Bei der Arbeit versammelt, berichteten die Frauen über die Situation, die sie bedrückte, und sie gaben sich gegenseitig Rückhalt. Die "arpilleras"erzählten die Geschichte eines in sich gespaltenen Chile und der Lebensschicksale der Frauen, die sie hergestellt hatten, sowie der unablässigen Suche nach ihren Familienangehörigen. Die "arpilleras" verschafften ein Einkommen, und sie waren zugleich eine psychologische Hilfe. Am Anfang handelte es sich um politisierte Gruppen, die Rückhalt in Situationen der Trauer und des Leids gaben (Ritterman 1990). Die Hersteller der "arpilleras " entwarfen Strategien, um unbeschadet der politischen Repression gegen die Angst anzugehen, und sie entwickelten neue Formen des Kampfes gegen den Autoritarismus. Die "arpilleras" waren eine Form des politischen Widerstands während der Diktatur, indem sie die "Geschichte eines gespaltenen Chile in graphischer und sichtbarer Weise erzählten. Auf ihnen sind Figuren aus dem Alltagslebens einer entstellten Gesellschaft abgebildet. Bestimmte Themen wiederholen sich, wie das Verschwinden, der Hunger, die Folter und

'

"Aktionskunst" war der Name für verschiedene Arten von "Interventionen" im öffentlichen Raum, die auf Straßen, Plätzen, in Gebäuden oder Museen durchgeführt wurden und auf die politische Gewalt sowie ihre Folgen ftlr die Menschen und im sozialen Zusammenleben aufmerksam machten.

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die verwundete Familie - eine Methapher für ein in sich gespaltenes Land" (Agosin 1994: 12). Die "arpilleras" legten Zeugnis ab vom täglichen Leid der Armen und den Auswirkungen der Menschenrechtsverletzungen während der Militärdiktatur. In diesem Sinne waren sie "Erinnerungen" an diese Zeit. Die Menschen in der ganzen Welt waren tief berührt von der Würde dieser friedlichen Form des politischen Protestes von Frauen, deren Familienleben und deren wirtschaftlicher Situation auf erschütternde Weise Gewalt angetan worden war. Mit dem Übergang zu einer zivilen Regierung tauchten neue "arpilleras"auf, die Wahrheit, Gerechtigkeit und Strafe für die Täter forderten. Als im Übergangsprozeß diese Erwartungen nicht erfüllt werden konnten, verschwanden die politischen "arpilleras" \on der Bildfläche. Soweit sie immer noch hergestellt werden, entsprechen sie touristischem Kunsthandwerk mehr als politischen Gefühlen. Das moderne Chile kann "arpilleras" ohne politischen Inhalt absorbieren. Die bleibende Notwendigkeit der Einkommenssicherung bringt die Frauen dazu, in unterschiedlichen Bereichen zu arbeiten, was sich auf ihren Wandteppichen widerspiegelt. Indem die Wandteppiche der Erinnerung wegfallen, bleiben die politischen "arpilleras"als Sammelobjekte genau das, was die politischen Führer wollen, daß nämlich die Erinnerungen an die Diktatur im Archiv abgelegt werden.

Der Tod und das Mädchen Der Körper ist der Träger der individuellen Erinnerung. Er hat die Gebärden, die Worte, die "Muttersprache", die Blicke und die zweckmäßige Nahrung registriert. Er hat darauf mit der Fähigkeit reagiert zu lächeln, zu weinen, sich zu freuen und zu vertrauen. Er hat Schutz und Schutzlosigkeit erfahren, unter dem Schrecken, dem Mißtrauen, der übermäßigen Fürsorge und der Strenge gelitten. Er hat die Spuren der ursprünglichen Bindung, der über die Familie, die Schule und "andere", anwesende und abwesende, vermittelten Bindungen registriert. Diese Verbindungen zeichneten diesen Körper mit Schlägen, Mißhandlungen, Verdächtigungen oder Grausamkeiten oder versiegelten ihn mit Lächeln, Nahrung, Zärtlichkeit, Liebkosungen, Behaglichkeit. Das Theaterstück von Ariel Dorfman "Der Tod und das Mädchen" bezieht sich auf die traumatische Erinnerung einer gefolterten Frau. Für Frauen hat Folter eine besondere Bedeutung, da sie fast immer unausweichlich mit sexueller Gewalt und Erniedrigungen verknüpft ist. Im Theaterstück von Dorfman gibt es drei Personen. Paulina ist die Hauptperson. Die beiden anderen Personen sind Gerardo, ihr Ehemann, und ein Arzt, in dem sie ihren Folterer wiederzuerkennen glaubt. Das zentrale Thema wird in einer Nacht entwickelt. Sie wurde im Staatsinteresse gefoltert und unzählige Male vergewaltigt. Paulina hat nicht vergessen. Sie hat traumatische Erinnerungen. Sie möchte die Vergangenheit austreiben, um die Gegenwart zurückzugewinnen, gerade indem sie über die 160

Rache nachdenkt als Ersatz für die Gerechtigkeit, die sie für unerreichbar hält. Paulina könnte auch eine aus privaten Motiven vergewaltigte oder sexuell mißbrauchte Frau sein — als Folge des Verlangens dessen, der Macht ausübt. Sie ist von den Gespenstern der Vergangenheit eingeschlossen, gefangen von der Zerstörung ihrer Lebenspläne. Die Hauptdarstellerin könnte eine während eines Krieges oder im Zuge des Holocaust mißbrauchte Frau sein. Oder im Holocaust. Sie könnte eine Indigena sein, eine arme Frau aus irgendeinem Elendsviertel, gleich welchen Landes. Eine Flüchtlingsfrau, eine Schwarze, Jüdin, Guatemaltekin, Salvadoranerin oder Chilenin. Die Erinnerungen dieser Frau, eingemeißelt in ihren Körper, ihre grundlegenden Reaktionen, ihre Erotik bleiben von der Folter gezeichnet. Die Emotionen und die "unausdrückbaren" Erfahrungen sind in ihr Innenleben eingedrungen und haben ihre sozialen und affektiven Beziehungen geprägt, die vom nicht Ausgesprochenen, dem nicht in Worte Faßbaren überlagert werden. Das Verhältnis zur Vergangenheit erscheint wie eine Überlagerung der chronologischen Zeit durch die innere Zeit. In dieser Frau hat die wiederholte Vergewaltigung, als Teil der "Behandlung", die für eine Subversive als angemessen erachtet wurde, eine Erinnerung von Emotionen und Ereignissen eingemeißelt, die präsent sind, wie am Tage, als sie geschahen. Es handelt sich nicht um private Geschehnisse. Die Bedeutung, die ihnen aus ihrer Sicht zukommt, ist zu einem Teil politisch begründet. Die Vergewaltigung wurde begangen von einem Staatsbediensteten, in der vermeintlichen Erfüllung seiner Amtspflichten, im Namen des Staates, dem er dient, und der Nation, die sie sich zum Feind gemacht hat. Paulina ist mit einer Person konfrontiert, von der sie annimmt, daß sie ihr Folterer war, und bedrängt ihren Ehemann, damit er ihr bei der Erlangung eines Geständnisses und der Umsetzung ihrer Rache hilft. Die ganze Zeit leugnet der vermeintliche Folterer, daß er der Täter sei, und behauptet, daß er mit einer anderen Person verwechselt werde. Trotzdem rekonstruiert er die Vergangenheit, als ob er Tatzeuge gewesen wäre. Die Schilderung des Arztes ersetzt den öffentlichen Bericht, den Paulina verlangt, erlaubt jedoch, die Straflosigkeit zu veranschaulichen, der der Prozeß des Übergangs von einer Militärregierung zu einer Zivilregierung in Chile unterliegt. Die Straflosigkeit verstärkt die autoritäre Vergangenheit, weil sie Teil der längst überholten autoritären Strukturen ist, welche die geltenden Gesetze nicht modifizieren konnten, weil sie den autoritären Geist verkörpern, der sie hervorbrachte. Als Ariel Dorfman das Anliegen seines Werkes "Der Tod und das Mädchen" erläuterte, wies er daraufhin, daß wir zwar die Tyrannei hinter uns gelassen haben, sich aber gleichwohl die Frage stelle, wie wir die Folgen, die immer noch im Land zu verspüren sind — in der Psyche, in der Sexualität und im Körper der Menschen — bewältigen können. Wie sollen wir mit der Vergangenheit umgehen? Dies war ein Jahrhundert der Grausamkeit gewesen. Die abscheulichsten Dinge wurden im Namen des Gemeinwohls, des Staates, der Nation begangen. Greuel waren eine zentrale Erfahrung dieses Jahrhunderts gewesen. Unter den Opfern waren Millionen 161

von Frauen, aber der Widerstand in Lateinamerika wurde in der Hauptsache von Frauen entwickelt. Ihre Erinnerung wird nicht zulassen, daß die Vergangenheit vergessen wird.

Schlußfolgerungen In der Mehrzahl der lateinamerikanischen Länder implizierten die ersten Schritte der politischen Transition eine Öffnung der Diskussion über die Wahrheit, die Gerechtigkeit, die soziale Wiedergutmachung, die Aussöhnung, die Straflosigkeit, die Erinnerung und das Vergessen. Indem damit begonnen wurde, die Missetaten der Vergangenheit anzuerkennen, sollte die offiziell als "Wahrheit" sanktionierte Version zu einer Version werden, die von den Opfern anerkannt und für gültig erklärt werden kann. Hohe Priorität kam im Transitionsprozeß der Wiederherstellung einer gerechten politischen Ordnung zu (Zalaquett 1990), die einen ethischen, politischen und subjektiven Rahmen abgeben sollte, um diese Probleme langfristig anzugehen. Falls die Folter und andere Repressionsmechanismen im sozialen und politischen Kontext verortet werden, in dem sie sich ereigneten, können die Gesellschaften deren Folgen nicht allein als Privatangelegenheit angehen, sondern als ein gemeinsames Anliegen, um eine öffentlichen Politik zu entwickeln, die die Opfer entschädigt, rehabilitiert und zu verhindern versucht, daß sich Vergleichbares in der Zukunft wiederholt. Öffentlich das Schweigen aufzubrechen, bedeutet, Klartext zu reden und eine Wahrheit ohne Konzessionen herzustellen. Das wichtigste Material für die Wahrheit ist die Erinnerung der Überlebenden. Selbst wenn die Wahrheit unvollständig sein sollte, stellt sie einen wichtigen Aspekt des sozialen und politischen Prozesses dar, weil sie eine öffentliche Anerkennung des Leids der Opfer impliziert. Falls dieser Prozeß nicht stattfindet, sind die Gesellschaften dazu verurteilt, von der Vergangenheit eingeholt zu werden, und die Opfer müssen ihr Leid als privates Problem mit sich herumtragen. Der traumatische Charakter der Menschenrechtsverletzungen ruft nicht allein in den Opfern Emotionen und Sinnesverwirrungen hervor. Dies erklärt möglicherweise die Anstrengungen verschiedener sozialer und politischer Akteure, das Thema "abzuschließen" und Schweigen aufzuerlegen, mit der Begründung, Angst davor zu haben, Rachegefühle, Gewalt und Konfrontationen heraufzubeschwören. Nichtsdestotrotz kann die Gesellschaft das Vergessen nicht verordnen. Selbst wenn man versuchen sollte, der kollektiven Erinnerung einer Gruppe die Unterstützung zu nehmen, würde diese eine Form finden, und sei es in verzerrter Weise, ihre Erinnerung aufrechtzuerhalten. Von Anfang an gab es großen Widerstand, offen über die Menschenrechtsverletzungen in Chile zu reden. Der psychologische Einsatz auf klinischer Ebene wie im Bereich der Forschung umfaßte eine ethische und berufliche Perspektive, die eng mit politischen Dimensionen verknüpft war. Unsere wichtigsten Ziele während 162

der Diktatur waren in dieser Hinsicht, das Leiden der Menschen zu lindern und die Menschenrechtsverletzungen zu beenden. Auf diese Weise war die Anzeige der Beginn der sozialen Erinnerung. Als der Übergangsprozeß einsetzte, wurden aufgrund unserer vorherigen Verteidigung der Menschenrechte und unserer ethischen Verpflichtung die Grenzen unserer beruflichen Neutralität offenkundig, und wir hielten es für notwendig, explizit die Verbindungslinien zwischen Psychologie und Politik, zwischen den privaten Geschichten, den Zeugenaussagen und der allgemeinen Geschichte zusammenzufügen. In der Auseinandersetzung mit den Folgen der politischen Gewalt und der Folter begannen wir, uns ethische, soziale und politische Fragen im Hinblick auf die Zukunft zu stellen, um auf diese Weise besser zu verstehen, was gleichzeitig mit den Individuen und der Gesellschaft geschehen war. In diesem Sinne veränderte die Reflektion über das politische Umfeld unsere psychologische Sichtweise und unseren therapeutischen Ansatz. Aus psychologischer Sicht ist bekannt, daß die Erinnerung unter bestimmten Bedingungen verfälscht werden kann: Traumata, Anomalien des Bewußtseins, psychologische Unterdrückung, Blockierungen. Es ist richtig, daß die häufige Wiederbeschwörung der Vergangenheit die Erinnerung frisch und lebendig erhält, aber es ist gleichfalls wahr, daß diese Wiederholung, beispielsweise über eine Schilderung, dazu tendiert, zur Stereotypie zu erstarren, zu kristallisieren und die lebendige Erinnerung zu ersetzen. Die Erinnerung von Grenzerfahrungen, von erlittenem oder zugefügtem Leid kann selbst traumatisch sein. Diese Erfahrungen zu erinnern, ist schmerzhaft oder zumindest beunruhigend. Eine Person, die verletzt wurde, neigt dazu, die Erinnerung zu blockieren oder zu unterdrücken, um den Schmerz nicht wiederzuerleben; die Person, die den Schmerz zugefügt hat, versucht, die Erinnerung zu verdrängen oder zu vergessen, um sich auf diese Weise ihrer zu entledigen und die Schuldgefühle zu lindern (Levi 1989). Erinnern und Vergessen bilden ein großes Dilemma für die heutige chilenische Gesellschaft. Es gibt eine Vielzahl von Toten und Verschwundenen, die nicht in Frieden ruhen, und es gibt gleichzeitig ein starkes Bedürfnis, einen Schlußstrich zu ziehen und zu vergessen. Und für andere geht es allein darum, daß das Leben weitergeht. Es handelt sich um kein abstraktes Dilemma. Es ist die Alltagserfahrung der Chilenen, genauso wie der Argentinier, Uruguayer und Salvadoraner. Wie bei allen historischen Dilemmata ist es nicht einfach, zu Lösungen zu gelangen. Offen das Vergangene anzuerkennen und offen die "private" Wahrheit der Opfer zu akzeptieren, ist für die Täter und die politische Stabilität, wie es sich gezeigt hat, sehr bedrohlich. Viele haben argumentiert, daß eine Aufarbeitung der Vergangenheit nur zu einer Retraumatisierung führe und die alten Wunden und Narben wieder aufbrächen. Das tiefe Bedürfnis, einfach zu vergessen, auch wenn es in gewisser Weise legitim ist, stellt zugleich einen Vorschlag dar, der nicht zu verwirklichen ist. Um vergessen zu können, ist es notwendig, sich zu erinnern. Aufgrund unserer Erfahrung ist es notwendig, die historischen Ereignisse und ihre verschiedenen Interpretationen anzuerkennen und zu unterscheiden. Es ist 163

notwendig, zwischen den Fantasien und Emotionen, die mit der Vergangenheit verbunden sind, zu differenzieren. Dies gilt insbesondere für die Idealisierungen, die Wunschvorstellungen und die Hoffnungen, die mit Verlusten, Frustrationen und Leid verbunden sind. Dies sind nicht allein individuelle Emotionen. Sie werden von den kollektiven Einstellungen zur Politik und der Übereinstimmung oder dem Fehlen von Übereinstimmung im Hinblick auf das augenblickliche Schicksal der chilenischen Gesellschaft beeinflußt. In diesem Prozeß bilden die Literatur und häufig die Kunst in all ihren Ausformungen eine Möglichkeit, zusammenzufügen, was wir waren, was wir sind und was wir sein wollen oder nicht sein wollen. Das Theaterstück von Ariel Dorfman wirft ein Licht auf die Verknüpfung von Kunst und Therapie, Metapher und Leid, Gesellschaft und Schweigen. Gleiches gilt für die "arpilleras". Für die Opfer ist es eine Notwendigkeit, daß ihre persönliche Erfahrung von der Gesellschaft, von anderen anerkannt und bestätigt wird, damit ihr privates Leid Teil der Geschichte, Teil dessen wird, was andere als wahr, belegt und als gemeinsame Erfahrung anerkennen. Es muß eine soziale Erinnerung geschaffen werden, damit die Dinge, die ihnen als Individuen zugefügt wurden, öffentlich anerkannt werden und über die individuellen Erinnerungen hinaus Bedeutung gewinnen. Die Kunst und andere kollektive Ausdrucksformen ermöglichen eine Aufarbeitung der Vergangenheit über die Erinnerung, damit jeder von uns ihre Bedeutung für die Gegenwart erkennen kann - die Angst, die Machtlosigkeit, die Ohnmacht, die Trauer und die Beklemmung, die erneut aufkommen. Das individuelle Leid kann anerkannt und für allgemeingültig erklärt werden. Die Menschen können mehr Informationen über das Geschehene erhalten. Aber dies setzt ein Verständnis für die Beziehung zwischen dem Leid und dem politischen Umfeld, das es hervorgebracht hat, voraus. Es impliziert zu verstehen, daß die Gegenwart nicht "die Rückkehr zur Demokratie" ist, die wir uns vorgestellt haben, sondern vielmehr die Schaffung einer anderen "Demokratie", der ideologische und institutionelle Aspekte des Militärregimes eigen sind. Die Aufarbeitung der Vergangenheit in psychologischer, kultureller und ethischer Hinsicht kann, zumindest augenblicklich, von der aktuellen politischen Ordnung nicht getrennt werden, die in einem Umfeld der Angst und latenter Bedrohung funktioniert und die Straflosigkeit der Mehrheit der Täter erlaubt. Deshalb muß eine erfolgversprechende Therapie (es ist notwendig, daß wir uns dies eingestehen) die Effekte, die das neue politische System bei den Patienten hervorruft, genauso einbeziehen wie die Traumata der Vergangenheit. Die Konfrontation auf einer sozialen Ebene - die kollektive Erinnerung — ist genauso wichtig, um einer Wiederholung des Schreckens vorzubeugen.

164

Schaubild: Repressive Praktiken, die in Jahresberichten des Solidaritätsvikariats5 1973-1988 aufgelistet waren

5

Repressionsart

Zeitraum

Verschwundene

1973-1987

734

Hingerichtete

1973-1987

2.220

nicht gemeldete Massenverhaftungen (Schätzung)

1983-1988

8.863

gemeldete Massenverhaftungen

1983-1988

24.431

individuelle Verhaftungen

1976-1988

12.065

individuelle Einschüchterungen

1977-1988

3.946

gemeldete illegale Festnahmen

1978-1988

1.243

Verbannungen (internes Exil)

1980-1987

1.257

betroffene Personen

Das Solidaritätsvikariat (vicaría de la solidaridad) war eine Institution, die vom Erzbistum Santiago der Katholischen Kirche geschaffen wurde, um Personen nach Menschenrechtsverletzungen juristischen, sozialen, medizinischen und psychologischen Beistand zu gewähren. 165

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166

David Becker

Soziale und psychische Probleme der (Nicht-)Aufarbeitung der Vergangenheit in Chile Die Vergänglichkeit des Interesses an der Menschenrechtsproblematik Als man sich international noch für die Vorgänge in Chile interessierte, waren die Menschenrechte ein zentrales Thema. Um den Unrechtscharakter des Pinochet-Regimes darzustellen, wurde immer wieder über Folter und Mord und das Schicksal der Verschwundenen, über Exil und Rückkehr berichtet. Aber wie in anderen Teilen der Welt auch, ist mit dem Ende der Diktatur das Interesse am Thema Menschenrechtsverletzungen verschwunden. Wenn heute von Chile überhaupt noch geredet wird, dann bestenfalls im Zusammenhang mit Wirtschaftsdiskussionen, bei denen dann herausgestellt wird, was Chile in den letzten Jahren für eine wunderbare Entwicklung durchgemacht hat. Die sogenannte Aufarbeitung der Vergangenheit scheint ein rein moralisches Problem zu sein, dessen politische und ökonomische Relevanz begrenzt ist. Ein Thema also, das bestenfalls für Historiker, Soziologen und Menschen, die im Gesundheitsdienst arbeiten, wichtig ist. Überhaupt ist es interessant, sich einmal zu fragen, ab wann denn hier überhaupt von Vergangenheit gesprochen werden kann. Sicherlich ist es leicht, festzustellen, wann die Menschenrechtsverletzungen in Chile angefangen haben. Aber es ist sehr viel schwieriger festzustellen, wann sie aufhören. Ist dies der Fall, wenn die Regierung nicht mehr aktiv Leute umbringt oder erst, wenn auch der Todesort des letzten Verschwundenen belegt ist und die Schuldigen vor Gericht stehen? Bei dem raschen Einführen des Wortes "Vergangenheit" vergißt man sehr leicht, daß in Chile z.B. das Militär laut Verfassung Garant eben dieser Verfassung ist, daß dementsprechend rechtlich gar nicht entschieden ist, ob das Militär dem Gesetz unterliegt oder über diesem steht, da es ja dessen Einhaltung überwacht, daß der oberste General nach wie vor Pinochet heißt, daß die Regierung ohne die aktive 167

Zustimmung der Rechten kein einziges Gesetz verabschieden kann. Kurz: Wenn wir also über Menschenrechtsverletzungen in Chile nachdenken, dann bezieht sich dies auf einen komplizierten politischen Prozeß, der keineswegs nur in der Vergangenheit zu suchen ist und der die gesamte Gesellschaft mit einschließt. Auch gibt es eine gewisse Tendenz, die zugegebenermaßen positiven Wirtschaftsdaten aus Chile als Argument dafür zu benutzen, daß es mit den Menschenrechtsverletzungen und der Notwendigkeit der Aufarbeitung der Vergangenheit ja eigentlich gar nicht so schlimm sein kann. Abgesehen von der Tatsache, daß hier zwei Dinge miteinander verknüpft werden, von denen man gar nicht bestimmt hat, ob sie überhaupt zueinander gehören, ob sie qualitativ miteinander vergleichbar sind, muß man auch feststellen, daß ein Land ohne glaubwürdige staatliche Ordnung, ohne ein glaubwürdiges Justizsystem auch im wirtschaftlichen Sinne weiterhin ein Risikoland bleibt. In Chile hat jahrelang nur das Gesetz des Stärkeren gegolten, die Macht der Waffen. Polizei und Militär waren nicht zum Schutz der Bevölkerung, sondern zum Schutz gegen diese aktiv. Das Justizwesen war und ist korrupt und mit der Diktatur überidentifiziert. Die Vergangenheit, die gegebenenfalls bearbeitet werden soll, ist also immer auch eine Gegenwart, die das tägliche Geschehen in Chile mitbestimmt. In Chile waren die Menschenrechtsverletzungen der Preis, der für die ökonomische Veränderung in Chile bezahlt wurde. Aber nicht weil dieser Preis wirklich notwendig gewesen wäre, sondern einfach, weil er das spezifische Mittel war, das die Diktatur eingesetzt hat, um bestimmte ökonomische Interessen durchzusetzen. Vor der Diktatur konnte man noch annehmen, daß es neben ökonomischen Interessen noch andere gibt, wie z.B. Menschenwürde, Demokratie u.ä. Nach 17 Jahren Diktatur ist heute eines ganz klar in Chile: Nur der Wirtschaftsprozeß zählt. Diktatur oder Demokratie, Menschenrechte oder deren Verletzung sind ein erläßliches Nebenprodukt der Wirtschaftsentwicklung. Die Ökonomie ist zur Staatsreligion geworden. Die Frage nach dem mündigen Bürger interessiert zunächst niemanden. Dieses nationale Problem überschneidet sich mit dem internationalen Problem, daß über Menschenrechtsverletzungen selten als Prozeß nachgedacht wird, als Prozeß, der konkret und individuell, aber auch sozialpolitisch, gesamtgesellschaftlich ist. Schon immer konnte man in der internationalen Berichterstattung merken, daß der ausgeübte Terror als solcher offensichtlich sehr viel interessanter ist als das konkrete Schicksal deijenigen, die diesen Terror erleiden müssen. Niemand, noch nicht einmal internationale Hilfsorganisationen, scheint sich Gedanken darüber zu machen, was passiert, wenn der Terror einmal aufhört, daß das Schicksal der Betroffenen ja weitergeht, daß sie weiterleben müssen mit dem, was sie erfahren haben. So gab es z.B. jahrelang einen Berichterstatter der Vereinten Nationen über Menschenrechtsverletzungen in Chile. Wenn man diesem aber Zeugenaussagen vorlegte, so durften sich diese nur auf den jeweiligen Berichtszeitraum beziehen, d.h. auf die zurückliegenden 12 Monate. Ein gefolterter Patient, der jahrelang geschwiegen hatte, schwer krank war und erst jetzt über sein Leid berichtete, 168

konnte nie in die jeweiligen Berichte der VN mit aufgenommen werden. Mit anderen Worten: Was politisch relevant zu sein scheint, ist die Tatsache des Terrors. Die Menschen selbst, ihre Geschichte und ihre Sozialbezüge sind nicht berichtsfahig. In unserer eigenen Arbeit im Lateinamerikanischen Institut für Menschenrechte und psychische Gesundheit (ILAS) haben wir immer wieder erfahren, wie schwer es ist, diese Zusammenhänge zu vermitteln. Während der Diktatur war es selbstverständlich, daß den Opfern geholfen werden mußte. Nach der Diktatur wird es immer schwieriger, nationale und internationale Finanzierungshilfen für die nach wie vor existierenden Opfer zu bekommen. Viele Leute fragen einen verwundert, wie es möglich ist, daß man überhaupt noch mit solchen Opfern arbeitet, weil die meisten annehmen, es gäbe sie eigentlich gar nicht mehr. Andere bewundem zwar die humanitäre Leistung, sehen aber nicht ein, daß unsere Arbeit etwas mit den globaleren politischen Vorgängen zu tun hat. Sie halten es für ein rein gesundheitstechnisches Problem. Umgekehrt, wenn man dann mit Gesundheitsfachleuten spricht, werfen sie einem immer wieder vor, daß man keine ordentliche Therapie und normale medizinische Arbeit leisten, sondern eigentlich Politik betreiben würde. Man sieht, in der Nachdiktatur ist das Thema der Opfer ein Thema, das nirgends mehr hineinpaßt. International ist es kein Thema mehr. Es gibt ja auch so viele neue Orte, an denen neue Schrecken passieren. National stört es. An der Vergänglichkeit des Interesses für dieses Thema erweist sich, wie oberflächlich und in vielen Fällen unbewußt reaktionär das Interesse am Thema Menschenrechte ist.

Die Bedeutung der Aufarbeitung der Vergangenheit Aus der Sicht der Opfer und der Organisationen, die wie ILAS mit ihnen befaßt waren und sind, war es gar keine Frage, daß die Aufarbeitung der Vergangenheit die zentrale politische Aufgabe der ersten nachdiktatorischen, demokratisch gewählten Regierung sein würde. Extreme Traumatisierungen, wie sie in Chile unzählige Menschen in Form von Exil, Verhaftung, Folter und Mord erlebt haben, sind nur verständlich als Teil eines sozialpolitischen Prozesses. Zwar ist hier konkretes Leid konkreten Körpern zugefugt worden, aber dieses Leid bezieht von Anfang an die gesamte Gesellschaft mit ein. Das Trauma ist individuell, aber immer auch sozial. Damit in einer Gesellschaft durch den Staat Folter und Mord passieren können, muß es Machtverhältnisse geben, die dies gestatten, Menschen, die bereit sind, die Verbrechen zu begehen, andere Menschen der gleichen Gesellschaft, die verfolgt werden, und wiederum andere, die diese Vorgänge aktiv oder passiv tolerieren. Niemand ist neutral. Alle sind Bestandteil des Traumatisierungsvorgangs. Die Bearbeitung und gegebenenfalls Überwindung des Traumas ist dementsprechend in entscheidendem Umfang auch kein individuelles, sondern ein gesamtgesellschaftliches Problem. Nicht umsonst waren es in Chile die Angehörigen 169

der Organisationen der Opfer, die als erste tragfähigen und breitenwirksamen Widerstand geleistet haben. Und es waren auch sie, insbesondere die Familienangehörigen der Verschwundenen, die das Problem der individuellen und sozialen Gesundung auf den Begriff gebracht haben: "Wahrheit und Gerechtigkeit" war ihre Forderung — damals und heute. Das bedeutet, sie wollten wissen, was ihren Angehörigen passiert war, wo sie sind, wer sie umgebracht hat. Die Täter sollten der Justiz zugeführt und verurteilt werden. So einfach, so klar. Es ist wichtig, zu registrieren, wie wenig Rachegedanken in dieser Forderung auftauchen. Nur in der Phantasie der Unterdrücker sind die Opfer von Rachegedanken beseelt. So wie jeder, der einmal mit einer vergewaltigten Frau gearbeitet hat, weiß, daß diese eben leider nicht gesunde Wut auf ihren Vergewaltiger empfinden kann, sondern sich im Gegenteil eher schuldig für das fühlt, was ihr passiert ist, so gilt auch für die Opfer der politischen Verfolgung, daß diese Schwierigkeiten mit der Aggression gegen ihre Aggressoren haben. Für die direkten Opfer ist neben der Liebes- und Arbeitsfähigkeit auch die Fähigkeit zum gesunden Hassen zerstört worden. Außerdem identifiziert berechtigterweise jedes Opfer den aktiven Haß mit dem Täter. Gerade davon aber versucht sich das Opfer zu distanzieren. Die Realität sieht also ganz anders aus, als sich das ängstlich die Täter oder idealisierend auch einige Sympathisanten manchmal vorstellen. Die Forderung nach Wahrheit und Gerechtigkeit ist keine andere als die, die man an jeden halbwegs normalen Menschen stellen würde, d.h. die Realität anzuerkennen und die Verantwortung für das eigene Handeln in ihr zu übernehmen. Menschen, von denen man dies nicht erwarten kann, werden normalerweise als verrückt bezeichnet. In der Politik aber redet man statt dessen von der Notwendigkeit, sich zu versöhnen, die Vergangenheit ruhen zu lassen, bestenfalls zu bewältigen, woran dann im Sinne einer gelungenen Freudschen Fehlleistung wiederum deutlich wird, daß es sich um ein Bezwingen, ein Einkerkern, ein Vergewaltigen der Vergangenheit handelt. Im Sinne der Opfer geht es also um die Erreichung eines gesellschaftlichen Zustandes, in dem sie sich nicht mehr der sozialpolitischen Psychose als individuelle Krankheit unterwerfen müssen, sondern als das anerkannt werden, was sie sind — Menschen, die im Rahmen politischer Machtverhältnisse verfolgt und zerstört worden sind. Diese aus Sicht der Opfer so offensichtliche Perspektive ist leider nicht der zentrale Wunsch der Mehrheit der Bevölkerung und erst recht nicht der Politiker und der verschiedenen existierenden Machtgruppierungen. Dafür gibt es vielerlei Gründe. Zum einen gilt, daß das zu Verarbeitende schrecklich ist. Auch die Opfer würden, wenn sie könnten, vergessen. Sich mit dem auseinanderzusetzen, was wirklich passiert ist, ist für jeden unangenehm. Man fühlt sich hilflos bei der Unmenge des geschehenen Unrechts. Tote kann man nicht mehr lebendig machen, Unrecht nicht in Recht verwandeln. Wenn man das Elend anderer betrachtet, kann man nicht verhindern, heimlich froh darüber zu sein, daß es einen selbst nicht so hart getroffen hat. Wie wir schon vom Samariter in der Bibel lernen können, 170

hilft das Schenken des halben Mantels an den frierenden Bettler vor allem auch, die eigene Schuld zu mindern, vor allem und zwar insbesondere darüber, daß man zu Hause vielleicht noch sehr viel mehr Mäntel hat. Hinzu kommt, daß bei der Beschäftigung mit dem vergangenen Grauen unweigerlich die eigene chronische Angst aus der Erinnerung wieder auftaucht. Jedes Opfer klagt also nicht nur die jeweiligen anderen mit seinem Leid an, verpflichtet sie auf etwas, das sie nicht leisten können, sondern erinnert auch gleichzeitig an die Gefahr, die einst für alle bestand, ausnahmslos. Wie bei einer ansteckenden Krankheit wird der Kranke mit der Krankheit identifiziert. So wie ein Aids-Infizierter glauben mag, die Krankheit existiere nicht, solange sie nicht sichtbar ausgebrochen ist oder solange er oder sie nicht die entsprechenden medizinischen Untersuchungen gemacht haben, so gilt auch für die Teilhabe an der chronischen Angst, daß das sichtbare Opfer mit dem Virus verwechselt wird, von dem man sich abgrenzen möchte. Zum zweiten gilt, daß in den politischen Kategorien der Macht das Menschenrechtsproblem ein Faktor neben anderen ist, den es zu analysieren gilt, aber nicht als absolute Größe, sondern als Teil eines Ganzen. Während der Diktatur war die Menschenrechtsproblematik wichtig, da sie ein Element darstellte, das weltweit Sympathisanten finden konnte von Links bis Mitte-Rechts, von Kuba und der DDR bis zu Reagans USA und Kohls Bundesrepublik. Auch intern stellten sie einen Faktor dar, der die Linksparteien, die Christdemokraten, die gemäßigte Rechte, die Kirche, die Gewerkschaften und einen Teil des nationalen Kapitals einte. Nach dem gewonnenen Plebiszit 1988 und den Wahlen 1989 sieht es schon anders aus. Chile braucht Geld, es muß aus der internationalen Isolation herausfinden. Die Fortsetzung des eingeschlagenen Wirtschaftskurses fordert stabile politische Verhältnisse, sozialen Frieden. Die beschränkte Demokratie kann nur glaubwürdig werden, wenn die Konflikte weniger werden, wenn die Dinge real schöner aussehen. Aus der Sicht der neuen Machthabenden ergibt sich plötzlich eine Lage, in der machtgierige Militärs ebenso wie die Opfer der Diktatur zu extremen Polen werden, die die Zukunftsorientiertheit des Landes bedrohen, zwischen denen vermittelt werden muß. Kurzfristiger pragmatischer Erfolg ist daran gebunden, die Vergangenheit relativ rasch zu überwinden, Opfer und Täter ruhigzustellen, um so mehr als die reale Macht ja nicht sehr groß ist, die die permanente Angstphantasie darauf festlegt, nur ja nicht die gesetzten Grenzen zu überschreiten. Die Täter sind unsere Partner, deshalb respektieren sie unsere Autorität. Behandeln wir sie zu sehr als Verbrecher, könnte es sein, daß sie auch uns wiederum als solche behandeln. Das Problem bei diesen durchaus verständlichen Vorgehensweisen ist nur, daß damit langfristig weder dem Demokratisierungsprozeß noch der wirtschaftlichen Entwicklung wirklich gedient ist. Konflikte kann man zwar totzuschweigen versuchen, aber gerade deshalb tauchen sie dann zu den ungünstigsten Zeiten wieder auf. Man kann zwar versuchen, Völker für dumm zu verkaufen, aber auch das gelingt langfristig nicht. Gefährlicher noch ist die Tatsache, daß eine Regierung, die den Schein erweckt, die Dinge zu kontrollieren, die real aber nur wenig Macht 171

hat, Erwartungen der Bevölkerung herausfordert, die sie nicht befriedigen kann, während sie gleichzeitig eine autoritäre Grundstimmung unterstützt und tradiert, die in einer Diktatur vielleicht funktioniert, die aber in der Demokratie immer nur als Schwäche dargestellt werden kann. So hat sich z.B. bei allen nachdiktatorischen Regierungen in Lateinamerika herausgestellt, daß plötzlich die Anzahl der Verbrechen drastisch anstieg, die Sicherheit der einzelnen Bürger zum wichtigsten Thema wurde. Die Antwort darauf hieß dann immer: mehr Polizei, mehr Strafen. In Chile entwickelte sich z.B. eine Diskussion darüber, ob es sinnvoll sei, die Strafmündigkeit auf das 16. Lebensjahr herunterzusetzen. Die demokratischen Regierungen zeigen sich als schwach, als unfähig, die öffentliche Ordnung zu garantieren. Überhaupt nicht diskutiert wird in diesem Zusammenhang die Tatsache, daß jahrelang die Staatsorgane selbst die Hauptverbrecher waren, daß sich das Justizwesen als unglaubwürdig und der Staatsmacht untergeordnet erwiesen hat, daß also seit Jahren das Gesetz des Dschungels gilt: Der Stärkste definiert, was Recht ist. Da die Demokratie eine relative Schwächung der Oberverbrecher bedeutet, muß es eigentlich nicht Wunder nehmen, daß nun die Kleineren auch mal ranwollen. Dies ist nun der Punkt, wo diese unangenehme Erinnerungsarbeit eine gesellschaftliche Notwendigkeit darstellt, will man denn eine wirkliche Demokratisierung vorantreiben. Nur wenn erinnert wird, nur wenn auch bezogen auf die Vergangenheit Verbrechen als solche benannt werden, korrupte Richter, Militärs und Polizisten keine Macht mehr ausüben dürfen, nur dann kann sich eine Situation ergeben, in der die Bürger sich aktiv an einer neuen Gestaltung ihres Landes beteiligen und sich benutzbare und glaubwürdige moralische Grundlagen des gesellschaftlichen Zusammenlebens ergeben können. Sollten die realen Machtverhältnisse eine solche Umwälzung nicht gestatten, dann läge es zumindest im Interesse der demokratischen Politiker, die Beschränktheit ihrer Macht so offen darzulegen, daß die Bevölkerung nicht falsche Erwartungen an sie hegt. Bleibt aber dies alles in seinen Anfangen stecken, dann gilt weiter das Gesetz des Dschungels: Der einzelne Bürger bleibt passiv, ängstlich und wartet mißtrauisch auf das, was die Regierung tut. An den Staat kann er nicht glauben, an ihm teil hat er aber auch nicht, deshalb muß er trotzdem im autoritär unterwürfigen Sinne viel von ihm erwarten. Im Gegensatz zum offen autoritären Regime, wo noch nicht einmal die Erwartung auf eine Teilhabe an der Macht bestehen kann, ergibt sich nun eine dumpfe Unzufriedenheit, die sich früher oder später in den Ruf nach dem starken Mann umsetzt. Nichtaufarbeitung der Vergangenheit bedeutet so schlicht die Gefahr, daß diese nie wirklich Vergangenheit wird, d.h. die diktatorischen Wurzeln bestimmen weiterhin das Geschick des Baumes, der da wachsen soll. Die wenigen grünen Triebe heben eigentlich nur noch die Übermacht des restlichen Gewuchers heraus. Man könnte nun einwenden, daß es überhaupt kein Land der Welt gibt, wo die Vergangenheit vernünftig aufgearbeitet worden wäre. Aber das spricht ja eigentlich noch nicht gegen eine solche Verarbeitung. Außerdem kann man das 172

Argument auch umdrehen: Gerade wenn man die verschiedenen Ländern in ihren jeweiligen Kontexten betrachtet, dann kann man sehr wohl verstehen, daß für alle der Umgang mit der eigenen Geschichte von sehr zentraler Bedeutung für das aktuelle politische Geschehen ist. Nicht zuletzt Deutschland liefert hierfür ja immer wieder unzählige Beispiele. Bezogen auf Chile geht es also darum, spezifisch zu bestimmen, wie — nicht ob - die Nicht- oder nur Teilverarbeitung der Vergangenheit das aktuelle Geschehen definiert. Wir können also zusammenfassend feststellen: — Die kollektive Aufarbeitung der Vergangenheit ist ein direktes Interesse der Opfer. Ihre potentielle Gesundung hängt davon ab. — Die realen politischen Verhältnisse in Chile sind derart gestaltet, daß die Vergangenheit nur zum Teil Vergangenheit ist. Man könnte sich also fragen, was geschieht zur Aufarbeitung der Gegenwart? — Generell gilt, daß die Vergangenheit in der Gegenwart nach- und weiterwirkt und sich individuell und kollektiv wiederholen kann und muß, wenn sie nicht aufgearbeitet wird.

Die Wirklichkeit im heutigen Chile Bezogen auf die beschriebenen Probleme ist die Regierung Aylwin vielschichtig vorgegangen, zum Teil mit Erfolg, zum Teil mit den vorhersehbaren negativen Konsequenzen. Zunächst einigte man sich darauf, eine Untersuchungskommission "Wahrheit und Versöhnung" einzurichten, zusammengesetzt aus "ehrbaren Personen", die im Auftrage des Staates die Vergangenheit zu untersuchen hatten, und zwar ganz konkret die Menschenrechtsverletzungen mit Todesfolge. Themen wie Folter und Exil durften in diesem Bericht zwar vorkommen, waren aber nicht Hauptthema. Wie mir selbst ein Mitglied der entsprechenden Planungsgruppe der Regierung einmal sagte, wäre es unrealistisch gewesen, auch noch jeden einzelnen Folterfall zu untersuchen. "Dann werden wir die nächsten 30 Jahre an der Erforschung der Wahrheit sitzen, und in der Zwischenzeit werden noch nicht einmal die gröbsten Fälle, die mit Todesfolge, offiziell anerkannt". Diese Kommission vernahm unzählige Zeugen und legte schließlich einen Bericht vor. Aylwin stellte den Bericht der Öffentlichkeit vor, erkannte im Namen des Staates seine Richtigkeit an, entschuldigte sich gleichfalls im Namen des Staates für die begangenen Verbrechen und benutzte den Bericht als Grundlage für eine Reihe von Wiedergutmachungsgesetzen. Symbolisch war dieser Vorgang von ungeheurer Bedeutung. Zum ersten Mal fühlten sich die Opfer ernstgenommen, bekamen regierungsoffiziell bestätigt, daß ihre private Erfahrung der kollektiven Wirklichkeit entsprach. Die individuelle Wahrheit wurde zur gesellschaftlichen Wahrheit, allerdings leider

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auch hier nur innerhalb gewisser Grenzen. Nach Erscheinen des Berichtes erklärten die Militärs sofort, er sei tendenziös und nur teilweise wahr; sie seien sich keiner Schuld bewußt. Auch die Rechte des Landes beeilte sich, ihre eigene Geschichtsinterpretation zu liefern. Gleichzeitig konnte aber niemand mehr etwas daran ändern, daß nicht nur die Regierung, sondern der Staat die Realität anerkannt hatte. Auf dieser Grundlage ergab sich also ein Stück Aufarbeitung der Vergangenheit, ohne daß sich dabei aber wirklich die Täter und Teilhaber der Diktatur gezwungen gesehen hätten, diese Realität zumindest anzuerkennen. Aylwin war als väterliche Integrationsfigur glaubwürdig; der erreichte Konsens war genug, um eine Reihe von Gesetzen zur Wiedergutmachung zu verabschieden. Dabei wurden in erster Linie die aus dem Exil Zurückgekehrten bedacht und in zweiter Linie die Familienangehörigen der "Verschwundenen". Staatliche Dienste wurden eingerichtet zur Organisation der finanziellen Hilfen an die Betroffenen, zur sozialen und gesundheitlichen Betreuung und zur weiteren Erforschung der noch nicht geklärten Schicksale. Allerdings waren diese Einrichtungen von Anfang an auf vier bzw. fünf Jahre begrenzt. Entsprechend dem Wunsch, die Militärs nicht zu sehr zu beunruhigen, sollte die Aufarbeitung der Vergangenheit zeitlich begrenzt werden. Wie es Minister der Regierung Aylwin ausdrückten, sollte das Problem angegangen werden, aber mit einer klaren Grenze. Irgendwann einmal sollte Schluß sein. Schließlich war das Hauptziel ja, die Befriedung und die nationale Versöhnung zu erreichen. Es ist leicht, vom Elfenbeinturm der totalen Gerechtigkeit aus die Haltung der Regierung Aylwin zu kritisieren. Statt Aufarbeitung Teilaufarbeitung, statt Gerechtigkeit nur ein bißchen Wahrheit, bereits antizipierend, daß die Täter wohl nie verurteilt werden. Statt Glauben an den gesellschaftlichen Prozeß, Friede per Dekret spätestens nach fünf Jahren. Trotz dieser Beschränkungen soll man aber nicht unterschätzen, was tatsächlich geleistet wurde. Die Ausgangssituation war wirklich sehr begrenzt. Für Aylwin ging es eben nicht nur um die Frage, wieviele Täter angeklagt werden, sondern vor allem auch darum, ob es gelänge, als neue Exekutive tatsächlich anerkannt zu werden. Von der Tatsache angefangen, daß die Diktatur, als sie den Regierungspalast räumen mußte, praktisch alles mitgenommen hatte, bis zu dem Problem von Telefonleitungen, die immer noch zentral über die Militärs geschaltet waren, gab es eine Unmenge von kleineren und größeren Schwierigkeiten, die die Handlungsfähigkeit selbst auf der symbolisch repräsentativen Ebene der Regierung einschränkten. Dazu gab es zwei mögliche Reaktionen. Entweder man prangerte das Ganze öffentlich an, beklagte also permanent die eigene Machtlosigkeit, oder man versuchte stillschweigend, die Dinge zu verändern. Genau diese Haltung charakterisiert eigentlich die ganze Regierung Aylwin: Möglichst leise wurden Konfliktpotentiale ausgelotet und so weit als möglich beseitigt. Nach außen hin stellte man sich als funktionierende Exekutive dar, die die Dinge im Griff hatte. Die Figur Aylwins schwebte als Landesvater über allem. Die Regierung war nicht mehr gegen das Volk, sondern für das Volk.

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Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß dieser schöne Schein in gewisser Hinsicht wirksam war. Nach und nach verloren die Menschen ein Stückchen Angst. Man konnte an die Regierung glauben. Das Militär ordnete sich ein, ein Stück Wahrheit konnte hergestellt werden. Wirtschaftlich gelang alles bestens; die Vergangenheit wurde zum Randproblem. Gleichzeitig aber muß man feststellen, daß all dies sehr an der Person Aylwins festgemacht war, daß also die Veränderung von autoritär-böse zu autoritär-gut verlief, womit die reale Begrenzung des Demokratisierungsprozesses verschleiert wurde. Sehr bald konnte man auch an der Arbeit mit den Opfern merken, daß diese neue Realität in mancher Hinsicht brüchiger und bedrohlicher war, als es den Anschein hatte. Plötzlich zeigte sich nämlich, daß die Bedürfnisse der Opfer nicht gefragt waren. Ihre Marginalität war jetzt eigentlich noch größer als während der Diktatur. Damals hatte man zumindest noch auf die großen Lösungen hoffen können, stand man im Zentrum der politischen Auseinandersetzung. Jetzt war alles Leid nur noch ein Privatproblem. Während es früher noch immerhin um die Gegnerschaft zu der Diktatur und den realen Machthabem gegangen war, empfanden nun die Regierenden die Opfer oft als Nestbeschmutzer und diese die Regierung als die eigentlichen Feinde. Man kann also durchaus im Sinne Adornos von einem Prozeß der Entfremdung sprechen, in dem politische Leere zum Ausdruck der Moderne wird, in dem Regierung und Opfer sich gegenseitig als das Hauptproblem betrachten, während die eigentlichen Machtverhältnisse immer weniger erfaßt werden. Man sieht, die Regierung Aylwin verhielt sich zum Thema Vergangenheit relativ ambivalent. Auf der einen Seite wurde versucht, der Realität zum Durchbruch zu verhelfen, auf der anderen Seite breitete man neue Schleier über sie aus. Am deutlichsten wird dies bei den juristischen Verfahren gegen die Täter. Die Diktatur hatte 1978 eine Amnestie verabschiedet. Verbrechen, die zwischen 1973 und 1978 begangen worden waren, konnten also eigentlich nicht mehr geahndet werden. Man kann sich fragen, ob die Amnestie überhaupt legal war, ob sie nicht internationalem Recht widerspricht. Man kann sich weiter fragen, ob das Verschwinden einer Person durch die Amnestie abgedeckt ist, oder ob das Verbrechen noch andauert, da der "Verschwundene" ja nie wieder aufgetaucht ist. Letztendlich kann man dann auch noch meinen, daß man sowieso niemanden amnestieren kann, dem man nicht zuvor nachgewiesen hat, daß er ein von der Amnestie erfaßtes Verbrechen begangen hat, d.h. also zumindest das Herstellen der Wahrheit ist durch die Amnestie eigentlich nicht verhindert. Außerdem gibt es natürlich eine große Anzahl von Menschenrechtsverletzungen, die nach 1978 begangen wurden. Aus diesem Grunde war der Druck auf die Regierung Aylwin relativ groß, sehr schnell eine sogenannte "ley de punto final" zu verabschieden, also einen gesetzlichen Schlußpunkt zu setzen, der wie z.B. in Uruguay das Ende aller Verfahren sichergestellt hätte. Dagegen hat sich Aylwin lange Zeit sehr erfolgreich gewehrt. Das ganze Problem wurde auf die Justiz abgeschoben, von der man ja eigentlich schon seit Jahren wußte, wie diktaturabhängig ihre Entscheidungen 175

ausfielen. Jetzt aber gab es plötzlich Richter, die den Mut aufbrachten, neue Entscheidungen zu fallen. Ob der Unfähigkeit also, die Amnestie zu widerrufen, abhängig von einem unzuverlässigen Justizsystem, aber auch unwillig, eine "ley de punto final" zu verabschieden, entschied sich die Regierung Aylwin dafür, gar nichts zu tun, was gleichbedeutend damit war, zumindest die Möglichkeit offen zu lassen, die Probleme der Menschenrechtsverletzungen irgendwann einmal im Rahmen der Justiz angemessen zu bearbeiten. Statt Staatsautorität ein Stück Glauben an den gesellschaftlichen Prozeß. Diese Politik trug Früchte, und plötzlich sah sich eine relativ große Gruppe von Angehörigen des Militärs vor der Verpflichtung, vor Gericht über ihre Taten aussagen zu müssen, ein Vorgang, der von ihnen als Frontalangriff wahrgenommen wurde. Sie hatten geglaubt, sie stünden über dem Gesetz, und nun, obwohl sicher, daß sie nicht verurteilt werden würden, mußten sie sich zumindest von ehemaligen Opfern identifizieren lassen, vor Gericht erscheinen. Natürlich forderte dies Widerspruch heraus und bei einer Auslandsreise Aylwins kam es schließlich zur Kasernierung der Militärs und deutlich hörbarem Säbelrasseln. Konkret bestand nicht die Gefahr eines Putsches, aber die Angststrukturen gerade unter den Politikern waren wirksam genug, um sich den Militärs anzupassen, Kritik an ihrem Verhalten sehr vorsichtig auszudrücken und Verhandlungen zu beginnen, deren Ziel das Ende aller anhängigen Prozesse war. Als Aylwin aus dem Ausland zurückkehrte, war er zwar wütend über das Management seiner Minister, prangerte auch die mangelnde Subordination des Militärs öffentlich an, unternahm aber dann doch den Versuch, ein Gesetz vorzulegen, das in sehr verschleierter Form den endgültigen Schlußstrich gezogen hätte. Nach öffentlichen Protesten zog er das Gesetz zurück. Er beendete sein Mandat mit der Erklärung, der Übergang zur Demokratie sei nun vorbei, die volle Normalität erreicht. Diese von außen fast witzig anmutende Demokratie per Dekret erweist erneut, wie begrenzt die reale Macht der neuen Demokratie war und ist, wie unbewußt autoritäre Strukturen erneuert und verfestigt werden, wie gefahrlich — trotz aller Erfolge — die allzu vorsichtige Behandlung der Menschenrechtsfrage durch die Regierung Aylwin war. Konnte man Aylwin noch zugute halten, mit der Vergangenheit zumindest ambivalent umgegangen zu sein, so muß man zu seinem Nachfolger Frei leider sagen, daß ihn das Thema eigentlich nicht interessiert. In seinen ersten Äußerungen als Kandidat wurde das Menschenrechtsproblem als Altlast abgetan, davon geredet, es sei jetzt endlich Zeit, in die Zukunft zu schauen. Später flocht er dann ein paar unverbindliche Bemerkungen in seinen Diskurs ein, aber im Grunde genommen wollte er andere Schwergewichte setzen: die Armut bekämpfen, die Wirtschaftsentwicklung vorantreiben, effizient sein. Kein Diktator, aber auch kein Landesvater. Als Ingenieur und Unternehmer, als Vertreter der Leute, die Chile angeblich ins nächste Jahrhundert führen werden, war für ihn Schein und Wirklichkeit nicht mehr zu unterscheiden. Die Diktatur war vorbei, der Übergang auch; jetzt ging

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es nur noch darum, die großen Probleme der Zukunft in Angriff zu nehmen. Statt Demokratie Technokrate, die Menschenrechtsprobleme eine Handelsgröße. Trotz des erklärten Willens der Regierung, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, sich mit den Militärs zu verständigen und die Ungeschicklichkeit zu predigen, wurde sie bald von eben dieser Vergangenheit eingeholt. Für ein nicht amnestierbares Verbrechen wurden Mitglieder der Polizei rechtskräftig verurteilt, der oberste Polizeigeneral der Beihilfe und Vertuschung beschuldigt. Frei fand es sinnvoll, um dessen Rücktritt nachzusuchen. Aber der General weigerte sich, und plötzlich war die Demokratie keine mehr. Die Regierung mußte zugeben, keine rechtliche Handhabe zu besitzen, mit der sie einen Polizisten in den Ruhestand versetzen kann. Statt Frieden und Zukunftsmusik kam es zur Machtprobe. Menschenrechte waren wieder in. Und diese Machtprobe verlor der Präsident. Aber noch Schlimmeres tauchte am Horizont auf. Während die NAFTA-Verhandlungen eigentlich zügig voranschreiten sollten, Chile als neuer Wirtschaftstiger in die Freihandelszone USA — Kanada - Mexiko aufgenommen werden sollte, näherte sich gleichzeitig der explizit von der Amnestie ausgenommene Prozeß um die Ermordung des ehemaligen chilenischen Außenministers Letelier seinem Ende. Angeklagt war u.a. der ehemalige DINA-Chef Contreras, und eine Verurteilung stand ob des nordamerikanischen Drucks zu befurchten. Gleichzeitig war aber für diesen selbst und für die Militärs eine rechtsgültige Verurteilung eines Generals vollkommen undenkbar. Wie in einem schlechten Politthriller entwickelten sich die Verhältnisse. Das Militär verteidigte die Unschuld von Contreras, drohte mit Befehlsverweigerung, Kasernierung usw. Die Amerikaner sind dem Terror gegenüber im allgemeinen tolerant, aber nicht in ihrem eigenen Land. Deshalb drängten sie auf Verurteilung. Contreras selbst meinte, der Mord sei von der CIA begangen worden und er selbst würde nie ein Gefängnis betreten. In der chilenischen Öffentlichkeit wurde der Contreras-Prozeß zum Symbol für alles, was unrecht war, für die Möglichkeit, zumindest den Schlimmsten der Schlimmen hinter Schloß und Riegel zu bringen. Die Regierung konstruierte ein 5-Steme-Hotel als Sondergefängnis für Angehörige des Militärs. Contreras wurde verurteilt. Andere anhängige Verfahren gegen Militärs wurden massenweise eingestellt, so etwa nach dem Motto: einer für alle. Kurz nach seiner Verurteilung verschwand Contreras plötzlich, nur um nach ein paar Stunden in einem Militärkrankenhaus wieder aufzutauchen, von wo ihm auch prompt Haftunfähigkeit bescheinigt wurde. Ein paar Monate später kam Contreras dann nach vielen Verhandlungen schließlich doch ins Sondergefangnis, unmittelbar bewacht allerdings nur von Angehörigen des Militärs. Gleichzeitig trat Frei vor die Kameras und machte einen Gesetzesvorschlag zur Befriedung des Landes, während er anerkannte, daß es in Chile noch keine Demokratie gebe, daß das Militär sich nur begrenzt unterordne, daß noch viele Wunden offen seien und geheilt werden müßten. Der Gesetzesvorschlag war ziemlich weitreichend und verband Vorschläge zur Beendigung der Prozesse gegen Militärs mit Garantien für die Opfer sowie mit Vorschlägen zur Verfassungs177

änderung im Sinne einer fortschreitenden Demokratisierung. Öffentliche Begeisterung war angesagt, ob so viel unerwarteter Vernunft. Aber dann mußte der Vorschlag mit der Rechten verhandelt werden. Kompromisse mußten geschlossen werden, und schließlich kam es zu einem Pakt der gemäßigten Rechten mit Teilen der Regierung, d.h. den Christdemokraten, der das Ende der Prozesse sicherstellen, die Garantien für die Opfer beseitigen, alle zufallig noch auftauchenden Wahrheiten zum Geheimnis erklären, an der Verfassungswirklichkeit nichts Relevantes ändern und den Frieden mit den Militärs sichern sollte. In der Regierung Frei kam es also zu einem Prozeß, in dem nun wirklich die Vergangenheit bewältigt, um nicht zu sagen vergewaltigt werden sollte. Frei wollte ebenso wie die Militärs Frieden und Wirtschaftsentwicklung. Die Amerikaner aber hatten Interesse an Contreras. Ohne seine Verurteilung keine NAFTA. Also wird er verurteilt, aber dafür ist ein Preis zu zahlen. Um diesen politisch durchsetzen zu können, macht man erst einen vernünftigen Vorschlag und verändert ihn dann so, daß er ausschließlich den interessierten Militärs zugute kommt. Während die extreme Rechte hilfreich auch dagegen protestiert, so tut, als stünde die Weltrevolution bevor, wird gleichzeitig die gemäßigte Linke isoliert, in ihrem Beharren auf die Menschenrechtsproblematik ausgegrenzt und Chiles Zukunft, die Mitte-Rechtskoalition, kann Probe gehandelt werden. Das eigentlich Erschütternde dabei ist, wie nun wirklich die Problematik der Menschenrechtsverletzungen und die Vergangenheit überhaupt zum Handelsobjekt werden konnten. Während die Militärs und die Rechte genau diese Verknüpfung immer angestrebt haben, war bis heute einer der grundlegenden Vorteile des chilenischen Prozesses, daß dies nicht gelungen war. Zwar war nichts gelöst worden, aber immerhin hatte man sich auch nicht darauf eingelassen, regierungsoffiziell die Verleugnung zu betreiben. Nun aber ist konkret so opportunistisch mit dem Problem umgegangen worden, d.h. es ist in den Auseinandersetzungen mit der Rechten so unmittelbar verfilzt worden und zum schlichten Handelsobjekt geworden, daß unabhängig vom Ausgang der Gesetzesvorlage Frei großer Schaden angerichtet worden ist1. Im Prinzip kann man sagen, daß hier zum ersten Mal sichtbar der Demokratisierungsprozeß in Chile einen Rückschritt gemacht hat, nicht etwa, weil die Militärs die Macht ergriffen hätten, nicht etwa, weil die Regierung Frei eine weitere Demokratisierung nicht wollen würde, sondern vielmehr, weil zum ersten Mal von der demokratisch gewählten Regierung sichtbar und aktiv die Vergangenheitsverleugnung vorangetrieben wurde, weil die Bürger entmündigt werden und die kollektive Erfahrung der vergangenen 20 Jahre zum Staatsgeheimnis werden sollte. So wie beim sexuellen Mißbrauch das Geheimhalten der Tat und der Täter genau das ist, was die Gefahr des fortgesetzten Mißbrauchs aufrechterhält, so gilt auch für Chile und die Menschenrechtsverletzungen der

Die Weigerung einer ausreichenden Zahl rechter Oppositionspolitiker, eine demokratisierende Verfassungsreform (Abschaffung der ernannten Senatoren, Veränderung der Zusammensetzung von Nationalem Sicherheitsrat und Verfassungsgericht) zu unterstützen, führte dazu, daß auch die Gesetzesvorlage der Regierung Frei zur "Vergangenheitsbewältigung" zunächst einmal storniert wurde.

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Vergangenheit, daß das gesetzlich abgesicherte Geheimnis für die Täter und ihre Aussagen den Terror wieder zur Gegenwart macht. Es gibt etwas, das alle wissen, das alle kennen, aber konkret soll darüber nicht mehr gesprochen werden, konkret soll nichts aufgeklärt werden. Trotzdem sind diese politischen Realitäten vielleicht nicht ganz so hoffnungslos. Sie lassen sich auch von einer anderen Warte aus verstehen. Im jetzigen politischen Prozeß zeigt sich, daß trotz des expliziten Wunsches der Regierung, es allen recht zu machen, keinen Konflikt zu produzieren, es eben doch wieder zu Problemen mit der Vergangenheit gekommen ist. Das Totschweigen hat nicht funktioniert. Auch ist es zwar richtig, daß man sich über die Tendenz zum Mitte-Rechts-Bündnis beunruhigen muß, gleichzeitig aber bewegen sich momentan viele Leute, auch Christdemokraten, zum ersten Mal wieder zu einer aktiven Menschenrechtspolitik hin. Während der Regierungszeit Aylwins gab es viele Sozialisten, die sich für dieses Thema bewußt nicht mehr interessieren wollten. Heute müssen sie es wieder auf ihre Fahnen schreiben. Das unvermittelt Konflikthafte kann nicht mehr verschwiegen werden, sucht sich seinen Weg. Und das ist sicherlich ein Bestandteil einer echten Demokratisierung. Eine Meinungsumfrage, die kürzlich in Chile durchgeführt wurde, erwies sehr deutlich, daß die Bevölkerung zumindest die Realität relativ gut durchschaut: Fast drei Viertel aller Befragten gaben an, daß sie nicht glaubten, die Chilenen seien miteinander versöhnt, daß es unbedingt nötig sei, die ganze Wahrheit zu erfahren und daß zumindest die Hauptschuldigen vor Gericht gehörten. Zwei Möglichkeiten können wir uns also für die Zukunft vorstellen: Auf der einen Seite ein Chile auf dem Weg in den demokratischen Konflikt, auf der anderen Seite ein Chile auf dem Weg in die autoritäre, postmoderne Pseudodemokratie. Welcher dieser Wege beschritten wird, ist unsicher. Ganz sicher aber ist, daß die Menschenrechtsproblematik, die Vergangenheit der entscheidende Ort ist, an dem über diese unterschiedlichen Möglichkeiten entschieden wird und an dem sich das Problem entwickelt und entfaltet. Die entscheidenden Faktoren sind hier nicht nur die nationalen politischen Prozesse, sondern auch die internationalen Bezüge. Solange Chile international in dieser Frage überhaupt nicht wahrgenommen wird, oder solange sich nicht zumindest teilweise ein Interesse erneuert, das es einmal gab, werden in Chile genau die Tendenzen unterstützt, die die Gefahr heraufbeschwören, daß es in einigen Jahren erneut zu Situationen kommt, die die internationale Solidarität auf den Plan rufen werden, aber wie immer zu spät.

Die Geschichte der Familie Pérez Ich möchte zum Schluß dieses Artikels, der sich im wesentlichen einer globaleren politischen Analyse gewidmet hat, doch noch einmal kurz auf einen spezielleren, einen konkreten Fall zu sprechen kommen. Ich möchte von Oskar, seiner Schwester Juana und von seiner Mutter Cecilia berichten. Solange politische Analysen an 179

den konkreten Menschen immer vorbeigehen, werden sie zwangsweise immer wieder zu falschen Schlüssen fuhren. Genau deshalb ist es mir hier wichtig, mich noch einmal direkt auf die Personen zu beziehen, die die unmittelbaren Opfer der Vergangenheit und ihrer fehlenden Aufarbeitung sind. Cecilia wurde 1975 zusammen mit ihrem Mann verhaftet und schwer gefoltert. Die damals 8 Monate alte Juana kam zu den Großeltern. Nach Monaten kam Cecilia frei, wurde aber unmittelbar des Landes verwiesen. Ihr Kind erhielt sie auf dem Flugplatz zurück. Ein Jahr später kam der Ehemann ins europäische Exil nach. Die Eltern trennten sich. Der Vater ging nach Venezuela, Mutter und Tochter blieben in Europa, wechselten aber mehrmals das Land. Nach einer vorübergehenden Bindung an einen anderen Exilchilenen wurde Oskar geboren. 1990 kehren die drei nach Chile zurück und bitten 1992 um Behandlung im ILAS. Cecilia hat eine schwere Depression und Panikzustände. Juana zeigt Anzeichen für eine Magersucht. Oskar hat dauernd schwere Alpträume, Halluzinationen, Zwangsvorstellungen. Als Gesamtfamilie wirken sie symbiotisch verknüpft, leicht paranoid, entstrukturiert. Die Behandlung der Familie in Einzel- und Familientherapie bestand im wesentlichen aus einer stückchenweisen Rekonstruktion der Vergangenheit. Was war wann wem passiert, was empfanden die Beteiligten zu diesen Vorgängen. In dem Bemühen, den jeweils anderen vor dem empfundenen Terror zu schützen, hatten sie die Möglichkeit verloren, als Familie miteinander zu kommunizieren. Im therapeutischen Raum ging es nun darum, eine Rekonstruktion zu versuchen, die eben nicht nur individuelle Gefuhlssituationen aussprechbar machte, sondern auch diese in ein politisches und soziales Gesamtgeschehen einordnete, innerhalb dessen das Vorgefallene verstehbar war. Nach zwei Jahren ging es allen Beteiligten sehr viel besser. Die Symptomatik der Kinder verschwand völlig, als Familie konnten sie eine gute Struktur aufbauen, und auch Cecilia war weniger depressiv, obwohl in ihren Sozialbeziehungen immer noch eher zur Isolation neigend. Trotz all dieser Besserungen aber konnten sie als Gruppe im modernen Chile nicht heimisch werden. Formal wollte Cecilia in Chile bleiben und lernen, es wieder als ihr Zuhause wahrzunehmen, trotz Pinochet, trotz Frei. Gleichzeitig aber drückte sie immer wieder ihr grundlegendes Fremdheitsgefühl aus. Schließlich war es Juana die gegen den Widerstand der Mutter durchsetzte, ihr Studium in Europa durchzufuhren. Ein Jahr später folgten ihr Oskar und Cecilia nach. Heute leben sie alle drei wieder zusammen. Es geht ihnen ganz gut, im medizinisch-therapeutischen Sinne sind sie geheilt. Eine Heimat aber haben sie nicht gefunden. Mit Sicherheit ist es weniger selbstentfremdend, heimatlos im Ausland zu sein, als in der Heimat verloren. Cecilia, Juana und Oskar sind Opfer der chilenischen Vergangenheitsbewältigung geworden. Solche Opfer gibt es viele.

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Literaturverzeichnis ADORNO, T. W., 1970: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit? (1959), in: ders., Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt/M., 10-28. BECKER, D. / CASTILLO, M.I., 1990: Procesos de Traumatización Extremas y Posibilidades de Reparación, Santiago de Chile. , 1992: Diagnóstico y Tratamiento de Traumatizados Extremos, Santiago de Chile. , 1992: Ohne Haß keine Versöhnung. Das Trauma der Verfolgten, Freiburg. BETTELHEIM, B., 1943: Individuelles und Massenverhalten in Extremsituationen (1943), in: ders., Erziehung zum Überleben. Zur Psychologie der Extremsituation, München, S8-9S. GRUBRICH-SIMITIS, I., 1980: Nachkommen der Holocaust-Generation in der Psychoanalyse, in: Psyche, 38/1: 1-28. KEILSON, H., 1979: Sequentielle Traumatisierung bei Kindern, Stuttgart. MITSCHERLICH, A. / MITSCHERLICH, M., 1967: Die Unfähigkeit zu trauern, München. PARIN, P., 1980: Gesellschaftskritik in Deutungsprozessen, in: Helmut Dahmer (Hrsg.), Analytische Sozialpsychologie, II: 511 -533, Frankfurt/M. STIFTUNG FÜR KINDER (Hrsg.), 1995: Children - WarandPersecution. ProceedingsoftheCongress of Hamburg, September 26-29, 1993, Osnabrück.

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Rainer Huhle

Ein Schritt vorwärts — und zwei zurück? Der "Fall Letelier" im Prozeß der Rückgewinnung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Chile1 Eine Bombe in Washington Fast genau drei Jahre nach dem Putsch General Pinochets gegen die Regierung der Volksfront unter Salvador Allende tötete am 21. September 1976 in Washington D.C. eine Autobombe den ehemaligen Außen- und Verteidigungsminister der Regierung Allende, Orlando Letelier, und Ronni Moffitt 2 , seine US-amerikanische Mitarbeiterin im "Institute for Policy Studies" in der nordamerikanischen Hauptstadt. Ronni Moffitts Ehemann Michael entging nur durch einen glücklichen Zufall dem Attentat. Auch nach zwanzig Jahren ist nicht völlig geklärt, was genau die chilenischen Machthaber zu diesem Attentat in Washington bewog. Zwar war die Arbeit Leteliers, der zu den intellektuellen Köpfen der Unidad Populär gehört hatte und über beste internationale Verbindungen verfügte, dem Pinochet-Regime zweifellos unbequem — die nur 10 Tage vor dem Mord von der gesamten Junta unterzeichnete Aberkennung der chilenischen Staatsbürgerschaft war ein deutliches Zeichen. Mindestens so unbequem wurden für die chilenische Diktatur jedoch die absehbaren Folgen des tödlichen Anschlags. So sehr die Regierung der USA mit dem Sturz der Regierung Allende sympathisiert und dabei auch massenhafte Tötungen von

Der Schwester des Ermordeten und Anwältin der Familie in dem fast 20jährigen Bemühen um die Verurteilung der Schuldigen, Fabiola Letelier, danke ich für viele Sachdaten dieses Beitrags, die sie mir in Form von Archivmaterialien und Prozeßunterlagen zur Verfügung stellte. Sie können nicht in jedem Fall einzeln angeführt werden, doch ohne sie wäre dieser Beitrag nicht möglich gewesen. Die Analyse des Prozesses und die daraus gezogenen Schlußfolgerungen für die politische Situation in Chile bleiben jedoch ausschließlich in der Verantwortung des Autors. Der Name Ronni Moffitt taucht in der Literatur in verschiedenen Schreibweisen auf. Ich verwende hier die in US-Quellen überwiegend anzutreffende und auch in der Anklageschrift der Nebenklage im Verfahren gegen Contreras verwendete Schreibweise.

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Anhängern der Volksfront in Kauf genommen hatte, ein terroristischer Anschlag in der eigenen Hauptstadt verstieß gegen die politische Etikette. Ein vergleichbares Attentat durch fremde Agenten hatte es bis dahin in den USA nicht gegeben. Die sofort in Gang gesetzten Untersuchungen der US-Behörden führten schnell auf die richtige Spur: die "Dirección de Inteligencia Nacional"der Pinochet-Diktatur, die unter der Abkürzung "DINA" zu trauriger Berühmtheit gelangt war. Ein ebenso abenteuerlicher wie langwieriger Politkrimi begann, der die chilenischen Regierungen mehr als einmal in größte diplomatische und politische Schwierigkeiten brachte. Als unmittelbare Täter wurden zwei Mitarbeiter der DINA und eine Gruppe von Exil-Kubanem ausgemacht. Im April 1978 wurden in Miami die beiden ExilKubaner Alvin Ross und Guillermo Novo verhaftet und ein Jahr später zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Ein weiterer Kubaner erhielt acht Jahre Gefängnis und zwei Mitglieder der Gruppe, die von der DINA für das Attentat angeheuert worden war, wurden erst zu Beginn der neunziger Jahre verhaftet und zu jeweils 12 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Schwieriger und vor allem diplomatisch heikel gestaltete sich die Verfolgung der chilenischen Agenten, die das Attentat planten, vorbereiteten und seine Durchführung leiteten. Zwar wurden die unmittelbar am Attentat beteiligten DINAAgenten, die mit falschen Pässen in die USA eingereist waren, bald vom FBI und den Justizbehörden identifiziert. Es handelte sich um den in Chile lebenden US-Bürger Michael Townley und den chilenischen Hauptmann Armando Fernández Larios. Beide gehörten, wie inzwischen zweifelsfrei feststeht, einer Spezialeinheit der DINA an. Unter dem Druck der USA eröffnete die chilenische Justiz ein Verfahren, das jedoch verschleppt wurde. 1978 wurde in den USA selbst gegen Townley und Fernández und darüber hinaus gegen den DINA-Oberst Pedro Espinoza Bravo sowie gegen den ehemaligen Chef der DINA, General Manuel Contreras, Anklage erhoben.

20 Jahre politisch-juristischer Kampf um Verurteilung der Mörder Mit der Anklage gegen Contreras, einen engen Vertrauten von Pinochet, den dieser noch nach dem Letelier-Mord in seinen engeren Beraterstab berufen hatte, gewann der Fall an politischer Brisanz. Er wurde zu einer erheblichen Belastung des Verhältnisses zwischen den USA und der Pinochet-Diktatur. Dies wiederum brachte das Regime auch innenpolitisch immer wieder in Verlegenheit. Zunächst hoffte die Junta offenbar, den Fall mit einem Bauernopfer beilegen zu können. Im April 1978 wird Townley aus Chile ausgewiesen. Wenn, was zu vermuten ist, diesem Schachzug geheime Absprachen sowohl mit Townley als auch mit den US-Behörden zugrunde lagen, die den Schaden begrenzen sollten, dann machte Townley einen Strich durch die Rechnung. Er machte vor der USJustiz umfassende Aussagen nicht nur über die Tatumstände, sondern auch über 183

die Hintergründe und die Geheimdienststrukturen, die das Verbrechen vorbereiteten. Im Gegenzug erhielt er umfassende Kronzeugenvergünstigungen. Zwar verurteilte ihn ein Gericht im Mai 1979 zu zehn Jahren Haft, von denen er jedoch nur wenig mehr als drei Jahre verbüßen mußte. Anschließend erhielt er eine neue Identität und baute sich unter anderem Namen eine neue Existenz auf. Erst Anfang der neunziger Jahre wurde Townley wieder öffentlich sichtbar, als er im amerikanischen Fernsehen ein ausführliches Interview gab, in dem er die Regierung und den Geheimdienst Chiles beschuldigte, ihn verraten zu haben. Offensichtlich hatte seine Aussagebereitschaft vor Gericht auch mit der Angst um sein Leben zu tun. Seine ehemaligen Auftraggeber in Chile hingegen nahmen seine Äußerungen zum Anlaß, erneut die These aufzuwärmen, der mit einer Chilenin verheiratete Townley sei in Wirklichkeit ein CIA-Agent3, der Mord an Letelier also ein Attentat der CIA gewesen. Townleys Aussagen verbauten jedenfalls endgültig eine politische Bereinigung des Falles zwischen der chilenischen und der US-Regierung, falls letztere dazu je ernsthaft bereit gewesen sein sollte. Wenige Tage nach seiner ersten Aussage wurden bereits die ersten kubanischen Tatbeteiligten gefaßt. Weit folgenreicher war jedoch das Auslieferungsgesuch, daß die US-Justiz aufgrund ihrer Anklage gegen Contreras, Espinoza und Fernández Larios stellte. Die Beschuldigten mußten in Chile unter Arrest gestellt werden, vor der Militäijustiz wurde ein Ermittlungsverfahren zur Überprüfung des Auslieferungsgesuchs in Gang gebracht. Doch Pinochet kannte den Unterschied zwischen einem Contreras und einem Townley. In zwei Instanzen lehnten seine Richter das Auslieferungsersuchen ab. Seit dem Oktober 1979, als die Berufungsinstanz in Chile eine Auslieferung der drei Militärs definitiv ablehnte und die Beschuldigten auch nach außen hin voll rehabilitiert ihren Dienst wieder antraten, bestand zwischen dem Pinochet-Regime und der US-Regierung ein ungelöstes Problem. Die Reaktionen der US-Regierung kamen 1979 zunächst prompt, hielten sich jedoch in Grenzen. Die Militärhilfe wurde ausgesetzt. Doch auch der seit 1977 im Amt befindliche Präsident Carter entzog der Regierung, die gerade von USÖkonomen zum Vorreiter des Wirtschaftsliberalismus hochgelobt wurde, nicht grundsätzlich seine Unterstützung. Noch weniger dachte natürlich sein Nachfolger Reagan an einen Bruch mit der Junta, doch die Forderung nach einer Bereinigung des Falls Letelier brachte auch der konservative Republikaner immer wieder vor. So erwies es sich als umsichtig, daß die Junta rechtzeitig eine Reihe von Maßnahmen ergriffen hatte, um sich aus der Schußlinie zu bringen. Am 18.4.78,

Diese These konnte bislang weder bestätigt noch widerlegt werden. Abwegig ist sie keinesfalls, zumal die Verwicklung der CIA in zahlreiche Aktionen im Vor- und Umfeld des Putsches gegen Allende erwiesen ist. Jüngst wurden Dokumente bekannt, die z.B. auch auf eine direkte Beteiligung der CIA an den Vorbereitungen zur Ermordung des damaligen Oberbefehlshabers der chilenischen Streitkräfte, General René Schneider, hinweisen (s. den Bericht des Beraters des ehemaligen peruanischen Militärpräsidenten Velasco, Augusto Zimmermann Zavala in "La República", Lima, vom 22. 9. 95). Von der Ermordung Schneiders fuhrt aber eine direkte Spur zu den späteren Attentaten auf General Prats und auf Orlando Letelier (s.u.).

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also zeitgleich mit der Ausweisung Townleys aus Chile, wurde durch Gesetzesdekret Nr. 2191 eine Amnestie für alle Menschenrechtsverbrechen erlassen, die während des Belagerungszustands, also vom 11.9.73 bis zum 10.3.78, verübt worden waren. Zwar mußte auf Druck der US-Regierung das Verbrechen gegen Letelier davon ausgenommen werden, ein zweites Mal sollten treue Diener der Putschregierung jedoch nicht vergleichbar ungeschützt dastehen. Zugleich wurden Maßnahmen ergriffen, die Spuren des Verbrechens - und auch vieler anderer Verbrechen der Diktatur — zu verwischen. Nach außen demonstrativ wurde bereits im August 1977 die DINA aufgelöst und durch die "CentralNacional de Informaciones " (CNI) ersetzt. Zwar entsprach dieser Namenswechsel auch einer gewissen Akzentverschiebung in der Technik der Repression. Die Phase des massenhaften Verschwindenlassens Oppositioneller war nach vier Jahren beendet und wurde durch stärkere geheimdienstliche Aufklärungsarbeit abgelöst (Kletten 1991: 63). Gleichwohl bestand weitestgehende personelle und organisatorische Kontinuität zwischen DINA und CNI (Arce 1994: 271 ff.). Nicht zuletzt blieb der Mann an der Spitze des neuen Apparats der gleiche: Manuel Contreras. Doch wann immer die Beschuldigungen gegen die DINA zu laut wurden, konnte jetzt behauptet werden: Es gibt keine DINA mehr. Gleichzeitig wurde schon damals begonnen, Beweismittel für die Verbrechen der Diktatur und speziell der DINA zu vernichten bzw. beiseite zu schaffen 4 . Bis heute sind von weit mehr als 1000 Verschwundenen lediglich in 102 Fällen die Überreste der Opfer gefunden und ihren Angehörigen übergeben worden, so eine Auskunft der Ende 1995 von der Regierung Aylwin eingesetzten "Nationalen Korporation für Wiedergutmachung und Versöhnung". Meist sind es Zufalle, die zur Aufklärung des Schicksals dieser Verschwundenen führen, die Beweise bleiben verborgen. Im Fall des Generals Contreras gibt es Berichte, wonach er bei der Umstrukturierung der DINA in die CNI große Mengen Unterlagen beiseite geschafft habe — u.a. nach Deutschland —, nicht nur, um sie nicht in die Hände der Justiz fallen zu lassen, sondern auch, um sich gegen ein Fallenlassen durch Pinochet á la Townley abzusichern. Jedenfalls blieb die Position des Generals Contreras während der gesamten Zeit der Pinochet-Diktatur unangetastet, auch nach seiner Pensionierung, trotz des Drucks der USA und trotz der ausdrücklichen Ausnahme des Falls Letelier von der Amnestie. Erst zwanzig Jahre nach dem Verbrechen und nachdem Pinochet

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Mit welcher Skrupellosigkeit und Systematik dabei vorgegangen werden konnte, belegt die Zeugenaussage eines Angehörigen der Carabineros (militarisierten Polizei) in einem anderen aufsehenerregenden Verfahren. Ein Mitglied der DICOMCAR, der Sondereinheit, die für den Mord an einem Mitglied der "Vicaría de Solidaridad' und zweier weiterer Personen im Jahr 1985 (der aufsehenerregende Fall der "degollados") verantwortlich ist, berichtete, wie mit einem Helikopter Fotos einer Kaserne gemacht wurden, nach denen dann bestimmte Teile der Hinrichtung zerstört und die ganze Topographie verändert wurde, damit ehemalige Gefangene die Örtlichkeiten nicht wiedererkennen konnten: Caucoto Pereira/Salazar Ardiles (1994: 175).

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die unmittelbaren Regierungsgeschäfte hatte aufgeben müssen, sollte sich diese Ausnahmeregelung für Contreras doch noch als Fallstrick erweisen. Denn mit der Ablehnung des Auslieferungsbegehrens der USA war der Fall für Contreras und Pinochet noch nicht ausgestanden. Die endgültige Einstellung des Verfahrens durch die Amnestierung war ausgeschlossen, und sowohl in den USA wie in Chile wurde der Fall mit verschiedenen Rechtsmitteln weiterverfolgt. In den USA sprach 1980 ein Gericht den Hinterbliebenen der Familien Letelier und Moffitt einen Entschädigungsanspruch gegenüber der chilenische Regierung zu, was einer indirekten Verurteilung gleichkam. Als 1986, mitten in der Amtszeit Präsident Reagans, der Druck auf Chile wieder stärker wurde, optierte einer der beschuldigten Militärs, Hauptmann Fernández Larios, für eine Bereinigung seiner Situation. Er stellte sich im Februar 1987 der US-Justiz, bekannte sich der Beihilfe zum Mord schuldig und sagte aus, daß der Befehl zum Mord über Contreras von Pinochet persönlich gekommen sei. Soviel Kooperationsbereitschaft fand vor Gericht Anerkennung. Fernández wurde zu lediglich 33 Monaten Gefängnis verurteilt und bereits nach eineinhalb Jahren auf freien Fuß gesetzt. Gleichzeitig versuchten die USA erneut, Contreras und Espinoza vor ein amerikanisches Gericht zu bekommen, was Pinochet wiederum ablehnte. In Chile war es vor allem Fabiola Letelier, die Schwester des Ermordeten und selbst Juristin, die mit Hilfe von Menschenrechtsorganisationen alle juristischen Möglichkeiten des Falles auszuschöpfen versuchte, was zugleich über viele Jahre hin intensive eigene Ermittlungen bedeutete. Bereits während der Diktatur gelangen Fabiola Letelier als Rechtsvertreterin der Familie einige bemerkenswerte juristische Erfolge. 1982 erreichte sie die Aufhebung der Einstellung eines Verfahrens auf einem scheinbaren Nebenschauplatz: dem in Chile anhängigen Verfahren um die gefälschten Pässe, mit denen Townley und die übrigen Mörder Leteliers und MofFitts in die USA eingereist waren. Zwar führte dies noch lange nicht zur Durchfuhrung eines entsprechenden Verfahrens, doch zumindest war die Möglichkeit eines künftigen Prozesses offengehalten. Diese Möglichkeit kam mit dem Rücktritt General Pinochets als Präsident Chiles nach dem verlorenen Plebiszit vom Oktober 1988 und der Bildung einer demokratisch gewählten Regierung durch Präsident Aylwin im März 1990. Die neue politische Situation erleichterte in vielerlei Hinsicht die Sammlung von Beweisen. So machten zwei in den Fall verwickelte ehemalige DINA-Mitarbeiterinnen, nachdem sie enttarnt worden waren, vor Gericht dienliche Aussagen, die 1991 zur Eröffnung eines Strafverfahrens gegen Contreras und Espinoza beitrugen. Während der Pinochet-Zeit war die Chance, Menschenrechtsverbrechen gerichtlich untersuchen zu lassen — soweit sie nicht durch die Amnestie ohnehin der Untersuchung entzogen waren — doppelt gering: Einmal zog, da es sich ja regelmäßig um Angehörige von Militär und Sicherheitskräften handelte, die Militärjustiz fast alle Verfahren an sich. Zum anderen war der Oberste Gerichtshof, der im Zweifelsfall zu entscheiden hatte, mit regimetreuen Richtern besetzt. Dies hat sich bis heute nicht grundsätzlich geändert. Im Fall Letelier jedoch machte 186

die Regierung von einer 1991 von ihr eingeführten Modifikation der Gerichtsverfassungsgesetze Gebrauch und ernannte einen Sonderrichter des Obersten Gerichtshofs für diesen speziellen Fall, da die Interessen des chilenischen Staates in besonderer Weise berührt seien. Einmal mehr kam also die besondere internationale Dimension des Falles zum Tragen. Zum Sonderrichter wurde Adolfo Bañados benannt, der sich als zielstrebiger Ermittlungsrichter, aber auch versierter Verfahrenskenner erweisen sollte, und der die vielen formalen Fallstricke seines Amtes geschickt zu umgehen wußte. Diese Verfahrensweise erlaubte auch die Konstituierung einer Nebenklage der Betroffenen. Im August 1991 reichte auf dieser Grundlage Fabiola Letelier einen umfangreichen Schriftsatz zur Klage gegen General Contreras und Oberst Espinoza ein. Diese später auch veröffentlichte Anklageschrift (Letelier 1993) ist nicht nur eine sorgfaltige Bestandsaufnahme aller bis dahin bekannten Tatsachen über die Vorbereitung und den Ablauf des Verbrechens und die darin verwickelten Personen. Sie ist darüber hinaus eine gründliche Beweisführung für die politische Verantwortlichkeit der PinochetDiktatur und speziell der DINA für dieses und andere im Ausland begangene Verbrechen. Denn noch immer hatte sich die Anklage mit einer Verteidigungsstrategie auseinanderzusetzen, die nicht nur die Angeklagten von jeder Beteiligung an dem Verbrechen reinwaschen wollte, sondern überhaupt eine Beteiligung chilenischer staatlicher oder militärischer Dienste an dem Verbrechen zu leugnen suchte. Wenige Wochen später geschah, was bis dahin nur wenige in Chile, auch nach dem Abtritt Pinochets, für möglich gehalten hatten: Der enge Mitarbeiter des Diktators und immer noch obersten Heereschefs, General Contreras, wird in Untersuchungshaft genommen. Ein verbaler Schlagabtausch in den Medien und ein sicher ebenso heftiger Machtkampf hinter den Kulissen zwischen Regierung und Heeresführung begann, der mit drohenden Schatten das ganze Verfahren begleitete. Am 12. September 1993 verkündete der Oberste Gerichtshof unter der Leitung von Richter Bañados sein Urteil. Als intellektuelle Urheber des Verbrechens an Orlando Letelier und Ronni Moffitt wurden Contreras und Espinoza zu 7 bzw. 6 Jahren Haft verurteilt. Beide legten sofort Berufung ein. Da bereits in erster Instanz vor dem Obersten Gerichtshof verhandelt worden war, blieb nur noch eine weitere Berufungsinstanz, nämlich eine andere Kammer des gleichen Gerichts. Die 2. Kammer des Obersten Gerichtshofs bestätigte am 30. Mai 1995 Tenor und Strafmaß des ersten Urteils. Damit ist die Verurteilung rechtskräftig. Zum ersten Mal sind hochrangige Angehörige des Pinochet-Regimes von einem chilenischen Gericht wegen eines politischen Verbrechens verurteilt worden. Die Reaktionen der Angeklagten waren unterschiedlich. Während Espinoza das Urteil annahm und seine Haft in einem wenige Monate zuvor fertiggestellten Sondergefangnis für Militärs (aus der offiziellen Bezeichnung "cárcel de alta seguridad" - Gefängnis hoher Sicherheit, womit die Sicherheit für die Angeklagten gemeint ist — machte der Volksmund ein "cárcel de alta comodidad" — ein Gefängnis hoher Bequemlichkeit) antrat, trieb Contreras ein monatelanges Versteckspiel mit den Behörden, unterstützt von den Streitkräften. Doch am 187

21.10.95 gab auch der einst nach Pinochet gefürchtetste Mann in Chile auf und trat, ebenfalls im Sondergefangnis von Punta Peuca nördlich von Santiago, seine Strafe an. Was wie ein Sieg des Rechtsstaats auf der ganzen Linie aussieht, sollte sich in Wirklichkeit als nicht mehr als ein besonders auffallig flmkelnder Stein in einem komplizierten Mosaik erweisen, das erst als Ganzes das Bild der politischen Situation in Chile zu Beginn der zweiten Amtsperiode eines gewählten Präsidenten nach dem Ende der Diktatur ergibt. Welche Bedeutung diesem besonderen Stein dabei zukommt, soll im Folgenden analysiert werden.

Die Reaktionen auf das Urteil Die chilenische Öffentlichkeit, die jahrelang gespannt den Ausgang des Verfahrens erwartet hatte, nahm das Urteil mehrheitlich mit Befriedigung auf. Auch die Menschenrechtsorganisationen, ohne deren langjährige beharrliche Arbeit wohl kein Gericht die nötigen Beweise zusammengetragen hätte, zeigten sich überwiegend zufrieden, obgleich es nicht an Verweisen darauf fehlte, daß sechs bzw. sieben Jahre eine geringe Strafe für zwei Morde seien. Vielfach wurde das Urteil als Kompromiß empfunden, der einerseits ein rechtsstaatliches Zeichen setzen wollte, daß in Chile das Gesetz jetzt für alle gelte, andererseits aber die Militärs und insbesondere Pinochet nicht zu sehr provozieren sollte. Pinochet in erster Linie, aber auch andere Militärs hatten in den Jahren des Prozesses immer wieder erklärt —und durch Drohgebärden bekräftigt —, daß sie eine Verurteilung von wichtigen Funktionären der Diktatur nicht akzeptieren würden. Das provokative, durch Heer und Marine gedeckte Verhalten von Contreras nach der letztinstanzlichen Verurteilung machte die ganze Brisanz des Urteils noch einmal deutlich. Nachdem juristisch völlig verunglückte Versuche, das Berufungsurteil noch einmal in Frage zu stellen, an ihrer offensichtlichen Haltlosigkeit schnell scheiterten, mußte auch Pinochet das Urteil hinnehmen. Er konnte zwar die Regierung unter Druck setzen, nicht aber einen Gerichtshof, der schon aus formalen Gründen seinen rechtsgültigen Urteilsspruch nicht mehr revidieren kann. Ein auf Dauer angelegter offener Widerstand gegen den Vollzug des Urteils hätte eine politische Krise von solcher Schwere - sie deutete sich bereits an - hervorgerufen, daß ihr Ausgang auch für Pinochet nicht abzusehen war. Es ist wenig Präzises über das Material bekannt, das der ehemalige DINAund CNI-Chef noch in Händen hält. Gerüchte, daß Contreras damit auch Pinochet unter Druck setzen könne, kursieren immer wieder. Es ist aber schwerlich plausibel, um was für Material es sich dabei handeln sollte. Gegen Pinochet sind letztlich alle Anklagen und Vorwürfe, die nur denkbar sind, bereits vorgebracht worden. An Beweisen für seine Urheberschaft an zahllosen Morden nach dem Putsch und während seiner langen Regierungszeit fehlt es nicht. Nicht aus Mangel an Beweisen, sondern aufgrund seiner nach wie vor bestehenden — bzw. von den Politikern seit 188

1990 akzeptierten — Macht ist Pinochet unantastbar geblieben. Für die Erhaltung dieser politischen Macht tat und tut Pinochet, was ihm dafür nützlich scheint. Daß er seine Mitarbeiter um der Erhaltung eines Korpsgeistes willen deckt, was auch ihn letztlich vor allen Angriffen schützt, gehört in aller Regel dazu. Doch aus dem gleichen Grund wird kein Mitarbeiter, und sei er noch so wichtig gewesen, Pinochets Treue über das politisch für ihn Sinnvolle hinaus in Anspruch nehmen können. Pinochet konnte es nicht um das Festhalten an Contreras als Person gehen. Wichtiger war Contreras als Symbol. Auf dieser Ebene war seit Ende der siebziger Jahre — nach den Aussagen Townleys in den USA - Schadensbegrenzung möglich und geboten. Nachdem der Prozeß mit einer — letztlich ja milden - Verurteilung geendet hatte, galt es, dem Ereignis den Symbolwert wieder zu nehmen, den ihm die Öffentlichkeit, gefördert auch durch Erklärungen Pinochets, zugemessen hatte. Es mußte verhindert werden, daß das Urteil als Dammbruch verstanden werden konnte. Hierzu waren der Fall Letelier und der Prozeß gegen Contreras, so zeigte sich bald, besser geeignet, als es die hohe symbolische Bedeutung des vor Gericht verhandelten Attentats und seines prominenten Urhebers auf den ersten Blick vermuten ließen.

Das Urteil gegen Contreras als Auslöser einer politischen Kehrtwende Der Prozeß gegen Contreras und Espinoza erregte von allen Prozessen, die im Zusammenhang mit Menschenrechtsverbrechen der Pinochet-Diktatur in Chile angestrengt wurden, die größte Aufmerksamkeit. Kein Urteil wurde mit so viel Spannung erwartet wie dieses. Die Gründe dafür sind leicht einzusehen. Sie hängen mit der Dauer des Verfahrens oder besser der verschiedenen Verfahren in verschiedenen Instanzen und Staaten zusammen; mit der Person des ermordeten Orlando Letelier, einer der angesehensten Persönlichkeiten aus der Zeit der Volksfront; mit der ausdauernden Zielstrebigkeit, mit der die Familienangehörigen und Menschenrechtsanwälte den Fall über die Jahre vorantrieben — die Anwältin Fabiola Letelier, Schwester des Ermordeten, wurde zu einer Symbolfigur in ganz Lateinamerika - ; mehr als alles das aber war es die Tatsache, daß mit dem ehemaligen DINA- und CNI-Chef Manuel Contreras einer der verhaßtesten Repräsentanten und zugleich eine Schlüsselfigur des alten Regimes angeklagt war. In vielen der anderen Verfahren, die zustande kamen, und erst recht in vielen Ermittlungen, die nie zu einem Prozeß führten, wiesen die Fäden ebenfalls zu Contreras. Doch nur in diesem einen Prozeß konnte er selbst angeklagt und verurteilt werden. Und auch dieses Verfahren wäre vermutlich gescheitert, wäre es nicht unter der besonderen Bedingung in Gang gekommen, daß ein politischer Kompromiß aus den frühen Jahren der Diktatur die Straffreiheit für das Verbrechen ausnahmsweise verhinderte. Das wichtigste Instrument für die Garantie der impunidad die Selbstamnestie der Diktatur von 1978, war ausdrücklich nicht 189

anwendbar. So fokussierten sich alle enttäuschten Hoffnungen nach Gerechtigkeit wie durch ein Brennglas gebündelt auf diesen Prozeß. Als er schließlich nach fast fünfzehnjähriger Vorarbeit im September 1991 mit der Inhaftierung von Contreras und Espinoza in sein entscheidendes Stadium trat, begannen sich die Bedingungen in der chilenischen Justiz allerdings gerade in einer Weise zu ändern, die dem Prozeß einiges von seiner Ausnahmestellung zu nehmen versprach. Was lange Zeit nur die - freilich wohlbegründete - Meinung der Juristen in und im Umfeld der Menschenrechtsorganisationen gewesen war, begann etwa ab 1992 in Teile der bis dahin als weitgehend gegen solche Gedanken immun geltende chilenische Justiz vorzudringen: die Ansicht, daß die Amnestie von 1978 nicht anwendbar ist. Juristisch gibt es eine Reihe von stichhaltigen Gründen dafür, daß die Amnestie rechtsunwirksam ist: — Die Amnestie verstößt gegen internationales Recht. Eine Reihe von internationalen Rechtsnormen, die zum Teil auch schon 1978 gültig waren, verbieten die Amnestierung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit5. In einer weit verbreiteten Broschüre popularisierte 1988 der bekannte Jurist Andrés Domínguez von der Chilenischen Menschenrechtskommission diesen Standpunkt sehr entschieden6. In diplomatischer, aber letztlich auch eindeutiger Form hatte auch die UN-Menschenrechtskommission bereits sehr früh diese Position eingenommen, als sie 1977 erklärte: "Die Tatsache, daß dem Pakt (IPbürgR), der am 10. Februar 1972 von Chile ratifiziert wurde und am 23. März 1976 in Kraft trat, juristische Wirkung für die innere Ordnung Chiles abgesprochen wird, wirft große Probleme bezüglich der internationalen Verpflichtungen der Regierung Chiles auf... Keine Unterlassung der Exekutivgewalt, keine Entscheidung der Justiz kann die Reichweite der internationalen Verpflichtung Chiles, die Bestimmungen des Paktes zu beachten, einschränken"7. Die Kommission drückte damit nur die weltweit und auch in Chile seit mindestens 1906 höchstrichterlich vertretene Auffassung (Detzner 1988: 6) aus, wonach ratifiziertes Völkerrecht nicht durch nationales Recht gebrochen werden kann. Implizit hatte dem sogar die Pinochet-Regierung zugestimmt, als sie der

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Dazu gehören z.B. die Genfer Konventionen, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (Art. 29), der Pakt über bürgerliche und zivile Rechte, die UN-Konvention gegen die Folter, die Interamerikanische Menschenrechtskonvention und neuerdings die Abkommen auf interamerikanischer und auf UN-Ebene gegen das "Verschwindenlassen" von Personen. Femer liegt gerade in Amerika inzwischen eine sehr präzise Rechtsprechung des Interamerikanischen Gerichtshofs vor, der die Staaten in die Pflicht nimmt, Menschenrechtsverbrechen auch tatsächlich zu verfolgen (vgl. dazu Roht-Arriaza 1990).

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Domínguez' Argumentation wurde auch abgedruckt in dem Band Derechos Humanos y elecciones presidenciales y parlamentarias, einer Art Schulungshandbuch für die Vorbereitung der demokratischen Opposition auf die Wahlen 1990 (Comisión Chilena 1989: 236-246).

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Bericht der Arbeitsgruppe Chile an die 33. Sitzungsperiode der Menschenrechtskommission der UNO, 1977 (zit. bei: Detzner 1988: 149).

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gleichen Kommission noch 1984 versicherte, daß das Schicksal der "Verschwundenen" aufgeklärt werde und gegebenenfalls die Schuldigen vor Gericht gebracht würden (Roht-Arriaza 1995b: 42), was zumindest eine erhebliche Einschränkung der Wirksamkeit des Amnestiedekrets hätte bedeuten müssen. — Das Verbrechen des Verschwindenlassens (desapariciónforzada bzw. detencióndesaparición) ist über die völkerrechtliche Sanktionierung und die damit verbundene Verfolgungspflicht hinaus auch nach innerstaatlichem Recht ein Sonderfall, der die Anwendbarkeit der Amnestie rechtlich fragwürdig macht. Diese Besonderheit, die es ja auch zum Paradigma für die Grausamkeit der Repression werden ließ, besteht darin, daß es ein fortdauerndes Verbrechen ist. Es kann nicht als abgeschlossen gelten, so lange der Verschwundene nicht gefunden ist. Damit fällt es aber auch nicht in den amnestierten Zeitraum von 1973-1978, selbst wenn der ursprüngliche Akt der Verschleppung in diesen Jahren begangen wurde. Bemerkenswerterweise wurden diese Argumente Anfang der 90er Jahre auch von höheren Instanzen der chilenischen Justiz aufgenommen. So urteilten mehrere Berufungskammern im September bzw. Oktober 1994, daß die Amnestie wegen des permanenten Charakters des Verbrechens auf ungeklärte Fälle von Verschwundenen nicht anwendbar sei (Bronkhorst 1995: 121; Brinkmann 1995: 4). Fast zur gleichen Zeit kamen andere Gerichte zum Ergebnis der Nichtanwendbarkeit der Amnestie aufgrund einer ganz anderen Überlegung. Die Junta befand sich, so urteilten die Berufungsgerichte in den Prozessen um zwei bekannte Opfer der Diktatur, laut eigenen Erklärungen in einem Kriegszustand. Damit seien die Genfer Konventionen anwendbar, die Folter, Entführung etc. verbieten und überdies in besonders strikter Form jede Einschränkung der Strafverfolgung bei Kriegsverbrechen für unzulässig erklären (ebenda). Besonders der letzte Begründungszusammenhang war für die Anhänger der Diktatur peinlich, wies er doch auf eine argumentative Sackgasse, in der sie sich schon des öfteren in politischen Debatten verrannt hatten8. Die blutige Verfolgung der politischen Gegner nach dem Putsch von 1973 war in der Öffentlichkeit immer

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Dies gilt nicht nur fiir die Vertreter der Diktatur in Politik und Armee, sondern auch fiir den Obersten Gerichtshof selbst. Dieser hatte seine Willfährigkeit gegenüber der Militärjunta gerade zu dem Zeitpunkt noch einmal besonders deutlich demonstriert, als deren Macht eben endete. 1990 fällte der Oberste Gerichtshof innerhalb von drei Monaten zwei konträr begründete Urteile in Menschenrechtsfällen. In dem einen Urteil wurde die Berufung der Angehörigen eines Verschwundenen verworfen, mit der expliziten Begründung, daß Chile sich damals nicht im Kriegszustand befunden habe, weswegen die Genfer Konventionen kein Hindernis fiir die Anwendbarkeit der Amnestie seien. Im zweiten Fall wurde ein Fall von der ordentlichen Gerichtsbarkeit an die Militärjustiz Uberstellt, mit eben dem Verweis auf einen damaligen inneren Kriegszustand (s. Comisión Chilena de Derechos Humanos 1993). Diese als Skandal empfundene Willkür in den Urteilsbegründungen aus politischen OpportunitätsUberlegungen führte zu heftiger Kritik am Obersten Gerichtshof, einer gewissen Selbstreflexion in der Justiz und der Erweiterung des Spielraums fiir aufrechte Richter und Richterinnen. 191

wieder mit einem Kriegszustand begründet worden, den die Opposition der Regierung Pinochet aufgezwungen habe. Noch im September 1993 verkündete z.B. Pinochet öffentlich: "Wir waren im Krieg, so muß man das sehen" (zitiert in El Mercurio. Internationale Ausgabe, 5.10.1993). Daran erinnert, daß auch im Krieg nicht alles erlaubt sei, ja daß gerade im Krieg mit den Genfer Konventionen besonders gut verankerte und präzise internationale Normen zur Begrenzung der erlaubten Mittel existierten, mußten die Generäle und ihre publizistischen Sprachrohre das Argument wieder relativieren. Aber auch das Argument der Permanenz des Verbrechens des Verschwindenlassens fand große politische Resonanz und lief allen Bestrebungen zu einer Versöhnung auf der Grundlage des Vergessens entgegen. Wie sollte ein Verbrechen vergessen werden, das noch immer stattfand? Diese Urteile bedeuteten keineswegs einen grundsätzlichen Wandel in der Rechtsprechung der nach wie vor überwiegend konservativen chilenischen Justiz. Es handelte sich jeweils lediglich um die begründete Aufhebung erstinstanzlicher Urteile. Und gleichzeitig setzte die Militärjustiz, von wenigen Ausnahmen abgesehen, unbeirrt ihren Kurs des Niederschlagens aller einschlägigen Verfahren fort. Dennoch deutete sich ein Wandel in der Rechtsprechung an, der eine Bereitschaft zur Aufnahme modemer Auffassungen von der Gültigkeit menschenrechtlicher Normen auch im Strafrecht signalisierte. Dieser Ansatz einer Umorientierung der chilenischen Rechtsprechung währte jedoch nur kurz. Er brach 1995 mit einer Reihe von entgegengesetzten Urteilen, die die Amnestie in politisch wichtigen Verfahren wieder für anwendbar erklärten, ab. Ende 1995 veröffentlichte die Zeitung "La Epoca" (3.12.1995), gestützt auf Recherchen von Menschenrechtsorganisationen, eine Übersicht über sämtliche Verfahren wegen "Verschwindenlassens" und politischem Mord, in denen im zweiten Halbjahr 1995 chilenische Gerichte, gleich welcher Instanz, ein Urteil gesprochen oder eine sonstige Entscheidung getroffen hatten. Die Liste umfaßt insgesamt 33 Verfahren. 18 betrafen Fälle von "Verschwundenen", die restlichen 15 politischen Mord. Eine Auswertung dieser Liste ergibt das folgende Bild: Nur fünf der 33 Entscheidungen fielen zugunsten der klagenden Opfer bzw. ihrer Angehörigen aus. Der wichtigste dieser Fälle war die Verurteilung der unmittelbaren Tatbeteiligten des Mords an einem Mitglied der "Vicaría de Solidaridad" und zweier weiterer Personen im Jahr 1985 (der aufsehenerregende Fall der "degollados"), der aufgrund des Zeitpunkts des Verbrechens nicht unter die Amnestie fallen konnte. In den übrigen 28 Fällen entschieden die Richter zugunsten der Angeklagten. Vier Verfahren wurden an die Militärjustiz überstellt, sieben aus unterschiedlichen Gründen, meist wegen Verjährung, eingestellt. Weitere elf Einstellungen hingegen wurden unter Berufung auf das alte Amnestiegesetz vorgenommen. Dem steht nur ein Fall gegenüber, in dem die Amnestie für nicht anwendbar erklärt wurde. Zu den eingestellten Verfahren gehören so wichtige und auch international beachtete wie das um die Ermordung des spanischen Diplomaten Carmelo Soria durch die DINA, ein Prozeß, in dem wegen seiner internationalen Dimension lange 192

Zeit ein ähnliches Urteil wie im Fall Letelier erwartet und in unteren Instanzen auch gesprochen wurde. Allein drei Amnestierungen begünstigten den berüchtigten DINA-Folterer Osvaldo Romo, der noch aus der Untersuchungshaft im Mai 1995 in einem Interview nicht nur genüßlich seine Foltermethoden schilderte, sondern auch erklärte, wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte man alle Gefangenen der DINA einfach umgebracht und keinen entkommen lassen. Man sähe ja jetzt die Konsequenzen. Im übrigen würde er das Gleiche wieder tun9. Anfang 1996 kam zu diesen drei eingestellten Verfahren gegen Romo noch ein weiteres hinzu, das die Tendenzwende in der Rechtsprechung besonders deutlich macht. Am 30. Januar 1996 wurde Romo auch im Fall der Ermordung der ehemaligen MIR-Angehörigen Lumi Videla vom Obersten Gerichtshof amnestiert. Dieses wegen seiner besonderen Grausamkeit in der chilenischen Öffentlichkeit sehr bekannte Verbrechen, einer der Schlüsselfalle für die Menschenrechtsbewegung, war am 26. September 1994 von der Dritten Kammer des Berufungsgerichts in Santiago für nicht amnestierbar erklärt worden, mit einer Urteilsbegründung, die wegen ihrer juristischen Klarheit von vielen als wegweisend betrachtet worden war (siehe El Mercurio, 5.10.1994: 6). Genau dieses Urteil, das so große Hoffnungen auf ein Umdenken der Justiz geweckt hatte, wurde nun vom Obersten Gerichtshof aufgehoben. Chile habe, so das Gericht in seiner nicht mehr anfechtbaren Entscheidung, sich seinerzeit nicht im Kriegs- sondern im Belagerungszustand befunden, womit die Genfer Konventionen nicht anwendbar seien. Die Amnestie von 1978 sei daher rechtswirksam. Eine ähnliche Entscheidung hatte der Oberste Gerichtshof bereits 1995 im größten anhängigen Verfahren getroffen. Auch das Sammelverfahren gegen die DINA-Führung wegen des Verschwindenlassens von insgesamt 78 Personen, das bereits im Jahr 1978 vor einem Gericht in Santiago angestrengt worden war, wurde im August 1995 in letzter Instanz eingestellt, ohne daß die ausfuhrlich dokumentierten Beweise je gewürdigt worden wären10. Neben dem auch hier wieder verwickelten Osvaldo Romo und vielen anderen hohen Verantwortlichen der DINA war auch General Contreras in diesem Prozeß angeklagt. Wenn nicht im Fall Letelier, so doch im Fall der zahllosen "Verschwundenen" erreichte er also doch noch eine Amnestie. Die zwei unterschiedlichen Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes in den Prozessen gegen Contreras machen also in aller Deutlichkeit klar, daß die Verurteilung im Fall Letelier einzig aufgrund der von den USA durchgesetzten Ausnahme dieses Falls vom Amnestiegesetz erfolgte. Im sprichwörtlichen Sinn mußte diese Ausnahme die Regel bestätigen, die sich in der langen Reihe von Verfahrenseinstellungen manifestierte. Der zeitliche Zusammenhang dieses Rückfalls in die Rechtsprechung der Diktaturzeit mit dem Urteil gegen Contreras/Espinoza ist dabei so auffallig, daß 9

Das Interview ist im Wortlaut nachzulesen in La Epoca, 21. Mai 1995: 18.

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Eine Übersicht über die Geschichte dieses Prozesses gibt Brinkmann (1995: 5).

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sich die Frage stellt, ob es auch einen kausalen Zusammenhang gibt. Ohne in eine Würdigung der Verfahren im einzelnen eintreten zu können, ist die plötzliche Häufung von Einstellungen von Menschenrechtsprozessen jedenfalls schwer, mit rein juristischen Gesichtspunkten zu erklären. Ein Zusammenhang mit den gleichzeitig ablaufenden politischen Entscheidungsprozessen erscheint zumindest plausibel. Denn die Regierung von Eduardo Frei vollzog im gleichen Zeitraum eine sehr ähnliche Wendung, die durchaus als richtungsweisend für die Justiz verstanden werden konnte. Die gerichtlichen Entscheidungen im Letelier-Prozeß und den parallel anhängigen Verfahren waren von einer intensiven politischen Diskussion begleitet. Zum ersten Mal seit 1990 wurde dabei in massiver Weise die Forderung nach einem Schlußstrich, nach einer zweiten Amnestie vorgebracht, die die Amnestie von 1978 bekräftigen und erweitern sollte. Diese von der rechten Opposition vorgetragene Forderung wurde von der Regierung Frei in sehr weitgehender Form aufgenommen. Knapp drei Monate nach dem Urteil gegen Contreras, einen Monat nach massiven Einschüchterungskundgebungen der Militärs auf den Straßen des Landes und eine Woche nach dem Urteil zugunsten der Amnestie für die DINAChefs im Fall der 78 Verschwundenen legte Präsident Frei am 22. August 1995 ein Paket aus drei Gesetzesvorlagen vor, das ein Ende der Prozesse gegen die Verbrecher der Pinochet-Zeit herbeiführen sollte. Contreras selbst befand sich zu diesem Zeitpunkt noch immer nicht in Haft, sondern verbarg sich in einem Marinekrankenhaus. In diesem Moment also ergriff Präsident Frei die Initiative, um eine politische Lösung für Probleme zu finden, die er bis dahin als ausschließlich durch die Justiz zu regelnde bezeichnet hatte. Die drei Vorlagen versuchten eine Art Kompensationsgeschäft. Die Militärs und die ihnen verbundenen Kräfte im Parlament sollten, darauf bezogen sich die beiden ersten Vorlagen, Zugeständnisse bei der Reform der noch immer nicht demokratisch geregelten Bestandteile der Verfassung machen. Insbesondere sollten die nicht gewählten — sondern von Pinochet eingesetzten - Mitglieder des Senats abgeschafft, die Regeln für die Besetzung des Verfassungsgerichts geändert und die Befugnisse des Präsidenten bei der Besetzung höherer Ränge von Polizei und Militär erweitert werden. Im Gegenzug bot die Regierung an, die Prozesse um die Verbrechen der Diktatur durch die Ernennung spezieller Sonderrichter zu "beschleunigen" und damit zu einem baldigen Schlußstrich unter die ganze Thematik der Menschenrechtsverletzungen zu kommen. Das Ergebnis dieser Beschleunigung war im Gesetzentwurf gleich festgeschrieben. Unabhängig davon, ob es gelang, den Fall zu klären, sollten keine Anklagen mehr erhoben und bereits bestehende Haftbefehle außer Kraft gesetzt werden. Ferner sollten die Verfahren unter strikter Geheimhaltung der Identität der Beschuldigten erfolgen. Nach Abschluß der Verfahren sollten die Akten vernichtet und alle Prozeßbeteiligten — unter Androhung von Strafe — zur Wahrung des Prozeßgeheimnisses verpflichtet werden. Unter diesen Voraussetzungen schlug der Präsident immerhin vor, auch die vor Militärgerichten laufenden Untersuchungen an die ordentlichen Gerichte zu überführen sowie die 194

bereits eingestellten Verfahren noch einmal aufzunehmen. Präsident Frei interpretierte diese Gesetzesvorlage dahingehend, daß sie die Aufklärung der Wahrheit über das Schicksal der Verschwundenen bringen könne, wofür man eben auf Bestrafung der Täter, also auf Gerechtigkeit, verzichten müsse. Die Vorlage lief auf eine Bestätigung der Amnestie von 1978 hinaus und suchte selbst die Fälle von Verschwundenen einzuschließen, die bisher dadurch offengeblieben waren, daß keine Spuren von den Opfern gefunden werden konnten. Personen, deren Schicksal innerhalb von zwei Jahren nicht aufgeklärt werden konnte, sollten automatisch für tot erklärt, und die entsprechenden Verfahren damit ebenfalls endgültig eingestellt werden. Offen blieb bei alldem die Problematik der übrigen Menschenrechtsverbrechen, insbesondere der Folter und des politischen Mords. Die Vorschläge von Frei stellen einen wesentlichen Rückschritt gegenüber der ohnehin schon sehr zurückhaltenden Politik der vorherigen Regierung in der Frage der staatlichen Anerkennung des Rechts auf Wahrheit und Gerechtigkeit der Opfer der Diktatur dar. In dem 1992 unter Freis Vorgänger Aylwin verabschiedeten Gesetz zur Gründung der erwähnten "Nationalen Korporation für Wiedergutmachung und Versöhnung" hatte es noch geheißen: "Die Auffindung der verhafteten und verschwundenen Personen und der Überreste der exekutierten Personen sowie die Aufklärung der Umstände besagten Verschwindens oder Todes stellen ein unveräußerliches Recht der Familienangehörigen der Opfer und der chilenischen Gesellschaft dar" (Gesetz Nr. 19.213, Art. 6; zitiert bei Brinkmann 1996: 31). Von diesem inzwischen auch von der UNO und der OAS eindeutig anerkannten Recht11 ist jetzt seitens der chilenischen Regierung keine Rede mehr. Trotz der weitgehenden Zugeständnisse an die Verfechter eines "Schlußpunktes" wurde Freis Gesetzespaket nicht nur von den Menschenrechtsorganisationen und Teilen der Regierungskoalition, sondern auch von der politischen Rechten und den Militärs abgelehnt. Letztere waren nicht nur mit der Einschränkung ihrer Privilegien in der bestehenden Verfassung durch die beiden ersten Vorlagen des Pakets unzufrieden, sie lehnten sogar die Regelungen der dritten Vorlage ab. Allein die Aussicht auf eine vorübergehende Wiederaufnahme der bereits eingestellten bzw. amnestierten Verfahren ohne Namensnennung der Beschuldigten — nach Angaben des ehemaligen Innenministers von Pinochet, Sergio Fernández (Interview mit El Mercurio, 11.10.1995), wären davon rund 800 Verfahren betroffen gewesen — war für die Militärs und ihre politischen Vertreter eine Schreckensvision. Das Land müsse, so Fernández, der als einer der Architekten sowohl der damaligen Amnestie wie der Verfassung von 1980 gilt, endlich nach vorne, nicht in die Vergangenheit schauen. Es gelte nicht, neue gesetzliche Mechanismen zu schaffen, sondern endlich die Amnestie von 1978 zu akzeptieren. "Wenn wir das nicht wollen - so Fernández weiter - werden wir Zusammenstöße, Schwierigkeiten jeder Art haben, und die Versöhnung wird unmöglich sein." Tatsächlich scheiterten die

Erklärung über den Schutz gegen gewaltsames Verschwindenlassen, Resolution 47/133 der UNGeneralversammlung vom 18. Dezember 1992; Interamerikanische Konvention überdasgewaltsame Verschwindenlassen von Personen (1994).

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Vorschläge Freis am 11. April 1996 im Senat, weil ein Teil der rechten Opposition den vorgeschlagenen Verfassungsänderungen die Zustimmung verweigerte und zusammen mit den Stimmen der von Pinochet eingesetzten "Senatoren auf Lebenszeit" erreichte, daß das notwendige Quorum nicht zustande kam (IPSMeldung 11.4.1996). Diejenigen, denen diese immer wieder gestellte Aufforderung zur Versöhnung auf der Grundlage der Amnestie der Verbrechen galt, die Angehörigen der Verschwundenen, sahen das entschieden anders. Am 1. Oktober 1995 legten sie ihren eigenen Beitrag zu der Debatte in Form eines alternativen Gesetzentwurfs zur Vorlage des Präsidenten der Öffentlichkeit vor (AFDD 1995). In der Einleitung betonen sie u.a.: "Die Versöhnung setzt voraus, daß die Verantwortlichen für die schmerzhaften Vorgänge der Vergangenheit die moralische Verpflichtung auf sich nehmen, das Geschehene aufzuklären und der Gerechtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen. (...) Die Versöhnung ist nicht vereinbar mit dem Vergessen, denn Vergessen heißt, die Existenz Tausender von Chilenen zu negieren, die am Aufbau unserer Gesellschaft mitarbeiteten (...) Um der Versöhnung willen müssen wir die Verschwundenen als lebendig betrachten, auch wenn sie es vielleicht nicht mehr sind. Denn wir haben die Pflicht, nach jedem einzelnen von ihnen zu rufen, so lange bis es eine Antwort gibt, die endlich die Wahrheit aufzeigt, die heute vergessen werden soll." Doch die Stimme der Angehörigen der "Verschwundenen" zählte nicht in der politischen Auseinandersetzung zwischen Regierung und rechter Opposition. Nicht die Ablehnung durch die Opfer der Diktatur brachte das Gesetzespaket von Frei schließlich zum Scheitern12, sondern die Opposition von rechts. Parlamentarier beider Lager bildeten eine Arbeitsgruppe und legten Anfang November 1995 eine neue, gemeinsame Gesetzesvorlage vor, die unter dem Namen des christdemokratischen Innenministers Carlos Figueroa und des Abgeordneten der Renovación Nacional, Miguel Otero, bekannt wurde. Der neue Entwurf kam der Rechten noch weiter entgegen als der von Frei. Während die Bestimmungen über Straffreiheit und Geheimhaltung beibehalten wurden, erfuhren die Befugnisse der ermittelnden Richter eine erhebliche Einschränkung. Die Richter dürfen keine eigenen Ermittlungen auf Militärgelände durchführen und auch nicht Verfahren, die vor einem Militärgericht anhängig sind, an sich ziehen. Deutlicher noch als der Entwurf von Frei macht das Projekt Figueroa/Otero deutlich, daß es seinen Autoren nicht um wirkliche Gerichtsverfahren geht, sondern um die Beseitigung des offenen Problems der "Verschwundenen": Auch ohne Feststellung der Verantwortlichen kann durch die Toterklärung des Opfers das Verfahren endgültig eingestellt werden. Der Druck zu einer Beendigung der juristischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit der Diktatur, dessen zentraler Ansatzpunkt die Amnestie von 1978 ist, wurde also parallel zum Letelier-Prozeß gleichzeitig auf der rechtlichen und

Schon nach der Präsentation der Gesetzesvorlagen durch Frei im August 1995 beklagten sich die Angehörigen der Verschwundenen, daß sie nicht einmal um ihre Meinung gefragt worden seien (s. Informativo Agrupación de Familiares de Detenidos-Desaparecidos Nr. 19, Sept. 1995).

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auf der politischen Ebene entfaltet. Die Regierung bzw. die Parlamentsmehrheit in Zusammenarbeit mit der rechten Opposition bereitete einen "Schlußpunkt" durch den Gesetzgeber vor, der die Amnestie mit größerer Eindeutigkeit festschreibt, als das die Gerichte in der Vergangenheit selbst taten. Gleichzeitig erfolgte aber in der Rechtsprechung selbst ein Umschwung, der abweichende Rechtsauffassungen, wonach die Amnestie zumindest in bestimmten Fällen nicht anwendbar sei, zurückdrängte. Auf seiten der Regierung bzw. der Koalition wurde damit ein Weg beschritten, der deutlich von dem von Freis Vorgänger Patricio Aylwin eingeschlagenen abweicht. Dieser hatte in der Frage der Verfolgung der Verbrechen der Diktatur stets betont, daß dies Sache der Gerichte sei. Das bedeutete zwar auch, daß in der Praxis nur wenige Fälle überhaupt zur Verhandlung vor ordentlichen Gerichten kamen. In diesen Fällen aber respektierte Aylwin die Urteile der Gerichte und versuchte nicht, sie politisch zu unterlaufen. Er hielt auch mit seiner Meinung über den Kurs Freis nicht zurück und kritisierte im Oktober 1995, daß außer im Fall Letelier und einigen wenigen weiteren Fällen das Recht bei Verbrechen gegen die Menschenrechte keine Anwendung gefunden habe. Das stehe im Gegensatz zur "anderen Seite". Die Regimegegner hätten während der Diktatur und auch noch zu seiner Regierungszeit alle den größten Teil ihrer Strafe verbüßt und seien von ihm erst dann freigelassen worden (Derechos Humanos en Chile, Oktober 1995: 2). Für Aylwin, auf dessen Regierung Pinochet vom Posten des Oberbefehlshabers der Armee aus immer wieder Druck auszuüben versuchte, war dies der mögliche Kompromiß zwischen Macht und Moral, zwischen Diktatur und Rechtsstaat, so wie ihn auch der Politologe Manuel Antonio Garretón (1995b) interpretierte. So lange die derzeitige Generation von militärischen Befehlshabern im Amt sei, so Garretón, sei eine Durchsetzung rechtsstaatlicher Prinzipien nicht möglich. Bezogen auf die Frage der Amnestie bedeute dies, keinen Versuch einer restriktiven Interpretation der Amnestie von 1978 durch die Politik zu unternehmen, aber auch nicht den Richtern in den Arm zu fallen, die sie für nicht anwendbar erklärten. Präsident Frei, der vor seiner Wahl und auch noch kurz danach erklärt hatte, diese Linie seines Vorgängers beibehalten zu wollen, vollzog also mit seinem Gesetzesprojekt, das die Amnestie festzuschreiben suchte, einen einschneidenden Kurswechsel. Der gleichzeitige Kurswechsel bei der Justiz hat damit durchaus zu tun. Er erfolgte keineswegs spontan, sondern in der Folge einer Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes für den Obersten Gerichtshof. War es zuvor den Zufälligkeiten der Zuständigkeitsregelung überlassen, welche Kammer jeweils die Menschenrechtsfälle zu behandeln hatte, so erhält seit dem 1. März 1995 eine einzige Kammer des Obersten Gerichtshofs sämtliche derartige Verfahren zur Entscheidung. Diese neue Struktur wurde mit der Sorge um die Einheitlichkeit der Rechtsprechung begründet. In der Tat war die Rechtsprechung dieser Kammer ebenso einheitlich wie eindeutig. Sie sorgte für die ausnahmslose Anwendung der Amnestie in letzter Instanz, so daß Kritiker schon von einer "Kammer für Amnestie" sprechen (Brinkmann 1995:6). Was als eine rein technische Reorganisa197

tion des Obersten Gerichtshofs eingebracht wurde, erwies sich so als höchst politischer Eingriff von großer Tragweite. Erst diese Reorganisation des Obersten Gerichtshofes ermöglichte der Regierung Frei, einige Monate später auf politischer Ebene den Vorstoß zur "Beschleunigung" der Verfahren zu machen. Die Menschenrechtsorganisation FASIC gab offen ihrer Vermutung Ausdruck, daß für diesen Wandel in der Rechtsprechung "Gründe außerrechtlicher Natur" existierten, eine Art Kompensationsgeschäft im Zusammenhang mit dem Fall Letelier mit gravierenden Folgen für das Rechtssystem. FASIC schlug sogar eine Verfassungsklage ("acusación constitucional") wegen Amtspflichtverletzung gegen die Mitglieder des Obersten Gerichts vor dem Parlament vor, ein von der Verfassung vorgesehenes Verfahren, das unter Präsident Aylwin einmal mit Erfolg gegen einen Richter des Obersten Gerichtshofs durchgeführt worden war (Declaración Pública von FASIC, Beilage in: Derechos Humanos en Chile, Oktober 1995). Die von FASIC geäußerte Vermutung eines "Kompensationsgeschäfts" im Zusammenhang mit dem Fall Letelier läßt sich naturgemäß nicht mit Beweisen belegen. Plausibilität gewinnt sie allerdings bei einer Betrachtung der zeitlichen Zusammenhänge. Im März 1995 erfolgte die Übergabe der Zuständigkeit für die Menschenrechtsprozesse an die Zweite Kammer des Obersten Gerichtshofs. Von da an wendete sich die Tendenz der Urteile in eindeutiger Weise zugunsten der Amnestie, während im Mai 1995 das Urteil gegen Contreras und Espinoza die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit fesselte. Da sich Contreras weigerte, seine Strafe anzutreten, sich mit ebenso dubiosen wie medienwirksamen Manövern monatelang verbarg und während dieser Zeit immer wieder herausfordernde Erklärungen abgab, während Pinochet die Gelegenheit zu häufigen polemischen Attacken nicht ungenutzt verstreichen ließ, entstand in der Öffentlichkeit der Eindruck eines dramatischen Kräftemessens, das durch Drohgebärden der Armee noch verstärkt wurde. So konnte Präsident Frei sein dreiteiliges Gesetzespaket im August als Beitrag zur inneren Befriedung vorstellen. In seiner Rede zur Begründung der Gesetze nahm Frei ausfuhrlich Bezug auf die vorangegangenen Unruhen und Ängste im Land, die das Vorhandensein "tiefer Wunden in der nationalen Seele" gezeigt hätten, die durch die Prozesse um die Vergangenheit wieder aufgerührt worden seien. Daß ähnliche Unruhen auch unter seinem Vorgänger von den Militärs immer wieder provoziert worden waren, ohne daß dieser zu ähnlichen Konsequenzen schritt, blieb dabei außer acht. Doch wenn das Regierungsprojekt zur Versöhnung einen Kompromiß mit den Militärs darstellen sollte, so war dieser offensichtlich schlecht ausgehandelt. Wie geschildert, wurden die Vorlagen Freis abgelehnt. Der flüchtige Contreras war noch immer ein Trumpf in der Hand seiner Beschützer, um weiter Druck auf die Regierung auszuüben. Am 21. Oktober stellte er sich schließlich den Behörden, wenige Tage später, am 5. November, brachte der Innenminister im Verein mit Parlamentariern der rechten Opposition eine Gesetzesvorlage ein, die den Militärs noch größere Zugeständnisse als Frei machte. Auch ohne Kenntnis der Details hinter den Kulissen fällt es schwer, hier keine Zusammenhänge zu sehen. 198

So gewinnt der symbolische Sieg der Opfer der Diktatur mit dem Urteil gegen Contreras und Espinoza im Kontext der gesamten rechtspolitischen Entwicklung Chiles einen unangenehmen Beigeschmack. Was wie eine Bresche in die Mauer der Straflosigkeit aussah, war offenbar nur das späte Einrennen einer einst von den USA geöffneten Tür. Die Gleichheit vor dem Gesetz, die Einhaltung internationaler menschenrechtlicher Standards und die Unabhängigkeit der Justiz sind mit diesem einen Urteil in Chile noch nicht erreicht. Der Contreras-Prozeß und die anderen Prozesse in seinem Umfeld scheinen eher zu bestätigen, daß es in einem Land, das in der Politik den Weg der Transition zu einer intakten Demokratie noch immer nicht vollständig durchschritten hat, auch in der Sphäre des Rechts nur eine "transitional justice" (Corradi 1992) geben kann. Die Zementierung der Amnestie ist ein wesentliches Glied in der Festigung der andauernden Macht der Militärs im "post-national-security state" — so der Begriff von Paul Zagorski (zitiert bei Dix 1994: 452). Sie ist zugleich Indiz und Voraussetzung dafür, daß die Militärs noch immer eine nicht hinterfragbare politische Macht im Staat ausüben, eine Macht, die wenig positiv zu gestalten vermag, aber eben, wie Augusto Varas bemerkt (ebenda), in substantieller Weise negativ wirkt und notwendige Veränderungen in fast allen wichtigen Politikfeldern blockiert. Die Amnestiefrage ist, das zeigt auch die Hartnäckigkeit, mit der Militärs und ihre politischen Vertreter in Chile auf ihr — allen rechtlichen und politischen Problemen zum Trotz — bestehen, kein Nebenschauplatz, sondern ein zentrales Element in der Auseinandersetzung um die Ablösung der politischen Macht der Militärs durch eine zivile und demokratisch legitimierte Regierung. Kompromisse in dieser Frage können daher nicht nur unter taktisch-konjunkturellen Gesichtspunkten analysiert und bewertet werden. Sie sind Kompromisse mit den Machtstrukturen der Militärs und stellen den Demokratisierungsprozeß grundsätzlich in Frage. "Wenn diese Leute auf verantwortlichen Posten (im Militär) bleiben, bedeutet das nicht nur eine Bedrohung unserer halbfertigen und schwachen Demokratie, sondern eine Gefahr für unsere Gesellschaft und die Sicherheit aller unserer Bürger", schreiben die angesehenen chilenischen Jesuiten José Aldunate und Ronaldo Muñoz (1995; vgl. auch Garretón 1995b). Beispiele fiir die andauernde Macht der Militärs, selbst schwerst belasteter, gibt es genügend, auch abgesehen von der verfassungsmäßig zementierten Position General Pinochets und der übrigen Oberbefehlshaber. Die ehemalige DINA-Agentin Luz Arce gehört zu den wenigen, die öffentlich ihre Beteiligung an der Maschinerie der Repression bekannt und bereut haben. Die meisten der von ihr in ihrem ausfuhrlichen Erinnerungsbuch "Die Hölle" genannten Folterer, Entfuhrer und Mörder sind jedoch weiter im Dienst, so z.B. Brigadier Miguel Krassnoff Martchenko, der zum Militärattache in Rußland ernannt wurde (Derechos Humanos en Chile, November 1995: 1), oder Oberst Pablo Belmar, ebenfalls Ex-Agent der DINA, der an der Ermordung des spanischen Diplomaten Carmelo Soria beteiligt

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war13. Zahlreiche weitere von Luz Arce oder auch ihrer Kollegin Marcia Alejandra Merino (1993) genannte DINA-Verantwortliche bekleiden sogar weiterhin sensible Posten, wie z.B. Eugenio Fieldhouse, heute Verbindungsoffizier zwischen Verteidigungsministerium und Polizei, José Manso Durän (der ehemalige Chef des KZ 4 Alamos), der heute in einem Gefängnis von Santiago Dienst tut, Fernando Lauriani Maturana, der es bis zum Chef einer Armeedi vision gebracht hat, oder der schon in der DINA als "El Troglo" (etwa: "Neandertaler") bekannte Basclay Zapata Reyes, mittlerweile Ausbilder bei der Armee und nach wie vor im Geheimdienst. Doch weder die Militärs noch die Regierung können sicher sein, daß es ihnen mit der Durchsetzung der Amnestie gelingt, die Verbrechen der Vergangenheit politisch und selbst juristisch zu entschärfen. Während in Chile noch das Gesetzesprojekt Otero-Figueroa diskutiert wurde, wurde von ganz unerwarteter Seite, nämlich von Argentinien aus, die Frage erneut aufgeworfen, ob der Fall Letelier mit der Verurteilung von Contreras und Espinoza wirklich abgeschlossen ist. Der Letelier-Prozeß hatte unter anderem ja deutlich gemacht, daß die Ermordung Leteliers Teil einer groß angelegten Terrorkampagne der DINA gegen im Ausland lebende Oppositionelle war (ausfuhrlich dazu Letelier 1993). Weitere prominente Opfer der gleichen Tätergruppe innerhalb der DINA waren u.a. der christdemokratische Politiker Bernardo Leighton und seine Frau, die ein Attentat in Rom überlebten, und der Vorgänger von General Pinochet in der Heeresleitung, General Prats, der ein Jahr nach dem Putsch ebenfalls durch eine Autobombe in der argentinischen Hauptstadt zusammen mit seiner Ehefrau ermordet wurde. Im Januar 1996 wurde in Buenos Aires überraschend der mutmaßliche Hauptverantwortliche für dieses Attentat, der ehemalige DINA-Agent Enrique Arancibia Clavel, festgenommen14. Die argentinische Justiz eröffnete ein Verfahren gegen ihn. Die chilenische Regierung steht damit erneut vor dem Dilemma, das sie mit Abschluß des Falls Letelier überstanden glaubte. Wieder steht ein Fall zur Verhandlung, in dem ihr die Hände ein Stück weit gebunden sind, weil eine ausländische Regierung mitbetroffen ist. Die Regierung Chiles kann das Verfahren schlecht durch ein Auslieferungsbegehren an sich ziehen. Denn das vermutliche Ergebnis wäre eine Einstellung durch Amnestie, was einen internationalen Skandal hervorrufen müßte. In dem Prozeß in Buenos Aires müßte sie, da ja ein chilenischer Oberbefehlshaber Opfer der Tat war, eigentlich eine aktive Rolle, z.B als Nebenklägerin, spielen. Dies würde aber bedeuten, zumindest indirekt gegen den

Aber im lateinamerikanischen Ausland ist man häufig nicht bereit, so rasch zur Tagesordnung Uberzugehen. Belmar sollte zum Militärattache in Ekuador ernannt werden (Derechos Hunanos en Chile, Nov. 1995: 1), doch Ekuador lehnte seine Ernennung ab, daraufhin wurde er als Militärberater nach El Salvador geschickt; seine Ernennung stieß jedoch auch in El Salvador auf luftige Kritik (IPS-Meldung 6.2.96). Die Darstellung der aktuellen Ereignisse des Falls Arancibia/Prats beruht im wesentlichen aif den Hintergrundberichten der Agentur IPS vom Januar und Februar 1996 und dem lnformativo CODEPU No. 1, Enero-Febrero 1996, Santiago de Chile. Gute Hintergrundberichte in deutscher Sprache finden sich in Lateinamerika Nachrichten 261, März 1996: 14-16 und in der taz vom 21.3.96: 22

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derzeitigen Heereschef Pinochet vorzugehen. Wie immer sich die chilenische Regierung verhält, sie kann in diesem Prozeß dank der von ihr selbst geschaffenen politisch-juristischen Konstellation in Chile politisch nur verlieren. Denn der Prozeß ist geeignet, einiges Licht in die Vorgehensweisen der Repression nach 1973 zu bringen, gilt der Angeklagte doch als das Bindeglied zwischen den Fällen Letelier, Leighton und Prats. Das ehemalige Mitglied von "Patria y Libertad" war bereits in die Ermordung General Schneiders, eines weiteren Oberbefehlshabers der chilenischen Armee im Oktober 1970 verwickelt. Danach floh er vor der chilenischen Justiz nach Argentinien, wo er später von der DINA kontaktiert wurde. Er war unter dem Decknamen "Luis Felipe Alemparte" Koordinator des Auslandsterrorismus der DINA in Buenos Aires, gilt als Verbindungsmann zu den italienischen Neofaschisten und war auch maßgeblich an der "Operation Colombo" zur Vertuschung des Schicksals von 119 in Argentinien verschwundenen Chilenen beteiligt. Schließlich taucht sein Name auch unter den Drahtziehern bei der Ermordung Orlando Leteliers auf. Er wechselte, der politischen Konjunktur in beiden Ländern und vor allem der Entwicklung der bilateralen Beziehungen folgend, mehrmals den Aufenthaltsort zwischen Chile und Argentinien, war bereits 1978 in Argentinien verhaftet worden und soll damals einer Verurteilung zum Tod wegen Spionage für Chile nur durch das Geständnis seiner Beteiligung an der Ermordung von General Prats entgangen sein — für die damalige argentinische Diktatur offenbar Grund genug, ihm zu verzeihen. So wird man die jetzige Verhaftung nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Suche nach Gerechtigkeit bewerten dürfen. Die Frage nach dem Zeitpunkt der Anklage, wo der Angeklagte und seine Verbrechen doch seit vielen Jahren den argentinischen Behörden bekannt waren15, verweist wiederum auf politische Zusammenhänge. Nur politische Rücksichten vermögen auch zu erklären, warum der Oberste Gerichtshof in Chile trotz des Vorhandenseins umfangreichen Beweismaterials 1993 die Einsetzung eines Sonderrichters analog zum Fall Letelier für die Ermittlungen im Fall Prats ablehnte. In Argentinien muß weder die Regierung noch die Justiz so viel Rücksicht auf General Pinochet nehmen. Das gleiche gilt für Italien, wo ein Prozeß um das Attentat gegen Leighton anhängig ist, der u.a. bereits zu einem Auslieferungsbegehren der italienischen Justiz gegen General Contreras geführt hat, der auch in dieses Verbrechen verwickelt ist. Es ist durchaus möglich, daß in beiden Prozessen weitere Tatsachen aktenkundig werden, die auch Pinochets persönliche Verantwortlichkeit in all diesen Verbrechen belegen. Presseberichte über hektische Geheimgespräche zwischen der chilenischen und argentinischen Regierung über den Fall Arancibia sind nur zu plausibel. Denn mit einem gründlichen Verfahren gegen diesen Mörder zweier Armeechefs und

Auch in Chile war Arancibias Rolle beim Verbrechen am Ehepaar Prats seit vielen Jahren genau bekannt, vgl. etwa das Dossier der Wochenzeitung "El Siglo" vom 30.10 - 5.11. 1993, in dem unter anderem ein diesbezüglicher Briefwechsel zwischen Arancibia (Alemparte) und einem hohen DINA-Offizier im Wortlaut dokumentiert ist.

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Mitwisser an allen großen Auslandsaktionen der Diktatur würde der Konflikt erneut aufbrechen, den zu begraben, die Regierung Frei den Opfern der Diktatur so große Zumutungen aufbürdete. Immer lauter wird auch in Chile die Frage nach dem militärischen Korpsgeist: Geht er wirklich so weit, daß auch die eigenen Oberbefehlshaber straflos umgebracht werden dürfen, wenn es ins Kalkül einer gerade herrschenden Junta paßt? Zeichen für Unruhe in der Armee gibt es. Darüber hinaus steht die ganze Strategie der Regierung, der Aufarbeitung der Vergangenheit durch die Justiz ein Ende zu setzen, trotz aller Anstrengungen erneut auf dem Spiel. Schon droht über den Fall Prats-Arancibia hinaus ein weiteres internationales Problem. Sollte, wie es den Anschein hat, auch im Fall des von der DINA ermordeten spanischen und VN-Diplomaten Carmelo Soria in Chile aufgrund der Amnestie keine Verurteilung erfolgen, wollen die Vereinten Nationen und die spanische Regierung möglicherweise vor dem internationalen Gerichtshof in Den Haag die chilenische Regierung verklagen16. Wenn die einzigen Prozesse gegen die Verantwortlichen für die Verbrechen der Diktatur aber künftig im Ausland stattfinden, ist das nicht nur dem internationalen Ansehen Chiles abträglich, es untergräbt auch die mit den Frei-Gesetzen und dem Otero/Figueroa-Projekt verfolgte Absicht. Daß wirklich Ruhe in Chile einkehrt, daß die Forderung von General Pinochet, endlich zu vergessen und die Prozeßakten zu schließen, erfüllt wird, ist trotz aller Bemühungen noch nicht zu erkennen.

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Diese Information wurde Ende 1995 von der chilenischen Menschenrechtsorganisation FASIC verbreitet (Derechos Humanos en Chile, Dezember 1995:4). Der Gerichtshof, vor dem diese Klage zu erheben wäre, ist nicht der Internationale Strafgerichtshof, der in Den Haag seit 1993 für das ehemalige Jugoslawien besteht, sondern der für völkerrechtliche Streitfragen zwischen Regierungen zuständige Internationale Gerichtshof.

202

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Luis Pérez Aguirre1

Nur die Wahrheit macht uns frei Vielleicht teilen Sie mit mir die Ansicht, daß wir Uruguayer uns durch eine Art "Gedenkmanie" auszeichnen und auch, warum auch nicht, durch eine selektive Erinnerung an unsere eigene Geschichte. Wir sind letztlich sehr mit unseren Konfliktlösungen "auf die uruguayische Art" und mit unseren Amnestieformeln einverstanden. Bei bestimmten Anlässen ordnete man zu verzeihen an, bei wieder anderen zwang man zu vergessen. Hierzulande ist es schon nicht mehr gestattet, die Mitbürger zu erwähnen, auf deren Schultern selbst eingestandene Folterungen lasten, die Entfuhrung von unschuldigen Kindern und das Verschwindenlassen von Personen, Taten, die sie in ihren Herzen verbergen (falls sie sich verbergen lassen). In Uruguay gibt es heute viele, und wie ich verstehe, gehören Sie auch dazu, die es für unpassend halten, sich mit diesem Problem auseinanderzusetzen. "Darüber spricht man nicht mehr", man würde "eine Büchse der Pandora öffnen". Aber Ihre Verantwortung als Präsident und Oberbefehlshaber ist nicht mit der eines einfachen Bürgers vergleichbar, deshalb wende ich mich an Sie persönlich. Zu glauben, man könnte das Thema der Verschwundenen auf diese Weise lösen, gleicht der Vorstellung, sobald man nicht mehr an diese Dinge denkt, existieren sie nicht mehr. Mir fällt es schwer, mir eine derartig oberflächliche und unverantwortliche Vorgehensweise bei einer Person in Ihrer Position vorzustellen. Wir sind Menschen und bleiben nur Menschen, wenn wir unsere Geschichte von Grund auf kennen und sie lebendig erhalten. Gegenüber dem Unrecht zu schweigen, macht uns zu Komplizen. Wir können von niemandem verlangen, daß er die Augen schließt und eine Wahrheit nicht sieht, die geradezu in die Augen sticht. Warum soll einmal mehr Amnestie mit Amnesie verwechselt werden? Sie wissen, Herr Präsident, daß ein Vergessen, das durch die Amnestie aufgezwungen wird, dazu verleitet, den Akt der Begnadigung zu verfalschen, auf die jene eigentlich abzielte. Die Vergangenheit, für die einzustehen man uns hindert und

Auszüge aus einem Brief des Koordinators von SERPAJ-Uruguay, des Priesters Luis Perez Aguirre, vom 7. Mai 1996 an den uruguayischen Staatspräsidenten Julio Maria Sanguinetti (abgedruckt in: Brecha 10. Mai 1996: 5).

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der wir uns verweigern sollen (ich erinnere Ihren Ausspruch "nicht zurückblicken"), hört nicht auf, an die Oberfläche zu kommen und jedes Mal bedrohlicher unsere Gegenwart zu stören. Ich teile mit Ihnen die Intention und den Willen, daß diese nicht eingestandene Vergangenheit, diese Metastase in unserem kollektiven Gedächtnis, die uns alle lähmt und bedroht, eine schnelle Heilung erfahren sollte. Aber Sie irren sich, was den Weg betrifft, Herr Präsident, sollten Sie vorhaben, die schmerzliche Vergangenheit zu überwinden, indem Sie die Wahrheit über die Verschwundenen gegenüber ihren Angehörigen und dem Volk, mit dem sie untrennbar verbunden sind, verleugnen. Jedes Volk muß die Logik des Ressentiments, der Rache und des überkommenen Hasses überwinden. Aber irren Sie sich nicht hinsichtlich des Weges, Herr Präsident. Geleitet von meinen christlichen Überzeugungen will ich ganz ehrlich sein und Sie ermutigen, diese Arbeit an der Wahrheit, der Verifikation, des Geschehenen, d.h. der Realität der Verschwundenen und der Aufklärung ihres Schicksals nicht zu furchten. Deshalb reichen einige persönliche Geständnisse von Militärangehörigen nicht aus. Wir haben Anspruch auf eine institutionelle, offizielle und vollständige Wahrheit über die Verschwundenen. Nur die innere Bereitschaft zu einer bescheidenen Rekonstruktion der Wahrheit schließt die Wunden, baut die Hemmungen im Bewußtsein ab, die uns hindern, uns auszusöhnen, und wird für unser Volk zu einem Zeichen der Hoffnung. Und damit dies klargestellt ist, ich fordere von niemanden ein "mea culpa". Darauf wage ich schon nicht mehr zu hoffen. Ehrlich gesagt, haben mir die jüngsten Erklärungen ihrer Untergebenen diese Hoffnung genommen. Aber es würde Sie moralisch adeln, diesen Kreislauf von Beschuldigungen zu durchbrechen, diese Theorie "der zwei Dämonen" hinter sich zu lassen, deren einer, die sogenannte Subversion, seiner Strafe nicht entging, und deren anderer, der Staatsapparat, von den Mitgliedern eines seiner besonders herausgehobenen Instrumente, den Streitkräften, beherrscht wurde. Dieser Dämon hingegen bleibt in der Tat, wie wir um der Befriedung willen entschieden haben, straffrei. Ich respektiere, wie allgemein bekannt ist, diese politische Entscheidung meines Volkes. Ich glaube aber, daß sie nicht richtig war, und die Zukunft wird mir zeigen, daß ich mit dieser Ansicht nicht ganz falsch liege. Aber heute müssen wir unseren Mut verdoppeln, um einen wirksamen Ausweg aus dem zu finden, was über uns hereinstürzen wird, falls wir nicht beizeiten reagieren. Damit der Groll, der Schmerz und die Schuld uns nicht im Irrtum ersticken lassen, wenn sie sich schließlich auf unerträgliche Weise verfestigen, zu Steinen auf unserem Weg werden. Haben Sie den Mut und weisen Sie einen Ausweg. Ich glaube, der einzige, der uns bleibt, verläuft schon nicht mehr über die Aussöhnung, wie ich noch vor einiger Zeit gedacht hatte. Diese hätte vorausgesetzt, zunächst wieder dem Recht Geltung zu verschaffen, was durch das (Amnestie-)Gesetz verhindert wurde. Die kleine Tür, die für uns noch offen bleibt, die einzige, ist die Wahrheit. Ohne sie ist die Erinnerung, die in einer Welt von Unwissenheit versinkt, dazu verurteilt, Teil der gleichen Barbarei zu werden, die sie zu überwinden trachtet. Daran hat uns Hannah Arendt erinnert, als sie vom Verzeihen sprach. 205

Wenn es schon nicht mehr möglich ist, die Ungerechtigkeit zu beseitigen, bleibt dann unserem Land nur die Resignation? Ich glaube, daß wir wenigstens immer noch für die Wahrheit kämpfen können, und falls sie uns schließlich zuteil wercen sollte, "wird uns die Wahrheit frei machen", wie es uns Jesus aus Nazareth gesagt hat (Joh. 8,32). Herr Präsident, helfen Sie uns, damit wir nicht in der Unwissenheit gefangen bleiben. Wir brauchen die Wahrheit. Falls es nicht möglich sein sollte, offiziell die Wahrheit darüber zu erfahren, was mit den Verschwundenen (die Fälle von Kindern sind besonders herzzerreißend) geschehen ist, so ist dies ein schlechtes Zeichen, und die uruguayische Wirklichkeit wird dann von Grund auf und unumkehrbar vom Unrecht geprägt werden. De facto wird sich die Ungerechtigkeit als einziger Weg politischer Effizienz durchsetzen, während man uns zugleich alle in die Wildnis, in die Landschaft institutionalisierter Unwissenheit zurückschickt. Ich möchte nicht im Schattenreich leben, ich möchte mich nicht mit der Lüge als institutionalisierter Vertuschung des Skandals zufrieden geben. Herr Präsident, wenn man kurz vor einem Skandal steht, oder, wie ich befürchte, dieser bereits vorliegt, wird das, was nicht zu rechtfertigen ist, gerechtfertigt, wenn man nicht zuläßt, daß sich die Wahrheit (der Verschwundenen) zu Wort meldet, wenn man uns in Unwissenheit darüber läßt, wo sie sind, wer sie festhält und, falls sie tot sein sollten, warum man ihre Überreste nicht den Angehörigen übergibt. In Anlehnung an Paulus von Tarsus, Herr Präsident, "unterdrücken Sie nicht die Wahrheit mit der Ungerechtigkeit". Lassen Sie uns nicht mit einem verdunkelten Herzen, blind und ohne Licht, so daß wir weder sehen noch voranschreiten können. Die Wahrheit zu verbergen, ist immer ein Fluch und entmenschlicht. Mut, Herr Präsident, um die Vorherrschaft der Bösen zu brechen und uns nicht weiter mit Verachtung zu strafen. Die Wahrheit ist immer gut für denjenigen, der sie ausspricht, ... und für alle. Die Wahrheit macht uns gesund und frei. Laßt uns die Wahrheit aussprechen, Herr Oberkommandierender! Ich grüße Sie hochachtungsvoll und voller Hoffnung.

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Kai Ambos

Vergangenheitsbewältigung, Menschenrechte und Straflosigkeit in Bolivien Vorbemerkung Bolivien fristet in der deutschen Lateinamerikaforschung, verglichen mit lateinamerikanischen Bruderstaaten, wie Kolumbien, Peru, Chile, Argentinien und Brasilien, ein wahres Mauerblümchendasein. Am meisten Interesse findet noch die Koka-Kokain Problematik (vgl. Ambos 1993 und 1994), so daß man oftmals meinen könnte, das Land habe keine anderen Probleme. Was die Menschenrechtsforschung betrifft, ist diese Situation vielleicht damit zu erklären, daß die aus anderen Ländern bekannten Grausamkeiten in Bolivien kaum anzutreffen sind. Dementsprechend handelt bolivianische Vergangenheitsbewältigung auch im wesentlichen von der fast unendlichen Geschichte der Verfolgung des ehemaligen Diktators Garcia Meza und seiner engsten Vertrauten. Obwohl alleine schon dieser Teil der bolivianischen Menschenrechtsgeschichte eine gesonderte Darstellung verdienen würde, soll hier der menschenrechtliche Gesamtzusammenhang unter Einbeziehung der aktuellen Situation dargestellt werden.

Menschenrechte von der Diktatur zur Demokratie Im Hinblick auf grobe Menschenrechtsverletzungen in Bolivien muß man zur fast ununterbrochenen 18jährigen Militärherrschaft zwischen 1964 und Oktober 1982 zurückgehen1. Insbesondere den Regierungen Banzer (1971-1979) und Garcia

Nach der reformorientierten Regierung des Movimiento Nacionalista Revolucionario (MNR), das 1952-64 an der Macht war, folgten die Militärregierungen der Generäle Barrientos (1964-68), Ovando (1969-70), Torres (1970-71), Banzer (1971-78), Padilla und Bush (1979), García M. (Juli 1980 - Oktober 1982), unterbrochen durch die verfassungsmäßigen Regierungen von Guevara (UDP 1978/79) und Gueiler (1979/80). Seit den Wahlen vom 6. Juni 1993 regiert der MNR mit Gonzalo Sánchez de Lozada als Präsident, der eine Regierung unter Beteiligung der Unidad Cívica Solidaridad,

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Meza (1980-1982) wird vorgeworfen, die Menschenrechte systematisch verletzt zu haben. Deshalb wurde gegen García Meza und 54 seiner Gefolgsleute, darunter Innenminister Arce Gómez, im Jahre 1984 der sog. juicio de responsabilidades eingeleitet. Es handelt sich dabei um ein in Ermittlungs-, Anklage- und Urteilsphase eingeteiltes Strafverfahren zur Feststellung ihrer strafrechtlichen Verantwortlichkeit für Taten während der Militärdiktatur. Seit Ablösung der Militärdiktaturen ist die Verletzung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Menschenrechte in den Vordergrund gerückt. Die angesehene regionale Menschenrechtsorganisation Comisión Andina de Juristas CAJ stellte schon 1988 fest: "In Bolivien existiert keine systematische Verletzung der bürgerlichen und politischen Rechte ..., wohingegen die wirtschaftlichen und sozialen Rechte sich in den letzten Jahren in nie dagewesener Geschwindigkeit soweit verschlechtert haben, daß sie Niveaus erreichten, die unterhalb des Existenzminimums liegen. Dieses Problem zeigt sich außerdem stärker in den ärmsten Schichten der Gesellschaft..." (vgl. CAJ 1988: 91f.). Diese Situation hat sich in den 90er Jahren kaum merklich verbessert2. Demgegenüber erscheint die Situation im Bereich der bürgerlichen und politischen Menschenrechte relativ erfreulich. Von einer systematischen Verletzung dieser Rechte kann nicht gesprochen werden; extralegale Hinrichtungen, "Verschwindenlassen" und Folter kommen zwar vor, bleiben aber die Ausnahme3. Die häufigsten Menschenrechtsverletzungen bestehen in zu langer Freiheitsentziehung oder Mißhandlungen während der Untersuchungshaft: "The most pervasive human rights abuse continued to be prolonged incarceration of detainees ... Other abuses included mistreatment of detainees and prisoners..., substandard prison conditions, violence and discrimination against women and indigenous people, and inhuman working conditions in the mining industry" (US-Department of State 1995, ohne Seitenangabe). Im übrigen wird die Menschenrechtsdebatte von der Koka-Kokainproblematik überschattet. Im Zuge des in diesem Zusammenhang unter der Ägide der USA geführten "Drogenkriegs" kommt es zu zahlreichen Menschenrechtsverletzungen gegen die bäuerliche Bevölkerung durch die Drogenpolizei FELCN (Fuerza

des linksnationalen Movimiento Bolivia Libre und der indianischen Bewegung Tüpaj Katari gebildet hat. !

Bolivien zählt heute zu den ärmsten Ländern Lateinamerikas und wies Mitte der 70iger Jahre nach Haiti die negativsten Indikatoren sozialer Entwicklung auf (vgl. Nohlen, 1982: 127 ff.). Vgl. auch US-Department of State (1995, ohne Seite), darauf hinweisend, daß 55 % der Bolivianer "below the poverty line" leben.

3

Der UN-Sonderberichterstatter für extralegale Hinrichtungen berichtete im Jahre 1994 nur von einem Fall, der Ermordung eines spanischen Staatsangehörigen, der sich im Gewahrsam der Armee befand (UN-Dok. E/CN.4/1995/61, par. 66). Die working group zum "Verschwindenlassen" registrierte 1994 Uberhaupt keinen "Verschwundenen", die insgesamt 48 Verschwundenen gehen auf die Jahre 1981/82 zurück (UN-Dok E/CN.4/1995/36, par. 88 f.). Der Sonderberichterstatter für Folter berichtete für 1994 von zwei Fällen (UN-Dok. E/CN.4/1995/34, par. 61 ff.). Ähnlich knapp US-Department of State (1995, ohne Seite).

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Especial de la Lucha Contra el Narcotráfico) und ihre Sondereinheit UMOPAR (Unidad Móvil de Patrullaje Rural), insbesondere in der Kokaanbauregion Chapare (Dept. Cochabamba). Im einzelnen wird mit regelmäßiger Häufigkeit von körperlichen Mißhandlungen, willkürlichen Festnahmen und rechtswidrigen Hausdurchsuchungen berichtet4.

Formen der Straflosigkeit (impunidad) Das nationale und internationale öffentliche Interesse hat sich vorrangig auf den sogenanntenjuicio de responsabilidades3 konzentriert. Nach mehr als neun Jahren, die von Prozeßverschleppung und politischem Druck auf die zuständige Corte Suprema de Justicia gekennzeichnet waren, wurde am 21. April 1993 das Urteil gegen den Hauptangeklagten Garcia Meza verkündet. Er wurde zu einer 30jährigen Freiheitsstrafe ohne Begnadigungsmöglichkeit verurteilt; auch die anderen 50 Angeklagten wurden verurteilt. Zwar wird dieses Urteil gemeinhin als Erfolg für den Schutz der Menschenrechte gewertet, doch darf dabei nicht übersehen werden, daß der Prozeß als geradezu "didaktisches Modell" (Tribunal Permanente de los Pueblos 1991: 286) faktischer /mpKw/dad-Mechanismen dient. So wurde gegen den Hauptangeklagten Garcia Meza erst im Januar 1989 ein Haftbefehl verhängt, der jedoch lange Zeit nicht vollstreckt werden konnte, da Garcia Meza flüchtig war und immer noch die Unterstützung gewisser regierungsnaher Kreise genoß6. Am 11. März 1994 wurde er in Säo Paulo (Brasilien) verhaftet, am 18. April beantragte die bolivianische Regierung seine Auslieferung, der durch Urteil des brasilianischen Obersten Gerichtshofs am 19. Oktober 1994 stattgegeben wurde. Nachdem diese Entscheidung am 8. Februar 1995 bestätigt und auch ein habeas corpus-Antrag von der bolivianischen Corte Suprema abgewiesen worden war, wurde Garcia Meza den bolivianischen Behörden (endlich) am 14. März 1995 überstellt. Im April 1994 konnten auch zwei Mitangeklagte verhaftet werden. Seit Übernahme des Verfahrens durch die Corte Suprema im Jahre 1986 sah sich diese politischem Druck ausgesetzt, der seinen Höhepunkt in einer Verfassungskrise zum Jahreswechsel 1990/91 fand, als der Senat mit den Stimmen der Regierungsparteien MIR (Movimiento de Izquierda Revolucionaria) und ADN 4

Ausführlich nun Human Rights Watch/Americas (HRW/A)(1995: insbes. 24 ff.); auch US-Department of State (1995, ohne Seitenangabe); Amnesty International (1995: 74 f.); Ambos (1994: 102 ff.).

5

Zu den Hintergründen und der Geschichte des Verfahrens: AW, 1992; AW, 1993; Amnesty International (1991: 45 f.); Comisión Andina de Juristas(1988: 49 ff.; 1993: 114 ff.); Americas Watch (1992, 1993); Del Granado (1987); Boletín der Comisión Andina de Juristas C AJ Nr. 22, Oktober 1989: 22 (Anklageschrift); sowie die monatlichen Berichte des "Comité impulsor del juicio de responsabilidades contra Luis Gracia Meza y sus colaboradores".

6

Wegen der Regierungsbeteiligung Banzers und anderer Militärs wurde der Regierung Paz Zamora eine personelle und inhaltliche Kontinuität mit den ehemaligen Diktaturen vorgeworfen (Tribunal Permanente de los Pueblos 1991: 280/293/485).

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(Acción Democrática Nacionalista) und unter Führung des Ex-Diktators Banzer versuchte, acht Richter der Corte wegen Rechtsbeugung anzuklagen und so vom Verfahren auszuschließen. Dieser Versuch endete schließlich in einer sechsmonatigen Suspendierung der betroffenen Richter und Unterbrechung des Verfahrens. Die Einflußnahme von Exekutive und Teilen der Legislative auf die Rechtsprechung beschränkt sich jedoch nicht auf das juicio de responsabilidades, sondern findet in fast allen Verfahren, die Menschenrechtsverletzungen zum Gegenstand haben, — in einem stärkeren oder schwächeren Maße — statt (vgl. Tribunal Permanente de los Pueblos 1991:293; Comisión Andina de Juristas 1993: 24 ff.). Jüngere und weniger bekannte Fälle verdeutlichen die Mechanismen bolivianischer impunidad: * Lonsdale/CNPZ7: Der im Juni 1990 von der Bewegung Comando Ne:tor Paz Zamora - Ejército de Liberación Nacional (CNPZ-ELN) entführte Geschäftsmann Lonsdale wurde am 5.12. von der Polizei "befreit". Dabei wurden er und drei CNPZ-Mitglieder getötet. Der genaue Tathergang ist unklar8, doch sollen nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen jedenfalls zwei CNPZ Mitglieder extralegal hingerichtet worden sein. Von einer gerichtlichen Untersuchung dieser Vorkommnisse ist nichts bekannt. * Peralta E. (siehe Amnesty International 1991:45; 1993:9; Tribunal Permanente de los Pueblos 1991: 290): Juan Domingo Peralta Espinosa wurde am 20. Juli 1990 auf seinem Heimweg von Mitgliedern der polizeilichen Antiterroreinieit GEA getötet. Nach Polizeiangaben war er Mitglied der Fuerzas Armadas de Liberación Zarate Wilka (FAL-ZW) und kam bei einer bewaffneten Auseinandersetzung, die zu seiner Festnahme fuhren sollte, ums Leben. Es existiertejedoch weder ein Haftbefehl gegen Peralta, noch hielt er sich versteckt. Der damalige Innenminister Capobianco verhinderte eine Untersuchung des Falles, indem er die Namen der Polizeibeamten nicht preisgab und den Fall zu einem Problem der Staatssicherheit, das streng vertraulich zu behandeln sei, erklärte. Am 28. November 1991 informierte das Innenministerium jedoch, daß eine Untersuchung eingeleitet worden sei, um zu klären, ob die Polizeibeamten in unverhältnismäßiger Weise sofort die Schußwaffen eingesetzt hätten. * Evaristo Salazar9: Der Peruaner Salazar, zunächst für Alejandro Escobar Gutiérrez gehalten, wurde im Dezember 1990 von der Polizei getötet. Er wurde

7

Hierzu ausführlich: Ultima Hora (La Paz) vom 6.12.1990; La Razön (La Paz) vom 6.12.1990; Amnesty International (1991:45; 1992: 70; 1993: 10); US-Department of State (1991: 515 f.), Tribinal Permanente de los Pueblos (1991: 291).

'

Nach Angaben der Sicherheitskräfte wurde Lonsdale durch einen Kopfschuß der Aufständischen getötet, nach deren Angaben durch das unkontrollierte Feuer der Sicherheitskräfte.

9

Hierzu ausführlich Amnesty International (1991: 45; 1992:70; 1993: 10) US-Department of State (1993); Tribunal Permanente de los Pueblos (1991: 291 f.).

210

beschuldigt, Mitglied des CNPZ-ELN zu sein. Eine polizeiliche Untersuchung überführte zwei Polizisten des Totschlags und der Nötigung (bezugnehmend auf verbotene Vernehmungsmethoden). Sie wurden zu jeweils vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt; die Berufung der Angeklagten wegen des Strafmaßes (zwei statt vier Jahre) ist rechtshängig. * Granja de Espejos (siehe Amnesty International 1990): Die "Granja de Espejos "war eine polizeilich geleitete Haftanstalt im Dept. Santa Cruz, die wegen Folter und extralegalen Hinrichtungen von Gefangenen im Oktober 1989 geschlossen wurde. Das erste Strafgericht von Santa Cruz hat Ende 1989 gegen den ehemaligen Direktor, Cml. Luis Camacho, und fiinf Polizeibeamte wegen Totschlags und Mißhandlung Anklage erhoben. Die an sich begrüßenswerte Strafverfolgung der Hauptverantwortlichen wird jedoch von zahlreichen ähnlichen Mißständen in anderen Haftanstalten, die nicht untersucht und strafrechtlich verfolgt werden, überschattet10. Darüber hinaus werden auch die zahlreichen, schon oben erwähnten Übergriffe der Drogenpolizei FELCN und ihrer Spezialeinheit UMOPAR im Kokaanbaugebiet Chapare und in anderen Gebieten nicht konsequent verfolgt. In ihrem jüngsten Bericht stellt die Menschenrechtsorganisation "Human Rights Waich" (1995: 33) deshalb fest, daß "almost total impunity for human rights abuses except in extreme cases" herrsche. Dies sei zum einen auf die traditionelle polizeiliche Unterdrückung der Unterschicht zurückzuführen, die wiederum dazu führe, daß es etwa Kokabauern kaum wagten, rechtswidriges Handeln der Drogenpolizei anzuzeigen; zum anderen fehle es der Drogenpolizei — immer noch — an effektiven internen Kontrollmechanismen (Human Rights Watch/Americas 1995: 326; Ambos 1993: 443). Bisherige Reformen sind deshalb auch ohne spürbaren Erfolg geblieben".

Schlußbemerkung Mit dem Urteil im juicio de responsabilidades dürfte die ohnehin beschränkte bolivianische Vergangenheitsbewältigung schon vorüber sein. Die beschriebenen Fälle straflos gebliebener Menschenrechtsverletzungen unter formal-demokratischen Regierungen machen jedoch deutlich, daß es auch in Bolivien ernstzunehmende Formen der impunidad gibt. Lassen sich diese auch kaum mit der etwa aus

10

Vgl. US-Department of State (1993, ohne Seitenangabe): ".. there continue to be occasional allegations oftorture and... cruel and degrading treatment ofdetainees andprisoners by police officers and prison personnel. Security personnel are rarely tried and punished for such acts due to lack of evidence".

"

So hat etwa das Innenministerium eine Menschenrechtskommission, bestehend aus Regierungsund Nichtregierungsvertretem, gegründet. Deren Untersuchungen fiihrten immerhin zur Entlassung von sechs UMOPAR-Beamten (US-Department of State 1993, ohne Seite; 1994:370). Weiterwurde Menschenrechtserziehung in die offizielle Ausbildung eingeschlossen (US-Department of State 1995). 211

Kolumbien und Peru bekannten "verallgemeinerten impunidad' (impunidad generalizada) gleichsetzen (Ambos 1996: Kap. 2), so kann doch von ernstzunehmender "vereinzelter impunidad' gesprochen werden. Es gibt zweifellos auch in Bolivien Bereiche, in denen die Menschenrechte "strafloser" verletzt werden können als in anderen, etwa den Strafvollzug oder die Drogenbekämpfung. Deshalb mußte gerade den in diesen Bereichen erfolgten Verurteilungen (Strafvollzug) oder Ermittlungen (Drogenbekämpfung) Signalwirkung zukommen.

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Sabine Kurtenbach

Verdrängen, Vergessen, Versöhnen: Vergangenheitsbewältigung in Zentralamerika Nach Jahrzehnten von Repression und Krieg prägt in den letzten Jahren ein zweifacher Transformationsprozeß die Entwicklungen in Zentralamerika1. Zumindest formal demokratische Regierungssysteme lösten die autoritäre Herrschaft von Oligarchie und Militär ab. Die gewaltsamen Auseinandersetzungen wurden oder werden auf dem Verhandlungsweg beendet. Vor diesem Hintergrund ist die Auseinandersetzung mit den Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit ein zentrales und notwendiges Element sowohl der gesellschaftlichen Versöhnung als auch der künftigen Konfliktprävention. Aber gleichzeitig schüren Fragen nach Verantwortlichkeit und Zuständigkeiten sowie Forderungen nach strafrechtlichen Konsequenzen alte Konflikte. Die massive Repression oppositioneller Bewegungen durch die autoritären Regierungen war ein wesentlicher Faktor, der in den 70er Jahren zur Entstehung des bewaffneten Widerstands beitrug. Die Bürgerkriege selbst boten dann eine Begründung für die Einschränkung von Menschenrechten durch die Verhängung von Ausnahme- oder Notstandsverordnungen und die umfassende Repression politischer Gegner. Opfer staatlicher und parastaatlicher Gewalt in El Salvador, Guatemala und Honduras waren in den 80er Jahren vor allem Mitglieder und Funktionäre von Gewerkschaften, Kirchen, oppositionellen Parteien und Menschenrechtsorganisationen sowie Journalisten, Wissenschaftler und Studierende. Mit anderen Worten: Betroffen waren vor allem jene Gruppen, die Träger einer demokratischen Öffentlichkeit sind. Aber auch auf Seiten der bewaffneten Opposition gab es Gewaltakte gegen interne "Abweichler" und gegen die Zivilbevölkerung, wenn auch in einem weitaus geringeren Umfang als von seiten der Regierungen. Menschenrechtsverletzungen im postrevolutionären Nikaragua betrafen vor allem die Einschränkungen bürgerlicher Freiheitsrechte. Im Norden des Landes, dem Hauptkampfgebiet zwischen sandinistischer Armee und Contra-

Die folgenden Ausfuhrungen beziehen sich auf Guatemala, El Salvador, Honduras und Nikaragua.

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Gruppen, gab es allerdings von beiden Seiten schwere Übergriffe, und es wurden nach Kriegsende zahlreiche Massengräber entdeckt. Die Aufarbeitung dieser Vergangenheit zwingt deshalb die ehemaligen Konfliktgegner in allen Ländern Zentralamerikas dazu, sich mit der Recht- oder Unrechtmäßigkeit ihres Handelns auseinanderzusetzen. Als Beitrag zur Konfliktprävention muß Vergangenheitsbewältigung vier Schritte umfassen: — — — —

die Dokumentation der Ereignisse, d.h. die Klärung der Frage "Was ist geschehen?"; die Beantwortung der Frage nach der Verantwortlichkeit, "Wer waren die Täter?"; die Bestrafung der Täter und die Entschädigung der Opfer; die Versöhnung zwischen Opfern und Tätern sowie die gemeinsame Aufarbeitung der Vergangenheit zur Vermeidung einer Wiederholung der Menschenrechtsverletzungen.

In allen Ländern Zentralamerikas ist die Vergangenheitsbewältigung bisher bestenfalls beim zweiten Schritt angelangt. Nur vereinzelt müssen sich Täter bisher strafrechtlich für ihre Handlungen verantworten. In allen Ländern wurden infolge des regionalen Friedensvertrages von Esquipulas (1987) Amnestien für politische Gewaltakte erlassen, die eine Reintegration der bewaffneten Opposition erleichtern sollten. In der Regel wurden damit aber auch die staatlichen und parastaatlichen Sicherheitskräfte vor einer strafrechtlichen Verfolgung wegen gravierender Menschenrechtsverletzungen bewahrt. Die Straflosigkeit hat zwar nur in seltenen Fällen zu Racheakten gefuhrt, von gesellschaftlicher Versöhnung kann aber noch nicht gesprochen werden. Trotz dieser Gemeinsamkeiten unterscheidet sich der Umgang mit der Vergangenheit in den einzelnen Ländern stark. In El Salvador vereinbarten Regierung und Guerilla im Friedensvertrag von Chapultepec die Einberufung einer "Wahrheitskommission" .Diese sollte schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung untersuchen, die zwischen 1980 und 1991 begangen worden waren, und die dafür Verantwortlichen benennen. In Guatemala hat das Militär selbst diese reine Dokumentation der Ereignisse verhindert und durchgesetzt, daß in der 1994 von Regierung und Guerilla vereinbarten "Aufklärungskommission" individuelle Schuldzuweisungen unterblieben. In Honduras gab es keine Kommission, sondern Berichte des nationalen Menschenrechtsbeauftragten sowie einer unabhängigen Menschenrechtsorganisation. In Nikaragua unterblieb die Aufarbeitung der Vergangenheit vollständig. Aufgabe der 1992 ins Leben gerufenen Drei-Parteien-Kommission aus Vertretern der Regierung, der katholischen Kirche und der Verifikationskommission der OAS (CIAV-OEA) war die Untersuchung von Gewaltakten gegen ehemalige Kämpfer, d.h. die Arbeit bezog sich auf die Zeit nach Beendigung des Konfliktes und nicht auf die Kriegszeit. Schon dieser kurze Überblick zeigt, wie unterschiedlich der Umgang mit der eigenen Vergangenheit in den zentralamerikanischen Ländern ausfällt.

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Die Dokumentation der Vergangenheit: Berichte über Opfer und Täter Menschenrechtsverletzungen sind kein quantitatives Problem. Jede einzelne ist grausam und nicht zu rechtfertigen. Dennoch ist es wichtig darauf hinzuweisen, daß sich das Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen2 nicht nur zwischen den einzelnen Ländern Zentralamerikas deutlich unterscheidet, sondern auch während verschiedener Zeitabschnitte unterschiedliche Schwerpunkte hatte (vgl. Figueroa Ibarra 1994). Während der Höhepunkte der bewaffneten Auseinandersetzungen dominierten beispielsweise die offenen Formen der Repression, wie Massaker an der Zivilbevölkerung, Morde und Hinrichtungen politischer Gegner. Im Zuge der militärischen Deeskalation und zum Ende der Kriege oder danach konstatieren Menschenrechtsorganisationen dagegen eine Zunahme der eher selektiven Gewalt in Form von gezielten Morden, Folter und Verschwindenlassen von politischen Gegnern. Waren zuvor staatliche Sicherheitskräfte für einen Großteil der Repression verantwortlich, treten seither vielfach Todesschwadronen an ihre Stelle, wobei es zwischen beiden personelle und strukturelle Verbindungen gibt. El Salvador war das erste Land der Region, in dem es umfassende Versuche zur Dokumentation der Menschenrechtsverletzungen gab. Die Vergangenheitsbewältigung verlief dabei zweigleisig. Die Kriegsgegner einigten sich im April 1991 auf die Einsetzung einer internationalen Kommission, die die gravierendsten Menschenrechtsverletzungen der Kriegszeit untersuchen und öffentlich machen sollte. Der UN-Generalsekretär berief den ehemaligen kolumbianischen Präsidenten Belisario Betancur, den US-amerikanischen Juristen und Expräsidenten des Interamerikanischen Gerichtshofes Thomas Buergenthal und den ehemaligen venezolanischen Außenminister Reinaldo Figueredo als Mitglieder in die Kommission. Eine zweite, aus Salvadorianem bestehende ad-/7oc-Kommission sollte die Verantwortlichkeit von Offizieren für schwere Menschenrechtsverletzungen untersuchen und Empfehlungen für die Säuberung des Offizierskorps erarbeiten. Während die Wahrheitskommission ihren Bericht unter dem Titel "De la locura a la esperanza " (1993) veröffentlichte, übergab die arf-Aoc-Kommission das Ergebnis ihrer Arbeit lediglich dem UN-Generalsekretär und dem salvadorianischen Präsidenten. In beiden Fällen ging es nicht um eine vollständige Dokumentation der Kriegsgreuel. Die "Wahrheitskommission" beschränkte ihre Arbeit auf diejenigen gravierenden Menschenrechtsverletzungen, die "besondere Bedeutung" für die Gesellschaft erlangt hatten. Die Mitglieder der Kommission entschieden selbst, welche Fälle sie untersuchen würden. Auch die ad-Aoc-Kommission konnte in der ihr zur Verfügung stehenden knappen Zeit lediglich 10 Prozent des Offiziers-

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Im folgenden geht es vor allem um Verletzungen der Menschenrechte der ersten Generation, insbesondere des Rechtes auf körperliche Unversehrtheit. Bereits die reine Erfassung von Menschenrechtsverletzungen ist aufgrund der prekären Datenlage ein Problem (vgl. Dietrich 1991). Zusätzlich erschwert wird dies durch die Manipulation der Daten in der politischen Auseinandersetzung.

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korps untersuchen3. Sie erstellte eine Liste von Offizieren, die wegen grober Menschenrechtsverletzungen das Militär verlassen sollten, darunter der damalige Verteidigungsminister General René Emilio Ponce. Im Gegensatz zur "Wahrheitskommission" wurde aber keine Verbindung zu bestimmten Taten hergestellt. Im Sinne der Aufarbeitung der Vergangenheit und der nationalen Versöhnung war die Aufgabe der "Wahrheitskommission" schwieriger, weil hier der Öffentlichkeit nicht nur Namen genannt, sondern auch konkrete Beweise für individuelle Verantwortlichkeiten vorgelegt wurden. So wurde der Gründer der heutigen Regierungspartei ARENA, Major D'Aubuisson, als Drahtzieher der Ermordung von Erzbischof Romero im Jahr 1980 identifiziert. Die Ermordung von sechs Jesuiten der zentralamerikanischen Universität 1989 plante eine Gruppe von Offizieren um Verteidigungsminister Ponce. Insgesamt registrierte die Kommission mehr als 22.000 Anzeigen wegen schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen, von denen sich 60 Prozent auf extralegale Hinrichtungen bezogen. In 85 Prozent der Fälle benannten die Zeugen Mitglieder der staatlichen Sicherheitskräfte oder mit ihnen kooperierende paramilitärische Kräfte und Todesschwadronen als Täter. Lediglich in 5 Prozent der Fälle wurden Mitglieder des FMLN (Farabundo Marti de la Liberación Nacional) verantwortlich gemacht. Die schwerwiegendsten Menschenrechtsverletzungen der Guerilla waren zweifelsohne die Hinrichtungen zahlreicher Bürgermeister in vom FMLN kontrollierten Zonen zwischen 1985 und 1988. In ihren Empfehlungen sprach sich die "Wahrheitskommission" dafür aus, daß all diejenigen, denen gravierende Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen würden, keine öffentlichen Ämter und Funktionen mehr bekleiden sollten. Ein nationales Denkmal und ein Gedenktag sollten ebenso der Versöhnung dienen wie ein Fonds für die Opfer. Eine strafrechtliche Verfolgung der Täter forderte sie nicht. In Honduras gab es zwar während der 80er Jahre keinen innerstaatlichen Krieg und damit auch keinen Friedensvertrag, der die Bedingungen der Vergangenheitsbewältigung hätte festlegen können. Die regionale Auseinandersetzung und die Militarisierung des Landes im Rahmen der US-Aufstandsbekämpfungsstrategie bilden den Hintergrund für die Menschenrechtsverletzungen in Honduras. Erst im Wahlkampf 1993, d.h. sechs Jahre nach der Unterzeichnung des Vertrages von Esquipulas begann eine breitere innenpolitische Diskussion über die Menschenrechtsverletzungen der 80er Jahre. Die beiden traditionellen Parteien warfen sich gegenseitig vor, an den Menschenrechtsverletzungen beteiligt gewesen zu sein. Daraufhin kündigte der nationale Menschenrechtsbeauftragte, Leo Valladares, eine Untersuchung der Fälle von "Verschwindenlassen" an. Ende 1993 veröffentlichte er seinen Bericht "Los hechos hablan por si mismos", in dem er 184 Fälle von Verschwundenen analysierte. Er beschuldigte zahlreiche ehemalige und noch aktive Offiziere sowie zivile Regierungsbeamte der Beteiligung an diesen

Wie gefahrlich die Arbeit insbesondere der ad-hoc-Kommission war, wird unter anderem daran deutlich, daß sich deren Mitglieder nach Fertigstellung ihres Berichtes gezwungen sahen, mit ihren Familien das Land für längere Zeit zu verlassen.

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Verbrechen. Darüber hinaus forderte Valladares die Bestrafung der Täter, die Lokalisierung der Massengräber und die Exhumierung der Leichen sowie die Öffnung der Militärarchive. Mitte 1994 veröffentlichte dann auch die unabhängige Menschenrechtsorganisation CODEH (Comité para la Defensa de los Derechos Humanos en Honduras) einen über 1000 Seiten umfassenden Bericht zu Menschenrechtsverletzungen, in dem die beiden Expräsidenten Suazo Cördoba (1982-86) und Azcona Hoyo (1986-90) sowie General Discua, bis Ende 1995 Chef der Streitkräfte, als Verantwortliche namentlich genannt werden. In Guatemala fanden schon in den 80er Jahren mehrere Versuche und Initiativen zur Aufklärung des Schicksals von "verschwundenen" Personen statt (vgl. Inforpress 30.6.94). Bereits 1984 setzte die Militärregierung dazu eine Kommission ein, die nach viermonatiger Arbeit zu dem aufschlußreichen Ergebnis kam, es gebe keinen einzigen Verschwundenen in Guatemala. Die von den Menschenrechtsorganisationen als vermißt gemeldeten Personen befänden sich entweder als Tagelöhner in den USA oder seien als Aufständische in die Berge gegangen. Auch zwei neuerliche Anläufe unter den zivilen Regierungen von Vinicio Cerezo und Jorge Serrano hatten entweder nur ein sehr eingeschränktes Mandat oder legten keinen Bericht vor. Im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Regierung und Guerilla war das Thema der Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen stets sehr umstritten. Ende April 1994 akzeptierte das Militär erstmals die Idee einer Untersuchung, allerdings nur unter der Bedingung, daß diese "gerecht, ausgewogen und unparteiisch" sei. Wenig später, am 23.6.94, unterzeichneten Regierung und Guerilla das Abkommen über die "Bildung einer Kommission zur historischen Aufklärung der Menschenrechtsverletzungen", das allerdings erst nach dem Abschluß eines endgültigen Friedensvertrages in Kraft tritt. Die Arbeit der Kommission soll: - die in Zusammenhang mit der bewaffneten Auseinandersetzung stehenden Menschenrechtsverletzungen und Gewaltakte objektiv und unparteiisch aufklären4; - einen Bericht mit den Ergebnissen der Untersuchung erstellen, der objektive Beurteilungskriterien enthalten soll; und - spezifische Empfehlungen zur Förderung des Friedens und der Versöhnung formulieren. Im Gegensatz zur salvadorianischen Wahrheitskommission sollen in Guatemala die für einzelne Gewaltakte Verantwortlichen nicht genannt werden. Mitglieder der Kommission sind: der UN-Vermittler Jean Amault, ein von diesem in Abstimmung mit den Konfliktparteien zu benennender Bürger sowie ein Akademiker, den der Vermittler aus einer von den guatemaltekischen Universitätsrektoren zu erstellenden Liste auswählt. Die Kommission hat sechs, bei Bedarf 4

Diese Formulierung suggeriert zunächst das Ziel der Vollständigkeit. Weiter unten im Vertrag wird dies dann aber eingeschränkt, wenn festgestellt wird, daß der Bericht seine Gültigkeit nicht verliert, falls nicht alle Fälle untersucht werden konnten.

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zwölf Monate Zeit, ihren Bericht zu verfassen, den sie dann den Konfliktparteien und dem UN-Generalsekretär übergibt. Der Bericht soll veröffentlicht werden. Menschenrechtsorganisationen kritisierten besonders die Tatsache, daß die Kommission ihre Arbeit erst nach der Unterzeichnung eines Friedensvertrages aufnehmen soll. Dies gebe Anlaß zur Sorge, weil Zeugen in der Zwischenzeit eingeschüchtert oder umgebracht werden könnten. Die fehlende Klärung individueller Verantwortlichkeiten fördere außerdem die Straflosigkeit der Täter. Vertreter des Militärs und Präsident Ramiro de Leon — immerhin der ehemalige Ombudsmann für Menschenrechte - betonten dagegen die Notwendigkeit der nationalen Versöhnung, die durch eine detaillierte Aufklärung behindert werde 5 . Im Gegensatz zu den anderen zentralamerikanischen Ländern fand in Nikaragua keine Aufarbeitung der Vergangenheit im Bereich der Menschenrechte statt. Ein Grund hierfür dürfte sein, daß es unter der sandinistischen Regierung zwar Menschenrechtsverletzungen, aber keine systematische Verfolgung und Repression der Opposition gab. Bei den Friedensverhandlungen zwischen Regierung und antisandinistischer Contra spielte das Thema der Vergangenheitsbewältigung keine Rolle 6 . Bedeutung erhielt die Frage der Menschenrechte erst im Rahmen der Demobilisierung und Reintegration von ehemaligen Kombattanten beider Seiten. Insbesondere auf dem Land und vor allem in den ehemaligen Konfliktgebieten im Norden Nikaraguas hörte die Gewalt nicht auf. Präsidentin Violeta Barrios de Chamorro lud deshalb im September 1992 den Erzbischof von Managua, Miguel Obando y Bravo, sowie den Koordinator der internationalen Unterstützungs- und Verifizierungsmission der OAS, Santiago Murray, ein, gemeinsam mit der Regierung die Ursachen der Gewalt zu analysieren und Empfehlungen zu erarbeiten, die eine Wiederholung ähnlicher Akte verhindern helfen.

Der Umgang mit der Vergangenheit — Reaktionen von Tätern und Opfern Die Friedensverhandlungen bzw. das Ende der Kriege haben in allen Ländern der Region mittlerweile zu einer Diskussion über Menschenrechtsverletzungen gefuhrt. Während es zunächst vor allem unabhängige Menschenrechtsorganisationen und die Kirchen waren, die Vergehen öffentlich anprangerten, führten die verschiedenen Berichte doch zu einer Belebung der Diskussion. Teilweise brachen dabei die alten Fronten wieder auf. Eine repräsentative Umfrage in El Salvador zur Arbeit der "Wahrheitskommission" (vgl. IUDOP 1993: 71 lff.) zeigte beispielsweise, daß 45,4% der Befragten 5

Vgl. Inforpress 30.6.94 sowie Panorama Centroamericano, Reporte Político No. 95, julio 1994.

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Auf Seiten der Contra waren die Menschenrechtsverletzungen dagegen teilweise so gravierend, daß das US-State Department 1986 eine eigene Organisation, die Asociación Nicaragüense Pro Derechos Humanos (ANPDH), zur Förderung der Menschenrechte durch die Contras gründete.

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mit der Arbeit der Kommission zufrieden waren. Je nach sozialer Herkunft änderte sich dies: In der obersten sozialen Schicht waren nur noch 38,8% der Befragten mit dem Bericht zufrieden, während 47,8% unzufrieden waren. Diese Unzufriedenheit basierte aber nur zum geringsten Teil (8,4%) auf der Annahme, der Bericht sei falsch. Hauptkritikpunkt (39,7%) war vielmehr die Auswahl der untersuchten Fälle, insbesondere die Nichtbeachtung einiger Verbrechen. Im großen und ganzen stieß die Arbeit der Kommission auf ein hohes Maß an gesellschaftlicher Akzeptanz. Thomas Buergenthal (1995: 842), Mitglied der Kommission, fuhrt dies vor allem auf die Tatsache zurück, daß die Mitglieder der Kommission keine Salvadorianer waren und deshalb nicht beschuldigt werden konnten, eigene Interessen in der Auseinandersetzung zu verfolgen. In Honduras fanden die Berichte des Menschenrechtsbeauftragten und des CEDOH zunächst kein breites gesellschaftliches Echo. Die innenpolitische Diskussion wurde Mitte 1995 durch eine Artikelserie in der US-Zeitung "Baltimore Sun" angestoßen, die in der honduranischen Presse nachgedruckt wurde. Darin berichteten drei ehemalige Mitglieder des berüchtigten Bataillons 3-16, einer 1989 aufgelösten Spezialeinheit zur Aufstandsbekämpfung, über die Repression durch das Militär und die Verwicklung des US-amerikanischen Geheimdienstes CIA sowie die Ausbildung der Folterer durch argentinische Militärberater Anfang der 80er Jahre. Wichtiger war aber die Anklage von 10 teils ehemaligen, teils noch aktiven Militärs wegen der illegalen Entführung und dem Mordversuch an sechs Studenten im Jahr 1982. Dies war das erste formale Verfahren gegen honduranische Militärs wegen Menschenrechtsvergehen7. Die Reaktion des honduranischen Militärs erfolgte prompt und war eindeutig: General Discua, Chef der Streitkräfte, erklärte sich sofort mit den Angeklagten solidarisch und drohte mit "Maßnahmen", falls das Gericht nicht unparteiisch agiere. Am 2. August 1995 mobilisierte das Militär die Truppen an verschiedenen Punkten der Hauptstadt und berief demonstrativ eine Sitzung des Obersten Rates der Streitkräfte ein, der beschloß, die Verteidigung der Angeklagten zu übernehmen. Dennoch sahen sich auch die honduranischen Militärs gezwungen, sich wegen der Menschenrechtsverletzungen zu rechtfertigen. Discua, der der erste Chef des Bataillons 3-16 gewesen war, zog sich auf den Standpunkt zurück, Honduras habe sich in den 80er Jahren im Krieg befunden und forderte die Untersuchung von Entführungen prominenter Honduraner, um die "andere Seite der Medaille" zu erhellen (El Nuevo Diario 20.6.95). Darüber hinaus forderte die Militärspitze die Anwendung der 1991 erlassenen Amnestie auf die Angeklagten. Das Thema der Verschwundenen solle man vergessen, bestenfalls die Angehörigen entschädigen und die Sache für abgeschlossen erklären.

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Bereits 1994 waren ein Oberst und ein Hauptmann wegen Vergewaltigung und Tötung einer Studentin im Jahr 1991 verurteilt worden. Diese Tat hatte aber keinen politischen Hintergrund. Allein die Tatsache, daß die Militärs sich vor einem zivilen Gericht wegen einer Straftat verantworten mußten, kann aber schon als großer Fortschritt gewertet werden.

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Das Verhalten des honduranischen Präsidenten Carlos Roberto Reina in diesem Konflikt macht die prekären Machtverhältnisse im Land deutlich: Reina, der in den 80er Jahren Präsident des Interamerikanischen Gerichtshofes für Menschenrechte war und unter dessen Vorsitz Honduras 1989 wegen mehrerer Fälle von Verschwindenlassen verurteilt wurde, verteidigte 1995 als Präsident die Armee. Er verurteilte Angriffe auf die Streitkräfte im Juni 1995 als Mittel der Verleumdung und Ablenkungsmanöver vom "eigentlich wichtigen Thema Korruption" (Inforpress 29.6.95). Die seit seiner Amtsübernahme Anfang 1994 wiederkehrenden Putschgerüchte und die Muskelspiele des Militärs dürften ihren Anteil am Meinungswandel des ehemaligen Menschenrechtsanwalts haben. In Guatemala hat die vereinbarte Aufklärungskommission ihre Arbeit zwar noch nicht einmal begonnen, seit die VN-Kommission zur Überwachung des allgemeinen Menschenrechtsabkommens (MINUGUA) im November 1994 ihre Arbeit aufgenommen hat, gibt es jedoch eine nationale Diskussion über vergangene und anhaltende Menschenrechtsverletzungen. Auch hier dient der Krieg als wesentliche Rechtfertigung. General Héctor Gramajo, Verteidigungsminister unter der ersten zivilen Regierung von Vinicio Cerezo (1986-90), gab allenfalls "Exzesse" zu. Diese "irrationalen Akte" seien "in der Hitze des Gefechtes" allerdings von beiden Seiten begangen worden (Inforpress 4.5.95)8. Militärsprecherin Major Edith Vargas kündigte im Juni 1995 an, daß das guatemaltekische Militär dem argentinischen Vorbild nicht folgen werde. Man werde sich nicht für die "Exzesse" der Vergangenheit entschuldigen. "Entschuldigungen sind notwendig, wenn man etwas Falsches getan hat. Aber die Armee hat lediglich die nationalen Interessen verteidigt" (LAWR 8.6.95). Menschenrechtsorganisationen und die Angehörigen der Opfer sehen das verständlicherweise anders. Sie fordern eine Untersuchung aller schweren und systematischen Menschenrechtsverletzungen durch die beiden Konfliktparteien sowie all der Akteure, die entweder beteiligt waren — wie die Todesschwadronen und ausländischen Mächte9 — oder von der Repression profitierten — wie der Finanzsektor oder die politischen Parteien (La Rue 1994). Wenn es auch ein Fortschritt ist, daß sich Militärs überhaupt gezwungen sehen, über die Menschenrechtsverletzungen zu sprechen, so zeigen sie doch in keinem der Länder auch nur einen Ansatz von Reue oder Bedauern, sondern wiederholen lediglich die alten Rechtfertigungsphrasen.

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Gramajo selbst wurde am 12.4.95 in Abwesenheit von einem Bundesgericht in Boston (USA) dazu verurteilt, den 8 Überlebenden von Massakern in Huehuetenango und Chimaltenango im November 1988 sowie der US-amerikanischen Nonne Diana Ortiz, die im November 1989 entführt und gefoltert worden war, insgesamt 47,5 Mio. US-Dollar Entschädigung zu bezahlen.

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Gemeint sind hier insbesondere argentinische Militärberater und der US-Geheimdienst CIA, dessen Beteiligung mittlerweile unumstritten ist. Veröffentlichungen über die Verstrickung der CIA in die Repression in Guatemala gehen mittlerweile so weit, daß Beobachter in Anlehnung an den Watergate-Skandal von einem "Guategate" reden. Beispielsweise soll der wegen des Mordes an dem US-Bürger Michael Devine zunächst angeklagte, von einem Militärgericht aber umgehend freigesprochene Hauptmann Julio Alpirez auf der Gehaltsliste der CIA gestanden haben.

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Die Frage der Strafverfolgung und das Problem der impunidad Die Dokumentation der Menschenrechtsverletzungen hat bisher nicht zu einer Bestrafung der Täter geführt. Im Gegenteil: Zahlreiche Amnestien schützen die Täter bis heute (vgl. Übersicht). Die Amnestien des Jahres 1987 stehen in Zusammenhang mit der Unterzeichnung des Vertrages von Esquipulas, in dem sich die Regierungen darauf einigten, die nationale Versöhnung mit der bewaffneten Opposition durch Amnestie-Dekrete zu erleichtem. Die folgenden Amnestien stehen dagegen in Zusammenhang mit der Verhinderung einer Strafverfolgung für begangene Menschenrechtsverletzungen. Besonders deutlich wird dies am Beispiel der salvadorianischen Amnestie von 1993. Präsident Cristiani und die ARENA-Partei verabschiedeten mit ihrer Parlamentsmehrheit noch vor der Veröffentlichung des Berichtes der Wahrheitskommission eine umfassende Amnestie. Diese bewahrt unter anderem die Verantwortlichen für das Massaker von El Mozote, bei dem 1981 etwa 800 Zivilisten getötet wurden, vor der Strafverfolgung. Auch die zwei 1991 wegen des Mordes an den Jesuitenpadres und deren Hausangestellten verurteilten Offiziere kamen dadurch bereits nach Hmonatiger Haft frei. In Honduras datieren die Amnestien dagegen aus der Zeit vor der Dokumentation der Menschenrechtsverletzungen. An der Frage hinsichtlich der Anwendbarkeit auf die 10 angeklagten Offiziere von 1995 hat sich zunächst eine breite Debatte, dann ein regelrechter Justizkrimi entzündet. Die Militärs bestanden sofort nach der Anklageerhebung darauf, daß die den Betroffenen vorgeworfenen Delikte von den verschiedenen zwischen 1987 und 1991 verabschiedeten Amnestien gedeckt seien und die Verantwortlichen deshalb nicht zur Rechenschaft gezogen werden könnten. Der nationale Menschenrechtsbeauftragte Leo Valladares hielt dagegen, die Amnestien könnten nicht zur Anwendung kommen, weil es sich nicht um politische Delikte handele. Illegale Entführung und Mordversuch seien vielmehr gewöhnliche Straftatbestände bzw. Ausdruck von staatlichem Machtmißbrauch, für den sich die Angeklagten zu verantworten hätten. Mit Verweis auf die Amnestie weigerten sich die Angeklagten, auch nur als Zeugen zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen, woraufhin der zuständige Richter in drei Fällen Haftbefehl erließ. Die Angeklagten riefen das Appelationsgericht an, das Anfang 1996 verkündete, die Amnestie von 1991 gelte auch für diese Militärs. Dieses Urteil wurde allerdings schon Mitte Januar vom Obersten Gerichtshof des Landes kassiert. In ihrer Begründung vertraten die obersten Richter die Auffassung, das Appellationsgericht hätte nicht über die Anwendbarkeit der Amnestie, sondern lediglich über die Existenz von Verfahrensfehlern zu entscheiden gehabt. Da das Verfahren bisher aber korrekt abgelaufen sei, obliege es dem zuständigen Richter, über die Geltung der Amnestien zu entscheiden. Zunächst müsse aber über Schuld oder Unschuld der Beklagten befunden werden. Nur im Falle eines Schuldspruchs müsse dann geklärt werden, ob es sich bei den Taten um gewöhnliche oder politische Delikte gehandelt habe. Nur im letzteren Fall könnten die Amnestien zur Anwendung kommen (vgl. Inforpress 1.2.96). Mit 221

Amnestien in Zentralamerika El Salvador 27.10.1987: Die Verfassunggebende Versammlung verabschiedet ein Amnestiegesetz, das sich auf politische und damit zusammenhängende gewöhnliche Straftaten bezieht. 5.10.1989: Das Parlament verabschiedet ein nur begrenzt geltendes Amnestiegesetz speziell für Kriegsversehrte. 23.1.1992: Verabschiedung eines neuen Amnestiegesetzes, das jedoch nicht für die von der "Wahrheitskommission" wegen Beteiligung an schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen genannten Personen gelten soll. 20.3.1993: Mit der Mehrheit der Regierungspartei ARENA verabschiedet das Parlament eine Amnestie für Verbrechen in Zusammenhang mit dem politischen Konflikt, durch die gerade jene Militärs straffrei ausgehen, die von der "Wahrheitskommission" schwerer Menschenrechtsvergehen beschuldigt wurden. Guatemala 28.10.1987: Der Kongreß verabschiedet ein Amnestiegesetz für politische und damit zusammenhängende gewöhnliche Straftaten, die im Rahmen "subversiver Aktionen" verübt wurden. Das Gesetz soll 180 Tage gültig sein. Honduras 14.12.1990: Der Kongreß verabschiedet ein Amnestiegesetz für politische und damit zusammenhängende Straftaten. Personen, die eines Vergehens gegen die Staatssicherheit beschuldigt werden, sind von der Amnestie ausgenommen. 10.7.1991: Ein weiteres Amnestiegesetz begünstigt sowohl politische Gefangene, die gegen die "Sicherheit des Staates" agierten, als auch Militärs, die Menschenrechtsverletzungen begangen haben. Nikaragua 21.11.1987: Die Verfassunggebende Versammlung verabschiedet ein Amnestiegesetz. 19.1.1988: Die sandinistische Regierung ruft eine generelle politische Amnestie aus. 12.3.1990: Die Nationalversammlung verabschiedet ein umfassendes Amnestiegesetz, das Verbrechen von öffentlichen Bediensteten, Militärs und anderen Personen umfaßt, die sich gegen die öffentliche Ordnung sowie die innere und äußere Sicherheit des Staates gerichtet haben. 17.8.1993: Das Parlament verabschiedet eine Amnestie für alle politischen Gewalttaten, die vor dem 15.8.93 begangen wurden. 222

dieser Entscheidung ist der Streit zwar noch nicht geklärt, aber die korrekte Vorgehensweise ist nun vorgegeben10. In Guatemala endete die Straflosigkeit des Militärs 1993 zumindest teilweise. Im Juni 1993 wurden zwei ehemalige Soldaten wegen des Mordes an dem US-Amerikaner Michael Devine verurteilt. Später sagten sie nicht nur über ihre Beteiligung, sondern auch über die Befehlsgeber für diesen und weitere Morde aus. Belastet wurde vor allem der militärische Geheimdienst G-2, der kurz zuvor bereits von einem ehemaligen Mitglied bezichtigt worden war, an Entfuhrungen, Folter und Mord von politischen Oppositionellen beteiligt gewesen zu sein. Im Februar 1994 wurde ein weiterer Exsoldat wegen des Mordes an der Anthropologin Myma Mack zu 30 Jahren Haft verurteilt. Der Oberste Gerichtshof gab kurze Zeit später der Klage der Schwester des Opfers — Helen Mack — statt, die lange Zeit vergeblich ein Verfahren gegen die Drahtzieher und Auftraggeber gefordert hatte. Damit erhielt die Strafverfolgung eine neue Qualität, weil Offiziere bisher stets freigesprochen wurden oder das Verfahren eingestellt wurde". Dies alles sind zweifelsohne Fortschritte auf dem Weg zu Rechtsstaatlichkeit und Abschaffung der impunidad. Es darf aber nicht übersehen werden, daß es Erfolge bisher ausschließlich in spektakulären Fällen gab, in denen entweder das Opfer ein Ausländer war — der Fall Devine — und/oder die internationale Aufmerksamkeit und der internationale Druck sehr groß waren, wie im Fall Mack. In der überwiegenden Mehrheit der anderen Fälle bleiben die Täter straffrei. Selbst wenn das Opfer ein prominenter Guatemalteke ist, wie Jorge Carpió Nicolle — Zeitungsherausgeber, ehemaliger Präsidentschaftskandidat und Cousin von Präsident Ramiro de León Carpió - verlaufen bereits die Untersuchungen im Sand. Die VN-Menschenrechtsbeauftragte für Guatemala, Mónica Pinto, wies 1995 zu Recht auf die Bedeutung des Falles Carpió hin: Er ist "von zentraler Bedeutung, weil die soziale Stellung des Opfers und dessen familiäre Beziehungen zum Staatspräsidenten den Schluß erlauben, daß, wenn es hier keine Gerechtigkeit gibt, es diese noch weniger für den Normalbürger geben wird" (Inforpress 13.7.95).

Nationale Versöhnung als gesellschaftliche Aufgabe Die Notwendigkeit der nationalen Versöhnung in den vom Krieg zerrissenen Gesellschaften wurde bereits 1987 im Abkommen von Esquipulas anerkannt. Die Regierungen verpflichteten sich im ersten Punkt des Abkommens nicht nur auf Amnestien für politische Delikte, sondern auch auf die Bildung nationaler Versöhnungskommissionen. Neben Vertretern von Regierung und politischer, d.h. unbewaffneter

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Ein pikanter Seitenaspekt des Konfliktes ist das Verhalten von Präsident Reina. Dieser, selbst Jurist, hatte sich bereits im Vorfeld der Entscheidung des Appellationsgerichts fiir eine Anwendung der Amnestien und ein Vergessen der Taten ausgesprochen (Inforpress 14.12.95).

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Dies führte jedoch dazu, daß ehemalige Soldaten immer wieder schwere Vorwürfe gegen Offiziere geäußert haben. Allerdings, ohne daß dies zu strafrechtlichen Konsequenzen geführt hätte.

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Opposition sollten daran Vertreter der katholischen Kirche und der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte teilnehmen. Die Kommissionen sollten in erster Linie die Suche nach Möglichkeiten einer Beendigung der Kriege auf dem Verhandlungsweg unterstützen. Dies ist die notwendige Voraussetzung dafür, daß nach Kriegsbeendigung umfassende Versöhnungsprozesse stattfinden können. Bereits wenige Wochen nach der Unterzeichnung des Abkommens von Esquipulas nahmen die nationalen Versöhnungskommissionen ihre Arbeit jeweils unter dem Vorsitz eines Vertreters der katholischen Kirche auf12. Die Tätigkeit der Kommissionen verlief allerdings sehr unterschiedlich. In El Salvador zog sich Mario Reni Roldan, Vertreter der Oppositionsparteien, bereits am 29.10.1987 zurück, nachdem der Vorsitzende der unabhängigen Menschenrechtskommission, Herbert Anaya Sanabria, ermordet worden war. In Nikaragua bildeten Regierung, Opposition und Kirche dagegen auch auf regionaler und lokaler Ebene Versöhnungskommissionen. In Honduras wiederum gab es keine nennenswerten Aktivitäten. Am aktivsten war die Arbeit der guatemaltekischen Versöhnungskommission, die sich im April 1988 informell mit Vertretern der Guerilla traf, um die Möglichkeiten eines direkten Dialogs zu erkunden. Im März 1990 unterzeichneten Versöhnungskommission und URNG (UnidadRevolucionaria National de Guatemala) in Oslo ein Grundsatzabkommen über die Friedenssuche mit politischen Mitteln. Ein Jahr später fungierte die Kommission als Vermittler bei den ersten direkten Gesprächen zwischen Regierung und URNG in Mexiko. Die Beendigung der Kriege auf dem Verhandlungsweg ist ohne die Bereitschaft zur Versöhnung zumindest zwischen den jeweiligen Führungsgruppen nicht möglich. Nach der Unterzeichnung von Friedensverträgen muß die Versöhnung allerdings über diese Gruppen hinausgehen und sowohl die Kombattanten beider Seiten als auch die gesamte Gesellschaft einbeziehen. In den letzten Jahren hat es zwar sowohl in Nikaragua als auch in El Salvador politisch motivierte Morde an ehemaligen Konfliktgegnern gegeben13, offene Racheakte waren aber eher selten. Die alten Konfliktlinien sind teilweise durch neue ersetzt worden. So haben sich in Nikaragua ehemalige Kombattanten beider Seiten zusammengeschlossen, um gemeinsam von der Regierung die Einhaltung der materiellen Zusagen gegenüber den Demobilisierten zu erreichen. Auf der lokalen Ebene entstanden vielfach gemischte Kommissionen aus demobilisierten Kämpfern von Contra und sandinistischer Armee, die gemeinsam kleine Entwicklungsprojekte formulierten (vgl. Ortega M. 1994). Die katholische Kirche hat bei der Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit in der gesamten Region eine wichtige Rolle übernommen. So 12

In Nikaragua am 25.8.87, El Salvador am 7.9.87, Guatemala am 30.9.87 und in Honduras am 6.10.87. Dort hatte sich die Regierung Azcona Hoyo zunächst geweigert, eine Versöhnungskommission ins Leben zu rufen, weil es in Honduras keine tiefe soziale Spaltung gebe. Selbst in Costa Rica wurde am 23.10.87 eine nationale Versöhnungskommission gebildet.

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In Nikaragua sind diese Fälle von der Drei-Parteien-Kommission untersucht worden. In El Salvador stieg die Zahl der politisch motivierten Gewaltakte insbesondere im Vorfeld der Wahlen vom März 1994. Die neuerlichen Aktivitäten der Todesschwadronen wurden von einer Arbeitsgruppe untersucht.

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wie sie während der Konflikte eine zentrale, unabhängige und unparteiische Informationsinstanz war, versucht sie heute, ihren Beitrag zur nationalen und lokalen Versöhnung zu leisten. In Guatemala initiierte die Bischofskonferenz im April 1995 ein Projekt unter dem Namen REMI (Recuperación de la Memoria Histórica), das innerhalb eines Jahres durch direkte Zeugenaussagen der Betroffenen das Ausmaß der Gewalt gegen die Zivilbevölkerung zwischen 1960 und 1995 dokumentieren sowie deren Ursachen und Konsequenzen analysieren soll. Koordiniert wird das Vorhaben vom Menschenrechtsbüro des Erzbischofs. Ziel ist sowohl das bessere Verständnis der Vergangenheit als auch die Vermeidung einer Wiederholung der tragischen Ereignisse. Untersucht werden soll das Verhalten des Militärs, paramilitärischer Gruppen und der Guerilla. Die katholische Kirche will die Arbeit der offiziellen Aufklärungskommission damit unterstützen, auch wenn es zwischen beiden keine formale Verbindung gibt (vgl. Inforpress 4.5.95). Die nationale Versöhnung wird in den zentralamerikanischen Ländern noch viele Jahre dauern. Gelingen kann sie dauerhaft nur, wenn ihre Basis die Anerkennung des Geschehenen und nicht dessen Verdrängung oder Vergessen ist. "Ziel ist es nicht, den Krieg zu vergessen, sondern ihn als Mittel der Konfliktlösung zu überwinden" (Bendaña 1995: 7). Inwieweit die Vergangenheit in den zentralamerikanischen Gesellschaften aufgearbeitet wird, wird heute noch immer wesentlich vom jeweils existierenden Kräfteverhältnis zwischen Militär und Zivilgesellschaft bestimmt. Solange sich die ehemaligen Machthaber nicht für ihre Taten verantworten müssen, besteht immer die Gefahr, daß sie erneut zum "Recht" des Stärkeren greifen. Um die Wiederholung der Greuel zu vermeiden, ist die umfassende Aufarbeitung der Vergangenheit eine zentrale Aufgabe von Politik und Gesellschaft in den kommenden Jahren.

Literaturverzeichnis BENDAÑA, Alejandro, I99S: Hl papel de los desmovilizados en la construcción de la paz, in: Centro de Estudios Internacionales (Hrsg): Hablan los desmovilizados de la Guerra. Nicaragua, El Salvador y Mozambique, Managua, 1-12. BUERGENTHAL, Thomas, 1995: La comisión de la verdad para El Salvador, in: eca, San Salvador, L/563: 813-847. DIETRICH, Wolfgang, 1991: Zum Problem der Informationsbeschaffung über parastaatliche Gewalt am Beispiel Zentralamerikas, in: Tobler, Hans Wemer/Waldmann, Peter (Hrsg.) 1991: Staatliche und parastaatliche Gewalt in Lateinamerika, Frankfurt am Main, S. 227-261. FIGUEROA IBARRA, Carlos, 1994: Violencia y Democracia en Centroamérica, in: Verdad y Vida. Revista Trimestral de la Oficina de Derechos Humanos del Arzobispado de Guatemala, 2: 9-13. IUDOP (Instituto Universitario de Opinión Pública), 1993: La Comisión de la Verdad y el proceso electoral en la opinión pública salvadoreña, in: eca, San Salvador, XLVIII/537-538: 711-734. LA RUE, Frank, 1994: El debate de la Comisión de la Verdad, in: Noticias de Guatemala, Mayol994:3-5. ORTEGA M., Zoilamérica, 1994: Reconciliación entre ex-militares sandinistas y de resistencia (Centro de Estudios Internacionales. Cuadernos de Investigación), Managua.

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Autorenverzeichnis Kai Ambos, Jurist, Referent für Internationales Strafrecht und Hispanoamerika am Max-Planck-Institut, Freiburg. Osvaldo Bayer, argentinischer Journalist und Inhaber des Lehrstuhls für Menschenrechte an der Universidad de Buenos Aires. David Becker, Psychologe und Psychotherapeut, Direktor des ILAS (Instituto Latinoamericano de Salud Mental y Derechos Humanos) in Santiago de Chile. Esteban Cuya, peruanischer Journalist und Mitarbeiter am Nürnberger Menschenrechtszentrum. Manuel Antonio Garretön, Soziologe, Dekan der Fakultät für Soziologie an der Universidad de Chile und Mitarbeiter von FLACSO, Santiago de Chile. Kuno Hauck, evangelischer Pfarrer im kirchlichen Entwicklungsdienst, Mitarbeiter des Nürnberger Menschenrechtszentrums. Wolfgang S. Heinz, Psychologe und Politikwissenschaftler, Lehrbeauftragter an der FU Berlin. Rainer Huhle, Politikwissenschaftler, tätig im Bereich Politische Bildung bei der Stadt Nürnberg und im Vorstand des Nürnberger Menschenrechtszentrums. Sabine Kurtenbach, Politikwissenschaftlerin und Mitarbeiterin des Instituts für Iberoamerika-Kunde in Hamburg. Elizabeth Lira, Sozialpsychologin und Psychotherapeutin, Mitarbeiterin des ILAS (Instituto Latinoamericano de Salud Mental y Derechos Humanos) in Santiago de Chile. Detlef Nolte, Politikwissenschaftler, Mitarbeiter und stellvertretender Direktor des Instituts für Iberoamerika-Kunde in Hamburg.

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Institut für Iberoamerika-Kunde, Schriftenreihe Bd. 37:

Petra Bendel (Hrsg.), Zentralamerika: Frieden - Demokratie Entwicklung? Politische und wirtschaftliche Perspektiven in den 90er Jahren, 1993

Bd. 38:

Bert Hoffmann (Hrsg.), Wirtschaftsreformen in Kuba. Konturen einer Debatte, 2., aktualisierte Aufl. 1996

Bd. 39:

Barbara Töpper und Urs Müller-Plantenberg (Hrsg.), Transformation im südlichen Lateinamerika. Chancen und Risiken einer aktiven Weltmarktintegration in Argentinien, Chile und Uruguay, 1994

Bd. 40:

Dirk Kloss, Umweltschutz und Schuldentausch. Neue Wege der Umweltschutzfinanzierung am Beispiel lateinamerikanischer Tropenwälder, 1994

Bd. 41:

Robert Lessmann, Drogenökonomie und internationale Politik. Die Auswirkungen der Antidrogen-Politik der USA auf Bolivien und Kolumbien, 1996

Bd. 42:

Detlef Nolte und Nikolaus Werz (Hrsg.), Argentinien: Politik, Wirtschaft, Kultur und Außenbeziehungen, 1996

Bd. 43:

Gilberto Calcagnotto und Barbara Fritz (Hrsg.), Inflation und Stabilisierung in Brasilien. Probleme einer Gesellschaft im Wandel, 1996

Bd. 44:

Detlef Nolte (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung in Lateinamerika, 1996

Bd. 45:

Utta von Gleich (Hrsg.), Indigene Völker in Lateinamerika. Konfliktfaktor oder Entwicklungspotential?, 1996

Vervuert Verlag Wielandstr. 40, D-60318 Frankfurt Tel. 069 - 59746 17 Fax: 069 - 597 8743 e-mail: bibrisb @ lbero.rhein-main.com