Wahrheit zwischen Erschlossenheit und Verantwortung: Die Rezeption und Transformation der Wahrheitskonzeption Martin Heideggers in der Theologie Rudolf Bultmanns [Reprint 2020 ed.] 3110142309, 9783110142303, 9783110875416

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Wahrheit zwischen Erschlossenheit und Verantwortung: Die Rezeption und Transformation der Wahrheitskonzeption Martin Heideggers in der Theologie Rudolf Bultmanns [Reprint 2020 ed.]
 3110142309, 9783110142303, 9783110875416

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Eberhard Martin Pausch Wahrheit zwischen Erschlossenheit und Verantwortung

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Theologische Bibliothek Töpelmann Herausgegeben von O. Bayer • W. Härle • H.-P. Müller

Band 64

Walter de Gruyter • Berlin • New York 1995

Eberhard Martin Pausch

Wahrheit zwischen Erschlossenheit und Verantwortung Die Rezeption und Transformation der Wahrheitskonzeption Martin Heideggers in der Theologie Rudolf Bultmanns

Walter de Gruyter • Berlin • New York 1995

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Die Deutsche Bibliothek —

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Pausch, Eberhard Martin: Wahrheit zwischen Erschlossenheit und Verantwortung : die Rezeption und Transformation der Wahrheitskonzeption Martin Heideggers in der Theologie Rudolf Bultmanns / Eberhard Martin Pausch. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1994 (Theologische Bibliothek Töpelmann ; Bd. 64) Zugl.: Marburg, Univ., Diss., 1993 ISBN 3-11-014230-9 NE: GT

© Copyright 1994 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin

Für Marion und Vincent deren Liebe mir erschlossen und wahr

Vorwort

Ein Text von Paul Celan aus dem Jahr 1958 beginnt mit dem Hinweis auf den etymologischen Zusammenhang von Denken und Danken. Auch Heidegger hat wiederholt deren Zusammengehörigkeit betont. Denken und Danken gehören in der Tat untrennbar zueinander. Denn wer denkt, denkt immer schon auf der Basis von materiellen und immateriellen Voraussetzungen, die ihm geschenkt wurden und für die er zu danken Anlaß hat. Dies ist dem christlichen Glauben stets bewußt gewesen (1. Kor. 4,7). Mein mehrjähriger Denkweg, der mich durch die analytische Diskussion um einige Wahrheitstheorien ebenso wie durch das Frühwerk Heideggers und das Gesamtwerk Bultmanns führte, wurde ermöglicht durch Personen und Institutionen, denen ich Dank schulde und hiermit abstatten möchte. In der Phase zwischen Studium und Vikariat erhielt ich für zwei Monate ein Stipendium der Hessischen Lutherstiftung meiner Landeskirche, der EKHN. Im Anschluß an das Vikariat konnte ich zwischen August 1989 und Januar 1992 als Stipendiat des Evangelischen Studienwerkes Villigst e.V. frei und selbständig arbeiten. An das Seminarangebot und die Promovendentagungen im Haus Villigst denke ich mit Freude zurück. Die Mitglieder des Systematisch-Theologischen Arbeitskreises Marburg (STAK) waren und sind für mich wichtige Gesprächspartner. Sigurd Rink und Johannes Dittmer verdanke ich manche wissenschaftliche Anregung, vor allem auch Zuspruch. Herrn Prof. Puntel (München) danke ich für zwei Briefe und die Zusendung einiger damals noch unveröffentlichter wahrheitstheoretischer Manuskripte. Mit Prof. Pöggeler (Bochum) konnte ich einen sehr bereichernden Briefwechsel führen. In einem ausführlichen Gespräch im Oktober 1991 in Bochum widmete er sich mir weit über das übliche Maß hinaus, gab wichtige Anregungen und bekannte mir seine Sympathie für die Theologie Bultmanns. Herrn Prof. Dalferth (Ffm) danke ich dafür, daß er mich in den Jahren 1990/91 an seinem Doktorandenkolloquium teilnehmen ließ. Herr Prof. Mahlmann (Marburg/Lahn) hat mein Projekt seit 1988 mit wohlwollender Kritik begleitet und das Zweitgutachten verfaßt. Wissenschaftlich zu danken habe ich aber vor allem meinem Lehrer, Prof. Wilfried Härle (Marburg/Lahn), der meine Arbeit von den allerersten bescheidenen Anfängen her fachkundig betreut und ihr ein erfolgreiches Gelingen zugetraut hat, als mir selber mein Weg noch lange nicht erschlossen oder gar gewiß war. Von ihm habe ich sowohl inhaltlich als auch methodisch entscheidende Prägungen erfahren. Ohne ihn, der sich um die materi-

VIII

Vorwort

elle und ideelle Fundierung meines Forschungsprojektes gleichermaßen verdient gemacht hat, hätte diese Arbeit nicht geschrieben werden können. Die vorliegende Untersuchung wurde im Januar 1993 vom Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg/Lahn als Dissertation angenommen, der Text für die Drucklegung nur marginal verändert. Den Herausgebern danke ich für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe Theologische Bibliothek Töpelmann, den Mitarbeitern des de Gruyter Verlages für ihre geduldige Betreuung. Einen Druckkostenzuschuß erhielt ich von der EKHN, was ebenfalls dankbar vermerkt sei. Meine Frau Marion hat mich in vielen Gesprächen durch ihre Ideen gefördert und mir bei den Korrekturen geholfen. Sie hat mich im Haushalt entlastet, wenn ich in Druck (oder beim Drucken) war. Sie hat mir besonders den Gedanken der Subordination der Wahrheit unter die Liebe eindrücklich vorgelebt. Mein Sohn Vincent hat mich zu Gedanken über pränatale und frühkindliche Erschlossenheit inspiriert. Was beide mir darüber hinaus gegeben haben, kann ich nicht in Worte fassen. Marion und Vincent ist daher dieses Buch gewidmet. Frankfurt am Main, im September 1994

Eberhard Martin Pausch

Inhaltsverzeichnis Vorwort Einleitung: 0.1 0.2

Zur möglichen Relevanz des Wahrheitsbegriffes für die gegenwärtige deutschsprachige protestantische systematische Theologie Die theologische und philosophische Ausgangslage der Problematik dieser Untersuchung Der Aufbau und die Intentionen dieser Untersuchung

VII 1 1 6

I. Hauptteil: Hermeneutische und wahrheitskonzeptionale Überlegungen §1. Innen- und Außenansichten: Eine hermeneutische Vorbesinnung.... §1.1 Zu Stand und Ausgangslage der Forschung §1.2 Die Probleme der Quellenlage und die Phasen des Heideggerschen Denkens §1.2.1 Quantitative und qualitative Probleme der Quellenlage.... §1.2.2 Einteilung des Denkweges Heideggers in drei Phasen §1.3 Das Problem des Verhältnisses von Werk und Leben §1.4 Das Problem des Sprach- und Argumentationsstiles §1.4.1 Besonderheiten des Heideggerschen Sprach- und Argumentationsstiles §1.4.2 Einige Gedanken zum Umgang mit Heideggers Sprachund Argumentationsstil §1.5 Problematik und Chance einer Außenperspektive §2. Die "Wahrheitsfrage". Versuch einer terminologischen Klärung §2.1 Die Ausgangslage: Das Desiderat einer terminologischen Klärung §2.1.1 Belege für die semantische Ungeklärtheit im Bereich der Wahrheitsfrage §2.1.2 Versuch einer Unterscheidung der Strukturebenen des Wahrheitsproblems §2.2 Die Ebene des Wahrheitsverständnisses aus der Perspektive der Wahrheitstheorie §2.2.1 Allgemeine Charakteristika des Wahrheitsverständnisses.. §2.2.1.1 Vagheit, Weite, Komplexität §2.2.1.2 Designatorische und prädikative Verwendungsweisen des Wahrheitsbegriffes §2.2.1.3 "Wahr(heit)" als Prädikator §2.2.2 Einordnung des Wahrheitsbegriffes durch Nachbar- und Gegenbegriffe §2.2.2.1 Nachbarbegriffe: Wahrhaftigkeit, Richtigkeit, Echtheit...

IS 16 19 19 21 26 29 30 32 35 41 41 42 44 46 46 46 47 50 55 55

X

Inhaltsverzeichnis

§2.2.2.2 Gegenbegriffe: Unwahrheit, Lüge, Irrtum, Falschheit 56 §2.3 Wahrheitsbegriff, Wahrheitsexplikation, Wahrheitsdefinition 59 §2.3.1 Methodische Überlegungen zu Wahrheitsbegriff und Wahrheitsdefinition 59 §2.3.2 Materialer Ansatz einer Explikation des Wahrheitsbegriffes 62 §2.3.2.1 Das "Subjekt" der Wahrheitserkenntnis 63 §2.3.2.2 Drei Klassen von Wahrheitsträgern 64 §2.3.2.3 Der formale Grundsinn des Wahrheitsbegriffes 67 §2.4 Vom Wahrheitsverständnis zur Ebene der Wahrheitstheorie 68 §2.4.1 Die Themenbereiche einer Theorie der Wahrheit 68 §2.4.2 Die Gewinnung einer Wahrheitsdefinition als Grundanliegen der Wahrheitstheorie 71 §2.4.2.1 Die Wahrheitsdefinition über die Korrespondenzrelation.. 72 §2.4.2.2 Die Wahrheitsdefinition über die Konsensusrelation 78 §2.4.2.3 Die Wahrheitsdefinition über die Kohärenzrelation 81 §2.4.3 Die weiteren Themenbereiche der Wahrheitstheorie 84 §2.4.3.1 Die kriteriologische Teiltheorie der Wahrheitstheorie 85 §2.4.3.2 Verfahren und Methoden der Wahrheitsfindung und bewährung 88 §2.4.3.3 Die typologische Teiltheorie der Wahrheitstheorie 90 §2.4.3.4 Die paradoxologische Teiltheorie der Wahrheitstheorie.... 91 §2.4.3.5 Die wissenschaftstheoretische Teiltheorie der Wahrheitstheorie 93 §2.5 Meta-Kriterien von Wahrheitstheorien 94 §2.5.1 Das Problem der Selbstreferenz und Zirkularität 94 §2.5.2 Kriterien der Leistungsfähigkeit von Wahrheitstheorien ... 97 §2.5.3 Zusammenfassung: Rekonstruktivität und Kohärenz als Meta-Kriterien der Theorie der Wahrheit 100 §2.6 Die Ebene der Rahmentheorie der Wahrheitstheorie: Erkenntnistheorie oder Fundamentalaletheiologie? 101 §2.7 Zusammenfassung: Die Strukturebenen des Wahrheitsproblems 103 II. Hauptteil: Martin Heideggers philosophische Wahrheitskonzeption: Ein kritischer Rekonstruktionsvorschlag Einleitung:

Das Problem der Wahrheitskonzeption Heideggers

111

§3. Die existenzialontologische Wahrheitsauffassung: Heideggers Wahrheitstheorie 114 §3.0 Hermeneutische Konkretion des Auslegungsvorhabens .... 114

Inhaltsverzeichnis

§3.1 §3.1.1 §3.1.1.1 §3.1.1.2 §3.1.2 §3.1.2.1 §3.1.2.2 Exkurs: §3.1.3 §3.2 §3.2.1 §3.2.2 §3.2.2.1 §3.2.2.2 §3.2.2.3 §3.2.2.4 §3.2.2.5 §3.2.3 §3.2.3.1 §3.2.3.2

"Wahrheit" als Thema in Sein und Zeit. Hinführung zu §44 von Sein und Zeit Wahrheits- und Seinsfrage. Die Wahrheitsfrage im Kontext des Grundthemas der Philosophie Heideggers Heideggers konstruktive Absicht im Entwurf einer Fundamentalontologie Heideggers Leitthese der Temporalität des Seins Das Verhältnis von Phänomenologie und Wahrheit in Sein und Zeit Die Grundzüge von Heideggers Phänomenologieverständnis in Sein und Zeit Der Zusammenhang von Phänomenologie und Wahrheitsproblem Zu Husserls Wahrheitskonzeption "Wahrheit" im Kontext der systematischen Entfaltung des Denkgehaltes von Sein und Zeit Heideggers Wahrheitstheorie nach Maßgabe des §44 von Sein und Zeit Was ist unter einer pragmatistischen Theorie der Wahrheit zu verstehen? Umriß und Gestalt der pragmatistischen Theorie der Wahrheit im Werk des frühen Heidegger Zur Definition von Wahrheit im Rahmen des pragmatistischen Modells Zur Frage der Wahrheitskriterien Verfahren der Wahrheitsfindung und -bewährung Die typologische Teiltheorie der Wahrheitstheorie Die wissenschaftstheoretische Teiltheorie der Wahrheitstheorie Die Problematik der Heideggerschen Wahrheitstheorie.... Anwendung von Metakriterien zur Beurteilung der Wahrheitstheorie Heideggers Zusammenfassung und Ausblick

§4. Die Grundzüge der Heideggerschen Fundamentalaletheiologie §4.0 Vorblick auf Inhalt und Aufriß dieses Paragraphen §4.1 Die Entfaltung einer Fundamentalaletheiologie in Sein und Zeit §4.1.1 Explikation des Begriffes "Bedingung der Möglichkeit" .. §4.1.2 Das transzendentalontologische Fehlurteil in Sein und Zeit §4.2 Die Struktur der "Erschlossenheit" als der ursprünglichen Wahrheit §4.2.1 Explikation der Erschlossenheitsmetaphorik §4.2.2 Die drei Strukturmomente der Erschlossenheit §4.2.2.1 Das Existenzial der "Befindlichkeit"

XI

115 117 118 122 125 126 130 133 136 140 142 145 147 150 152 154 157 159 160 162 164 164 165 166 169 172 173 174

XII

Inhaltsverzeichnis

§4.2.2.2 §4.2.2.3 §4.2.3 §4.3 §4.3.1

Das Existenzial der "Rede" Das Existenzial des "Verstehens" Zur Leistungsfähigkeit des Begriffs der Erschlossenheit... Die Problematik der Wahrheit als Entschlossenheit Darstellung des Entschlossenheitsphänomens im Gedankengang von Sein und Zeit §4.3.2 Kritik an der Auffassung von Wahrheit als Entschlossenheit §4.3.2.1 Die Entschlossenheit und das Problem des Dezisionismus. §4.3.2.2 Der unklare theoretische Ort der Entschlossenheit §4.4 Die Konvertibilität der fiindamentalontologischen Grundbegriffe "Sein" und "Wahrheit" Exkurs: Heideggers designatorische Wahrheitskonzeption seit 1930 §4.5 Zusammenfassende Kritik im Lichte der "Retractationes". §4.5.1 Die Retractationes des späten Heidegger §4.5.2 Zusammenfassende kritische Würdigung der Wahrheitskonzeption des frühen Heidegger

176 176 179 181 181 183 183 186 187 190 196 196 199

III. Hauptteil: Rudolf Bultmanns Konzeption von Wahrheit im Kontext seiner Theologie Einleitung:

Die Strittigkeit der Wahrheitsfrage zwischen Heidegger und Bultmann

§5. Bultmanns kritische Rezeption von Heideggers Theorie der Wahrheit §5.0 Einleitung: Zum Verhältnis von Exegese und Systematik . §5.1 Explikationen des Wahrheitsbegriffes §5.1.1 Die Wahrheit der Theologie als Wissenschaft §5.1.1.1 Die Wahrheit der Theologie als Korrespondenzwahrheit.. §5.1.1.2 Die Frage nach dem Gegenstand der Theologie §5.1.1.3 "Objektivierung" als Faktum und Problem §5.1.2 Die Wahrheit des Glaubens §5.1.2.1 Die existenzial-temporale Dimension der Wahrheit des Glaubens §5.1.2.2 Die semantische Dimension der Wahrheit des Glaubens... §5.1.3 Eine kurze Zwischenbilanz §5.2 Die Problematik der Wahrheitskriterien §5.2.1 Die Abweisung und "Niederschlagung" der Wahrheitskriterien §5.2.2 Die von Bultmann faktisch akzeptierten Wahrheitskriterien

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Inhaltsverzeichnis

Exkurs: §5.3 §5.3.1 §5.3.1.1 §5.3.1.2 §5.3.2 §5.3.2.1 §5.3.2.2 §5.4 §5.4.1 §5.4.2 §5.4.3 §5.4.4 §5.5 §5.6

Die Bedeutung der Termini "Dialektik" und "Paradox" bei Bultmann Wahrheitsfindung und Wahrheitsbewährung Wissenschaftliche Verfahren und Methoden der Wahrheitsfindung Theologie als Handeln im Dienste der Verkündigung Die Rationalität der Theologie Die Wahrheitserschließung und -bewährung auf der Ebene des Glaubens Die Zurückweisung der Verfahrens- und Methodenfragen Die Bewährbarkeit von Wahrheitserfahrung auf der Ebene des Glaubens Bultmanns typologische Wahrheitstheorie Bultmanns wahrheitstypologische Leitdifferenz Ist der christliche Glaube eine Weltanschauung? Das Problem der "Einheit der Wahrheit" Der kirchenpraktische Sitz im Leben der Typologie: Sorge um die rechte Predigt Die wissenschaftstheoretische Teiltheorie der Wahrheitstheorie Zusammenfassung: Bultmanns Theorie der Wahrheit

§6. Bultmanns Transformation der Fundamentalaletheiologie Heideggers §6.0 Die doppelte Leitthese und der Aufriß des Paragraphen... §6.1 Die Wahrheit des christlichen Glaubens und die Erschlossenheit §6.1.1 Bultmanns Rezeption des Erschlossenheitsbegriffs §6.1.1.1 Erschlossenheit als Existenzial §6.1.1.2 Erschlossenheit als " Aufgedecktheit" §6.1.2 Systematische Reflexion der Rezeption Bultmanns §6.2 Die Wahrheit des christlichen Glaubens und die Entschlossenheit §6.2.1 Entscheidung als freie Tat des Gehorsams §6.2.1.1 Die Glaubensentscheidung als Tat §6.2.1.2 Die Glaubensentscheidung als Gehorsam §6.2.1.3 Die Glaubensentscheidung in der Freiheit §6.2.2 Entschlossenheit, Entscheidung und Entschluß §6.2.2.1 Entscheidung und Entschluß §6.2.2.2 Entscheidung und Entschlossenheit §6.2.3 Die fundamentalaletheioiogische Implikation des Vorrangs des Entscheidungsbegriffes bei Bultmann §6.3 Die Wahrheit des christlichen Glaubens und die göttliche Wirklichkeit

XIII

243 248 249 249 251 252 253 255 259 259 264 268 272 274 277

283 283 284 285 285 286 288 290 291 291 293 294 296 296 297 300 302

XIV §6.3.1 §6.3.2 §6.4

Inhaltsverzeichnis

Wahrheit als Wirklichkeit Gottes und seiner Offenbarung. 303 Bultmanns Fundamentalaletheiologie als Theorie des Handelns Gottes 306 Zusammenfassung: Kritische Würdigung und Vergleich mit Heideggers Fundamentalaletheiologie 310 SchluBteil: Abschließende Überlegungen

§7. Zur Relevanz des wahrheitskonzeptional geklärten Wahrheitsbegriffes für die gegenwärtige protestantische systematische Theologie §7.1 Kritische Würdigung der Rezeption der Wahrheitskonzeption Heideggers in der neueren protestantischen Theologie am Beispiel Bultmanns §7.2 Chancen und Möglichkeiten des Wahrheitsbegriffs für die systematische Theologie der Gegenwart §7.2.1 Die Bedeutung des Wahrheitsbegriffes für die Prinzipienlehre: Wahrheit und Wissenschaft §7.2.2 Die Bedeutung des Wahrheitsbegriffes für die Dogmatik: Wahrheit und Glauben §7.2.3 Die Bedeutung des Wahrheitsbegriffes für die Ethik: Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Liebe §7.2.4 Ausblick: Die systematische Theologie und der Wahrheitsbegriff

330

Abkürzungsverzeichnis Hinweise zur Zitationsweise in dieser Arbeit

332 332

Literaturverzeichnis Literaturverzeichnis A: Quellen Literaturverzeichnis B: Sekundärliteratur

333 333 339

Namensregister Sachregister

367 370

317 317 325 326 327 329

0. Einleitung: Zur möglichen Relevanz des Wahrheitsbegriffes für die gegenwärtige deutschsprachige protestantische systematische Theologie 0 . 1 Die theologische und philosophische Ausgangslage der Problematik dieser Untersuchung Die folgenden Überlegungen gehen von der doppelten Einsicht aus, daß die gegenwärtige 1 deutschsprachige 2 protestantische 3 systematische Theologie 4 eine begrifflich arbeitende Wissenschaft 5 ist und daß ein Begriff für das Begriffsnetz dieser Wissenschaft um so leistungsfähiger sein kann, j e klarer er expliziert/explizierbar oder definiert/definierbar ist. Unstrittig ist die Unverzichtbarkeit und fundamentale Bedeutung des Wahrheitsbegriffes sowohl für christlich-religiöse Glaubensrede 6 als auch für systematisch-theologische Diskurse 7 . Keineswegs unstrittig und mitunter zutiefst unklar ist aber der Sinn des jeweils verwendeten oder vorausgesetzten Wahrheitsbegriffes in den verschiedenen systematisch-theologischen Entwürfen der Gegenwart. Zwar wird nicht in jedem systematisch-theologischen Entwurf der Wahrheitsbegriff als solcher reflektiert, expliziert oder

1 2 3

4

5 6 7

Das Adjektiv "gegenwärtig" wird hier in einem weiten Sinne verstanden. Mit den Namen Bultmann und Heidegger ist ein terminus a quo verbunden: die zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts, die von der "Dialektischen Theologie" geprägt wurden. Über die diesbezügliche Situation der nicht-deutschsprachigen protestantischen systematischen Theologie werden in dieser Arbeit keine Aussagen gemacht. Damit ist nicht gesagt, daB die nicht-protestantische systematische Theologie sich anders verstünde oder verstehen müßte. Aber der Gegenstandsbereich dieser Untersuchung wird aus positionalen (die protestantische Perspektive betreffenden) und pragmatischen Gründen (die sich auf den Umfang des Projekts dieser Arbeit beziehen) eingeschränkt. Gelegentlich wird in dieser Arbeit abkürzend von "Theologie" oder "systematischer Theologie" die Rede sein, wenn des näheren die gegenwärtige deutschsprachige protestantische systematische Theologie gemeint ist. Ich möchte daher hier betonen: Wenn dies nicht ausdrücklich im Text anders gekennzeichnet ist, treffe ich keine Aussagen über die Theologie früherer Jahrhunderte, über die nicht-deutschsprachige, über römisch-katholische oder orthodoxe Theologie oder Uber historisch-exegetische und praktisch-theologische Disziplinen. Sie ist also nicht etwa eine Form der Kunst, schon gar nicht eine Technik - auch wenn sie als "positive Wissenschaft" auf die praktischen Ziele eines "kirchenleitenden Handelns" gerichtet ist (Schleiermacher, Kurze Darstellung, §1, §5, S.lf). Cf. als biblische Belegstellen etwa Joh 8, 31f; Joh 14, 6; Joh 16, 13; Gal 2, 5; Gal 2, 14. Deswegen konnte Paul Althaus seine 1947/48 erstmals erschienene Dogmatik sogar "Die christliche Wahrheit" (Althaus, 81969) betiteln.

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Einleitung

gar definiert.8 In denjenigen Entwürfen, in denen dies aber der Fall ist, liegen allerdings häufig unklare, vom Wahrheitsverständnis der Alltagssprache abweichende, oder sogar (teilweise) inkonsistente Explikationsversuche und Definitionsvorschläge vor. Überschaut man die verschiedenen Ansätze, läßt sich beobachten, daß bis weit ins 19. Jahrhundert hinein sowohl in der Philosophie als auch in der Theologie nahezu unbestritten auf die Korrespondenzformel der Korrespondenztheorie(n)9 der Wahrheit als Definition des Wahrheitsbegriffes rekurriert wurde. 10 In der heutigen Diskussion aber - nach der Infragestellung des bis ins 19. Jahrhundert allseits akzeptierten ontologischen Korrespondenzmodells stellt die Korrespondenztheorie der Wahrheit nur noch eine unter verschiedenen, einander teilweise ausschließenden und miteinander konkurrierenden wahrheitstheoretischen Positionen dar. Steckt hinter der irreduziblen Pluralität der Wahrheitstheorien vielleicht ein Selbstreferenzproblem, das daraus resultiert, daß es eine wahre Theorie der Wahrheit nicht geben kann?11 In der neueren protestantischen systematischen Theologie lassen sich vor dem Hintergrund des philosophischen Pluralismus der Wahrheitstheorien mindestens12 folgende sechs (hier nicht chronologisch angeordnete und nur grob systematisierte) wahrheitstheoretische Positionen unterscheiden: (1) Emil Brunner versteht Wahrheit als eine in der Begegnung zwischen Mensch und Gott sich ereignende "personale Korrespon8

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10 U 12

Rolf Schäfer etwa redet vom "Wahrheitsbewußtsein" des christlichen Glaubens (Schäfer, 1973, S.12; cf. S.20ff), und Wolfgang Trillhaas konstatiert eine "Erschwerung der christlichen Rechenschaft durch das Wahrheitsbewußtsein der Neuzeit" (Trillhaas, Dogmatik, S.57-68). Der in solcher Rede vorausgesetzte Begriff der "Wahrheit" wird aber in beiden Entwürfen nicht erklärt. Hier wird vorausgesetzt, was in §2.4.2.1 gezeigt werden soll, daß "die" Korrespondenztheorie der Wahrheit selbst nur in der Pluralität verschiedener Varianten existiert. In §2 dieser Arbeit wird das hier teilweise antizipierte begriffliche Instrumentarium im Bereich der "Wahrheitsfrage" ausfuhrlich struktural-systematisch entfaltet. Die klassische Formel "veritas est adaequatio rei et intellectus" geht bekanntlich auf Thomas von Aquin zurück, der sich seinerseits jedoch auf Isaac Israeli und Avicenna beruft. Cf. Thomas, De veritate, S.8, 14. Diese Hypothese werde ich in §2.5 diskutieren. Denkbar wäre z.B. auch eine Berufung auf Luhmanns systemtheoretischen Wahrheitsbegriff. Von allen aktuell in der Philosophie diskutierten Wahrheitstheorien dürfte wenigstens ein Modell von vorneherein theologisch indiskutabel sein: die sog. Redundanztheorie der Wahrheit, welche die Auffassung vertritt, der Wahrheitsbegriff sei vollkommen überflüssig, da "Wahr(heit)" als Aussagenprädikator zu den in Gestalt von Aussagen kommunizierten semantischen Gehalten nichts hinzufüge. Ein solches Modell, das auch philosophisch bloß ein Außenseiterdasein fristet, ist in keiner Weise geeignet, eine Aussage wie die aus Joh 14,6 zu rekonstruieren - mag man in dieser eine Identifikations- oder eine Rekognitionsformel erblicken (zu dieser Differenz cf. Bultmann, JK, S.167f, Anm.2).

Die mögliche Relevanz des Wahrheitsbegriffes für die Theologie

3

denz". Nicht Aussagen oder andere artifizielle Zeichenkomplexe werden, sondern der Mensch wird als wahr bezeichnet, wenn er als "responsorische Aktualität" in Entsprechung zu Gott existiert. 13 (2) Von einigen Theologen, etwa von Jürgen Moltmann, wird die Korrespondenztheorie der Wahrheit scharf und polemisch zurückgewiesen, ohne daß ihr eine plausible Alternative entgegensteht. 14 (3) Von Eilert Herms 15 und Wilfried Härle 16 wird an der Korrespondenztheorie der Wahrheit in ihrer von Alfred Tarski logischsemantisch präzisierten Variante festgehalten. (4) Ein profilierter Vertreter einer spezifischen Variante der Konsensustheorie der Wahrheit ist Gerhard Sauter 17 . (5) Zur Kohärenztheorie der Wahrheit, die in den achtziger Jahren dieses Jahrhunderts philosophisch als besonders erfolgreich gelten kann, bekennen sich Günther Keil 18 und Wolfhart Pannenberg 19 . (6) Im Gefolge der philosophischen Wahrheitskonzeption Martin Heideggers haben Rudolf Bultmann 20 und Eberhard Jüngel 21 sich um eine Klärung des Wahrheitsbegriffes mittels der von Heidegger vorgeschlagenen Interpretamente der "Unverborgenheit", des "Entdeckendseins" und der "Erschlossenheit" bemüht.

13 14

15 16 17 18 19 20 21

Brunner, 31984, S.87-129. Cf. Moltmann, der die Wahrheit des biblischen Verheißungswortes geradezu in einer "spezifischen inadaequatio intellectus et rei" (Moltmann, Hoffnung, S.106f; cf. ebd., S. 11-15, 34) erblickt. Dagegen läßt sich freilich einwenden, daB die biblischen Verheißungen ihre Korrespondenz gerade in der Eiflillung erhalten. Sowohl Karl Barth, Moltmanns theologischer Mentor, als auch Ernst Bloch, sein philosophischer Ziehvater, haben im übrigen nachweislich an Varianten der Korrespondenztheorie der Wahrheit festgehalten (Barth, 1931, S.16; Bloch, Prinzip, S.311, 336). Herms, 1978, S.50-55. Härle, 21987, S. 169-187. Sauter, 1988, S.57-82. Keil, 1986, S.41-48. Pannenberg, 1988, S.31, 62f. Cf. vor allem dessen "Theologische Enzyklopädie" (ThE). Am deutlichsten und systematisch wirkungsvollsten wohl in seiner Theorie der "metaphorischen Wahrheit" (Jüngel, Entsprechungen, S. 103-157). Cf. aber auch Jüngel, 1979 und ders., 1984 - sowie die jüngst (1990) veröffentlichte Aufsatzsammlung (Jüngel, Wahrheit), welche die verstreuten Aufsätze zum Thema noch einmal bündelt.

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Einleitung

Im Sinne einer lockeren Anknüpfung an Heidegger (aber auch an andere philosophische Strömungen) sind auch Paul Tillichs Auffassung von Wahrheit als einer bestimmten (verborgenen, aber entbergbaren) Tiefenschicht der Wirklichkeit22 und Gerhard Ebelings Rede von der "lebensbezogenen Wahrheit" (="Lebenswahrheit") 23 zu verorten. Aber Heideggers Wahrheitskonzeption wird von der protestantischen (und auch römisch-katholischen24) Theologie in einer erstaunlichen Weise bereitwillig und breitflächig rezipiert - um nur so unterschiedliche Theologen wie Heinrich Buhr 25 und Ulrich H.J. Körtner 26 zu nennen. Ein gemeinsamer Grundzug dieser sechs sehr unterschiedlichen wahrheitskonzeptionalen Ansätze liegt in der mehr oder weniger stark ausgeprägten Dialogbereitschaft mit der gegenwärtigen Philosophie, die ebenfalls von einem weitverzweigten und komplexen Diskurs um das "Wahrheitsproblem" gekennzeichnet ist. Eine starke Rezeptionsbereitschaft weisen die Ansätze (3) bis (6) auf. Dabei fallt auf, daß das Verhältnis der unter (3) - (5) bezeichneten Wahrheitstheorien, die alle im weitesten Sinne Modelle der analytischen Philosophie darstellen, zu der von Heidegger beeinflußten Strömung einerseits von Ignoranz und Spannungen geprägt ist, sich andererseits aber eigentümlich unklar und verschwommen präsentiert. Trotz der Spannungen, trotz der Verschwommenheit, die zwischen beiden "Lagern" (dem phänomenologisch-hermeneutischen auf der einen, dem analytisch-semiotischen auf der anderen Seite) herrschen - in einem Punkt stimmen sowohl Anhänger als auch Gegner Heideggers mehrheitlich überein: Sie rezipierten und rezipieren seine Wahrheitskonzeption faktisch so, 22 23 24

25

26

Tillich, Systematische Theologie I/II, S. 121-127. Cf. Ebeling, Dogmatik I, S.58-60, 69, 134-136, 194; ders., Dogmatik II, S.115-119. Cf. etwa die 15 verstreuten Nennungen Heideggers bei Coreth (Hg.), 1987. Über die Bedeutung von Heideggers Wahrheitskonzeption für Karl Rahners Theologie cf. ausführlich Bonsor, 1987. Buhr: "Der weltliche Theolog". In: Neske (Hg.), 1977, S.53-59. Buhr hatte sich ursprünglich als Bultmann-Schüler verstanden, aber das Entmythologisierungsprogramm für seine gemeindliche Praxis im Umgang mit der Bibel nicht als hilfreich empfunden. "Ich selbst ging wieder zurück zur Bibel, und diese Rückkehr zur Bibel, zum heimatlichen Christus (Hölderlin) war mir leichter gemacht auch durch Heideggers Wahrheitsbegriff. " So Buhr (ebd., S.58). Körtner, 1990, S.28-36. Körtner polemisiert in Solidarität mit den neueren "kontextuellen Theologien" gegen die von ihm als "hierarchisch" empfundenen "Satzwahrheiten", die dem biblischen Wahrheitsverständnis nicht gemäß seien. Die Gegenwart sei mit den Schlagworten "Postmetaphysik" und "Postmoderne" zutreffend gekennzeichnet (ebd., S.23f)- Heideggers Wahrheitskonzeption wird in dieser Situation als hilfreich und angemessen empfunden (ebd., S.36).

Die mögliche Relevanz des Wahrheitsbegriffes für die Theologie

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als stelle sie eine Theorie der Wahrheit dar und liefere eine brauchbare Explikation bzw. Definition des Wahrheitsbegriffes. Wenn dieses faktische Rezeptionsgeschehen nicht einfach als eine Verkettung von biographischen Zufällen27 und sachlichen Irrtümern und Mißverständnissen in der Kommunikation zwischen Philosophie und Theologie betrachtet werden soll, schließt sich die Überlegung an, worin die Theologie zu Recht den sachlichen Ertrag und die spezifischen Chancen sehen kann, welche Heideggers Wahrheitskonzeption für sie bietet. Die Frage: Was trägt Heideggers Wahrheitskonzeption für die systematische Theologie aus? läßt sich für diese Arbeit grundsätzlich durch folgende Frage paraphrasieren: Läßt sich aus einer grundsätzlich analytisch geprägten Perspektive die Heideggersche Wahrheitskonzeption so rekonstruieren, daß einerseits ihre eigentümlichen Chancen und Möglichkeiten sichtbar, andererseits aber auch ihre Probleme und Gefahren transparent werden, die von theologischen Rezipienten nicht übersehen werden dürfen? Um eine solche kritische Rekonstruktion bemüht sich diese Arbeit, die aus der theologischen Perspektive28 einer sich im weitesten Sinne als lutherisch verstehenden systematischen Theologie geschrieben ist. Dabei wird in der reformatorisch interpretierten Rechtfertigungslehre der articulus stantis et cadentis ecclesiae gesehen und in ihm ein mit den methodischen Werkzeugen analytisch-semiotischer Philosophie explizierbares und entfaltbares Wirklichkeitsverständnis erblickt.29 Wegen des gemeinsamen lutherischen Rekurses auf die Rechtfertigungslehre ergibt sich eine sachliche Nähe zu Rudolf Bultmanns Theologieverständnis.30 Damit ist ein erstes Argument für die Einschränkung des Untersuchungsfeldes auf die (als exemplarisch betrachtete) Rezeption der Wahrheitskonzeption Heideggers durch Bultmann genannt. Ein weiteres Argument liegt in der prägenden Bedeutung, die Bultmanns Rezeption für alle nachfolgende Heidegger-Rezeption zukommt. Von den unter (6) genannten Theologen betrachten sich immerhin Jüngel, Ebeling und Buhr explizit als Schüler Bultmanns. Ein besonders in Verbindung mit den beiden anderen gewichtiges Argument für eine weitere Einschränkung ergibt sich aus der Beobachtung, daß

27 28

29 30

Zu diesen wäre Bultmanns Begegnung mit Heidegger und deren persönliche Freundschaft seit Mitte der zwanziger Jahre zu zählen. Es existiert also für diese Arbeit eine doppelte Außenperspektive zu Heideggers Philosophie. Die erste Außenperspektive ergibt sich aus der unüberspringbaren Differenz der Wissenschaften Theologie und Philosophie. Die zweite Außenperspektive besteht in der methodischen Differenz von analytisch-semiotischer und phänomenologischer Methode. Immer noch fundamental, wenn auch in Einzelheiten kritisierbar und revisionsbedürftig, scheint mir das Werk von Härle/Herms, 1980. Völlig zu Recht bezeichnet dieser m.E. das Entmythologisierungsprogramm als eine konsequente Anwendung der lutherischen Lehre von der Rechtfertigung ohne die Werke des Gesetzes auf das Gebiet des Erkennens (Bultmann, KuM II, S.207).

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Einleitung

zwischen dem "frühen" und dem "späteren" Heidegger gerade im Hinblick auf die Wahrheitskonzeption scharf differenziert werden muß. Schon die kritische Rekonstruktion der Wahrheitskonzeption des frühen Heidegger stellt aber eine umfangreiche und anspruchsvolle Aufgabe dar. 31 Bultmann wird daher als ein Rezipient des frühen Heidegger untersucht. Es sei ferner betont, daß diese Arbeit aus einem systematischen Erkenntnisinteresse heraus geschrieben ist und daher keine historisch-genetische Rekonstruktion (etwa von Heideggers philosophischer Entwicklung, oder des persönlichen Verhältnisses zwischen Heidegger und Bultmann) anstrebt. Die systematische und die geschichtlich-historische Perspektive lassen sich zwar nicht strikt trennen (deshalb werde ich in meiner Arbeit z.B. auch auf Heideggers und Bultmanns Haltungen zwischen 1933 und 1945 eingehen, soweit diese mit ihrer jeweiligen Wahrheitskonzeption in Zusammenhang stehen), aber sie lassen sich sehr wohl sinnvoll voneinander unterscheiden 32 , ja sie müssen sogar voneinander unterschieden werden, wenn nicht eine heillose Verwirrung entstehen soll. Daß diese Arbeit sich mit Heideggers und Bultmanns Wahrheitskonzeptionen beschäftigt, ist, wie gezeigt, das Ergebnis eines kontingenten Einschränkungsprozesses. Mit Heideggers Philosophie wurde ein Untersuchungsgegenstand gewählt, der von analytisch-semiotischen Denkweisen weit abliegen dürfte. Gerade an diesem schwierigen Beispiel läßt sich aber die Leistungsfähigkeit des hier vorzuschlagenden begrifflichen Rasters erproben. Wenn dieses Raster sogar auf Heideggers Philosophie anwendbar ist, müßte es - nach der Schlußfigur a maiore ad minus - erst recht auf die eher analytischen Wahrheitskonzeptionen passen. Die Wahrheitskonzeptionen Heideggers und Bultmanns werden daher hier im Grunde exemplarisch rekonstruiert.33 0.2 Der Aufbau und die Intentionen dieser Untersuchung Vor dem Hintergrund der Beschränkung des Untersuchungsfeldes dieser Arbeit entfaltet sich der Argumentationsgang in folgenden Schritten: Im ersten Hauptteil werden zunächst (§1) einige hermeneutische Überlegungen zur Auslegung von Heideggers Philosophie aus einer analytisch-semiotischen Außenperspektive angestellt. Dabei werden einige Argumente 31 32 33

Allein dieser Aufgabe sind umfassende philosophische Monographien gewidmet (Tugendhat, 21970; Schönleben, 1987). Diese Unterscheidung entspricht der von Saussure eingeführten Distinktion von Synchronie und Diachronie in der allgemeinen Semiotik. Cf. hierzu die Darstellung bei Krampen, 1981, S.109, 125-128. Obwohl meine Arbeit im Speziellen und Beispielhaften verbleibt, indem sie sich hinsichtlich ihres Gegenstandsbereiches im angezeigten Sinne auf Heidegger und Bultmann beschränkt, hoffe ich doch, einige Impulse für eine generelle und grundsätzliche Rekonstruktion des Wahrheitsbegriffes geben zu können.

Die mögliche Relevanz des Wahrheitsbegriffes für die Theologie

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zugunsten der These genannt, daß die analytisch-semiotische Außenperspektive eine Chance bietet, Heideggers Wahrheitskonzeption in ihrem eigentümlichen Profil und mit ihren Stärken und Schwächen wahrnehmen zu können. Eine Voraussetzung dieser Argumentation besteht in dem Gedanken, daß die analytisch-semiotische Methode in keinem unüberwindlichen Gegensatz zu einer hermeneutischen Verfahrensweise steht, wie sie etwa die Hermeneutik Schleiermachers eröffnet hat. Sodann (§2) geht es darum, die sogenannte "Wahrheitsfrage" vor dem Hintergrund der neueren wahrheitstheoretischen Diskussion bis Anfang der neunziger Jahre dieses Jahrhunderts struktural-systematisch zu skizzieren. Dabei will ich zum Zwecke der Unterscheidung von Strukturebenen des Wahrheitsproblems zwei unhintergehbare Leitdifferenzen vorschlagen und in diesem Rahmen das nötige begriffliche Rüstzeug für eine Auslegung der Wahrheitskonzeption Heideggers entwickeln. 34 Die erste Leitdifferenz ist die von alltagssprachlichem Wahrheitsverständnis und wissenschaftlich-systematischer Wahrheitskonzeption. Die zweite Leitdifferenz bezeichnet eine Binnendifferenzierung innerhalb der Wahrheitskonzeption: Hier läßt sich nämlich unterscheiden einerseits zwischen der Theorie der Wahrheit, die zentral den Sinn des Wahrheitsbegriffes überhaupt (insofern das "Wesen" der Wahrheit) kritisch zu rekonstruieren versucht, und der Fundamentaltheorie der Wahrheit andererseits, welche die (erkenntnistheoretischen und/oder ontologischen) Bedingungen der Möglichkeit von Wahrheit thematisiert. Die beiden Leitdifferenzen werden in immer feineren Binnendifferenzierungen entfaltet. Dabei werden u.a. folgende Begriffe geklärt und in ein Verhältnis zueinander gesetzt: Wahrheitsverständnis, Wahrheitskonzeption,

Theorie der Wahrheit, Fundamentalaletheiologie, Wahrheitsexplikation,

Wahrheitsdefinition, Wahrheitskriterien. Es wird gezeigt, daß sich innerhalb der Theorie der Wahrheit folgende sechs Teil- oder Subtheorien voneinander unterscheiden lassen: die explikativ-definitionale, die kriteriologische, die verfahrenstheoretische, die typologische, die paradoxologische und die wissenschaftstheoretische Teiltheorie der Wahrheitstheorie. Es gilt vor diesem Hintergrund, die Differenz der drei "klassischen" Wahrheitstheorien (der Korrespondenztheorie, der Kohärenztheorie und der Konsensustheorie) im explikativ-definitionalen Teilbereich der Wahrheitstheorie zu verorten und über die Differenz der Relationen von Korrespondenz, Kohärenz und Konsensus als relationstheoretische zu erhellen. Schließlich werden zwei Meta-Kriterien zur Beurteilung der Leistungsfähigkeit von Wahrheitstheorien vorgeschlagen, nämlich das der Rekonstruktivität und das der Kohä-

renz.

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Die in §2 dieser Arbeit vorgeschlagenen und entwickelten Leitdifferenzen und begrifflichen Unterscheidungen lassen sich aber auch auf andere Wahrheitskonzeptionen anwenden.

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Einleitung

Der zweite Hauptteil dieser Arbeit widmet sich in seinen zwei Paragraphen der Auslegung der Wahrheitskonzeption des frühen Heidegger. Hier wird eine kritische Rekonstruktion angestrebt und die in §2 entwickelte Leitdifferenz von Theorie der Wahrheit und Fundamentalaletheiologie (=ontologische Fundamentaltheorie der Wahrheit) mit all ihren Binnendifferenzierungen erprobt. §3 dieser Arbeit gilt Heideggers eigentlicher Wahrheitstheorie im Rahmen seines philosophischen Neuansatzes. Heideggers Theorie der Wahrheit wird als eine wesentlich pragmatistische Theorie nachgezeichnet, deren Definiens das "Entdeckendsein" des menschlichen Daseins darstellt. Die wahre Aussage wird als ein "tool" des entdeckendseienden Daseins bestimmt. Problematisiert wird, ob es innerhalb dieser Wahrheitstheorie Kriterien der Wahrheit gibt, die diesen Namen verdienen. Ziel ist es, aufgrund der Analyse der kriteriologischen und paradoxologischen Theoriesektoren zu zeigen, daß Heideggers Wahrheitstheorie die Anforderung der inneren Widerspruchsfreiheit (welche eine elementare Implikation von Kohärenz darstellt) nicht hinreichend erfüllt. §4 unternimmt eine strukturale Rekonstruktion der Heideggerschen Fundamentalaletheiologie. Diese wird als Theorie über die ontologischen Bedingungen der Möglichkeit von Wahrheit (und Wahrheitsfindung) verstanden. 35 Heidegger untersucht unter den Begriffen der Erschlossenheit, der Entschlossenheit und des Seins drei ontologische Bedingungen der Möglichkeit von Wahrheit. Die ersten beiden Begriffe bezeichnen notwendige, aber nicht hinreichende Möglichkeitsbedingungen von Wahrheit (und Wahrheitsfindung). Der Seinsbegriff bezeichnet demgegenüber eine sowohl notwendige als auch hinreichende Möglichkeitsbedingung von Wahrheit (und Wahrheitsfindung). Kritisiert wird, daß Heidegger Wahrheit mit ihren ontologischen Möglichkeitsbedingungen gleichsetzt. Theorie der Wahrheit und Fundamentalaletheiologie sind bei ihm somit ununterscheidbar vermischt. Diese Vermischung (die strukturell auf einem "transzendentalontologischen Fehlurteil" beruht) ist der Grund für viele Verwirrungen und Mißverständnisse in der Rezeptionsgeschichte der Philosophie Heideggers. Wenn Heideggers Wahrheitskonzeption aber die komplexe Synthese einer Theorie der Wahrheit und einer Fundamentalaletheiologie darstellt, dann ist es jedenfalls ein Mißverständnis, in ihr bloß eine Theorie der Wahrheit zu sehen, die mit der Korrespondenz-, der Konsensus- und der Kohärenztheorie der Wahrheit auf einer Ebene liegt und daher mit diesen konkurrieren könnte. Im dritten Hauptteil wird die kritische Rezeption und Transformation der Wahrheitskonzeption des frühen Heidegger in der Theologie Bultmanns dargestellt. Wieder werden die Leitdifferenzen und begrifflichen Unter35

Cf. hierzu insbesondere die Erläuterungen in §2.6 dieser Arbeit.

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Scheidungen des ersten Hauptteiles vorausgesetzt und in zwei Schritten angewendet. Im ersten Schritt (§5) wird gezeigt: Bei Bultmann existiert eine implizite, rekonstruierbare, differenzierte und facettenreiche Theorie der Wahrheit. Diese läßt sich nach Maßgabe ihres explikativ-definitionalen Theoriesektors als eine bestimmte, u.a. relationslogisch und semantisch präzisierbare, Variante der Korrespondenztheorie der Wahrheit deuten. Ferner läßt sich plausibel machen: Bultmann setzt in seiner Wahrheitstheorie das notwendige Wahrheitskriterium der noetischen Konsistenz voraus. Bultmanns Wahrheitstheorie wird außerdem in ihren verfahrenstheoretischen, typologischen und wissenschaftstheoretischen Teilbereichen untersucht. Im zweiten Schritt (§6) wird gezeigt, daß auch in Bultmanns Theologie eine Fundamentalaletheiologie existiert. Innerhalb dieser spielen allerdings die notwendigen Möglichkeitsbedingungen der Wahrheit, die Heidegger mit den Begriffen Erschlossenheit und Entschlossenheit bezeichnet hat, keine gewichtige Rolle. Das strukturelle Äquivalent zu Heideggers Seinsbegriff aber bildet in Bultmanns Fundamentalaletheiologie die Rede von der Wirklichkeit Gottes. Bultmann denkt die Wirklichkeit Gottes als eine sich punktuell und dynamisch offenbarende Wirklichkeit, die eine christologische, anthropologische, pneumatologische und eschatologische Bestimmheit hat. Insofern kann Bultmanns Fundamentalaletheiologie als eine Theorie des Handelns Gottes interpretiert werden. Vor dem entfalteten aletheiologischen und fundamentalaletheiologischen Hintergrund lassen sich Stellenwert und systematische Funktion des Wahrheitsbegriffes für die Theologie Bultmanns bestimmen. Ein kurzer Schlußteil (§7) bündelt noch einmal die argumentativen Haupterträge dieser Arbeit und gibt einen Ausblick auf die Relevanz des wahrheitskonzeptional geklärten Wahrheitsbegriffes für die gegenwärtige systematische TTieologie. Fünf wesentliche Grundintentionen haben den Entstehungsprozeß dieser Arbeit kontinuierlich begleitet, die ich hier explizit nennen und so offenlegen möchte. Erstens-. Die systematische Theologie sollte sich meiner Überzeugung nach darum bemühen, den Wahrheitsbegriff als einen ihrer Grundbegriffe so klar wie möglich zu explizieren und/oder zu definieren. Zweitens: Die systematische Theologie sollte in ihrer Bemühung um eine klare Explikation (oder Definition) des Wahrheitsbegriffs versuchen, Impulse für einen breiten binnentheologischen und interdisziplinären, möglichst schulübergreifenden Dialog zu geben. 36

36

Diese Intention wird sich in dem nachprüfbaren Versuch spiegeln müssen, Denk- und Argumentationsmuster aus unterschiedlichsten (philosophischen und theologischen) Perspektiven zu berücksichtigen und ernstzunehmen.

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Einleitung

Drittens: Es steht der Theologie gerade daher m.E. nicht an, einen "Wahrheitsbegriff" sui generis zu kreieren, der sie von allen anderen Wissenschaften unterscheidet, weil sie sich damit von den Wissenschaften isoliert und die (regulative) Idee der Einheit der Wahrheit aufgibt. 37 Das problematische Resultat wäre die Wiedergeburt der These von der "doppelten Wahrheit". 38 Aus der Kombination der ersten drei Gedanken leiten sich zwei weitere Intentionen ab: Viertens: Die systematische Theologie sollte nicht auf solche Explikationsversuche des Wahrheitsbegriffes rekurrieren, in denen die Wahrheit von Aussagen und/oder Propositionen als bloß abgeleitete "Satzwahrheit" oder "bloße Richtigkeit"39 denunziert wird. 40 Fünftens-. Die systematische Theologie sollte von der These Abstand nehmen, für sie gebe es keine Kriterien der Wahrheit. In einem solchen m.E. problematischen - Sinne lassen sich (leider) einige Äußerungen Bultmanns41 mißverstehen.42 Vielmehr gilt: Es gibt minimale Wahrheitskriterien, z.B. das Kriterium der inneren Widerspruchsfreiheit, welche die Theologie auf die allgemeinen Grundsätze formaler Logik verweisen. Weder im Rekurs auf die formale Logik 43 noch im Hinblick auf den Wahrheitsbegriff unterscheidet sich die Theologie von anderen Wissenschaften. Was sie von anderen Wissenschaften und auch von der Philosophie unterscheidet, ist ausschließlich ihr spezifisches, im Rechtfertigungsglauben begründetes Wirklichkeitsverständnis. Daß zur Explikation dieses

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41 42 43

Die faktische Separation des theologischen Wahrheitsbegriffes vom Wahrheitsbegriff der anderen Wissenschaften resultiert z.B. bei Micskey aus seiner Forderung, der theologische Wahrheitsbegriff dürfe nicht "jesusblind" sein (Micskey, 1976, S.151). Die These von der "doppelten Wahrheit" besagt, daß ein und dieselbe Proposition in der einen Wissenschaft (etwa der Theologie) wahr, in einer anderen (etwa der Philosophie) aber falsch sein könne. Gerade in dieser Hinsicht beinhaltet Heideggers Wahrheitskonzeption einen fragwürdigen Explikationsversuch. Denn sowohl im alltagssprachlichen Wahrheitsverständnis als auch in den anderen Wissenschaften, wird Wahrheit zumeist als Wahrheit von Propositionen gedacht. Wenn die Theologie dieser Auffassung widerspräche, isolierte sie sich in m.E. problematischer Weise. Leider wird diese Auffassung auch heute noch vertreten. Einen Beleg dafür bietet die veröffentlichte Antrittsvorlesung von Link, 1982, S.537. Ich meine, daß hier ein gravierendes Mißverständnis vorliegt, das seinen Grund in der Vieldeutigkeit des Begriffs "Kriterium" hat. Dieses Mißverständnis werde ich in §5.2 dieser Arbeit auszuräumen versuchen. Die Beachtung der Grundsätze formaler Logik zählt Dalferth zu den konstitutiven Elementen einer argumentativen Rationalität (Dalferth, 1991, S.62). Die formale Logik wird somit auch dann für konstitutiv erklärt, wenn Rationalität sich unter neuzeitlichen Bedingungen nur in einer irreduziblen Perspektivenpluralität entfalten sollte, was Dalferth für unhintergehbar hält (Dalferth, 1991, S.87-98).

Die mögliche Relevanz des Wahrheitsbegriffes für die Theologie

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Wirklichkeitsverständnisses im Rahmen systematischer Theologie ein wahrheitskonzeptional geklärter Wahrheitsbegriff einen wichtigen Beitrag leisten kann, ist eine Hoffnung, die in dieser Arbeit nur als solche benannt, nicht aber eingelöst werden kann.

I. Hauptteil: Hermeneutische und wahrheitskonzeptionale Überlegungen

§1. Innen- und Außenansichten: Eine hermeneutische Vorbesinnung In diesem Kapitel soll zunächst reflektiert werden, in welcher Auslegungssituation sich die vorliegende Arbeit befindet, das heißt, welche Probleme und Schwierigkeiten einem Verstehen des philosophischen Beitrages von Martin Heidegger zur sogenannten "Wahrheitsfrage" m.E. entgegenstehen. Dabei wird von vorneherein eine fundamentale Schwierigkeit im Blickpunkt stehen, die sich aus einer doppelten Außenperspektive des Autors dieser Arbeit zur Philosophie Heideggers ergibt. Der Schreiber dieser Zeilen ist zum einen Theologe, steht zum anderen philosophisch der analytischen1 und der semiotischen Philosophie 2 nahe, ohne sich durch diese Nähe positional festlegen zu wollen. Ist aus dieser Außenperspektive heraus eine angemessene Auslegung Heideggers überhaupt möglich? Und wenn ja, welche hermeneutische Tradition als System methodisch prinzipiell überprüfbarer Auslegungsgrundsätze bietet sich für diese Aufgabe an? Nach einer einführenden Betrachtung zu Stand und Ausgangslage der Forschung (§1.1) will ich vier Hauptschwierigkeiten für meinen Versuch der Heidegger-Deutung (§1.2 - §1.5) benennen und zeigen, aus welcher hermeneutischen Perspektive ich mir Hilfe erwarte. Dazu werde ich mich auf einen m.E. sehr leistungsfähigen neuzeitlichen hermeneutischen Entwurf beziehen, die "Hermeneutik" Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers. 3

Unter "analytischer Philosophie" wird hier eine wesentlich methodische philosophische Grundhaltung verstanden, deren allgemeine Kennzeichen sind: (1) Ausgangspunkt und Zentrum der Untersuchung ist die Sprachanalyse. Im Ausgang von der Alltagssprache wird versucht, Begriffe und Urteile zu klären und ihren Sinn sowie die Reichweite ihres Gebrauches zu analysieren. (2) Der Beachtung der Grundsätze formaler Logik wird ein hoher Stellenwert zuerkannt. (3) Gegenüber spekulativem Denken, das Systeme zur Erfassung der Totalität konstruiert, wird Distanz gewahrt. Bei aller Nähe und Überschneidung zwischen analytischer und semiotischer Philosophie dürfte ein Charakteristikum der letzteren im Gegensatz zur erstgenannten in ihren Tendenzen spekulativer Vagheit liegen, worauf Pape in seiner Peirce-Darstellung zu Recht verweist (Pape, 1989, S.7). An dieser Stelle möchte ich mich daher eher zur analytischen Philosophie mit ihrem Programm der Nüchternheit und Präzision bekennen, ohne auf die begriffliche Differenziertheit semiotischer Zeichenexplikation verzichten zu wollen. Schleiermacher, Hermeneutik.- Auf die Leistungsfähigkeit dieses Ansatzes hat mich im Rahmen eines systematisch-theologischen Arbeitskreises erstmals Johannes Dittmer hingewiesen. Ihm sei daher an dieser Stelle gedankt. Aus seiner unveröffentlichten Seminararbeit (Dittmer, 1987) habe ich sehr viel über Schleiermachers Denken überhaupt und seinen hermeneutischen Entwurf speziell gelernt.

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Hermeneutische und wahrheitskonzeptionale Überlegungen

§1.1 Zu Stand und Ausgangslage der Forschung In der Einleitung zum ersten Band seiner "Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie" beschreibt Wolfgang Stegmüller* den Prozeß der Ausdifferenzierung der Philosophie unter zwei Gesichtspunkten: Einmal verweist er auf deren funktionelle Ausdifferenzierung, zweitens auf die seiner Meinung nach irreversible gegenseitige Entfernung und wachsende Kommunikationslosigkeit zwischen den Philosophen verschiedener Richtungen. Der zweite Prozeß läßt sich, so Stegmüller, näher fassen, wenn in ihm vier Phasen unterschieden werden, die Stufen einer Radikalisierung darstellen: (1) Es gibt zunächst die Phase der einfachen wissenschaftlichen Meinungsverschiedenheit. In dieser bleibt ein Diskussionszusammenhang sowie die Hoffnung auf diskursiven Fortschritt erhalten. (2) Sodann gibt es eine Phase, in der noch ein Mitteilungszusammenhang zwischen Philosophen existiert, aber die gewählten Ausgangsbasen und die Denkmethoden je völlig verschieden sind. (3) Wenn kein Mitteilungszusammenhang besteht, weil die eine Seite keinen Sinn mehr mit den Äußerungen der Gegenseite verbindet, kann trotz dieser Zuspitzung freilich noch ein Intentionszusammenhang gewahrt werden, wenn man vom anderen immer noch begründet annehmen kann, daß auch er nach Erkenntnis und Wahrheit strebt. (4) Es gibt darüber hinaus schließlich auch die Phase totaler Kommunikationslosigkeit, wenn dem einen Philosophen die "... Art der Beschäftigung des anderen ... als Beschäftigung zum Rätsel"5 wird. Hier zerreißt sogar der ohnehin lose geknüpfte Intentionszusammenhang. In der Gegenwartsphilosophie treten nach Stegmüller die Gegensätze der Phasen (2) bis (4) immer mehr in den Vordergrund. Für die Phase (4), den Zustand totaler Kommunikationslosigkeit, bietet er ein prominentes Beispiel an: "... das Verhältnis zwischen der analytischen Philosophie oder dem modernen Empirismus einerseits und den Philosophien von Jaspers oder Heidegger andererseits

"6

Diese Verhältnisbestimmung entspricht Martin Heideggers eigener Auffassung genau, wenn dieser schreibt, die heutige Philosophie habe ihre äußersten Gegenpositionen in Carnaps technisch-szientistischer und seiner eigenen spekulativ-hermeneutischen Philosophie (PhTh, S.70). 4 5 6

Stegmüller I, S.XLI-XLIII. Ebd., S.XLII. Ebd., S.XLIII.

Innen- und Außenansichten: Eine hermeneutische Vorbesinnnung

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Folgt daraus nun, daß ein der analytischen und semiotischen Philosophie nahestehender Philosoph der Gegenwart notwendig gegenüber Heideggers Philosophie kommunikationlos verharren muß? Folgt hieraus wiederum, daß ein der analytisch-semiotischen Philosophie nahestehender evangelischer Theologe nicht kommunikationsfahig gegenüber Heideggers Philosophie 7 und der von dieser wiederum geprägten evangelischen Theologie sein kann? Beide Fragen lassen sich, so meine ich, dem derzeitigen Diskussionsstand gemäß verneinen. Zwar läßt sich die Dualität von Binnen- und Außenperspektiven zu Heideggers Werk nicht beseitigen. Eines der im Gedenkjahr 1989 erschienenen, aus der Flut der Sekundärliteratur herausragenden Bücher trägt den bezeichnenden Titel: "Martin Heidegger: Innen- und Außenansichten"8. Aber diese perspektivische Dualität erweist sich nicht mehr, wie noch vielfach in den sechziger und siebziger Jahren, als eine unfruchtbare Alternative von unkritischem, immanentem Referat Heideggers einerseits und hyperkritischer, externer Bezugnahme andererseits. Siegfried Blasche 9 konstatiert, daß bestimmte positionale Festlegungen sich aufzuweichen beginnen. Die Grenzen zwischen Heidegger und Adorno 10 , sogar zwischen HeiGelegentlich wird es in der folgenden Arbeit vorkommen, daß (beispielsweise) von "Heidegger" geredet wird, damit aber nicht die Person, sondern das philosophische Werk dieser Person gemeint ist. Diese verkürzende, metonymische Redeweise dürfte sich im jeweiligen Kontext leicht als solche zeigen. Forum für Philosophie Bad Homburg (Hg.), 1989. Blasche, 1989, S.7-32, besonders S.29f. Blasche trifft in seiner Einleitung zu dem soeben zitierten Sammelband (Forum für Philosophie Bad Homburg (Hg.), 1989) drei Feststellungen: Einmal betont er die extrem unterschiedlichen Positionen der Autoren des vorliegenden Buches; dann aber weist er auf die "eigentümliche Koinzidenz" der für wesentlich erachteten Themen hin (das Wahrheitsthema wird von ihm ausdrücklich erwähnt); schließlich hebt er diejenigen Beiträge hervor, die Entsprechungen zwischen Adorno und Heidegger herausarbeiten wollen. Die beiden letztgenannten Feststellungen relativieren die erste in dem von mir behaupteten Sinne. Nur im Rahmen einer Fußnote soll erwähnt werden, daß gerade die Ablehnung der traditionellen Adäquationstheorie von Wahrheit sich sowohl bei Adorno als auch bei Heidegger findet. Während dieser aber eine systematische fundamentalontologische Rekonstruktion des Wahrheitsbegriffes vornimmt, verharrt jener in der "Negativen Dialektik" in einer Such- und Fragehaltung. Adornos Kennzeichnung, Wahrheit sei zeitlich, zerbrechlich und verlierbar (Adorno, 21980, S.45), berührt sich eng mit Heideggers Verdikt gegen die "ewigen Wahrheiten" der metaphysischen Tradition. Doch bleibt eine Wahrheit jenseits der adaequatio im Zeitalter des Positivismus für Adorno ein Desiderat: "Das triviale Bewußtsein, wie es theoretisch im Positivismus und unreflektierten Nominalismus sich ausspricht, mag der adaequatio rei atque cogitationis näher sein als das sublime, in fratzenhaftem Hohn auf die Wahrheit wahrer als das überlegene, außer wenn ein anderer Begriff von Wahrheit gelingen sollte als der von adaequatio [Hervorhebung, EMP]" (Adorno, 21980, S.357).- Zum Vergleich Adorno-Heidegger insgesamt cf. Mörchen, 1981. Die Denk-Konvergenzen entfaltet

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Heimeneutische und wahrheitskonzeptionale Überlegungen

degger und Wittgenstein11 beginnen zu verschwimmen. Gethmann 12 hat den grundlegend pragmatischen Charakter der Heideggerschen Frühphilosophie plausibel machen können, und Rentsch13 konnte im Bereich philosophischer Anthropologie beachtliche Strukturanalogien zwischen Wittgenstein und Heidegger aufzeigen. Ein wohl ergiebiger Vergleich mit Charles Sanders Peirce steht derzeit noch aus. Immerhin läßt sich heute eine in diesem Zusammenhang bedeutungsvolle, mehrfach gebrochene Rezeptionslinie von Peirce über William James und Emil Lask zu Heidegger zeichnen. 14 Eine direkte Rezeption fand allerdings nicht statt. Aufgrund all dieser Beobachtungen läßt sich die These wagen, daß der konstatierte Zustand totaler Kommunikationslosigkeit vorläufig beendet sein dürfte. Es könnte mithin das Verhältnis von Heidegger und der analytischen Philosophie auf eine Beziehung der Phasen (3), d.h. einen Intentionszusammenhang, oder sogar (2), d.h. einen Mitteilungszusammenhang, ermäßigt sein. Die vermutlichen Ursachen dieser Entwicklung liegen in der Fortentwicklung der analytischen Philosophie seit Carnap einerseits, in der kritisch-produktiven Schülerschaft Heideggers andererseits. Dies soll hier nicht weiter diskutiert werden. Wenn sich die These plausibel machen läßt, daß die Dualität von Binnen- und Außenperspektiven in der gegenwärtigen Heidegger-Forschung nicht mehr im Sinne einer totalen Kommunikationslosigkeit gedacht werden muß, sondern von der Prämisse zumindest eines gemeinsamen Intentionszusammenhanges aus beschrieben werden kann, dann hat dies Mörchen von S.483-629 unter den Stichworten "Wert, Wissenschaft, System, Klarheit, Bild, Sprache, Zeit-Erfahrung und Zeit-Deutung". Zu ergänzen wäre in dieser Reihe der Wahrheitsbegriff.- Unter den Leitbegriffen "Technik" und "Kunst" sind in einem Band des Villigster Publikationsorgans (Parabel 9, 1988) ebenfalls eine Reihe von wichtigen Beiträgen zu diesem Vergleich versammelt. Guignon resümiert: "We might sum up the outcome of the thought of Wittgenstein and Heidegger by saying that it is holistic, anti-dualist, and nonfoundationalist" (Guignon, 1990, S.649-672, dort S.666). Siehe die Arbeiten von Gethmann (1974a, 1986/87, 1987, 1988, 1989) und die unabhängig davon entstandene gründliche Untersuchung von Okrent, 1988. In aller Kürze zum Thema "Pragmatismus" bei Heidegger: Rentsch, 1989a, S.40, 64, 80, 89-92.Kritisch zu Gethmanns Ansatz ist Pöggelers Nachwort zur dritten Auflage des "Denkweges" zu vergleichen (Pöggeler, 3 1990, S.337-410, dort zu Gethmanns These S.353-358). Nach einigen Denkanstößen von Apel in den sechziger Jahren liegt nun eine wichtige Untersuchung von Rentsch (1985) vor. Der in dieser Hinsicht gewiß unverdächtige Gadamer hat in seinen "Erinnerungen an Heideggers Anfinge" (1986/87, S. 13-26) die Existenz dieser Rezeptionslinie bezeugt (dort S.24). Die entscheidende Vermittlungsinstanz bildeten die Arbeiten von Emil Lask, der ebenso auf Georg Lukäcs wirkte. Gadamer kann sich so auffallige Parallelen zwischen "Geschichte und Klassenbewußtsein" (1923) und Heideggers Frühwerk erklären.

Innen- und Außenansichten: Eine hermeneutische Vorbesinnnung

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auch für die theologische Diskussionslage Konsequenzen. Denn das derart gemilderte Klima des philosophischen Diskurses würde auch der oftmals erstarrten oder verkrampften Diskussion zwischen Heidegger nahestehenden evangelischen Theologen und von der analytischen Philosophie geprägten evangelischen Theologen neue Impulse geben. Dies kann nur im Interesse des protestantischen Gegenwartsdiskurses sein, nicht, um Gegensätze einzuebnen oder zu verschleiern, sondern um sie in intensiver Kommunikation allererst austragen zu können. So läßt sich als Ausgangshypothese dieses Kapitels formulieren: Der Zustand der totalen Kommunikationslosigkeit zwischen der Philosophie Martin Heideggers und der analytischen Philosophie existiert in der Gegenwart nicht mehr. Damit ist auch für die evangelische Theologie, sofern sie der analytischsemiotischen Philosophie nahesteht und von dort aus das Gespräch mit Heideggers Philosophie sucht, eine bessere kommunikative Ausgangssituation gegeben als noch vor einigen Jahren. Jedoch wäre unsere Betrachtung naiv und unreflektiert, würde sie die gegebenen Schwierigkeiten der HeideggerInterpretation aus der bezeichneten (doppelten: theologischen und philosophischen) Außenperspektive nicht von vorneherein in den Blick nehmen. Ich sehe derzeit folgende vier Hauptschwierigkeiten: die immense philosophische und theologische Literaturflut zum Thema Heidegger sowie Gestalt und Eigenart der zu interpretierenden Quellen (§1.2); die Frage der Verflochtenheit von Werk und Leben, Philosophie und Politik bei Heidegger (§1.3); die Problematik des eigentümlichen Heideggerschen Sprach- und Argumentationsstiles (§1.4); die Frage nach den produktiven Möglichkeiten einer Interpretation Heideggers aus einer Außenperspektive heraus (§1.5). Diese vier Hauptschwierigkeiten hängen zum Teil eng miteinander zusammen, lassen sich aber sinnvoll unterscheiden. Ich will im folgenden versuchen, sie darzustellen und in einer hermeneutisch verantworteten Weise möglichen Lösungen zuzuführen. §1.2 Die Probleme der Quellenlage und die Phasen des Heideggerschen Denkens Im Bereich der Quellenlage ergeben sich für die Interpreten eine Reihe von quantitativen und qualitativen Problemen, die kurz darzustellen sind (§1.2.1). Anschließend werde ich einige Bemerkungen zur Phaseneinteilung des Heideggerschen Denkens machen (§1.2.2). §1.2.1 Quantitative und qualitative Probleme der Quellenlage Martin Heidegger war ein ungewöhnlich produktiver Denker, was sich auch in der Quantität seines Werkes zeigt. Im Jahr 1989 erschienen seine

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Hermeneutische und wahrheitskonzeptionale Überlegungen

"Beiträge zur Philosophie" als Band 65 der Gesamtausgabe, ein Hauptwerk15 aus dem Nachlaß. Die seit Mitte der siebziger Jahre erscheinende Gesamtausgabe hat zu einer beachtlichen Steigerung des Umfanges seines veröffentlichten Werkes geführt. Ein gravierendes Problem bei der Auswertung der Primärquellen ergibt sich aus der auf Heidegger zurückgehenden Gestaltung der Edition dieser Gesamtausgabe. Zu bemängeln ist vor allem das Fehlen eines textkritischen Apparates, von immanenten Verweisen, von Personen- und Sachregistern.16 Das übliche wissenschaftliche Arbeiten wird durch die Art und Weise dieser Edition ziemlich erschwert. Allerdings entspricht diese den Verfügungen Heideggers selbst, der seine Texte gegen eine - wie er meinte - schnelle, "technische" Verwertbarkeit schützen wollte. Anz verweist demgegenüber auf das berechtigte Interesse des Lesers. Insgesamt dürfte das Desiderat einer historisch-kritischen Heidegger-Ausgabe unübersehbar sein. Ein quantitatives Problem bildet auch und erst recht das Feld der Sekundärliteratur. Zu Anfang der achtziger Jahre gab es bereits über 5000 verfügbare Titel an Sekundärliteratur.17 Die achtziger Jahre insgesamt, vor allem das Jubiläumsjahr 1989, brachten eine kaum übersehbare Flut weiterer Titel. Ein Interpret, der bemüht ist, die Fülle auch nur der wesentlichen philosophischen und theologischen Äußerungen zu sichten, befindet sich angesichts dieser Literaturquantität in einer schwierigen Situation. Jede Auswahl wirkt problematisch; gleichwohl ist sie unumgänglich und muß gewagt werden. Eine hermeneutisch verantwortete Selektionsentscheidung muß um den in diesem Fall nur annäherungsweise einlösbaren allgemeinen hermeneutischen Grundsatz wissen, daß das Einzelne nur aus dem Ganzen, das Ganze nur aus dem Einzelnen verstanden werden kann.18 Denn das Ganze sowohl des Heideggerschen Werkes als auch der Sekundärliteratur sei es auch nur zum für ihn zentralen Wahrheitsthema - ist heute kaum noch überschaubar. Wichtige Grundsätze meines Orientierungsversuches im Feld der Sekundärliteratur waren dabei: die Auswahl aus der thematischen Perspektive der Wahrheitsfrage; die Anknüpfung vor allem an neuere InterpretationstendenPöggeler sieht in diesem Opus sogar das eigentliche Hauptwerk des Denkers (Pöggeler, 1988, S. 17-63, dort S.42). - Cf. dagegen Schwan, 1989, S.593-617, der in den "Beiträgen" eher ein "typisches Werk des Übergangs, keine endgültige philosophische Aussage für sich" erblickt (dort S.595). Zur exemplarischen Kritik des Verfahrens dieser Edition siehe Anz, 1981, S.276-303, besonders S.301-303. Die neueste maßgebliche Bibliographie stammt von Sass, 1982. Seitdem muB wiederum mit einer erheblichen quantitativen Steigerung gerechnet werden. Die Struktur dieses schon seit der Antike bekannten Auslegungsprinzips legte die Rede vom "hermeneutischen Zirkel" nahe. Schleiermacher kommt auf dessen fundamentalen Rang unter anderem in seiner Akademierede von 1829 zu sprechen. Cf. Schleiermacher, Hermeneutik, S.329.

Innen- und Außenansichten: Eine hermeneutische Vorbesinnnung

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zen (d.h. an Ausleger der siebziger und achtziger Jahre); der vorrangige Bezug auf solche Auslegungsversuche, die eine echte Kommunikation zwischen den unterschiedlichen "Lagern" herzustellen versuchen. Umgekehrt traten damit die rein immanenten, schulinternen Autoren in den Hintergrund meines Interesses. §1.2.2 Einteilung des Denkweges Heideggers in drei Phasen Die Rede vom "Denkweg" ist von Heidegger selbst initiiert und gutgeheißen worden. Er verwendete nicht nur selbst diese Metapher in seinen Schriften häufig, sondern er gebrauchte sie auch für Buchtitel ("Holzwege", "Wegmarken", "Der Feldweg") und erklärte schließlich zum Motto seiner Gesamtausgabe die Antithese "Wege - nicht Werke". In der Sekundärliteratur hat Otto Pöggelers erstmals 1963 erschienenes Buch "Der Denkweg Martin Heideggers" die Wegemetapher terminologisch hoffähig gemacht. Ein Denkweg ist durch Stationen gekennzeichnet, zwischen denen sich Wegphasen unterscheiden lassen. Umstritten ist in der Forschung die (Mindest-) Anzahl der wesentlichen Phasen dieses Weges. Die "Kehre" Heideggers von 1930/31 setzt eine klare Zäsur, so daß Franzen von zwei Phasen ausgeht, einer in "Sein und Zeit" klassisch ausgeprägten existenzialontologischen und einer späteren seinsgeschichtlichen.19 Diese Auffassung stellt den Minimalkonsens der meisten Heidegger-Ausleger dar. Pöggeler hält dagegen ein dreiphasiges Modell zur Beschreibung dieses Denkweges für notwendig.20 Im Anschluß an Pöggeler lautet meine Arbeitshypothese: Es müssen im Hinblick auf die Wahrheitsfrage bei Heidegger drei Phasen unterschieden werden, die grob wie folgt gekennzeichnet werden können: Phase I: Existenzialontologische Wahrheitskonzeption: Wahrheit (= aletheia) ist als Erschlossenheit (ich werde diese unten als "W4" abkürzen) ein Existenzial des Daseins. In dieser Phase hat das Wort "Wahrheit" für Heidegger, wie im II. Hauptteil dieser Arbeit ausführlich gezeigt werden soll, neben dieser zentralen Bedeutung noch fünf weitere, nämlich: Aussagenwahrheit (im folgenden: "Wl"), Wahrheit als Entdecktheit des Seienden ("W2"), als Entdeckendsein des Daseins ("W3"), als Entschlossenheit ("W5"). Als möglich erwogen wird die Identität von Sein und Wahrheit ("W6"). 19 20

Franzen, 1976, S.28-77. Pöggeler, 1977, S.l-21, dort S.6ff. Pöggeler unterscheidet die drei Phasen nach den Gesichtspunkten: "... Frage nach Sein und Zeit oder dem Sinn von Sein, nach der Wahrheit des Seins als Geschichte, nach der Lichtung" (dort S.6). Cf. auch noch sein neues Nachwort zum "Denkweg": Pöggeler, 3 1990, dort S.399.

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Hermeneutische und wahrheitskonzeptionale Überlegungen

Phase II: Seinsgeschichtliche Wahrheitskonzeption: Wahrheit (=aletheia) ist als "Lichtung des Sichverbergens" ein Ereignis des Seins. Die "Wahrheit des Seins" denkt Heidegger nun als sich in unverfügbarer Weise geschichtlich entbergend. Phase III: Retractationes: In seinem Spätwerk schließlich unterscheidet Heidegger zwischen Wahrheit und aletheia und nimmt zentrale Thesen der früheren Phasen zurück. Mit dem Forschungskonsensus halte ich die Wahrheitsfrage für ein Grundthema der Philosophie Heideggers in allen drei Phasen seines Denkweges. Ich will die drei bezeichneten Phasen im Vorgriff näher kennzeichnen und sie den zu untersuchenden Hauptquellen zuordnen. Terminologisch unterscheide ich in dieser Arbeit vor dem skizzierten Hintergrund zwischen dem frühen Heidegger (=Heidegger I), dem späteren (=Heidegger II) und dem späten Heidegger (=Heidegger III). (1) PHASE I: Heideggers Wahrheitskonzeption im Umkreis von "Sein und Zeit" (1927) Diese erste, existenzialontologische Wahrheitskonzeption hat ihren locus classicus im Hauptwerk "Sein und Zeit" (im folgenden zitiert als: SuZ) erhalten. Dieses Hauptwerk hat jedoch eine inzwischen quellenmäßig recht gut belegte "Vor- und Zeitgeschichte"21. Dieser kommt zumal in einer Bultmanns Rezeption rekonstruierenden Arbeit hohe Bedeutung zu, weil der Einfluß, den Heidegger auf Bultmann vor allem während der gemeinsamen "Marburger Jahre" 1923-1928 hatte, nicht auf SuZ beschränkt untersucht werden kann. Daher müssen der Hauptquelle einige Sekundärquellen22 zugeordnet werden. Dabei lassen sich drei Gruppen unterscheiden: (a) Frühe Vorarbeiten zu "Sein und Zeit": - Die Vorlesungen der ersten Freiburger Zeit, unter ihnen besonders GA 63; 21 22

Gethmann, 1989, S. 101-130, dort S. 102. Mit Gethmann (1989, S.102f) teile ich drei spezielle hermeneutische Prämissen: (1) SuZ ist das Hauptwerk der Philosophie Heideggers bis 1929; (2) SuZ und die Marburger Vorlesungen bilden eine geschlossene philosophische Konzeption; (3) SuZ als Hauptwerk kommt eine gewisse hermeneutische Prävalenz zu, weil Heidegger diesen Text zur Veröffentlichung bestimmte.- Gegen Gethmanns hermeneutischen Ansatz votierte kürzlich dezidiert Pöggeler ( 3 1990, S.353-358), indem er bereits für den frühen Heidegger eine "Pluralität von Wegen", aber keine einheitliche Konzeption mehr annehmen wollte.

Innen- und Außenansichten: Eine hermeneutische Vorbesinnnung

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- das wichtige Aristoteles-Manuskript, das bei Heideggers Berufung nach Marburg 1922 den entscheidenden Ausschlag gab: "Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (Anzeige der hermeneutischen Situation)" (=PhA); - der vor der Marburger Theologenschaft im Juli 1924 gehaltene Vortrag: "Der Begriff der Zeit" (=BZ). (b) Die inzwischen veröffentlichten Heideggers. Aus ihnen ragen heraus:

Marburger

Vorlesungen

GA 21 (Logik: Die Frage nach der Wahrheit. Marburger Vorlesung vom Wintersemester 1925/26)23; GA 24 (Die Grundprobleme der Phänomenologie. Marburger Vorlesung vom Sommersemester 1927); GA 25 (Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft. Marburger Vorlesung vom Wintersemester 1927/28); GA 26 (Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz. Marburger Vorlesung vom Sommersemester 1928). (c) Die frühen Arbeiten der zweiten Freiburger Periode: - Die Freiburger Antrittsvorlesung "Was ist Metaphysik?" (in: WM, S. 103-121); - die Abhandlung "Vom Wesen des Grundes" aus dem Jahre 1929 (in: WM, S. 123-173). Der Wert der Sekundärquellen dürfte vor allem darin bestehen, die Genese der ersten Phase dieses Denkweges aufzuzeigen (was in unserer systematischen Rekonstruktion peripher bleiben muß), und möglicherweise einige Unklarheiten, die aufgrund der sehr knappen und gedrängten Darstellung des Wahrheitsthemas in "Sein und Zeit" auftreten, zu beheben. Daß ich metaphorisch von Heideggers Wahrheitskonzeption "im Umkreis von

Da Bultmann diese Vorlesung nachweislich besucht hat (cf. seine Mitschrift im Tübinger Nachlaß unter der Signatur Mn 2-2413), kommt dieser Quelle rezeptionsgeschichtlich eine herausragende Qualität zu. Leider wurde mir die Bultmann-Mitschrift erst gegen Ende meiner Arbeit zugänglich. Hätte ich etwas mehr Zeit gehabt, hätte die Darstellung der Wahrheitskonzeption des frühen Heidegger sonst noch genuiner von GA 21 aus erfolgen können. Aber dies hätte an den grundsätzlichen Resultaten meiner Arbeit wohl kaum etwas geändert. Denn inhaltlich korrespondiert GA 21 mit SuZ auf das Genaueste, besonders mit den §§28-34 und 44. Ja, im Grunde stellen die genannten Paragraphen in SuZ eine gedrängte Zusammenfassung von in jener Vorlesung ausführlich entfalteten Gedankengängen dar.

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Hermeneutische und wahrheitskonzeptionale Überlegungen

'Sein und Zeit'" rede, setzt voraus, daß die Sekundärquellen sich um die Hauptquelle als ihren Mittelpunkt herum anordnen lassen. 24 (2) PHASE II: Heideggers Wahrheitskonzeption seit 1930 Als die drei Hauptquellen dieser seinsgeschichtlichen Phase lassen sich identifizieren: (a) Der weichenstellende Vortrag von 1930: "Vom Wesen der Wahrheit", erschienen 1943, welcher die Wahrheitsfrage neu stellt und denkerisch zu beantworten sucht (zitiert als WW) 25 ; (b) die philosophiegeschichtliche Abhandlung "Piatons Lehre von der Wahrheit", entstanden 1930/31, veröffentlicht 1942, welche die These vertritt, in Piatons Philosophie lasse sich der philosophiegeschichtlich äußerst bedeutsame Übergang von der Wahrheit als "Unverborgenheit" zur Wahrheit als "Richtigkeit" aufzeigen (zitiert als PLW) 26 ; (c) das systematische Hauptwerk Heideggers in dieser Phase, wenn nicht seiner gesamten Philosophie, die "Beiträge zur Philosophie" (1936-1938), in welchem die Wahrheitsfrage in einen von der Geschichte des "Seyns" her entworfenen systematischen Kontext gestellt wird (GA 65). Auch diesen drei Hauptquellen lassen sich Sekundärquellen an die Seite stellen. Hier ragen heraus: - der Vortrag "Der Ursprung des Kunstwerkes" (1935/36), welcher die Wahrheit als in der Kunst "ins Werk gesetzt" versteht (in: HW, S.l72); - schließlich Heideggers berühmte Freiburger Vorlesung aus dem Stalingrad-Winter: Parmenides. Freiburger Vorlesung Wintersemester 1942/43 (=GA 54).

Außer Gethniann vertritt eine solche These unter den neueren Auslegern beispielsweise auch Schönleben, 1987, S.29, Anm.45. Anders, wie schon gesagt, Pöggeler. Zur Rekonstruktion der (mindestens dreiphasigen) Textgeschichte dieses Vortrages ist die Arbeit von Fräntzki (21987) einschlägig. Hierzu ist insbesondere der Text von Heideggers Freiburger Vorlesung aus dem Wintersemester 1931/32 zu vergleichen (GA 34), welche die Genese seines Denkweges deutlich macht. Über diese Vorlesung schrieb Heidegger an Elisabeth Blochmann: "Das rein systematisch entworfene Kolleg über das Wesen der Wahrheit ist von Anfang an geschichtlich geworden u. wird es auch bleiben. Das will sagen, ich entwickle die Fragen anhand einer ganz konkreten Auslegung platonischer Texte" (Heidegger/Blochmann, S.45f).

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(3) PHASE III: Heideggers späte Wahrheitsauffassung (1969) Zuletzt hat Heidegger in der 1969 veröffentlichten Schrift "Zur Sache des Denkens" (SD) seine Wahrheitsauffassung revidiert.27 Auf knappstem Räume revoziert er im für einen Denker von Rang stets löblichen Genus der Retractationes in dieser Schrift tragende Grundthesen der Phasen I und II seines Denkens, an erster Stelle seine Identifizierung von Wahrheit und aletheia. Daß hier wirklich Retractationes vorliegen und nicht bloß eine späte Selbstinterpretation des Denkers, welche die Hauptthesen der früheren Phasen unangetastet stehen läßt, soll methodisch am Text gezeigt werden. Zum Verhältnis der drei Phasen zueinander läßt sich vorläufig sagen: In Phase I gewinnt Heidegger u.a. aus der Reflexion des griechischen Grundbegriffes aletheia die Konturen seiner Konzeption von Wahrheit. In Phase II findet eine Modifikation und entscheidende Umakzentuierung seiner Wahrheitskonzeption statt, in Phase III die Rücknahme der entscheidenden Aussagen der früheren Phasen.28 Im zweiten Hauptteil der vorliegenden Arbeit geht es mir vorrangig um die struktural-systematische Rekonstruktion der Wahrheitskonzeption der ersten Phase des Heideggerschen Denkens. (Auf diese Phase ausschließlich hat sich Rudolf Bultmann in seinem theologischen Lebenswerk bezogen, was Gegenstand des dritten Hauptteiles dieser Arbeit sein wird.) Die wichtigsten Modifikationen aus der zweiten Phase seines Denkweges sollen anmerkungsweise und exkursorisch sichtbar gemacht werden. In einem argumentativen Pro und Contra am Ende des zweiten Hauptteiles dieser Arbeit wird der dritten Phase (den Retractationes) schließlich noch ein eigenes Gewicht zugemessen werden. Denn es muß in jedem Falle argumentativ beachtet werden, daß Heidegger in dieser dritten Phase tatsächlich die tragenden Thesen der vorangegangenen Phasen zurückgezogen hat.

Cf. aber auch schon: "Hegel und die Griechen" (1958), in: WM, S.421-438. Unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses zur Philosophie unterscheiden sich die Phasen wie folgt: In der I. Phase versteht sich Heidegger als ein "wissenschaftlicher" Philosoph; in der II. Phase versucht er noch, unter Distanzierung von einer Auffassung der Philosophie als Wissenschaft, "Beiträge zur Philosophie" zu liefern; in der III. Phase verortet er sich dagegen im Bereich des von Wissenschaft wie Philosophie strikt zu trennenden "Denkens".

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Hermeneutische und wahrheitskonzeptionale Überlegungen §1.3 Das Problem des Verhältnisses von Werk und Leben "... Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar Margarethe er schreibt es und tritt vor das Haus und es blitzen die Sterne er pfeift seine Rüden herbei ..." (Paul Celan, Todesfuge).

Für den bis 1933 mit Heidegger sehr eng befreundeten Philosophen Karl Jaspers stellte sich bedrängend die Frage, ob Werk und Leben, Philosophie und politisches Handeln bei seinem Freunde einander entsprachen 29 , was dessen Philosophie angesichts seines politischen Versagens seit 1933 3 0 diskreditieren würde. Diese Frage ist oft wiederholt und variiert worden. Sowohl Tugendhat 31 als auch neuerdings Farias 32 haben gerade im Hinblick auf die Wahrheitsauffassung bei Heidegger behauptet, diese habe ihn zu seinem nationalsozialistischen Engagement prädisponiert. Und in der Tat veröffentlichte Heidegger ja noch 1953 eine Vorlesung von 1935, in wel-

Jaspers schreibt: "Die Fragen wurden vielmehr brennend und blieben unbeantwortet: kann es Philosophie geben, die als Werk wahr ist, während ihre Funktion in der Faktizität des Denkenden unwahr ist? Wie verhält sich Denken zur Praxis? Was ist und was tut Heidegger eigentlich?" (Jaspers, 1977, S.104). Die Tatsache des Versagens Heideggers läßt sich nicht auf den Parteieintritt 1933 und den Zusammenhang der Rektoratsrede reduzieren. Schwerer wiegen dürften die Denunziation des späteren Nobelpreisträgers Hermann Staudinger (cf. Hugo Ott, 1988, S. 201-213), seine lebenslang öffentlich dokumentierte ablehnende Haltung zur Demokratie (Pöggeler, 1988, S.51-57), am schwersten wohl das von George Steiner in den Mittelpunkt gerückte Schweigen Heideggers nach 1945 (cf. Steiner, 1989, S.27, 33f, 183, 186f). Argumentativ wohlabgewogen urteilt auch Bernd Martin: "Martin Heidegger und der Nationalsozialismus - Der historische Rahmen", in: ders. (Hg.), 1989, S. 14-50. Tugendhat, 21981, S.243: "Diese Zitate [Heideggers, die zur Unterstützung Hitlers aufrufen und dies aus der Wahrheit des Daseinswillens des Volkes begründen; BMP] zeigen, daß Heideggers Nazismus keine zufällige Angelegenheit war, sondern daß ein direkter Weg von seiner Philosophie - seinem entrationalisierten Wahrheitsbegriff und dem von diesem bestimmten Begriff der Selbstbestimmung - zum Nazismus führte" [Hervorhebungen, EMP]. Farias, 1989, S.109f. Bei aller Sympathie für das moralische Engagement von Farias müssen seine biographisch-philosophischen Interpretationen über weite Strecken als unzulänglich und kurzschlüssig bezeichnet werden. Eine kritische Rezension der Arbeit von Farias schrieb Hugo Ott: "Wege und Abwege: Zu Victor Farias' kritischer Heidegger-Studie", in: Neske/Kettering (Hg.), 1988, S. 144-151.

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eher von der "inneren Wahrheit und Größe" des Nationalsozialismus 33 die Rede ist - als wäre nichts geschehen. Der enge Zusammenhang von Heideggers Wahrheitsauffassung und seinem NS-Engagement 1933 wurde sehr überzeugend auch von dem Freiburger Historiker Hugo Ott aufgewiesen. 34 Hier liegt sichtlich eine Nahtstelle zwischen Werk und Leben, Philosophie und Weltanschauung. Im Rahmen des Bultmann-Hauptteils meiner Arbeit werde ich näher auf mögliche Verbindungen zwischen Wahrheit, Ethik und Nationalsozialismus eingehen (cf. §5.2 und §5.5). Hier soll zunächst der Aufweis genügen, daß hier überhaupt Verbindungen existieren, was nicht Hauptthema meiner Arbeit werden wird, aber doch immer im Blickfeld bleiben soll. Selbst der Heidegger seit Jahrzehnten geneigte Philosoph Pöggeler kam bereits 1983 zu dem Urteil, daß "... Heidegger selber in den dreißiger Jahren die Entscheidung über die Wahrheit des Seins [Hervorhebung, EMP], wie er sie suchte, in einen politischen Kontext gestellt hat ,.." 35 . Im Vorgriff auf den dritten Hauptteil dieser Arbeit, in welchem an Rudolf Bultmann exemplarisch die Rezeption von Heideggers (offenbar so problematischer) Wahrheitskonzeption in der protestantischen Theologie dargestellt werden wird, drängt sich die Frage auf: Wie soll die komplexe Verflochtenheit von Werk und Leben, von Philosophie und Politik36 im Blick auf die Wahrheitsthematik beurteilt werden, wenn ihn seine Wahrheitsauffassung tatsächlich zum Nationalsozialismus disponierte? Muß eine 33 34 35 36

Heidegger, EiM (1935), 1953, S.152.- Zum Stand der Forschung in diesem kontroversen Gebiet cf. Habermas' Einleitung zu Farias' Buch (Habermas, 1989, S.25-32). Hugo Ott, 1988, S.29, 133, 146, 160-165, 256, 258, 276-278. Aus dem Nachwort zur zweiten Auflage (1983), in: Pöggeler, 31990, S.324. Orientierend ist der sachlich-bibliographische Überblick, den Franzen (1976, S.7885) bietet. Kettering hat den Diskussionsstand bis Ende 1988 aufgearbeitet und sieben Phasen der Diskussion unterschieden, deren vorläufig letzte er durch das Farias-Buch eingeleitet sieht ("Heidegger und die Politik: Stationen einer Diskussion". In: Neske/Kettering (Hg.), 1988, S. 129-141). - Einen struktural-systematischen Überblick über die Forschungspositionen zu diesem komplexen Gebiet bietet Thomä, 1990, S.466-487. Thomäs eigenes Votum (ebd., S.487-496) teile ich insofern, als auch ich (1) die Existenz eines systematischen Zusammenhangs zwischen Heideggers Denken und dem Nationalsozialismus annehme, ohne daß dieser (2) einen "Schlüssel für Heideggers Philosophie" böte (wie Adorno, Bourdieu und Farias meinen). Aber was heißt hier "systematisch"? Dies expliziert Thomä leider nicht, so daß offenbleibt, ob er eine schwache (Anschlußfähigkeit) oder eine starke Systematizität (einen notwendigen Konnex) meint. Zu dieser letzteren Auffassung tendiert seine Deutung. Diesen Anspruch der umfangreichen Studie, eine "konsequente Ableitung von Heideggers NS-Engagement aus seiner Philosophie" (Thomä, 1990, S.30) vorzunehmen, halte ich aber - mit der Mehrzahl der Forscher - für uneinlösbar und plädiere für die Annahme eines schwach systematischen Zusammenhangs.

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Hermeneutische und wahrheitskonzeptionale Überlegungen

solche Auffassung dem protestantischen Theologen nicht Abstandnahme auferlegen, wenn er, wie ich dies tue, den Nationalsozialismus hinsichtlich seines religiös-theologischen Gehaltes als eine Häresie betrachtet? Aber was heißt hier: "disponieren"? Es ist jedenfalls zu beachten, daß die Heideggersche Wahrheitsauffassung nicht schon dadurch erledigt und für alle Zeiten diskreditiert ist, daß der Philosoph, der sie entworfen hat, sich auf ihrer Basis für Adolf Hitler und den Nationalsozialismus einsetzte - sondern erst dann, wenn der Zusammenhang als notwendiger rekonstruiert wäre, was gleichbedeutend mit folgender These (T) wäre: (T) Die Heideggersche Wahrheitsauffassung impliziert notwendig ein Eintreten für den Nationalsozialismus. Dies wäre etwa dann gezeigt, wenn sich aus bestimmten Aussagen Heideggers nationalsozialistische Optionen deduzieren ließen oder seine Begrifflichkeit analytisch derartige Ingredienzen enthielte. Eine solche TTiese (T) kann beim derzeitigen Diskussionsstand aber keineswegs begründet werden. Richtig ist zwar, daß zwischen Heideggers Philosophie und seiner politischen Praxis Zusammenhänge existieren; dies hat er auch selbst, zum Beispiel 1936 gegenüber seinem jüdischen Schüler Karl Löwith in Rom, eingeräumt. Als Löwith den das Parteiabzeichen tragenden Heidegger mit der These konfrontierte, seine Parteinahme für den Nationalsozialismus liege nach seiner - Löwiths - Meinung im Wesen seiner Philosophie begründet, gab Heidegger dies unumwunden zu: "Heidegger stimmte mir ohne Vorbehalt zu und führte mir aus, daß sein Begriff von der 'Geschichtlichkeit' die Grundlage für seinen politischen 'Einsatz' sei." 37

Dieses Zugeständnis Heideggers wird man schwerlich als Entlastung des Wahrheitsbegriffes auf Kosten des Geschichtsbegriffes deuten können, denn beide hängen im kohärenten Begriffsgefüge von "Sein und Zeit" als Schlüsselbegriffe unlöslich zusammen. Heidegger hat Wahrheit ja gerade als geschichtliche verstanden und damit von den "ewigen Wahrheiten" der metaphysischen Tradition entscheidend abgesetzt, was unten noch dargestellt werden wird. Wenn er also für seinen Begriff der "Geschichtlichkeit" einen engen Zusammenhang zu seiner Parteinahme für den Nationalsozialismus zugestand, dann mußte auch vom Wahrheitsbegriff aus ein solcher Zusammenhang bestehen. Allerdings sind diese Zusammenhänge als Anschlußmöglichkeiten und konkrete Ansatzpunkte zu sehen, die kontingenter, nicht notwendiger Art sind. Auf die Wahrheitsfrage bezogen, muß (T) modifiziert werden in (T*): 37

Löwith, 1989, S.57.

Innen- und Außenansichten: Eine hermeneutische Vorbesinnnung

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(T*) Die Heideggersche Wahrheitsauffassung ermöglicht das Eintreten für den Nationalsozialismus. Die These T* läßt sich durchaus auf Grund einer Werkanalyse belegen. "Disponieren" ist damit verstanden als "Möglichkeiten eröffnen". Doch besagt T* dann im Grunde wenig, denn man konnte sehr wohl auf der Basis aller möglichen Auffassungen von Wahrheit Nationalsozialist werden - gewiß auch als Korrespondenztheoretiker. Daß Rudolf Bultmann und Hans von Soden, welche beide von Heidegger wahrheitstheoretisch stark beeinflußt wurden, seit 1933 dem Nationalsozialismus mutig widerstanden, zeigt im übrigen, daß die existenzialontologische Philosophie von "Sein und Zeit" auch mit Widerstand vereinbar war. Zwei Zugänge zum Problemkreis möchte ich hiermit ausdrücklich abweisen, weil sie mir gleichermaßen als unfruchtbar erscheinen: Einmal lehne ich eine weitverbreitete Heidegger-Apologetik ab, welche seinen politischen Fehltritt samt dessen im philosophischen Werk gegebenen Möglichkeitsbedingungen verschweigt oder vernebelt. 38 Zweitens aber gilt es, solche Interpretationen Heideggers abzuweisen, welche (wie z.B. Farias!) kurzschlüssig und monokausal aus der Biographie heraus ein Gesamtverdikt gegen sein Denken verhängen. Was als Aufgabe ansteht, ist vielmehr eine sorgfältige Werkanalyse, welche die Leistungen des Philosophen zu würdigen versteht, seine philosophischen Irrtümer aber so wenig wie seine schuldhaften politischen Entgleisungen dabei übersieht, zumal wenn diese in jenen gründen sollten. 39 §1.4 Das Problem des Sprach- und Argumentationsstiles Als eine der Hauptursachen für die Schärfe der Differenzierung der Binnenund der Außenperspektiven zu Heidegger ist der eigentümliche und eigenwillige Sprach- und Argumentationsstil des Denkers zu betrachten. Während die einen diesen Stil für eine Meisterleistung auf dem Gebiet philosophischer Prosa (Emil Staiger) halten, reden die anderen vom "Jargon der Eigentlichkeit" (Theodor W. Adorno) und charakterisieren ihn als eine deutsche Ideologieform. Ich möchte zunächst kurz einige Besonderheiten dieses Stils charakterisieren (§1.4.1). Anschließend will ich bedenken, inwiefern Schleiermachers hermeneutische Fundamentalunterscheidungen von grammatischer und psychologischer Interpretation, von Komparation und

Ein Beispiel dafür: Vietta, 1989.- Zur Kritik an Viettas Buch kann verwiesen werden auf die Rezension von Jurt, 1989, S.37. In diesem Sinne trifft sich die vorliegende Arbeit mit der Intention, die Blasche, 1989, S.8f, skizziert hat.

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Heimeneutische und wahrheitskonzeptionale Überlegungen

Divination eine Hilfestellung für unsere Auslegungsbemühungen darstellen können (§1.4.2). §1.4.1 Besonderheiten des Heideggerschen Sprach- und Argumentationsstiles Wie ist dieser Stil zunächst zu kennzeichnen? In Heideggers gesamtem Werk finden sich unzählige Äquivokationen und Plurivokationen40, Metonymien und Metaphern41, Oxymora und Paradoxe, Tautologien und Etymologien. Die scheinbar gewaltsame Konstruktion von Neologismen, Bindestrich-Kombinationswörtern und ungewohnten syntaktischen Konstellationen spiegelt in all ihrer Befremdlichkeit und Ärgerlichkeit eine Suche nach sprachlich gespeicherter ursprünglicher Wahrnehmung. Eine echte "Sprachnot" (Gadamer) des Denkers ist ersichtlich.42 Um exemplarisch auf nur eine, allerdings sehr wichtige stilistische Eigenheit einzugehen, hebe ich den Gebrauch der Etymologien hervor. Die etymologische Herleitung von Begriffen hat für Heidegger einen sehr hohen argumentativen Stellenwert: Wahrheit etwa heißt griechisch aletheia, was ihr "Wesen" - nach Heideggers Meinung - als "Unverborgenheit" oder "Erschlossenheit" enthüllt. Indem Heidegger mit Hilfe von Begriffsetymologien argumentiert, orientiert er sich grundsätzlich an einer Wortsemantik, keiner Satzsemantik.43 Aber wie stark darf ein etymologisches Argument überhaupt gewichtet werden? Eine Aneinanderreihung von etymologischen (Re-) Konstrukten mag, wenn sie konsistent ist, erhellend sein, aber ihre Beweiskraft in philosophischen Denkzusammenhängen hat Heidegger wohl überschätzt. Denn es Zu diesem Begriff cf. Eco, 1977, S.53. Unter diesen sind die häufigsten die räumlichen Metaphern ("Grund", "Boden", "Lichtung", "Nähe", "Ortschaft" usw.). Warum dies so ist, bleibt vorerst ungeklärt (Pöggeler, 31990, S.351). Aus diesem Umstand erklärt sich vielleicht aber eine bestimmte Reaktion der Rezipienten auf Heideggers Vortragsstil: "Wenn Heidegger dozierte, sah man die Dinge vor sich, als ob sie körperhaft greifbar wären" (Gadamer, 1977, S.213). Gadamer berichtet beispielsweise folgende Episode, die belegt, welche "Sprachnot" Heidegger empfand und wie er Distanz zu seiner eigenen Sprache zum Ausdruck brachte: "Ich erinnere mich, daß Heidegger mir einmal oben auf der Hütte, während der Kriegsjahre, einen Nietzsche-Aufsatz vorzulesen begann, an dem er arbeitete. Er unterbrach sich plötzlich, schlug auf den Tisch, daß die Teetassen klirrten und rief erregt und verzweifelt: 'Das ist ja alles chinesisch!' Das war Sprachnot, die nur einer erfahrt, der etwas zu sagen hat" (Gadamer, 1977, S.219). Dazu kritisch Tugendhat, 21970, S.402.- Andererseits stehen seinem Sprachatomismus erstaunlicherweise auch holistische Ansätze und Gedanken zur Seite, etwa die Beobachtung von "Zeug-" und "Verweisungsganzheiten" in der alltäglichen Lebenspraxis (Näheres in §3.1).

Innen- und AuBenansichten: Eine hermeneutische Vorbesinnnung

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ist ja keineswegs als verbürgte Prämisse anzusehen, daß "ursprünglicher" zusammenfällt mit "besser" oder "angemessener", was alleine den argumentativen Charakter der Etymologien und damit den eigentümlichen Stil Heideggers rechtfertigen könnte. Und ebensowenig kann einfach vorausgesetzt werden, daß es einmal, etwa zur Zeit des vorsokratischen Griechentums, klar fixierbare "Bedeutungen" von Wörtern und Begriffen gab, die etymologisch rekonstruierbar wären. Auch damals hatten Begriffe "verschwommene Ränder" (Wittgenstein), weil Sprache ein lebendiges, sich entwickelndes selbstreferentielles System darstellt. Jede etymologische Rekonstruktion ist somit als eine Abstraktion aufzufassen, deren argumentative Kraft nicht in ihr selbst, sondern nur in ihrem Zusammenhang und Zusammenspiel mit anderen, "triftigen" Argumenten gesehen werden kann. Der frühe Heidegger hat dies auch noch - jedenfalls teilweise - so gesehen (cf. SuZ, S.219f als Beleg); der spätere immer weniger.44 Eine besonders gravierende Konsequenz hat Heideggers etymologische Argumentation für sein Verhältnis zur formalen Logik gehabt. Denn Heidegger strebte eine Überwindung der klassischen überlieferten Logik durch eine am Logos der Rede45 orientierte "produktive Logik" (SuZ, S. 1 0 ) 4 6 an. Einige abschreckende Beispiele: die Etymologien von "Schutz" und "Wagnis" in: HW, S.276f; die Etymologie von "Ereignis" als "Eräugnis" in: ID, S.24f. Im Grunde ist es also ein etymologisches Argument, das Heidegger zu seiner sich immer mehr steigernden Kritik an der formalen Logik bewegt hat: Logik verweise qua Logos auf Sprache und Rede zurück und müsse von dort her verstanden werden (cf. Gadamer, 1986/87, S.22; Gadamer, 1990, S.103).- In der Einleitung zu seiner "Einführung in die Logik" hat Menne gegen solche etymologischen Spekulationen ausgerechnet ein "phänomenologisches" Argument ins Feld geführt: "Um zu begreifen, was Logik ist, nützt es uns also sehr wenig, wenn wir das Wort 'Logik' ansehen wir müssen schon die Sache selbst betrachten" (Menne, 4 1986, S.7). Man kann diese Passage als eine ironische Replik auf Heidegger lesen. Bereits in einer der frühesten Veröffentlichungen des Studenten Heidegger, unter dem Titel "Neuere Forschungen über Logik" 1912 erschienen (jetzt in: GA 1, S. 17^13), finden sich ambivalente Tendenzen Heideggers in seiner Stellung zur Logik: Einerseits werden Freges Forschungen sehr positiv gewürdigt (GA 1, S.20). Auch die "Principia Mathematica" von Russell und Whitehead werden erwähnt, aber Heidegger bemerkt dazu, daß die Logistik in dieser Form "... zu den eigentlichen logischen Problemen nicht vorzudringen vermag" (GA 1, S.42). Cf. sodann (im Umfeld von SuZ) GA 21, S. 12-15. Hier setzt Heidegger der unlebendigen, "rabulistischen" Schullogik seine produktive, philosophierende Logik entgegen. Cf. ferner GA 26: Die in Universitäten gelehrte formale Logik sei "bis zur Öde trocken" und lasse den Hörer ratlos stehen (dort S.4-6). Die Folgerung für Heidegger, in seiner Freiburger Antrittsvorlesung gezogen: Die Logik löse sich "im Wirbel eines ursprünglicheren Fragens" auf (WM, S. 107, 116). In den "Beiträgen" fordert Heidegger dann die Substitution der Logik durch die "Sigetik" als die weder logische noch a-logische "Erschweigung" (GA 65, S.58, 78f) des Seyns. Heideggers "most celebrated salvo against logic" (Fay, 1977, S.VII) läßt sich nicht einfach mit der oft wiederholten Beteuerung mildern, daß

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Hermeneutische und wahrheitskonzeptionale Überlegungen

Indem die formale Logik aber nicht beachtet wird, operiert Heidegger sowohl auf der Ebene der Begriffe als auch auf der Ebene der Urteile und der Schlüsse in einer äußerst problematischen, weil kaum mehr intersubjektiv nachprüfbaren Weise. Statt Argumentationsfortschritte zu erzielen, strandet er daher beispielsweise in Tautologien wie: "Doch das Sein - was ist das Sein? Es ist Es selbst" (Hum, S.328) 47 , die vor allem in den späteren Texten eine bedeutende, irreduzible Rolle spielen. Eine Tautologie gilt in der traditionellen Logik als ein Satz, der inhaltsleer bleibt, weil in ihm grammatisch Subjekt und Prädikat, sprachlogisch gesehen Designator und Prädikator identisch sind. Läßt sich eine solche Sprechweise philosophisch überhaupt rechtfertigen? Man kann zwei Argumente für den Heideggerschen Gebrauch der Tautologien ins Feld führen: Erstens kommt in ihnen die Unterscheidung von Sein und Seiendem, die sogenannte "ontologische Differenz" zur Sprache. Zweitens aber dürfte, worauf Steiner 48 verwiesen hat, die "Seinstautologie" eine quasi-theologische Reproduktion der göttlichen Selbstoffenbarungsformel (deren biblischer locus classicus Ex 3, 14 ist) darstellen, was den zitierten Satz in ein anderes Licht rückt. Allerdings bedient Heidegger sich auch in anderen Kontexten wiederholt der Tautologien, was das erste Argument entkräftet. Und zum zweiten Argument ist zu sagen, daß eine quasireligiöse und quasi-theologische Sprechweise in einem philosophischen Diskurs diesen nicht der Kritik entzieht, vielmehr diese erst richtig herausfordert. Sollen das Sein oder bestimmte "Entitäten" wie Sprache in eine religiöse Dimension erhoben werden? Wenn ja, bliebe der Diskurs jedenfalls kein philosophischer mehr. Diese Konsequenz hat der späte Heidegger ja auch gezogen.

§1.4.2 Einige Gedanken zum Umgang mit Heideggers Sprach- und Argumentationsstil Trotz - oder wegen? - seines Sprach- und Argumentationsstiles war die faktische Wirkung des "abschreckend schweren Buches" (Rentsch) "Sein und Zeit" auf die Philosophie und Theologie seit den zwanziger Jahren gewaltig. Die durchschnittliche Rezeptionsweise in der deutschen evangelischen Theologie 49 bewegte sich, wie noch erläutert werden wird, zwi-

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seine Philosophie ein bisher unbegangener "Weg" sei: "Heidegger likes to think of his philosophy as a 'way', and as he has pointed out explicitly, certainly not the only way" (Fay, 1977, S.119). Zur Kritik cf. Adomo, 21980, S. 122. Steiner, 1989, S. 114f, 221f. In der nichtdeutschsprachigen Philosophie und Theologie liegt die Sache insofern fundamental anders, als "Sein und Zeit" aufgrund seines Stiles nahezu "unübersetzbar"

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sehen "Eklektizismus" und "Glossismus" (Helmut Franz), Versuchen also, sich Terminologie, Sprach- und Argumentationsstil partiell oder ganz einzufügen und anzupassen. Wenn keine Einfügung oder Anpassung in diese Sprachwelt, wohl aber ein eindringliches Verstehen intendiert ist, wie kann dieses in hermeneutisch verantwortlicher Weise versucht werden? Der obige Hinweis auf die bis heute in ihren Möglichkeiten noch lange nicht ausgeschöpfte "Hermeneutik" Schleiermachers soll hier erweitert werden um die Nennung einiger Auslegungsgrundsätze, deren Relevanz für die Heidegger-Interpretation ich einsichtig machen will. Für einen Philosophen gibt es im Hinblick auf sein Verhältnis zur Alltagssprache die zwei grundsätzlichen Möglichkeiten, ihr semantisch-lexikalisch und syntaktisch-stilistisch möglichst weit zu entsprechen (so etwa die Intention der ordinary language philosophy) oder sich in sprachschöpferischer Weise von ihr zu entfernen (wie Heidegger dies tat). Eine völlige Entfernung von der Alltagssprache ist unmöglich, wenn ein Denkender noch verstanden werden will (hier ist an Wittgensteins Privatsprachenargument 50 zu erinnern). Eine sklavische Anbindung an sie dagegen dürfte zu philosophischer Unproduktivität führen. Heideggers Terminologie und Sprachstil liegen zwar weit ab von der Alltagssprache, bauen aber auf ihr auf und beziehen sich sogar oft, und nicht nur in polemisch-kritischer Weise, auf sie. 51 Eine Hermeneutik, die diesem doppelten Tatbestand Rechnung tragen will, muß das mögliche doppelte Verhältnis eines Sprechenden zu seiner Sprache explizit thematisieren. Eben dies hat Schleiermacher in seiner These vom Doppelcharakter der Auslegung ab grammatischer und psychologischer in leistungsfähiger Weise getan: ist - hier muß eine Interpretation hermeneutisch noch differenzierter gerechtfertigt und begründet werden (cf. Steiner, 1989, S.50-58, besonders S.57f). Schon die Tatsache, daß der englische Titel "Being and Time" nicht zum Ausdruck bringen kann, daß "Sein" im Deutschen eine Infinitivform ist, aber kein Partizip, betrügt eine hermeneutisch unreflektierte, einfach "wörtliche" Übersetzung von "Sein und Zeit" ins Englische um ihre Pointe. Denn an dieser Übersetzung hängt die "ontologische Differenz" Heideggers (Sein / Seiendes), damit das System dieser Philosophie insgesamt. Heideggers philosophischer Erfolg in Frankreich könnte sich umgekehrt u.a. der Reproduzierbarkeit der ontologischen Differenz in der französischen Sprache verdanken (l'être / l'étant). Eine durchsichtige Darstellung dieses Argumentes bietet Stegmüller I, S.645-672. In seinem neuen Buch stellt er die um dieses Argument kreisende neuartige WittgensteinDeutung von Kripke dar (Stegmüller IV, S. 1-160). Als Beleg sei hier aus GA 24 zitiert. Dort heißt es im Hinblick auf den existenzialen Begriff des "Verstehens": "Seine Bedeutung geht auf den gemeinen Sprachgebrauch zurück, wenn wir sagen: jemand kann einer Sache vorstehen, d.h. er versteht sich darauf" (GA 24, S.391f). - Damit ist, unabhängig davon, ob Heidegger den allgemeinen Sprachgebrauch seiner Zeit damit auch wirklich traf, gezeigt, daß er an ihn positiv anzuknüpfen intendierte.

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Hermeneutische und wahrheitskonzeptionale Überlegungen

"Das Verstehen ist nur ein Ineinandersein dieser beiden Momente (des grammatischen und psychologischen) ... Beide stehen einander völlig gleich, und mit Unrecht würde man die grammatische Interpretation die niedere und die psychologische die höhere nennen." 52

Grammatische Auslegung heißt dabei: Ich verstehe eine gegebene Rede auf der Basis des ihr zugrundeliegenden und für alle Sprecher geltenden Sprachsystems, welches syntaktische, semantische und pragmatische Codierungen vorgibt. Dieses Sprachsystem manifestiert sich faktisch aber in der gegebenen Alltagssprache. Psychologische Auslegung heißt demgegenüber, die sprechereigentümlichen und kreativen Qualitäten (welche identisch sein können, aber nicht müssen) einer jeden Sprachäußerung zu erheben. Das Ziel der psychologischen Interpretation ist dabei des näheren das nur approximierbare "vollkommene Verstehen des Stils" einer Rede. Die eigentümlichen Stilelemente eines schöpferischen Werkes sind dabei nicht als akzidentielle Abfallprodukte substantiell neuer Gedanken zu sehen, sondern Gedanke und Sprache entstehen in- und miteinander. Schleiermacher schreibt: "Das ganze Ziel ist zu bezeichnen als vollkommenes Verstehen des Stils. Gewohnt sind wir, unter Stil nur die Behandlung der Sprache zu verstehen. Allein Gedanke und Sprache gehen überall ineinander über, und die eigentümliche Art, den Gegenstand aufzufassen, geht in die Anordnung und somit auch in die Sprachbehandlung über. " 5 3

Es dürfte von daher plausibel sein, daß Heideggers Sprach- und Argumentationsstil aussichtsreich auf der Basis einer psychologischen Auslegung (mit den für sie - wie auch für die grammatische Seite - geltenden Hauptmethoden der Divination und Komparation) interpretiert werden kann, wenn diese von der grammatischen Auslegung nicht separiert, sondern mit ihr gleichberechtigt betrieben wird. Unter Komparation sind dabei alle Arten vergleichender Verfahren sowie induktive und deduktive Schlußmechanismen54 zu verstehen. Divination meint die schöpferische Rekonstruktion des vorgängigen schöpferischen Aktes (das "Erraten der individuellen Kombinationsweise"55 eines Autors), welche auf der Ebene der Schlußformen am ehesten mit der Abduktion56 verglichen werden kann. Eine Verkürzung der psychologischen Seite der Interpretation, wie sie die Auslegungslinie von Dilthey bis Gadamer bestimmte, muß jedoch scharf abgelehnt werden. Insbesondere ist mit Frank nachdrücklich darauf hinzuweisen, daß psychologische Auslegung nicht als "Einfühlung" gedacht werden darf - dieser vielgebrauchte Terminus findet sich bei Schleiermacher 52 53 54 55 56

Schleiermacher, Hermeneutik, S.79. Ebd., S. 168. Mit Daube-Schackat, 1984, S.263-279, dort S.266. Schleiermacher, Hermeneutik, S.318, 322. So die Grundthese des Aufsatzes von Daube-Schackat, 1984, S.263-279.

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gar nicht. 57 Eine weitere Abgrenzung erscheint zur Präzisierung im Rückblick auf das bereits erörterte Verhältnis von Leben und Werk (oben §1.3) nötig. Geht es in der psychologischen Seite der Auslegung nach Schleiermacher wesentlich um das Auffinden des "Keimentschlusses" eines Werkes im Rahmen eines Lebens, so ist damit keineswegs primär die Frage gemeint, unter welchen Umständen seines Lebens ein Autor zu dem werkbestimmenden Grundgedanken gekommen ist. Es wird also nicht in erster Linie vom Leben auf das Werk geschlossen, vielmehr ist wichtiger die entgegengesetzte Frage: "... was bedeutet der wahre, innere Keim des Werkes, der Entschluß im Leben des Verfassers?"58

Natürlich weiß Schleiermacher, daß beide Fragen ihren Ort in der psychologischen Seite der Auslegung haben, aber Primat hat in ihr die Frage nach dem Keimentschluß in der Ordnung [Werk - > Leben]. Dies stimmt überein mit der hier in §1.3 vertretenen hermeneutischen These, daß eine sorgfaltige Werkanalyse Vorrang haben solle vor einer oftmals kurzschlüssigen (weil monokausalen) Ableitung der Grundgedanken des Werkes aus dem Leben des Verfassers. §1.5 Problematik und Chance einer Außenperspektive Es wurde schon gezeigt, daß die gegenwärtige Heidegger-Interpretation unter dem Signum der unaufhebbaren Dualität von Binnen- und Außenperspektive steht. Die wesentliche Ursache für diese Situation dürfte in dem gezeigten eigentümlichen Sprach- und Argumentationsstil Heideggers liegen. Wer seine Begrifflichkeit nicht bloß eklektizistisch anzapft, sondern in toto zu verstehen versucht, steht in Gefahr, diese - und mit ihr eine philosophische Position - komplett zu übernehmen, oder aber sie als kryptische "Privatsprache" - und mit ihr die philosophische Position - ganz abzulehnen. Äußerungen wie die des Heidegger-Schülers Biemel, wir seien zu einer Deutung dieses Werkes überhaupt nicht imstande59, führen den Außenstehenden, der nicht bereit ist, die existenzialontologische Terminologie und Argumentationsweise zu reproduzieren, zu der Frage, ob man angesichts solcher Bescheidenheitstopoi nicht eher schweigen sollte, statt sich der Gefahr vollkommenen Mißverstehens auszusetzen. 57 58 59

Frank, 1977, S.47. Schleiermacher, Hermeneutik, S. 186. So Biemel, 1973, S.126-129. Denn Heideggers Werk sei "... ein Gebirge, das wir noch nicht zu besteigen imstande sind" (Biemel, 1973, S.149).

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Hermeneutische und wahrheitskonzeptionale Überlegungen

Nun wissen wir aber (erstens) seit Schleiermacher, daß in jedem Auslegungsversuch das Mißverstehen die Regel ist und das Verstehen sich nicht von selbst ergibt, sondern nur kunstmäßig vorbereitet und organisiert werden kann, ohne daß das Mißverstehen jemals gänzlich zu beseitigen wäre. 60 Können wir ferner (zweitens), wie oben postuliert, davon ausgehen, daß wenigstens ein Intentionszusammenhang, vielleicht sogar ein Mitteilungszusammenhang zwischen dem Denken Heideggers und der analytisch-semiotischen Philosophie existiert, ermutigt dies zu einem kunstmäßig geleiteten Verstehensversuch. Schließlich kann (drittens) darauf verwiesen werden, daß Heidegger selbst in seinen Lehrveranstaltungen (wenn etwa Studenten Protokolle schrieben) die Reproduktion seiner Terminologie mit den schroffen Worten: "Hier wird nicht geheideggert!" ablehnte.61 Es ging ihm also durchaus um die freie, selbständige Ausbildung des Denkens und der Begrifflichkeit seiner Schüler. Eine Außenperspektive zu Heidegger muß folglich auch nach dessen eigener Meinung möglich sein. Im übrigen muß m.E. ein Theologe sogar notwendig eine Außenperspektive zu Heidegger einnehmen. Denn die erste und einzige Frage dieses Philosophen nach dem Sinn des Seins ist keine theologische Frage und läßt sich mit theologischen Fragestellungen keineswegs leicht in Harmonie bringen, wie Annemarie Gethmann-Siefert in einer gründlichen Studie gezeigt hat. Insbesondere eine korrelative Gleichsetzung von Sein und Gott (wie etwa bei Tillich) entspricht Heideggers Auffassung nicht62 und ist auch sachlich unmöglich. Wie aber können Theologen sich dann überhaupt auf Heideggers Philosophie beziehen? Helmut Franz hat zwei Gruppen von Theologen in Abhängigkeit von Heidegger beschrieben, die Eklektizisten und die Glossisten63, solche, die dessen Begrifflichkeit in zum Teil willkürlicher Auswahl übernehmen, und andere, die seiner Terminologie in toto zu folgen versuchen. Dabei ging er 60

61 62

63

Zu diesen Zusammenhängen cf. Schleiermacher, Hermeneutik, S.75f, 93f, 324, 328, 331, 334f. Weil das Mißverstehen prinzipiell unauflösbar ist, ist die hermeneutische Aufgabe "... eine unendliche" (ebd., S.94). Wann der Annäherungsprozeß der Auslegung vom Auslegungssubjekt vorläufig beendet wird, ist daher durch praktische ("pragmatische") Erwägungen bestimmt: "Wie weit man aber und auf welche Seite man vorzüglich mit der Annäherung gehen will, das muß jedenfalls praktisch entschieden werden [Hervorhebung von mir, EMP] und gehört höchstens in eine Spezialhermeneutik, nicht in die allgemeine" (ebd., S.94). Rodi bezeichnet vorläufig erreichte Auslegungsresultate als "Ruhepunkte", "Haltepunkte" oder "Male" (Rodi, 1990, S.lOf).- Zur Unwahrscheinlichkeit des Gelingens von Kommunikation überhaupt cf. Luhmann, 1987, S.216ff. Belegt durch Biemel (1973, S.16) und Georg Picht: "Die Macht des Denkens", in: Neske/Kettering (Hg.), 1988, S. 175-183, dort S.180. Heidegger, Hum, S.328.- Aus der Sekundärliteratur cf. Gethmann-Siefert (1974, S. 154f) sowie die zu ähnlichen Ergebnissen gelangende Arbeit von Jäger (1978, S.2060). Franz, 1961, S. 179-216.

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von der These aus, das Denken spreche "heute" (1961!) wesentlich in der Sprache Heideggers zu uns, daher müßten wir in diese Sprache "einkehren"64, Glossisten sein. Dieser These kann widersprochen werden. Denn einmal ist Heideggers Denken nur eine Variante oder Position der Gegenwartsphilosophie (das war auch 1961 nicht anders), zweitens aber darf die evangelische Theologie sich überhaupt nicht in eine totale Abhängigkeit von irgendeiner philosophischen Terminologie oder Position begeben, weil sie primär von ihrer eigenen Fragestellung geleitet in ihrer eigenen Tradition stehend ihrem ureigenen Zwecke, der Kirchenleitung im weiten Sinne, zu dienen hat. Dazu wird sie selbstverständlich das Gespräch mit der Gegenwartsphilosophie, auch mit Heidegger, suchen, freilich in dem Sinne einer offenen und konfliktbereiten Partnerschaft.65 Systemtheoretisch läßt sich das Problem auch so formulieren: Betrachtet man die Philosophie Heideggers als ein Subsystem des Systems Philosophie, die analytische Philosophie als ein anderes Subsystem, ergibt sich für ein System Theologie, das primär den Dialog mit dem zweiten Subsystem sucht, eine doppelte systemische Außenperspektive zum ersteren. Um nun ein Gespräch führen zu können, muß eine innersystemische Rekonstruktion von Grundbegriffen und Grundunterscheidungen über eine doppelte Systemgrenze hinweg versucht werden. Dabei muß die Komplexität des Subsystems der Heideggerschen Philosophie reduziert werden; eine solche Komplexitätsreduktion ist riskant. Für jede derartige Interpretation gilt folglich in besonderer Weise, daß sie ein Wagnis darstellt. Ich will im folgenden das Gespräch mit der Philosophie Heideggers suchen. Dabei gehe ich erstens von der Vermutung aus, daß diese Philosophie uns etwas zu sagen hat, intern konsistent und leistungsfähig ist. Ich gebe ihr also einen "Vertrauensvorschuß". Zweitens gehe ich davon aus, daß meine Außenperspektive zu dieser Philosophie auch eine Chance darstellt, sowohl spezifische Stärken als auch Defizite und Schwächen des Ansatzes unvoreingenommener sehen zu können, als ein "Schul-Mitglied" dies vielleicht könnte. Doch ist hiermit vorausgesetzt, daß ein Verstehen "von außen" überhaupt möglich ist. Dies setze ich allerdings voraus, sogar in dem "starken" Sinne, den Schleiermachers hermeneutischer Grundsatz formuliert: "Die Aufgabe ist auch so auszudrücken, 'die Rede zuerst ebensogut und dann besser zu verstehen als ihr Urheber.' " 66

64 65

66

Ebd., S.186f. Insofern stimme ich Mörchens Intention zu, wie er sie in dem Beitrag: "Zur Offenhaltung der Kommunikation zwischen der Theologie Rudolf Bultmanns und dem Denken Martin Heideggers" (1984, S.234-252) dargelegt hat (cf. dort bes. S.25If). Schleiermacher, Hermeneutik, S.94 (cf. ebd., S.325). Zur Geschichte dieser Maxime cf. die Ausführungen bei Gadamer (Wahrheit, S. 195-201).

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Hermeneutische und wahrheitskonzeptionale Überlegungen

Heidegger, der Schleiermachers "Hermeneutik" über seine Beschäftigung mit Dilthey kannte, hat diese Auslegungsmaxime freilich nicht akzeptiert, sondern kritisiert und modifiziert. So sagt er etwa: "Eine rechte Erläuterung versteht jedoch den Text nie besser als dessen Verfasser ihn verstand, wohl aber anders. Allein, dieses Andere muß so sein, daß es das Selbe trifft, dem der erläuterte Text nachdenkt."67 Heidegger überspringt damit nicht nur den ersten Teil der Maxime, die Rede des Autors nämlich "zuerst ebensogut" wie der Autor verstehen zu wollen, sondern modifiziert auch deren zweiten Teil, die Intention des Besser-verstehens-als... in eine des Anders-verstehens-als. Daß diese "Andersheit" des Verstehens freilich konstitutiv auf eine "Selbigkeit" der Sache bezogen ist, rückt ihn wieder in die Nähe Schleiermachers. Es fragt sich sogar, ob die von Heidegger modifizierte Maxime in einer semiotischen Interpretation68 nicht sehr nahe bei Schleiermacher liegt. Auch ist die explizite Voraussetzung dieser "starken" hermeneutischen Maxime ja, wie oben betont, der gegebene Regelfall des Mißverstehens fremder Äußerungen. Eine Abgrenzung möchte ich noch vornehmen gegen Heideggers eigene Auffassung von Interpretation. An gegebener Stelle vertritt dieser nämlich Heidegger: "Nietzsches Wort 'Gott ist tot'" (in: HW, S.205-263, dort S.209). - Cf. auch ders.: "Aus einem Gespräch von der Sprache. Zwischen einem Japaner und einem Fragenden", in: USpr, S.134. Diese semiotische Rekonstruktion geht von dem Zeichenbegriff von Peirce aus, demzufolge ein Zeichen (nur) von einem anderen Zeichen, welches sein Interprétant heißt, interpretiert werden kann, welcher Interprétant wiederum eines Interpretanten bedarf und so fort in einem unendlichen Progreß. "Ein Zeichen oder Repräsentanten ist alles, was in einer solchen Beziehung zu einem Zweiten steht, das sein Objekt genannt wird, daß es fähig ist [, sie] ein Drittes, das sein Interprétant genannt wird, dahingehend zu bestimmen, in derselben triadischen Relation zu jener Relation auf das Objekt zu stehen, in der es selbst steht. Dies bedeutet, daß der Interprétant selbst ein Zeichen ist, der ein Zeichen desselben Objekts bestimmt und so fort ohne Ende" (Peirce, 1983, S.64). Eine abschließende Interpretation ist nach diesem "Gesetz von der unendlichen Semiose" (U. Eco) nicht möglich, genausowenig die Identität der Interpretanten eines Zeichens. Einen Interpretanten bilden heißt immer, ein Zeichen anders zu verstehen, als der Sprecher es verstand. Dies schließt aber nicht aus, sondern ein, daß ein kompetenter Interpret einen Interpretanten bilden kann, der aufgrund seiner Komplexität das zu interpretierende Zeichen sowohl hinsichtlich seines intensionalen Gehaltes als auch hinsichtlich seiner Voraussetzungen, der dem Zeichenproduzenten unbewußten Motive und Konnotationen besser zu rekonstruieren vermag, als der zeichenbildende Sprecher dies leisten könnte. Semiotisch gesehen ist also die Tatsache, daß ein Zeichenrezipient einen Zeichenkomplex anders versteht als der Zeichenproduzent selbst, die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß er diesen besser verstehen kann als der Produzent. Daß auch Heidegger die genannte Auslegungsmaxime gelegentlich vertreten konnte, beweist im übrigen ein Blick in GA 25, S.3f.

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die Meinung, seiner existenzialen Analyse eigne der Grundzug der Gewaltsamkeit (SuZ, S.311-313), weil jede Interpretation als ein sich ausbildendes Verstellen den Charakter des Entwerfern habe. Zwar schwächt er diese These ab, indem er auch die Gewaltsamkeit der Interpretation unter die Forderung der "phänomenalen Angemessenheit" stellt. Führt man sich allerdings seine eigene Interpretationspraxis - etwa seine berüchtigte Kantauslegung - vor Augen, wird deutlich, wie solch "gewaltsame", ja gewalttätige Interpretation dem interpretierten Text jedenfalls nicht mehr angemessen ist. 69 Demgegenüber möchte ich mir in dieser Arbeit eher eine vor- und rücksichtige Behutsamkeit zur Auslegungsmaxime machen. Im übrigen kann ich Rentsch zustimmen, der bemerkt: "Wo Heidegger meint, die Gemeinschaft der Argumentierenden verlassen zu müssen, da wird er nicht genialer, sondern diffuser ... Es ist daher der Philosophie nach Heidegger die zentrale Aufgabe gestellt, sein Denken von romantischen und mythischen Elementen zu befreien und es da aufzunehmen, wo es analytisch und argumentativ stark ist. " 70

Analog auch Mark Okrent: "What is needed is an interpretation comprehensible to all philosophers - including those trained in an analytic way - which shows in a straightforward though not uncontroversial manner the impact of Heidegger's work on central questions in contemporary philosophy ... " 71 .

Daß diesen Desideraten eine Auslegung im Sinne der hermeneutischen Prinzipien Schleiermachers genüge tun könnte, sollten die obigen Bemerkungen plausibel machen. So lautet meine These am Ende dieser hermeneutischen Besinnung: Auf der Basis der weit angelegten und komplexen Hermeneutik Schleiermachers zeichnet sich die Möglichkeit und Chance einer kontrollierbaren und kommunikationsbereiten Interpretation des Werkes Martin Heideggers aus einer Außenperspektive heraus ab.12

69 70 71 72

Siehe Stegmüllers Kritik an Heideggers Kant-Auslegung in Stegmüller I, S. 178-188. Rentsch, 1989a, S.230f. Okrent, 1988, S.4. Damit ist nicht gesagt: Es gehe nur so, nur auf der Basis dieser Hermeneutik. Ich gehe vielmehr davon aus (1), daß zwischen analytischen und hermeneutischen Methoden kein grundsätzlicher Konflikt nötig ist - cf. dafür z.B. die wichtige, vermittelnde Funktion der Arbeiten von G. H. von Wright nach Stegmüllers Darstellung (Stegmüller II, S. 103-147). Ich meine ferner (2), daß auch Heidegger Schleiermachers Hermeneutik als eine in bezug auf Textauslegung leistungsfähige Regionalhermeneutik akzeptiert hätte.

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Hermeneutische und wahrheitskonzeptionale Überlegungen

Denn die von dieser Grundsatzposition aus vorgenommene Auslegung dürfte - wie hier freilich nur skizziert werden konnte - imstande sein, die bezeichneten vier Hauptschwierigkeiten (§§1.2-1.5) angemessen zu bewältigen. 73 Jedoch kann nur der Gang der Untersuchung selbst - um eine häufige Argumentationsfigur Heideggers aufzunehmen - das Vorgehen als sinnvoll und adäquat erweisen.

Freilich nicht in der Weise eines mechanisierenden Verfahrens (Schleiermacher, Hermeneutik, S.80f, 309), sondern in Form eines lebendigen, approximierenden "Oszillierens" (cf. Hermeneutik, S.81 und ders., Dialektik, S.178, 159f und 372) zwischen den Seiten und Methoden der Auslegung.

§2. Die "Wahrheitsfrage". Versuch einer terminologischen Klärung "Bedenken wir nun, daß der Geist Gottes die einzige Quelle der Wahrheit ist, so werden wir die Wahrheit, wo sie uns auch entgegentritt, weder verwerfen noch verachten - sonst wären wir Verächter des Geistes Gottes!" (Calvin, Institutio, II 2, 15).

§2.1 Die Ausgangslage: Das Desiderat einer terminologischen Klärung Das Werk Martin Heideggers und sein Beitrag zur "Wahrheitsfrage" sind aus unserer Außenperspektive heraus mindestens genau dann sinnvoll auslegbar, wenn es gelingt, sie zur philosophischen Diskussion um den Wahrheitsbegriff in unserem Jahrhundert in eine angebbare Beziehung zu setzen. Dies gilt nach den Grundsätzen komparativer Interpretation, hat aber seinen tieferen Grund im hermeneutischen Fundamentalsatz, daß alles Einzelne, auch das Werk eines Philosophen als Einzelnes, nur aus dem Ganzen heraus verstanden werden kann, dem umfassenden philosophischen Diskurs der Gegenwart, der selber freilich wiederum nur Teil des philosophischen Diskurses überhaupt ist. Die Beschränkung auf den Gegenwartsdiskurs ist aus praktischen Gründen vorzunehmen. Eine philosophiegeschichtlich umfassende Nachzeichnung des Wahrheitsdiskurses und anschließende Einordnung Heideggers kann hier nicht geleistet werden. Bei dem Versuch, die gegenwärtige Diskussionslandschaft1 systematisch zu überschauen, gelangt man zu folgender Ausgangshypothese: Viele Diskussionen um die Wahrheitsfrage kommen schon deshalb zu keinem Ergebnis oder bleiben gar im Vorfeld stecken, weil fundamental unklar bleibt, was eigentlich Gegenstand der Erörterung ist und auf welcher Ebene des Problemzusammenhanges gerade diskutiert wird. Diese Hypothese soll eingangs belegt werden.

Auf einige grundlegende philosophische Titel sei an dieser Stelle verwiesen: Skirbekk (Hg.), 1980; Puntel, 21983; ders. (Hg.), 1987; ders., 1990a; Hoven, 1989. Zwei neuere theologische Titel können die Schwierigkeit und streckenweise Unübersichtlichkeit des gegenwärtigen Wahrheitsdiskurses in der Theologie dokumentieren: Coreth (Hg.), 1987 (für den römisch-katholischen Bereich); Müller (Hg.), 1989.

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Hermeneutische und wahrheitskonzeptionale Überlegungen

§2.7.7

Belege für die semantische Ungeklärtheit im Bereich der Wahrheitsfrage

Semantisch wird die angezeigte Unklarheit manifest in der Verwendung von verschiedenen Titeln, die Ebenen oder Stufen des Problemzusammenhanges markieren, aber unscharf verwendet werden. Begriffe werden zum Beispiel nicht univok verwendet, falsch voneinander unterschieden oder zu Unrecht als synonym betrachtet. So werden u.a. die Begriffe Wahrheitsfrage, Wahrheitsproblem, Wahrheitsbegriff, Wahrheitsdefinition, Wahrheitstheorie, Wahrheitsverständnis, Wahrheitskriterium undifferenziert nebeneinander oder synonym verwendet. Läßt sich dieses procedere im Falle von Heideggers Terminologie noch verstehen, so gilt dies nicht für neuere Arbeiten, wenn sie über eine solche Vorgehensweise nicht hinausgelangen. Dennoch möchte ich im Rahmen dieser Arbeit die begrifflichen Ungeklärtheiten zunächst für Heideggers Werk belegen. Heidegger redet in Sein und Zeit vom "Verständnis der Wahrheit" (S.225), vom "Wahrheitsbegriff" (S.33f, 24lf, 219, 225), von der "Definition der Wahrheit" (S.219f), vom "Wahrheitsproblem" (S.154), vom "Wahrheitsphänomen" (S.213f, 220f, 223), von der "phänomenologischen Wahrheitstheorie" (S.218, Anm.l) 2 , sogar, wenn auch nur im auf die Historie eingeschränkten Sinne, von "Kriterien der Wahrheit" (S.395). Alle diese Termini, mit Ausnahme des letzteren, scheinen synonym verwendet zu sein.3 Ein Überblick über die neuere Sekundärliteratur zu Heidegger bietet (leider) kein wesentlich anderes Bild: Heideggers ö/#A«'a-Auffassung oder ö/#/j«'ö-Konzeption (wie ich hier mit Absicht ganz unbestimmt sage) wird im Wahrheitsdiskurs zum Beispiel verstanden als ein Wahrheitsbegriff (Tugendhat 21970, Schönleben 1987)4, Der wohl früheste Beleg für den Begriff der "Wahrheitstheorie" bei Heidegger findet sich in seiner Habilitationsschrift "Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus" (1915), in: GA 1, S.189^11, dort S.406. Weitere Belege ließen sich in Fülle aus den veröffentlichten Marburger Vorlesungen geben, cf. etwa GA 21. Dort ist auf nicht einmal zehn Textseiten von "Wahrheitsproblem" (S.169ff), "Wahrheitsfrage" (S.171), "Wahrheitsbegriff" (S.170) und "Wahrheitstheorie" (S.162) die Rede. Tugendhat, 2 1970; Schönleben, 1987.- Bei beiden Büchern zeigt schon der Titel ("Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger") bzw. der Untertitel ("Wahrheit und Existenz: Zu Heideggers phänomenologischer Grundlegung des überlieferten Wahrheitsbegriffes als Übereinstimmung") an, daß Heideggers Beitrag zur Wahrheitsfrage jeweils als ein den Wahlheitsbegriff betreffender gedacht ist.- An beiden Büchern läßt sich auch meine These belegen, daß eine Unterscheidung der Strukturebenen des Wahrheitsproblems ein dringendes Forschungsdesiderat darstellt. Schönleben zeigt, daß Tugendhat synonym von "Wahrheitsproblem", "Wahrheitsfrage", "Wahrheitsbezug" und "spezifischem Wahrheitsbegriff" redet (Schönleben, S.235, Anm. 166) - zu ergänzen wäre noch: auch von "Wahrheitstheorie" (Tugendhat,

Die "Wahrheitsfrage". Versuch einer terminologischen Klärung

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als eine Theorie der Wahrheit (Skirbekk 1977, Pietersma 1978, Tertulian 1990 u.a. - anders aber Lorenz Bruno Puntel 2 1983), oder als eine Furtdamentalaletheiologie (Kettering 1989)5. Häufig verwenden Autoren sogar eine ganze Reihe verschiedener Begriffe, ohne diese in irgendeiner Weise zu erläutern. Eine repräsentative Illustration allgemeiner Begriffsverwirrung: In Hans Ebelings neuer, einführender Heidegger-Darstellung (1991) findet sich auf nur vier Textseiten die ununterschiedene und nicht explizierte Rede von "Wahrheitstheorie", "Wahrheitsthese", "Wahrheitsfrage", "Wahrheitskriterium", "Wahrheitskonzeption", "Wahrheitsverständnis" und "Wahrheitslehre".6 Dies mag zwar stilistisch als angenehme Variation intendiert sein, dient aber gewiß nicht der Klarheit oder differenzierteren Beurteilung Heideggers. Das unhintergehbare Signum gegenwärtiger Heidegger-Forschung, die Dualität der Außen- und Binnenperspektiven, führte vor diesem Hintergrund gerade hinsichtlich der (im weitesten Sinne gefaßten) Wahrheitsthematik in der Vergangenheit zu extrem unterschiedlichen Urteilen: Während einige Interpreten Heideggers aletheia-Auffassung oder -Konzeption der Wahrheit als einen bedeutenden, ja bahnbrechenden Beitrag bewerten (so etwa Wiplinger 1961, Bretschneider 1965, Schönleben 1987, die Heideggers Konzeption der Wahrheit umfänglich paraphrasieren und überschwenglich feiern), lehnen andere diese als nichtssagend, irreführend (Puntel 2 1983) 7 oder höchst problematisch, wenn nicht vollkommen verfehlt (Tugendhat 21970) ab. Wie kommt es zu solch disparaten Bewertungen? Welcher von ihnen kann oder muß zugestimmt werden? Oder wird möglicherweise in all diesen unterschiedlichen Perspektiven etwas Richtiges gesehen, so daß nur eine Perspektivendifferenz, aber kein kontradiktorischer Widerspruch vorliegen würde? Jedenfalls fällt auf, daß die hier in aller Kürze skizzierte grundlegende Unklarheit sowohl bei Befürwortern als auch bei Gegnern der Philosophie Heideggers wiederkehrt, so daß es hilfreich sein könnte, im Anschluß an ausgewiesene Positionen (etwa Tarski, Stegmüller, Puntel) einige Schritte

5 6

7

S.330) -, aber auch Schönleben selbst leistet keine diesbezügliche Differenzierung, weil er zu sehr im immanenten Referat Heideggers verbleibt (hierzu cf. wiederum zutreffend Tugendhat, S.7). Kettering, 1989, S.201-214. Hans Ebeling, 1991, S.69-73. Ebelings Kritik an Heideggers Wahrheitskonzeption, die er mit "Preisgabe des Wahrheitskriteriums" (ebd., S.69-74) überschreibt, bleibt vor dem Hintergrund der angezeigten Begriffekonfusion völlig haltlos. Puntel sieht in Heideggers Wahrheitskonzeption allenfalls "... Fragmente, die, wenn man sie irgendwie aufeinander bezieht, ein unstimmiges Gesamtmosaik ergeben", das höchstens noch "... genetisch-biographischen Wert haben" könne (Puntel, 2 1983, S. 17f). Auch in seinem neuesten Buch streift Puntel Heidegger nur, um an ihm Sackgassen wahrheitstheoretischer Forschung aufzuzeigen (cf. Puntel, 1990a, S.102, 301, 307).

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Hermeneutische und wahrheitskonzeptionale Überlegungen

in Richtung einer semantischen Klärung von Grundbegriffen und einer Unterscheidung der Problemebenen zu gehen. Nur so scheint es mir jedenfalls sinnvoll möglich, das Gespräch mit der a/tfAeia-Auffassung der Wahrheit überhaupt zu eröffnen. Dabei möchte ich betonen, daß ich im folgenden Paragraphen einige - wie ich hoffe - plausible und erhellende Klärungsvorschläge machen werde, eine zwingende terminologische Fixierung in diesem Bereich jedoch nicht für möglich halte. Wichtiger als diese scheint mir die Struktur der getroffenen Unterscheidungen, die ich für unhintergehbar halte. §2.i.2 Versuch einer Unterscheidung der Strukturebenen des Wahrheitsproblems Im folgenden möchte ich von Wahrheitsfrage (=Wahrheitsproblem) reden, um anzuzeigen, daß die Rede von "Wahrheit" selbst terminologisch unklar ist und das Desiderat einer Klärung besteht. Der Versuch der Antwort auf die Wahrheitsfrage wird in dem umrißhaften Klärungsversuch bestehen, der hier vorgelegt wird. (Von diesem Begriff zu unterscheiden ist der engere Sinn des Wortes "Wahrheitsfrage", der sich so reformulieren läßt: Wann immer zu entscheiden ist, ob eine Aussage oder Behauptung wahr oder falsch ist, stellt sich die Wahrheitsfrage.) Einen hilfreichen Versuch, Licht in das Dunkel der Wahrheitstheorie zu bringen, stellt der Beitrag von Härle8 dar, der den Vorzug hat, eine Reihe von neueren wahrheitstheoretischen Entwürfen im Hinblick auf ihren Ort im Ganzen dieser Theorie integrieren zu können: Der fundamentale Status der Wahrheitsdefinition wird im Anschluß an Tarski von Härle deutlich herausgestellt. Auch findet die umstrittene Wahrheitstheorie von Jürgen Habermas als eine Teiltheorie der Wahrheitstheorie, nämlich als eine Verfahrenstheorie der Wahrheitsfindung, ihren systematischen Ort. 9 Ferner wird die sog. Kohärenztheorie der Wahrheit als kriteriologische Teiltheorie adaptiert.10 Den bisher wohl umfassendsten und anspruchsvollsten Ansatz einer wahrheitstheoretischen Rekonstruktion hat wiederum Puntel (1987/1990a) vorgelegt. Dabei werden innerhalb der Theorie der Wahrheit fünf Teiltheorien unterschieden: die explikativ-definitionale, die kriteriologische, die ty-

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Härle, 2 1987, S. 169-187. Analog auch Schwöbel, 1983, S.283-289. Habermas: "Wahrheitstheorien" (1972); mit einigen neuen Anmerkungen versehen wieder veröffentlicht in: Habermas, 2 1986, S. 127-183. So Härle, 2 1987, S. 178-183.- Analog hatte ursprünglich auch Nicholas Rescher argumentiert (1973), ehe er (1987) für eine nicht bloß kriteriologische, sondern zugleich definitionale Kohärenztheorie der Wahrheit plädierte.

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pologische, die paradoxologische und die wissenschaftstheoretische Teiltheorie der Wahrheitstheorie.11 Aber auch von Härles und Puntels Beiträgen her bleibt eigentümlich unbestimmt, wie Heideggers Beitrag zum Diskurs um das Wahrheitsproblem sachgemäß und -gerecht einzuordnen wäre. Handelt es sich bei Heideggers Konzeption überhaupt um eine Theorie der Wahrheit? Um diese Frage beantworten zu können, liegt mir im Vorgriff an der Unterscheidung von mindestens vier Ebenen: Als fundamentalste Ebene betrachte ich das weite semantische Feld des Wahrheitsverständnisses, das einen in der Regel noch ungeklärten Wahrheitsbegriff12 einschließt. Dieser kann im Rahmen einer theoretischen Besinnung, einer Theorie der Wahrheit, einer Klärung im Sinne einer Explikation und/oder Definition zugeführt werden. Jedoch ist damit nur eine Aufgabe der Wahrheitstheorie genannt. Schließlich kann gefragt werden, im Rahmen welcher umfassenden Theorie die Theorie der Wahrheit selbst ihren Ort hat: Hierfür hat Emil Kettering den Begriff der Fundamentalaletheiologie geprägt. Klassisch ist dagegen die Einordnung in den Rahmen der Erkenntnistheorie. Als neutralen Oberbegriff, der nicht präjudizieren will, ob Heideggers theoretisch-systematischer Beitrag zur Wahrheitsfrage eine Wahrheitstheorie oder eine Fundamentalaletheiologie/Erkenntnistheorie oder auch die Konjunktion von beidem darstellt, verwende ich im folgenden den Begriff "Wahrheitskonzeption". Von dieser Unterscheidung der Problemebenen aus gliedern sich die folgenden Kapitel wie folgt: Zunächst wird die Ebene des Wahrheitsverständnisses aus der Perspektive der Wahrheitstheorie (§2.2) dargestellt; anschließend werden Wahrheitsbegriff, Wahrheitsexplikation, Wahrheitsdefinition unterschieden (2.3); vom Wahrheitsverständnis aus wird zur Ebene der Wahrheitstheorie hingeführt (§2.4); reflektiert wird auch die Ebene der Rahmentheorie der Wahrheitstheorie: Erkenntnistheorie oder Fundamentalaletheiologie? (§2.6); eingeschoben wird sodann eine Reflexion über die Meta-Kriterien der Wahrheitstheorie, d.h. über Kriterien zur Beurteilung der Leistungsfähigkeit von Wahrheitstheorien (§2.5); ausklingen soll dieser Paragraph in einer kurzen Zusammenfassung der getroffenen Unterscheidungen der Strukturebenen des Wahrheitsproblems (§2.7).

Mit dieser Begrifflichkeit arbeitete Puntel 1987, S.l-33, dort S.2ff. Inzwischen (cf. Puntel, 1990a) hat sich die Terminologie etwas verschoben, worauf ich unten eingehen werde. Das Wort "Begriff wird im folgenden in einem anspruchslosen Sinne, nicht aber wie bei Dalferth - als "Intension eines normierten Prädikators (Terminus)" (Dalferth, 1981, S.257) verstanden. Vielmehr ist mit Wahrheitsbegriff einfach gemeint: Das klärungsbedürftige (und allererst zu normierende) semantische Zentrum des alltagssprachlichen Verständnisses von Wahrheit.

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Hermeneutische und wahiheitskonzeptionale Überlegungen

§2.2 Die Ebene des Wahrheitsverständnisses aus der Perspektive der Wahrheitstheorie §2.2./ Allgemeine Charakteristika des Wahrheitsverständnisses Hier muß vorausgeschickt werden, daß die folgenden Charakteristika des Wahrheitsverständnisses aus der Perspektive der Wahrheitstheorie, d.h. aber nachträglich, rekonstruktiv so unterschieden werden können. Für die alltagssprachliche Verwendung der Worte "wahr" und "Wahrheit" ist gerade kennzeichnend, daß diese Charakteristika nicht voneinander abgehoben werden (können). §2.2.7.7 Vagheit, Weite, Komplexität Das semantische Feld des Wahrheitsbegriffes (=das Wahrheitsverständnis) ist in der deutschen Alltagssprache außerordentlich vage, weit und komplex. Vage und weit ist dieses Feld, weil die Umgangssprache "nichts 'Fertiges', Abgeschlossenes, durch deutliche Grenzen Umrissenes"13 ist. Um sich einen Eindruck zu verschaffen, mag für die deutsche Sprache ein Blick in den umfangreichen Eintrag zu "Wahrheit" im Grimmschen Wörterbuch14 genügen. Wenn hier von Komplexität geredet wird, ist diese im Luhmannschen Sinne gedacht: "Als komplex wollen wir eine zusammenhängende Menge von Elementen bezeichnen, wenn auf Grund immanenter Beschränkungen der Verknüpfungskapazität der Elemente nicht mehr jedes Element jederzeit mit jedem anderen verknüpft sein kann."'^

Komplexität kann, muß aber keineswegs Selbstwidersprüchlichkeit (als eine spezielle Form von Nichtverknüpfbarkeit) einschließen. Im Falle des Wahrheitsverständnisses scheint die Gefahr der Selbstwidersprüchlichkeit aus zwei Gründen gegeben. Der eine besteht in der hier aufzuzeigenden Vielzahl einander ausschließender Möglichkeiten der Verwendung der Begriffe "wahr" und "Wahrheit". Der zweite, entscheidendere Grund dafür liegt in der in jedem Text gegebenen Möglichkeit der Selbstrückbezüglichkeit von "Wahrheit" im Sinne des Lügner-Paradoxes (hierzu cf. unten §2.4.3.4).

13 14 15

Tarski, 1935, S.443-546, dort S.457. Cf. Grimmsches Wörterbuch, 1922, Sp.839-922 (einschließlich der Komposita). Luhmann, 1987, S.46.

Die "WahrheitsfrageVersuch einer terminologischen Klärung

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§2.2.1.2 Designatorische und prädikative Verwendungsweisen des Wahrheitsbegriffes In der deutschen Sprache, aber auch in anderen indogermanischen Sprachen wird zumeist entweder das Substantiv "Wahrheit" oder das Adjektiv "wahr" verwendet. 16 Ein gleichursprüngliches Verbum liegt nicht vor. 1 7 Es lassen sich (anhand eines Beispielsatzes) grundlegend zwei Verwendungsweisen unterscheiden: "Und der das gesehen hat, der hat es bezeugt, und sein Zeugnis ist wahr, [Hervorhebung, EMP] und er weiß, daß er die Wahrheit sagt, [Hervorhebung, EMP] damit auch ihr glaubt" (Joh 19, 35). Als Normalformen der Verwendung lassen sich aus diesem Beispiel abstrahieren: [VI] Etwas (x) ist wahr für eine Person (P). [V2] Eine Person (P) sagt/sucht die Wahrheit. Die erste Verwendungsweise läßt sich unter sprachlogischem Aspekt als prädikativ beschreiben, denn es wird ein (x), das im Regelfalle eine Aussage/Proposition o.ä. darstellt, als wahr prädiziert. 18 Die zweite Verwendungsweise (V2) läßt sich auf mehrere Weisen verstehen: Entweder haben wir es mit einer abgekürzten Redeweise zu tun, die sich aus einer ursprünglich prädikativen ableitet, dann wäre (V2) äquivalent mit: Keller unterscheidet den "substantivischen" und den "attributiven" Wahrheitsbegriff voneinander (Keller, 21990, S.121). Puntel analysiert "Wahr(heit)" syntaktisch wie folgt: Der Begriff wird in deutscher Sprache entweder als Substantiv oder aber als Adjektiv, sei es in rein attributiver, sei es in attributiver und/oder prädikativer Stellung, oder als Operator ("es ist wahr, daß ...") oder gar als Adverb ("wahrlich") gebraucht (cf. Puntel, 1990a, S.308ff). Uns kommt es hier auf die Herausstellung einer von diesen grammatischen Beobachtungen zu unterscheidenden sprachlogischen Alternative an, der von designatorischer und prädikativer Verwendungsweise. Die im Deutschen semantisch verwandten Verben [(be-) wahren/währen] und [bewahrheiten] sind entweder Derivate oder weisen Sinndifferenzen auf. Auch das Englische kennt nur "truth" und "true", obwohl hier sogar eine andere Wortwuizel vorliegt (die mit dem deutschen Wort "Treue" zusammenhängen dürfte - cf. Ehrlich, 1987, S.259-292, dort S.291). Im Griechischen liegt der Fall anders, aber das Verbum aletheuein wurde wohl auch dort seltener verwendet, als Adjektiv und Substantiv. Statistisch läßt sich somit sagen, daß der nominale Gebrauch vorherrscht, der verbale entweder gar nicht vorliegt oder peripher bleibt. Dies wird sogleich noch ausgeführt werden. Wichtig ist hier, festzuhalten, daß dieser Fall der alltagssprachlich häufigste ist.

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Hermeneutische und wahrheitskonzeptionale Überlegungen

(V2.1) P sagt (sucht herauszufinden), daß (ob) x wahr ist. Dieser Satz ist verstehbar, wenn x (z.B. als eine bestimmte Aussage in einem bestimmten Kontext) identifizierbar ist (und P als eine bestimmte Person). Eine etwas anders nuancierte, emphatischere Deutung führt zu: (V2.2) P teilt die ganze Wahrheit mit < - > P sagt die Menge aller x, für die gilt, daß sie wahr sind. In zeitlich-irdischen Kontexten kann mit der "ganzen Wahrheit" immer nur eine Bereichswahrheit, d.h. eine endliche Folge von einen bestimmten Bereich betreffenden wahren Aussagen gemeint sein. Die Emphase von V2.2 wird noch einmal gesteigert in Sätzen wie: (V2.3) P sucht die (ganze) Wahrheit. Damit ist entweder wiederum eine Bereichswahrheit gemeint (die ganze Wahrheit über ...). Oder aber der Begriff "Wahrheit" ist hier als eine regulative Idee verstanden, die dann niemals als wirklich findbar, erreichbar gedacht wird, wohl aber als approximierbar und unser Handeln und Sagen regulierend. Alle drei Varianten von [V2] kommen darin überein, daß sie sich aus ursprünglich prädikativen Verwendungsweisen herleiten lassen. In allen Fällen handelt es sich, sprachlogisch gesehen, aber nicht mehr um Prädikatoren, sondern um identifizierende Beschreibungen. Diese haben die logische Struktur: "der/die/das x, so daß P(x)". 19 Es handelt sich bei ihnen jeweils um die Verbindung eines Indikators oder eines Eigennamens mit einem Prädikator. Andere Beispiele sind: {dieses Buch/ der heutige Tag/ der Sohn Gottes/ der Mann, der das Telefon erfand}20. In unserem Beispiel fungiert der Artikel (die Wahrheit) als ein Demonstrativum, hat indikatorische Funktion. Er verweist auf bereits Gesagtes zurück (so ist es etwa in Joh 19,35b) oder auf noch Auszuführendes voraus (P sagte die Wahrheit. Diese bestand darin, daß er gesehen hatte ...). Der Artikel verweist auf ein x (z.B. in V2.1 eine Aussage oder in V2.2 auf eine Aussagenmenge), das als wahr prädiziert werden kann. Insofern in [V2] eine identifizierende Beschreibung enthalten ist, eine solche aber eine der drei Subklassen der Klasse der Designatoren bildet, handelt es sich bei der Rede von "Wahrheit" in [V2] um einen Designator21. Spricht gegen eine solche 19

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21

Wenn von "Wahrheit" im Sinn einer identifizierenden Beschreibung die Rede ist, läßt sich somit folgende Formel aufstellen: [Wahrheit = diejenige Entität x, für die gilt, daß sie wahr ist]. Also z.B.: Eine "Wahrheit" nennen wir eine Proposition, für die gilt, daß sie wahr ist. Zu diesen Zusammenhängen cf. Dalferth, 1981, S.241-254. Bei Indikatoren, Eigennamen und "identifizierenden Beschreibungen" (die in der Literatur auch manchmal "Kennzeichnungen" heißen) handelt es sich um drei Subklassen der Klasse der Designatoren. Die Klasse der Designatoren ist durch ihr definites Verweisen, also Referenzialisieren auf einen individuellen Gegenstand gekennzeichnet. Es kann zwischen singulär-defi-

Die "Wahrheitsfrage". Versuch einer terminologischen Klärung

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Deutung aber nicht die alltagssprachliche mögliche, auf den bestimmten Artikel verzichtende Redewendung: "Er sagte (etwas) Wahres"? Dazu ist zu bemerken, daß ein solcher Satz entweder rein unbestimmt bleibt, denn er provoziert ja den Hörer (oder Leser) geradezu zur Nachfrage: "Was sagte er denn?" - oder aber der Kontext hat eine determinierende, insofern indikatorische Funktion. Dann stellt der Kontext diesen Satz mit [V2] gleich. Betrachten wir am Rande noch einen dritten Verwendungsfall [V3], der in der Alltagssprache völlig unüblich ist, aber im Vorgriff auf Heidegger wichtig werden wird: [V3.1]

"Das Wesen der Wahrheit ist die Wahrheit des Wesens"

[V3.2]

"Die Wahrheit ist in ihrem Wesen Un-wahrheit"

(WW, S.198).

(HW, S.40).

Bedenkt man, daß beim späteren Heidegger Begriffe wie "Seyn", "Wesen", "Wahrheit", "Wahrheit des Seyns", "Seyn der Wahrheit" und "Un-wahrheit" synonym gebraucht werden können, das Seyn aber in einem ungewöhnlichen Superlativ als "das Einzigste" (cf. GA 65, S.10, 177, 375, 385, 414, 428f u.ö.) bezeichnet wird, so scheint auch hier von "Wahrheit" in einem designatorischen Sinne die Rede zu sein, freilich geradezu im Sinne eines Eigennamens22. In diesem Falle könnte sich die scheinbare Paradoxie von [V3.2] möglicherweise daraus erklären, daß "... Prädikatoren, nicht aber Namen konträre Gegensätze haben" 23 . Fassen wir zusammen: Mit [VI] und [V2] haben wir die grundlegenden Verwendungsweisen der Begriffe "Wahrheit" und "wahr" skizziert. Während sich in [VI] die prädikative Verwendung findet, liegen in [V2] und dem (allerdings Heidegger-spezifischen) Beispiel von [V3] designatorische Verwendungsweisen24 vor. Da sich zumindest [V2] auf [VI] zurückführen läßt, weil Kennzeichnungen immer aus [Indikatoren/Eigennamen + Prädikatoren] zusammengesetzt sind, soll im folgenden die Auffassung der Wahrheit als Prädikator näher beleuchtet werden.

22 23 24

niten und pluralisch-definiten Designatoren unterschieden werden. Letztere verweisen auf eine Viel- oder Allzahl von Gegenständen (Dalferth, 1981, S.242f). Die Unterscheidung zwischen Prädikatoren und Designatoren geht letztlich auf Frege (1892a) zurück und hat inzwischen weite Verbreitung gefunden. Menne unterscheidet analog, aber in etwas anderer Terminologie zwischen Funktoren und Argumenten (Menne, 1985, S. 17-24). Dieses Problem soll in einem Exkurs zu §4 noch einmal zur Sprache kommen. Dalferth, 1981, S.249. Sachlich zwischen den beiden gezeigten designatorischen Verwendungsweisen liegt der Fall, wenn "Wahrheit" in irgendeinem Sinne personifiziert wird, z.B. in dem Satz: "Die Wahrheit wird euch frei machen" (Joh 8, 32). Das rhetorische Stilmittel der Personifikation läßt sich als eine spezielle Foim der Metapher begreifen und in einer angemessenen Paraphrase entschlüsseln.

SO

Hermeneutische und wahiheitskonzeptionale Überlegungen

§2.2.7.3 "Wahr(heit)" als Prädikator Welche(s) unterschiedliche(n) "x" wird/werden in der Alltagssprache als wahr bezeichnet? Als wahr bezeichnet werden (1) bestimmte artifizielle Zeichen, vor allem Urteile, (2) auch Seiendes von nicht-zeichenhafter und nicht-personaler Struktur, also vor allem Dinge und Ereignisse, (3) auch Leben, Menschen, existierende Personen. Diese drei Fälle 25 sollen kurz dargestellt werden. 26 Ad (1) "Wahr" als Urteilsprädikator Der monadische Prädikator "wahr" dient oft zur Prädikation artifizieller Zeichen. 27 Solche Zeichen existieren in nicht-sprachlicher und sprachlicher Form. Bei den in sprachlicher Form verfaßten wahrheitsfahigen Zeichen handelt es sich immer um Sätze. Und zwar entweder, was seltener der Fall ist, um direktive bzw. präskriptive Sätze 28 , oder aber, was sehr häufig der Fall ist, um assertorische (assertive oder expressive) Sätze. Dieser letztere Fall interessiert hier. Im wohl unbestritten häufigsten Falle wird "wahr" in der Alltagssprache als Prädikat eines Urteils oder einer Aussage verwendet. "Urteil" und "Aussage" werden hier synonym verwendet und meinen eine syntaktisch erstreckte, semantisch bedeutsame, im Modus illokutionär-assertorischer Rede 29 verfaßte Zeichenmenge. (Beispiele: "Was du gerade gesagt hast, ist wahr."/"Es ist wahr, daß sich die Erde um die Sonne dreht.") Dieser Regelfall des intuitiv-alltäglichen Wahrheitsverständnisses ist wenigstens durch zwei Merkmale 30 gekennzeichnet: 25

26

27

28

29 30

Eine gewisse Nähe dieser Trichotomie zu Heideggers Unterscheidung von Zuhändenem, Vorhandenem und Existenz ist evident. Aber diese Nähe bedeutet noch keine Identität. Etwas ausfuhrlicher wird diese Klassifikation in §2.3 im Gange der Explikation des Wahrheitsbegriffes weitergeführt werden. Vorläufig ist hier, wenn von Zeichen geredet wird, auschließlich von "artifiziellen" Zeichen die Rede. Das schließt nicht aus, daß in der Semantik des christlichen Glaubens welthaft Wirkliches überhaupt als indexikalisches Zeichen (die auf den Schöpfer verweisende Schöpfung), Menschen als indexikalisch-ikonische Zeichen (als "imagines dei") aufgefaßt werden können. Trotzdem wechsele ich hier nicht in die Perspektive einer allgemeinen Semiotik über, deren Chancen für die Theologie ich als sehr günstig beurteile. Sie muß sich als einheitliche Theorie freilich teils noch konstituieren, teils bewähren. Cf. den glänzenden Aufsatz von Pöttner, 1992. "... prescriptives are also sometimes said to be true" (Brümmer, 1981, S.169). Hier liegt ein wichtiger Ansatzpunkt zum Verständnis dessen, was Rudolf Bultmann mit "allgemeinen Wahrheiten" meint. Cf. §5.4 dieser Arbeit. Dalferth, 1981, S.407-420. So Puntel, 1987, S. 13f und ders., 1990a, S.302-305.

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(i) "Wahr(heit)" hat es in irgendeiner Weise mit "Welt", "Realität", Wirklichkeit zu tun. (ii) Die Rede von Wahrheit setzt eine Differenz zwischen zweß1 Ebenen oder Polen (Denken, Sprache, Aussage - Wirklichkeit, Welt, Tatsache) voraus, die in irgendeiner Weise in Beziehung zueinander gesetzt werden. Die Differenz wird also als eine explizierbare Relation gesehen. Deren Standardauffassung kann als Korrespondenz gekennzeichnet werden. Formal konstituiert diese Differenz sich, mit Heideggers Worten, als ein "Sowie". Puntel unterscheidet zwei weitere Merkmale des intuitiv-alltäglichen Wahrheitsverständnisses, räumt neuerdings allerdings deren kontroversen Charakter ein32: (iii) Wahrheit erhebt, so kommt Puntel mit Habermas überein, einen in bestimmter Weise qualifizierten Geltungsanspruch. Dieser eher pragmatische Gesichtspunkt findet sich in Dalferths Schema der Anredearten im Genus der assertorischen Anrede, welche durch die Verbindung eines propositionalen Gehaltes mit dem Modus der instruktivillokutionären33 Rede gekennzeichnet ist. (iv) Schließlich hat Wahrheit die semantische Implikation "maximaler Bestimmtheit", aus der gefolgert werden kann, daß Wahrheit keinen komparativen Charakter hat, nicht steigerbar ist.34 Den Kern des intuitiv-alltäglichen Wahrheitsverständnisses, sofern dieses als ein semantisches Feld beschreibbar ist, das wenigstens durch die Momente (i) und (ii) gekennzeichnet ist, bildet der vage, zunächst theoretisch unaufgeklärte Korrespondenzbegriff der Wahrheit.35 Dieser stellt die Regelauffassung der "Wahrheit" im Sinne eines Urteilsprädikators36 dar. Aus eben diesem Grund ist Wahrheit als eine im Kerne dyadische Relation aufzufassen. Puntel, 1990a, S.303. Die Konjunktion dieser vier Implikationen des intuitiv-alltagssprachlichen Wahrheitsverständnisses ist somit keineswegs unumstritten. "Illokutionär" wird von Dalferth nicht wie von Austin als synonym mit "performativ" verstanden (Dalferth, 1981, S. 182-197), sondern meint die "behauptende Kraft" (Frege) der Aussage. Besonders die Implikation (iv) wird auch in v/shiheitstheoretisch reflektierten Kontexten kontrovers diskutiert. Cf. etwa Dalferth, 1984, S.46, Anm.2: "Es ist daher durchaus angebracht und notwendig, von einer Steigerungsßhigkeit der Wahrheit zu sprechen."- Auch wer "Wahrheit" durch "Zuverlässigkeit" glaubt substituieren zu können, setzt sich in Widerspruch zu (iv). Dies gilt etwa für Herms: "Die theologische Schule: Ihre Bedeutung für die Selbstgestaltung des evangelischen Christentums und seine sozialethische Praxis", in: Marburger Jahrbuch Theologie II, S.84-110, dort S.89, Anm.17. Mit diesem vagen und ungeklärten Korrespondenzbegriff der Alltagssprache ist, wie am zweiten Aspekt des intuitiven Wahrheitsverständnisses besonders deutlich wird, in unausdrücklicher Weise eine Ontotogie mitgesetzt: "Offensichtlich enthalten die natürliche Sprache und das natürliche Denken eine Metaphysik. Sie ist ziemlich schlicht,

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Hermeneutische und wahrheitskonzeptionale Überlegungen

Festhalten läßt sich: "Wahrheit" im prädikativen Sinne wird meistens auf Aussagen (=Urteile) bezogen. Aus diesem Fall läßt sich die schon in [V2] gezeigte, designatorische Rede von den "Wahrheiten" (=wahren Aussagen) ableiten (cf. Heidegger, GA 21, S.9). Ad (2) Die Prädikation von Seiendem von nicht-zeichenhafter und nicht-personaler Struktur Die Rede von "Wahrheit" kann dazu dienen, Seiendes von nicht-zeichenhafter und nicht-personaler Struktur zu prädizieren, etwa Dinge oder Ereignisse. 37 Ein Beispiel der Dingprädikation bietet der Satz "Dies ist wahres Gold". Dabei ist der Prädikator "wahr" konvertibel mit "wirklich" oder "echt". 38 Ein Beispiel der Ereignisprädikation bietet die Rede von einem "wahren Abenteuer". Beide Prädikationsweisen kann man aber auch als abgekürzte Redeweisen verstehen, die sich wie folgt paraphrasieren lassen: "Dies ist Gold (ein Abenteuer). Die vorstehende Aussage ist wahr." Für beide Fälle bietet sich die Rede von einer ontischen Wahrheitsauffassung an. Diese liegt dann vor, wenn Dinge oder Ereignisse als individuelle Einzelobjekte unter empirischem Gesichtspunkt als "wahr" prädiziert werden. Von dort aus läßt sich zwischen dem ontischen und dem ontologischen 39 Wahrheitsverständnis differenzieren:

jeder setzt sie praktisch bei jedem voraus, aber man sollte sie nicht unterschätzen" (Ulrich Blau: "Wahrheit von innen und außen". In: Puntel (Hg.), 1987, S.298-329, dort S.308).- Heideggers Kritik an der Korrespondenztheorie der Wahrheit zielt m.E. wesentlich auf diese implizite Ontotogie. Dies sei nur gesagt, um ein positives Anliegen Heideggers hervorzuheben - damit stimme ich aber weder seiner philosophischen Methodik noch den Inhalten seiner Philosophie zu. Daß der Urteilsprädikator von anderen Metaprädikatoren wie "Aussage" oder "Prädikator" noch einmal kategorial zu unterscheiden sei, behauptet Kamiah (in: Kamlah/Lorenzen, 21973, S. 121f). Dies kann hier offen bleiben. Dalferth hat Dinge und Ereignisse vor allem unter drei Aspekten unterschieden: (1) Dinge haben im Gegensatz zu Ereignissen keine zeitlichen Teile; (2) Dinge können sich im Gegensatz zu Ereignissen verändern; (3) Dinge sind im Gegensatz zu Ereignissen vollständig reidentifizierbar (Dalferth, 1981, S.162f). Ein Ding war etwa die Berliner Mauer, ein Ereignis der Fall dieser Mauer. Cf. Heidegger, WW, S. 176-178. Daß diese Verwendungsweise, die "Sachwahrheit" (Heidegger), der Grund für die "Satzwahrheit" sei (cf. WW, S.178 - darin scheinen Thomas, Hegel und Heidegger übereinzukommen), ist allerdings mindestens eine höchst problematische, wahrscheinlich falsche These (cf. Künne, 1985, S. 116-171, dort S. 120-122). Diese Distinktion ist eher traditionell gemeint, entspricht nicht der "ontologischen Differenz" Heideggers.

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Denn wird über die Menge aller möglichen Gegenstände geredet und darunter Wirklichkeit insgesamt verstanden, oder wird Wirkliches /Wirklichkeit unter dem Gesichtspunkt seiner/ihrer grundlegenden kategorialen Struktur thematisiert, dann wird nicht nur diese Wirklichkeit selbst manchmal als "wahr" prädiziert, sondern es gibt in bestimmten (vor allem religiösen und metaphysischen) Kontexten sogar eine traditionelle Konvertibilität von "Wahrheit" und "Wirklichkeit": [Ens (esse) et verum (veritas) convertuntur.] Wird "Wahrheit" so gedacht, dann können wir von einem ontologischen Wahrheitsverständnis sprechen. 40 Dabei dürfte heute die These konsensfahig sein, daß die Wahrheitsfrage eine ontologische Dimension hat. An der traditionellen Korrespondenzbestimmung der Wahrheit läßt sich dies beispielhaft zeigen. Denn denkt man sich Wahrheit im oben angedeuteten Sinne als eine Korrespondenzbeziehung zwischen "Aussage" und "Wirklichkeit", dann stellen sich zumindest zwei Fragen: (a) Gehören nicht auch Aussagen zur Wirklichkeit selbst, und, wenn ja, in welchem Sinne sind sie "wirklich"? (b) Was ist damit gesagt, daß "eine Korrespondenzbeziehung besteht" (cf. Heidegger, SuZ, S.216: "Die Beziehung soll doch bestehen. Was besagt ontologisch Bestand?")? Die Erkenntnis, daß jede gehaltvolle Wahrheitstheorie eine ontologische Dimension einschließen muß, bricht sich auch in der analytischen Philosophie wieder Bahn (cf. Puntel, 1984/1990a41). Genau um diese Dimension ging es freilich Heidegger. 42

Die Beziehung zwischen Wahrheit und Wirklichkeit wird üblicherweise auf drei einander ausschließende Weisen gedacht: So wird erstens Wahrheit als Funktion der Wirklichkeit aufgefaßt bzw. in Abhängigkeit von diesem Begriff definiert. Ein theologisches Beispiel bietet Tillich, der Wahrheit als diejenige Wirklichkeitsschicht definiert, deren Erkenntnis die Täuschung unmöglich macht (Systematische Theologie I/II, S. 122f). - Zweitens, das ist die modernere Auffassung, wird "Wirklichkeit" umgekehrt in Abhängigkeit vom Wahrheitsbegriff definiert (so bei Kamlah/Lorenzen, 2 1973, S.124). - Die dritte Denkmöglichkeit faßt Wahrheit und Wirklichkeit als austauschbare Begriffe auf, deren Intension verschieden sein mag, deren Extension jedenfalls gleich ist. Cf. Puntel, 1990a, S.4, 7, 62, 357ff. In einem Forschungsüberblick über die neuere und neueste wahrheitstheoretische Diskussion vermerkt Puntel: "Nachdem lange Zeit die ontologische Dimension der Wahrheitsproblematik weitgehend und zeitweise sogar vollständig ignoriert wurde, ist in den letzten Jahren eine zunehmende Konzentration auf wahrheitsontologische Aspekte festzustellen" (ebd., S.357). Und zwar ging es Heidegger vorrangig um die ontologische Dimension der Wahrheitsfrage. Er war der Meinung, daß "the question of truth is pre-eminently an ontological, and not an epistemologicalproblem" (Gogel, 1987, S.2). Zwar kann man die These von der Präeminenz der Wahrheitsontologie bestreiten, aber an der Unverzichtbarkeit dieser Thematik wird man festhalten müssen.

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Hermeneutische und wahrheitskonzeptionale Überlegungen

Ad (3) Die Rede von "wahr" zur Personenprädikation Auch menschliches Leben, existierende Personen können als "wahr" bezeichnet werden. So ist von einem "wahren Freund" die Rede. Auch Sätze wie "Sie ist ein wahrer Mensch" oder "Sie lebt in der Wahrheit" kommen, wenngleich selten, vor. In religiös-theologischen Kontexten ist eine solche Redeweise durchaus nichts Ungewöhnliches: "Neque enim vocabulum Veritas ad verba tantum referendum est, sed in genere ad omnem vitam, ut, quicquid dicimus, cogitamus, vivimus et sumus, sit certum et verax, quo non solum non fallatur mundus, sed ne nos quoque." 43

In dem personalen oder existenziellen Wahrheitsverständnis hat auch Heideggers Rede vom "Existenzial Wahrheit"44 ihren alltagssprachlichen Ursprung. Das personal-existenzielle Wahrheitsverständnis scheint allerdings sehr vage und kaum präzisierbar zu sein. 45 Wenn von einem "wahren Freund" die Rede ist, so ließe sich eine solche Aussage (analog zur Ding- und Ereignisprädikation) zwar in zwei Teilaussagen zerlegen, etwa: "Dies ist (m)ein Freund. Der vorhergehende Satz ist wahr". 46 Einen etwas anderen Sinn aber haben Sätze wie "Sie lebt in der Wahrheit". Was ist damit gemeint? Sofern der Sinn solcher Sätze nicht einfach unbestimmt sein sollte, könnte die Rede von "Wahrheit" hier einmal bedeuten: [Sie versucht, ihr Leben in Ausrichtung an als wahr erkannten Sätzen zu leben]. Zweitens aber könnte "Wahrheit" für den genannten Fall einfach mit "Wahrhaftigkeit" synonym sein. In diesem letzteren Sinne kann man von einem ethischen Wahrheitsverständnis sprechen, das von dem allgemeinen personal-existenziellen noch einmal abgesetzt werden muß. Denn Wahrheit und Wahrhaftigkeit überschneiden sich bloß, sind aber nicht identisch. Das intuitiv-alltagssprachliche Wahrheitsverständnis läßt sich, so zeigt sich an diesem Beispiel, aus der Perspektive der Theorie der Wahrheit noch Cf. Luther, WA 40/11, S.389, Z.28-31. Auch bestimmte Formulierungen von Kierkegaard sowie Brunners Wahrheitskonzeption der "Wahrheit als Begegnung" (31984) haben hier ihre Wurzel. Cf., als vielleicht aktuellstes Beispiel, Körtner, 1990, S.28ff. "Wahrheit, im ursprünglichsten Sinne verstanden, gehört zur Grundverfassung des Daseins. Der Titel bedeutet ein Existenzial" (SuZ, S.226). Was ist eigentlich gemeint, wenn Körtner schreibt: "Wahre theologische Sätze setzen ein Sein dessen in der Wahrheit voraus, der sie spricht" (Körtner, 1990, S.35)? Oder was heißt es eigentlich, daB "Christus die Wahrheit in Person" (ebd., S.35) ist? Körtner, der nicht zufällig Heidegger zum Kronzeugen seiner wahrheitskonzeptionalen Thesen macht (ebd., S.36), in denen er gegen die als tendenziell "hierarchisch" aufgefaßten "Satzwahrheiten" polemisiert (ebd., S.32-35), spricht eine eigentümlich unklare Sprache. Oder "wahr" wird hier als konvertibel mit "wirklich" bzw. "echt" aufgefaßt.

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schärfer fassen, wenn der Wahrheitsbegriff (als semantischer Kern des Wahrheitsverständnisses) von seinen Nachbarbegriffen abgegrenzt und zu seinen Gegenbegriffen in die richtige Opposition gebracht werden kann. Darum soll es im folgenden gehen. Zunächst aber sei noch einmal betont, daß all die verschiedenen Aspekte des Wahrheitsverständnisses, die hier unterschieden wurden, keineswegs gleichwahrscheinlich in der Alltagssprache auftreten. Einige der hier genannten Verwendungsweisen sind sogar sehr unwahrscheinlich. Der wohl unumstritten häufigste Fall, das sei noch einmal betont, ist der unter (1) skizzierte: Der Wahrheitsbegriff fungiert als Urteilsprädikator im Sinne einer vagen, noch ungeklärten Korrespondenzbeziehung. §2.2.2 Einordnung des Wahrheitsbegriffes durch Nachbar- und Gegenbegriffe Näher bestimmen läßt sich der Wahrheitsbegriff aus der Sicht der Theorie der Wahrheit durch seine Abgrenzung gegen Nachbar- und Gegenbegriffe. Doch sei vorausgeschickt, daß in der Alltagssprache die hier unterschiedenen Nachbarbegriffe häufig als einfache Synonyme des Wahrheitsbegriffes, die Gegenbegriffe in meist unklarer Weise als dessen Antonyme aufgefaßt werden. Die wichtigsten Nachbarbegriffe sind "Wahrhaftigkeit", "Richtigkeit" und "Echtheit" (§2.2.2.1), die bedeutendsten Gegenbegriffe lauten "Unwahrheit", "Lüge", "Irrtum" und "Falschheit" (§2.2.2.2). §2.2.2.7 Nachbarbegriffe: Wahrheftigkeit, Richtigkeit, Echtheit Ich stelle hier die drei wichtigsten Nachbarbegriffe des Wahrheitsbegriffes dar, die Begriffe "Wahrhaftigkeit" (1), "Richtigkeit" (2) und "Echtheit" (3). Ad (1) Wir sagen, ein Mensch oder eine Aussage sei "wahrhaftig". Damit haben wir im Grunde eine ethische (d.h. aber: keine erkenntnistheoretische, aber auch keine ontische oder ontologische) Kategorie verwendet. Denn keineswegs folgt aus der Wahrhaftigkeit eines Menschen oder seiner Aussage, daß diese Aussage tatsächlich wahr ist bzw. dieser Mensch auch tatsächlich die Wahrheit sagt. Er braucht sich bloß über den Gegenstand, von dem er redet, zu täuschen und sich im Irrtum zu befinden: Dann kann er im Modus der Wahrhaftigkeit eine unwahre Aussage äußern. Umgekehrt ist es freilich auch möglich, daß jemand eine unwahrhaftige Aussage tätigt, die gleichwohl wahr ist. Zu Recht hat deswegen Habermas Wahrheit und Wahrhaftigkeit als zwei verschiedene Geltungsansprüche voneinander diffe-

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renziert.47 Allerdings können Wahrheit und Wahrhaftigkeit zusammenfallen, und es ist eine der Grundhoffnungen der biblisch-christlichen Tradition, daß die Schnittmenge beider in der Alltagssprache möglichst groß sei (cf. das 8. Gebot). Ad (2) Auch Wahrheit und Richtigkeit bilden bloß eine Schnittmenge, sind jedoch keineswegs identisch. Zwar hat Heidegger behauptet, die Aussagenwahrheit sei der eine Fall der "bloßen Richtigkeit" (die Sachwahrheit sei der komplementäre Fall). Aber erstens ist bei Heidegger mit dieser These ein problematisches pejoratives Verdikt gegen die "bloße Richtigkeit" verbunden, zweitens wird die Rede von der "Richtigkeit" auch in ganz anderen Kontexten verwendet, z.B. praktischen oder ethischen, und drittens läßt sich etwa die Rede von der "ganzen Wahrheit" wohl kaum durch "ganze Richtigkeit" substituieren. Damit ist aber gezeigt, daß auch in diesem Falle eine Schnittmengenbeziehung vorliegt - nicht mehr, aber auch nicht weniger.48 Ad (3) Schließlich wird zuweilen von "wahrem Gold" geredet, womit gemeint ist: "echtes Gold". Hier findet sich Wahrheit in der Bedeutung des Ding- oder Sachprädikators. Daß aber Echtheit und "Wahrheit" nur in seltenen Fällen konvertibel sind, zeigt sich schnell: Denn erstens ist eine "wahre Aussage" etwas ganz anderes als eine "echte" Aussage, zweitens läßt der Blick auf die jeweils gebotene Negation die Differenz erkennen: "Falsches Gold ist nicht Gold, das mit seinem Begriff nicht übereinstimmt, denn da es gar nicht Gold ist, ist Gold auch nicht sein Begriff. " 4g

§2.2.2.2 Gegenbegriffe: Unwahrheit, Lüge, Irrtum, Falschheit In der Alltagssprache wird "Wahrheit" vorwiegend durch diese vier Begriffe negiert, gelegentlich aber auch durch "Täuschung", "Unechtheit", "Illusion". Meine These lautet: Nur "Unwahrheit"/"unwahre Aussage" stellt die kontradiktorische Negation von "Wahrheit"/"wahre Aussage" dar, alle anderen Gegenbegriffe lassen sich entweder ableiten oder haben spezifisch andere Nuancen. Dies zeige ich in der Abgrenzung zu den drei übrigen Begriffen auf. Ich gehe somit auf die Lüge (1), den Irrtum (2) und die Falsch-

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Aus der Perspektive der Wahrheitstheorie dürfen diese beiden Geltungsansprüche nicht verwechselt werden - darin ist Habermas ( 2 1986, S. 137-141, 150) beizupflichten. Denn eine wahrhaftige Aussage ist durch nicht-diskursive Subjektivität gekennzeichnet, eine wahre Aussage durch ihren diskursiven und nicht ausschließlich subjektiven Charakter. Cf. Tugendhat/Wolf, 1983, S.219. Tugendhat/Wolf, 1983, S.241, Anm.l.

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heit (3) ein, erläutere nebenbei auch die angrenzenden Begriffe der "Täuschung" und der "Illusion". Ad (1) Die "Lüge" bezeichnet diejenige Unwahrheit/unwahre Aussage, die absichtlich geäußert wird, um eine andere Person zu täuschen, d.h. in die Irre zu führen. Daran zeigt sich schon, daß die Lüge rein logisch die Möglichkeit des Irrtums präsupponiert: Ohne menschliche Irrtumsfähigkeit wäre Lüge nicht denkbar. 50 "Lüge" ist aber auch nicht semantisch synonym mit "Unwahrhaftigkeit", denn dieser Begriff wird vorwiegend zur Personenprädikation verwendet, jener aber vor allem zur Aussagenprädikation. Auch zwischen "Lüge" und "Unwahrhaftigkeit" liegt somit eine feine Bedeutungsnuance. Die Rede von einer "Täuschung" ist entweder aktivisch-transitiv, reflexiv oder passivisch gemeint. Im ersten Falle (A täuscht B, indem er p behauptet, ohne an die Wahrheit von p zu glauben) liegt eine schwächere Spielart der Lüge vor (löge A, dann wüßte er um die Unwahrheit von p). 5 1 Im zweiten oder dritten Falle (A täuscht sich hinsichtlich p bzw. A wird hinsichtlich p getäuscht) liegt bei A dagegen ein Irrtum vor. Ad (2) Indem der Irrtum als die logisch fundamentalere Form der Unwahrheit angezeigt wurde, könnte man meinen, in ihm begegne die eigentliche Negation von "Wahrheit". Auch das trifft freilich nicht zu, wie folgende Überlegung zeigt: Eine einzelne unwahre Aussage ist entweder ein Irrtum (also eine nicht intendierte unwahre Aussage) oder aber eine Lüge (also eine intendierte unwahre Aussage). Beide bilden eine vollständige Disjunktion. 52 Allerdings können in seltenen Fällen sogar eine Lüge oder ein Irrtum wahr sein, nämlich dann, wenn sie aus einer anderen unwahren Aussage (z.B. in einem Syllogismus) hergeleitet wurden. 53 An diesem Fall wird deutlich, daß die "unwahre Aussage" alleine die kontradiktorische Negation der "wahren Aussage" bildet - denn eine irrige Aussage (ein Irrtum) kann eben unter bestimmten Voraussetzungen wahr sein. 54 Das ist aufgrund Zu dieser Differenz cf. Tugendhat, 1976, S.447f. So differenziert Dalferth zwischen Lüge, Irrtum, Täuschung und Aberglauben als (parasitären) Phänomenen assertorischer Rede (1981, S.204). Jedenfalls im Falle einer einzelnen Aussage oder Proposition! Cf. hierzu Prauss, 1977, S.61-63. Künne wählt als ein illustratives Beispiel eine Passage aus Sartres Erzählung "Die Mauer". Der Gefangene Ibbieta sagt im Verhör: "Der Mann, den ihr sucht, hat sich auf dem Friedhof versteckt". Damit lügt er. Tragischerweise aber sagt er irrtümlich etwas Wahres, denn der Gesuchte hält sich tatsächlich an diesem Ort auf, was Ibbieta nicht wissen kann (cf. Künne, 198S, S. 117-119). Vermutlich läßt sich als Regel formulieren: Die Kombination zweier Irrtümer, zweier Lügen oder eines Irrtums mit einer Lüge kann eine wahre Aussage ergeben, während eine Lüge oder ein Irrtum je für sich genommen niemals wahr sein können. Dies ließe sich allerdings per definitionem ausschließen, wenn man den Irrtum als ein pragmatisches Phänomen definierte, wie Mittelstraß dies vorschlägt: Ein Irrtum sei definiert als ein unwahrer Satz, der mit dem Akt der Behauptung dieses Satzes ebenso

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der alltagssprachlichen Mehrdeutigkeit des Irrtumsbegriffs möglich, derzufolge Irrtum mindestens dreierlei bedeuten kann: (a) einen Prozeß des Sichirrens, (b) das propositionale Resultat eines solchen Prozesses, (c) eine unabsichtlich getätigte unwahre Proposition als Resultat eines Irrtumsprozesses. Die Bedeutung (c) ist alltagssprachlich wohl die bedeutendste, aber eben nicht die einzige. Sie stellt einen Spezialfall von (b) dar, und hierin gründen mancherlei Konfusionen. Denn nicht jedes propositionale Resultat eines Irrtumsprozesses muß notwendig eine unwahre Proposition sein (weil partielle Irrtümer einander u.U. aufheben können, cf. einen doppelten Vorzeichenfehler in der Algebra). 55 Ad (3) Die Falschheit stellt die kontradiktorische Negation der "Richtigkeit" dar. Wenn diese eine Regelgemäßheit bezeichnet, handelt es sich bei jener um die in einem bestimmten Kontext auftretende Regelwidrigkeit. Nicht bloß Aussagen oder Erkenntnisse, sondern auch etwa ein bestimmtes Verhalten kann als "falsch" bezeichnet werden. 56 Ja, sogar das Arbeiten einer Maschine kann man mit der Differenz "richtig/falsch" bezeichnen. Im Grunde folgt aber bereits aus der oben gezeigten Tatsache, daß, wenn Wahrheit und Richtigkeit differieren, auch ihre kontradiktorischen Negationen nicht identisch sein können. 57 Wenn weder Falschheit noch Irrtum noch Lüge die kontradiktorische Negation des Wahrheitsbegriffes darstellen können, dann liegt es nahe, hierfür den Begriff der Unwahrheit zu verwenden. 58 Das allgemeine, intuitiv-alltägliche Wahrheitsverständnis unserer natürlichen Sprache enthält, wie gezeigt, sehr unterschiedliche und einander ausverbunden sei wie mit der Überzeugung von der Wahrheit dieses Satzes (Mittelstraß, 1989, S.8f)- Ein so definierter Irrtum erweist sich rein analytisch als unwahrer Satz. Die "Illusion" stellt demgegenüber einen Spezialfall des Irrtums dar, einen, psychologisch betrachtet, besonders hartnäckigen, mitunter wahnhaften, häufig aus Wunschvorstellungen bestehenden Irrtum. Unter sprachlogischem Aspekt betrachtet ist sie diejenige Art des Irrtums, die durch die Nichtexistenz ihres Referenzobjektes gekennzeichnet ist. So mit Dalferth, 1981, S.452, der eine Differenz zwischen eigentlicher, falscher und illusorischer Erfahrung postuliert. Posner (1981, S.51-97, dort S.77-79) hat gezeigt, daß für die Semiotik von Morris ein Askriptor genau dann wahr ist, wenn er denotiert. Die askriptorische Korrespondenztheorie der Wahrheit läßt sich aufgrund des behavioristischen Ansatzes von Morris nicht bloß auf Aussagen, sondern ebenso auf Aufforderungen und Wertungen beziehen. Für diese Theorie sind Wahrheit und Richtigkeit, Unwahrheit und Falschheit mithin nahezu identisch. Gegen Mittelstraß, 1989, S.9, der Wahrheit und Falschheit als kontradiktorischen Gegensatz auffaßt. Ritsehl hat zu Recht darauf hingewiesen, daß im Rahmen der Wahrheitsproblematik auch die Gegebenheit pathologischer Verzerrungen der Wahrheit in Rechnung gestellt werden muß (Ritsehl, 21988, S.59f). Allerdings stellen diese keine logisch-semantischen Gegensätze zum Wahrheitsbegriff dar, sondern die gänzlich andere Leitdifferenz [Gesundheit/Krankheit] herrscht vor.

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schließende Bedeutungen der Worte "wahr" und "Wahrheit". Aus diesem Grund, aber auch wegen der in Texten jederzeit möglichen Selbstrückbezüglichkeit von Wahrheitsansprüchen, die zu Paradoxa führen kann, bedarf es einer theoretischen Klärung des Wahrheitsbegriffes, der den semantischen Kern des Wahrheitsverständnisses bildet. Läßt sich vielleicht gar eine Definition dieses Begriffes geben? Damit ist ein zentraler Themenbereich der Wahrheitstheorie bezeichnet, auf den im folgenden eingegangen wird. §2.3 Wahrheitsbegriff, Wahrheitsexplikation, Wahrheitsdefinition Ich möchte zunächst einige methodische Überlegungen zum Verhältnis von Wahrheitsbegriff und Wahrheitsdefinition und zu Wegen der Gewinnung der letzteren anstellen (§2.3.1), sodann in materialer Hinsicht mit einer Explikation beginnen (§2.3.2). Dabei werde ich die analytische Vorgehensweise vorgreifend mit Heideggers Art der Behandlung vergleichen und, wo nötig, kontrastieren. §2.3.7 Methodische Überlegungen zu Wahrheitsbegriff und Wahrheitsdefinition Wenn ich angeben will, was mit den Worten "wahr", "Wahrheit" und ihren Derivaten und Komposita eigentlich gemeint ist, frage ich nach dem Wahrheitsbegriff. Ein Versuch, diesen in wissenschaftlich exakter Weise zu bestimmen, zielt auf die Gewinnung einer Wahrheitsdefinition ab. Eine solche darf, darin kann man Heidegger zustimmen, nicht selbst konstruktiv sein59, sondern hat den Charakter phänomenologischer Schau des Gegebenen (so Heidegger 1927) oder rational-systematischer Rekonstruktion (so Puntel 1987, der Sache nach jedoch bereits Tarski 1935). Eine Definition des Wahrheitsbegriffes, darin sind sich die meisten Diskursteilnehmer einig, darf keine bloße Nominaldefinition, sondern muß eine rekonstruktive Realdefinition sein. In der Behauptung ihres grundlegend oder wenigstens vorwiegend rekonstruktiven Charakters liegt offenbar eine der oben (in §1) vermuteten Gemeinsamkeiten60 im Intentionszusammenhang zwischen der

Heidegger betont bereits in der Einleitung seines Buches: "Auch liegt alles daran, sich von einem konstruierten Wahrheitsbegriff im Sinne einer 'Übereinstimmung' freizuhalten" (SuZ, S.33). - Die entscheidende Frage ist also, ob dieser Wahrheitsbegriff eine bloße Konstruktion ist, wie Heidegger meint. Puntel selbst stellt sprachanalytische und phänomenologische Methoden neuerdings ausdrücklich in einer "und/oder"-Zuordnung nebeneinander (Puntel, 1990b, S.390). Allerdings dürfte er den Begriff "phänomenologisch" dabei keineswegs wie Heidegger verstehen, sondern in einem weiteren Sinne.

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analytischen Philosophie einerseits und der phänomenologischen Philosophie (auch: Heideggers) andererseits.61 Darüber darf man eine entscheidende Differenz beider Methoden nicht übersehen. Denn natürlich liegt schon in der unterschiedlichen methodischen Grundhaltung zweier Philosophen wie Heidegger und Puntel eine auch material präformierende Differenz, die in der Frage der Gewinnung der Wahrheitsdefinition zum Ausdruck kommt. Ich gebe im folgenden der Methode rational-systematischer Rekonstruktion im Ausgang vom alltäglichen Wahrheitsverständnis gegenüber einer methodisch schwerlich intersubjektivierbaren phänomenologischen "Schau" den Vorzug.62 Zur Methode der Phänomenologie cf. im übrigen meine Darstellung in §3.1 dieser Arbeit. Puntel nennt als eine Bedingung rational-systematischer Rekonstruktion den Ausgang vom alltäglich-intuitiven Sprachgebrauch, also vom Wahrheitsverständnis einer gegebenen Sprache, und schlägt als ihr Verfahren eine zweistufige Begriffserklärung vor 63 : (1) Im ersten Schritt, der Explikation, soll ein gegebenes Explikandum in ein Explikans verwandelt werden, indem alle rein unbestimmten und inkonsistenten Verwendungsweisen ausgeschlossen werden. Aus einem vorsystematischen Begriff wird so ein Begriff mit programmatisch systematischem Status. Das Explikans braucht nicht alle Implikationen und Konnotationen des Explikandums zu beinhalten, stellt also den Fall einer Teilmengenbeziehung oder injektiven (d.h. bloß eindeutigen) Abbildung dar. (2) Im zweiten Schritt soll das Explikans aus (1) als Definiendum einer Definition zugeführt werden. Das Definiendum ist in den vollbestimmten systematischen Status eines Definiens zu überführen. Die Art der Abbildung zwischen Definiendum (=Explikans) und Definiens ist dabei eine eineindeutige, d.h., alle Inhalte und Implikationen des Definiendums müssen im Definiens vorkommen. In einem kleinen Schema dargestellt:

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Damit sind beide einerseits von ausschließlich konstruktiven (i.S. von willkürlichspekulativen), andererseits von dekonstruktiven (i.S. der stilkritisch-destruktiven Analysen Derridas) Typen von Philosophie methodisch abgegrenzt. Zur Kritik an Derridas Vorordnung der Rhetorik vor die Logik cf. Habermas, 21985, S.219-247. Stegmüller schreibt: "Es ist bekannt, daß Husserl sich außerordentlich kritisch und fast immer ablehnend jenen gegenüber verhalten hat, die sich auf seine phänomenologische Methode beriefen. Dies gilt vor allem auch von Scheler und Heidegger. Ist aber darin nicht ein Symptom dafür zu sehen, daß dieser Methode gerade dasjenige fehlt, was sie erst zu einer wissenschaftlichen machen würde: die intersubjektive Nachprüfbarkeit, die einwandfreie Kontrollierbarkeit dessen, was unter Berufung auf diese Methode behauptet wird?" (Stegmüller I, S.89). Puntel, 1987, S.9-12; ders., 1990a, S.63-98.

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Auch eines der Ziele Heideggers scheint, wie viele Belegstellen ausweisen, die nähere und genauere Bestimmung des Wahrheitsbegriffes zu sein. Er geht in §44 von "Sein und Zeit" (ebenso wie in "Vom Wesen der Wahrheit")65 vom alltäglichen Sprachgebrauch aus (darauf weist Schönleben richtig hin66), meint aber, hinter diesen auf die Etymologie des griechischen Wortes aletheia zurückgehen zu müssen, um von dort her das "Wesen der Wahrheit" erfassen zu können. Er bestimmt, wie noch darzustellen sein wird, Wahrheit als "Erschlossenheit" bzw. "Un-Verborgenheit", wobei die Vorsilbe "Un-" das a-privativum des griechischen Begriffes wiedergeben soll. Die Wahrheit als "Un-Verborgenheit" ist das, was allererst vom Menschen (Dasein) entborgen, d.h. freigelegt werden muß. Näheres hierzu wird unten (§3) entfaltet werden. Eine Abgrenzung im Bereich der Terminologie: Stegmüller unterscheidet - anders als Heidegger, Puntel und der Konsens der Forschung - im Anschluß an Putnam zwischen Wahrheitsbegriff und Wahrheitsdefinition in der Weise, daß der Begriff von Wahrheit dem Wahrheitsverständnis gleichzusetzen sei, welches viel mehr beinhalte und komplexer sei als die formale (von Tarski zu übernehmende) Wahrheitsdefinition. Dieser Begrifflichkeit Stegmüllers folge ich hier nicht, teile auch nicht seine (schon von Frege vertretene) sich explizit auf Putnam stützende Auffassung, der Begriff von Wahrheit sei überhaupt nicht wissenschaftlich präzisierbar.67

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Mit der einleuchtenden Kopplung beider Verfahren geht Puntel beispielsweise über Dalferth, 1981, S.296-303, hinaus. Dalferth sieht - in freilich anderem, nicht wahrheitstheoretischem Kontext - Explikation, Definition und Kriteriologie als drei alternative Verfahren an. Die Möglichkeit, Explikation und Definition hintereinanderzuschalten und so zu koppeln, diskutiert er nicht. In SuZ redet Heidegger vom "traditionellen" Wahrheitsbegriff (S.214). Cf. auch WW, wo die Überschrift eines Kapitels lautet: "Der geläufige Begriff der Wahrheit" (WW, S. 176-180). Schönleben, 1987, S.237, in seiner gegen Tugendhat gerichteten Heidegger-Apologie. Cf. Stegmüller II, S.434, 458, 463.

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§2.5.2 Materialer Ansatz einer Explikation des Wahrheitsbegriffes Hier kann es nicht darum gehen, eine eigene Definition oder auch nur einen Definitionsversuch vorzulegen; nur der erste Schritt der von Puntel vorgeschlagenenen zweistufigen Begriffserklärung soll hier gegangen werden, und auch dieser nur teilweise. Ich lege "nur" einen Ansatz zur Explikation des Wahrheitsbegriffes vor, indem ich von Beobachtungen zu dessen alltagssprachlichem Gebrauch68 ausgehe. Dabei führe ich Überlegungen weiter, die in der Darstellung des alltagssprachlichen Wahrheitsverständnisses (in §2.2) begonnen wurden. Grundlegend läßt sich beobachten, daß "wahr" primär und zumeist in einem prädikativen Sinn verwendet wird, seltener in einem designatorischen Sinn. Die prädikative Verwendungsweise manifestiert sich in Sätzen der Grundform: [JC (etwas) ist wahr für jemanden.] Diese Sätze lassen sich in drei Hinsichten näher betrachten: Einmal läßt sich die Frage stellen, für wen x wahr ist bzw. wahr sein kann (§2.3.2.1)? Sodann läßt sich fragen, was eigentlich als wahr prädiziert wird, das heißt, für welche Klasse(n) von x gilt, daß sie wahr ist (sind) oder wahr sein kann (können)? Dies wird in der analytischen Philosophie als Frage nach den Wahrheitsträgern (truth-bearers) bezeichnet; Heidegger spricht in SuZ (und auch sonst) meist von einem "Ort" der Wahrheit - gelegentlich (z.B. in GA 26, S.47) aber auch von den "Trägern der Wahrheit" (§2.3.2.2). Schließlich läßt sich die Überlegung anschließen, was "wahr" eigentlich bedeutet, d.h. worin der formale Sinn des Wahrheitsbegriffes besteht (§2.3.2.3). Man könnte nun einwenden, nur die dritte Frage sei im Grunde die Wahrheitsfrage, die ersten beiden verhielten sich zu dieser bloß äußerlich. Daß dies eine Verkürzung der Wahrheitsfrage bedeuten würde, wird aber aus der Tatsache der Konvergenz der analytischen Philosophie mit dem Denken Heideggers gerade in dieser Hinsicht plausibel. Heidegger hat in §44 von SuZ alle drei Fragen untersucht und keine von ihnen für redundant erachtet. Auch würde eine derartige Abgrenzung der Wahrheitsfrage gegen den Grundsatz analytischer Philosophie verstoßen, daß die Bedeutung eines Wortes jedenfalls nicht abgesehen von seinem tatsächlichen Gebrauch bestimmt werden kann. 69 Deshalb will ich in alle drei Fragehinsichten kurz einführen.

Die Berufung auf die Alltagssprache hat hier einen teils illustrativen, teils argumentativen Sinn. Wittgenstein, 1953, S.262 und 416 (Leitsätze 43 und 432). Allerdings ist festzuhalten, daß die Bedeutung eines Begriffes zwar nicht ohne die Beachtung seines alltagssprachlichen Gebrauches ermittelt werden kann, jedoch die Gebrauchssituationen selbst normativ-kritisch betrachtet werden können. Die von Puntel verwendete Methode der rational-systematischen Rekonstruktion verbindet rekonstruktive mit normativ-kritischen Zügen (Puntel, 1987, S.6).

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§2.3.2.7 Das "Subjekt" der Wahrheitserkenntnis Am leichtesten zu beantworten, aber auch am ehesten redundant im Kontext dieser Explikation, scheint die Frage zu sein, für wen ein gegebenes x wahr sein kann. Die weithin konsensfähige Antwort lautet: Für Menschen, für ein existierendes Dasein (laut Heidegger), für Personen (wobei unter diese Kategorie auch nichtmenschliche Personen fallen würden, etwa Gott oder Engel). Redundant erscheint diese Frage unter der Voraussetzung einer "Wahrheit an sich", die unabhängig von ihrer Entdeckung oder ihrem Fürwahrhalten existiert. 70 Eine solche Wahrheitsauffassung hat Künne "nichtepistemisch" genannt und die Wahrheitstheorien mit Hilfe der Distinktion [epistemisch/nicht-epistemisch] zu klassifizieren versucht: "'Epistemisch' nenne ich eine Wahrheitsauffassung genau dann, wenn ihr zufolge das Wahrsein in irgendeiner Weise von unserem Fürwahrhalten abhängig ist."71

Eine epistemische Wahrheitsauffassung findet sich laut Künne bei der Evidenz-, der Konsensus- und der Kohärenztheorie der Wahrheit. Aber auch Heinrich Scholz und der frühe Heidegger haben in diesem Sinne eine epistemische Wahrheitsauffassung vertreten. 72 Für Heideggers Bestimmung des Wahrheitsbegriffes ist daher die Frage nach dem "Subjekt" der Wahrheitserkenntnis (dieser Terminus ist hier so weit gefaßt, daß er auch das "Dasein" Heideggers einschließt) keineswegs äußerlich oder entbehrlich. Der epistemischen Wahrheitsauffassung zufolge ist Wahrheit somit ein streng relationaler Begriff in dem Sinne, daß es Wahrheit immer nur für bestimmte Personen PI, P2,..., Px geben kann. Wahrheit muß in dieser Konzeption mindestens als eine dreistellige Relation expliziert werden (etwa der Form: Subjekt - Aussage - Objekt). Eine nicht-epistemische Wahrheitsauffassung kommt dagegen im Prinzip mit einer zweistelligen Relation aus (etwa: Aussage - Wirklichkeit).

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Klassisch vertreten von Bokano. In der analytischen Philosophie bei Tugendhat (1976, S.llSff) sowie bei Künne, 1992; in der analytisch geprägten Theologie beispielsweise bei Dalferth, 1981, S.527f. Künne, 1985, S.122. Scholz, 1922, S.369-398, dort bes. S.369-380; cf. hierzu Stock, 1987, S.58-63; Heidegger, SuZ, S.226-230.- Eine erstaunliche Parallele! Denn beide, Scholz und Heidegger, polemisieren gegen Lotzes Geltungsbegriff und die Behauptung "ewiger Wahrheiten" bzw. "Wahrheiten an sich", die der eine am Beispiel des Satzes vom Widerspruch und der Newtonschen Gesetze, der andere am Beispiel des Pythagoreischen Lehrsatzes vorstellt.

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§2.3.2.2 Drei Klassen von Wahrheitsträgern Was ist wahr, d.h., welche Klasse von x wird als "wahr" prädiziert? Im Alltagssprachgebrauch werden sehr viele unterschiedliche Entitäten als "wahr" bezeichnet, wie die Darstellung des Wahrheitsverständnisses gezeigt hat. Das wahr genannte Seiende läßt sich in drei Hauptklassen unterteilen: Personen (1), artifizielle Zeichen (2), Seiendes von nicht-zeichenhafter und nicht-personaler Struktur (3). Die in §2.2 begonnene Klassifikation soll hier fortgesetzt werden. Ad (1) Mitunter wird die Klasse der Personen als wahr prädiziert, d.h. im Regelfall Menschen, das existierende Dasein, in theologischen Kontexten aber auch Gott. Wir haben diesen Fall oben das personal-existenzielle bzw. ethische Wahrheitsverständnis genannt. Im Grunde müßte hier in den meisten Fällen von "Wahrhaftigkeit" oder "Wirklichkeit/Echtheit" geredet werden. Ad (2) Häufig wird die Klasse der artiflziellen Zeichen als wahr prädiziert. Diese Klasse läßt sich in die zwei Subklassen der sprachlichen (2.1) und der nichtsprachlichen Zeichen (2.2) unterteilen. Ad (2.1) Wir sagten schon: Sehr häufig, d.h. im Regelfall des Alltagssprachgebrauchs, werden zusammengesetzte sprachliche Zeichen von der Struktur des Satzes, der Aussage oder der Proposition als "wahr" bezeichnet.73 Insbesondere zwischen Sätzen einerseits, Aussagen und Propositionen andererseits muß aus zwei Gründen streng unterschieden werden. Denn erstens sind Aussagen als assertorische Sätze z.B. von präskriptiven bzw. direktiven Sätzen zu unterscheiden. Wir sahen bereits, daß auch letztere u.U. als "wahr" prädiziert werden können. Zweitens ist eine Aussage (nicht aber ein Satz!) dadurch gekennzeichnet, daß sie von einer bestimmten Person in einer bestimmten Situation geäußert wird. 74 Immerhin dürfte dahingehend Konsens bestehen, daß der Wahrheitsprädikator auf zusammengesetzte Zeichen anzuwenden ist. Die Rede von der Zusammengesetztheit läßt sich grammatisch und syntaktisch so erläutern, daß Wahrheit weder auf der "atomaren" Ebene von Wörtern noch gar auf der "subatomaren" Ebene von Silben oder Buchstaben, sondern mindestens auf der "molekularen" Ebene einfacher Aussagesätze angesiedelt ist.

Welche unterschiedlichen Probleme die Entscheidung für den einen oder anderen dieser - sehr verschiedenartigen - Wahrheitsträger mit sich bringen kann, untersuchen Franzen, 1982, S.50-60 und Schönleben, 1987, S. 16-18. Auf diese Differenz hat Stegmüller hingewiesen. Ihm zufolge kann ein und derselbe Satz, etwa "er ist heute nicht hier" zur Bildung von unendlich vielen verschiedenen Aussagen verwendet werden, je nachdem, auf wen sich die Indikatoren "er", "heute", "hier" beziehen (Stegmüller, 1957, S. 17f).

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Sprachlogisch gesehen spricht einiges dafür, Wahrheit auf der Ebene der Propositionen1 $ zu verorten. Dalferth76 hat im Rahmen seiner Analyse der Proposition folgende sprachlogische Terminologie vorgeschlagen: Die Proposition als die logische Grundstruktur des Redens überhaupt bildet denjenigen Aspekt des Gesamtsinnes einer Äußerung, der einen propositionalen Gehalt (Intension) mit dem Modus des Behauptens verbindet. Als behauptete Intension hat die Proposition (=der Sachverhalt) einen Wahrheitswert (nach Dalferth ist dieser mit der Extension gleichzusetzen; hierin weicht er vom terminologischen common sense ab), d.h., sie ist entweder wahr oder falsch. Ist die Proposition wahr, besteht also der behauptete Sachverhalt, dann liegt eine Tatsache vor. Ist die Proposition falsch, besteht der behauptete Sachverhalt nicht; es kann demnach von einer Pseudotatsache geredet werden. Die Gesamtheit aller Tatsachen bildet nach Dalferth (im Anschluß an Wittgenstein) die Wirklichkeit. Die Klasse der Propositionen umfaßt aber hauptsächlich drei Unterklassen, nämlich Prädikationen, Quantifikationen und Identitätspropositionen. Doch kann an dieser Stelle der wahrheitstheoretischen Debatte offenbleiben, ob der Wahrheitsprädikator auf Aussagen oder auf Propositionen angewendet wird. Wichtiger ist eine andere Differenzierung: Die instruktivillokutionären assertorischen Sätze, seien sie als Aussagen oder Propositionen aufzufassen, gehören entweder der Umgangssprache, der Wissenschaftssprache oder aber der ästhetischen Sprache an. Innerhalb der analytischen Philosophie wird Wahrheit entweder vorwiegend der Wissenschaftssprache oder aber der Umgangssprache einschließlich der Wissenschaftssprache (als methodischer Disziplinierung und Präzisierung der Umgangssprache) zugeordnet. Die dritte mögliche Option, die primäre Verortung der Wahrheit auf der Ebene der ästhetischen Sprache, wird mit Berufung auf Heidegger beispielweise von Eberhard Jüngel und Paul Ricoeur in ihrer Theorie der "metaphorischen Wahrheit" (1974) vorgenommen. Ästhetische Sprache, also etwa metaphorische und ironische Rede, läßt sich verstehen als eine dichtend-experimentierende Komplexitätssteigerung der Umgangssprache, die - anders als diese, anders aber auch als Wissenschaftssprache zunächst mit einer Korrespondenztheorie der Wahrheit nicht in Einklang zu stehen scheint.77 75

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Diese entspricht am ehesten Freges Modell des "Gedankens" (Frege, 1918/19, S.3053).- Eine außerordentlich anspruchsvolle Konzeption der "Proposition" (=des "Verhaltes") vertritt neuerdings Puntel (1990a, S. 179-250). Auf diese Konzeption muß hier in diesem Rahmen nicht eingegangen werden. Für das Folgende cf. Dalferth, 1981, S.236-241. Inwiefern ästhetische Sprache faktisch aber doch auf Analogie- und Entsprechungsmodellen beruht und insofern die Gültigkeit einer Korrespondenztheorie gerade voraussetzt und bestätigt, kann hier offen bleiben. Für die ironische Rede dürfte beispielsweise evident sein, daß sie überhaupt nur verstehbar ist auf der Basis einer gel-

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Ad (2.2) Auch nichtsprachliche Zeichen werden als "wahr" erlebt, gedeutet und bezeichnet. Einerseits kann man dabei an kommunikative Zeichen der Körpersprache wie Mimik oder Gestik denken: Ein Nicken oder ein Deuten kann mit einer Aussage bzw. Proposition voll äquivalent sein. (Etwa ein Nicken als Antwort auf die Frage: "Hast du xyz gesehen?", oder ein in eine bestimmte Richtung deutender Zeigefinger als Antwort auf die Frage nach dem Weg.) Aber auch ästhetische Zeichenkomplexe wie eine Fuge von Bach oder ein Gemälde von van Gogh werden als "wahr" erlebt und bezeichnet. An einem Gemälde von van Gogh hat Heidegger die Wahrheit des Kunstwerkes herauszustellen versucht.78 In welchem Sinne aber sind Musik (-stücke) und Kunst (-werke) wahr?79 Ad (3) Auch Seiendes von nicht-personaler und nicht-zeichenhafter Struktur wird mitunter als "wahr" bezeichnet. Vorrangig kann hier, wie oben bereits gezeigt, an Dinge ("wahres Gold") und Ereignisse ("ein wahres Abenteuer") gedacht werden. In Heideggers Terminologie gesagt: Auch Vor- und Zuhandenes kann wahr genannt werden (wobei Heidegger unter das Zuhandene auch die artifiziellen Zeichen rechnen würde). Wie immer man den (oder die) Wahrheitsträger auch struktural bestimmen mag, ob als personal, zeichenhaft-sprachlich, zeichenhaft-nichtsprachlich, nicht-personal und nicht-zeichenhaft beschaffen, eine Anforderung an eine leistungsfähige Explikation des Wahrheitsbegriffes lautet, daß auf ihrer Basis gezeigt werden können muß, wie aus einer konsistenten Grundbedeutung und Grundanwendung des Wahrheitsprädikators auf eine bestimmte Klasse von Wahrheitsträgern andere Anwendungsmöglichkeiten ableitbar sind. Zur Illustration wähle ich zwei entgegengesetzte Beispiele: (1) Nimmt man etwa, dem allgemeinen Sprachgebrauch gemäß, Aussagen als die paradigmatische Grundmenge von Wahrheitsträgern an, lassen sich aus dem Standardfall "Die Aussage p ist wahr" u.a. folgende Anwendungen als sekundär erklären: Die Rede vom "wahren Gold" oder einem "wahren Freund" läßt sich als abgekürzte Redeweise für die jeweils zwei Aussagen verstehen: "Dieser Gegenstand ist Gold (kein Katzengold). Die vorangegangene Aussage ist wahr" bzw. "Dieser Mensch ist (m)ein Freund. tenden Korrespondenztheorie (cf. etwa Tugendhat, 1960, S.219f, Anm.12). Eine wahrheitstheoretisch und hermeneutisch bedeutsame Studie zu diesem Problemfeld hat Hausser vorgelegt: "Modelltheorie, künstliche Intelligenz und die Analyse von Wahrheit", in: Puntel (Hg.), 1987, S.330-368. Heidegger: "Der Ursprung des Kunstwerkes" (1935/36). In: HW, S.3-24. An der Erfahrung der Kunst hat in deutlicher Anknüpfung an den späteren Heidegger auch Gadamer, Wahrheit ( 6 1990, >1960), die Wahrheitsthematik entfeitet. Steiner meint, Heidegger hätte am Beispiel der Musik seine Thesen über das Wesen der Kunst noch einleuchtender belegen können (Steiner, 1989, S.194).- Zu diesem strittigen Thema insgesamt cf. in kritischer Dialogbereitschafi unter dem Stichwort "existenztragende Wahrheit" Kamlah/Lorenzen, 2 1973, S. 146-150.

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Die vorangegangene Aussage ist wahr". Ebenso müßte sich (um ein theologisches Beispiel aus dem Bereich eines existenziell-personalen Wahrheitsverständnisses zu wählen) Jesu Aussage nach Joh 14,6 "Ich bin (der Weg,) die Wahrheit (und das Leben)" wie folgt paraphrasieren lassen: "Ich bin es, der euch die (ergänze: ganze, unüberbietbare, zum ewigen Leben führende) Wahrheit sagt". (2) Der spätere Heidegger hat es in seiner philosophischen Konzeption von der "Wahrheit des Seyns" (seit 1930/31) nicht schwer, jede beliebige Entität der drei hier unterschiedenen Klassen als einen Wahrheitsträger aufzufassen. Wenn das Sein selbst wahr ist und alles Seiende sein Sein nur zu Lehen hat vom sich geschichtlich ereignenden Sein her, dann hat auch alles Seiende in unverfügbarer, je vom Sein geschickter Weise an der Wahrheit teil. Heidegger spezifiziert diese Konzeption noch dahingehend, daß die Aussagenwahrheit nicht in ursprünglicher Weise "Wahrheit" sei, sondern "abkünftig" im Vergleich zu anderen Weisen, in denen Wahrheit sich entberge. §2.3.2.3 Der formale Grundsinn des Wahrheitsbegriffes Will man in rein formaler Weise den semantischen Gehalt des Wahrheitsbegriffes näher spezifizieren, kann man anknüpfen an die oben notierten Beobachtungen zum allgemeinen Wahrheitsverständnis. Dort wurde die Standardverwendung des Wahrheitsbegriffes als von einer klärungsbedürftigen Korrespondenzrelation bestimmt herausgestellt. Diese Relation als Differenz zweier Relate a und b in einer Relation R macht den formalen Sinn der Rede von "wahr" und "Wahrheit" aus. Will man den formalen Sinn dieser Rede material füllen, dann muß man (jedenfalls: auch) ontologische Deutungen in Anspruch nehmen. Es ist dabei in jedem Falle unvermeidlich, die vorausgesetzte Formalstruktur material in irgendeiner Weise zu füllen. Es ist aber nicht notwendig, sie in einer bestimmten Weise zu füllen. Für und gegen die eine oder andere materiale Deutung der formalen Wahrheitsstruktur muß daher wahrheitstheoretisch argumentiert werden. Einige diesbezügliche Argumentationsgänge sollen im folgenden Paragraphen (§2.4) skizziert werden. Nach diesem Ansatz einer Explikation des Wahrheitsbegriffes läßt sich unsere Ausgangsformel: [* (etwas) ist wahr für jemanden] paraphrasieren in das vorläufige und formale Explikationsresultat: [Für eine Person P besteht eine Relation R zwischen zwei Relaten a und b, die sich in der Entität x manifestiert.]

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Henneneutische und wahrheitskonzeptionale Überlegungen

Dabei ist die Frage nach dem Wahrheitssubjekt (Person P 80 ) relativ unstrittig und u.U. sogar redundant. Keineswegs redundant und außerordentlich umstritten ist dagegen die Frage nach dem Relationscharakter der bestehenden Relation und der in dieser Relation aufeinander bezogenen Relate. In einigen Fällen wird die Entität x mit einem der beiden Relate identifiziert, in anderen Fällen nicht.81 Dieser Ansatz einer Explikation des Wahrheitsbegriffes, der zu keinem finalen explikatorischen oder gar definitorischen Resultat führen sollte oder konnte, hat uns für die weitere Argumentation auf die Strukturebene der Wahrheitstheorie verwiesen, zu deren fundamentalen Aufgaben u.a. die Explikation (und gegebenenfalls Definition) des Wahrheitsbegriffes gehört. §2.4 Vom Wahrheitsverständnis zur Ebene der Wahrheitstheorie Zunächst ist zu erörtern, welche verschiedenen Themenbereiche zu einer hinreichend umfassenden Theorie der Wahrheit gehören (§2.4.1). Auf dieser Basis wird gezeigt, inwiefern die Gewinnung einer Wahrheitsdefinition das Grundanliegen einer Wahrheitstheorie darstellt (§2.4.2), aber auch, welche anderen Themenbereiche zu einer Theorie der Wahrheit zu zählen sind (§2.4.3). $2.4.1 Die Themenbereiche einer Theorie der Wahrheit Mindestens eine Aufgabe wird in nahezu allen wahrheitstheoretischen Ansätzen als ebenso unverzichtbar wie zentral erachtet, nämlich die Gewinnung einer klaren und präzisen Definition des Wahrheitsbegriffes. Dem dient Heideggers etymologischer Rückgriff auf den griechischen Terminus aletheia ebenso wie Tarskis semantisches Wahrheitsschema. Die fundaNota bene: Wenn hier und im folgenden die Teilfonnel [Für eine Person P...] auftritt, so ist damit im Sinne des Existenzoperators stets gemeint: Für mindestens eine Person P. So etwa in einer Version der Korrespondenztheorie der Wahrheit, die als das eine Relations-Relat die Aussage, als das andere Relat die Wirklichkeit nimmt. In einer anderen Version der Korrespondenztheorie ist die Aussage dagegen zu unterscheiden von ihrer Intension, und Aussage und Intension müssen wiederum von der Extension der Aussage unterschieden werden. Hier besteht die Relation zwischen Intension (a) und Extension (b) der Aussage (x). Es zeigt sich an dieser Stelle somit (1) die Notwendigkeit der formalen Differenzierung zwischen den fünf Stellen P, R, a, b, x im Gang einer Explikation des Wahrheitsbegriffes; (2) die Notwendigkeit der wahrheitstheoretischen Argumentation zur weiteren Klärung dieses Begriffes; (3) die Möglichkeit der wahrheitstheoretischen Unterscheidung zwischen verschiedenen Varianten der Korrespondenztheorie.

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mentale Bedeutung dieser Aufgabe erhellt daraus, daß nur eine hinreichend genaue Begriffsdefinition es ermöglicht, "Wahrheit" in Beziehung zu anderen Begriffen zu setzen oder die mit ihm verknüpften Probleme erfolgversprechend anzugehen. Aufgrund des fundamentalen Status' dieses Grundelementes jeder Theorie der Wahrheit wird die Theorie als Ganze zumeist so benannt, daß ihr Name (Korrespondenz-, Kohärenz-, Konsensustheorie der Wahrheit) die für sie kennzeichnende Wahrheitsdefinition nennt. Nun besteht aber die restriktive Auffassung, in einer Theorie der Wahrheit gehe es ausschließlich darum, den Wahrheitsbegriff zu definieren.82 Begründen läßt sich diese Auffassung etwa mit der sachlichen Schwierigkeit und dem großen Umfang der Thematik. Aber läßt sich die Wahrheitsproblematik wirklich in dieser Weise einengen - droht so nicht eine Verkürzung ihres tatsächlichen Gegenstandsbereiches? Immerhin hat bereits Kant gesehen, daß die Theorie der Wahrheit sich nicht in einer bloßen Definition erschöpft, weil damit nur in einem Teilbereich des Wahrheitsproblems Klarheit gewonnen wäre: "Die Namenerklärung der Wahrheit, daß sie nämlich die Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstande sei, wird hier geschenkt, und vorausgesetzt; man verlangt aber zu wissen, welches das allgemeine und sichere Kriterium der Wahrheit einer jeden Erkenntnis sei." 83

Auf dieser Basis hat Rescher versucht, "definitorische und kriterienbezogene Wahrheitstheorien" zu unterscheiden: "Es gibt grundsätzlich zwei Möglichkeiten, die Wahrheit von Propositionen zu explizieren. Die eine ist der definitorische Weg: der Versuch, eine Definition des Begriffs 'ist wahr' als eines Charakteristikums von Propositionen zu geben. Die andere ist der Weg über die Kriterien: der Versuch, die Überprüfungsbedingungen anzugeben, von denen abhängt, ob es berechtigt ist, die Bezeichnung 'ist wahr' auf eine bestimmte Proposition anzuwenden. " 84

Diese beiden "Wege" legen es nahe, zwei Themenbereiche innerhalb der einen Theorie der Wahrheit zu unterscheiden, die sich nicht auseinander ableiten oder vollständig aufeinander reduzieren lassen. Eine Stufe umfangreicher ist die Unterscheidung von Härle, der innerhalb der Wahrheitstheorie drei Subtheorien einerseits zu unterscheiden, andererseits zu kombinieren vorschlägt, die aus einer definitorischen, einer

82

83 84

Cf. tendenziell Frenzen, 1982, S. 18-20 und S.238-243; eindeutig Künne, 1985, S.117. Immanuel Kant, KdrV, S. 102 (B 82). Rescher: "Die Kriterien der Wahrheit" (1973). In: Skirbekk (Hg.), 1980, S.337-390, dort S.337.

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Hermeneutische und wahrheitskonzeptionale Überlegungen

kriteriologischen und einer verfahrenstheoretischen Betrachtungsweise des Wahrheitsproblems erwachsen. 85 Das wohl bisher umfassendste Modell von Wahrheitstheorie hat Puntel skizziert. Er schlägt die Unterscheidung von fünf verschiedenen Themenbereichen vor, denen innerhalb der Theorie der Wahrheit folgende Subtheorien gewidmet sein sollen: (1) die explikativ-defmitionale Teiltheorie der Wahrheitstheorie; (2) die kriteriologische Teiltheorie der Wahrheitstheorie; (3) die paradoxologische bzw. evaluativ-extensionale Teiltheorie der Wahrheitstheorie; (4) die typologische Teiltheorie der Wahrheitstheorie; (5) die wissenschaftstheoretische Teiltheorie der Wahrheitstheorie. 86 Allerdings ist der Begriff des Wahrheitskriteriums bei Puntel so weit gefaßt, daß dieser sich zu einer Unterscheidung von "inneren" und "äußeren" Kriterien genötigt sieht. Dennoch gelangt er zu keiner klaren Ausdifferenzierung von eigentlichen Kriterien als Maßstäben, anhand derer sich überprüfen läßt, ob etwas wahr ist. Von daher unterscheidet er auch nicht zwischen Kriterien und notwendigen Maßnahmen (d.h. Verfahrensweisen wie Verifikation, Beweis, Falsifikation) zur Überprüfung von Wahrheitsbehauptungen anhand der gesetzten Maßstäbe. 87 Hier scheint mir Puntéis Begriff des Kriteriums mit Hilfe des Modells von Härle noch präzisierbar und ausdifferenzierbar zu sein. Eine interessante Analogie zu dieser wahrheitstheoretischen Problematik findet sich in der Heidegger-Schule übrigens im Zusammenhang mit Versuchen, den Begriff des "Maßes" im Rahmen der Wahrheitskonzeption Heideggers zu interpretieren. Gogel etwa schreibt: "As we have seen, the explicit concept of measure must encompass a hierarchy of fundamentally interrelated structures: categorial standards {Maßstäbe), existential

proportioning (Maßnahmen) and aletheiological apportionment (Maßgaben)."88

Wenn sich mit Härles und Gogels Argumenten hinreichende Gesichtspunkte für eine Unterscheidung von kriteriologischer und verfahrenstheoretischer Fragestellung innerhalb der Wahrheitstheorie namhaft machen lassen, ergibt sich eine Erweiterung des Themenpotentials dieser Theorie auf sechs Themenbereiche, denen sechs Subtheorien der Wahrheitstheorie zugeordnet sind: (1) die explikativ-defmitionale Teiltheorie der Wahrheitstheorie; 85 86

87 88

Härle, 2 1987,S. 173-185. Puntel, 1987, S.2f; Puntel, 1990a, S. 15-29.- Die Notwendigkeit seiner Differenzierung der Wahrheitstheorie in fünf Subtheorien begründet Puntel einerseits mit fundamentalen sachlichen, andererseits mit pragmatisch-kontingenten Gesichtspunkten (Puntel, 1990a, S.26f), wobei nur die Konjunktion beider Gesichtspunkte ein triftiges Argument abgebe. Puntel, 1990a, S. 17-22. Gogel, 1987, S.203f.

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(2) die kriteriologische Teiltheorie der Wahrheitstheorie; (3) die verfahrenstheoretische Teiltheorie der Wahrheitstheorie; (4) die paradoxologische bzw. evaluativ-extensionale Teiltheorie der Wahrheitstheorie; (5) die typologische Teiltheorie der Wahrheitstheorie; (6) die wissenschaftstheoretische Teiltheorie der Wahrheitstheorie. Diese sechs Themenbereiche können zwar unterschieden, aber nicht gänzlich voneinander getrennt werden. Deswegen kann z.B. eine spezifisch gewählte Wahrheitsdefinition die Lösung für die paradoxologische Teilfrage der Wahrheitsfrage implizieren, wie dies bei Tarskis Definition der Fall ist. Auch ist eine Typologie von Wahrheiten) selbstverständlich nur aufgrund einer zuvor erfolgten Explikation und/oder Definition derselben möglich. Aber keineswegs ergibt sich aus der jeweiligen Wahrheitsdefinition schon analytisch, welche (noetischen/äußeren) Kriterien und Verfahren angelegt und verwendet werden können, um Wahrheit zu finden. Deshalb empfiehlt sich aus grundsätzlichen und pragmatischen Gründen (welche etwa den Umfang von bestimmten Teilfragen betreffen) die Unterscheidung der genannten sechs Themenbereiche. Dieses Raster scheint mir für die Zwecke meiner Arbeit im übrigen vorzüglich geeignet zu sein. Aufgrund des fundamentalen Status' der Wahrheitsdefinition innerhalb einer Wahrheitstheorie legt es sich nahe, von einer Grunddifferenz [Wahrheitsdefinition / weitere Elemente der Wahrheitstheorie] auszugehen und in diese Grunddifferenz die übrigen Differenzierungen einzuzeichnen. Damit ergeben sich als weitere Gliederungspunkte dieses struktural-systematischen Paragraphen: Die Gewinnung einer Wahrheitsdefinition als Grundanliegen der Wahrheitstheorie (§2.4.2); die anderen Themenbereiche der Wahrheitstheorie (§2.4.3). Dabei soll gelegentlich in sehr knapper Weise auch schon ein Vorblick auf die analogen Elemente der Wahrheitsproblematik bei Heidegger gegeben werden; alles Nähere wird im Heidegger-Teil dieser Arbeit selbst entfaltet. §2.4.2 Die Gewinnung einer Wahrheitsdefinition ab Grundanliegen der Wahrheitstheorie Im folgenden sollen paradigmatisch die drei wohl meistdiskutierten und erfolgversprechendsten Wahrheitstheorien (die Konsensus-, die Kohärenzund die Korrespondenztheorie der Wahrheit) hinsichtlich ihrer fundamentalen explikativen bzw. definitionalen Grundanliegen struktural-systematisch dargestellt werden. Unser Anliegen ist es weder, eine eigene Definition vorzulegen, noch eine Option für eine dieser Theorien umfassend zu begründen. Gleichwohl kann und soll nicht verborgen bleiben, daß diese Arbeit letztlich der Korrespondenztheorie der Wahrheit vor den anderen

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Heimeneutische und wahrheitskonzeptionale Überlegungen

Wahrheitstheorien den Vorzug gibt. Allerdings wird sich zeigen, daß diese Theorie gar nicht in einer einzigen kohärenten Version vorliegt, sondern nur in einer Reihe von untereinander "familienähnlichen" Varianten. Die Konsensustheorie soll in der Fassung, wie sie Habermas entwickelt hat, thematisiert werden 89 ; für die Kohärenztheorie orientiere ich mich an den differenzierten und verdienstvollen Arbeiten von Puntel. Auf andere Wahrheitstheorien werde ich im folgenden nicht eingehen. 90 Gezeigt werden soll, daß jedenfalls die drei wichtigsten Wahrheitstheorien auf der Basis unseres vorläufigen und formalen Explikationsresultates aus §2.3 verstanden und rekonstruiert werden können. %2.4.2.1 Die Wahrheitsdefinition über die Korrespondenzrelation Die Grundthese dieses Abschnittes lautet: Es existiert keine einheitliche "Korrespondenztheorie der Wahrheit" 91 , wie sowohl Vertreter als auch Gegner derselben häufig unterstellen, sondern es bestehen eine Reihe von untereinander bestenfalls "familienähnlichen" differenzierbaren Varianten dieser Theorie. Daraus ergibt sich für Vertreter und Gegner dieser Theorie die Verpflichtung, zu explizieren, für bzw. gegen welche Variante sie jeweils Stellung nehmen. Unser Vorschlag einer Variantendifferenzierung orientiert sich an dem in §2.3 gewonnenen vorläufigen und formalen Explikationsresultat des Wahrheitsbegriffes: [Für eine Person P besteht eine Relation R zwischen zwei Relaten a und b, die sich in der Entität x manifestiert.] Dabei sind vor allem zwei Differenzierungsmöglichkeiten zu beachten: Es wird (1) nach den zwei Relaten a und b gefragt, zwischen denen die Differenzrelation besteht, sowie nach der Entität x, in welcher sie sich manifestiert; (2) aber nach dem Relationscharakter der jeweils behaupteten Relation.

Die konstruktivistische Variante dieser Theorie (Lorenz/Lorenzen) würdigt Puntel (21983, S. 164-171). Ich werde hier weder auf die Redundanztheorie noch auf die Evidenztheorie der Wahrheit eingehen. Zur pragmatistischen Wahrheitstheorie cf. §3.2.1 dieser Arbeit. Der wohl von Russell eingeführte (cf. Franzen, 1982, S.47) Terminus "Korrespondenztheorie der Wahrheit" wird daher hier als ein formaler Oberbegriff verstanden. Wie die Korrespondenz-Relation des näheren semiotisch, erkenntnistheoretisch und ontologisch expliziert werden muß, ist eine entscheidende Frage, die hier nur formuliert, nicht aber beantwortet werden kann.

Die "Wahrheitsfrage". Versuch einer terminologischen Klärung

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Ad (1) Relate und Entitäten der Korrespondenztheorie In der klassischen scholastischen Wahrheitsdefinition des Thomas von Aquin wird Wahrheit als "adaequatio rei et intellectus"92 bestimmt, als die beiden Relationsglieder werden somit "intellectus" und "res" aufgefaßt. Damit verwandt ist eine andere klassische Distinktion, jene nämlich von Denken und Sein. Neuzeitlich-kantisch entspricht beiden Distinktionen die Differenz von Subjekt und Objekt. Auch die von Husserl vertretene phänomenologische Wahrheitsdifferenz von "Intention" und "Erfüllung" liegt im Prinzip auf dieser Linie, wie in einem Exkurs im II. Hauptteil (§3) gezeigt werden soll. Eine neuere evolutionsbiologische Wahrheitsdefinition arbeitet mit dem Begriff der "Anpassung": Die kognitiven Strukturen passen sich im Falle der Wahrheit der Realität an. 93 Eine andere, im Prinzip schon in der älteren Tradition94 angelegte Auffassung, wurde für die meisten Wahrheitstheorien in unserem Jahrhundert charakteristisch und vorherrschend. Sie nimmt als das eine Relat die Aussage, als das andere die Wirklichkeit an. Damit ist schon in der Wahrheitsdefinition festgehalten, daß Wahrheit immer in Form einer Zeichenund/oder Sprachvermittlung (Aussage) vorliegt. Insofern kann eine solche Definition als eine Präzisierung der traditionellen Auffassung verstanden werden, indem präzise zu zeigen versucht wird, in welcher Weise (nämlich qua Zeichenvermittlung) sich subjekthafte kognitive Strukturen an objektive Realität "anzupassen" vermögen. Tarskis theoretischer Ansatz geht von dieser Einsicht aus und versucht auf deren Basis eine logisch-semantische Rekonstruktion der Korrespondenztheorie der Wahrheit. Sein Rekonstruktionsversuch bemüht sich, dem Geist der Umgangssprache (dem "Wahrheitsverständnis", wie wir es oben nannten) ebenso Genüge zu tun wie den "Intuitionen der klassischen aristotelischen Konzeption der Wahrheit" . 9 5 Für jede formalisierte Sprache endlicher Ordnung - aber auch nur für diese - kann Tarski in einer von der Objektsprache unterschiedenen Metasprache jeweils eine formal korrekte Definition der wahren Aussage angeben bzw. kann angeben, wie diese zu konstruieren wäre. 96 Sein Hauptbeispiel, "Der Satz 'Es schneit' ist wahr dann 92

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Thomas, De veritate, S.8-1S. Thomas zitiert die Formel nach Isaak ben Salonion Israeli und behauptet - wahrheitstheoretisch folgenträchtig - die aristotelische Tradition dieser Formel. Cf. dafür Theißen, 1984, S.206. Bereits Aristoteles läßt sich so deuten; als Beispiel sei hier Kant zitiert: "Denn Wahrheit oder Schein sind nicht im Gegenstande, so fern er angeschaut wird, sondern im Urteile über denselben, so fern er gedacht wird" (Kant, KdrV, S.308 (=B350)). Für das erstere cf. Tarski, 1935, S.457f und Tarski, 1944, S. 167f; für das letztere cf. Tarski, 1944, S.142. Tarski, 1935, S.536.

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Henneneutische und wahrheitskonzeptionale Überlegungen

und nur dann, wenn es schneit", läßt sich verallgemeinern in der Formel: "p" ist wahr dann und nur dann, wenn p. Dabei ist wichtig, zu sehen, daß mit p und "p" die Differenzierung einer Aussage von einer Meta-Aussage bezeichnet ist. Daran wird deutlich, daß es Wahrheit nicht sprachunabhängig, sondern nur sprachvermittelt geben kann. Gerade deswegen bleibt Tarskis Konzeption allerdings, indem sie beide Relate der Wahrheitsrelation als Aussagen setzt, ontologisch in bezeichnender Weise neutral?1 Härle denkt die zwei Relate der Wahrheitsrelation als Intension und Extension einer Aussage.98 Seine Konzeption stellt daher ebenfalls einen Bestimmungsversuch auf dieser Linie dar. Die zwischen zwei Relaten a und b existierende Relation R manifestiert sich geläufiger Auffassung zufolge in einer Entität x. Dabei sind zwei Fälle zu unterscheiden. Der erste, einfachere Fall ist der, daß die Entität x mit einem der beiden Relate identisch ist; x=a. Dies ist etwa dann der Fall, wenn die Korrespondenzrelation als zwischen Aussage und Wirklichkeit bestehend angenommen wird. Die Aussage ist dieser Auffassung zufolge sowohl das Relationsglied a als auch die Entität x, in welcher sich diese Relation manifestiert. Anders liegt der Fall, wenn die Relation etwa als zwischen Intension und Extension einer Aussage bestehend gedacht ist. Dann ergibt sich: Aussage = x; Intension = a; Extension = b. Mit gutem Grund kann man die Unterscheidung der Relate a und b und der Entität x als die sinnvolle und differenzierte Interpretation einer im Kern dyadischen Relation sehen."

Mit Tarskis Theorie, die die Äquivalenz einer Aussage mit einer Meta-Aussage behauptet, ist jedenfalls ein formaler Rahmen für eine konkrete Wahrheitsdefinition gesetzt. Als Wahrheitsdeßnition ist Tarskis Formel, wie dieser selbst gesehen hat (Tarski, 1944, S.169), ontologisch bzw. philosophisch neutral (so auch zu Recht Putnam, 1990, S. 174f). Sie sollte daher besser als wahrheitstheoretisches Meta-Kriterium bezeichnet werden. Vom "Tarski-Kriterium" redet daher Dalferth, 1984, S.107; ders., 1991, S.10S: "Vielmehr muß jede Wahrheitstheorie dem Tarski-Kriterium genügen, wenn sie ihr Thema nicht verfehlen will". "Dann läßt sich nämlich exakt beschreiben, was im Falle der Wahrheit miteinander übereinstimmt: nämlich die Extension und die Intension einer Aussage, die ihrerseits zwei unterschiedliche Klassen von Sachverhalten darstellen, die nichtsdestoweniger beide sprachlich verfaßt sind" (Härle, 21987, S.187). Denn jede beliebige mehrstellige Relation kann in zweistellige Partialrelationen zerlegt werden. Cf. Menne: "In einer mehrstelligen Relation sind gewissermaßen Relationen mit weniger Argumentstellen vorhanden. Diese nennen wir Partialrelationen. Mit wachsender Stellenzahl n steigt die Anzahl möglicher Partialrelationen ganz beträchtlich" (Menne, 1985, S.152). So enthält etwa jede dreistellige Relation drei zweistellige Partialrelationen, jede vierstellige Relation sechs zweistellige Partialrelationen usw.

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Ad (2) Die Explikation des Relationscharakters der Korrespondenzrelationen Wie immer man die zwei Relate der Wahrheitsrelation bestimmen mag, entscheidend ist darüber hinaus die nähere Beschreibung und Bestimmung des Relationscharakters der zwischen ihnen angenommenen Relation. Dabei läßt sich zunächst (2.1) grob unterscheiden zwischen ontobgischen (Adäquation, Ähnlichkeit, Abbildung) und logischen Relationsauffassungen (Identität, Äquivalenz). Sodann lassen sich die verschiedenen Relationen relationslogisch (2.2) und semantisch (2.3) voneinander differenzieren, was hier ansatzweise gezeigt werden soll. Ad (2.1) Die klassische Rede von der Adäquation kann sich auf Thomas von Aquin berufen, der aber neben "adaequatio" auch die Termini "correspondentia" und "convenientia" gebraucht, worauf Heidegger verweist (SuZ, S.214), ebenso übrigens auch die Termini "conformitas" und "assimilatio"100, was Heidegger nicht erwähnt. Thomas hat all diese Begriffe offenbar synonym gebraucht. Zwei andere zentrale ontologische Termini, die die Wahrheitsrelation zu explizieren suchen, lauten "Ähnlichkeit"101 und "Abbildung Die phänomenologische Wahrheitstheorie Husserls denkt sich Intention und Erfüllung im Falle der Wahrheit als in einer Identitätsrelation stehend (cf. den Exkurs zu Husserl in §3.1). Tarski verfahrt in seinem Definitionsansatz methodisch in rekursiver Weise102. D.h., er versucht, auf einfachste logische Strukturen von minimaler Komplexität zurückzugehen. Sein Explikationsresultat faßt die Wahrheitsrelation als eine logische Relation, genauer als Äquivalenzrelation auf: "p" ist wahr dann und genau dann, wenn p, also: "p" < - > p. 1 0 3 Unsere Grundthese in diesem Abschnitt (§2.4.2.1) lautet, daß es keine einheitliche Korrespondenztheorie der Wahrheit gibt, sondern nur eine 100 101

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Cf. Thomas, De veritate, S.8. Mit der Auffassung der Korrespondenz als Ähnlichkeit (similarity), aber eben nur mit dieser, setzt Putnam sich argumentativ auseinander (Putnam, 1990, S.84-104). Sein Gegenargument, die "Ähnlichkeit" sei eine viel zu vage Relation, da alles ja letztlich allem anderen in vielen Hinsichten ähnlich sei (ebd., S.94), trifft sicherlich zu - aber damit ist noch nicht die Korrespondenztheorie der Wahrheit abgelehnt, sondern eine spezifische Interpretation bzw. Variante derselben, vielleicht ihre schwächste. Tarski, 1944, S.156. Vor allem wegen dieser logischen Relationsauffassung kann Tarski seine Theorie als philosophisch "völlig neutral" betrachten (Tarski, 1944, S. 169). Akzeptiert man diese Sicht (was Heidegger beispielsweise nicht getan hätte, weil seiner Auffassung zufolge die formale Logik auf ontologischen Vorentscheidungen aufbaut), steht man vor einer Fülle von Anschlußproblemen, die sich daraus ergeben, daß die gewonnene Wahrheitsdefinition semiotisch, erkenntnistheoretisch und ontologisch präzisiert und konkretisiert werden muß.- Zu neueren Problemen und Tendenzen der Tarski-Interpretation cf. Puntel, 1990a, S.338-342.

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Hermeneutische und wahrheitskonzeptionale Überlegungen

Reihe von untereinander bestenfalls "familienähnlichen" differenzierbaren Varianten dieser Theorie. Dies läßt sich im folgenden besonders gut belegen, indem wir die hier aufgeführten Relationen relationslogisch und semantisch voneinander differenzieren. Ad (2.2) Untersucht man die verschiedenen Spielarten der Korrespondenztheorie der Wahrheit auf ihre logischen Relationseigenschaften hin, ergeben sich folgende Unterschiede: Während alle der hier aufgeführten Varianten der Korrespondenztheorie konnex104 sind (jedenfalls wenn man in einer zweiwertigen Logik denkt), muß im übrigen differenziert werden: (a) Die Identitäts- und die Äquivalenzrelation sind sowohl reflexiv als auch symmetrisch als auch transitiv. Das hat seinen Grund darin, daß Identitäts- und Äquivalenzrelation selber in einer Äquivalenzrelation stehen.105 Von diesen beiden logischen Relationen sind die drei aufgeführten ontologischen Relationen relationslogisch klar unterschieden. (b) Die Ähnlichkeitsrelation ist zwar reflexiv und symmetrisch, aber nur partimtransitiv.106 Denn wenn a b und b c ähnlich ist, dann kann zwar a c ähnlich sein, muß es aber nicht. (c) Die Adäquationsrelation dagegen ist zwar reflexiv, aber nur partimsymmetrisch (denn wenn a b adäquat ist, kann zwar b auch a adäquat sein, muß es aber nicht) und partimtransitiv. (d) Die Abbildungsrelation schließlich ist gerade nicht reflexiv, streng asymmetrisch und ebenfalls partimtransitiv.107 Weil die drei ontologischen Wahrheitsauffassungen (b-d) bereits logisch deutlich voneinander unterschieden sind, liegt nahe, daß dies auch ontolo-

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Eine Relation R heißt konnex, wenn für alle ihre Tenne gilt, daß, wenn Vorgänger und Nachfolger von R nicht identisch sind, zwischen ihnen R oder die Konverse von R gültig ist (Menne, 1985, S.145). Noch genauer läßt sich die Identität als ein "extremer Spezialfall von Äquivalenz" (Jacobs, 1989, S.21) begreifen. In allen vier Relationseigenschaften entspricht die Ähnlichkeit der Analogie. Daß diese gleichwohl mit jener nicht identisch ist, dafür cf. Menne: "Identität, Gleichheit, Ähnlichkeit" (in: ders., 1988, S.91-104, dort S. 102-104). Mennes Grundgedanke ist der, daß der Ähnlichkeitsbegriff ziemlich unscharf und mehrdeutig ist. Er kann sowohl "beinahe gleich", "teilweise gleich", "formgleich" als auch "analog" bedeuten. "Ähnlichkeit" stellt somit einen nahezu äquivoken Oberbegriff dar. Zwar gibt es in der Mathematik den Fall, daß eine geometrische Figur auf sich selbst abgebildet wird. Aber ontologisch setzt Abbildung immer die grundsätzliche Differenz von Urbild und Abbild voraus, also eine Nicht-Reflexivität und Asymmetrie. Wohin es fuhren würde, wenn dies anders wäre, kann der Theologe sich am Beispiel der Paulinischen und Schleiermacherschen Urbildchristologie erschließen: Stünden der urbildliche Christus und seine menschlichen Abbilder jeweils in einer symmetrischen Relation, dann müßten die Menschen entweder schlechthin als göttlich oder der Christus ausschließlich als Mensch gedacht werden. Im ersten Falle wäre eine Erlösung überflüssig, im zweiten Falle unmöglich.

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gisch der Fall ist. Auch ist evident, daß die Äquivalenz- und die Identitätsrelation mit den ontologischen Relationen nicht einfach konvertibel sind. Ad (2.3) Auch anhand von semantischen Konnotationen lassen sich die verschiedenen hier skizzierten Relationen differenzieren. Ein Beispiel: Die Rede von "Ähnlichkeit" ist in jedem Falle steigerbar, hat komparativen Charakter. Das gleiche gilt z.T. auch für die Adäquationsrelation, denn es gibt Dinge, die in bestimmten Kontexten mehr oder weniger adäquat sein können; aber hier gibt es auch die eindeutige Differenz von [adäquat/inadäquat]. Sehr schwer fallt es uns, einer Abbildungsrelation einen komparativen Charakter zuzugestehen. Zwar mag dies für Bilder in einem "naturalistischen" Sinne angehen - dann ließe sich die Abbildungsrelation auch als Adäquation oder gar Ähnlichkeit verstehen -; faßt man aber "Abbildung" als eine komplexe abstrakte Relation von mathematischer Struktur, als Isomorphie, auf (wie sie in Wittgensteins "Tractatus" gedacht ist 108 ), dann ist eine Steigerungsfähigkeit ausgeschlossen: "2.21 Das Bild stimmt mit der Wirklichkeit überein oder nicht; es ist richtig oder unrichtig, wahr oder falsch." 109

Für die logischen Relationen der Identität und Äquivalenz gilt ebenfalls, daß ihnen kein komparativer Charakter eignet. Wir haben hier mit einer Explikation des Relationscharakters der verschiedenen Korrespondenzrelationen begonnen. Es hat sich gezeigt: Bereits relationenlogisch, aber auch semantisch lassen sich die verschiedenen Varianten der Korrespondenztheorie der Wahrheit voneinander differenzieren. Es läßt sich daher folgern, daß sie auch ontologisch durchaus verschieden sind. Die hier begonnene Explikation ließe sich fortsetzen. Das ist aber nicht unser Ziel. Für den Zweck dieser Arbeit reicht es hin, gezeigt zu haben, daß es keine einheitliche Korrespondenztheorie der Wahrheit gibt, sondern nur verschiedene Varianten derselben, die semiotisch, erkenntnistheoretisch und ontologisch präzisiert werden müssen. Auf diesem Sektor hat die Wahrheitstheorie noch Forschungsdesiderate. Wer aber als Gegner "der" Korrespondenztheorie der Wahrheit auftritt, der muß sich jedenfalls die Mühe machen, präzise anzugeben, gegen welche Variante dieser Theorie er Stellung bezieht. Eine pauschales Verdikt gegen die Korrespondenztheorie ist aufgrund der gezeigten Situation unmöglich. Zusammenfassend läßt sich die als Explikationsresultat gewonnene Strukturformel für die Definition von Wahrheit im korrespondenztheoretischen Sinn wie folgt anwenden:

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Cf. Stegmüller I, S.539-544; Puntel, 2 1983, S.38-40. Wittgenstein, 1918, S.16 (Leitsatz 2.21 des "Tractatus").

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Hermeneutische und watarheitskonzeptionale Überlegungen

[(Für eine Person P) Es besteht eine Korrespondenzrelation (sei sie als Adäquatheit, Abbildung, Ähnlichkeit, Äquivalenz usw. zu fassen) zwischen zwei Relaten a und b (seien diese: Denken/Sein; Aussage/Wirklichkeit; Intention/Erfüllung; Intension/Extension usw.), die sich in der Entität x (sei diese ein Satz; eine Aussage; eine Proposition usw.) manifestiert.] Dabei besteht ein unterscheidendes Merkmal der Korrespondenztheorie der Wahrheit gegenüber der Kohärenztheorie und der Konsenstheorie der Wahrheit darin, daß die beiden Relate a und b nicht einer gleichen Gattung angehören müssen110. Es wird somit die Differenz der Relate in dieser Differenzrelation besonders betont, und gerade deshalb hängt für die Akzeptanz der Korrespondenztheorie der Wahrheit alles daran, daß sie einer konsistenten ontologischen Interpretation fähig ist. Denn es muß der Wirklichkeitsstatus der beiden Relate und der zwischen ihnen bestehenden Relation expliziert werden. Ontologisch einfacher sind die Explikationsformeln anderer Wahrheitstheorien strukturiert: Denn sowohl für die Kohärenztheorie als auch für die Konsensustheorie gilt, daß die Relate der Wahrheitsrelation immer einer gleichen Gattung angehören, wie im folgenden gezeigt werden wird. §2.4.2.2 Die Wahrheitsdefinition über die Konsensusrelation Befürworter von Konsensustheorien gibt es auch, wenngleich nicht in sehr hoher Zahl, unter neueren protestantischen Theologen.111 In einer Konsensustheorie der Wahrheit wird vorrangig die Intersubjektivitätsrelation, also die Relation der Zeichenbenutzer (Subjekte) untereinander, thematisiert. Die Strukturformel einer solchen Theorie lautet daher:

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Sie müssen dies nicht, können es aber. Denn es gibt beispielsweise intertextuelle Korrespondenzen. Korrespondenzrelationen, in denen die zwei Relate a und b einer gleichen Gattung angehören, bilden somit einen Spezialfall innerhalb der Menge aller Korrespondenzrelationen. So sah etwa Pannenberg in seiner "Wissenschaftstheorie" eine "Einheit" zwischen Korrespondenz- und Konsensustheorie der Wahrheit (Pannenberg, 1973, S.43, Anm. 62) gegeben. Zur Kritik an dieser Konzeption cf. Härle, in: Härle/Herms, 1982/83, S.51-53. Ein anderer profilierter Vertreter einer Konsensustheorie ist Sauter, 1988, S.57-82, 187. Sauter weiß den theologischen "Consensus" allerdings - hierin von philosophischen Bezugspositionen klar unterschieden - durch den Heiligen Geist konstituiert und "letztlich immer im Gottesdienst verwurzelt" (ebd., S.79). Auch lehnt er eine empirisch erreichte Einheit deT Kirche "auch in der Form der Einmütigkeit" (ebd., S.62) als Kriterium der Wahrheit ab.

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[(Für eine Person P) Es besteht eine Konsensusrelation zwischen den Subjekten Sj, S2 - Sn, die sich in der Entität x (Satz; Aussage; Proposition) manifestiert.] Auch in dieser Theorie wird Wahrheit als eine Relation gedacht, die allerdings zwischen gattungsmäßig gleichen Relaten (Zeichenbenutzern oder Subjekten) besteht. Damit ist sie ontologisch einfacher strukturiert als die zuvor besprochene(n) Korrespondenztheorie(n). Ein zweiter Unterschied: Die Anzahl der möglichen Relate dieser Relation ist potentiell unendlich groß; es handelt sich um keine bloß dyadische Relation. In ihrer wohl entwickeltsten und meistdiskutierten Form, wie sie bei Habermas vorliegt112, wird diese Theorie durch einige Zusätze präzisiert. Einmal wird Wahrheit in bezug auf Aussagen definiert, und zwar vor dem Hintergrund der neueren Sprechakttheorie (Austin, Searle) als ein mit ihnen verbundener Geltungsanspruch: "Wahrheit ist ein Geltungsanspruch, den wir mit Aussagen verbinden, indem wir sie behaupten." 113

Im Gespräch erhobene Geltungsansprüche müssen diskursiv, d.h. durch möglichst triftige Argumente, eingelöst werden. Deshalb gilt nicht einfach, daß Wahrheit in irgendeinem faktisch erzielten Konsensus bestehe, vielmehr: "Wahr nennen wir Aussagen, die wir begründen können." 114

Die Wahrheitstheorie bedarf daher einer argumentationstheoretischen Abstützung, die aufgrund der Verortung von Argumentationen in Diskursen ihrerseits kombiniert wird mit einer Diskurstypologie, die zwischen "idealen" und "nichtidealen" Sprechsituationen unterscheidet. "Ideal nenne ich eine Sprechsituation, in der Kommunikationen nicht nur nicht durch äußere kontingente Einwirkungen, sondern auch nicht durch Zwänge behindert werden, die sich aus der Struktur der Kommunikation selbst ergeben. Die ideale Sprechsituation schließt systematische Verzerrungen der Kommunikation aus." 115

Daß es überhaupt ideale Sprechsituationen gebe, ist laut Habermas eine in Diskursen unvermeidliche, reziprok vorgenommene Unterstellung, die kontrafaktisch sein kann, aber nicht sein muß. 116 Ideale Sprechsituationen 112 113 114 115 116

Habermas: "Wahrheitstheorien" (1972). In: ders., 21986, S.127-183. Habermas, 2 1986,S. 129. Ebd., S.136. Ebd., S.177. Ebd., S.180.

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Hermeneutische und wahrheitskonzeptionale Überlegungen

können laut Habermas, wiewohl primär normative Postulate, antizipiert werden und dadurch Wirksamkeit erlangen: "Das normative Fundament sprachlicher Verständigung ist mithin beides: antizipiert, aber als antizipierte Grundlage auch wirksam."117

Habermas' These hat bekanntlich aus verschiedensten Richtungen Widerspruch provoziert. Einige wichtige Einwände gegen die von ihm präsentierte Theorie seien hier angedeutet. Einmal läßt sich von einem bloß normativen (zuweilen kontrafaktischen) Fundament aus wohl kaum etwas über die Möglichkeit oder gar Wirklichkeit von Wahrheit aussagen. Zweitens muß Habermas' Theorie mit kohärenztheoretischen Zusatzerwägungen operieren.118 Drittens liegt, semiotisch betrachtet, ein fundamentaler innerer Widerspruch aller Konsensustheorien darin, daß sie, die ja selbst die Aussage als Zeichenkomplex zum Wahrheitsträger erheben, diesen hinsichtlich seiner Relationen gerade nicht oder jedenfalls nicht primär thematisieren. Denn die Intersubjektivitätsrelation stellt keine Relation des Zeichenkomplexes zu einem semiosischen Relat dar, sondern eine allerdings selbst zeichenvermittelte Relation zwischen zwei oder mehreren kommunizierenden Subjekten.119 Viertens schließlich läßt sich zeigen - und zuerst hat dies Beckermann120 getan -, daß die Konsensustheorie von meingestandenen korrespondenztheoretischen Prämissen aus argumentiert. Nimmt man diese vier Einwände zusammen, scheint es eine zutreffende Deutung der Konsensustheorie der Wahrheit zu sein - sofern man diese nicht ganz aufgeben will -, daß es sich bei ihr um eine spezifische Teil-

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Ebd., S. 181. "Begründungen haben nichts mit der Relation zwischen einzelnen Sätzen und der Realität zu tun, sondern zunächst einmal mit der Kohärenz zwischen Sätzen innerhalb eines Sprachsystems [Hervorhebung v. EMP]" (Habermas, 21986, S.166). Es muß daher nicht verwundern, wenn Puntel in seiner ebenso sorgfältigen wie freundlichen Rekonstruktion diese Theorie als eine sprachpragmatisch-intersubjektive Variante der Kohärenztheorie deutet (Puntel, 21983, S.163f). Von Konsensustheorien zu unterscheiden sind, was hier nur angedeutet werden kann, Diskurstheorien der Wahrheit, die mit der Möglichkeit von Konsens und Dissens in einem Diskurs rechnen und das Telos des Konsenses von korrespondenz- und kohärenztheoretischen Voraussetzungen her begründen. Diskurstheorien sind somit nicht prinzipiell als selbstwidersprüchlich anzusehen. Über ihre Leistungsfähigkeit muß im Einzelfäll geurteilt werden. Zur Selbstwidersprüchlichkeit reiner Konsensustheorien siehe auch Keil, 1986, S.57f. Beckermann, 1972, S.63-80. Nur ein Beispiel: Im Anschluß an Piaget und C. F. von Weizsäcker postuliert Habermas die "'Angemessenheit' des Sprachsystems an seinen Gegenstandsbereich" (Habermas, 21986, S.168f, cf. S.165) als eine Voraussetzung triftiger Argumentationsketten.

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theorie der Wahrheitstheorie handelt, wie Härle vorgeschlagen hat 121 , nämlich um eine Verfahrenstheorie der Wahrheitsfindung. Damit wird ihr ein relatives Recht zugestanden. Denn die Herstellung von "idealen Sprechsituationen", d.h. die Ausschaltung von systematischen Kommunikationsverzerrungen wie Dominanz, Gewalt, Folter, stellt in der Tat eine fundamentale ethische Aufgabe dar. Aber selbst ein in einer idealen Sprechsituation ermittelter kohärenter Argumentationszusammenhang verbürgt noch keinesfalls die Wahrheit des Ermittelten. Deshalb ist die Konsensustheorie für sich genommen als Wahrheitstheorie völlig untauglich. §2.4.2.3 Die Wahrheitsdefinition über die Kohärenzrelation Während die wahrheitstheoretische Diskussion der siebziger Jahre vorwiegend durch die Auseinandersetzung mit der Konsensustheorie der Wahrheit geprägt war, kann man feststellen, daß sich seit den achtziger Jahren eine gewisse Tendenz der wahrheitstheoretischen Diskussion in Richtung auf die Kohärenztheorie der Wahrheit abzeichnet. Belege für diese Tendenz bieten die Arbeiten von Rescher (1973/1987), Puntel (2l983/1987/1990a), Hoven (1989)122 und Putnam (1990)123. Im Bereich protestantischer Theologie finden sich diesbezügliche Erwägungen bei Dalferth (1981)124 und Härle (1982)125, die explizite Vertretung bei Keil (1986)126 und Pannenberg (1988)127. Wahrheit wird in der Kohärenztheorie der Wahrheit so gefaßt, daß Kohärenz, d.h. die Konjunktion von Konsistenz, "Zusammenhängendheit" und Unfassendheit, das letztbestimmende Definiens der Wahrheitsdefinition 121 122 123

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Härle, 2 1987,S. 183-185. Hoven, 1989, S.202-230. Cf. Putnam, 1990, S.75f, 82f, 94. Wahrheit ist Putnam zufolge, der sich auf Kant beruft, die "idealisierte rationale Akzeptierbarkeit" oder eine "letztliche Güte des Zusammenpassens". Die Korrespondenztheorie der Wahrheit lehnt er deshalb ab, weil sie einen uns nicht gegebenen "Gottesgesichtspunkt" (God's Eye Point of View) präsupponiere (S.75f, 82, 105f). Dalferths Ansatzpunkt ist ein semiotischer. Weil er die Welt im ganzen als ein Universum von Zeichen versteht (cf. Dalferth, 1981, S. 152), erscheint für ihn vor diesem Hintergrund die Wahrheitsfrage als eine "Frage nach der Übersetzbarkeit zwischen Zeichensystemen" (S. 153) und rückt von daher in die Nähe einer semiotischen Kohärenztheorie der Wahrheit, die den Terminus der "Korrespondenz" aber nicht aufgibt, sondern semiotisch rekonstruiert (S.529f). Härle, der sich zuvor klar als Korrespondenztheoretiker bekannt hat, schließt nicht aus, daß "... der Streit zwischen Korrespondenz- und Kohärenztheorie vielleicht nur ein Streit um Worte" ist (21987, S.187). Keil, 1986, S.41ff. Pannenberg, 1988, S.31, 62ff (mit Berufung auf Augustin, Puntel und Rescher).

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Hermeneutische und wahrheitskonzeptionale Überlegungen

bildet. 128 Die gemeinte Kohärenz kann wenigstens teilweise129 als eine Relation gedeutet werden und besteht bzw. soll bestehen zwischen Aussagen bzw. Propositionen und/oder Systemen von Aussagen bzw. Propositionen. Die Anwendung unserer Explikationsformel auf die Kohärenztheorie ergibt folgendes Resultat: [(Für eine Person P) Es besteht eine Kohärenzrelation zwischen den Reisten Pj, Pj, •••Pn (Sätze/Aussagen/Propositionen usw.), die sich in der Entitätx (ein Satz/eine Aussage/eine Proposition) manifestiert.] Damit zeigt sich, daß auch für die Kohärenztheorie die Relate der Kohärenzrelation immer einer gleichen Gattung angehören. Ontologisch gesehen ist somit auch die Kohärenztheorie der Wahrheit von einfacherer Struktur als die Korrespondenztheorie. Wie für die Konsensustheorie gilt auch für die Kohärenztheorie: Die Anzahl der möglichen Relate der gemeinten Relation ist potentiell unendlich groß. Für eine gerechte Würdigung dieser Theorie ist es erforderlich, ihre spezifischen Leistungen herauszuheben. Zu diesen gehört zweifellos die Klärung des Kohärenzbegriffes selbst durch (Reschers und) Puntels Arbeiten. Deshalb wird die Leistungsfähigkeit der Kohärenztheorie unterschätzt, wenn man die Bedeutung von Kohärenz auf "Widerspruchsfreiheit" (=Konsistenz) restringiert130, denn Kohärenz bedeutet Puntel zufolge, wie schon gezeigt, eine Konjunktion von Konsistenz, "Zusammenhängendheit" und Umfassendheit. Daraus ergibt sich zunächst zweierlei, das argumentativ für diese Wahrheitstheorie spricht: Erstens ist es von diesem definitorischen Ansatz aus nicht schwierig, Wahrheitskriterien zu finden. Denn Konsistenz und Zusammenhängendheit sind zweifellos sehr gute Kandidaten für Kriterien, mit deren Hilfe die Wahrheit von Sätzen, Propositionen o.ä. untersucht werden könnte. Zweitens steht eine Konzeption von Wahrheit, die diese nicht in atomare und zusammenhangslose Einzelwahrheiten zerfallen läßt, sondern in holistischer Weise Wahrheit in Systemen von wahren Aussagen, Propositionen, Theorien usw. siedeln läßt, mit unserer alltäglichen Erfahrungswelt ebenso wie mit unseren wissenschaftlichen Bedürfnissen in bestem Einklang.131 128

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Puntel, 21983, S. 192-194, 215. Im Hintergrund steht die wichtige Arbeit von Rescher (1973), die hier nicht eigens gewürdigt werden kann. Cf. zur Definition der Kohärenz auch Hoven, 1989, S.218-220. Konsistenz und Zusammenhängendheit sind relationale Begriffe; nicht so der Begriff der Umfassendheit. In ihm kommt das spezifisch ontologische Moment bzw. Interesse der Kohärenztheorie zum Ausdruck. Dazu tendiert die (sonst sehr gute) Darstellung von Härle, 21987, S. 180-183. "Das Bestreben Zusammenhang in das Gedachte zu bringen, ist dasjenige, woraus alle Wissenschaft hervorgeht und dessen höchstes Erzeugnis also allerdings die Weltweisheit ist" (Schleiermacher, 1821/22, S.17).

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Ein drittes Argument für diese Theorie: Innerhalb ihrer wird unterschieden zwischen der "idealen" und der "faktischen Kohärenz". Und nur für die "ideale Kohärenz" kann, wenn überhaupt, gelten, daß sie mit Wahrheit identifizierbar ist. 1 3 2 Daher wird Wahrheit in Puntels neuester umfassender Arbeit als eine "regulative Idee" betrachtet: "Wahrheit ist keine Münze, weder eine echte noch eine falsche, die man erwerben, besitzen oder wieder veräußern kann. Wahrheit ist eher als ein regulativer Begriff einzustufen ... Wahrheit als regulative Idee muB gerade als deijenige Faktor angesehen werden, der das theoretische Unternehmen der Menschheit sowohl ermöglicht als auch offen hält."133 Eine weitere unbestreitbare Leistung speziell der Wahrheitstheorie Puntels ist sein wahrheitsontologischer Ansatz zur Bestimmung des primären Wahrheitsträgers, als welchen er die "Proposition" (oder, wie er in einem partiellen Neologismus sagt, den "Verhalt") ansieht. 134 Aber mir scheinen vor allem drei Argumente gegen die Kohärenztheorie der Wahrheit zu sprechen, die bedacht werden müssen; das letzte dürfte das stärkste Argument sein. Erstens wird die Kohärenztheorie meistens auf der Basis der Annahme der Geltung starker spekulativer Prämissen begründet 135 , sei es, daß die Wirklichkeit im ganzen idealistisch im Anschluß an Hegel als "Geist" oder semiotisch unter Berufung auf Peirce als "Universum von Zeichen" bestimmt wird. Sollten die genannten spekulativen Prämissen nicht gelten, entfiele auch die Begründung für die Kohärenztheorie. Zweitens: Während ein starkes Argument zugunsten der Korrespondenztheorie besagt, daß diese aufgrund der gattungsmäßigen Differenz ihrer zwei Relatklassen die Möglichkeit einer Korrigierbarkeit von einmal ge132

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Cf. Rescher, 1987, S.284-297, bes. S.284-286. Im Gegensatz zu seiner früheren Arbeit (1973) will Rescher nicht mehr die Wahrheitsdefinition qua Korrespondenz, das Wahrheitskriteriuni qua Kohärenz bestimmen. Denn zwischen Definition und Kriterium müsse (mit Blanshard) eine "Kontinuitätsbedingung" (S.295) angenommen werden. Von dort aus zeigt Rescher auf, daß "wahr" "ideal kohärent" impliziert und "ideal kohärent" "wahr" impliziert (S.288), folglich "wahr" und "ideal kohärent" äquivalent sind. Äquivalenz impliziert allerdings keineswegs Identität! Puntel, 1990a, S.337. Auch Alberts kritischer Rationalismus betrachtet Wahrheit als eine "regulative Idee" (Albert, 1978, S.41). Cf. auch Metsehl, 1989, S.5, 152f, 177. Cf. den umfangreichen und sachlich zentralen Abschnitt in Puntel, 1990a, S. 179-250. Es fragt sich allerdings, ob die von Puntel entworfene Bestimmung der Proposition nicht, sei es auch in modifizierter Weise, ein zentrales Element anderer Wahrheitstheorien sein könnte. Warum sollte nur die Kohärenztheorie der Wahrheit sich dieser - oder einer ähnlichen - Bestimmung bedienen können? Immerhin wurde eine Variante der Kohärenztheorie in unserem Jahrhundert mindestens zeitweise auch von einigen Anhängern des logischen Empirismus (vor allem Neurath) vertreten, ohne jedoch breiteren Zuspruch zu finden. Cf. Puntel, 21983, S. 176-182; Hofinann-Grüneberg, 1988; Hoven, 1989, S.202-207.

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Hermeneutische und wahrheitskonzeptionale Überlegungen

wonnenen Forschungsresultaten und damit die Möglichkeit von Erkenntnisfortschritt zwanglos und plausibel erklären kann136, fehlt eine analoge Plausibilität dort, wo die Relate der Wahrheitsrelation hinsichtlich ihrer ontologischen Struktur identisch sind. Man kann dann nur auf die Divergenz faktischer Strukturen und kontingenter Inhalte rekurrieren, aber die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntniskorrektur und Erkenntnisfortschritt nicht mehr ontologisch aufzeigen. Drittens, und dieses Argument scheint mir das entscheidende zu sein, läßt sich die Leistungsfähigkeit einer (oder mehrerer) Theorie(n) der Wahrheit überhaupt nur überprüfen, wenn man Kohärenz als ein Kriterium dieser Prüfung voraussetzt. Kohärenz erweist sich somit als ein wahrheitstheoretisches Metakriterium (cf. unten §2.5), das seinen Ort und seine Funktion im Rahmen einer Fundamental- oder Rahmentheorie der Wahrheitstheorie besitzt. Aus Gründen der Selbstreferenz ist zu vermeiden, daß Kohärenz sowohl das letztbestimmende Definiens der Wahrheitstheorie bildet als auch das Kriterium zur Prüfung der Leistungsfähigkeit dieses Definiens und damit der Wahrheitstheorie als solcher. So ist einerseits gezeigt, daß (und inwiefern) Kohärenz eine fundamentale Bedeutung für die Wahrheitstheorie hat, andererseits dürfte plausibel sein, warum Kohärenz nicht das letztbestimmende Definiens von Wahrheit sein kann. 137 §2.4.3 Die weiteren Themenbereiche der Wahrheitstheorie Als die weiteren Themenbereiche der Theorie der Wahrheit haben wir die Frage nach Kriterien der Wahrheit, nach Verfahren und Methoden der Wahrheitsfindung, nach der Paradoxologie und Typologie sowie nach der wissenschaftstheoretischen Verortung der Wahrheit bezeichnet. Diesen fünf Themenbereichen können fünf Teiltheorien (=Subtheorien) der Wahrheitstheorie zugeordnet werden. Letztere sollen hier in der bezeichneten Reihenfolge dargestellt werden. 136 137

Herms, 1978, S.53; Schwöbel, 1990, S.100. Allerdings sind die Grenzen zwischen Kohärenztheorie und Koirespondenztheorie der Wahrheit im Rahmen einer universalen Semiotik fließend. In einer solchen semiotischen Theorie kann Wahrheit als die Korrespondenz von symbolischen Zeichen propositionaler Struktur mit anderen (symbolischen, ikonischen, indexikalischen) Zeichen aufgefaßt werden. Insofern die Differenz der Zeichenklassen betont wird, muß von einer Korrespondenzrelation gesprochen werden. Insofern aber im Vordergrund steht, daß es um eine Korrespondenz von Zeichen untereinander geht (und vorausgesetzt wird, daß die Welt insgesamt ein "Universum von Zeichen" darstellt), kann ebensogut von Kohärenz geredet werden. Vor diesem Hintergrund ist es einleuchtend, daß neuerdings über die "Synthese" und "Äquivalenz" von Korrespondenz und Kohärenz nachgedacht wird (Härle, 21987, S.187; Puntel, 1987, S.33).

Die "Wahrheitsfrage". Versuch einer terminologischen Klärung §2.4.3.1 Die kriteriologische

Teiltheorie der

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Wahrheitstheorie

Erst kürzlich hat Joachim Track eine Konvergenz neuerer philosophischer und theologischer Konzeptionen in ihrem kriteriologischen Interesse in bezug auf die Bewahrheitung von Aussagen konstatiert. 138 Hier ist ihm wohl zuzustimmen; allerdings muß gefragt werden, was die Begriffe "kriteriologisch" und "Kriterium" in diesem Zusammenhang besagen. 1 3 9 Grundsätzlich läßt sich die Frage nach den Kriterien der Wahrheit mit Hilfe der Differenz von ontisch/noetisch^ bzw. innen/außen141 präzisieren. Die Behauptung der Existenz ethischer 142 Wahrheitskriterien stellt demgegenüber eine wahrheitstheoretische Außenseiterposition dar, auf die ich hier nicht eingehen kann. (1) Als ontische Wahrheitskriterien lassen sich die Merkmale bezeichnen, die etwas haben muß, um wahr zu sein. Daran, daß das von Härle genannte ontische Wahrheitskriterium der Korrespondenztheorie der Wahrheit

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Track, 1990, S.3-30, dort S.29. In diesem Sinne finde ich Jiingels These plausibel: "Ja, wahrscheinlich wird das Kriterium für die Wahrheit noch umstrittener sein als die Wahrheit selbst" (Jüngel, Geheimnis, S.311). Diese Differenz hat Härle, 21987, S. 178ff, eingeführt. Heidegger würde eine solche Unterscheidung nicht akzeptieren, da sie auf dem erkenntnistheoretischen SubjektObjekt-Modell beruht. Wenn es bei Heidegger Wahrheitskriterien geben sollte, dürfen diese somit zumindest nicht der Differenz ontisch/noetisch unterliegen. Diese räumliche Metaphorik findet sich bei Puntel (1990a, S. 17-22). Ich möchte an diesem Punkt darauf hinweisen, daß ich im Gegensatz zu Puntel (aber im Anschluß an Härle, 21987) eine klare Distinktion zwischen Kriterienfragen und Verfahrensfragen der Wahrheitsfindung für geboten halte. Dabei ist nicht zu bestreiten, daß eine Schnittmenge zwischen beiden Themenbereichen existiert: Ein zwingend gelungener Beweis ist auch ein Wahrheitskriterium. Aber es gibt Verfahren und Methoden der Wahrheitsfindung und -bewährung, die keine Wahrheitskriterien sind - und umgekehrt. Aus diesem Grund, aber auch aus dem pragmatischen Grund, die Diskussion möglichst einfach und überschaubar zu halten, verwende ich Puntels sehr differenzierte Terminologie (cf. Puntel, 1990b, S.389, 391-397) an dieser Stelle nicht. Die Distinktion von "inneren" und "äußeren" Kriterien der Wahrheit hat inzwischen einen Grad der Differenziertheit und Komplexität erreicht, der für die Absicht einer grenzüberschreitenden Diskussion mit der phänomenologischen Philosophie Heideggers eher verwirrend denn hilfreich sein dürfte. Müller hat kürzlich in einer Besinnung auf die hermeneutischen Grundlagen der alttestamentlichen Wissenschaft die Anwendung ethischer Wahrheitskriterien gefordert, um die gegebene Polysemie biblischer Texte interpretativ begrenzen zu können (Müller, 1991, S.128-133). Die Frage nach der "Wahrheit" überschneidet sich zwar, wie oben gezeigt, mit der Ethik, läßt sich aber auf diese keinesfalls reduzieren. Eine durch ethische Wahrheitskriterien gekennzeichnete ethische Wahrheitstheorie würde das semantische Feld des Wahrheitsverständnisses nur zu einem sehr kleinen Teil rekonstruieren.

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Heimeneutische und wahrheitskonzeptionale Überlegungen

"Übereinstimmung mit der Wirklichkeit"143 heißt, wird deutlich, daß diese Art Kriterium sich aus der jeweils gegebenen Wahrheitsdefinition ergibt. Entsprechend ist ein ontisches Wahrheitskriterium der Kohärenztheorie die Widerspruchsfreiheit, eines der Konsensustheorie der "in the long run" erreichte Konsensus. Rescher spricht daher im Anschluß von Blanshard von einer "Kontinuitätsbedingung", die zwischen Wahrheitsdefinition und Wahrheitskriterium gilt. 144 Ein in so unterschiedlichen Wahrheitstheorien wie der Diskurstheorie, der Kohärenztheorie und der Korrespondenztheorie gleichermaßen impliziertes ontisches Wahrheitskriterium ist die Allgemeingültigkeit von Aussagen. Daß die Differenz zwischen ontischen und noetischen Wahrheitskriterien von elementarer Wichtigkeit ist, läßt sich an Beispielen wie der Allgemeingültigkeit und dem Konsensus zeigen. Denn wenn eine Aussage wahr ist, dann ist sie notwendig allgemeingültig und prinzipiell konsensfahig. Aber weder Allgemeingültigkeit noch Konsens sind noetische Wahrheitskriterien. Mir scheint, daß Habermas seine 1972 begründete These vom in einem herrschaftsfreien Diskurs erzielten Konsens als Wahrheitskriterium inzwischen u.a. deshalb zurückgezogen hat 145 , weil er merkte, daß er damit jedenfalls kein noetisches Wahrheitskriterium (oder wenn, dann bestenfalls ein schwach heuristisches) elaboriert hatte. (2) Noetische Wahrheitskriterien dagegen heißen Merkmale, anhand derer wir erkennen können, ob etwas möglicherweise oder tatsächlich wahr ist. Es handelt sich somit um Kennzeichen. (Wenigstens) die noetischen Kriterien lassen sich nun ihrerseits unterteilen in notwendige (a), hinreichende (b) und heuristische (c) Kriterien.146 Diese Unterscheidung läßt sich wie folgt erläutern: Ad (a) Ein notwendiges, keinesfalls aber hinreichendes Wahrheitskriterium bildet die logische Widerspruchsfreiheit (=Konsistenz) von Aussagen so Rescher (1973) und Härle (21987) in philosophischem Anschluß an 143 144

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Härle, 2 1987, S. 179. Rescher, 1987, S.295f. Von dieser Kontinuitätsbedingung her plädiert er für eine Kohärenztheorie der Wahrheit, die Wahrheit als "ideale Kohärenz" denkt.- Puntel sieht allerdings deutlich, daß die bezeichnete Kontinuität nur zwischen Wahrheitsdefinition und inneren (ontischen) Wahrheitskriterien, nicht aber auch für die äußeren (noetischen) gilt (Puntel, 1990a, S.17). Habermas: "Wahrheitstheorien" (1972), in: ders., 2 1986, S. 127-183. In einem 1983 geschriebenen Zusatz zur Fußnote 32 heißt es lapidar: "Zusatz 1983: Die Rede von Wahrheitskriterium ist irreführend" (S.160). Ich lasse hier mit Absicht offen, ob sich die ontischen Wahrheitskriterien in ähnlicher Weise differenzieren lassen. Die wahrheitstheoretische Forschung ist im kriteriologischen Sektor derzeit so stark im Flusse (cf. Puntel, 1990b), daß ich mir über den Bereich der "ontischen" und/oder "inneren" Kriterien kein abschließendes Urteil gestatten mag.

Die "Wahrheitsfrage". Versuch einer terminologischen Klärung

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Kant147. Konsistenz muß aber als eine Unterbestimmung von Kohärenz von dieser unterschieden werden, wie ich oben dargelegt habe. Ad (b) Als ein hinreichendes, nicht aber notwendiges Wahrheitskriterium läßt sich die Konsequenz eines Aussagensystems verstehen. Denn alle aus wahren Basisaussagen in gültiger Weise abgeleiteten Aussagen sind mit Sicherheit wahr; deshalb ist dieses Kriterium hinreichend. Aber viele Aussagen sind wahr, obwohl sie keinesfalls gültig abgeleitet worden sind oder abgeleitet werden können; daher ist dieses Kriterium nicht notwendig. Ad (c) Ein heuristisches Wahrheitskriterium möchte ich ein Kriterium nennen, das weder notwendig noch in jedem Falle hinreichend, aber manchmal hinreichend ist. So versteht etwa Apel Evidenz als ein heuristisch brauchbares und für unser Erkenntnisvermögen insgesamt sogar unabdingbares Kriterium von Wahrheit.148 Auch die Gesichtspunkte der Schönheit und Einfachheit kann man als heuristische Wahrheitskriterien auffassen.149 Die heuristischen Kriterien lassen sich nach dem Grad ihrer Zuverlässigkeit wiederum in schwache und starke heuristische Kriterien unterteilen. Gibt es bei Heidegger Wahrheitskriterien? Diese Frage ist umstritten. Während der Forschungskonsens die Frage verneint150, hat Gethmann151 mit Nachdruck darauf hingewiesen, daß der frühe Heidegger das pragmatisch über die Ausweisbarkeit am Gegenstand vermittelte Wahrheitskriterium der "Dienlichkeit" verwende. Dieses stellt, wie zuzugeben ist, im Rahmen einer insgesamt als "pragmatistisch" kennzeichenbaren Philosophie ein (allerdings schwaches, d.h. in seltenen Fällen hinreichendes) heuristisches Kriterium von Wahrheit dar. Auf jeden Fall läßt sich von Heideggers Ansatz her sagen, daß er, weil er die Überwindung der Subjekt-Objekt-Differenz intendierte, Wahrheitskriterien nicht nach ontischen und noetischen unterscheiden konnte, wie wir es hier vorgeschlagen haben.

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Die grundlegenden Überlegungen zur Bedeutung von Kohärenz für die Wahrheitstheorie bei Kant sind durchsichtig zusammengefaßt worden von Fleischer, 1984, S.86-132, bes. S.89-91. Rescher hat neuerdings einen - Puntel nahekommenden Standpunkt von Wahrheit als "idealer Kohärenz" eingenommen, seine kriteriologische Auffassung von Kohärenz also auf den Wahrheitsbegriff selbst ausgedehnt (Rescher, 1987, S.284-297). Apel, 1987, S.192. Gegen Apel muß allerdings festgehalten werden, daß Evidenz kein notwendiges Kriterium von Wahrheit darstellt. So ein Vorschlag von Heisenberg, 1979, S.40f, 102. Cf. Mörchen, 1984, S.243f; Richter, 1989, S.68f. Gethmann, 1989, S. 113-116.

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Hermeneutische und wahrheitskonzeptionale Überlegungen

§.2.4.3.2 Verfahren und Methoden der Wahrheitsfindung und -bewährung Hier läßt sich grundsätzlich unterscheiden zwischen solchen Verfahrensweisen der Wahrheitsfindung und -bewährung, die einen bloß plausiblen bis triftigen Charakter besitzen, und solchen, die einen zwingenden Wahrheitsnachweis erbringen. Zu diesen zählen die Deduktion sowie Verifikation und Falsifikation (1), zu jenen die Induktion und die Abduktion sowie die "Bewährung" von Aussagen im empirischen oder argumentativen Raum (2). Ad (1) Zwingende Verfahren und Methoden der Wahrheitsfindung Auf der Ebene des Urteils sind hier zunächst die unsere Erkenntnis nicht erweiternden Urteilsklassen der Tautologien und analytischen Urteile152 zu nennen.153 Bei den logischen Schlußmechanismen ist an die Deduktion zu denken, wie sie häufig in Syllogismen oder mathematischen Beweisgängen verwendet wird. In nicht-analytischen (d.h. also synthetischen) Erkenntniskontexten sind zwei Arten zwingender Verfahren der Wahrheitsfindung möglich: die sehr aufwendige, in endlichen Zeiträumen und offenen Systemen kaum oder gar nicht leistbare Verifikation und das ihr in asymmetrischer Weise entgegengesetzte Verfahren der Falsifikation154 von Wahrheitsbehauptungen. Asymmetrisch sind diese beiden Verfahrensweisen insofern, als "... universelle singulare Existenzpropositionen, die keine bestimmte Raum- und Zeitangabe beinhalten, niemals falsifiziert, sondern nur verifiziert werden"155 können; umgekehrt ist eine getätigte Allaussage bereits durch ein einziges Gegenbeispiel falsifiziert, aber in raumzeitlich offenen Systemen kaum je verifizierbar. In neueren systematisch-theologischen Entwürfen begegnet die Verifikation daher meist nicht als irdisch-zeitlich realisierbare, sondern als eschatologische156. Oder aber es wird eine Doppeldeutigkeit im Begriff der Verifikation angenommen157, die einen strengen Begriff von Verifika152

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Gödel hat beide Urteilsklassen (Tautologie: "ein Junggeselle ist ein Junggeselle"; analytisches Urteil: "ein Junggeselle ist unverheiratet") unter dem Oberbegriff der Analytizität zusammengefaßt (Gödel, 1944, S.V-XXXIV, dort S.XXVI und XXXIV). Quine lehnt den Begriff der Analytizität strikt ab, indem er ihn behavioristisch als erlernten Spracherwerb zum sozial fixierten Verhaltensmuster erklärt (Quine, 1989, S. 113-116). Allerdings fungiert als methodische Prämisse seiner Überlegungen eine grundsätzliche Intensionatttätsskepsis, die selbst wiederum höchst problematisch ist. Mit Popper läßt sich die Falsifikation als spezielle Form der Deduktion verstehen (Popper, »1989, S. 15-21). Dalferth, 1981, S.690. So im Anschluß an Hick bei Pannenberg, 1973, S.346f und Dalferth, 1981, S.689711. Tillich (Systematische Theologie I/II, S. 121-127) unterscheidet die Verifizierung experimentellen Charakters von einer nichtexperimentellen Verifizierung im Lebensprozeß selbst. Jene sei exakt und bestimmt, aber nicht bedeutsam, diese dagegen

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tion aber aufhebt. Die Falsifikation von Allaussagen durch die Erfahrung (oder auch durch eine Erfahrung mit der Erfahrung?) scheint in irdischzeitlichen Kontexten eher praktikabel. Daher wird sie etwa von Herms für den Bereich der metaphysischen Aussagen eingefordert. 158 Das Falsifikationsverfahren wäre somit - gegen die positivistische Engführung - nicht bloß auf synthetische Urteile a posteriori, sondern auch auf synthetische Urteile a priori anzuwenden. Ad (2) Plausible bis triftige Verfahren und Methoden der Wahrheitsfindung und -bewährung Die bloß plausiblen bis triftigen Verfahren der Wahrheitsfindung werden auf der Ebene der logischen Schlußmechanismen von Induktion und Abduktion repräsentiert. 159 Sie sichern nicht die Wahrheit aufgrund von notwendiger Gültigkeit, sondern stellen Wahres (oder Falsches) im Modus der Wahrscheinlichkeit oder Möglichkeit vor. Wenn weder Verifikation noch Falsifikation einer Behauptung möglich sind, bleibt als dritte ("mittlere") Möglichkeit die stets als vorläufig zu denkende Bewährung160. Wichtige Verfahrensweisen der Bewährung 161 von behaupteten Aussagen bestehen grundsätzlich im Verweis auf (eigene oder fremde, gemachte

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"lebenswahrer" und insofern bedeutsam, aber ohne Exaktheit und Sicherheit. Ahnlich (und ähnlich unklar) auch Ott, 1964, S.367-369, sowie Keil, 1986, S. 157-163. Wird bei einer solchen Unterscheidung der Begriff der Verifizierung aber nicht letztlich äquivok verwendet? Herms, 1978, S.48-50, 59-61. Auch Jüngel hält fest, daß jeder theologische Satz "nicht nur falsifizierbar" sei, sondern "ständig dem Streit ausgesetzt, wahr oder falsch zu sein" (Jüngel, Unterwegs, S.99). Zur Logik der "Argumente" cf. Peirce, 1983, S.89-98. Die wissenschaftstheoretisch bedeutsame Abduktion wird von Peirce so definiert: "Abduktion ist jene Art von Argument, die von einer Oberraschenden Erfahrung ausgeht, das heißt von einer Erfahrung, die einer aktiven oder passiven Überzeugung zuwiderläuft. Dies geschieht in Form eines Wahrnehmungsurteils oder einer Proposition, die sich auf ein solches Urteil bezieht, und eine neue Form von Überzeugung wird notwendig, um die Erfahrung zu verallgemeinern. Doch nun stellt der Interpretant der Abduktion die überraschende Erfahrung als ähnlich dar, d.h. als ein Ikon der Replika eines Symbols" (S.95). Eine einleuchtende Darstellung der drei Schlußformen Deduktion, Induktion und Abduktion findet sich bei Habermas, 21973, S. 143-178. Ersetzt man die Rede von der adstenziellen/personalen Verifikation bei Tillich, Keil und anderen durch die Rede von einer adstenziellen/personalen Bewährung, so läßt sich ein m.E. in religiösen und theologischen Kontexten unentbehrliches Postulat der Bewährbarkeit von Wahrheit formulieren. Die Wahrheit des christlichen Glaubens muß sich in der Erfahrung der Menschen je und je bewähren (lassen), sonst könnten wir weder zum Glauben kommen noch in ihm trotz Anfechtung verbleiben. Pannenberg, 1973, S.348, hat die Bewährbarkeit bzw. Nichtbewährbarkeit theologischer Hypothesen von vier Bedingungen abhängig gemacht: Theologische Hypothesen

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Hermeneutische und wahrheitskonzeptionale Überlegungen

oder machbare) Erfahrung162 und/oder in der Schaffung von Evidenz oder aber in der Bewährung in einem intersubjektiven, im Medium nichtrepressiver Argumentation geführten Diskurs. 163 In einem Diskurs soll die "Triftigkeit" von Argumenten entscheiden, was manchmal, aber nicht immer, eine kontrafaktische Unterstellung impliziert. 164 Wie eine Konsensbildung in kontroversen Sachfragen möglich ist, hat an dem aktuellen Thema der Diskussion über die Nutzung der Kernenergie Härle angedeutet: Zunächst geht es darum, einen Konsens darüber zu erzielen, worüber man uneins ist, also einen Meta-Konsensus über Konsens und Dissens. 165 Ist dieser erreicht, kann man versuchen, einen Konsens in einzelnen Sachlagen zu erzielen. Gibt es auch laut Heidegger plausible oder triftige Verfahrensweisen der Wahrheitsfindung? Ja, denn im Anschluß an die Rede von der "Un-Verborgenheit" des Seienden für das Dasein stellt für Heidegger das "privative Entbergen", also die Freilegung von Wahrheit als "Beraubung" der Verborgenheit, das Analogon zur Verfahrens- und Methodenthematik dar. Dabei wird der privative (d.h. beraubende) Charakter von Wahrheit überhaupt laut Heidegger am a-privativum des griechischen Begriffes sichtbar. 166

§2.4.3.3 Die typologische Teiltheorie der Wahrheitstheorie Diese Teiltheorie der Wahrheitstheorie unternimmt den Versuch einer Klassifizierung von gegebenen "Wahrheiten", unter denen im Rahmen dieser

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166

seien dann und nur dann als nicht bewährt zu betrachten, wenn sie (1) als Hypothesen über die Tragweite israelitisch-christlichen Glaubens gemeint seien, sich aber nicht als Implikationen christlicher Tradition ausweisen ließen; (2) wenn sie sich in ihrem Bezug auf die Wirklichkeit im ganzen nicht an ihrem Verhältnis zum Stand gegenwärtigen philosophischen Problembewußtseins ausweisen ließen; (3) wenn sie zur Integration des ihnen zugeordneten Erfahrungsbereiches untauglich seien; (4) wenn ihre Erklärungskraft hinter einem bereits erreichten Stand theologischen Problembewußtseins zunickbliebe. Cf. dazu die kritische Besprechung von Härle (in: Härle/Herms, 1982/83, S.43-53). Die Bewährung als Begründung einer Aussage meint freilich mehr als die bloß pragmatische Rechtfertigung einer getätigten Sprechhandlung, weil sie darauf zielt, theoretische, nicht bloß praktische Gründe anzugeben. Zu dieser wichtigen Differenz cf. Dalferth, 1981, S.508-510. Hierzu Härle, 2 1987, S. 183-185, der Habermas' Anliegen richtig als ein verfahrenstheoretisches rekonstruiert. Zum Begriff der "Triftigkeit" (=Substanzialität) von Argumenten bei Stephen Toulmin cf. Habermas, 2 1986, S.161-164, sowie Dalferth, 1981, S.511f. Härle, 1986a, S.67. Die Kirche kann dabei einen wesentlichen Beitrag zur politischen Kultur leisten, indem sie im skizzierten Sinne Raum für einen fairen und rationalen Diskurs bietet. Cf. die Ausführungen in §3.2.2.3 dieser Arbeit.

Die "Wahrheitsfrage". Versuch einer terminologischen Klärung

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Theorie zumeist wahre Sätze, Aussagen oder Propositionen verstanden werden, nach formalen und materialen Gesichtspunkten. Puntel167 nennt als Beispiele für eine formale Klassifizierung: notwendige - kontingente Wahrheiten, apriorische - aposteriorische Wahrheiten, Vernunftwahrheit - Tatsachenwahrheit. Dem materialen Typus seien durch thematische Kontexte bedingte Abgrenzungen wie die nach logischer, mathematischer, naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher "Wahrheit" zuzuordnen. An der Stelle einer typologischen Theorie der Wahrheit findet sich bei Heidegger die ablehnende Rede von den sogenannten "ewigen Wahrheiten"; bei Bultmann stoßen wir auf die Differenz von "allgemeinen Wahrheiten" und "Wahrheiten des Augenblicks". Wie diese Wahrheitstypologien zu verstehen sind, werden wir sorgfaltig bedenken müssen. Man wird sie jedenfalls nicht von vornherein in eine Reihe mit den "klassischen" Typologien von Leibniz und Kant stellen können. §2.4.3.4 Die paradoxologische Teiltheorie der Wahrheitstheorie Die Notwendigkeit, eine paradoxologische Teiltheorie der Wahrheitstheorie auszudifferenzieren, ergibt sich sachlich aus der speziell mit der Möglichkeit der Selbstbezüglichkeit gegebenen Möglichkeit der Selbstwidersprüchlichkeit von Wahrheitsansprüchen.168 Daß eine solche Selbstwidersprüchlichkeit in bestimmten Fällen gegeben ist, belegt das sogenannte "Paradox des Lügners", das von dem griechischen Logiker Eubulides von Milet169 (nicht, wie man oft liest170, Epimenides) im vierten Jahrhundert vor Christus erdacht wurde und seinen locus classicus im neutestamentlichen "Titusbrief" bekommen hat. Dort heißt es: "Es hat einer von ihnen gesagt, ihr eigener Prophet: Die Kreter sind immer Lügner, böse Tiere und faule Bäuche. Dieses Zeugnis ist wahr ..." (Tit 1, 12f).

Verkürzt man das Lügner-Paradox ganz auf seine Pointe hin, ergibt sich der lapidare Satz "Ich lüge". Die formal korrekte Version muß auf dem Problemniveau von Wahrheitstheorie nach unseren obigen Überlegungen zum Wahrheitsverständnis lauten: ["Diese Proposition (dieser Satz/diese Aussage) ist unwahr".]

167 168 169 170

Puntel, 1987, S.3; ders., 1990a, S.27f. Cf. die historisch-systematische Darstellung bei Metsehl, 1989, S.6-51. Siehe hierzu neuerdings Geier, 1989, S.63-109. Etwa in dem anregenden Kultbuch der Computergeneration von Hofstadter, 4 1985, S.19, 533, 618, 622; aber auch bei Luhmann, 1987, S.208.

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Hermeneutische und wahrheitskonzeptionale Überlegungen

Die Selbstwidersprüchlichkeit dieser Version(en) ist evident, wenn sie auch dem Schreiber des Titusbriefes nicht aufgefallen ist. Dieses antike wahrheitstheoretische Problem hat sich im Mittelalter unter dem Stichwort des "Insolubile" und in der Neuzeit im Begriff der "Antinomie" erhalten (Kant, Cantor, Russell).171 Der Beitrag Alfred Tarskis zur Wahrheitstheorie und Semantik besteht wesentlich darin, mit Hilfe seiner Wahrheitsdefinition und seiner Hierarchisierung von Sprache und Metasprache das Lügner-Paradoxon (auch in der neuzeitlichen Gestalt der Antinomie) einer formal konsistenten Lösung zugeführt zu haben. 172 Es gibt freilich auch andere Ansätze, sich dem Problem des "Lügners" zu stellen und Lösungsangebote vorzulegen.173 Zu der Thematik des "Lügners" gibt es bei Heidegger kein Analogat. Denn keineswegs liegt sein Interesse in der Ausmerzung von sprachlichen Paradoxa oder Antinomien. Vielmehr produziert er selbst häufig Sätze, die (mindestens?) auf den ersten Blick paradox oder selbstwidersprüchlich wirken, so zum Beispiel: "Die Wahrheit ist in ihrem Wesen Un-wahrheit"174. Noch ein Postscriptum zur Abgrenzung und Terminologie: Puntel hat seine Rede von der "Paradoxologie" (1987) inzwischen revoziert und spricht stattdessen von einer evaluativ-extensionalen Teiltheorie der Wahrheitstheorie. Dabei schließt die evaluativ-extensionale die paradoxologische Teiltheorie ein, hat aber einen größeren Umfang. In ihr geht es Puntel zufolge nicht bloß um Erörterung der Probleme, die sich aus der Selbstrückbezüglichkeit von Wahrheitsansprüchen ergeben, vielmehr um die grund171

172

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Cf. für unser Jahrhundert etwa Whitehead/Russell, 1910, S.86-94. Russell behandelt das Lügner-Paradox, ebenso die antinomische Idee der Klasse aller Klassen, die nicht Element ihrer selbst sind, im Rahmen seiner Typentheorie als "Zirkeltrugschlüsse". Cf. die Darstellungen bei Dalferth (1981, S.71-94, bes. S.86f) und Geier (1989, S.91-94). Tarskis Lösung besteht in nuce darin, daß er den Wahrheitsbegriff als einen Begriff der Metasprache betrachtet, in welcher über die Objektsprache geredet wird. In der Objektsprache darf der Wahrheitsbegriff nicht verwendet werden; in der Metasprache, und nur in ihr, kann er definiert werden (Tarski, 1944, S. 152-154). Eine andere Behandlung des Themas und Lösung des Problems findet sich etwa bei Peirce, der den Fall der Selbst(rück)bezüglichkeit von Propositionen in seiner semiotischen Theorie aufgrund der Definition des Zeichens als streng objektbezogener dreistelliger Relation ausschließt. Keine Proposition kann ihre eigene Wahrheit (oder Falschheit) behaupten, weil sie (1) diese bereits impliziert und (2) kein unabhängiges Objekt indizieren würde, wenn sie dies täte, somit keine Proposition mehr wäre (cf. Pape, 1986, S.17f und Peirce, 1986, S.440-444). Wiederum anders argumentieren auf der Basis der Formalisierung des RusseU'schen Propositionsbegriffes und der Austinschen Sprachpragmatik Barwise/Etchemendy, 1989. Heidegger: "Der Ursprung des Kunstwerkes" (1935/36). In: HW, S.40.- Es überzeugt m.E. nicht, wenn seine treuen Anhänger beteuern: "La non-vérité originaire n'a pas une signification logique, mais 'ontologique'" (Boutot, 21991, S.49).

Die "Wahrheitsfrage". Versuch einer terminologischen Klärung

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sätzliche Ermittlung der Extension des Wahrheitsbegriffes, die zwar von dessen in der explikativ-definitionalen Teiltheorie zu ermittelnden Intension bestimmt wird, dieser Intension aber konkrete Entitäten zuordnet. Im Grunde kann man somit in der extensional-evaluativen Teiltheorie das extensionale Pendant und Komplement zur intensionalen explikativ-definitionalen Teiltheorie sehen. Will man die Extensiohalität des Wahrheitsbegriffes grundsätzlich ermitteln, so heißt das, man muß: "... die grundsätzlichen Merkmale der Menge jener Entitäten genau angeben, denen 'Wahr(heit)' zukommt oder zugeschrieben wird, d.h. die mit 'Wahr(heit)' evaluiert werden. Das Resultat ist die Ganzheit der evaluierten Entitäten, also eine

evaluaäve ExtensionaUtät."175

Für den Zweck unserer Arbeit mag es genügen, weiterhin (in einfacherer Terminologie) von der paradoxologischen Teiltheorie der Wahrheitstheorie zu sprechen, die immerhin eine wesentliche Teilmenge der evaluativ-extensionalen Teiltheorie bildet.

§2.4.3.5 Die wissenschaftstheoretische Teiltheorie der Wahrheitstheorie Puntel erläutert die wissenschaftstheoretische bzw., wie er sie neuerdings nennt, "metaphilosophische/metawissenschaftliche" Subtheorie der Wahrheitstheorie wie folgt. Sie "... befaßt sich mit der Stellung und der Funktion von Wahrheit im Rahmen der Philosophie und der Wissenschaft(en). In dieser Perspektive wird Wahrheit als ein bzw. als jener Meta-Faktor betrachtet, der den Gesamtstatus ... der Philosophie und der Wissenschaft(en) bestimmt. Zu dieser Subtheorie der Wahrheit gehört beispielsweise die heute so wichtige Frage, ob Wahrheit das Ziel der Wissenschaften) und der Philosophie ist." 176

Auch Heidegger reflektiert die Frage nach dem Verhältnis von Wahrheit und Wissenschaft. Indem er behauptet, die Wahrheit der Wissenschaft sei als "Urteilswahrheit" oder "bloße Richtigkeit" eine bloß abgeleitete gegenüber der ursprünglichen "Erschlossenheit" des Daseins, gelangt er zu einer eindeutigen Zuordnung. Allerdings ist diese Zuordnung - leider - mit einer gewissen Abwertung der wissenschaftlichen Wahrheit(serkenntnis) verbunden. Dies soll (in §3.2) noch ausführlich dargestellt und kritisiert werden. An dieser Stelle sollten die sechs Teil- oder Subtheorien der Wahrheitstheorie hinsichtlich ihrer Grundinhalte kurz dargestellt und wenigstens die Ansatzpunkte innerhalb der Philosophie des frühen Heidegger bezeichnet 175 176

Puntel, 1990a, S.23; cf. den ganzen Abschnitt, S.22-27. Puntel, 1990a, S.28.

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Henneneutische und wahrheitskonzeptionale Überlegungen

werden, an denen wir auf seine implizite Theorie der Wahrheit stoßen können. Eine ausführliche Darstellung und Kritik dieser Theorie bietet §3.2 dieser Arbeit. Aber schon unsere knappe Gegenüberstellung konnte zeigen, daß Heideggers Wahrheitskonzeption viele Züge einer Theorie der Wahrheit aufweist, indem sie immerhin fünf von deren sechs Themenbereichen abdeckt. Es ist daher sehr gut verständlich, daß sie von Philosophen wie von Theologen als eine genuine Wahrheitstheorie aufgefaßt werden konnte. Darin liegt aber eine Verwechslung, denn Heideggers Wahrheitskonzeption stellt, wie der II. Hauptteil dieser Arbeit zeigen wird, die komplexe Verbindung einer Theorie der Wahrheit mit einer Fundamentalaletheiologie dar. Eben deshalb ist sie keine genuine Wahrheitstheorie und sollte nicht als solche rezipiert werden. §2.5 Meta-Kriterien von Wahrheitstheorien Zunächst will ich in diesem Abschnitt auf eine besondere Form der Selbstreferenzproblematik innerhalb der Wahrheitsfrage aufmerksam machen (2.5.1), anschließend einige Kriterien zur Beurteilung der Leistungsfähigkeit von Wahrheitstheorien vorschlagen (§2.5.2) und diese schließlich noch einmal unter zwei Stichpunkten zusammenfassen (§2.5.3). §2.5.7

Das Problem der Selbstreferenz und Zirkularität

Eine entscheidende Überlegung Freges zum Wahrheitsproblem geht von dem üblichen Wahrheitsbegriff der Übereinstimmung und dessen Charakteristikum der "maximalen Bestimmtheit" aus: "Die Wahrheit verträgt kein Mehr oder Minder. Oder doch? Kann man nicht festsetzen, daß Wahrheit bestehe, wenn die Übereinstimmung in einer gewissen Hinsicht stattfinde? Aber in welcher? Was müßten wir dann aber tun, um zu entscheiden, ob etwas wahr wäre? Wir müßten untersuchen, ob es wahr wäre, daß - etwa eine Vorstellung und ein Wirkliches - in der festgesetzten Hinsicht übereinstimmten. Und damit ständen wir wieder vor einer Frage derselben Art, und das Spiel könnte von neuem beginnen. So scheitert dieser Versuch, die Wahrheit als eine Übereinstimmung zu erklären."177

Aber Freges skeptische These führt ihn sogar zu einem grundsätzlichen Zweifel an der Möglichkeit einer Definition des Wahrheitsbegriffes: "So scheitert aber auch jeder andere Versuch, das Wahrsein zu definieren. Denn in einer Definition gäbe man gewisse Merkmale an. Und bei der Anwendung auf einen 177

Frege, 1918/19, S.32.

Die "Wahrheitsfrage". Versuch einer terminologischen Klärung

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besonderen Fall käme es dann immer darauf an, ob es wahr wäre, daß diese Merkmale zuträfen. So drehte man sich im Kreise. Hiernach ist es wahrscheinlich, daB der Inhalt des Wortes 'wahr' ganz einzigartig und undefinierbar ist."178

Diese von Frege berührte Problematik ist der des "Lügner-Paradoxons" insofern verwandt, als es sich in beiden Fällen um ein Selbstreferenzproblem handelt. Durch die selbstreferentielle Frage "Gibt es eine wahre Antwort auf die Frage: 'Was ist Wahrheit?'?" 179 entsteht eine logische Zirkularität par excellence, die den Anschein erweckt, das Wort "Wahrheit" sei prinzipiell nicht definierbar. Aufgrund der Verwandtschaft mit dem Lügner-Paradoxon liegt die Überlegung nahe, daß man sich hier im Prinzip der Methoden Tarskis (rekursives Definitionsverfahren, Unterscheidung von Objekt-, Meta- und Meta-Meta-Sprache) bedienen kann, um die Problematik zu entschärfen. Douglas R. Hofstadter aber bezeichnet derartige Fälle von Selbstreferenz als "Seltsame Schleifen" (stränge loops) und wendet sich scharf gegen deren Eliminierung durch Verfahren wie die Typentheorie Russells oder Tarskis Wahrheitsdefinition. Sein Argument lautet: "Aber wenn wir mit Sprache zu tun haben, einem Phänomen, das unser ganzes Leben durchdringt, dann erscheint eine derartige Schichtung absurd. Wir sehen uns beim Sprechen Uber verschiedene Dinge nicht eine linguistische Hierarchie hinaufund hinunterhüpfen."180

Aus Gödels Kritik der Principia Mathematica folgert Hofstadter grundsätzlich, daß axiomatische Systeme aller Art nicht zugleich widerspruchsfrei und vollständig 181 sein können. Einmal probehalber angenommen, diese universale Schlußfolgerung sei zulässig - muß daraus mit Hofstadter gefolgert werden, daß die Widerspruchsfreiheit aufzugeben sei und den "stränge loops" Raum gegeben werden müsse? Diese Konklusion ist keineswegs zwingend. Plausibler erscheint da doch die Annahme, das Prinzip der Vollständigkeit könne aufgegeben werden, weil es zu anspruchsvoll sei. Dies ist, wohlgemerkt, eine Alternative auf der Basis von Hofstadters eigenem Ansatz - eine unspektakuläre Alternative freilich, die seinem Buch etwas weniger Ruhm und Verbreitung gesichert hätte. Es ist kein Zufall, daß Luhmann in einem seiner neueren Texte positiv auf Hofstadter rekurriert 182 , ist er doch ein Theoretiker autopoietischer, 178 179 180

181 182

Ebd. Keller, 1979, S.582-587; cf. ders., 21990, S.llOf. Hofstadter, 41985, S.24f.- Die Typentheorie erscheine in alltäglichen Zusammenhängen einfach als "albern" (ebd., S.2S). Aber ist diese Theorie, so müssen wir fragen, denn für beliebige alltägliche Lebenszusammenhänge geschaffen worden, oder nicht vielmehr speziell für ganz bestimmte wissenschaftliche Probleme? Hofstadter, 41985, S.26f. Luhmann, 1989, S.313.

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Hermeneutische und wahrheitskonzeptionale Überlegungen

selbstreferentieller Systeme. Luhmanns basaler These, "Theorien mit Universalitätsanspruch"183 seien daran zu erkennen, daß sie sich selbst als ihren eigenen Gegenstand thematisieren können, sei hier zugestimmt. Denn eine mit universalem Anspruch auftretende Ontologie muß immer auch thematisieren können, daß es sie selbst gibt; eine universale Erkenntnistheorie steht vor dem Problem, daß und wie sie selbst erkannt werden kann; eine universale Semiotik muß sich selbst auch unter dem Aspekt ihrer eigenen Zeichenhaftigkeit betrachten können. Und in der universalen Systemtheorie stellt sich die analoge, von Luhmann eigens thematisierte Aufgabe, daß diese Theorie selbst als ein System begriffen werden muß. 184 Unsere Frage lautet: Gilt überhaupt für die Theorie der Wahrheit, daß sie selbstreferentielle Struktur haben muß? Und die Antwort heißt: Dies gilt aus dem einfachen Grunde nicht, weil diese Theorie keinen Universalitätsanspruch hat. Die Theorie der Wahrheit ist keine metaphysische oder nichtmetaphysische Gesamttheorie der Wirklichkeit, sondern beschäftigt sich nur mit einer ganz bestimmten (allerdings zentralen) Frage, nämlich mit der Rekonstruktion dessen, was mit dem Begriff "Wahrheit" eigentlich gemeint ist. Wirklichkeit und Wahrheit sind meiner Auffassung zufolge keineswegs koextensiv. Gerade deshalb lassen sich alle Selbstreferenzprobleme in diesem Problembereich mit Hilfe der Tarskischen Theorie lösen. Eine wahre Antwort auf die Frage " Was ist Wahrheit ?" gibt es daher nicht, weil die Antwort auf diese Frage selbst nicht185 unter der Differenz [wahr/falsch] steht. 186 Damit ist Freges Problem aber noch nicht gelöst. Denn welche Kriterien lassen sich anlegen, um aus einer faktischen Vielzahl von konkurrierenden 183

184 185

186

Muß es Theorien mit Universalitätsanspruch überhaupt geben? Ja, kann es sie heute überhaupt noch geben? Cf. Putnams Zweifel an der Möglichkeit der "einen wahren Theorie" (Putnam, 1990, S.105f). Luhmann, 1987, S.9f. Das schließt natürlich nicht aus, daß in einer Wahrheitstheorie wahre Sätze auftreten, so etwa die empirisch überprüfbare wahre Aussage, daß in der Alltagssprache der Begriff "wahr" in den meisten Fällen zur Aussagenprädikation verwendet wird. Ausgeschlossen ist aber, daß eine Wahrheitstheorie als solche beanspruchen kann, wahr zu sein. Diese Auffassimg hat eine gewisse Nähe zum strukturalistischen Theoriekonzept Wolfgang Stegmüllers, der im Anschluß an Sneed Theorien grundsätzlich nicht als Mengen von Sätzen, sondern als bewährbare Strukturkomplexe versteht (Stegmüller II, S.468-518). Ich würde diese Auffassung nicht generalisieren wollen, aber für die Theorie der Wahrheit scheint sie mir zuzutreffen. Keller behilft sich mit der Unterscheidung von feststellender und festsetzender Definition. Seine Schlußfolgerung, die Wahrheitsdefinition sei eine solche der zweiten Art und stehe deshalb nicht unter der Wahrheitsdifferenz, sondern sei unter dem Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit zu betrachten, läßt die Wahrheitstheorie letztlich in eine ethische Reflexion der Zweckmäßigkeit münden (1979, S.586f). Diese Überlegungen sind zwar durchaus plausibel, aber entbehrlich, wenn man mit Tarskis Theorie operiert.

Die "Wahrheitsfrage". Versuch einer terminologischen Klärung

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Wahrheitstheorien und -definitionen eine verantwortliche Selektion zu treffen? Mag es auch keine wahre Wahrheitstheorie oder -definition geben, so muß sich doch die Leistungsfähigkeit einer Theorie und/oder Definition der Wahrheit bestimmen lassen. Welche Kriterien gibt es zur Bemessung dieser Leistungsfähigkeit?

§2.5.2 Kriterien der Leistungsfähigkeit von Wahrheitstheorien Zunächst kann man feststellen, daß der Begriff des Wahrheitskriteriums zweideutig ist und in vielen wahrheitstheoretischen Texten sehr unbestimmt verwendet wird. Denn es muß streng unterschieden werden zwischen (1) der Frage nach Wahrheitskriterien als einem Themenbereich innerhalb der Wahrheitstheorie und (2) der Frage nach Wahrheitskriterien als Kriterien zur Beurteilung der Leistungsfähigkeit von Wahrheitstheorien, also Metakriterien. Nur in diesem zweiten, strengen Sinne wird hier die kriteriologische Reflexion betrieben. Das schließt u.a. ein, daß ein wichtiges Metakriterium von Wahrheitstheorien darin liegt, eine solche Theorie daraufhin zu überprüfen, ob sie Wahrheitskriterien im ersten Sinne liefert. Aber die Ebenendifferenz muß in einer solchen Reflexion gewahrt bleiben. 187 Ich möchte im folgenden drei Meta-Kriterien [A1-A3] zur Beurteilung der Leistungsfähigkeit von Wahrheitstheorien vorschlagen und skizzieren, die ich für relativ konsensfähig halte, weil sie gängigen wissenschaftlichen Standards entsprechen und einen strukturalen Vergleich verschiedener Wahrheitstheorien (oder auch verschiedener Varianten einer Wahrheitstheorie, wie z.B. der Korrespondenztheorie) ermöglichen, ohne eine von ihnen von vorneherein zu bevorzugen. [AI] Eine Theorie der Wahrheit ist keine konstruktive, spekulative Theorie, sondern sie hat einen vorwiegend rekonstruktiven Charakter. [AI. 1] Eine Theorie der Wahrheit geht vom alltäglichen Wahrheitsverständnis einer natürlichen Sprache aus und versucht, dessen wesentliche Aspekte zu rekonstruieren. [AI.2] Der zentrale Aspekt des alltäglichen Wahrheitsverständnisses ist, wie oben gezeigt, die sehr vage gedachte Korrespondenzrelation von Aussage und Wirklichkeit. Zu diesem Aspekt des Wahrheitsver187

Dies scheint beispielsweise in Hans Ebelings neuem Buch nicht gewährleistet zu sein. Wenn er von einer "Preisgabe des Wahrheitskriteriums" (Hans Ebeling, 1991, S.6974) im Werk Heideggers spricht, so meint er damit einerseits Metakriterien zur Beurteilung der Leistungsfähigkeit von Wahrheitstheorien (S.70), andererseits "intersubjektiv gültige Kriterien für die Distinktion von 'wahr' und 'falsch'" (S.71), also Kriterien im engeren Sinne.

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Hermeneutische und wahrheitskonzeptionale Überlegungen

ständnisses muß die Theorie der Wahrheit wenigstens Stellung beziehen. 188 [AI.3] Eine Hauptaufgabe der Theorie der Wahrheit (aber nicht ihre einzige) ist der Versuch einer explikativ-definitionalen Bestimmung des Wahrheitsbegriffes, der den Kern des alltäglich-intuitiven Wahrheitsverständnisses bildet. Eine solche Bestimmung schließt alle rein unbestimmten und inkonsistenten Verwendungsweisen des Wahrheitsbegriffes aus und strebt eine univoke Definition an. [AI.4] Allerdings kann von einer Theorie der Wahrheit aufgrund der Vagheit, Komplexität und (mindestens potentiellen) Selbstwidersprüchlichkeit des Wahrheitsverständnisses keine umfassende Rekonstruktion erwartet werden. Zu leisten ist aber in jedem Falle eine Teilrekonstruktion. [A2] Eine Theorie der Wahrheit muß hinreichend umfassend und vollständig sein. Die oben genannten sechs Themenkomplexe (von der explikativ-definitionalen bis hin zur wissenschaftstheoretischen Teiltheorie der Wahrheitstheorie) als Elemente einer Wahrheitstheorie müssen möglichst alle und möglichst weit einer Klärung zugeführt werden. [A3] Eine Theorie der Wahrheit muß in sich konsistent, d.h. widerspruchsfrei sein. Damit ist freilich nur eine notwendige Bedingung allen theoriefähigen Sprechens genannt. [A3] läßt sich noch genauer explizieren als eine dreifache Anforderung: [A3.1] Jedes Element, d.h. jeder Themenkomplex einer Theorie der Wahrheit muß in sich konsistent sein. (Daher muß der Wahrheitsbegriff intensional konsistent expliziert werden.) [A3.2] Die sechs Themenbereiche einer Theorie der Wahrheit müssen untereinander konsistent sein. [A3.3] Eine Theorie der Wahrheit muß Wahrheit so bestimmen, daß diese (ihrer Extension nach) nur als konsistent gedacht werden kann. 188

Damit ist also noch nicht gefordert, daß eine Wahrheitstheorie diesen Aspekt selbst zu ihrem Zentrum machen muß, wie es die verschiedenen Varianten der Korrespondenztheorie tun. Aber der zentrale Aspekt des alltäglichen Wahrheitsverständnisses muß expliziert und eingeordnet werden.

Die "Wahrheitsfrage". Versuch einer terminologischen Klärung

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D.h., wenn die Theorie selbst Konsistenz zum Kriterium ihrer Leistungsfähigkeit erhebt, muß sie Konsistenz auch als ein minimales (notwendiges, aber nicht hinreichendes) Wahrheitskriterium beinhalten. Dabei ist insbesondere [A3.2] eine keineswegs selbstverständliche Anforderung, nicht deshalb, weil Inkonsistenz zugelassen werden könnte, sondern weil die Forderung der Konsistenz als eine zu schwache Anforderung betrachtet werden könnte. So ließe sich etwa fordern - und in einigen Wahrheitstheorien wird dies auch gefordert -, daß die übrigen Teiltheorien der Wahrheitstheorie aus der fundamentalen explikativ-definitionalen Teiltheorie abzuleiten (zu deduzieren) seien. Oder aber es wird beispielsweise die Identität von Wahrheitsbegriff und Wahrheitskriterium gefordert. Aber sowohl Identität als auch Ableitbarkeit (Deduzierbarkeit) erscheinen uns als zu strenge Forderungen. Dagegen wird in dieser Arbeit die Minimalanforderung der Konsistenz der Wahrheitstheorie erhoben. Sollte sich freilich ergeben, daß einige Elemente der Wahrheitstheorie aus anderen ableitbar sind, so steht dies mit dem hier vertretenen Ansatz in Einklang. Insbesondere die typologische und die paradoxologische Teiltheorie der Wahrheitstheorie scheinen u.U. aus der explikativdefinitionalen Teiltheorie ableitbar zu sein. Ob sich die kriteriologische und die verfahrenstheoretische Teiltheorie deduzieren lassen, ist allerdings sehr umstritten und aus oben angedeuteten Gründen unwahrscheinlich. Zu den drei Postulaten [A1-A3] insgesamt ist zu sagen: Wird der ersten Anforderung nicht Genüge getan, muß eine Theorie der Wahrheit ihr Thema überhaupt verfehlen. Bleibt die zweite Anforderung unbeachtet, wird das Thema unterbestimmt werden. Wird der dritten Forderung nicht entsprochen, wird die Theorie der Wahrheit intern widersprüchlich (und d.h. im Extremfall: semantisch sinnlos) ausfallen.

189

Ich kann mir den Fall nicht vorstellen, daß eine Theorie der Wahrheit zwar in sich konsistent sein soll, aber die Wahrheit selbst als inkonsistent zu denken vermag. Wenn die Intension des Wahrheitsbegriffes den Konsistenzgedanken notwendig impliziert, dann muß dies auch für dessen Extension gelten. Deswegen werde ich eine Theorie der Wahrheit, welche die Konsistenz als Wahrheitskriterium ablehnt, als eine inkonsistente Theorie bezeichnen - nach [A3.3],

100

Hermeneutische und wahrheitskonzeptionale Überlegungen

§2.5.3 Zusammenfassung: Rekonstruktivität und Kohärenz als Meta-Kriterien der Theorie der Wahrheit Die drei soeben vorgeschlagenen Meta-Kriterien lassen sich noch einmal zusammenfassen. Das erste Postulat des rekonstruktiven Charakters der Wahrheitstheorie (AI) ist formal von anderer Art als die beiden übrigen Anforderungen. In A2 und A3 wird postuliert, daß ein ganz bestimmter Gegenstand in konsistenter, möglichst vollständiger und systematisch zusammenhängender Weise rekonstruiert werden soll. Wenn diese Forderungen überhaupt sinnvoll und erfüllbar sind, dann konvergieren sie in dem Grundpostulat der Kohärenz. Demzufolge hat eine Wahrheitstheorie den zwei Grundpostulaten der Rekonstruktivität und Kohärenz zu entsprechen. Wenn dem so ist, dann scheidet eine der oben skizzierten Theorien der Wahrheit von vorneherein aus einem vorzunehmenden strukturalen Vergleich aus, nämlich die derzeit häufig und mit guten Argumenten vertretene Kohärenztheorie der Wahrheit. Allerdings nicht deshalb, weil sie eine an sich problematische oder nicht leistungsfähige Theorie darstellte, sondern ausschließlich aus dem systematischen Grunde, daß Selbstreferenz vermieden werden muß: Wenn Kohärenz ein Meta-Kriterium der Wahrheitstheorie ist, dann darf Kohärenz nicht selber das entscheidende Definiens einer Theorie der Wahrheit sein. Sonst argumentierte man im logischen Zirkel, in einer petitio principii. Selbst Puntel scheint vor diesem logischen Zirkel nicht gefeit zu sein, wenn er die "Gesamtkohärenz" zum wahrheitstheoretischen Meta-Kriterium erhebt: Gesamtkohärenz' dient dabei, wie ersichtlich, als Kriterium für die Einschätzung von Theorien der Wahrheit."190

Einem Zirkel könnte Puntel dabei nur entgehen, wenn er zwischen "Kohärenz" und "Gesamtkohärenz" scharf unterschiede, was er m.W. nicht tut. Allerdings schließt dieser Gedanke nicht aus, sondern ein, daß eine entwickelte Kohärenztheorie, wie sie etwa bei Rescher oder Puntel vorliegt, eine fundamentale Bedeutung für die Theorie der Wahrheit haben kann. Über deren Fundamentaltheorie, als welche in der Tradition meist die Erkenntnistheorie betrachtet wird, ist sie nämlich geeignet, die Tragfähigkeit der Grundlagen einer Theorie der Wahrheit zu überprüfen.

190

Puntel, 1990a, S.300.

Die "Wataiheitsfrage". Versuch einer terminologischen Klärung

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§2.6 Die Ebene der Rahmentheorie der Wahrheitstheorie: Erkenntnistheorie oder Fundamentalaletheiologie? Bereits die sechste Subtheorie der Theorie der Wahrheit weist über diese selbst hinaus, indem sie den Zusammenhang von Wahrheit und Wissenschaft, Wahrheit und Erkenntnis überhaupt thematisch zu behandeln sucht. Auch die metatheoretische Kriterienreflexion zur Beurteilung der Leistungsfähigkeit von einzelnen Wahrheitstheorien handelt, wie wir soeben sahen, von den Grundlagen einer Theorie der Wahrheit und erschöpft sich deshalb nicht in dieser Theorie selbst. Es zeigt sich, daß Wahrheit nur dann hinreichend thematisiert werden kann, wenn die Theorie der Wahrheit in ein theoretisches Verhältnis zu einer sie umfassenden und begründenden Fundamental- bzw. Rahmentheorie gesetzt wird. Der klassischen philosophischen Auffassung zufolge ist die Theorie der Wahrheit selber eine bedeutende Teiltheorie der allgemeinen Erkenntnistheorie.191 Dabei ist oft kaum entscheidbar, ob gewisse Sachprobleme (etwa die Kriterienfrage) Gegenstand der engeren Wahrheitstheorie oder der umfassenderen Erkenntnistheorie sind. 192 Auch Heidegger hat der Reflexion von "Wahrheit" innerhalb von "Sein und Zeit" einen wichtigen und zugleich systematisch bezeichnenden Ort zugewiesen: §44 als Schlußparagraph des 1. Abschnittes (des veröffentlichten 1. Teiles) seines Werkes bildet, quantitativ und qualitativ gesehen, das Zentrum des Buches. Wie aber verhalten sich Wahrheit und Erkenntnis, Wahrheit und Wissenschaft für Heidegger zueinander? Da der Philosoph in seinem Werk eine "Fundamentalontologie" entwerfen will, welche allererst den Boden für die Fragen nach Erkenntnis und Wissenschaft bereiten soll, und er die Wahrheitsfrage eben auf dieser (seiner Meinung nach) fundamentalsten Ebene stellt, hat Kettering kürzlich (1989) vorgeschlagen, Heideggers Auffassung von Wahrheit als eine Fundamentalaletheiologie zu verstehen. Dieses in Analogie zum Begriff der "Fundamentalontologie" gebildete Kompositum soll den systematischen Standort von Heideggers Wahrheitsauffassung klar kennzeichnen: Als Teil der "Fundamentalontologie" bildet die Fundamentalaletheiologie das Fundament für alle Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, indem sie de191

192

Deshalb hat Härle sie in seiner "Systematischen Philosophie" als vierten, abschließenden (und in gewisser Weise krönenden) Teil seines erkenntnistheoretischen Hauptteiles plaziert (Härle, 2 1987, S. 169-187). Analog nimmt die Analyse des Wahrheitsbegriffes bei Keller die zentrale Stellung in seinem Buch Uber "Allgemeine Erkenntnistheorie" (Keller, 2 1990, dort S. 104-125) ein. Auch entfalten sich die drei sich anschließenden Kapitel sachlich und terminologisch aus jener Analyse, wie schon die Tatsache zeigt, daß der Wahrheitsbegriff bei allen drei Kapiteln im Titel enthalten ist. Zu diesem Abgrenzungsproblem siehe Franzen, 1982, S.262-265. Franzens restriktive Auffassung von "Wahrheitstheorie" teile ich - dem Forschungskonsens gemäß - nicht.

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Hermeneutische und wahrheitskonzeptionale Überlegungen

ren existenzial-ontologische Möglichkeitsbedingung(en) expliziert.193 Diesem systematischen Standort entsprechend bezeichnet Heidegger die Urteils-Wahrheit als "abkünftig" (SuZ, S.214, 219ff) von der ursprünglichen Erschlossenheitswahrheit. Daher heißt es bei Kettering: "Auch hier geht es ihm [Heidegger, EMP] nicht um eine Auflistung und Ausarbeitung unterschiedlicher Wahrheitsf/teorien ..., sondern um dasjenige, was allen diesen Wahrheitstheorien und Wahrheitsbegriffen zugrunde liegt und diese erst ermöglicht."194

Und im Blick auf die eigentümliche Verschränkung von Fundamentalontologie und Transzendentalphilosophie bei Heidegger bemerkt Kettering: "Ahnlich wie Kant geht es Heidegger in seiner Grundlegung darum, notwendige Bedingungen der Möglichkeit aufzuweisen, mit dem Unterschied, daß es ihm nicht allein um erkenntnistheoretische Bedingungen der Möglichkeit, sondern um ontologische Bedingungen der Möglichkeit geht ... n . 1 9 5

Kettering ist sich dabei insbesondere bewußt, daß notwendige und hinreichende Bedingungen der Möglichkeit streng zu unterscheiden sind und die "Unverborgenheit" nur eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung der Möglichkeit von Wahrheit als "Richtigkeit" (="Urteilswahrheit") darstellt. Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß Ketterings Interpretation - in Übereinstimmung, wie noch zu zeigen sein wird, mit vielen Textbefunden im Werk Heideggers - die aletheia-Konzeption von Wahrheit (jedenfalls: auch, vielleicht: wesentlich) als eine Fundamentaltheorie von Wahrheit versteht, welche eine notwendige (aber nicht hinreichende) existenzialontologische Möglichkeitsbedingung von Wahrheit expliziert. Wenn diese Deutung zutrifft - und es spricht sehr viel dafür, daß sie zutrifft -, dann handelt es sich bei der aletheia-Konzeption selbst aber gerade nicht um eine Theorie der Wahrheit. Ketterings eigener Terminologie zufolge müßte diese nämlich Aletheiologie heißen, was sie in ein Verhältnis zur Fundamentalaletheiologie bringen, zugleich aber von ihr fundamental unterscheiden würde. Damit möchte ich zugleich andeuten, daß ich Ketterings Terminus zwar übernehme und in seinem Sinne als "Theorie über die ontologischen Bedingungen der Möglichkeit von Wahrheit" verstehe, jedoch anders als er Heideggers Wahrheitskonzeption nicht ausschließlich als Fundamentalaletheiologie, sondern als die komplexe Verbindung einer 193

194 195

Heidegger zufolge lassen sich wenigstens drei Bedingungen der Möglichkeit von Wahrheit unterscheiden, die Erschlossenheit des Daseins, die Entschlossenheit des Daseins und das Sein als solches. Cf. die Ausführungen in §4 dieser Arbeit. Kettering, 1989, S.205. Ebd., S.211. Daß diese These in der Heidegger-Forschung konsensfähig ist, wird noch eigens gezeigt werden.

Die "Wahrheitsfrage". Versuch einer terminologischen Klärung

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Aletheiologie (Theorie der Wahrheit) mit einer Fundamentalaletheiologie deuten werde. Die ausfuhrliche Argumentation zugunsten dieser These bietet der II. Hauptteil meiner Arbeit. Eine dritte, hier bloß zu benennende und nicht zu diskutierende Alternative einer Fundamental- oder Rahmentheorie von Wahrheitstheorie schließt an unsere oben gegebene Einschätzung der Kohärenztheorie, wie Rescher und Puntel sie entwickelt und präsentiert haben, an: Auch die Kohärenztheorie, die in komplexer Weise semiotische, erkenntnis-theoretische und ontologische Grundzüge verbindet, dürfte eher als eine Fundamentaltheorie von Wahrheit denn als eine Wahrheitstheorie einzustufen sein. Es ist m.E. kein Zufall, wenn Puntels neues Buch den Titel "Grundlagen einer Theorie der Wahrheit" [Hervorhebung von mir, EMP] trägt. §2.7 Zusammenfassung: Die Strukturebenen des Wahrheitsproblems In diesem Paragraphen sollen die getroffenen Strukturunterscheidungen der Hauptebenen und -begriffe des "Wahrheitsproblems" thesenartig zusammengefaßt werden. Eingangs des §2 wurde in vorläufiger Weise von den "Ebenen" des "Wahrheitsproblems" bzw. der "Wahrheitsfrage" geredet. Als diese "Ebenen" wurden skizziert: das Wahrheitsverständnis einer natürlichen Sprache (§2.2), die doppelte Frage nach Wahrheitsbegriff und Wahrheitsdefinition (§2.3), die Theorie der Wahrheit (§2.4) und schließlich die Frage nach der Rahmen- oder Fundamentaltheorie der Wahrheitstheorie (§2.6). Inzwischen dürfte längst deutlich geworden sein, daß die Rede von "Ebenen" des Wahrheitsproblems ein terminologischer Notbehelf war, daß mit diesen "Ebenen" vielmehr ein komplexer Strukturzusammenhang gemeint ist, der nun in seinen Grundzügen thesenartig erläutert werden kann. Dabei gehe ich von der Existenz zweier unhintergehbarer Leitdifferenzen (Wahrheitsverständnis/Wahrheitskonzeption einerseits, Theorie der Wahrheit/Fundamentaltheorie der Wahrheit andererseits) aus, die ihrerseits ausdifferenzierbar (d.h. präzisierbar) sind. (1) Die erste Leitdifferenz, nämlich die von Wahrheitsverständnis und Wahrheitskonzeption, ergibt sich aus der für wissenschaftliches Denken bestimmenden Notwendigkeit, den für es selbst wie auch für menschliche Lebenspraxis überhaupt grundlegenden Begriff der "Wahrheit" im Kontext seiner verschiedenen Verwendungsweisen im Alltagsleben einer natürlichen Sprache (etwa als Adjektiv, als Substantiv; als Simplex, als Kompositum; als Wurzel, als Derivat; hinsichtlich seiner wesentlichen Implikationen und Konnotationen) in rekonstruktiver Weise zu erhellen.

104

Hermeneutische und wahiiieitskonzeptionale Überlegungen

(2) Innerhalb des vagen, weiten und komplexen alltagssprachlichen Wahrheitsverständnisses läßt sich zwischen designatorischen und prädikativen Verwendungsweisen und Bedeutungsfeldern differenzieren. (2.1) Das semantische Feld des Wahrheitsbegriffes (=das Wahrheitsverständnis) ist in der deutschen Alltagssprache außerordentlich vage, weit und komplex. (2.2) Der häufigste und in der deutschen Sprache grundlegende Fall ist die prädikative Rede von "Wahr(heit)". Dabei lassen sich drei Fälle unterscheiden, je nachdem, welche Entitäten - (artifizielle) Zeichen, Personen oder aber Seiendes von nicht-zeichenhafter und nicht-personaler Struktur als "wahr" prädiziert werden. (2.2.1) Die Rede von "Wahr(heit)" wird mitunter zur Personenprädikation gebraucht. (2.2.2.) Die Rede von "Wahr(heit)" wird zuweilen zur Prädikation von Seiendem von nicht-personaler und nicht-zeichenhafter Struktur gebraucht. (2.2.3.) Die Rede von "Wahr(heit)" wird in den meisten Fällen zur Prädikation von artifiziellen Zeichen gebraucht. (2.2.3.1) Bei den Fällen, in denen "Wahr(heit)" als Prädikator von Zeichen verwendet wird, läßt sich unterscheiden zwischen sprachlichen und nichtsprachlichen Zeichen. (2.2.3.2) Bei der Anwendung auf sprachliche Zeichen wird "Wahr(heit)" zumeist als ein Aussagen- oder Urteilsprädikator verwendet, seltener zur Prädikation von präskriptiven und direktiven Sätzen. (2.3) Von "Wahrheit" ist in unserer Sprache mitunter auch in einem designatorischen Sinne die Rede. Dabei lassen sich zwei Fälle unterscheiden: (2.3.1) Nicht selten wird in der Alltagssprache von "der Wahrheit" geredet. Diese Redeweise läßt sich als designatorische im Sinne einer "identifizierenden Beschreibung" (=Kennzeichnung) verstehen. Sie setzt die prädikative Redeweise dabei voraus und enthält diese als einen ihrer Bestandteile. (2.3.2) Beim späteren Heidegger wird von "Wahrheit" (ebenso wie vom "Seyn") in einer Weise geredet, welche die Vermutung nahelegt, daß "Wahrheit" als Designator im Sinne eines Eigennamens aufgefaßt wird.

Die "Wahrheitsfrage". Versuch einer terminologischen Klärung

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(2.4) Aus der Perspektive einer theoretischen Explikation des Wahrheitsverständnisses läßt sich der Wahrheitsbegriff verorten durch Abgrenzung gegen seine Nachbar- und Gegenbegriffe. (2.4.1) Die wichtigsten Nachbarbegriffe des Wahrheitsbegriffes lauten: Wahrhaftigkeit, Richtigkeit und Echtheit. Mit all diesen Begriffen bildet der Wahrheitsbegriff Schnittmengen, ohne mit ihnen identisch zu sein. (2.4.2) Die kontradiktorische Negation des Wahrheitsbegriffes bildet (ausschließlich) der Begriff der "Unwahrheit". Andere Gegenbegriffe zum Wahrheitsbegriff wie Lüge, Irrtum, Falschheit und Täuschung lassen sich als semantisch different und/oder ableitbar erweisen. (3) Innerhalb der Wahrheitskonzeption läßt sich unterscheiden zwischen der Theorie der Wahrheit einerseits, die den wesentlichen Sinngehalt (insofern das "Wesen") des Wahrheitsbegriffes zu bestimmen versucht, und der Fundamentaltheorie von Wahrheit andererseits, welche die (notwendigen und hinreichenden) Bedingungen der Möglichkeit von Wahrheit und Wahrheitsfindung anzugeben sucht. Damit ergibt sich eine zweite unhintergehbare Leitdifferenz. (3.1) Während die erste Leitdifferenz zwischen der Theorie der Wahrheit und ihrem Gegenstandsbereich unterschied, handelt es sich bei dieser zweiten Leitdifferenz um den Unterschied zweier Theorien. Dabei ist nicht die Rede von auf völlig verschiedene Gegenstände oder Gegenstandsbereiche gerichteten Theorien, vielmehr von zwei Theorien, deren eine in der anderen fundiert ist. Die Theorie der Wahrheit existiert, wissenschaftssystematisch gesehen, nicht in einem beziehungslosen Raum, sondern stellt eine in einer anderen, umfassenderen Theorie fundierte Theorie dar. 1 9 6 (3.2) Klassisch wird die Theorie der Wahrheit als in der Erkenntnistheorie verwurzelte Theorie betrachtet; als Alternative läßt sich die Fundierung in der Fundamentalontologie und einer in dieser enthaltenen Fundamentalaletheiologie erwägen. Im ersten Falle sind im Subjekt gegebene erkenntnistheoretische Bedingungen der Möglichkeit von Wahrheit, in dem zweiten Falle deren ontologische Möglichkeitsbedingungen Thema der Fundamentaltheorie der Wahrheit. 197 196

197

Das Verhältnis der Theorie der Wahrheit zu der sie begründenden Fundamentaltheorie läßt sich entweder (im starken Sinne) als eine Teil-Ganzes-Relation auffassen, oder aber (in einem schwächeren Sinne) als die Relation eines existierenden Subsystems zu einem die Bedingungen seiner Möglichkeit umfassenden System. Vielleicht kann auch eine hinreichend umfassend konzipierte Kohärenztheorie als Fundamentaltheorie der Wahrheit fungieren.

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Hermeneutische und wahrheitskonzeptionale Überlegungen

(4) Die Theorie der Wahrheit versucht, das Wahrheitsverständnis der Alltagssprache in rekonstruktiver und kohärenter Weise so zu erhellen, daß dessen wesentlicher Sinngehalt (das "Wesen" der Wahrheit) bestimmbar wird. (4.1) Die Theorie der Wahrheit als ein Subsystem des auf Wahrung von Konsistenz angewiesenen Systems der Wissenschaft kann aus zwei Gründen nur eine die Komplexität reduzierende Teilrekonstruktion des allgemeinen Wahrheitsverständnisses sein. (4.1.1) Der erste Grund ist der, daß der alltägliche Sprachgebrauch der natürlichen (hier: der deutschen) Sprache sowohl als weit als auch als vage als auch als komplex und daher zumindest potentiell auch als selbstwidersprüchlich gekennzeichnet werden kann (aus Komplexität kann Selbstwidersprüchlichkeit folgen, weil sie die Unmöglichkeit meint, jedes Element eines Systems jederzeit mit jedem anderen verknüpfen zu können). (4.1.2) Der zweite Grund liegt darin, daß in natürlichen Sprachen die Selbstrückbezüglichkeit von Wahrheitsansprüchen faktisch zur Entstehung von Varianten des Lügner-Paradoxons zu führen pflegt. (4.2) Die in einer Theorie der Wahrheit intendierte Teilrekonstruktion muß freilich wenigstens die wesentlichen Aspekte des allgemeinen Wahrheitsverständnisses in der Weise beinhalten, daß sie zu ihnen Stellung nimmt. Das zentrale Element des Wahrheitsverständnisses wird aber zumeist in seinem vagen, zunächst relativ ungeklärten Wahrheitsbegriff gesehen. (4.2.1) Das wichtigste Anliegen der Theorie der Wahrheit ist die Gewinnung einer definitionalen Bestimmung des Wahrheitsbegriffes (welcher das Zentralelement des alltäglichen Wahrheitsverständnisses darstellt), also einer Wahrheitsdefinition. (4.2.2) Wird der alltagssprachliche Wahrheitsbegriff als Formulierung einer Differenz gesehen, die sich als Relation zweier Relate auffassen läßt (der Standardauffassung zufolge eine Korrespondenzrelation, wobei unklar ist, zwischen welchen Relaten diese bestehen soll und wie diese zu präzisieren ist), so muß die Definition von Wahrheit zumindest diese Differenzrelaft'on198 rekonstruieren.

198

Dies ist ein konstitutiver Gedanke von Tugendhats Kritik an Heideggers Vorgehen. Cf. Tugendhat, 2 1970, S.296f, 329, 335f (u.ö.). In welchem Sinne diese Kritik zutrifft oder nicht zutrifft, dazu cf. den II. Hauptteil dieser Arbeit.

Die "Wahrheitsfrage". Versuch einer terminologischen Klärung

107

(4.2.3) Aus methodischen Gründen kann die Gewinnung einer Wahrheitsdefinition den Zwischenschritt der in Form einer injektiven Abbildung verfahrenden Explikation des Wahrheitsbegriffes einschließen, so daß sich

ein Dreischritt von Wahrheitsbegriff, Wahrheitsexplikation und Wahrheits-

definition oder von Explikandum, Explikans (=Definiendum) und Definiens ergibt. Damit beinhaltet die Wahrheitstheorie die für sie zentrale Differenz von [Wahrheitsexplikation / Wahrheitsdefinition]. Doch ist damit nur eine Präzisierung, keine Korrektur der Grunddifferenz [Wahrheitsbegriff / Wahrheitsdefinition] vorgenommen. Diese Grunddifferenz bezeichnet eine wesentliche Teilmenge der Leitdifferenz zwischen den semantischen Systemen Wahrheitsverständnis und Wahrheitstheorie. (4.3) Innerhalb der Theorie der Wahrheit läßt sich unterscheiden zwischen dem zentralen Element der Wahrheitsexplikation und/oder -definition und den weiteren Elementen, die eine umfassende Theorie erfordert. Diese anderen Elemente sind die kriteriologischen, verfahrenstheoretischen, typologischen, paradoxologischen und wissenschaftstheoretischen Teiltheorien der Wahrheitstheorie.

(4.3.1) Innerhalb der genannten weiteren Elemente der Theorie der Wahrheit gibt es einige, die mit der explikativ-definitionalen Teiltheorie der Wahrheitstheorie in engstem Zusammenhang stehen, u.U. sogar aus dieser ableitbar sein mögen, so etwa die paradoxologische und die typologische Teiltheorie. (4.3.2) Andere Elemente, nämlich die kriteriologische und die verfahrenstheoretische Teiltheorie der Wahrheitstheorie, sind aus der explikativdefinitionalen Teiltheorie nicht oder wenigstens nicht vollständig ableitbar. (4.3.2.1) Aus diesem Grunde stellt zumindest die kriteriologische Teiltheorie der Wahrheitstheorie ein irreduzibles Moment einer hinreichend umfassenden Theorie der Wahrheit dar. (4.3.2.2) Ein irreduzibles minimales (notwendiges, aber nicht hinreichendes) Kriterium der Wahrheit ist deren innere Widerspruchsfreiheit (=Konsistenz). (4.4) Die aus den genannten Elementen bestehende Theorie der Wahrheit muß einen rekonstruktiven Charakter haben, zusammenhängend und möglichst vollständig sowie intern konsistent sein. Rekonstruktivität und Kohärenz sind somit als Meta-Kriterien zur Beurteilung der Leistungsfähigkeit von Wahrheitstheorien zu betrachten.

II. Hauptteil: Martin Heideggers philosophische Wahrheitskonzeption: Ein kritischer Rekonstruktionsvorschlag

Einleitung: Das Problem der Wahrheitskonzeption Heideggers Im folgenden soll die Wahrheitskonzeption des frühen Heidegger (etwa zwischen 1923 und 1928) nach Maßgabe des Hauptwerkes "Sein und Zeit" und der in seinem Umkreis zu verortenden Sekundärquellen kritisch rekonstruiert und interpretiert werden. Meine Interpretation geht dabei von einem Problem aus, das vor allem in der kritischen Diskussion Heideggers durch die analytische Philosophie eine große Rolle spielt. Bei einer gründlichen Lektüre von SuZ lassen sich in diesem Werk nämlich mindestens folgende sechs "Bedeutungen"1 des Wortes "Wahrheit" unterscheiden, die hier und im folgenden mit W1-W6 beziffert werden: I. Wahrheit als "Richtigkeit" von Urteilen i.S. der traditionellen Korrespondenztheorie der Wahrheit (SuZ, S.214ff) = Wl; II. Wahrheit als "Entdecktheit" oder "Unverborgenheit" von welthaft Seiendem (SuZ, S.219f) = W2; III. Wahrheit als "Entdeckendsein" (=Entdeckung), als Verhaltung des Daseins (SuZ, S.220) = W3; IV. Wahrheit als das Existenzial der "Erschlossenheit" des Daseins (SuZ, S.220f, 226) = W4; V. Wahrheit als "Entschlossenheit", d.h. als "Erschlossenheit" im Modus der Eigentlichkeit (SuZ, S.297-301) = W5; VI. Wahrheit als mit "Sein" gleichursprüngliches Phänomen (SuZ, S.230) = W6. Das Problem läßt sich in der Frage fassen: Ist Heideggers Wahrheitskonzeption angesichts einer solchen "Hierarchie von Wahrheiten"2 noch in sich konsistent, oder aber ist sie diffus oder gar äquivok? Bedeutsam scheinen mir insbesondere zwei Kritikpunkte der herausragenden Arbeit Tugendhats3 zu sein: Zum einen weist Tugendhat Zwei- und Mehrdeutigkeiten in Heideggers Terminologie4 nach, besonders hinsichtlich der 1

2 3 4

Dieser Terminus wird hier nicht im Sinne Freges verwendet. Was ich "Bedeutung" nenne, ist vielmehr synonym mit "Intension" (=Sinn). So Merker, 1988, S.38, 41. Tugendhat, 2 1970, S.257^05. Tugendhat, 2 1970, S.333f, 336f, 340f, 344, 350, 375; cf. Merker, 1988, S.55f.Gethmann wendet in einem Aufsatz (1974b, S. 186-200) gegen Tugendhat ein, es handle sich dabei nicht um eine "unreflektierte 'Zweideutigkeit'" (S.192), sondern um eine Äquivokation, die der späte Heidegger selbst bemerkt habe. Letzteres mag richtig

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Martin Heideggers philosophische Wahrheitskonzeption

Schlüsselbegriffe des "Entdeckens" und der "Erschlossenheit". Zum andern wirft er Heidegger das "Überspringen der konstitutiven Wahrheitsdifferenz"5 vor. Ob und inwiefern diese beiden Kritikpunkte Tugendhats zutreffen, wird uns in den beiden folgenden Paragraphen (§§3+4) beschäftigen. Ein dritter Vorwurf Tugendhats, der Heidegger die Vertretung eines Dezisionismus unter Preisgabe der kritischen Verantwortlichkeit6 unterstellt, läßt sich angesichts des derzeitigen Forschungsstands zwar nicht eindeutig untermauern - aber man wird auch diesen Kritikpunkt im Auge behalten müssen. Wäre Heideggers Konzeption von Wahrheit inkonsistent, dann wäre aus der Sicht analytischer Philosophie seine Philosophie im ganzen in Frage gestellt, und eine theologische Rezeption dürfte, wenn überhaupt, nur äußerst vorsichtig geschehen. Aber vielleicht können zwei Argumente Heideggers Konzeption als solche diskutabel machen. Erstens: Wenn Heideggers Philosophie methodisch gemäß ihrer Selbsteinschätzung zu Recht als "hermeneutisch" bezeichnet werden kann, in ihr also etwas als etwas ausgelegt wird, dann ist damit zu rechnen, daß ein auszulegendes u einmal als ein v, dann als ein w, aber auch als ein x,y oder z bestimmt werden kann. In einem solchen Verfahren ist folglich eine sukzessive, dem hermeneutischen Zirkel gemäß "spiralförmig" verlaufende Kette von präzisierenden Näherbestimmungen eines Phänomens möglich. Offenbar ist Heideggers Verfahren so gemeint. Jedoch muß auch ein derartiges hermeneutisches Vorgehen die wissenschaftliche Minimalforderung der Konsistenz erfüllen. Zweitens könnte man -"mit Heidegger gegen Heidegger" argumentierendihm zugute halten, daß er etwas "Richtiges" oder Bedeutsames entdeckt hat, es aber nicht "phänomenal angemessen" expliziert hat. Dann müßte in einem rekonstruktiven Verfahren der Versuch unternommen werden, das von ihm Gesehene in einer logisch schlüssigen und begrifflich konsistenten Weise zu entfalten. Eine solche Rekonstruktion der in §44 von SuZ gebündelten7 Wahrheitskonzeption Heideggers soll hier vorgelegt werden.8 Dabei setze ich die Kritik Tugendhats als in ihren Grundzügen berechtigt voraus, versu-

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6 7

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sein - aber sollte denn eine Äquivokation etwas Anderes, Harmloseres darstellen als eine Mehrdeutigkeit? Tugendhat, 2 1970, S.296, 329, 335f, 372. Daraus resultiert der "Verlust des spezifischen Sinnes" dieses Begriffes (S.329, 347, 351, 376, 405). Ebd., S.361, 385, 404. In §44 von SuZ ist auf knappstem Raum gebündelt, was andernorts - vor allem in GA 21 - ausführlicher entfaltet wird. Zur Bedeutung von GA 21 cf. auch §1.2.2 dieser Arbeit. Es geht dabei um die Rekonstruktion der Wahrheitskonzeption Heideggers nach Maßgabe besonders von §44, nicht jedoch um eine Rekonstruktion des Inhaltes dieses Paragraphen im Sinne einer Inhaltsangabe oder gar eines Kommentars.

Einleitung: Das Problem der Wahrheitskonzeptíon Heideggers

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che aber darüber hinaus im Anschluß an die neuere Diskussion seit Tugendhat9, das von Heidegger Gemeinte positiv zu entfalten. Vor diesem Hintergrund möchte ich Argumente für die folgende Grundthese (GT) sammeln: (GT) Heideggers Wahrheitskonzeption stellt nicht eine Konjunktion von sechs (oder mehr) unvereinbaren Wahrheitsbegriffen dar, sondern verbindet eine fragmentarische pragmatistische Theorie der Wahrheit (Tl) mit einer "Fundamentalaletheiologie" (Kettering), welche die existenzialontologische Bedingung der Möglichkeit von Wahrheit zu explizieren versucht (T2). Beide Teile der Wahrheitskonzeption liegen nicht auf einer Ebene, sondern müssen kategorial unterschieden werden. Dies machte der frühe Heidegger nicht deutlich genug, weil es ihm nur darauf ankam zu zeigen, daß Wahrheit in Sein fundiert ist (T3). Diese Grundthese läßt sich in drei Thesen (T1-T3) unterteilen, die in den folgenden Kapiteln entfaltet und belegt werden sollen. (Tl) Heideggers Wahrheitskonzeption enthält Elemente einer Theorie der Wahrheit. Diese Elemente ergeben zusammen eine originelle, aber nicht hinreichend kohärente pragmatistische Wahrheitstheorie, welche die drei "Wahrheitsbegriffe" W1-W3 umfaßt. (T2) Heidegger unternimmt in seiner Wahrheitskonzeption die Explikation der existenzialontologischen Bedingung(en) der Möglichkeit von Wahrheit. Insofern beinhaltet seine Konzeption von Wahrheit eine Fundamentalaletheiologie, welche die drei "Wahrheitsbegriffe" W4-W6 umfaßt. (T3) Die Ebene der (pragmatistischen) Wahrheitstheorie und die Ebene der Fundamentalaletheiologie müssen kategorial voneinander unterschieden werden. Weil der frühe Heidegger dies nicht deutlich genug herausstellte, konnte es zu Verwirrungen und Mißverständnissen in der Auslegung und Rezeption seiner Philosophie kommen. Dabei soll Tl nach einer allgemeinen Einführung in die Philosophie von SuZ unter dem Gesichtspunkt ihrer Wahrheitskonzeption schwerpunktmäßig in §3 belegt werden. In §4 sollen dagegen vorwiegend T2 und T3 zur Darstellung gelangen.

Zwar zeigt auch Tugendhat in seiner Arbeit schon auf, daB Heideggers Konzeption eine "potentielle Vertiefung des Wahrheitsthemas" Zeitlichkeit > Zeit > Sein] enthält. 12 Philosophisch und wissenschaftssystematisch gesehen ist Heideggers Absicht umfassend. Es geht ihm um die Gewinnung einer "apriorische[n] Bedingung der Möglichkeit" (SuZ, S. 11) der Ontologien und Wissenschaften. Gegen Kant und den Neukantianismus, aber auch gegen seinen Lehrer Husserl vermag er in der Erkenntnistheorie und/oder Subjektivitätstheorie keine zureichende Fundierung der Ontologien und Wissenschaften mehr zu erblicken. Das "Welterkennen" ist ihm zufolge bloß ein "fundierter", abgeleiteter Modus (so der §13 in SuZ, dort S.59-62). Gelingt die Fundamentalontologie und damit die Ausarbeitung der Fundamentalfrage nach dem Sinn von Sein, dann haben Einzelwissenschaften, Ontologien und Erkenntnistheorie wieder einen sie gemeinsam tragenden Grund gewonnen. Die skizzierte Absicht Heideggers hat drei sehr anspruchsvolle und problematische Implikationen: fil] Der fundamentale Begriff der philosophischen Disziplin Ontologie ist der Seinsbegriff. [i2] Innerhalb der Wissenschaft Philosophie ist die Ontologie Fundamentaldisziplin und geht somit der Erkenntnistheorie und allen anderen Disziplinen voraus. [i3J Wissenschaftssystematisch gesehen ist die philosophische Ontologie allen regionalen Ontologien vorgeordnet, welche wiederum den positiven Wissenschaften vorgeordnet sind. 13 Zunächst ist einzuräumen, daß Heideggers konstruktive Absicht für die Wissenschaft Theologie jedenfalls dann hohe Bedeutung gewinnt, wenn diese Implikationen akzeptiert werden können. Allerdings sind alle drei Implikationen bereits je für sich genommen problematisch, was im folgenden in umgekehrter Reihenfolge - gezeigt werden soll. Aus [i3J folgt unmittelbar, daß Heideggers Fundamentalontologie für die Wissenschaft Theologie Relevanz hat, wenn diese sich, wie Heidegger behauptet, als eine positive Wissenschaft14 versteht. Die angedeuteten Pfeile bedeuten hier keine Implikationen, sondern markieren den Richtungssinn von SuZ: Vom Sein des Daseins her soll über dessen Zeitlichkeitsstruktur auf die Zeit, von dort auf das SEIN selbst geschlossen werden. Cf. die präzise und ausführlichere Darstellung bei Bast, 1986, S.52-73 und Jung, 1990, S.89-96. Jüngel zeigt auf, worin der wesentliche Unterschied zwischen dem Begriff der "positiven Wissenschaft", wie ihn Heidegger verwendet, und dem von Schleiermacher (Kurze Darstellung, §1, S.l) klassisch geprägten gleichlautenden Begriff besteht: Für

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Martin Heideggers philosophische Wahrheitskonzeption

Denn die mit der Erforschung von je abgegrenzten Bezirken des Seienden beschäftigten positiven Wissenschaften ruhen nach Heidegger auf der Philosophie auf, welche deren direktives oder korrektives Fundament bildet. Die Theologie ist im Entwurf ihrer Grundbegriffe in korrektiver Hinsicht auf die Philosophie angewiesen, lautet Heideggers zentrale These in seinem 1927 erstmals gehaltenen Vortrag: "Phänomenologie und Theologie". Seine Verhältnisbestimmung gipfelt in dem Satz: "Die Philosophie ist das mögliche, formal anzeigende ontologiscke Korrektiv des ontischen, und zwar vorchristlichen Gehaltes der theologischen Grundbegriffe" (PhTh, S.66).15

Ist dies aber für die protestantische Dogmatik eine zwingende Festlegung? Muß Theologie überhaupt Philosophie als ein ihr vorgegebenes (sei es direktives oder korrektives) Fundament akzeptieren? Denkbar wäre auch die Gleichursprünglichkeit beider Wissenschaften, in welcher beide ihre je spezifischen, miteinander kommunizierenden oder auch konkurrierenden Ontotogien entwickeln. So läßt sich etwa Christoph Schwöbeis Beitrag lesen, in welchem er behauptet, daß "... die Begriffe, in denen eine ausgearbeitete Ontotogie zu entfalten ist... keinen ursprünglichen Status haben, sondern relativ zum Grundbegriff des Handelns Gottes und der in der Selbsterschließung Gottes begründeten Relation zwischen Gott und dem Glauben zu explizieren sind."16

Selbst unter der Voraussetzung, daß [i3] aus theologischer Sicht zu akzeptieren sei, bleibt offen, ob die christliche Dogmatik ausgerechnet eine ontologisch ansetzende Philosophie als ihr Fundament betrachten müßte. Als Alternativen sind mit gleichem Recht eine (transzendentale und/oder idealistische) Subjektivitätstheorie oder eine fundamental angesetzte allgemeine Zeichentheorie17 denkbar. Aber selbst wenn Heidegger auch die Implikation fi2J zugestanden würde, wäre damit überhaupt nicht ausgemacht, daß der Seinsbegriff das Fundament einer philosophischen oder theologischen Ontologie sein muß.

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diesen ergibt sich die "Positivität" einer positiven Wissenschaft durch ihre Zweckbestimmtheit, für jenen (und im Anschluß an Heidegger auch für Bultmann) durch ihre Gegenstandsbezogenheit (Jüngel, 1985, S.25-30). Für das wissenschaftstheoretische Verständnis dieser These Heideggers hängt alles an der Interpretation des Begriffs der "formalen Anzeige". Cf. hierzu Gadamer, 1990, S.99; Pöggeler, 1990a, S.123f, 128f; Pöggeler, 1990c, S. 142-145. Schwöbel, 1990, S.68-122, dort S.84. In diesem Sinne kann wohl der Ansatz von Herms verstanden werden (1982a, S.164188). Ob Herms gut darin beraten war, ausgerechnet die Semiotik von Morris für einen allgemeinen Zeichenbegriff in Anspruch zu nehmen, kann hier offen bleiben.

Heideggers Wahrheitstheorie

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Unstrittig dürfte in der aktuellen theologischen Diskussion innerhalb der neueren evangelischen Dogmatik lediglich sein, daß die Gewinnung einer konsistenten ontologischen Grundbegrifflichkeit ein Desiderat darstellt. Dieses Desiderat findet seinen Niederschlag in der Aussage, daß in der gegenwärtigen deutschsprachigen Dogmatik (seit 1945) "... nirgends auch nur der Versuch einer pünktlichen Erklärung des Existenzbegriffes zu finden ist." 18

Damit ist zugleich die hier nicht zu entscheidende Alternative zwischen einer beim Existenzbegriff und einer beim Seinsbegriff ansetzenden Cytologie angezeigt. Die Verwendung des Seinsbegriffes zur Grundlegung der Ontologie läßt sich allerdings grundsätzlich von einem sprachkritischen Ansatz aus problematisieren: - Es fragt sich erstens, ob das Wort "ist" als grammatische Prämisse des Begriffes "Sein" überhaupt einen Sinn besitzt. Dagegen ist beispielsweise zu beachten, daß in den meisten Sprachen die Kopula entweder überhaupt fehlt oder nur eine marginale Rolle spielt, d.h., in Sätzen jederzeit ausgelassen werden kann. C. S. Peirce, selbst (wie Heidegger) ein ausgezeichneter Kenner scholastischer Logik und Ontologie, vertrat deshalb schon 1903 die These, daß es sich bei der Kopula "... lediglich um eine zufällige Form handelt, welche die Syntax annehmen kann".19 - Es ist zweitens fraglich, ob, einmal vorausgesetzt, das "ist" habe eigenen Sinn und sei nicht bloß syntaxfunktional erklärbar, die verschiedenen Verwendungsweisen von "ist" oder "Sein" (die wichtigsten sind Prädikationen, Existenzquantifikationen und Identitätsaussagen)20 auf einen einheitlichen Grundsinn zurückführbar sind. Auf vier sprachlogisch differenzierbare Deutungsmöglichkeiten hin zugespitzt, läßt sich fragen: Wird das "ist" univok (a), analog (b), "familienähnlich "21 (c) oder gar äquivok (d) verwendet? In den Fällen (a) und (b) würde es einen univoken Begriffskern geben - nicht so in den Fällen (c) und (d). Sprachanalytisch geurteilt, dürfte der 18 19

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So jedenfalls beurteilen Härle/Herms die Lage (1982/83, S. 186). Peirce, 1983, S.82. Peirce verzichtet damit aber keineswegs auf Ontologie, nur auf den Grundbegriff des "Seins". Allerdings wäre von der Peirceschen Kritik das "ist" nur in seiner Funktion als Kopula, nicht hinsichtlich seiner anderen Verwendungen betroffen. In allen drei Fällen handelt es sich um Propositionen. Cf. die luzide Analyse von Dalferth, 1981, S.236-264. Zu diesem Begriff cf. Wittgenstein, 1953, S.276-278, 283 (dort Thesen 65-67 , 76, 77).

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Martin Heideggers philosophische Wahrheitskonzeption

Fall (d) am wahrscheinlichsten sein. Vor diesem Hintergrund hätte Heidegger mindestens Argumente für sein Postulat eines einheitlichen Grundsinnes geben müssen, was er unterließ. Ohne Begründung ging er vielmehr davon aus, daß es diesen Grundsinn gebe. - Drittens scheint Heidegger vorauszusetzen - und auch dies ohne Begründung -, daß es legitim sei, das vieldeutige "ist" zum substantivierten Inifinitiv "das Sein" zu hypostasieren. Wenn ein solcher Platonismusvorwurf (Carnap, Stegmüller) zuträfe, würde die Rede vom "Sinn des Seins" dem Ockham'schen Rasiermesser verfallen.22 Selbst wenn man geneigt ist, Heidegger gegen den ersten und den dritten Einwand zu verteidigen, muß dem zweiten erst einmal argumentativ Paroli geboten werden. Ob Ontologie beim Seinsbegriff oder beim Existenzbegriff ansetzen sollte, ist hier nicht zu entscheiden. Beide Ansätze können jedenfalls Argumente zu ihren Gunsten und Ungunsten aufweisen.23 Wenn dies richtig ist, dann kann auch Heideggers Implikation [il] nicht unbesehen akzeptiert werden. Es zeigt sich: Die drei in Heideggers konstruktiver philosophischer Absicht enthaltenen Implikationen [il] - [i3] sind je für sich und erst recht in ihrer Kombination problematisch. Akzeptiert man sie aber ganz oder teilweise, bekommt Heideggers philosophischer Neuansatz ein prinzipiell hohes Gewicht. Dieses wird noch verstärkt durch die spezifische Leitthese seiner Philosophie. §5.7.7.2 Heideggers Leitthese der Temporalität des Seins Soeben wurde unter dem Stichwort der "konstruktiven Absicht" Heideggers im Räume bedeutender philosophischer und theologischer Diskurse unseres Jahrhunderts zumindest ansatzweise plausibel gemacht, daß Heideggers Philosophie - wie immer man zu ihr stehen mag - zwei Grundfragen der Disziplin "Ontologie" behandelt, nämlich einerseits die Frage des systematischen Ortes der Ontologie im Gesamtgefüge von Philosophie und Heidegger würde hiergegen vermutlich argumentieren, daß es ihm lediglich um die Ausarbeitung einer bisher übersehenen Frage gehe, nicht um die Begründung einer These. Dies überzeugt aber nicht, weil jede Frage entweder in eine implizite, prinzipiell argumentativ erörterbare (Hypo-) These konvertierbar oder zumindest mit einer solchen verbunden ist. Deswegen läßt sich auch der Gehalt von SuZ in der Form einer Leitthese (LT) zusammenfassen, wie ich sogleich zeigen will. Warum Bultmann Heideggers Option teilte, wird teilweise ersichtlich aus GuV IV, S. 105: Der Existenzbegriff, so beruft Bultmann sich auf den common sense der Existenzphilosophie, sei exklusiv auf das menschliche Dasein zu beziehen: "Der Begriff der Existenz erhält seinen Sinn doch überhaupt erst als Charakteristik des menschlichen Seins".

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Wissenschaften, andererseits aber die Frage nach einem Grundbegriff der Ontologie, der ihr Baugefüge und ihre Leitdifferenzen tragen kann. Neben der Frage nach dem Ort und der Grundbegrifflichkeit dieser Disziplin ist, um Heideggers Konzeption würdigen zu können, die Frage nach der wesentlichen Struktur der Ontologie von zentraler Relevanz. (Dabei geht es nicht schon um die Inhalte der Ontologie, sondern um ihre formalstrukturelle Durchführung.) Die Antwort auf diese Frage wird sogar zum Kriterium der formalen Beurteilung der Leistungsfähigkeit eines ontologischen Ansatzes, weil mindestens aus theologischer Perspektive eine Überlegenheit relationaler Ontologie gegenüber der (klassischen) Substanzmetaphysik angenommen werden muß. So stellt Dalferth 24 die Leistungsfähigkeit des von der protestantischen Theologie erstmals durch Luthers coramRelation eingeführten relationsontologischen Ansatzes heraus. Kann eine grundsätzliche Überlegenheit des relationsontologischen Ansatzes über den substanzontologischen behauptet werden, dann stellt sich die Frage, wie Heideggers Philosophie angesichts dieser Alternative verortet werden muß. Daran entscheidet sich für die evangelische Theologie somit schon auf formal-struktureller Ebene die Leistungsfähigkeit der Heideggerschen Gesamtkonzeption. Nun läßt sich relativ leicht sehen, daß Heideggers Ansatz als relationsontologischer gedeutet werden muß. Denn Heidegger richtet seine Abgrenzung und Polemik gegen die traditionellen Auffassungen des Seins als

"(stete) Vorhandenheit", "Substanzialität" und "Anwesenheit" (SuZ, S.25f,

67f, 88ff, 114f, 158, 201, 203 u.ö.). Alle drei Bestimmungen meinen insofern das gleiche, als sie "Sein" denken als ein Bleibendes, Unveränderliches, welches entweder überzeitlich gedacht oder aber temporal auf den Zeitmodus der Gegenwart restringiert ist (SuZ, S.25). Die Tradition hat also spätestens seit Plato, so meint Heidegger, ein implizites Dogma über das Sein vertreten, nämlich, daß es sich zur Zeit als solcher disjunktiv verhalte. In diesem Kontext zweifelt er auch an anderen, zuvor als selbstverständlich geltenden Prämissen ontologischer Tradition wie etwa der, daß "Sein" der "allgemeinste" Begriff und deshalb "undefinierbar" sei (SuZ, S.3f).25

Dalferth, 1984, S.250f, Anm. 1, mit Bezug auf Gbelings "Dogmatik des christlichen Glaubens", sowie auf Härle/Herms (1980). Cf. neuerdings auch Schwöbel, 1990, S.79-84. Heidegger bezieht sich damit auf die unter dem Einfluß Pascals und seiner Schüler entstandene, in der "Logik von Port Royal" repräsentierte Auffassung, Inhalt und Umfang der Begriffe verhielten sich stets streng reziprok. Weil "Sein" den größten Begriffsumfang habe, sei der Inhalt dieses Begriffes entsprechend gering, er sei mithin undefinierbar. Heidegger fordert dagegen zu Recht, daß sich ein Sinn des Wortes "Sein" angeben lassen müsse (SuZ, S.4; etwas ausführlicher EiM, S.30f). Denn die Lehre von Port Royal beruht auf einem logischen Irrtum, wie Bolzano gezeigt hat (cf. die Darstellung bei Menne, 41986, S.27).

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Martin Heideggers philosophische Wahrheitskonzeption

Demgegenüber zeigt sich bereits im Titel seines Werkes der Zweifel am Dogma von der Disjunktion von Sein und Zeit durch die Konstruktion einer Gegenthese. Hinter dem Titel "... verbarg sich offenbar die These: die Zeit ist keine Alternative zum Sein; vielmehr ist das Sein selbst zeitlich."26

"Sein" und "Zeit" sind somit nicht als Alternativbegriffe zu denken, wie dies in weiten Strecken der ontologischen Tradition tatsächlich (ob ausschließlich, wie Heidegger meint, sei dahingestellt) geschieht, vielmehr läßt sich das, was "Sein" meint, hinsichtlich seines Sinnes nur über das Phänomen der "Zeit" erfassen. Deswegen heißt die offene Frage am Schluß des Buches: "Offenbart sich die Zeit selbst als Horizont des Seins?" (SuZ, S.437)

Was freilich Zeit ist, so Heidegger, das ist nur über die vorausgegangene Analyse menschlichen Daseins in seiner spezifischen Zeitlichkeit ermittelbar. Damit ist die Leitthese von Heideggers Buch als Grundargument dargestellt; in ihr liegt der Grund für die relationsontologische Durchführung des Werkes beschlossen. Eine solche Durchführung läßt sich leicht und ausführlich im Detail belegen. Durch sie erklären sich u.a. die in SuZ so häufig anzutreffenden Bindestrichwortkombinationen (z.B. "In-der-Welt-sein"). Diese haben den genauen systematischen Sinn, die komplexen relationalen Strukturen daseinsmäßiger Existenz als irreduzibel darzustellen. Hierin liegt auch der Sinn für die Ansetzung der "Existenzialien" (s.u., §3.1.3) innerhalb der Fundamentalontologie. Die Leitthese von SuZ lautet somit präzise: (LT) Sein hat eine intrinsische und irreduzible Relation zur in der Zeitlichkeit des Daseins sich enthüllenden ursprünglichen Zeit; will man explizieren, was "Sein" heißt, also den "Sinn von Sein" klären, muß man diese Relation explizieren. Doch ist zumindest der frühe Heidegger nicht der Ansicht, der "Sinn von Sein" könne nur in der Weise erfaßt werden, wie er vorgeht. Er versteht seine These mithin zunächst als einen aus dem Zweifel an einem impliziten Dogma der philosophischen Tradition erwachsenen Diskussionsvorschlag. In seiner Vorlesung von 1925/26 sagt er: "... ich will nicht so absolut dogmatisch sein und behaupten, man könnte Sein nur aus der Zeit verstehen, vielleicht entdeckt morgen einer eine neue Möglichkeit" (GA Bd. 21, S.267). 26

Franzen, 1976, S.39; cf. ders., 1975, S.47.

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Zumindest damals hatte Heidegger sich noch nicht aus der Gemeinschaft rational Argumentierender verabschiedet. Vielmehr hatte er mit seiner Leitthese von der Temporalität des Seins einen formal und strukturell bedeutsamen (weil relationsontologischen) Beitrag zur ontologischen Diskussion geliefert. Diese Leitthese ist für unsere Deutung der Wahrheitskonzeption Heideggers insofern von unmittelbarem Belang, als er eine Art "Konvertibilität" von Sein und Wahrheit annimmt, wie im Rahmen der Darstellung seiner Fundamentalaletheiologie (schwerpunktmäßig in §4.4) ausführlich gezeigt und belegt werden wird. An dieser Stelle ist es aber bereits nötig, diesen Zusammenhang deutlich zu machen. Gemäß der bezeichneten Austauschbarkeit läßt sich die soeben formulierte Leitthese von Heideggers früher Philosophie in folgende These transformieren: (LT*) Wahrheit hat eine intrinsische und irreduzible Relation zur in der Zeitlichkeit des Daseins sich enthüllenden ursprünglichen Zeit; will man explizieren, was "Wahrheit" heißt, muß man diese Relation explizierenß9 §J./.2 Das Verhältnis von Phänomenologie und Wahrheit in "Sein und Zeit" Heidegger hat von Husserl die Phänomenologie als Denkmethode übernommen, zugleich aber im existenzialontologischen Sinne - gegen Husserl modifiziert. Über die Tatsache der kritischen Absetzung28 Heideggers von seinem Lehrer besteht in der Forschung Einigkeit. Die explizite Auseinandersetzung spiegelt sich am ausführlichsten in den veröffentlichten Marburger Vorlesungen (GA 20, 21, 24, 26). 29 27

28 29

Daß die so transformierte Leitthese in gewisser Weise die "Tiefengrammatik" von SuZ bildet, sei hier nur als Anmerkung vorausgeschickt. Die folgenden Ausführungen werden dies konkret belegen. Biemel, 1973, S.37; Herrmann, 21988, S.8, 49. Um sich die Schärfe der Frontstellung gegen Husserl zu verdeutlichen, lese man als Kontrastprogramm einerseits die freundschaftliche Widmung von SuZ und deren Begründung in der Anmerkung auf S.38 des Werkes, andererseits aber die külzlich veröffentlichten Briefe Heideggers an Jaspers. In diesen heißt es u.a.: "Husserl ist gänzlich aus dem Leim gegangen - wenn er überhaupt je 'drin' war - was mir in der letzten Zeit immer fraglicher geworden ist - er pendelt hin und her und sagt Trivialitäten, daß es einen erbarmen möchte. Er lebt von der Mission des 'Begründers der Phänomenologie', kein Mensch weiß, was das ist - wer ein Semester hier ist, weiß, was los ist ..." (Brief vom 14.7.1923). Anläßlich des Erscheinens von SuZ schrieb Heidegger an Jaspers ferner: "Wenn die Abhandlung 'gegen' jemanden geschrieben ist, dann gegen Husserl, der das auch sofort sah, aber sich von Anfang an zum Positiven hielt. Wogegen ich, freilich nur indirekt, schreibe, ist die Scheinphilosophie ..." (Brief vom

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Martin Heideggers philosophische Wahrheitskonzeption

Die Unterschiede zwischen Husserls und Heideggers Phänomenologieverständnis nur en passant notierend, geht es hier um die Frage: Was heißt Phänomenologie im Sinne Heideggers in SuZ? Und wie hängen Phänomenologie und "Wahrheit" zusammen? Ich will diese zwei Fragen nacheinander zu beantworten suchen. §3.1.2.1 Die Grundzüge von Heideggers Phänomenologieverständnis in "Sein und Zeit" Mit "Phänomenologie" meint Heidegger eine Denkmethode. Der Begriff "... charakterisiert nicht das sachhaltige Was der Gegenstände der philosophischen Forschung, sondern das Wie dieser" (SuZ, S.27). In §7 von SuZ ist somit der entscheidende Methodenbegriff30 der gesamten Untersuchung exponiert. Die phänomenologische Methode hat drei negative Kennzeichen (1-3) und ein positives, in ihrer Maxime zugespitztes Charakteristikum (4). Ad (1) Phänomenologie meint eine Ablehnung des ungeprüften Gebrauchs traditioneller philosophischer Begriffe und Gedanken, eine Haltung der Kritik gegenüber philosophischen Vorurteilen und Vormeinungen, die freilich darum weiß, daß ohne Vormeinungen philosophische Forschung nicht möglich wäre (GA 21, S.33). Hier liegt eine Differenz zu Husserl, wie Mark Okrent festhält: "In short, Heidegger is hinting that the kind of pure, contextless, and thus presuppositionless intuition central to Husserl's method is impossible. "31

Ad (2) Phänomenologie impliziert den Verzicht darauf, die Autorität der großen Denker argumentativ ins Spiel zu bringen32 und damit Philosophie einfach als unhinterfragte Tradition fortzuschreiben. Damit ist die "Auflockerung der verhärteten Tradition" (SuZ, S.22) beabsichtigt.

30

31 32

26.12.1926 - man beachte den Parallelismus membronim!). Die Belege sind entnommen: Heidegger/Jaspers, 1990, S.42 und S.71. Gethmann interpretiert den Unterschied zwischen Husserl und Heidegger gemäß der Darstellung des letzteren in dessen Vorlesung vom WS 1925/26 wie folgt: Indem Husserl die Unterscheidung von Genus und Spezies mit der von Akt und Gehalt konfundiert habe, habe er eine Semantisiening der Pragmatik vorgenommen. Umgekehrt räumte Heidegger mit seiner Methodisierung der Phänomenologie der Pragmatik einen Vorrang vor der Semantik ein (so Gethmann, 1989, S.109). Okrent, 1988, S.123. So klar in dem Rückblick "Mein Weg in die Phänomenologie" (1963). In: SD, S.8190, dort S.86.

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Ad (3) Phänomenologie wendet sich gegen "formale Deduktionen" als Mittel philosophischer Argumentation; diese seien Ausdruck "blinden Scharfsinns" und als Sätze inhaltsleer (GA 21, S.188f). - Die drei von Heidegger abgelehnten Methoden konvergieren seiner Meinung nach in der "Konstruiertheit" ihrer philosophischen Begriffe und Gedanken. Von bloß "freischwebenden Konstruktionen" (SuZ, S.28) muß die Philosophie aber, und ausdrücklich wird dieser Grundsatz auf die Wahrheitsproblematik bezogen (SuZ, S.33), freigehalten werden. Eine starke Analogie zu dieser methodischen Grundhaltung findet sich in der frühen pragmatistischen Philosophie bei Peirce 33 . Ad (4) Wurden soeben die drei negativen Kennzeichen phänomenologischen Arbeitens im Vergleich zur Methode von Peirce dargestellt, so läßt sich eine Entsprechung auch im positiven Bereich der Methodenentfaltung zeigen. Hieran kann zugleich die Grenze dieser Analogie deutlich gemacht werden. In ihrem positiven Gehalt konkretisieren sich sowohl Phänomenologie als auch Pragmatismus in philosophischen Maximen. Die phänomenologische Maxime lautet: "Zu den Sachen selbst!" (SuZ, S.27, 34, 38 Anm.l; cf. GA 21, S.32f). Damit ist gemeint, wie Heidegger nach einer Komponentenzerlegung des Begriffs "Phänomenologie" in seine Bestandteile "Phänomen" und "Logos" und deren Rückführung auf ihre "ursprüngliche" griechische Bedeutung synthetisch zusammenfaßt: "Das was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen lassen" (SuZ, S.34).

Dabei besteht ein wichtiger Zwischenschritt des Gedankenganges in der Interpretation des vieldeutigen griechischen Begriffes "Logos" als "Rede", die ursprünglich ein "Sehenlassen" meine (SuZ, S.32f). Die schon von Husserl eingeführte optische Metaphorik behält Heidegger also bei, er fordert statt formaler Deduktionen ein "Verständnis aus dem Sehen selbst" (GA 21, S.189). Das "Phänomen", das die Griechen mit Wahrheit meinten, Peirce hätte die Kritik an allen drei sog. "konstruktiven" Methoden geteilt. So hätte er erstens eine in Vorurteilen und Vormeinungen verstrickte Philosophie als method of tenacity abgelehnt. In einem weiteren, auch Folter und Inquisition umfassenden Sinne kritisierte er zweitens die method cfauthority. Schließlich grenzte sich Peirce von der method ofapriority ab, die er an Descartes, Leibniz, Kant und Hegel exemplifizierte. Die Deduktion als wichtigste SchluBform apriorischen Denkens sei zwar respektabler als das methodische Ensemble von tenacity und authority, mache aber Philosophie zu einer Sache von "Mode" und "Geschmack". Hierzu cf. Peirce, 3 1985, S.83-89. Siehe auch Oehlers Kommentar (Oehler, 3 1985b, S.105-112).

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wird folglich "gesehen" (GA 21, S.135) - oder eben nicht. Wie geschieht nun aber dieses "Sehen" der Dinge, so wie sie sich von sich selbst her zeigen, konkret? An diesem Punkt zeigt sich eine wichtige Differenz zu Husserl 34 . War für diesen die phänomenologische Schau eine theoretisch-kontemplative, weshalb sich die Intention vorzüglich in der "Anschauung" erfüllte, so ist Phänomenologie für Heidegger nur im Zusammenhang der Praxisanalyse zu bestimmen. Der tätige Umgang mit den Sachen enthüllt ihr Wesen ursprünglicher als die reflexionsgeleitete Theorie. Die Praxis des Hämmerns mit dem einfachen Werkzeug Hammer als "gebrauchend-hantierende[r] Umgang" (SuZ, S.69) hat seine eigene vortheoretische "Umsicht" (cf. auch SuZ, S.73, 75 u.ö.). In sprachlicher Hinsicht tritt entsprechend neben die optische Metaphorik die "haptische", wie Gethmann 35 zutreffend feststellt. Okrent verortet diese Differenz zwischen Husserl und Heidegger präzise im Intentionalitätsbegriff: "Husserl conceives of the fundamental form of intentionality as cognitive; Heidegger conceives of it as practical. " 36 Das phänomenologische "Sehen" bei Heidegger praxisorientiertes, grundsätzlich "pragmatisches"37.

ist

folglich

ein

Auch hier ist die Nähe zu dem, was Peirce die "method of science" nennt, die seiner Meinung nach die drei anderen Methoden der tenacity, authority und apriority ablösen soll, zunächst frappierend. Auch Peirce stellte eine Maxime auf, die "Pragmatische Maximederen Formel lautet: 34

35 36

37

Man kann diese Differenz schon anhand der letzten Freiburger Vorlesung Heideggers von 1923 belegen, die er unter dem Titel: Ontotogie (Hermeneutik der Faktizität) hielt (=GA 63). Man vergleiche dort die §§19+20, S.88-92. In §19 wird unter dem Titel "Eine Fehideskription der alltäglichen Welt" Husserls Methode - allerdings hier noch ohne Namensnennung - kritisiert. Dem kontrastiert Heidegger sodann seine Weise der "Deskription der alltäglichen Welt aus dem verweilenden Umgang" (§20). Gethmann, 1989, S. 113-116. Okrent, 1988, S.123.- Auch Hertmann sieht bei aller formalen Gemeinsamkeit der phänomenologischen Konzeptionen den Unterschied in der "Entformalisierung" derselben durch die jeweilige Näherbestimmung der "Intentionalität" begründet: Während Husserl die intentionalen Akte des Bewußtseins untersucht, wird von Heidegger Intentionalität in den "Verhaltungen" des Daseins verortet. Als charakteristisches Exempel nennt Hertmann das "Besorgen", das auf die Grundstruktur der "Sorge" verweist (Herrmann, 21988, S.17, 37-40). Ein in dieser Hinsicht gewiß unverdächtiger Zeuge ist Gadamer. Er bemerkt, daß Heidegger "... den pragmatischen Funktionszusammenhang, in dem Wahrnehmungen und Wahrnehmungsurteile begegnen, gegen den deskriptiven Aufbau Husserls kehrte". Seine Kritik an Husserls Wahrnehmungsanalyse sei wesentlich "pragmatistisch getönt" gewesen. Cf. Gadamer: "Der Weg in die Kehre". In: ders., 1983, S.104f.

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"Überlege, welche Wirkungen, die denkbarerweise praktische Bezüge haben könnten, wir dem Gegenstand unseres Begriffs in Gedanken zukommen lassen. Dann ist unser Begriff dieser Wirkungen das Ganze unseres Begriffs des Gegenstandes. " 38

Die "Pragmatische Maxime" ist bei Peirce in einen strengen systematischen Kontext eingebunden, der sie methodisch näher expliziert. Dieser Kontext umfaßt erstens eine Trias von Schlußformen, deren wichtigste für Peirce die Abduktion ist, in welcher von einem überraschenden Ausgang ("Die Straße ist naß") über eine gesetzmäßige Regel ("Immer wenn es regnet, wird die Straße naß") auf einen wahrscheinlichen Verlauf geschlossen wird ("Vermutlich hat es geregnet"). Peirce hat folglich in seiner Opposition gegen eine apriorisch-deduktiv verfahrende Philosophie eine Alternative auf der Ebene der Schlußformen anzubieten. Darin unterscheidet er sich von Heidegger, der sein phänomenologisches "Sehen" nicht in dieser Hinsicht konkretisieren kann, weshalb für ihn die Ebene der Begriffe vor den Urteils- und Schlußebenen in quasi sprachatomistischer Weise39 unbedingten Vorrang genießt. Zum systematischen Kontext der Pragmatischen Maxime gehört für Peirce ferner die Dimension der Intersubjektivität von Forschungsprozessen. Sein Modell ist der Mitarbeiterstab in einem wissenschaftlichen Laboratorium. Wahrheit entsteht im dialogisch-argumentativen Prozeß einer solchen Gruppe, meint Peirce, ohne damit schon auf eine Konsensustheorie der Wahrheit festgelegt werden zu dürfen. 40 Bei Heidegger gibt es keine Intersubjektivitätsdimension, doch verweist Gethmann immerhin auf einen Ansatz zu einer solchen.41 Allerdings muß

38 39

40

41

Peirce, 31985, S.63. In merkwürdigem Gegensatz zu diesem Begriffsatomismus steht der für SuZ so charakteristische, von Okrent (1988, S.42-44) hervorgehobene holistische Pragmatismus, der das existierende Dasein in seinem umsichtigen Umgang mit Verweisungs-, Bewandtnis- und Zeug-Ganzheiten charakterisiert (zum Holismus Heideggers cf. auch Scheffczyk, 1988, S.252f; Guignon, 1990, S.654, 666). Der Pragmatismus war beim frühen Heidegger offensichtlich nicht bloß weiter entwickelt, sondern auch im Denkzusammenhang bestimmender als die Sprachphilosophie. So zu Recht Pape, 1986, S.15. Pape unterscheidet dort zwischen der in der Metaphysik der Kontinuität angesiedelten Konsensustheorie der Wahrheit und der semiotischsemantischen Korrespondenztheorie, die Peirce aufgrund der irreduziblen Dreistelligkeit seines Zeichenbegriffes, welche stets eine Objektrelation einschließt, niemals aufgegeben hat. In ähnlicher Weise wie in Schleiermachers "Dialektik" verbinden sich somit bei Peirce Korrespondenz- und Intersubjektivitätsdimension von Wahrheit. Gethmann, 1989, S.119, mit Bezug auf SuZ, S.155, wo Heidegger die Aussage als Mitteilungsphänomen reflektiert: "Sie ist Mitsehenlassen des in der Weise des Be-

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Gethmanns nicht von ungefähr schmaler Beleg kontrastiert werden mit der von Heidegger als "Uneigentlichkeit" etikettierten gesellschaftlichen Dimension, die sich im Existenzial "Man" (SuZ, §27) konkretisiert. Vor allem aber ist auf ein Zitat des Grafen Yorck von Wartenburg zu verweisen, das Heidegger unkritisiert aus dessen Briefwechsel mit Dilthey übernimmt. Dort heißt es zur Intersubjektivitätsdimension der Wahrheit: "'Aber Sie kennen meine Vorliebe für das Paradoxe, die ich damit rechtfertige, daß Paradoxie ein Merkmal der Wahrheit ist, daß communis opinio gewißlich nirgends in der Wahrheit ist [Hervorhebung v. EMP] ...'" (SuZ, S.403). Heideggers Wahrheitskonzeption war von einer Intersubjektivitäts- oder Konsensusdimension weit entfernt. Schon an dieser Stelle deutet sich an, daß die Wahrheitsproblematik einen Bezug zur phänomenologischen Methode hat. Er wird sichtbarer, sobald es darum geht, zu explizieren, was "phänomenologisches Sehen" eigentlich bedeutet. Im Erläutern dieses Bezuges wird sich zeigen, daß Phänomenologie und Wahrheitsfrage nicht bloß äußerlich-kontingent, sondern auf mehrfache Weise wesensmäßig-notwendig zusammenhängen. §5./.2.2 Der Zusammenhang von Phänomenologie und Wahrheitsproblem Nach dem bisher Gesagten könnte der Zusammenhang zwischen Phänomenologie und Wahrheitsfrage schlicht darin bestehen, daß jene die wissenschaftliche Methode darstellt, mit der diese geklärt werden soll. Dafür spräche Heideggers charakteristische Zuordnung von Phänomenologie und Seinsfrage (SuZ, S.35). Heidegger argumentiert, daß in einem ausgezeichneten Sinne dasjenige "Phänomen" genannt werden müsse, das zunächst und zumeist verborgen sei, denn dieses bedürfe einer "ausdrücklichen Aufweisung" (SuZ, S.35). Dieses verborgene und verstellte Phänomen aber ist für Heidegger das "Sein des Seienden"42. Umgekehrt gilt aber auch: "Ontologie ist nur als Phänomenologie möglich" (SuZ, S.35). Damit behauptet Heidegger sogar eine eineindeutige Zuordnung von Seinsfrage und Phänomenologie. Aufgrund der oben angedeuteten Konvertibilität von Seins- und Wahrheitsfrage hat Phänomenologie als Gegenstand ihrer Untersuchung folglich notwendig das Wahrheitsproblem zu erörtern. Was sich auf den ersten Blick als einfach darstellt, kompliziert sich auf den zweiten Blick freilich dadurch, daß das Wahrheitsproblem nicht bloß stimmens Aufgezeigten. Das Mitsehenlassen teilt das in seiner Bestimmtheit aufgezeigte Seiende mit dem Anderen". Dies ist eine weitere entscheidende Modifikation gegenüber Husserl. Franzen behauptet zu Recht: "Genau diese Modifikation erklärt vermutlich auch, warum Phänomenologie hermeneutisch wird" (Franzen, 1975, S.19).

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auf der Ebene des Gegenstandes der Phänomenologie, sondern auch inner-

halb der Methode selbst auftaucht. In §7.B. "Der Begriff des Logos", in

welchem die zweite Komponente des Phänomenologiebegriffes etymologisch untersucht wird, expliziert Heidegger den Logos als ein "Sehenlassen", das wahr oder falsch sein könne. Das aletheuein als solches besage präzise: "entdecken" (SuZ, S.33). Die Weise des Logos, zu "entdecken", sei nur eine unter anderen, die "Urteilswahrheit" daher ein "mehrfach fundiertes Phänomen" (SuZ, S.34). Damit wird eine wesentliche These des §44 vorweggenommen. Im systematischen Zusammenhang wird der "Logos" der "Phänomenologie" also von der Voraussetzung der "ursprünglichen Wahrheit" immer schon getragen und ermöglicht, weil der "Logos" als "Sehenlassen" (allgemein) ebenso wie als "Urteilswahrheit" (speziell) schon immer Wahrheit voraussetzt. "Weil aber 'Wahrheit' diesen Sinn [des Entdeckens, EMP] hat und der logos ein bestimmter Modus des Sehenlassens ist, darf der logos gerade nicht als der primäre 'Ort' der Wahrheit angesprochen werden" (SuZ, S.33).

Wahrheit ist damit nicht bloß (sofern sie mit Sein konvertibel ist) der Gegenstand der Phänomenologie, sondern (als Entdecken) ebenso Voraussetzung des in dieser Methode implizierten "Logos". Neben "Wahrheit" als "Sein" und "Wahrheit" als "Entdeckendsein" tritt diese im Rahmen von Phänomenologie aber mindestens noch auf eine dritte Weise in Erscheinung, nämlich im Sinne der klassischen Korrespondenzwahrheit. Dieser Tatbestand wird von Heidegger selbst zwar nicht ausdrücklich konstatiert, ist aber leicht ersichtlich. Erstens intendiert der "Ais-Charakter" des phänomenologischen Auslegungsgeschehens43 die formale Korrespondenz zweier differenter Ebenen, die in einem "So-wie" einander zuzuordnen sind (1). Zweitens sucht die Methode Phänomenologie über Verfahren der "Ausweisung" eine "phänomenale Angemessenheit" zu erzielen (2). Ad (1) Der belegende Passus aus dem Phänomenologieparagraphen (SuZ, §7) wurde bereits zitiert. Er lautet: "Das was sich zeigt, so wie [Hervorhebung v. EMP] es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen lassen" (SuZ, S.34).

Das "So-wie" ist für Heidegger aber eine Formel, die den Relationscharakter bezeichnet, welcher der klassischen "Übereinstimmungstheorie" der Wahrheit zugrunde liegt (SuZ, S.216; GA 21, S.10).

"That 'interpretation' is a word Husserl would never have used in this context is clear ...". Okrent, 1988, S.122.

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Ad (2) Der zweite Beleg für die These eines wesentlichen Konnexes zwischen Phänomenologie und Korrespondenztheorie der Wahrheit ergibt sich, wenn die der Phänomenologie inhärente Forderung "phänomenaler Ausweisung bzw. Ausweisbarkeit" auf ihren semantischen Gehalt hin bedacht wird. Ausgewiesen werden muß immer etwas für jemanden. "Im phänomenalen Zusammenhang der Ausweisung muß demnach die Übereinstimmungsbeziehung sichtbar werden" (SuZ, S.217).

Eine Ausweisung kann angemessen oder unangemessen sein; angestrebt wird die "Angemessenheit der Ausweisung" (so schon SuZ, S.3; cf. ebd., S.217, 312, 410). "Angemessenheit" ist aber nur ein anderer Begriff für "Adäquanz" oder "Korrespondenz". Indem "phänomenale Angemessenheit" zum Grundpostulat der Phänomenologie wird, ist diese somit wesenhaft mit einer Korrespondenztheorie der Wahrheit verbunden. Dieser nachgewiesene Konnex kann der Phänomenologie insofern nicht äußerlich sein, als sie sich, jedenfalls für den frühen Heidegger - und hierin in Einklang mit Husserl - als Inbegriff "wissenschaftlicher Philosophie" (GA 24, S.3, 17, 27) überhaupt versteht. Die Wahrheit der Wissenschaft aber ist auch nach Heideggers Meinung 44 die Korrespondenzwahrheit. Okrent geht in seiner Heidegger-Auslegung noch weiter, wenn er in seinem Kapitel "Phenomenology and the Verificationist Principle" 45 nachzuweisen sucht, daß das phänomenologische Ausweisbarkeitspostulat bei Heidegger einen "pragmatistischen Verifikationismus" darstellt. Die Differenzen zwischen Husserl, Heidegger und den klassischen Verifikationisten hält er für unbedeutend gegenüber den Gemeinsamkeiten: "All the profound differences between Heidegger, Husserl, and the traditional verificationists stem ftom their radically different conceptions of what counts as evidence." 46

Mag diese Deutung zutreffen oder nicht: Wie gezeigt, steht die Phänomenologie in einem mindestens dreifachen Bezug zum Wahrheitsproblem, das dessen Vieldeutigkeit in Heideggers Philosophie offenbart: Als wissenschaftliche Methode bewegt sich ihr Arbeiten im Rahmen einer Korrespondenztheorie der Wahrheit; vom ihr inhärenten Logos als "Sehenlassen" her ist sie zurückverwiesen auf Wahrheit als ein "Entdeckendsein"; schließlich ist ihr Gegenstand die "Wahrheit", die mit "Sein" konvertibel ist. Mindestens drei Wahrheitsbegriffe der oben postulierten sechs "Wahrheitsbegriffe" Heideggers zeigen sich bereits jetzt, noch vor dem 44 45 46

So auch Hernnann, 1987, S.335, 341. Okrent, 1988, S. 110-129. Ebd., S.127f.

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Einstieg in die Auslegung des §44 von SuZ. Verfällt Heideggers Denken damit der wahrheitstheoretischen Äquivozität, d.h. einer Sinndiffusion? Ein wesentliches Anliegen dieser Arbeit ist es (u.a.) zu belegen, daß die gezeigte Mehrdeutigkeit sich in einer nicht-äquivoken und prinzipiell konsistenten Weise rekonstruieren läßt. Nichtsdestoweniger gibt es natürlich sehr viele kritikbedürftige Thesen Heideggers. Nur muß die anzubringende Kritik systematisch präzise verortet werden. Ein Kritikpunkt sei hier gleich genannt: Für die Phänomenologie als Methode ergibt sich aus der gezeigten Mehrdeutigkeit ihres Wahrheitsbezuges eine eigentümliche Verschlungenheit von Gegenstand und Methode47. Diese Verschlungenheit bedingt den höchst problematischen Charakter der phänomenologischen Methode. Exkurs: Zu Husserls Wahrheitskonzeption Sowohl die wichtigsten Anregungen zur Entwicklung der Position Heideggers als auch eine bedeutende Kontrastfolie zu dieser finden sich in der sehr eigenartigen Wahrheitskonzeption Husserls. Der Sinn der von ihm zunächst eidetisch, später im Rahmen eines transzendentalen Idealismus entwickelten Phänomenologie und die Aufklärung der Bedeutung und der Begegnungsgestalt von Wahrheit lassen sich nur zusammen und im Kontext des Gesamtwerkes Husserls eruieren. Damit ist zugleich eine fundamentale Schwierigkeit für alle Versuche verbunden, Husserls Theorie der Wahrheit in konsistenter Darstellung wiederzugeben.48 Auch finden sich bei Husserl mindestens fünf sehr unterschiedliche Wahrheitsbegriffe49, was seine Theorie der Wahrheit vieldeutig macht.

Wiplinger (1961, S.134ff) behauptet sogar eine "Einheit von thematischem Gegenstand, Methode, Sprache und Systematik" im Denken Heideggers. Daß ein solches Denken nicht mehr kritisch sein kann, weiß Wiplinger durchaus und sagt es auf S.371 seines Buches ausdrücklich. Aber dies ist für ihn ein auszeichnender Vorzug der Philosophie Heideggers, den er sich zum Vorbild nimmt. Daher lautet gleich sein erster Satz im Vorwort: "Diese Arbeit ist nicht kritisch" (S.9). Als Literatur zu diesem schwierigen Gebiet ist zu konsultieren: Tugendhat, 2 1970, S.9-255; Brand, 1970, S.57-94; Pietersma, 1979/80, S.194-211; Schönleben, 1987, S.73-108; Merker, 1988. Husserl versteht unter "Wahrheit" (1) die als Evidenz erlebte Übereinstimmung zwischen Gemeintem und Gegebenem, (2) als ideales Wesen die Idee absoluter Adäquation, (3) den gedachten Gegenstand selbst, (4) die Richtigkeit einer die Sache intendierenden Intention (cf. Tugendhat, 2 1970, S.91-96; Stegmüller I, S.67f). Brand setzt in seiner Husserl-Interpretation diesen vier Wahrheitsbegriffen einen fünften, s.E. entscheidenden hinzu, den der "Bewahrheitung" (5) - cf. Brand, 1970, S.80f. - In dieser strukturellen Mehrdeutigkeit des Wahrheitsbegriffes liegt bereits eine Analogie zu Heidegger.

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Martin Heideggers philosophische Wahrheitskonzeption

Die übliche Einordnung dieser Wahrheitstheorie als Evidenztheorie etwa durch Skirbekk, Apel u.a. 5 0 läßt sich nur dann halten, wenn dabei wenigstens erklärt wird, wie sich Evidenz und Wahrheit bei Husserl zueinander verhalten. Denn weder sind beide identisch, noch ist Evidenz ein bloßes Wahrheitskriterium.51 Richtig ist vielmehr, daß beide Begriffe Korrelatbegriffe darstellen: Evidenz ist so das "Erlebnis der Wahrheit", Wahrheit das objektive Korrelat der Evidenz. Wahrheit im strengen Sinne ist sogar nur der "adäquaten Evidenz" korreliert. 52 Aus dieser Formulierung wird schon deutlich, daß auch Husserls Theorie sich einer - allerdings sehr spezifischen - Adäquationstheorie53 bedient. In der Tat heißt das entscheidende Begriffspaar bei Husserl "Intention und Erfüllung (Selbstgegebenheit)"54. Die dem menschlichen Bewußtsein eignende Intentionalität als dessen grundlegende Struktur intendiert in den Akten der Intention eine "Erfüllung", die in evidenter Weise etwa durch direkte Wahrnehmung zustande kommen kann aber keineswegs zustande kommen muß. Eine Intention kann auch erfüllungslos, "leer" bleiben. Streng formal erweist sich Husserls Theorie der Wahrheit als eine Variante der klassischen Korrespondenztheorie der Wahrheit 55 , deren Eigenarten freilich beachtet werden müssen. Die Korrespondenzstruktur bei Husserl lautet: [Intention - Erfüllung]. 56

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56

Puntel allerdings formuliert zurückhaltender: "Husserls Wahrheitsauffassung wird gewöhnlich als Evidenztheorie der Wahrheit bezeichnet" (in: ders.: 21983, S.17). Puntel läßt also offen, ob er sich dieser Einordnung anschließt, betont aber, daB von allen in seinem Buch nicht dargestellten Wahrheitskonzeptionen die von Husserl vertretene am ehesten (somit eher als die Heideggers) eine Darlegung verdient hätte. So übereinstimmend Tugendhat, 21970, S.50f und Schönleben 1987, S.lOlf. Tugendhat, 21970, S. 104. So schreibt Husserl beispielsweise von seiner Methode der phänomenologischen Wesensschau: "Jedes Urteil, das zu adäquatem Ausdruck bringt, in festen adäquat gebildeten Begriffen, was in Wesen liegt, ... jedes solche Urteil ist eine absolute, generell gültige Erkenntnis ..." (Husserl, 1910/11, S.41; cf. S.32, 38). Tugendhat, 21970, S.20, 48f, 51ff, 59, 64, 87, 100. So auch Gogel: "Husserl's description of the intentional act of evidence enabled him to confiim the ancient metaphysical definition of truth as the adequate correspondence of intellectus and res" (Gogel, 1987, S.165). Scheible zitiert den Bericht eines Augenzeugen (Helmuth Plessner), der eine bezeichnende Äußerung Husserls kolportiert: "' - und dabei zückte er seinen dünnen Spazierstock mit silberner Krücke und stemmte ihn vorgebeugt gegen den Türpfosten - Unübersehbar plastisch vertrat der Spazierstock den intentionalen Akt und der Pfosten seine Erfüllung'" (so Plessner, zitiert bei Scheible, 1989, S.32f). Man wird solche anekdotenhaften, indirekten Mitteilungen nicht überbewerten dürfen, aber sie bestätigen durchaus in sekundärer Weise die Auslegung Tugendhats, der wir hier folgen und die wir als korrespondenztheoretische Deutung Husserls auffassen.

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Indem Husserl Wahrheit über IntentionaUtät, also die apriorisch immer schon auf einen Gegenstand gerichtete Bewußtseinsfundamentalstruktur zu definieren sucht, versteht er die Differenz von Intention/Erfüllung des näheren als eine Differenz der Gegebenheitsweisen ( = Bewußtseinsweisen57). Weil einige Gegebenheitsweisen defizienter als andere sind, ist Evidenz prinzipiell als steigerbar gedacht, der Wahrheitsbegriff selbst bekommt komparativen Charakter. An einem von mir konstruierten Beispiel: Ich höre draußen ein Tröpfeln, gehe vor die Türe mit der Intention: "Aha, es nieselt draußen!" - draußen aber, das ist die gesteigerte Erfüllung meiner Intention, sehe ich, daß es nicht nieselt, sondern wie aus Kübeln gießt. Die Tatsache der Steigerungsmöglichkeiten der Intentionen/Erfüllungen verweist über die mittelbaren Erfüllungen auf die gedachte endgültige und letzte Erfüllung, das "Ideal der Adäquation". Dieses Ideal denkt Husserl sich als eine "regulative Idee" im Sinne Kants. 58 Tugendhat resümiert seine hervorragende Darstellung: "Aber als subjektives Korrelat der Wahrheit ist natürlich nur die adäquate Evidenz zu verstehen - sonst würden sowohl die Wahrheit wie die Evidenz ihren Sinn verlieren daher muß auch dort, wo nur eine inadäquate Evidenz realisierbar ist, an dem Begriff der adäquaten Evidenz als regulative Idee festgehalten werden ... Damit wird dann aber auch die Wahrheit zu einer regulativen Idee ..." 59 .

Die wesentlichen Unterschiede dieser evidenztheoretischen Variante der Korrespondenztheorie der Wahrheit zu ihrer klassischen Gestalt liegen erstens in der Behauptung der Haftung des Wahrheitsgehaltes an "Setzungen", welche eine weit umfangreichere Klasse bilden als die "Urteile" oder "Sätze", nämlich auch vorprädikative Wahrnehmungen und "Namen" als "schlichte Bedeutungen" umfassen, zweitens in der Behauptung des komparativen Charakters 60 von Wahrheit, welcher transzendentalphilosophisch auf eine "regulative Idee" von Evidenz und Wahrheit verweist. Auch Husserl versteht Wahrheit - traditionell korrespondenztheoretisch - als eine Differenz zweier in einer Relation aufeinander bezogener Related. 57 58 59 60

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So Tugendhat, 21970, S. 39. Tugendhat, 21970, S.78, 91, 105. Tugendhat, 21970, S. 104f. Eine komparative Wahrheitsauffassung steht im Widerspruch zum von uns aufgezeigten alltagssprachlichen Wahrheitsverständnis (cf. §2.2 dieser Arbeit). Brand hat wohl (u.a.) aufgrund der Entdeckung dieses komparativen Wahrheitsbegriffes die These aufgestellt, für Husserl seien Wahrheit und Bewahrheitung identisch (Brand, 1970, S.71, 74, 77, 81, 87). Dann wäre Husserls Theorie wesentlich eine Verfahrenstheorie der Wahrheitsfindung, nicht aber eine explikativ-definitionale Wahrheitstheorie. Eine präzise Darstellung der Position Husserls gibt Heideggers Vorlesung vom WS '25/26 (GA 21), §§9+10; zum Relationscharakter der Wahrheit bei Husserl cf. besonders S. 109-112.

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Martin Heideggers philosophische Wahrheitskonzeption

Allerdings meint er, diese Relation könne im günstigsten Falle eine "Identität"62 sein. Hier liegt ein dritter Unterschied zur klassischen Korrespondenztheorie, für welche die genannte Relation niemals eine Identität - sondern eine Adäquation, Ähnlichkeit, Abbildung usw. darstellt. Daß Heidegger einerseits konsequent an Husserl in der systematischen Zentralstellung des Wahrheitsbegriffes in der "Phänomenologie" anknüpfte, daß er sich andererseits durch die nochmalige Radikalisierung der Intentionalitätsstruktur durch ihre Erweiterung zur "Erschlossenheit" als Zentrum seiner Sorgekonzeption von ihm unterschied, kennzeichnet grundsätzlich seine Position. Gegenüber Husserl erreicht er eine noch weitere Ausdehnung des Wahrheitsbegriffes. Dieser wird dabei so umfassend gedacht, daß die von Husserl noch festgehaltene Differenz zweier als Relation aufeinander bezogener Relate bei Heidegger preisgegeben wird. 63

§3.1.3 "Wahrheit" im Kontext der systematischen Entfaltung des Denkgehaltes von "Sein und Zeit" "Wahrheit" wird in SuZ thematisch im zentralen §44 unter dem Titel der "Erschlossenheit" als ein "Existenzial" (SuZ, S.226) verhandelt. Der §44 des Buches blickt voraus auf den 2. Abschnitt des Werkes, "Dasein und Zeitlichkeit", in welchem Wahrheit als "Entschlossenheit" gefaßt werden wird (cf. §4 dieser Arbeit). Zugleich blickt der §44 zurück auf den ersten Abschnitt, "Die vorbereitende Fundamentalanalyse des Daseins", den er zum Abschluß bringt. Im folgenden will ich, ausgehend von einer Meditation seiner Gliederung, das Werk auf für die Wahrheitsproblematik wichtige Grundentscheidungen hin befragen. Damit wird eine weitere Voraussetzung geschaffen, um in die eigentliche Auslegung von §44 einzusteigen. In seiner gut verständlichen Einführung in Heideggers Denken skizziert Thomas Rentsch das Kerngerüst des vorliegenden Textes von SuZ in sechs Thesen: "1. Die Grundfrage nach dem Sinn von Sein - sie wurde laut Heidegger seit 2500 Jahren nicht oder falsch gestellt... 2. Die Klärung der Frage nach dem Sinn von Sein kann nur erfolgen im Rückgang auf das einzige Seiende, das 'verstehen' kann - im Rückgang auf den Menschen, das 'Dasein' in der Sprechweise Heideggeis. Versteht man Identität freilich streng als diejenige Relation, in der ein Gegenstand zu sich selbst und nur zu sich selbst steht, muß dieser Terminus befremden. Vermutlich ist bei Husserl die Relation der Kongruenz gemeint. Dies ist einer der zentralen Kritikpunkte Tugendhats an Heideggers Wahrheitskonzeption. Cf. Tugendhat, 2 1970, S.296f, 329, 335f, 372.

Heideggers Wahrheitstheorie

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3. Das Wesen des Daseins ist das In-der-Welt-sein. 4. Das Wesen des In-der-Welt-seins ist die Sorge. 5. Das Wesen der Sorge ist die Zeitlichkeit, wie sie sich in der Sterblichkeit und Endlichkeit - im Tod - manifestiert. 6. Diese Zeit ist die ursprüngliche Zeit, von der her alle andere Zeit (die Geschichtszeit, die Uhrzeit, die physikalische Zeit) überhaupt erst verstehbar wird."64

Dieses Gerüst läßt sich, das Inhaltsverzeichnis des Werkes betrachtend, erläutern. Zunächst: Die ersten zwei Thesen lassen sich der Einleitung des Buches, die vier folgenden den beiden veröffentlichten Abschnitten des ersten Teiles zuordnen. Es ergibt sich folgendes Entsprechungsverhältnis: Thesen 1 und 2:

Einleitung (2 Kapitel, §§ 1-8)]

Thesen 3 und 4:

1. Abschnitt (ä 6 Kapitel, §§ 9-44)\

Thesen 5 und 6: 2. Abschnitt (ä 6 Kapitel, §§ 45-83). Zweitens: Die 6 Kapitel des 1. Abschnittes weisen im Blick auf das Wahrheitsthema des näheren folgende Struktur auf: Im 1. Kapitel (§§9-11) wird die "Exposition einer vorbereitenden Analyse des Daseins" vorgenommen, welche zusätzlich eine Verbindungsfunktion zwischen der Einleitung und dem ersten Abschnitt wahrnimmt. Heidegger führt dort den im Hinblick auf das Folgende wichtigen methodischen Schlüsselbegriff der "Existenzialien" ein. Er bezeichnet damit "Seinscharaktere des Daseins" (SuZ, S.44), die weder bloße Eigenschaften des Menschen noch Kategorien als Seinsbestimmungen von nichtdaseinsmäßigen Seienden darstellen. Insbesondere die letzte Abgrenzung ist wichtig. "Existenzialien und Kategorien sind die beiden Grundmöglichkeiten von Seinscharakteren" (SuZ, S.45). Während diese die Vorhandenheit in ihrem "Was" thematisieren, charakterisieren jene das "Wer" der Existenz (das "In-der-Welt-sein"). Wie die einen Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung des welthaft Seienden explizieren, benennen die anderen die Bedingungen der Möglichkeit daseinsmäßigen Existierens. Sie sind daher als "transzendentale Lebensformbegriffe"65 charakterisierbar. Zwei BemerkunRentsch, 1989a, S.108f. - Rentsch bietet hier die Zusammenfassung der andernorts von ihm ausführlicher dargestellten Gliederungshypothese. Cf. Rentsch, 1985, S.62f. Rentsch, 1985, S.77ff. Transzendental heißen die Existenzialien, weil sie die Bedingungen der Möglichkeit daseinsmäßiger Existenz benennen. Als Lebensformbegriffe werden sie bezeichnet, weil sie eben nicht Eigenschaften des Menschen, sondern die Formen von komplexen Lebenssituationen explizieren.- Dies ist die Heideggers Anliegen gut rekonstruierende (allerdings, wie er selbst meint, zunächst trivial erscheinende) Eingangshypothese des Buches von Rentsch: "Menschen befinden sich immer

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Martin Heideggers philosophische Wahrheitskonzeption

gen seien einer Auflistung ausdrücklich genannter Existenzialien vorausgeschickt: - Während Kategorien in philosophischen Lehrbüchern aufgrund ihrer Abzählbarkeit (Aristoteles zählt zehn, Kant zwölf, Peirce drei Kategorien) und Systematizität gerne in Form übersichtlicher Tafeln repräsentiert werden, hat Heidegger nirgends versucht, die von ihm "Existenzialien" genannten Daseinsstrukturen in einer analogen Weise zu ordnen. Wahrscheinlich hielt er sie weder für abzählbar endlich noch für zwingend systematisch erhebbar. Beides ist jedenfalls dann richtig, wenn Existenzialien Aspekte menschlicher Existenz im ganzen sind. - Während Kant zwischen ursprünglichen "Kategorien" und abgeleiteten "Prädikabilien" streng unterscheidet, gibt es bei Heidegger keine Differenzierung zwischen ursprünglichen und abgeleiteten "Existenzialien". So wird etwa das "In-Sein" als Existenzial eingeführt, gleichzeitig aber das "Sein bei" der Welt als "ein im In-Sein fundiertes Existenzial" (SuZ, S.54) bezeichnet. Diese beiden Bemerkungen sollen die von Heidegger suggerierte Analogie zwischen den "beiden Grundmöglichkeiten von Seinscharakteren" etwas relativieren und in Frage stellen. Statt einer Tafel hier eine kurze, unvollständige Auflistung: Heidegger nennt als "Existenzialien" ausdrücklich das "In-Sein" und "Sein bei" (SuZ, S.54), das "Besorgen" (SuZ, S.57), die "Weltlichkeit" (SuZ, S.64), die "Entfernung" (SuZ, S.105), das "Einräumen" (SuZ, S . l l l ) , die "Fürsorge" (SuZ, S. 121), das "Man" (SuZ, S.129), die "Befindlichkeit" (SuZ, S.134), das "Verstehen" (SuZ, S.142), die "Möglichkeit" (SuZ, S.143), den "Sinn" (SuZ, S.151), die "Rede" (SuZ, S.161) und auch die mit "Erschlossenheit" identische "Wahrheit" (SuZ, S.226). Das die Grundverfassung des Daseins bezeichnende "In-der-Welt-sein" führt er als eine "existenziale Bestimmung" auf, was wohl gleichbedeutend mit "Existenzial" ist. Daß auch andere Strukturen, etwa die "Sorge", unter diesen Terminus fallen, ergibt sich klar aus dem Kontext. Für alle erhobenen Existenzialien gilt laut Heidegger, daß sie in dem in sich dreigliedrig strukturierten Phänomen der Sorge66 zentrieren. Damit greife ich freilich vor, denn diese These wird

(schon) in Situationen" (ebd., S.l). Damit ist Heideggers zentrale These übersetzt, Dasein existiere immer schon in einer Welt ("In-der-Welt-sein"). Versteht man Existenzialien im strengen Sinne als nicht bloB willkürlich postulierbare, sondern identifizierbare apriorische Strukturen, so läßt sich dieser Begriff am besten auf die das Sein des Daseins ausmachende dreigliedrige Sorge anwenden, weil diese aufgrund ihres drei Ekstasen umfassenden Zeitlichkeitssinnes aufweisbar im von Heidegger gesehenen Sinne expliziert werden muß. Andere Existenzialien, obwohl auch sie erhellend fungieren können, muten eher skurril an, so z.B. die "Ent-fernung". Wollte man so etwas wie eine Existenzialientafel aufstellen, so müßte diese wohl eine trichotomische Struktur haben.

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(erst) im 6. Kapitel des ersten Abschnittes von SuZ die existenziale Analytik des Daseins zu ihrem Abschluß bringen. Im 2. Kapitel (§§12+13) wird das "In-der-Welt-sein" als die "Grundverfassung" des existierenden Daseins herausgestellt. Damit ist negativ gesagt, daß der Mensch nicht als ein der Welt als "Objekt" gegenüberstehendes "Subjekt" 67 gedacht werden darf, sondern sich als "geworfen" in der Welt vorfindet und in ihr immer schon "vortheoretisch", d.h. über den praktisch-umsichtigen Umgang, orientiert ist. Jede Wissenschaft, jedes Welterkennen ist immer schon "fundiert" (d.h. nicht: besonders gut begründet, sondern: abgeleitet, nachgängig) im vorgängigen "Inder-Welt-sein" des Daseins. Positiv kennzeichnet dieser Begriff aber, und hierin besteht die systematische Funktion der Bindestriche, die Grundverfassung des Menschen als einen unzerreißbaren und unteilbaren Existenzzusammenhang "in" seiner zuhandenen, vorhandenen und mitdaseienden Umwelt. "Subjekt und Objekt decken sich aber nicht etwa mit Dasein und Welt" (SuZ, S.60). Der komplexe, unzerreißbare Strukturzusammenhang des "In-der-Weltseins" wird in den Kapiteln 3 (§§14-24), 5 (§§28-38) und 6 (§§39-44) aus den drei Perspektiven erhellt, die im Terminus selbst verbunden sind: Im 3. Kapitel wird die "Weltlichkeit der Welt", im 5. "Das In-Sein als solches", im 6. "Die Sorge als Sein des Daseins" [Hervorhebungen v. EMP] thematisiert. Dabei geht es in jedem dieser Kapitel um die ganze, untrennbare Grundstruktur des Daseins, freilich aus drei Blickwinkeln. Im 4. Kapitel (§§25-27) wird das Existenzial "Man" eingeführt, welches das Dasein "in seiner Alltäglichkeit und Durchschnittlichkeit" (SuZ, S.129) charakterisiert. Vom "Man" gilt: "Das Selbst des alltäglichen Daseins ist das Man-selbst, das wir von dem eigentlichen, das heißt eigens ergriffenen Selbst unterscheiden" (SuZ, S. 129).

Den Begriff des "Subjektes" vermied Heidegger in SuZ weitgehend, er hielt ihn für eine "bloße Konstruktion". Allerdings konnte er in SuZ (S.229, 366), aber auch in einer Vorlesung 1927 vom "Subjekt" reden, wenn dieses "im wohlverstandenen Sinne des existierenden Daseins" aufgefaßt werde (GA 24, S.313 - cf. ebd., S.308).- Wenn Adorno in der "Negativen Dialektik" notiert, "Dasein" sei "eine deutsche und verschämte Variante von Subjekt" (Adorno, 21980, S. 114, Anm.), so hat er nicht deswegen etwas Richtiges gesehen, weil gegen Heidegger die Subjekt-Objekt-Beziehung dialektisch aufhebbar wäre, sondern weil SuZ in der Tat als ein pragmatistischer Beitrag zur Subjektivitätsphilosophie gelesen werden kann.- Zur Subjektivitätsthematik cf. den aus hegelianischer Perspektive geschriebenen, fest schon klassischen Aufsatz von Schulz, 1953/54, S.95-139. Zu Schulz nimmt wiederum erhellend Stellung Figal, 1988, S. 16-25.

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Das Man steht folglich für die Existenzverfassung der Uneigentlichkeit 68 . Damit ist der Boden bereitet für die Frage nach der möglichen Eigentlichkeit des Daseins. Dieser Frage wird sich der zweite Abschnitt des Buches zuwenden. In ihm wird die als Zentrum der Sorgestruktur sich zeigende "Entschlossenheit" (§60) expliziert, die "Erschlossenheit" im Modus der Eigentlichkeit. Nach diesem - notwendig sehr knapp gehaltenen - Durchblick läßt sich auf die Wahrheitsfrage wie folgt eingehen: "Wahrheit" wird von Heidegger schon vor dem "fundierten Modus" des Welterkennens angesetzt, weil der praktische "Umgang mit ... schon eine gewisse Wahrheit hat" (GA 26, S.1S8). Ausweislich des Inhaltsverzeichnisses von SuZ wird sie erst in §44, damit im letzten Paragraphen des Sorge-Kapitels eigens behandelt, doch war sie zuvor schon implizit unter den für Existenzialien stehenden Titeln "Erschlossenheit", "Verstehen", "Befindlichkeit" und "Rede" Thema. Diese in der Sorge enthaltenen Existenziale und ihr strukturaler Zusammenhang sollen allerdings aus systematischen Gründen noch nicht hier, sondern erst in §4.2 dieser Arbeit skizziert werden, da es sich um Bestandteile der Fundamentalaletheiologie Heideggers handelt. An dieser Stelle sind nur die notwendigen Voraussetzungen geschaffen worden, um mit einer sinnvollen Auslegung des §44 von SuZ beginnen zu können. §3.2 Heideggers Wahrheitstheorie nach Maßgabe des §44 von Sein und Zeit "Heidegger hat das Philosophieren unter dem Maßstab der Wahrheit verlassen, nicht nur den Boden der Begründungen, Argumentationen - nicht nur den Raum der Erhellungen sondern Wahrheit in jedem Sinne einer Verantwortung [Hervorhebung v. EMP], einer Wirklichkeit.-" (Jaspers, 31989, S.82f).

Schon die Ausführungen in §3.1, in welchem die Analogien zwischen phänomenologischer und pragmatistischer Methode aufgezeigt wurden, wiesen auf die hier zu entfaltende These (Tl) voraus, um eine gewisse heuristische Plausibilität für diese zu schaffen. (Tl) Heideggers Wahrheitskonzeption enthält Elemente einer Theorie der Wahrheit. Diese Elemente ergeben zusammen eine originelle, aber

Diese wird als Verfallen manifest, wie Heidegger in Kapitel S.B. die phänomenale Einheit von Neugier, Zweideutigkeit und Gerede nennt (SuZ, S.175f u.a.).

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nicht hinreichend kohärente pragmatistische69 Wahrheitstheorie, welche die drei "Wahrheitsbegriffe" W1-W3 umfaßt. Da ich im folgenden keine umfassende eigene Interpretation des Heideggerschen Pragmatismus vornehmen kann, verweise ich auf die Anregungen in den Arbeiten von Rentsch (1985; 1989a), die detaillierten Argumentationen in den Aufsätzen von Gethmann (1986/87; 1988; 1989) und die faszinierende Gesamtinterpretation von Okrent (1988). Meine eigenen Argumentationen und Belege verstehen sich vor dem Hintergrund dieser neueren Arbeiten. Um meine These zu bewähren, möchte ich zunächst explizieren, was ich unter einer "pragmatistischen Theorie der Wahrheit" verstehe (§3.2.1). In einem zweiten Schritt will ich vor allem aus §44 von SuZ Belege dafür sammeln, daß tatsächlich eine (wenigstens teilweise) konsistente Theorie dieser Art vorliegt (§3.2.2). Dabei gehe ich davon aus, daß §44 die formale Mitte und das systematische "Herzstück" von SuZ bildet. Die formale Zentralstellung wird daran ersichtlich, daß er quantitativ70 die Mitte des Buches bildet. §44 ist sodann der längste Paragraph des ganzen Buches. 71 Er bildet weiter den Abschluß des ersten Abschnittes des in zwei Abschnitten vorliegenden Werkes. "Die vorbereitende Fundamentalanalyse des Daseins" ist mit der Analyse des in der Erschlossenheit zentrierenden Existenzials Sorge an ihr Ziel gekommen. Auch rückt das Seinsthema selbst im Rahmen der für möglich gehaltenen Konvertibilität von Sein und Wahrheit (SuZ,

Gethmann (1988, S. 171, Anm. 7) nennt folgende Autoren, die vor ihm den Terminus "pragmatistisch" auf (Teile von) Heideggers Philosophie anwandten: Apel, Oehler und Rorty (bis 1984). Ich füge hinzu: Franzen, 1975, S.7 (cf. ebd., S.30f, 34f, 60); Gadamer, 1983, S.104f; Brandom, 1983, S.407. Wichtig ist in diesem Kontext auch die Untersuchung von Prauss, der von einem "Praktizismus" Heideggers spricht (1977, S.22ff, 93, 101), auch von einer "praktisch ausgerichteten Subjektivität" (ebd., S.10S). Der wohl früheste Beleg, zumal einer Anwendung auf die Wahrheitskonzeption, dürfte von Hans von Soden stammen, worauf ich gleich eingehen werde. Daß auch die quantitativ-formale Zentralstellung eines Textabschnittes im Rahmen eines philosophischen Textes beachtet werden muß, kann bereits aus der Komposition einiger platonischer Dialoge ersehen werden (cf. Brandt, 1984, S. 129-133). Nun muß SuZ zwar als ein Fragment betrachtet werden, das mir ein Drittel des ursprünglich geplanten Inhaltes umfaßt. Aber dennoch sollte es angemessen sein, ein veröffentlichtes Werk als solches auf seine Komposition hin zu reflektieren. Zur kunstvollen Komposition von SuZ cf. Biemel, 1973, S.58. Auch kündigte Heidegger ja einen Rekurs auf das Thema "Wahrheit" im Rahmen der existenzialen Klärung von dessen Zusammenhang mit dem "Sein" an (SuZ, S.357). Dieser Rekurs war für den unveröffentlichten Textbestand von SuZ vorgesehen. "Wahrheit" wäre also wiederum an zentraler Stelle thematisch geworden. So Schönleben, 1987, S.165.

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Martin Heideggeis philosophische Wahrheitskonzeption

S.212f, 230) explizit in den Vordergrund.72 §44 stellt von daher das Zentrum des vorliegenden Werkes dar. Schließlich möchte ich aufzeigen, inwiefern Heideggers Wahrheitstheorie problematisch und kritikbedürftig ist (§3.2.3).

§3.2.7 Was ist unter einer pragmatistischen Theorie der Wahrheit zu verstehen? Wenn hier das Prädikat "pragmatistisch" verwendet wird, so ist dies in keiner Weise (ab-) wertend, sondern ausschließlich klassifikatorisch gemeint. In keinem Falle ist unter "Pragmatismus" im folgenden irgendeine Form des utilitaristischen Vulgärpragmatismus zu verstehen, der Wahrheit mit "Nützlichkeit" gleichsetzt. 73 Bis in die achtziger Jahre unseres Jahrhunderts hinein wurde freilich das Prädikat "pragmatistisch" vorwiegend in diesem abschätzigen Sinne gebraucht.74 Deshalb grenzte auch Heidegger sich von aller "pragmatistischen" Philosophie scharf ab. Interessanterweise verteidigt er sich in seinem 1983 postum veröffentlichten Rechenschaftsbericht: "Das Rektorat 1933/34. Tatsachen und Gedanken"75 in Form einer Polemik gegen die Idee der "politischen Wissenschaft". Gegen diese Idee, die sich in der abzulehnenden Formel: "Wahr ist, was dem Volke nützt"76 manife-

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Biemel schreibt: "Die Ausführungen über die Sorge als Sein des Daseins giftfein [Hervorhebung v. EMP] in der Untersuchung des Zusammenhangs von Sein und Wahrheit" (Biemel, 1973, S.61). Darin stimmen auch und gerade Tugendhat (21970, S.349f) und Schönleben (1987, S.165f) überein. - Daß Tugendhat auf S.259 seines Werkes zunächst den §44 als einen "Anhang" bezeichnet hatte, wird ja S.349f eigens korrigiert: Dieser Paragraph sei "... nicht ein Anhang", sondern das "Zentrum" der bisherigen Analyse. Warum Schönleben in dieser Selbstkorrektur nur "Polemik" erkennen kann (Schönleben, 1987, S.236, Anm.169), bleibt mir unklar. Insofern kann ich der Begriffsbestimmung von Rorty nicht zustimmen (Rorty, 1984, S.l-22). Rorty schlägt vor, unter Pragmatismus jene dem "Platonismus" entgegengesetzte Doktrin zu verstehen, welche die Bedeutung von Sprache und Erkenntnis darin sieht, "... uns zu unserem Glück zu verhelfen, indem sie uns als Mittel dienen, unserer Welt Herr zu werden" (S.l). Gleichwohl ist Rortys These (S.5ff) zutreffend, daß Heidegger (wenigstens teilweise) auf die Seite der Pragmatisten gestellt werden kann. Die Formel: "Wahr ist, was nützt" wurde gemeinhin als pragmatistische Wahrheitsdefinition verstanden (cf. etwa Blanckertz, 1961, Sp.502). Es ist von daher nicht erstaunlich, daß Heckmann noch 1981 negativ über pragmatistische Wahrheitstheorien urteilte: "Dieser wahrheitstheoretische Ansatz ist in meinen Augen der am wenigsten erfolgversprechende von allen" (Heckmann, 1981, S.144). In: RR, S.21-43. Ebd., S.21f, 26, 28, 30f.

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stiere, sei seine Rektoratsrede gerichtet gewesen. Denn eine solche Formel verfälsche das "Wesen der Wahrheit".77 Wenn Heidegger glaubte, sich gegen den vulgärpragmatistischen Wahrheitsbegriff derart scharf abgrenzen zu müssen, stellt sich die Frage nach dem Warum. Eine mögliche Antwort auf diese Frage lautet: Eben weil Heideggers Wahrheitskonzeption selbst eine Nähe zum Pragmatismus bzw. pragmatistische Züge hatte. Dies versucht Gethmanns Auslegung zu zeigen. 78 Vielleicht der früheste Hinweis überhaupt für eine pragmatistische Lesart Heideggers findet sich in der 1927 gehaltenen Rektoratsrede des Marburger Theologen Hans von Soden. 79 Meine Hypothese lautet daher: Eben weil Heideggers frühe Wahrheitskonzeption pragmatistische Züge hatte, mußte er sie vom utilitaristischen Vulgärpragmatismus so scharf abgrenzen. Aber was heißt vor dieser negativen Folie das Wort "pragmatistisch" positiv? Der gleichsam neutrale Sinn dieses Wortes läßt sich gewinnen, indem beachtet wird, wie Carnap die dreidimensionale Semiotik von Morris für die analytische Philosophie fruchtbar machte.80 Morris/Carnap zufolge thematisiert "Pragmatik" als semiotische Grunddimension die Relation von Zeichenbenutzern zu Zeichen. Zeichenbenutzer handeln, agieren im Hinblick auf Zeichen, indem sie sie produzieren, gebrauchen und rezipieren. Pragmatisch kann eine solche Theorie der Wahrheit heißen, welche bei einer Erklärung des Wahrheitsbegriffes vorrangig bzw. ausschließlich die Relation von Zeichenbenutzern und Zeichen thematisiert. Eine pragmatistische Theorie der Wahrheit läßt sich von daher als eine spezielle Spielart der pragmatischen Theorie auffassen, nämlich eine solche Theorie der Wahrheit, welche im Rahmen einer Erklärung des Wahrheitsbegriffes vorrangig bzw. ausschließlich die Relation von Zeichenbenutzern und Zeichen unter dem Gesichtspunkt des Handlungscharakters dieser Relation thematisiert. Nun läßt sich einwenden, daß Heidegger Wahrheit ja gerade nicht vorrangig hinsichtlich ihres Zeichencharakters81 thematisierte, die AussagenAuch vor dem "Bereinigungsausschuß" vertrat Heidegger 1945 diese anti-pragmatistische Verteidigungsstrategie. Cf. hierzu die bei Bernd Martin abgedruckten Dokumente - Bernd Martin (Hg.), 1989, dort bes. S.200, 208, 210f. Eines seiner Argumente besteht in dem Hinweis, daß Heidegger das Wahrheitskriterium der "Dienlichkeit" im Rahmen seines operationalen Wahrheitsmodelles verwendet habe (cf. Gethmann, 1989, S.116). In dieser vielbeachteten Rede hatte Soden Heideggers Wahrheitsinterpretation theologisch aufgegriffen. Darin findet sich folgender Satz: "Die Wahrheit streift haarscharf an das, was man heute Pragmatismus nennt - daran zu streifen muß man den Mut haben -, und ist doch haarscharf davon geschieden - die Grenze einzuhalten muß man das Gewissen haben ..." (Soden, 1927, S.21). Zum begriffsgeschichtlichen Hintergrund cf. Stachowiak, 1986, S.XIX-XLVII. Eine wahre Aussage bildet immer einen Zeichenkomplex von spezifisch propositionaler Gestalt.

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Wahrheit vielmehr als "abkünftig" betrachtete, weshalb eine pragmatischpragmatistische Sicht unangemessen sei. In der Tat verwendet Heidegger einen äußerst defizienten Zeichenbegriff, wie §17 von SuZ belegt. "Zeichen" werden dort nicht als dreistellige Relationen (Peirce) bzw. dreidimensionale Strukturen (Morris) aufgefaßt, sondern als im umsichtigen Umgang des Daseins verwendete "Zeigzeuge" (SuZ, S.77-79), die den Charakter des "Um-zu", also eine "bestimmte Dienlichkeit" haben (SuZ, S.78). D.h. nichts anderes, als daß sie bloß eindimensional pragmatischpragmatistisch gedeutet werden. Ein bloß eindimensionaler Zeichenbegriff aber ist defizient 82 zu nennen. Verstünde man Wahrheit beanspruchende Aussagen als Zeichenkomplexe (was Heidegger aufgrund seiner defizienten Zeichentheorie fernlag), wäre für diese Form der Wahrheit (Wl) bereits eine pragmatistische Deutung erwiesen. Läßt sich der Pragmatismusbegriff aber derart erweitern, daß noch weitere Aspekte der Wahrheitskonzeption Heideggers von ihm erfaßt werden können? Dies ist zu erreichen, indem der von Heidegger (aufgrund seiner unzureichenden Explikation) vermiedene Zeichenbegriff in einer solchen Begriffsbestimmung "epochal" eingeklammert wird. 83 Ich schlage von daher folgende Begriffsbestimmung vor: Pragmatistisch sei eine solche Theorie der Wahrheit genannt, die im Hinblick auf die Konstitution und Geltung von Wahrheit vorrangig bzw. ausschließlich die Dimension menschlichen Handelns thematisiert. Die Frage nach der Nützlichkeit (s.o.) von Wahrheit(serkenntnis) ist damit nicht gestellt. Dieser Begriff der "pragmatistischen" Wahrheitstheorie ist damit keineswegs unspezifisch geworden, aber so weit und formal gefaßt, daß er ebensogut auf James' "klassischen" Pragmatismus wie auf den "Pragmatizismus"84 von Peirce, aber auch auf viele andere Konzeptionen Von diesem Ansatz her liegt folglich eine allgemeine Semiotik oder gar eine Auffassung der Welt als "Universum von Zeichen" fern. M.W. gibt es nur eine einzige Heidegger-Interpretation, die dessen Philosophie durchgehend als semiotische Theorie deutet (Scheffczyk, 1988, S.229-259). Diese Untersuchung kommt aber nur dadurch zum Ziel, daß sie das menschliche Dasein als "Zeichen" (S.257) auffaßt und weist im übrigen gravierende inhaltliche Mängel auf: (1) Heideggers Zentralthema ist nie und nirgends "unser [!] Seinsverständnis" (S.246), sondern das Sein selbst, wie es uns im Ausgang von unserem Seinsverständnis zugänglich wird. (2) Die Unterscheidung von Phänomen und Erscheinung darf keinesfalls mit der "ontisch-ontologischen Differenz" (S.254) identifiziert werden. (3) Eine Unterscheidung zwischen dem frühen und dem späte(re)n Heidegger fehlt in diesem Aufsatz ganz. Trotzdem hat Scheffczyk Wichtiges beobachtet. Insbesondere seine These vom "Primat der Praxis" (S.250f) in Heideggers Philosophie und der darin beschlossenen Frontstellung gegen die "ewigen Wahrheiten" stellt eine wichtige Entdekkung dar und stützt so - auf sekundäre Weise - die hier vorgelegte Interpretation. Peirce hatte seit 1905 von "Pragmatizismus" geredet, um sich gegen die populäre und vereinfachende Verwendung des Begriffes "Pragmatismus" durch James abzugrenzen. Wenn dieser Begriff aber in dem weiten und formalen Sinne wie hier benutzt wird,

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anwendbar wird. 8 5 So scheint mir auch Heideggers Wahrheitskonzeption in diesem Sinne Züge einer pragmatistischen Theorie der Wahrheit zu tragen, wie ich im folgenden Kapitel (§3.2.2) belegen will.

§5.2.2 Umriß und Gestalt der pragmatistischen Theorie der Wahrheit im Werk des frühen Heidegger Tugendhats differenzierte und scharfsinnige Analyse bildet einen Meilenstein in der Geschichte der Erforschung der Wahrheitskonzeption Heideggers. In dieser Arbeit überwiegt, wie schon gezeigt, die kritische Perspektive. Gleichwohl finden sich bereits dort Ansätze 86 zu einer pragmatistischen Lesart von SuZ, die allerdings nicht systematisiert und positiv einsichtig gemacht werden. Dabei ist bereits §44 von SuZ eine Fundgrube für eine solche Lesart - aber auch GA 21. 8 7 Heideggers Argumentation in §44 setzt seine vorangegangenen Analysen voraus, wählt aber dennoch einen neuen Ausgangspunkt, indem der "traditionelle Wahrheitsbegriff" im Hinblick auf seine ontologischen Implikationen und Fundamente hin untersucht wird. Der Wahrheitsbegriff der

läßt er sich jedenfalls auf Teile und Aspekte der Philosophie von Peirce anwenden, ohne daß beansprucht wird, diese umfassende und komplexe Philosophie insgesamt zu kennzeichnen. Insofern scheint mir Papes Abgrenzung (1989, S.28-31) zu scharf zu sein. Deshalb ist Hovens (1989) Klassifikationsvorschlag m.E. leistungsfähig. Hoven unterteilt Wahrheitstheorien in die drei Klassen der ontologischen, relationalen und epistemisch-pragmatischen Modelle. Unter dem Stichwort der ontologischen Wahrheitskonzeptionen versammelt er alle Auffassungen, denen gemäß Wahrheit und Sein/Seiendes konvertibel sind (u.a. Heidegger); mit relationalen Theorien sind alle im weitesten Sinne korrespondenztheoretischen Modelle gemeint (von Thomas von Aquin bis Tarski und Austin); unter epistemisch-pragmatischen Theorien versteht er alle übrigen Modelle (Descartes, Fichte, Peirce, Apel/Habermas, Rescher u.a.m.). Diese dritte Klasse ist die umfassendste und heterogenste, weshalb sie textlich auf mehr als doppelt so vielen Seiten dargestellt wird als die beiden andern Klassen zusammen.- Allerdings übersieht Hoven, daß sich bei Heidegger nicht nur eine ontologische (Fundamental-) Theorie der Wahrheit (W6), sondern ebenso eine relationale (Wl) wie wichtige Elemente einer pragmatistischen Wahrheitstheorie (W2, W3) finden. So redet Tugendhat etwa von der Erschlossenheit des Lebensvollzuges selbst (21970, S.266), von der Aussage als "Tätigkeit" (S.337), vom Verstehen als "Können" (S.305), vom Bereich der "Praxis" (S.322) und dem "geschichtlich-praktischen Grundverhältnis" des Menschen (S.404), sogar vom "Primat des Praktischen" in der Erschlossenheitsthematik (S.288). Ich weise noch einmal darauf hin, daß §44 eine äußerst gedrängte Zusammenfassung von Gedankengängen bietet, die ausführlicher (u.a.) in GA 21 entfaltet und dargestellt werden.

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Tradition wird Heidegger zufolge von drei unausgewiesenen Thesen bestimmt: "1. Der 'Ort' der Wahrheit ist die Aussage (das Urteil). 2. Das Wesen der Wahrheit liegt in der 'Übereinstimmung' des Urteils mit seinem Gegenstand. 3. Aristoteles, der Vater der Logik, hat sowohl die Wahrheit dem Urteil als ihrem ursprünglichen Ort zugewiesen, er hat auch die Definition der Wahrheit als 'Übereinstimmung' in Gang gebracht" (SuZ, S.214).88 Wie geht Heidegger mit diesen traditionellen Thesen um? "Heidegger mette in questione queste tre tesi seguendo una triplice progressione argomentativa. " 89 Klammert man die hier nicht zu erörternde philosophiegeschichtliche These über die Bedeutung des Aristoteles 90 im Kontext des Wahrheitsproblems aus, ergibt sich, vor dem Hintergrund des in §2 Gesagten, eine formal durchaus zutreffende Charakterisierung der klassischen Korrespondenzwahrheit (Wl): Sie nimmt die Aussage (=Urteil) als den Wahrheitsträger an, und sie denkt Wahrheit als "Übereinstimmung". "Übereinstimmung" expliziert Heidegger weiter völlig korrekt: "Übereinstimmung von etwas mit etwas hat den formalen Charakter der Beziehung von etwas zu etwas. Jede Übereinstimmung und somit auch 'Wahrheit' ist eine Beziehung. Aber nicht jede Beziehung ist Übereinstimmung ... Die 'Übereinstimmung' hat den Relationscharakter: 'So-Wie' ..." (SuZ, S.215f). 88

89 90

Eine der entscheidenden Entdeckungen des jungen Heidegger bei seiner phänomenologischen Aristoteles-Interpretation war die Tatsache, daß dieser, der allgemein als der geistige Vater der Korrespondenztheorie der Wahrheit gilt, sich auch anders lesen läßt, daß er Wahrheit (vor allem im 6. Buch seiner Nikomachischen Ethik) für den Bereich der Techne und der Praxis beansprucht, also in erweitertem Sinne faßt. Diese Entdeckung findet ihre früheste Dokumentation in jenem Aristoteles-Manuskript aus dem Jahre 1922, welches den Titel "Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (Anzeige der hermeneutischen Situation)" trägt (PhA, S.235-269). Dieser Text, eine wichtige Keimzelle von SuZ, verbindet die charakteristische etymologische Interpretation des griechischen Wahrheitsbegriffes mit der skizzierten Aristoteles-Deutung (cf. bes. S.255-261). Eine Vorform der Darstellung der drei von Heidegger bezweifelten Thesen der philosophischen Tradition findet sich in PhA, S.255f. Volpi, 1984, S.80. Grundlegend zu diesem Thema cf. Volpi, 1984, S.75-90. Freilich war für Aristoteles der zumindest exemplarische Ort der Wahrheit die Aussage. Auch charakterisierte er die Wahrheitsrelation vielfach eindeutig als Übereinstimmungsrelation, wie selbst der Heidegger-Schüler Schönleben zugibt (Schönleben, 1987, S.41). Die aristotelische Wahrheitskonzeption war von daher keineswegs so klar geschlossen wie die platonische (so Fleischer, 1984, S.28). Deswegen bot sie Raum für Heideggers Eisegese (so urteilt kritisch Marten, 1991, S.209-214).

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Der spätere Heidegger wird diese Übereinstimmungsbeziehung als "Richtigkeit"91 bezeichnen. Über die "Richtigkeit" (Wl) wird ausgesagt, daß sie "abkünftig" sei (SuZ, S.214, 219ff). Die drei Thesen der Tradition werden von Heidegger sämtlich bezweifelt. Schönleben meint zwar, gegen "Tugendhats Mißverständnis" festhalten zu müssen, daß es Heidegger gar nicht um eine Abwertung oder Deklassierung von Wl gehe, sondern darum, diese "... in ihren legitimen Gültigkeitsbereich einzusetzen"92. Diese Interpretation erscheint aber als zu beschönigend, um wahr zu sein. Man beachte dagegen folgendes Diktum Heideggers: "Auch liegt alles daran, sich von einem konstruierten [Hervorhebungen v. EMP] Wahrheitsbegriff im Sinne einer 'Übereinstimmung' freizuhalten" (SuZ, S.33).

Allerdings läßt sich Heideggers Abkünftigkeitsthese etwas positiver beurteilen, wenn man sie im Rahmen der pragmatistischen Theorie der Wahrheit versteht, die sich (u.a.) in §44 von SuZ findet. Diese Theorie will ich in fünf Schritten charakterisieren: Sie umfaßt eine Definition (§3.2.2.1), ein Kriterium (§3.2.2.2), eine Art Verfahrensprinzip der Wahrheitsfindung und -bewährung (§3.2.2.3), eine "Typologie" der Wahrheit (§3.2.2.4) und eine wissenschaftstheoretische Teiltheorie der Wahrheitstheorie (§3.2.2.5). §5.2.2.7 Zur Definition von Wahrheit im Rahmen des pragmatistischen Modells Heidegger geht, wie gesagt, von Wl aus, um deren ontologisches Fundament aufzuzeigen. Dabei bedient er sich der phänomenologischen Methode. Dieser zufolge muß "Wahrheit" als ein "Phänomen" eruiert werden, d.h., sie muß in ihrer "phänomenalen Ausdrücklichkeit" aufgefunden werden. In WW wird die Terminologie der "Richtigkeit" so eingeführt, daß sie ein "Sichrichten nach ..." meine (WW, S.178). Die scholastische Formel "veritas est adaequatio rei et intellectus" wird so verstanden, daß sie doppeldeutig sei, je nachdem, ob sich die res nach dem intellectus richte oder umgekehrt (WW, S. 177f). Ob diese Formel bei Thomas oder in der Scholastik überhaupt als doppeldeutig interpretiert wurde, kann hier offen bleiben (für diese Auffassung: Gawlick, 1962, Sp.1520). Bemerkenswert ist aber, daß Heidegger den Begriff der "Richtigkeit" auch ganz anders auffassen konnte. So verstand er darunter in einer Vorlesung vom Wintersemester 1927/28 die "Einstimmigkeit des Denkens lediglich mit sich selbst" (GA 25, S.189). Schönleben, 1987, S.307; cf. ebd., S.197. Heidegger gehe es um die "ursprüngliche Aneignung" der Korrespondenztheorie der Wahrheit (wie in SuZ, S.220 behauptet). Deshalb setzt Schönleben Heideggers Rede von der "Abkünfiigkeit" von Wl eine eigene Aufstiegsmetaphorik entgegen. Cf. Schönleben, 1987, S.240, Anm.179; zur Aufstiegsmetaphorik die Überschrift des 5. Kapitels, S.307.

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"Wann wird im Erkennen selbst die Wahrheit phänomenal ausdrücklich? Dann, wenn sich das Erkennen als wahres ausweist. Die Selbstausweisung sichert ihm seine Wahrheit. Im phänomenalen Zusammenhang der Ausweisung muß demnach die Übereinstimmungsbeziehung sichtbar werden" (SuZ, S.217).

Okrent meint, daß hier Wahrheit als mit Verifikation austauschbar gedacht werde, dies sei im Grunde ein "'curious' argument"93. Doch ist phänomenologische (Selbst-) Ausweisung bzw. Bewährung keineswegs synonym mit empiristischer "Verifikation". Hier dürfte allenfalls eine Überschneidung oder Analogie vorliegen. Wenn für das Erkennen die Möglichkeit der Selbstausweisung angenommen wird, dann stellt sich die Frage, wie diese zu denken ist, ob das erkennende Dasein dabei als bloß passiv und rezeptiv gedacht ist - oder aber als handelnd. Daß letzteres der Fall ist, wird durch das von Heidegger sogleich angeführte Beispiel deutlich: Die Aussage "Das Bild an der Wand hängt schief" weist sich dadurch aus, daß der Aussagende die Aussage in der Wahrnehmung bewährt, indem er sich zur Wand umwendet und diese betrachtet (SuZ, S.217). Das Dasein ist folglich als aktiv, handelnd gedacht. Die Wahrheit der Aussage (Wl) hat ihr Fundament im Handeln, in den "Verhaltungen des Daseins" (SuZ, S.220). Daher gilt: "Wahrsein (Wahrheit) besagt entdeckend-sein" (SuZ, S.219).

Diesen Satz bezeichnet Heidegger selbst als eine Definition (SuZ, S.219f) der Wahrheit. Weiter gilt: "Wahrsein als entdeckend-sein ist eine Seinsweise des Daseins" (SuZ, S.220).

Wl ist somit fundiert in W3, der Wahrheit des "umsichtigen Umgangs", im "Besorgen des Zuhandenen", denn dieses Besorgen ist "entdeckend" (SuZ, S.223). Aber auch das Entdeckte selbst, "das Seiende im Wie seiner Entdecktheit" (SuZ, S.219), kann von daher "wahr" genannt werden. In diesem (und nur in diesem) Zusammenhang ist in SuZ von "Unverborgenheit" die Rede (SuZ, S.219); gemeint ist damit W2, das entdeckte Seiende.94 Die aletheia gründet somit im Vollzug des aletheuein. Wie Wl, so ist auch W2 fundiert in W3, denn ohne entdeckend handelndes Dasein gäbe es kein entdecktes Seiendes. Es gilt folglich der unumkehrbare

Okrent, 1988, S.101. Wenn Okrents These stimmte, wären Heidegger und Carnap "indeed stränge bedfellows" (ebd., S.9). Für den späteren Heidegger (ab 1930) wird der Terminus "Unverborgenheit" immer wichtiger - und zwar wird er als "Unverborgenheit des Seins" verstanden (cf. die Darstellung bei Biemel, 1973, S.35, 70, 88, 95, 105 u.ö.). Letzteres ist in SuZ noch keineswegs im Blick.

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Fundierungszusammenhang: W3 fundiert W2, und W2 fundiert W/. 9 5 W3 erweist sich somit innerhalb dieser Wahrheitstheorie als das entscheidende Definiens, weshalb diese Theorie zu Recht als pragmatistisch im obigen Sinne bezeichnet werden kann. Wie läßt sich aber Wl, die klassische Aussagenwahrheit, im Rahmen einer solchen Theorie konsistent verorten? Okrent macht einen plausiblen Vorschlag hierzu: Wenn die Aussage in der Auslegung, diese aber im Verstehen gründet, welches primär "practical understanding" (=understanding how) ist, dann liegt es nahe, die Aussage als ein "Werkzeug"96 zu verstehen: "Assertions are tools for communicating interpretations, which are ways of taking a thing as something. Assertions can be true or false - that is, have semantic content only insofar as they have roles within the purposive behavior of Dasein. " 97

Damit ist präzise die Rolle von Wl im Rahmen der durch das Definiens W3 bestimmten pragmatistischen Wahrheitstheorie charakterisiert. Wie einleuchtend diese Rekonstruktion ist, bestätigt ausgerechnet ein Zitat des "immanenten" Heidegger-Auslegers Bretschneider aus den sechziger Jahren: "Das Erkennen, das die Übereinstimmung zum Ziele hat ... ist lediglich ein Mittel, das als Werkzeug [Hervorhebungen v. EMP] dient, die 'Wahrheit' zu finden und sicherzustellen. " 9 8

Aussagen und das in ihnen gespeicherte Erkennen sind somit in ihrem Charakter als Werkzeuge bzw. Mittel einer ihnen vorgängigen Aufgabe bzw. einem Zweck zu- und untergeordnet. So versteht auch Prauss Heideggers Wahrheitstheorie: "Als etwas rein Theoretisches selbst besitzt Erkennen seinen praktischen Einschlag offenbar darin, daß ein Subjekt oder Dasein so etwas wie Erkennen, und das heißt Wahrheit als Erfolg im Erkennen gerade als das Mittel intendiert, ohne das ihm jeweils der Erfolg im Handeln, auf den es seine Intention dabei eigentlich richtet, gar nicht gelingen könnte."" 93

96

97 98 99

Streng reziprok zu diesem ontologischen Fundierungszusammenhang verhält sich der logische Implikationszusammenhang, dessen Formel lautet: ((Wl - > W2) & (W2 - > W 3 ) ) - > (Wl - > W3). Ahnlich bezeichnet auch Brandom die Aussage als "a very special kind of equipment" (Brandom, 1983, S.401). Okrent, 1988, S.5; cf. S.66ff, 74, 80f, 84 (u.ö). Bretschneider, 1965, S.41. Prauss, 1977, S.66f. Prauss versteht demzufolge "Wahrheit" als "Erfolg des Erkennens" (ebd., S.56-67, S.83, S.91). Gegen Prauss ist aber festzuhalten, daß "Umsicht" und "Erkennen" in keiner Weise identifiziert werden dürfen (Prauss, 1977, S.23, 29f, 34-37). Auf Wahrheit abzielende Erkenntnisprozesse sind nach Heidegger vielmehr in

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W3 fundiert W l , weil das "knowing how" das "knowing that" 100 fundiert - auf diese operationale Deutung läuft Heideggers Explikation bzw. Definition von "Wahrheit" in SuZ tatsächlich hinaus. Die vergleichbare Rekonstruktion Gethmanns geht von der "haptischen" Schlüssel-Schloß-Metaphorik Heideggers aus und sieht von daher in §44 von SuZ ein "operationales" Wahrheitsmodell vertreten. 101 Es ergibt sich somit ein durch das Definiens W3 bestimmter konsistenter 102 theoretischer Zusammenhang von W l , W2 und W3, der es erlaubt, von einer pragmatistischen Theorie der Wahrheit in SuZ zu sprechen. §3.2.2.2 Zur Frage der

Wahrheitskriterien

Von Wahrheitskriterien ist in SuZ nur an einer einzigen Stelle explizit die Rede: Auf S.395 werden die "üblichen" Wahrheitskriterien wie "Allgemeingültigkeit" im Kontext der "eigentlichen Historie" als Ansprüche des "Man" abgewiesen. 1 0 3 Auffallig ist ferner: Zu Anfang von §44 zitiert Heidegger Kants Diktum: "'Die Namenerklärung der Wahrheit, daß sie nämlich die Übereinstimmung mit ihrem Gegenstande sei, wird hier geschenkt, und vorausgesetzt ...'" (SuZ, S.215). Heidegger läßt bezeichnenderweise aus, wie Kant fortfahrt, nämlich:

einem vorprädikativen umsichtigen Umgang des Daseins mit dem Zuhandenen fundiert. Deswegen besteht auch keine existenziale Interdependenz zwischen Erkennen und Handeln, auch wenn es im alltäglichen Leben eine faktische Interdependenz geben mag: Handeln fundiert existenzial Erkennen. 100 vielleicht ist eine pragmatistische Deutung Heideggers gerade von bestimmten Gegebenheiten der englischen Sprache her naheliegend, etwa der geläufigen Rede vom "Know-how" (cf. wiederum bereits Tugendhat, 21970, S.305). Daß ein "knowing how" ein "knowing that" (zu dieser Differenz cf. Olafeon, 1987, S.112, 122) fundieren kann, ist im Englischen als Denkmöglichkeit unmittelbar einsichtig. In der deutschen Sprache liegen die Dinge anders. M.E. ist es kein Zufall, daß ein deutscher Phänomenologe aus Heideggers Umfeld (Kroug) in den fünfziger Jahren ziemlich folgenlos eine Theorie des Könnens entwickelte, die eine Theorie des Erkennens fundieren sollte. Kroug griff dabei zu terminologischen Notlösungen wie der Rede von der "Erkönntnis" (Kroug, 1956, S.554ff) und verstieg sich zu Formulierungen wie: "Der Mensch lebt in hohem Maße in einer Fülle von Erkönntnissen wie in einem Walde" (Kroug, 1956, S.555). 101 Gethmann, 1989, S.115. Gethmann argumentiert aber vorrangig mit der "Erschlossenheit" (W4), die ich nicht mehr der pragmatistischen Wahrheitstheorie, sondern eher der unten darzustellenden "Fundamentalaletheiologie" zuordnen würde. 102 Insbesondere handelt es sich um keine Äquivokation, wenn das Entdeckendsein (=Entdecken) sowohl vom Dasein selbst als auch vom Urteil ausgesagt werden kann. Vielmehr ist letzteres nur möglich, wenn ersteres der Fall ist. 103 Die Zurückweisung des Allgemeinheitskriteriums in der Historie wendet sich wohl gegen Dilthey. Hierzu cf. Pöggeler, 1986/87, S.121-160, dort S. 123, 141.

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"... man verlangt aber zu wissen, welches das allgemeine und sichere Kriterium der Wahrheit einer jeden Erkenntnis sei." 104

In SuZ findet sich keine positive Bezugnahme auf Kriterien der Wahrheit. Gibt es bei Heidegger in dieser Frage eine Reflexionslücke? Anders steht es in einer 1927/28 gehaltenen Vorlesung Heideggers über Kants "Kritik der reinen Vernunft" (=GA 25). Dort wird mit Kant die Frage nach dem allgemeinen und sicheren Kriterium 105 der Wahrheit einer jeden Erkenntnis aufgeworfen - und mit Kant negativ beantwortet. Heidegger versteht Kant so: "Frage ich nun nach einem allgemeinen Kriterium der Wahrheit der Erkenntnis, dann frage ich nach einem Unterscheidungszeichen, das sich nicht von anderen unterscheiden und demnach auch keinen Unterschied anzeigen soll. Ein allgemeines Kriterium der Wahrheit ist demgemäß ein hölzernes Eisen" (GA 25, S. 190).

Dabei weiß Heidegger auch darum, daß Kant die Geltung der logischen Gesetze als "die conditio sine qua non, mithin die negative Bedingung aller Wahrheit" 106 versteht. Diese bloß notwendige Bedingung der Möglichkeit von Wahrheit nennt Heidegger die "Richtigkeit" (GA 25, S.189, 191f, 196) und stellt sie der "Wahrheit" gegenüber. Heidegger spricht sich in seiner Kant-Darstellung zwar nicht gegen das von Kant akzeptierte notwendige Wahrheitskriterium aus, bekennt sich aber auch nicht positiv dazu. In der Terminologie, die wir in §2.4 dieser Arbeit eingeführt haben, können wir bis jetzt sagen: Heidegger lehnt mit Kant die Möglichkeit von (jederzeit) hinreichenden Wahrheitskriterien ab. Anders als dieser 107 bekennt er sich aber nicht einmal zur Existenz der notwendigen Wahrheitskriterien, welche sich in der formalen Logik manifestieren. Und man kann in der Deutung sogar weitergehen, denn nicht einmal der "Satz vom Widerspruch" als die Basisformel der formalen Logik wird von Heidegger als minimales Wahrheitskriterium zugelassen. Denn der "Satz vom Widerspruch" gilt ihm als Beispiel einer abzulehnenden "ewige[n] Wahrheit" (SuZ, S.226). Die Begründung für diese kriteriologische Option Heideggers wird somit im Theoriebereich der typologischen Wahrheitstheorie gegeben (s.u.). Kriteriologisch unreflektiert wäre eine Theorie der Wahrheit nicht bloß unvollständig, sondern unkritisch. Gethmann hat §44 vor dem Hintergrund der Marburger Vorlesungen daher so ausgelegt, daß die "Dienlichkeit" den 104 105

106 107

Kant, KdrV, S. 102 (B 82). Heidegger definiert dabei ein "Kriterium" treffend als "... ein Kennzeichen, ein Unterscheidungszeichen, durch das ich z.B. eine Erkenntnis als wahre gegenüber einer falschen unterscheiden kann" (GA 25, S.190). Kant, KdrV, S.103 (B84). Cf. Heidegger, GA 25, S.189. Anders auch als der von ihm in einer Vorlesung 1928 ausgelegte Leibniz, den er so versteht, daß diesem zufolge die Wahrheitskriterien der Satz von der Identität und der Satz vom Widerspruch seien (GA 26, S.65-67).

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Ausweis der Erschlossenheit bilde. "Das Wahrheitskriterium ist der Handlungserfolg."108 Daran ist richtig, daß Heidegger in §44 stets auf der Möglichkeit der "Ausweisung" insistiert (cf. SuZ, S.217f). Heideggers Wahrheitskonzeption ist nicht in toto unkritisch. Gesetzt aber, Heidegger sei so zu verstehen, wie Gethmann vorschlägt, stellt die "Dienlichkeit" nicht eher ein vulgär-pragmatistisches denn ein pragmatistisches Wahrheitskriterium dar? Es handelt sich - unserer Klassifikation aus §2.4 zufolge - weder um ein notwendiges noch um ein hinreichendes, sondern um ein schwaches heuristisches (d.h. um ein in seltenen Fällen hinreichendes) Wahrheitskriterium. Wenn der frühe Heidegger von SuZ so zu verstehen sein sollte, wie Gethmann vorschlägt, dann stellt sein "konsequenter Pragmatismus" (Gethmann) einen problematischen Vulgärpragmatismus von der Sorte dar, gegen den er sich später entschieden abgegrenzt hat (s.o.). Ist er aber nicht so zu verstehen, dann gibt es keine Wahrheitskriterien in seiner frühen Philosophie.109 Diese Alternative brauchen wir hier nicht zu entscheiden und können sie getrost der zukünftigen Forschung überlassen. Denn in jedem der beiden Fälle müßten wir Heideggers kriteriologische Teiltheorie der Wahrheitstheorie als defizient und problematisch bewerten. §5.2.2.5 Verfahren der Wahrheitsfindung und -bewahrung Eine pragmatistische Theorie der Wahrheit wäre inkonsistent, wenn sie keine Verfahrensfragen zu beantworten versuchte. Denn schließlich hängt in ihr alles daran, daß sie die Definition der Wahrheit mit konstitutiver Bezugnahme auf menschliches Handeln zu geben versucht. Deswegen ist der "context of verification" dieser Theorie nicht akzidentiell, vielmehr stellt sie wesentlich "a theory about the nature and conditions of the search for truth'HO dar. Wir sahen oben (§3.2.2.1), daß Heidegger ausdrücklich folgende Definition der Wahrheit gibt: "Wahrsein (Wahrheit) besagt entdeckend-sein" (SuZ, S.219). Daraus geht unmittelbar hervor, daß er Wahrheit als einen Entdeckensprozeß des Daseins versteht. Daher auch expliziert er diesen Theoriesektor mit Hilfe der Begriffe "Ausweisung" und "Bewährung" (SuZ, S.217f). Da ferner damit zu rechnen ist, daß einmal Entdecktes wieder verdeckt werden kann, gilt:

108 109

110

Gethmann, 1989, S. 117. Dies kann man als Forschungskonsens bezeichnen. Cf. aus marxistischer Sicht Gudopp (1983, S.170); aus phänomenologischer Perspektive den Heidegger-Schüler Mörchen (1984, S.243f>; schließlich den Kantianer Richter (1989, S.68f). Pietersma, 1978, S.219-229, dort S.228.

Heideggers Wahrheitstheorie

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"Daher muß das Dasein wesenhaft das auch schon Entdeckte gegen den Schein und die Verstellung sich ausdrücklich zueignen und sich der Entdecktheit immer wieder versichern" (SuZ, S.222).

Grundlegend ist Wahrheit als Entdecktheit (W2) des Seienden eine Beraubung der Verborgenheit: "Die Wahrheit (Entdecktheit) muß dem Seienden immer erst abgerungen werden. Das Seiende wird der Verborgenheit entrissen. Die jeweilige faktische Entdecktheit ist gleichsam immer ein Raub. Ist es Zufall, daß die Griechen sich über das Wesen der Wahrheit in einem privativen Ausdruck (a-letheia) aussprechen?" (SuZ, S.222)

Es ist in diesem Kontext m.E. eine sekundäre Frage, ob die Griechen Wahrheit als aletheia im von Heidegger behaupteten etymologischen Sinne verstanden 111 . Denn der Stellenwert des etymologischen Arguments beim frühen Heidegger ist noch keineswegs so groß wie beim späte(re)n, auf jeden Fall geringer, als manche seiner Kritiker meinen. Heidegger macht sich selbst gegenüber den kritischen Einwand, die "Beiziehung solcher Belege" müsse sich "vor hemmungsloser Wortmystik hüten" (SuZ, S.220). Auch gehe es ihm nicht um eine "bloße Worterklärung", sondern seine Definition von Wahrheit erwachse "... aus der Analyse der Verhaltungen des Daseins, die wir zunächst 'wahre' zu nennen pflegen" (ebd.). Damit verweist Heidegger (1) auf seine Anknüpfung beim existenzial-personalen Aspekt des allgemeinen Wahrheitsverständnisses, (2) auf seine als transzendentalpragmatistisch kennzeichenbare Daseinsanalyse. Nur in Relation zu diesen beiden Argumenten wird das dritte (etymologische) als triftig erachtet. Auf jeden Fall wird anhand des obigen Zitats ersichtlich, daß Wahrheit bei Heidegger konsequent auf ein menschliches Handeln bezogen ist, das nicht als beliebig und kontingent, vielmehr als intentional und von methodischer Struktur gedacht ist. Die Beraubungsmetaphorik macht dies deutlich. Insofern ist Tugendhats Vorwurf, Heidegger gebe alle "kritische Verantwortlichkeit" preis und verzichte auf jegliche kritische "Ausweisung" 112 im Hinblick auf seine pragmatistische Wahrheitstheorie (W1-W3) nicht zutreffend. 1 ^ 111

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Dagegen kritisch mit Belegen aus dem Werke Homers: Kamiah, in: Kamlah/Lorenzen, 21973, S.129. Neuerdings vertritt Christoph von Wolzogen die These, Paul Natorp habe vor Heidegger diese Etymologie in die philosophische Terminologie der zwanziger Jahre eingeführt: "'Es gibt'. Heidegger und Natorps 'Praktische Philosophie'". In: Gethmann-Siefert/Pöggeler (Hg.), 1988, S.313-337, dort bes. 319321. Tugendhat, 21970, S.364, 376f, 404f. - Analog auch Franzen, 1975, S.59-61. Richtig ist an den Vorwürfen Franzens, daß das Verifizierungsproblem ausfällt, aber auch dies nur, wie Okrent zeigt, im engeren, empiristischen Sinne. Anders werden wir in §4.3 dieser Arbeit über die Entschlossenheitswahrheit, W5, urteilen.

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Martin Heideggers philosophische Wahrheitskonzeption

Allerdings ist zu fragen, wie denn Ausweisung und Bewährung konkret gedacht werden müssen, wie die Beraubungsmetaphorik begrifflich expliziert werden kann. Bei Heidegger finden sich auf solche Fragen keine Antworten.114 Mit einer Ausnahme allerdings, die sich aus dem unter §3.2.2.1 Gesagten ergibt: Insofern es dem Dasein um ein theoretisches Entdecken des Vorhandenen geht, ist das primäre "Werkzeug" seines privativen Handelns die auf Wahrheit abzielende Aussage. An diesem Mangel an Explikation zeigt sich aber, daß seine pragmatistische Wahrheitstheorie noch zu vervollständigen und zu konkretisieren wäre. §3.2.2.4 Die typologische Teiltheorie der Wahrheitstheorie Als "typologische" Teiltheorie der Theorie der Wahrheit hatten wir in §2.4 den Versuch der formalen oder materialen Klassifizierung von gegebenen "Wahrheiten" bestimmt. Bei Heidegger scheint eine formale115 Wahrheitstypologie in der Distinktion von "ewigen" und "nicht-ewigen" Wahrheiten vorzuliegen. Nach einer philosophiegeschichtlichen und biographischen Betrachtung (1) möchte ich versuchen, die Gestalt und philosophische Begründung dieser Typologie (2) zu rekonstruieren. Ad (1) Heidegger versucht, sich in SuZ scharf von den "ewigen Wahrheiten" der scholastischen und metaphysischen Tradition abzugrenzen (SuZ, S.226-229). Besonders deutlich ist das folgende Zitat: "Die Behauptung 'ewiger Wahrheiten', ebenso wie die Vermengung der phänomenal gegründeten 'Idealität' des Daseins mit einem idealisierten absoluten Subjekt gehören zu den längst noch nicht radikal ausgetriebenen Resten von christlicher Theologie innerhalb der philosophischen Problematik" (SuZ, S.229).

Heidegger kritisiert somit in polemischen Worten die traditionelle Vermengung von philosophischen und theologischen Traditionen. Sein Anliegen ist umgekehrt ihre "... Entmischung. Christentum und Metaphysik sind im 'System des Katholizismus' auf eine erkenntnistheoretisch unhaltbare Weise vermengt, sie bedürfen einer Unterscheidung, die beide erst wieder in ihren eigenen Raum zurückversetzt"116.

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Vermutlich hätte er darauf hingewiesen, daß die Art der Ausweisung vom gegebenen Gegenstand(sbereich) abhängig sei. Es findet sich freilich auch ein Ansatz zu einer materialen Wahrheitstypologie bei Heidegger, wenn er etwa zwischen theoretischer und praktischer Wahrheit sowie religiösem Glauben unterscheidet (GA 21, S. 8). Jung, 1990, S.33; cf. ebd., S.45, 56, 100.

Heideggers Wahrheitstheorie

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Heideggers Angriffsfläche ist eine mehrfache: Sie betrifft ebenso die platonische Metaphysik von Leibniz 117 wie die transzendentale Phänomenologie Husserls 118 , nicht zuletzt aber auch die biographisch für ihn prägende katholische scholastische Theologie 119 . Anstöße für diesen Angriff hat er aus philosophischen und theologischen Quellen erhalten, die Begründung der These aber liegt im Wesen seiner Philosophie. Was die gemeinten Anstöße angeht, so ist belegt, daß er sich schon 1917 intensiv mit Schleiermachers "Reden über die Religion" beschäftigte, besonders mit der zweiten Rede 1 2 0 . In dieser wird die Religion als "Sinn und Geschmack fürs Unendliche", als "Anschauung und Gefühl" gekennzeichnet und scharf von Moral einerseits, Metaphysik andererseits abgegrenzt. Die Abgrenzung gegen letztere schließt u.a. das Verbot ein, "ewige Wahrheiten" auszusprechen. So heißt es über das Gebiet der Metaphysik in der zweiten Rede: "In dieses Gebiet darf sich also die Religion nicht versteigen, sie darf nicht die Tendenz haben Wesen zu setzen und Naturen zu bestimmen, sich in ein Unendliches von Gründen und Deduktionen zu verlieren, letzte Ursachen aufzusuchen und ewige Wahrheiten auszusprechen [Hervorhebungen v. EMP]"121. Ein weiterer wichtiger Anstoß kam sicherlich von Kierkegaards Antithese von "allgemeinen Wahrheiten" und "Wahrheiten des Augenblicks".

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In GA 26 (S.51-62) wird der philosophiegeschichtliche Hintergrund der in der Scholastik wurzelnden (GA 26, S.53-55) Unterscheidungen von Leibniz skizziert, einschließlich der ausführlichen Entfaltung der Leibnizschen Typologie. Diese sieht wie folgt aus: Es gibt veritates originariae und derivativae. Diese zerfallen wiederum in veritates derivativae necessariae und contingentes. Sowohl die veritates originariae als auch die veritates derivativae necessariae bezeichnet Leibniz mit dem Begriff "ewige Wahrheiten". Damit reduziert sich die ursprünglich dreigliedrige Typologie auf den einfachen Gegensatz von ewigen Wahrheiten einerseits und zitfälligen Tatsachenwahrheiten andererseits (GA 26, S.51-53). Cf. Frenzen, 1975, S.187, Anm.U. Heidegger hatte mit dem aus seiner Sicht scholastisch geprägten "System des Katholizismus" bereits um 1920 herum gebrochen (Hugo Ott, 1988, S.106ff). Seither bekämpfte er radikal solche Sätze, wie er sie als einundzwanzigjähriger Theologiestudent in einer Rezension einst selbst geschrieben hatte, daß etwa die römisch-katholische Kirche, um ihrem "ewigen Wahrheitsschatz" treu bleiben zu können, den "zersetzenden Einflüssen des Modernismus entgegenwirken" müsse (Zitat bei Hugo Ott, 1988, S.63). Hugo Ott, 1988, S.101, 112f.- Cf. zur Bedeutung Schleiermachers, besonders der "Reden", für den jungen Heidegger auch Pöggeler, 1990a, S.117-136, dort S.119f und 127. Schleiermacher, Reden, S.24 (Urauflage S.43).

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Martin Heideggers philosophische Wahrheitskonzeption

Heideggers These vom Stellenwert "ewiger Wahrheiten" wurde bekanntlich breit rezipiert. 122 Ad (2) Die Begründung seiner These, daß es keine "ewigen Wahrheiten" gebe (und er wählt sich keine schwachen Beispiele, wenn er darunter Newtons Gesetze oder den Satz vom Widerspruch versteht!), liegt in dem Ansatz seiner pragmatistischen Wahrheitstheorie beschlossen: Wenn Wahrheit durch menschliches Handeln in Form des Entdeckens konstituiert wird und nur aufgrund des menschlichen Handelns gilt 123 , dann ist sie "relativ auf das Sein des Daseins" (SuZ, S.227), dann gibt es Wahrheiten niemals als ewige, sondern nur, "sofern und solange Dasein ist" (SuZ, S.226). Wie in einem Brennglas wird hier deutlich, welche Bedeutung der Leitthese (LT*) für die Theorie der Wahrheit bei Heidegger zukommt. Sie bildet gleichsam die Tiefengrammatik zur pragmatistischen, wahrheitstheoretischen Oberflächengrammatik: Jede Wahrheit ist relativ auf die Zeit, wie sie in der Zeitlichkeit des Daseins offenbar wird. Heidegger benennt aber explizit nur den einen Pol seiner Typologie, die "ewigen Wahrheiten", denen konsequent die "nicht-ewigen" (=zeitlichen) als gegenüberstehend gedacht werden müssen. Die ersteren lassen sich (in Dalferths sprachlogischer Terminologie 124 ) als prädikative125 Propositionen beschreiben, die mit einem indikatorischen Zeitdesignator verbunden sind, so daß sich als Strukturformel ergibt: [Für jedes Dasein d x gilt zu jedem beliebigen Zeitpunkt t, - daß p]. Umgekehrt müssen die nicht-ewigen Wahrheiten unter Berücksichtigung der Jemeinigkeitskomponente als formal nach dem folgenden Muster aufgebaut gedacht werden: [Für einen individuellen Zeitpunkt tj im Leben des existierenden Daseins d j gilt, - daß p]. Folgt daraus, daß die nicht-ewigen Wahrheiten als nicht allgemeingültige Wahrheiten gedacht werden müssen? Heideggers Position ist an diesem

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Sogar in der Antrittsrede Horkheimers als Direktor des Instituts für Sozialforschung (1930) wird diese These zustimmend zitiert (Horkheimer, 1930, S.23f). Zum theoriegeschichtlichen Hintergrund dieser Äußerung cf. Jay (1981, S.87-89) sowie Wiggershaus (1988, S.49-67). Den Begriff der "Geltung", den Lotze als "zeitlosen Bestand" faßte (cf. SuZ, S.99, 155f), hält Heidegger für ontologisch völlig ungeklärt (cf. auch GA 21, S.62-88). Dalferth, 1981, S.241-254. Daß Heidegger Aussagen bzw. Propositionen immer vom Modell der Prädikation her denkt, hat schon Tugendhat ^1970, S.291, Anm.8) betont.

Heideggers Wahrheitstheorie

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Punkt nicht ganz klar. In der Davoser Disputation mit Cassirer antwortet Heidegger 1929 auf dessen diesbezügliche Anfrage: "Damit ist nicht gesagt, daß es keine Möglichkeit gäbe, für jedermann das Seiende, so wie es ist, offenbar zu machen. Ich würde aber sagen, daß diese Übersubjektivität der Wahrheit, dieses Hinausbrechen der Wahrheit über den Hinzeinen selbst als In-der-Wahrheit-sein, schon heißt, an das Seiende selbst ausgeliefert zu sein, in die Möglichkeit versetzt sein, es selbst zu gestalten (Hervorhebung v. EMP]" (GA 3, S.281f).

An dieser Stelle wird die Möglichkeit der Allgemeingültigkeit ("für jedermann") der Wahrheit also nicht ausgeschlossen, aber interessanterweise an die Möglichkeit des Einzelnen gebunden, das Seiende zu gestalten. Damit wird die Allgemeingültigkeit der Wahrheit als vom Handeln des Daseins abhängig gedacht. Es liegt somit eine indirekte Bestätigung unserer Pragmatismus-These vor. Außerdem hatten wir in §3.2.2.2 bereits gesehen, daß Heidegger die Allgemeingültigkeit als Wahrheitskriterium beispielsweise im Bereich der "eigentlichen Historie" explizit ablehnt (SuZ, S.395). §5.2.2.5 Die wissenschaftstheoretische Teiltheorie der Wahrheitstheorie Einerseits rekonstruiert Heidegger in seiner Fundamentalontologie die existenziale Genese von Aussagenwahrheit überhaupt und wissenschaftlicher (Aussagen-) Wahrheit126 im besonderen. Andererseits impliziert diese existenziale Herleitung eine Negativbewertung der Aussagenwahrheit. Wir sahen zwar bereits, daß Schönleben Heidegger gegen den Vorwurf der Abwertung wissenschaftlicher Wahrheit zu verteidigen suchte, indem er einen "Aufstieg von der ursprünglichen Wahrheit als Erschlossenheit zur abkünftigen Wahrheit als Übereinstimmung"127 postulierte. Aber SuZ bietet keinen Anhaltspunkt für die Aufstiegsmetaphorik. Gegen eine solche Deutung sprechen vor allem folgende fünf Befunde: (1) Das "Welterkennen" wird in §13 als "fundierter" (d.h. bloß abgeleiteter, nicht ursprünglicher) Modus exemplarisch ausgewiesen; die SubjektObjekt-Problematik wird als "unausgewiesen", "konstruktiv" bezeichnet (SuZ, S.60-62).

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Die Herleitung der Aussagenwahrheit aus dem Existenzial der Erschlossenheit (W4) über die Zwischenschritte der Erschlossenheitskomponenten Befindlichkeit, Rede und Verstehen und die Verstehensderivate Auslegung und Aussage wird ausfuhrlich in §4.2 dargestellt werden. Sie sei deswegen hier bloß als Leistung Heideggers vermerkt. Schönleben, 1987, S.307-381.

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Martin Heideggers philosophische Wahrheitskonzeption

(2) Die Aussage, der "Ort" der traditionellen "Wahrheit", ist Heidegger zufolge ein "abkünftiger Modus der Auslegung" (§33) und stellt sich als eine "Nivellierung" von deren Ais-Struktur dar (SuZ, S.158). Das Wort "Nivellierung" hat aber im Deutschen primär abwertende Konnotationen 128 . (3) Im mittleren Abschnitt b) des §44 geht es darum, die "Abkünftigkeit des traditionellen Wahrheitsbegriffes" zu zeigen. 129 (4) Erst mit der "Entschlossenheit" (W5) als Erschlossenheit im Modus der Eigentlichkeit wird die "eigentliche Wahrheit" erreicht. Dies ist folglich auf der Ebene der Aussage noch gar nicht möglich. (5) Die Probe aufs Exempel läßt sich in der Auslegung des §69b) von SuZ machen. Dort wird behauptet, daß die Wissenschaften durch ihre jeweilige Thematisierung das Seiende derart objektivierten, "daß das Entdecken der betreffenden Wissenschaft einzig der Entdecktheit des Vorhandenen gewärtig" sei (SuZ, S.363). Mir scheint aus der Konvergenz dieser, aber auch dem Fehlen gegenteiliger Belege Franzens Urteil berechtigt zu sein: "Wenn Heidegger die Aussagewahrheit und damit die Wissenschaftswahrheit generell als abgeleitetes Phänomen bestimmt, so hat das zwar, wie bereits gesagt wurde, eine gewisse Berechtigung; andererseits muß jedoch gefragt werden, ob dadurch nicht der gesamte historische ProzeB, durch den sich menschliche Vernunft die Wissenschaften schuf, allzusehr disqualifiziert wird. Der Emanzipationscharakter, der diesem Prozeß zukommt, wird bei Heidegger in Degeneration verkehrt."130

Allerdings ist zu beachten, daß sich in SuZ noch eine Übergangshaltung Heideggers zur Wissenschaft spiegelt: Während Heidegger zunächst Philosophie als "prinzipielle wissenschaftliche Forschung" 131 zu treiben beabsichtigte, befand er schon in seiner Freiburger Antrittsvorlesung, die Philosophie könne nie am Maßstab der Idee der Wissenschaft gemessen werden, und verknüpfte diese Feststellung mit einem "Verdacht gegen die Logik", 128

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Dies gilt auch für Begriffe wie "abkünftig" und "vulgär". Eine kritische Analyse der Konnotationen Heideggerscher Termini nimmt unter dem Stichwort des "doppelten Diskurses" Bourdieu vor (1988, dort S.91-112, 131f). Widmann wendet richtig gegen diese These Heideggers ein, es sei nicht einleuchtend, warum die Herkunft der Aussagestruktur aus dem besorgenden Umgang mit der vertrauten Welt auch schon deren Abkünftigkeit beweisen solle (Widmann, 1982, S.S8). Franzen, 1975, S.60. Im Briefwechsel mit Jaspers schrieb Heidegger 1922, es komme darauf an, "Ernst mit der Philosophie und ihren Möglichkeiten als prinzipieller wissenschaftlicher Forschung" zumachen (Heidegger/Jaspers, 1990, S.28).

Heideggers Wahrheitstheorie

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deren Bestimmung es sei, sich "im Wirbel eines ursprünglicheren Fragens" aufzulösen. 132 Seit den dreißiger Jahren wird die Wissenschaft und die ihr gemäße Sprachform, die auf Wahrheit zielende Aussage, ganz entschieden abgewertet - im Vergleich etwa zur Wahrheit eines Kunstwerkes oder der Wahrheit der "staatsgründenden Tat" 133 . Mit den fünf genannten Aspekten (§3.2.2.1-3.2.2.5) ist die pragmatistische Theorie der Wahrheit umrissen, wie sie sich (vor allem) in §44 von SuZ findet. Von den in §2.4 unterschiedenen Themenbereichen einer umfassenden Theorie der Wahrheit fehlt bei Heidegger lediglich, aber wohl keineswegs zufällig, die paradoxologische Teiltheorie der Wahrheitstheorie. Die Systemstelle, an der bei Heidegger die Selbstreferenzproblematik überhaupt thematisch wird und an der das paradoxologische Wahrheitsproblem daher seinen Ort gehabt hätte, liegt in seiner Rede von dem unvermeidlichen "hermeneutischen Zirkel" (SuZ, S.7f, 152f), der in einer "ontologischen Zirkelstruktur" gründe (SuZ, S.153). Mit diesem Kunstgriff geht Heidegger einer Vielzahl von Problemen aus dem Wege. Aber läßt sich der hermeneutische Zirkel wirklich so verstehen, wie Heidegger vorschlägt, und ist sein Postulat einer "ontologischen Zirkelstruktur" überzeugend? Ansatzpunkte einer möglichen Problematisierung und Kritik sind schon in die Darstellung eingeflossen. Im folgenden soll die kritische Reflexion vertieft und systematisiert werden.

§3.2.3 Die Problematik der Heideggerschen Wahrheitstheorie Bei einer oberflächlichen Betrachtung der Wahrheitskonzeption Heideggers könnte es scheinen, als liege in ihr eine Wahrheitstheorie vor, die sich vom alltagssprachlichen Wahrheitsverständnis weit entfernt habe, also keinen rekonstruktiven Charakter besitze, gleichwohl aber in sich relativ kohärent sei. Wenn man aber, wie in dieser Arbeit vorgeschlagen wird, zwischen Heideggers Fundamentalaletheiologie und seiner Theorie der Wahrheit unterscheiden und diese im obigen Sinne explizieren kann, ergibt sich ein genau umgekehrtes Bild: Heideggers Wahrheitstheorie hat einen großenteils rekonstruktiven Charakter, genügt aber nicht der Anforderung der Konsistenz und ist damit als nicht hinreichend kohärent erwiesen. Dies soll in §3.2.3.1 gezeigt werden. Der folgende §3.2.3.2 bietet eine Zusammenfassung und einen Ausblick auf den sich anschließenden §4 dieser Arbeit. 132

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In der Antrittsvorlesung "Was ist Metaphysik?" (in: WM, S. 103-121) sind besonders S.106f, 116, 120 zu vergleichen. Cf. den Kunstwerkaufsatz (1935), in: HW, S.l-72, dort S.48. Im Gegensatz zu der staatsgründenden Tat, dem Kunstwerk, dem "wesentlichen Opfer" und dem "Fragen des Denkers" heißt es zur wissenschaftlichen Wahrheit: "Dagegen ist die Wissenschaft kein ursprüngliches Geschehen der Wahrheit..." (HW, S.48).

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Martín Heideggers philosophische Wahrhei tskonzeption

§5.2.5./ Anwendung von Metakriterien zur Beurteilung der Wahrheitstheorie Heideggers Um Heideggers Wahrheitstheorie hinsichtlich ihrer Leistungsfähigkeit beurteilen zu können, lege ich die drei oben (in §2.5) eingeführten Anforderungen [A1-A3] als Maßstab zugrunde. Dabei ergibt sich im einzelnen: [AI] als Postulat des rekonstruktiven Charakters der Wahrheitstheorie ist teilweise erfüllt, denn Heideggers Theorie der Wahrheit stellt den Versuch einer Teilrekonstruktion des allgemeinen Wahrheitsverständnisses dar. Es handelt sich bei ihr also um keine konstruktive, spekulative Theorie, die vom allgemeinen Wahrheitsverständnis völlig absieht. Vielmehr geht Heidegger vom "traditionellen Wahrheitsbegriff" der Philosophie aus (SuZ, S.214), welcher in zwei wesentlichen Aspekten (die Aussage bzw. das Urteil sei der Wahrheitsträger, Wahrheit bestehe in "Übereinstimmung") an das allgemeine Wahrheitsverständnis anknüpft. Heidegger konzediert sogar: "Die Charakteristik der Wahrheit als 'Übereinstimmung', adaequatio, homoiosis ist zwar sehr allgemein und leer. Sie wird aber doch irgendein Recht haben ..." (SuZ, S.215).

Damit sind die Anforderungen [AI. 1] und [AI.2] erfüllt, denn Heideggers Theorie der Wahrheit geht vom alltagssprachlichen Wahrheitsverständnis aus und versucht, dessen zentrale Aspekte zu rekonstruieren und zu ihnen Stellung zu beziehen. Daß Heidegger tatsächlich die sich in W1 kristallisierende konstitutive Wahrheitsdifferenz überspringt, wie Tugendhat gemeint hat, 134 ist im Rahmen seines Theorieansatzes erstens nicht zwingend zu zeigen. 135 Zweitens nimmt Heidegger ja zur existenzialen Genese der konstitutiven Wahrheitsdifferenz ausführlich Stellung (SuZ, S.219-226). Drittens aber hatten wir eine Teilrekonstruktion des alltäglichen Wahrheitsverständnisses als hinreichende Anforderung [AI.4] an eine Wahrheitstheorie gelten lassen, und diese Anforderung ist offensichtlich erfüllt. Insofern Heidegger ferner eine univoke Definition der Wahrheit zu geben beansprucht, genügt er der Anforderung [AI.3]. 1 3 6 134 135

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Tugendhat, 21970, S.296f, 329, 335f (u.ö.). Vielmehr hält er ja an W1 als kontextuelles "Werkzeug" der Wahrheitsfindung fest. Außerdem kann man in der Konjunktion von W3 (Entdeckendsein des Daseins) und W2 (Unverborgenheit des Seienden) einen fundamentalontologischen Rekurs auf die traditionelle Subjekt-Objekt-Unterscheidung sehen. Dazu steht in Spannung, daß Heidegger zufolge nicht nur W3 als Wahrheitsdefinition gelten kann, sondern der oben gezeigte Eindruck einer sechsfachen Äquivokation entstehen kann. Daß es sich faktisch nicht um eine solche Äquivokation handelt, versucht die von mir vorgelegte Arbeit u.a. dadurch zu zeigen, daß sie zwischen Theorie der Wahrheit und Fundamentalaletheiologie präzise unterscheidet und den drei

Heideggers Wahrheitstheorie

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Als Resultat läßt sich festhalten, daß das Postulat des rekonstruktiven Charakters der Theorie der Wahrheit von Heideggers Theorie teilweise, ja großenteils erfüllt ist. Wie steht es mit dem oben formulierten Postulat [A2], demzufolge eine Theorie der Wahrheit hinreichend umfassend und vollständig sein soll? [A2] dürfte deswegen teilweise erfüllt sein, weil immerhin fünf der sechs wichtigsten Themenbereiche, die zu einer Theorie der Wahrheit gehören, von Heideggers Theorie abgedeckt werden. Zwei Einschränkungen sind aber zu machen: Es werden erstens nicht alle sechs Elemente einer Wahrheitstheorie thematisiert. Denn die paradoxologische Teiltheorie der Wahrheitstheorie fehlt, wie oben gezeigt wurde. Zweitens besteht in einigen der behandelten Themenbereiche ein elementarer Bedarf an Präzisierung und Vervollständigung. So liefert Heideggers Theorie, wenn überhaupt, nur ein äußerst problematisches, vulgärpragmatistisches und schwach heuristisches Wahrheitskriterium. Daher fehlt es ihr in kriteriologischer Hinsicht an Konkretion und Ausführung. Auch besteht im Bereich der Verfahrens- und Methodenfragen ein Bedarf an Konkretisierung und Präzisierung, wie die jeweilige "Beraubung" des Seienden geschehen soll. Trotzdem kann festgehalten werden, daß Heideggers Wahrheitstheorie insofern relativ vollständig und umfassend ist, als sie fünf von sechs Themenbereichen einer hinreichend leistungsfähigen Wahrheitstheorie behandelt und in der Ausführung immerhin einige originelle Ansatzpunkte liefert. Insofern läßt sich [A2] als teilweise, vielleicht sogar überwiegend erfüllte Anforderung bezeichnen. Als problematisch erscheint Heideggers Wahrheitstheorie vor allem dann, wenn man sie am dritten Postulat [A3] bezüglich der inneren Widerspruchsfreiheit mißt. Denn [A3] ist an zentralen Punkten nicht erfüllt, weil eine in wesentlichen Teilen inkonsistente137 Theorie der Wahrheit vorliegt. Dies zeigt sich an der ausdrücklichen Ablehnung des principium contradictionis (a) sowie an der komplementären Nichtbehandlung der Problematik der Wahrheitsparadoxologie (b). Ad (a) Sollte Heidegger Widerspruchsfreiheit als ein notwendiges, minimales Wahrheitskriterium anerkennen? Dagegen spricht schon erstens, daß dieses Kriterium nur für die Aussagenwahrheit (Wl) scharf definiert ist, auf der entscheidenden Ebene von W2 und W3 aber allererst eingeführt werden

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"Wahrheiten" W1-W3 je einen systematischen Ort innerhalb der Wahrheitstheorie zuweist. Sie ist inkonsistent in dem Sinne, daß sie Inkonsistenz(en) innerhalb der Extension von Wahrheit (den "Wahrheiten") nicht nur nicht ausschließt, sondern teilweise sogar produziert.

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Martin Heideggers philosophische Wahrheitskonzeption

müßte.138 Zweitens aber ist es aufgrund des wahrheitstypologischen Verdiktes gegen die "ewige Wahrheit" des Satzes vom Widerspruch im Grunde sogar unmöglich, daß Heidegger dieses Kriterium akzeptiert. Wenn dies aber zutrifft, dann ist völlig offen, wie gewonnene und zukünftig gewinnbare Wahrheiten sich zueinander verhalten; es ist nicht einmal ausgeschlossen, daß sie einander kontradiktorisch widersprechen. Damit ist das in §2.5 dieser Arbeit postulierte Kriterium [A3.3] sichtlich nicht erfüllt. Ad (b) Der zweite gravierende, zu dem Ausfall des Konsistenzkriteriums komplementäre Mangel zeigt sich in der völligen Lichtbehandlung der Wahrheitsparadoxologie. Es muß zwar nicht jede Theorie der Wahrheit eine so überzeugende Lösung für das paradoxologische Problem bieten können wie die Tarskische. Wenn dieses Thema jedoch gänzlich ausfallt, stellt sich die Frage, ob die Wahrheit gegen ihr Gegenteil, die Unwahrheit, überhaupt noch scharf abgegrenzt ist. Dies ist bei Heidegger eindeutig nicht der Fall. Es ist kein Zufall, daß es in §44 heißt: "... 'Dasein ist in der Wahrheit' sagt gleichursprünglich mit: 'Dasein ist in der Unwahrheit'" (SuZ, S.222).

Von einer solchen Aussage ist es nicht weit bis zu der These des Kunstwerkaufsatzes, daß die Wahrheit "in ihrem Wesen Unwahrheit" (HW, S.40) sei. 139 Die Konvergenz dieser beiden Mängel in den Theoriesektoren der Kriteriologie und Paradoxologie verweist auf die grundsätzliche Inkonsistenz der Heideggerschen Wahrheitstheorie. Die Anforderung [A3] der inneren Widerspruchsfreiheit dieser Theorie ist somit nicht hinreichend erfüllt. §J.2.5.2 Zusammenfassung und Ausblick An dieser Stelle läßt sich zusammenfassen, daß Heideggers Theorie der Wahrheit zwar einen großenteils rekonstruktiven Charakter hat, relativ vollständig und umfassend ist, aber dem Postulat der Konsistenz grundsätzlich nicht genügt. Damit stellt sich aber die Frage nach der Kohärenz dieser 138

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Genau so sieht dies auch Heidegger selbst: "Widerspruch und Widerspruchslosigkeit als Kriterium hat aber nur da Sinn, wo dieses Kriterium orientiert ist auf Spruch und Gegenspruch, d.h. auf Logos im Sinne der Aussage, im Sinne des Satzes" (GA 21, S.22). Mittelstraß hat an der Philosophie des späteren Heidegger gezeigt, daß diese, indem sie die Wahrheit nicht an eine Behauptungs-, sondern an eine Ereignisstruktur bindet, die Möglichkeit eines Irrtums systemintem ausschließt. Ein daraus resultierender absoluter Wahrheitsanspruch (den Mittelstraß auch für Hegels Denken und den frühen Wittgenstein zeigen zu können meint) muß in einem "Irrtum der Wahrheit" (Mittelstraß, 1989, S.30f) kulminieren.

Heideggers Wahrheitstheorie

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Theorie. Denn Konsistenz stellt ein irreduzibles Element der hier als logische Konjunktion von Zusammenhängendheit, Umfassendheit und Konsistenz gedachten Kohärenz dar. Was bisher über Heideggers pragmatistische Theorie der Wahrheit ausgesagt wurde, betraf die drei mit W1-W3 bezifferten Bestimmungen von Wahrheit. Indem Heidegger aber zudem nach der Bedingung der Möglichkeit von W3 fragt (SuZ, S.220ff) und als diese Bedingung die Erschlossenheit (W4) aufweist, unternimmt er eine doppelte Reflexion auf Wahrheit. Denn es ist eines, nach einem Phänomen selbst, ein anderes aber, nach dessen Möglichkeitsbedingung zu fragen. Während Heidegger mit W1-W3 im Rahmen einer pragmatistischen Wahrheitstheorie auf Wahrheit reflektiert, wird mit W4 (und W5, W6) so etwas wie eine Fundamentaltheorie von Wahrheit entworfen. Beide Theorieebenen werden von Heidegger freilich nicht unterschieden, so daß Mißverständnisse und Verwechslungen sich nahelegen. Damit ist ein Problemfeld bezeichnet, das eingangs dieses Hauptteils in den Thesen T2 und T3 formuliert wurde. Diesem Problemfeld soll im folgenden Paragraphen dieser Arbeit (§4) nachgegangen werden.

§4. Die Grundzüge der Heideggerschen Fundamentalaletheiologie

§4.0 Vorblick auf Inhalt und Aufriß dieses Paragraphen In diesem Paragraphen soll es darum gehen, Heideggers Fundamentalaletheiologie in ihren Grundzügen und gemäß ihrer Grundelemente darzustellen. Zu entfalten und zu erörtern sind hier somit die zu Eingang dieses Hauptteils präsentierten Thesen T2 und T3: (T2) Heidegger unternimmt in seiner Wahrheitskonzeption die Explikation der existenzialontologischen Bedingung(en) der Möglichkeit von Wahrheit. Insofern beinhaltet seine Konzeption von Wahrheit eine Fundamentalaletheiologie, welche die drei "Wahrheitsbegriffe" W4-W6 umfaßt. (T3) Die Ebene der (pragmatistischen) Wahrheitstheorie und die Ebene der Fundamentalaletheiologie müssen kategorial voneinander unterschieden werden. Weil der frühe Heidegger dies nicht deutlich genug herausstellte, konnte es zu Verwirrungen und Mißverständnissen in der Auslegung und Rezeption seiner Philosophie kommen. Dem Inhalt der Fundamentalaletheiologie gemäß sollen deren drei Grundelemente, die wir oben W4, W5, W6 genannt hatten, einzeln dargestellt und, soweit nötig, problematisiert werden. Schließlich sollen mit einem Blick auf Heideggers späte "Retractationes" - die in §3 und §4 besprochenen Kritikpunkte an Heideggers Wahrheitskonzeption gebündelt werden. Damit ergibt sich für diesen Paragraphen folgender Aufriß: -

Struktur und Gehalte der Fundamentalaletheiologie (§4.1); die Struktur der "Erschlossenheit" als ursprünglicher Wahrheit (§4.2); die Problematik der Wahrheit als Entschlossenheit (§4.3); die Konvertibilität der fundamentalontologischen Grundbegriffe "Sein" und "Wahrheit"(§4.4); - zusammenfassende Kritik im Lichte der "Retractationes" (§4.5). Zwischen den §§4.4 und 4.5 wird ein Exkurs über die designatorische Wahrheitskonzeption bei Heidegger II eingeschoben.

Heideggers Fundamentalaletheiologie

165

§4.1 Die Entfaltung einer Fundamentalaletheiologie in Sein und Zeit Nach der Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis und/oder Wahrheit fragen, heißt, "transzendental" zu fragen. Dabei müssen ein engerer und ein weiterer Sinn dieses Wortes unterschieden werden. In einem engeren Sinn heißen alle diejenigen Möglichkeitsbedingungen von Wahrheit "transzendental", welche im menschlichen, erkennenden "Subjekt" liegen. Dies ist etwa Kants Position. 1 In einem weiteren Sinn 2 heißen auch die ontologischen Bedingungen der Möglichkeit von Wahrheit "transzendental". Heidegger thematisiert in §44 von SuZ die fundamentalontologischen Möglichkeitsbedingungen von Wahrheit und meint, auf diese Weise Kants Programm zu radikalisieren. "Heidegger aber will Kants wahrer Erbe sein. Sein Motto hätte lauten können: Mit Kant, nur transzendentaler noch als er."3 Wie ich in §2.6 dieser Arbeit entwickelt habe, übernehme ich von Kettering (1989) den Terminus "Fundamentalaletheiologie", weil ich ihn für geeignet halte, einerseits eine Überschrift für Heideggers transzendentalontologische 4 Explikation von Wahrheit abzugeben, andererseits aber die Differenz zum Unternehmen einer Wahrheitstheorie (=Aletheiologie) streng festzuhalten. Ich will im folgenden zunächst aufzeigen, daß und inwiefern Heideggers Konzeption von Wahrheit eine Fundamentalaletheiologie beinhaltet. Dafür

Auch Bittner schließt sich in seinem Artikel: "Transzendental" (Bittner, 1974, S. 1524-1539) der Kantschen Auffassung an (ebd., S. 1524-1527) und kommt anschließend zum - bestreitbaren - Ergebnis, eine Transzendentalphilosophie sei nach Quine nicht mehr möglich, das transzendentale Programm habe "seine Grundlage verloren" (ebd., S.1537f). Analog wird auch bei Figal (1988, S.20ff, 72f) die Identität von Transzendentalphilosophie und Subjektivitätstheorie explizit definitorisch festgelegt. Problematisch bleibt, daß in beiden Fällen die Möglichkeit einer ontologisch ansetzenden Transzendentalphilosophie nicht einmal erwogen wird. Ein dritter Sinn von "transzendental" schwingt aber bereits SuZ, S.38 mit, wenn Heidegger formuliert: "Sein ist das transcendens schlechthin ... Phänomenologische Wahrheit (Erschlossenheit von San) ist veritas transcendentalis." Gethmann (1974b, S. 191) und Hertmann (1987, S.377-381) verweisen auf die scholastische Färbung des Begriffes. Diese ist von seinem fundamentalontologischen Grundsinn zwar unterscheidbar, aber nicht abtrennbar. Rentsch, 1985, S.62. Skirbekk hat in analoger Weise Heideggers transzendentalontologische Argumentationsweise nachgezeichnet (1969, S.449-482). Er schlägt vor, von einer "Art transzendentaler Wahrheitstheorie" (dort S.458) Heideggers zu reden. Den fundamentalen Unterschied von W1-W3 (pragmatistische Theorie der Wahrheit) und W4-W6 (Fundamentalaletheiologie) thematisiert er aber nicht.

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Martín Heideggers philosophische Wahrheitskonzeptíon

wird eine Explikation des Begriffes "Bedingung der Möglichkeit" fundamental sein (§4.1.1). Anschließend will ich das Hauptproblem aufzeigen, das mit der Entfaltung der Fundamentalaletheiologie in SuZ verbunden ist. Es scheint mir in dem transzendentalontologischen Fehlurteil zu bestehen, welchem Heidegger m.E. unterliegt. Dieses Fehlurteil war und ist die Quelle vieler Mißverständnisse und problematischer Rezeptionen (§4.1.2). §4.1.1 Explikation des Begriffes "Bedingung der Möglichkeit" Zentraler Bestandteil der Fundamentalontologie ist die Fundamentalaletheiologie. In ihr werden die existenzialontologischen Bedingungen der Möglichkeit von Wahrheit reflektiert. Wie aber läßt sich der Begriff Bedingung der Möglichkeit, wie Heidegger ihn verwendet, explizieren? In SuZ (S.87) hatte Heidegger die Distinktion von ontischen/ontologischen Möglichkeitsbedingungen anhand eines Beispiels5 eingeführt, aber nicht näher expliziert. Man wird m.E. nicht fehlgehen, wenn man die Anwendung der ontologischen Differenz auf die Möglichkeitsbedingungen logisch in folgender Weise rekonstruiert: Eine ontische Bedingung der Möglichkeit heißt eine solche, die bloß hinreichend, nicht aber notwendig ist. Eine ontologische Bedingung der Möglichkeit ist dagegen eine notwendige Bedingung. Ein Beispiel: Eine ontische Möglichkeitsbedingung dafür, in diesen Raum einzutreten, ist, durch die Tür zu gehen - es gibt vielleicht aber auch andere Türen und ein Fenster, durch welche ich hätte in den Raum gelangen können. Dagegen ist eine ontologische Bedingung der Möglichkeit dafür, von außen in diesen Raum zu gelangen, ihn durch irgendeine seiner verschiedenen Öffnungen zu betreten. Die ontologischen (=notwendigen) Möglichkeitsbedingungen lassen sich, wie dem Aufsatz von Kettering entnommen werden kann, noch einmal logisch differenzieren nach solchen, die bloß notwendig, und anderen, die Heideggers Beispiel ist die Relation von Dasein, Bedeutsamkeit und Entdeckbarkeit von Seiendem. "Das Dasein ist in seiner Vertrautheit mit der Bedeutsamkeit die ontische Bedingung der Mögächkeit der Entdeckbarkeit von Seiendem, das in der Seinsart der Bewandtnis (Zuhandenheit) in einer Welt begegnet und sich so in seinem An-sich bekunden kann ... Die Bedeutsamkeit selbst aber, mit der das Dasein je schon vertraut ist, birgt in sich die ontologische Bedingung der Möglichkeit dafür, daß das verstehende Dasein als auslegendes so etwas wie 'Bedeutungen' erschließen kann ..." (SuZ, S.87). An anderer Stelle redet Heidegger auch von der "seinsmäßige[n] Bedingung der Möglichkeit" (SuZ, S.83). Auch sie wird leider nicht näher expliziert. Der Begriff "ontologische Differenz" wurde von Heidegger noch nicht in SuZ verwendet, sondern erst in seiner Marburger Vorlesung von 1927 (GA 24, S.22 u.ö.) geprägt.

Heideggers Fundamentalaletheiologie

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sowohl notwendig als auch hinreichend sind (im Beispiel: Die ontologische, sowohl notwendige als auch hinreichende Bedingung dafür, in den Raum mit nur einer Öffnung zu gelangen, ist, ihn durch diese Öffnung - nehmen wir an, es sei eine Tür - zu betreten). Die hier vorgeschlagene vollständige Distinktion lautet also in formal-logischer Notation:

MB1. Ontische (=hinreichende, nicht aber notwendige) Bedingung der Möglichkeit: [(x - > y) & r- (y - > x)].

MB2. Ontologische (=notwendige) Bedingung der Möglichkeit:

MB2.1 Bloß notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung der Möglichkeit: [ ( y - > x ) &