Zwischen Darwin und Marx: Zur Rezeption der Evolutionstheorie in der deutschen und der österreichischen Sozialdemokratie vor 1933/34 9783205791942, 9783205788034

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Zwischen Darwin und Marx: Zur Rezeption der Evolutionstheorie in der deutschen und der österreichischen Sozialdemokratie vor 1933/34
 9783205791942, 9783205788034

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RICHARD SAAGE

ZWISCHEN DARWIN UND MARX Zur Rezeption der Evolutionstheorie in der deutschen und der österreichischen Sozialdemokratie vor 1933/34

BÖHLAU VERLAG WIEN · KÖLN · WEIMAR

Gedruckt mit Unterstützung durch MA 7 Kulturabteilung der Stadt Wien

Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf

Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn

In Kooperation mit dem Renner-Institut, Wien

Umschlagabbildung: Charles Darwin © ullstein bild – adoc-photos – Elliot Fry Karl Marx © ÖNB, Inv. Nr. Pf 3.767:B (1) Umschlaggestaltung: Michael Haderer Satz: Eva-Christine Mühlberger Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek. Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78803-4 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2012 by Böhlau Verlag GES.M.B.H. & CO. KG., Wien · Köln · Weimar http://www.boehlau-verlag.com Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier. Druck: arrabona PRINT, Győr

Inhaltsverzeichnis

Einleitung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Teil I

15

Bedingungen und Strukturen sozialdemokratischer Darwin-Rezeption. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

Teil II

61

Die sozialdemokratische Auseinander­s etzung mit dem antisozialistischen Darwinismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

Teil III

109

Die Kontroverse innerhalb der Sozialdemokratie zwischen Linksdarwinisten und marxistischem Zentrum. . . . . . . . . . . 111

Teil IV

159

Anthropologische Aspekte im Selbstverständnis der SDP und der SDAP bis 1933/34. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161

Anhang 185 Quellen und Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Kurzbiografien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Anmerkungen.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Personenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Sachregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277

Einleitung

»Das Proletariat mit Wissen zu füllen, das Monopol der besitzenden Klassen mit Wissen zu brechen, ist ebenso wichtig wie das Brechen des Monopols der Kapitalisten auf den Besitz der Staatsgewalt und der Produktionsmittel. Nur ein Proletariat, das brennender Durst nach Wissen erfüllt, wird seiner großen historischen Aufgabe gewachsen sein.« Karl Kautsky

Einleitung

J

ede wissenschaftliche Untersuchung hat ihre Vorgeschichte. Die hier vorgelegte Diskursanalyse macht von dieser Regel keine Ausnahme. Die entscheidende Anregung zu ihrer Durchführung erhielt ich, als ich den wissenschaftshistorischen Vorläufern des modernen Transhumanismus auf der Spur war, welcher bekanntlich ein Human Enhancement, eine technische Verbesserung des Menschen, anstrebt (vgl. Saage 2011). Ich wurde bei diesen Bemühungen mit der Tatsache konfrontiert, dass Impulse dieser Art zuerst von Naturwissenschaftlern ausgingen, die sich als Marxisten bzw. Kommunisten und als Darwinisten, d.  h. als Anhänger der modernen Evolutionstheorie, zugleich verstanden. Bisher ging ich davon aus, dass der auf die Gesellschaft angewandte Darwinismus dem rechten Lager zuzuordnen sei, der sich insbesondere im Dritten Reich, aber auch schon während des Imperialismus vor dem Ersten Weltkrieg um seinen moralischen Kredit gebracht hatte. Jetzt musste ich einsehen, dass es auch einen »Darwinismus von links« gab, der in den öffentlichen und wissenschaftlichen Diskursen der deutschsprachigen Welt nach dem Zweiten Weltkrieg ein Schattendasein führte. – 7 –

Einleitung

Diese Untersuchung verdankte sich aber auch einem aktuellen Anlass. In der Quellensuche und ‑auswertung bereits vorangeschritten, erhielt sie Auftrieb durch das Buch eines ehemaligen sozialdemokratischen Finanzsenators des Bundeslandes Berlin (vgl. Sarrazin 2010). Ein durch massive Medienunterstützung Furore machendes Pam­ phlet im Rücken, das alle nur möglichen Ressentiments gegen Migranten vor allem muslimischer Provenienz bediente und so zu einem der am meisten verkauften Sachbücher der Bundesrepublik avancierte, bekannte sein Verfasser in einem Interview, er werde sein sozialdemokratisches Parteibuch mit ins Grab nehmen. Diesem Bekenntnis stand die Tatsache gegenüber, dass sich sein Buch zumindest streckenweise »wie ein antimuslimisches Dossier auf genetischer Basis« (Christian Geyer) liest. Diese Tendenz, soziale Fragen in biologische Muster zu übersetzen und sich gleichzeitig zur Sozialdemokratie zu bekennen, wirft die Frage nach dem Menschenbild der beiden ältesten demokratischen Parteien in Deutschland und Österreich auf. Wer aber über anthropologische Grundlagen von Massenparteien spricht, darf über die Evolutionstheorie Darwins nicht schweigen. So reihte sich an das historische ein aktuelles Motiv, die beide zusammen den Verfasser ermutigten, das vorliegende Buch zu schreiben. 1859 erschien Charles Robert Darwins bahnbrechende Studie über »Die Entstehung der Arten«. Etwa um die gleiche Zeit setzte die industrielle Revolution in Deutschland und damit die Konstituierung der Arbeiterbewegung ein. Diese Gleichzeitigkeit wurde noch dadurch untermauert, dass Karl Marx ebenfalls 1859 seine »Kritik der politischen Ökonomie« veröffentlichte. Wer also die Geschichte des Darwinismus von links rekonstruieren will, so schloss ich, ist wohlberaten, sich mit der Rezeption der Deszendenztheorie in der größten Emanzipationsbewegung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in Deutschland und Österreich zu beschäftigen. Doch fand eine solche Rezeption, die diesen Namen verdient, überhaupt statt? Zwar ist allgemein bekannt, dass sich Marx und Engels prinzipiell positiv zur – 8 –

Einleitung

Evolutionstheorie äußerten. Aber ob sie ein Gegenstand des sozialdemokratischen Diskurses war, stellte eine offene Frage dar, zumal die ansonsten ausdifferenzierte Historiografie zur Geschichte der demokratischen Arbeiterbewegung sie bisher – bewusst oder unbewusst – aus ihrem Untersuchungsfokus ausklammerte. Wenn von den professionellen Historikern zu diesem Thema keine Aufschlüsse zu erwarten waren, mussten die Quellen selber gesucht und ausgewertet werden. Zunächst kamen die großen Theoriezeitschriften in Betracht. In Deutschland sind es vor allem »Die Neue Zeit«, die »Sozialistischen Monatshefte« sowie ihr Vorgängerorgan »Der sozialistische Akademiker«, »Die Glocke« und ab 1924 »Die Gesellschaft«, in Österreich vor allem die Zeitschrift »Der Kampf«. Allein in diesen Medien stieß ich auf über siebzig Artikel, die sich zu dem engeren Thema dieses Buches äußerten. Hinzu kam eine Fülle von Broschüren und Büchern, deren Autoren sich variantenreich im Untersuchungszeitraum zwischen 1859 und 1933/34 vom sozialdemokratischen Standpunkt aus mit dem Darwinismus auseinandersetzten. Allein die Quantität dieser gedruckten Quellen verweist darauf, welche Bedeutung die Beschäftigung der Sozialdemokratie mit dem Darwinismus in Deutschland und Österreich für die weltanschauliche und ideologische Selbstverankerung dieser beiden Massenparteien im Industrialisierungsprozess hatte. Dass also von der Relevanz der vorliegenden Untersuchung im Kanon der Themen zur Geschichte der Arbeiterbewegung ausgegangen werden kann, ist nicht zu bestreiten. Diese Feststellung verweist auf das selbst gesteckte Ziel der vorliegenden Untersuchung. Angesichts der Bedeutung des Untersuchungsgegenstandes geht es ihr darum, eine Forschungslücke zu schließen. Das setzt freilich eine Anstrengung voraus, die in ihrem Resultat, wie der Verfasser hofft, zu einem besseren Verständnis der politischen und geistigen Verfassung der deutschen und österreichischen Sozialdemokratie in den Kaiserreichen und in der Zwischenkriegszeit beitragen kann. – 9 –

Einleitung

Zugleich sollte es Aufgabe der Untersuchung sein, der Forschung eine topografische Folie zur Verfügung zu stellen, auf deren Hintergrund sich mögliche Veränderungen und Übereinstimmungen in der Menschenbildfrage der deutschen und der österreichischen Sozialdemokratie nach 1933 einzeichnen lassen. Ob ein Buch gelingt, entscheidet in der Regel nicht zuletzt auch die Strukturierung des Stoffs. Zwei Möglichkeiten bieten sich an, dieses Problem zu lösen. Wer sich für ein konstruktives Verfahren entscheidet, gibt die Struktur des Buches durch ein Theoriemuster vor, in dessen Rahmen der Stoff eingeordnet wird. Der Nachteil dieses Ansatzes besteht darin, dass die Untersuchung Gefahr läuft, zur Subsumtionstechnik heruntergestuft zu werden. Die Quellen haben dann im Extremfall die Funktion, als Illustration der durch das theoretische Muster präjudizierten Resultate zu dienen. Der andere Weg dagegen verläuft in die entgegengesetzte Richtung. Er verzichtet zwar ebenfalls nicht auf eine Konzeption. Aber er versucht, sie aus den Quellen heraus freizulegen. Diese Option geht von der wohl begründeten Annahme aus, dass die konstruktiven Elemente bei den agierenden Personen und ihren Diskursen selbst zu suchen sind. Die Aufgabe des Historikers der politischen Ideen besteht dann darin, sie im Durchgang durch die Quellen behutsam freizulegen und zu einer empirienahen Struktur zusammenzufügen. Der Verfasser des vorliegenden Buches hat sich für dieses mehr induktive Vorgehen entschieden. Der Leser wird urteilen müssen, ob ein solcher Ansatz dem Thema und den ihm zugrunde liegenden gedruckten Quellen angemessen ist oder nicht. Solche methodologischen Prämissen vorausgesetzt, lag es nahe, den Stoff in vier Teile zu gliedern. Teil I klärt die externen und internen soziokulturellen Rahmenbedingungen, unter denen sich die SPD und die SDAP die Deszendenztheorie in den Kaiserreichen und in den Ersten Republiken in Deutschland und Österreich aneigneten. Was die externen Bedingungen betrifft, so wird die Frage diskutiert, – 10 –

Einleitung

warum die Rezeption des Darwinismus gerade in Deutschland – im Vergleich zu Frankreich und Großbritannien – besonders intensiv verlief. Welche gesellschaftlichen und politischen Interessen verbanden sich mit der Rezeption der Evolutionstheorie im sozialistischen und liberalen Lager bzw. mit ihrer Ablehnung im christlichen Milieu beider Länder? Im Blick auf die internen Bedingungen ist die Frage zu klären, welche Rolle Marx und Engels vor allem nach dem Erfurter Programm in der Darwin-Rezeption der Sozialdemokratie spielten. Wurde die Diskussion parteiintern von oben reglementiert oder führte man sie ergebnisoffen? Hier spielt insbesondere die sozialdemokratische Auseinandersetzung mit dem Neo-Lamarckismus eine Rolle, der als Alternative zur Darwin’schen Selektionstheorie verstanden wurde. Welche Autoren beteiligten sich an diesem Diskurs, und wie ist deren parteiinterner Einfluss einzuschätzen? Und vor allem: Inwiefern können sie den Anspruch erheben, nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Sozialdemokratie als Ganzes zu sprechen? Im Zentrum des zweiten Teils steht die Auseinandersetzung sozialdemokratischer Autoren mit dem Sozialdarwinismus von rechts, der von Biologen und Philosophen wie Thomas Henry Huxley, Herbert Spencer, Ernst Haeckel u. a. »erfunden« wurde. Wie argumentierte die seit dem Erfurter Programm marxistisch orientierte Sozialdemokratie gegen die These des rechtslastigen Sozialdarwinismus, die natürlichen Kategorien der Deszendenztheorie seien eins zu eins auf die Gesellschaft zu übertragen? Und umgekehrt: Welche Argumente brachten Haeckel, Spencer u. a. vor, um den marxistischen Sozialismus als eine gesellschaftliche Fehlentwicklung mit katastrophalen Konsequenzen zu stigmatisieren? Es geht also im Kern vor allem um die Grenzziehung zwischen der biologischen und der sozialwissenschaftlichen Deutungshoheit von Evolutionstheorie einerseits und Historischem Materialismus andererseits, ohne deren gemeinsame Schnittmengen aus dem Blick zu verlieren. Zugleich spielten aber auch die praktischen Konsequenzen der – 11 –

Einleitung

wissenschaftstheoretischen Kontroverse eine bedeutende Rolle. Mit welchen Argumenten antworteten sozialdemokratische Autoren auf den Eurozentrismus des Darwinismus von rechts? Und wie reagierten sie auf die Rassentheorien, die vor allem nach dem Ersten Weltkrieg eine hegemoniale Konjunktur erlebten? Der dritte Teil ist der Kontroverse zwischen den sogenannten Linksdarwinisten und dem marxistischen Zentrum der SPD und der SDAP bis zum Ende der Ersten Republiken in Deutschland und Österreich gewidmet. Wie war es möglich, die Evolutionstheorie mitsamt ihrer Selektionskonzeption »links« zu wenden? Wie positionierte sich diese bisher wenig bekannte Strömung innerhalb der Sozialdemokratie zu Klassenkampf und Revolution? Worin stimmte sie mit den Prämissen der biologischen Soziologie eines Herbert Spencers überein? In welchen Aspekten distanzierte sie sich vom Darwinismus von rechts? Vor allem aber: Wie positionierten die Linksdarwinisten ihr organologisches Gesellschaftsbild gegenüber der marxistischen Analyse, die sich nicht in biologischen, sondern in historisch geprägten sozioökonomischen Kategorien artikuliert? Diese Frage ist der Ausgangspunkt einer innersozialdemokratischen Kontroverse, die in ihren Grundzügen und Facetten rekonstruiert wird: Wie unterscheidet sich die linksdarwinistische Kritik an der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft von der des marxistischen Ansatzes? Welche Rolle spielt in ihnen das historische Moment? Bedeutsam in diesem Zusammenhang ist der linksdarwinistische Versuch, in Marx’ »Das Kapital« selbst eine naturalistische Grundierung nachzuweisen, die, träfe sie zu, den Historischen Materialismus samt seiner Mehrwerttheorie als Ausfluss eines kryptischen Darwinismus auswiese. Gegen eine solche Zuordnung lief das marxistische Zentrum Sturm. Aber welcher Argumente bediente es sich? Und wie ging es mit der Bereitschaft der Linksdarwinisten um, eine positive Einstellung zur imperialistischen Kolonialpolitik und zu einer, wenn auch moderaten, Rassenhygiene zu propagieren? – 12 –

Einleitung

Im vierten und letzten Teil unternimmt der Verfasser den Versuch, die anthropologischen Konsequenzen aus der DarwinismusRezeption der Sozialdemokratie vor 1933 zu ziehen. Er kommt zu dem Schluss, dass das sozialdemokratische Menschenbild weder dem Spiritualismus der christlichen Anschauung noch dem naturwissenschaftlichen Naturalismus zuzuordnen ist. Das anthropologische Fundament der beiden ältesten demokratischen Parteien im deutschsprachigen Bereich lässt sich am ehesten dadurch charakterisieren, dass ihr Menschenbild gekennzeichnet ist durch das nicht dualistische Ineinandergreifen der animalischen und der soziokulturellen Dimension des Menschen. Angesiedelt in deren Schnittmenge, ergeben sich zwei Untersuchungsperspektiven, die freilich nicht mit einer »Arbeitsteilung« verwechselt werden dürfen: Im ersten Fall geschieht etwas mit ihm als Objekt nach Gesetzen der Kausalität. Im zweiten Falle schafft er als Subjekt sich künstliche Umwelten, um überleben zu können. Dass dieses Überlebenwollen in humanen Kontexten möglich sei, glaubte man, aus den solidarischen Ressourcen nicht nur seiner soziokulturellen Natur, sondern auch aus den altruistischen Anlagen ableiten zu können, welche die aggressiven Seiten seiner Stammesgeschichte zumindest zu korrigieren vermögen. Insgesamt kommt die Untersuchung zu dem Schluss, dass das sozialdemokratische Projekt eines gelungenen Lebens nicht genetische Manipulation, sondern Erziehung und Bildung voraussetzt. Eine so verstandene Formung des Menschen kann ihrerseits nur unter demokratischen und liberalen Bedingungen gelingen. Der Untersuchungsgegenstand des vorliegenden Buches sind, wie bereits betont, politisch relevante wissenschaftshistorische Diskurse im Umkreis des sozialdemokratischen Lagers in den Kaiserreichen und den Ersten Republiken in Deutschland und Österreich. Um zu verdeutlichen, dass hinter jedem Argument auch eine Person steht und dass sich durch die Berücksichtigung dieses wichtigen Tatbestandes der Gebrauchswert dieser Abhandlung beträchtlich erhöht, – 13 –

Einleitung

habe ich mich entschlossen, im Anhang Kurzbiografien der wichtigsten Ideengeber und Teilnehmer an der Darwinismus-Rezeption innerhalb der deutschen und der österreichischen Sozialdemokratie vor 1933 beizufügen. Alphabetisch geordnet, konnte der Verfasser nur die wichtigsten Diskursteilnehmer berücksichtigen, sofern sie in einschlägigen bibliografischen Werken aufgeführt worden sind. Die mit einer Kurzbiografie ausgewiesenen Autoren wurden im laufenden Text und im Personenregister mit einem Asterisk (*) gekennzeichnet. Abschließend möchte ich Helga Grebing, Wolfgang Maderthaner und Klaus Faber für die kritische Lektüre des »Rohmanuskripts« der vorliegenden Untersuchung danken. Insbesondere hat Helga Grebing durch kompetente Hinweise zur Verbesserung des Textes beigetragen. Danken möchte ich aber auch den Mitarbeiterinnen der Bibliothek des Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung in Wien und der Bibliothek Stein, einer Sektion der FU-Bibliothek Berlin, für die effektive Hilfe bei der Suche nach den für das vorliegende Projekt einschlägigen Aufsätzen, Broschüren und Büchern. Mein besonderer Dank aber gebührt dem Biologen Heinz Penzlin, der mich in allen die Darwin’sche Evolutionstheorie betreffenden Fragen kompetent beraten hat. Dass sich dessen ungeachtet der Verfasser selbst zur uneingeschränkten Verantwortung für mögliche Fehler dieser Abhandlung bekennt, muss er nicht eigens betonen. Nicht zuletzt danke ich meiner Frau Ingrid Thienel-Saage, die die Entstehung dieser Studie mit kritischem und zugleich konstruktivem Interesse begleitete. Schließlich möchte ich der Hans-BöcklerStiftung in Düsseldorf, der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn, dem Renner-Institut in Wien und der Kulturabteilung der Stadt Wien für ihre großzügige finanzielle Unterstützung danken, ohne die der Druck des vorliegenden Projekts kaum zustande gekommen wäre. Berlin im Januar 2012 Richard Saage – 14 –

Teil I

Bedingungen und Strukturen sozial­ demokratischer Darwin-Rezeption

E

ines der wichtigsten Themen, die in der SPD und der SDAP vor dem Ersten Weltkrieg und in der Zeit der Ersten Repu­ bliken am intensivsten diskutiert wurden, ging aus der Frage hervor, wie sich die damals größten und am besten organisierten Arbeiterbewegungen der Welt gegenüber der Herausforderung der Evolutionstheorie (vgl. Junker/Hoßfeld 2009) positionieren sollten, die Charles Robert Darwin* in seinen Werken »Die Entstehung der Arten« (1859) (vgl. Darwin 1963) und »Die Abstammung des Menschen« (1871) (vgl. Darwin 2002) konzipiert hatte. Nicht zufällig widmete sich die sozialdemokratische Theoriezeitschrift »Die Neue Zeit« von ihren ersten bis zu ihren letzten Nummern, aber auch das austromarxistische Theorieorgan »Der Kampf« ausführlich diesem Problem. Dass die Historiografie der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in Deutschland und Österreich, die so gut wie jede Facette ihres Forschungsgegenstandes ausgeleuchtet hat, dieses Phänomen weitgehend unbeachtet ließ, wiegt umso schwerer, als einiges dafür spricht, dass das vor uns liegende 21. Jahrhundert ein »biologisches Zeitalter« werden könnte. Im Folgenden ist es nicht möglich, die Gründe für dieses historiografische Defizit ausführlich zu diskutieren. Doch eine hypothetische Vermutung sei erlaubt. Das entscheidende Hindernis ist in jenem Auseinanderdriften von Natur- und Geisteswissenschaften zu suchen, das in der These von den »zwei wissenschaftlichen Kulturen« seinen Ausdruck gefunden hat. Die hermetische gegenseitige – 17 –

Teil I

Abschottung beider Disziplinen erweist sich als Erkenntnisbarriere. Der Historiker als Geisteswissenschaftler wagt sich nicht auf das Terrain der Biologie. Aber umgekehrt interessiert sich der Kenner der Evolutionstheorie nicht für deren Rezeption im historischen Kontext einer sozialen Bewegung und politischen Partei wie der Sozialdemokratie. Eine zweite Frage drängt sich auf. Worin liegen die Ursachen der Relevanz der Evolutionstheorie für das sozialdemokratische Selbstverständnis vor 1933? Denn es erscheint keineswegs selbstverständlich, warum biologische Entwicklungsfragen für Arbeiterparteien wie die SPD und die SDAP eine so überragende Bedeutung erlangen konnten. Um dem komplexen Thema in struktureller Hinsicht einigermaßen gerecht zu werden, bietet es sich an, aus der Sicht der Sozialdemokratie in Deutschland und in Österreich zwischen externen und internen Rezeptionsbedingungen der Darwin’schen Evolutionstheorie zu unterscheiden. Was den externen Rahmen betrifft, so erreichte in keiner Region der Welt die Rezeption der Darwin’schen Evolutionstheorie eine solche Eingriffstiefe in das Gefüge ihrer soziokulturellen Superstrukturen wie im deutschsprachigen Bereich, insbesondere des Deutschen Reiches nach seiner Gründung 1870/71.1 Der Grund ist sehr einfach: Hier fielen die Rezeptionsschranken weitgehend weg, die die Akzeptanz der Evolutionstheorie zumindest behinderten. In Frankreich kam die Durchsetzung der Darwin’schen Evolutionstheorie nur schleppend voran. Auf der einen Seite hatte Lamarck* 1809 mit seiner »Philosophie zoologique« zwar eine erste in sich konsistente Version der Abstammungslehre vorgelegt. Dieser Publikation folgte 1828 die Veröffentlichung der Umbildung der Spezies, wie sie Étienne Geoffroy Saint-Hilaire* publizierte. Auf der anderen Seite wurde die Rezeption des Darwinismus in Frankreich massiv behindert durch die überragende Autorität Cuviers*, der sich massiv gegen die Evolutionslehre Lamarcks stellte. Er zog mit seiner These, die Konstanz der Arten sei die unverzichtbare Voraussetzung – 18 –

Bedingungen und Strukturen sozialdemokratischer Darwin-Rezeption

einer wissenschaftlichen Naturgeschichte, dezidiert gegen Lamarck zu Felde und behinderte dadurch zugleich auch die Rezeption der moderneren Variante Darwins erheblich. Erst nach Vorträgen Ernst Haeckels* in Paris konnte sich diese allmählich durchsetzen (vgl. Langkavel 1926, S.  306). In England waren »Die Entstehung der Arten« von Anfang an ein Erfolg: Trotz des zunächst massiven Widerstandes der anglikanischen Kirche avancierte das klassische Werk Darwins zu einem Bestseller. Dennoch erreichte in ihrem Ursprungsland die Evolutionstheorie zu keinem Zeitpunkt die Hegemonie im wissenschaftlich-kulturellen Leben wie in Deutschland. Worin sind die Gründe für diesen Tatbestand zu suchen? Eine wesentliche Ursache für die angesprochene Differenz ist ohne Zweifel die Tatsache, dass das englische Bürgertum in seinem Emanzipationskampf gegen die absolutistischen Bestrebungen der Monarchie die modernen Prinzipien der natürlichen Rechte des Individuums viel intensiver verinnerlicht hatte, als dies in Deutschland der Fall gewesen ist. So musste Karl Kautsky* zugeben, dass selbst einer der Väter des Sozialdarwinismus, Herbert Spencer*, von Rousseaus »Gesellschaftsvertrag« nicht weit entfernt sei. »Einer der angesehensten Soziologen der Gegenwart«, schreibt Karl Kautsky, »Herbert Spencer, steht heute noch in Beziehung auf die Frage der Entstehung der Gesellschaft wesentlich auf demselben Boden wie Rousseau, nur daß seine Anschauungen ein wenig durch darwinsche Einflüsse modernisiert sind« (Kautsky 1886, S.  13). Der Boden aber, von dem aus Rousseau philosophierte, war das subjektive oder moderne Naturrecht, das von Anfang an die Darwin-Rezeption, wie Kautsky richtig erkannte, mit geprägt hat.2 Tatsächlich gab es nach dem Sozialdarwinisten Herbert Spencer in der Vergesellschaftungsfrage3 nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie konstituierte freiwillige Genossenschaften auf der Basis des Vertrages oder aber sie legitimierte sich als Zwangsvereinigung auf der Grundlage des Status. »Entweder muß der Einzelne in freiwilliger Anstrengung sein Bestes thun dürfen, er muß nach seinen – 19 –

Teil I

Leistungen Erfolg oder Misserfolg hinnehmen, oder er hat einen ihm zugewiesenen Platz, arbeitet unter Zwangsbestimmungen, und bekommt seine zugeteilte Ration an Essen, Kleidung und Obdach« (Spencer 1891, S. 9). Spencer ließ nie einen Zweifel daran, dass er den Individualismus des Vertrages als gesellschaftliches Konstitutionsprinzip in weitaus größerer Übereinstimmung mit der Evolution sah als die antiindividualistische Statusgesellschaft. Demgegenüber war die Situation in Deutschland vor allem nach der gescheiterten Revolution von 1848 dadurch charakterisiert, dass die Evolutionstheorie hier ihre Wirksamkeit ohne die aufklärerischen Korrektive entfalten musste, die in England zum selbstverständlichen Bestandteil der politischen Kultur geworden waren. War hier der Sozialdarwinismus vor allem durch die Formel des individuellen Kampfes ums Dasein geprägt, der sich durchaus einer auf Vertrag basierenden Civil Society assimilieren ließ, so avancierte in Deutschland die Rasse zu dessen charakteristischem Signum.4 Man glaubte, den Nationalismus nur durch die Bekämpfung des Judentums zu seinem Recht kommen lassen zu können (vgl. Schaxel 1924, S. 488). So gesehen »macht [es] einen großen Unterschied, ob das industrielle Bürgertum des 19. Jahrhunderts auf eine Tradition der Frühaufklärung zurückgreifen konnte, um sich zu rechtfertigen, oder, wie es im deutschen Reich der Fall war, in Ermangelung einer solchen Tradition sich an eine naturwissenschaftliche Perspektive klammerte, deren Grundlage der Spätaufklärung, d. h. einem ›gesunkenen Kulturgut‹ entstammen. Dort spiegelte das innerweltliche Gesellschaftsbild den Menschen als Menschen. Es fasste ihn soziologisch. Hier glitt es als innerweltliches Geschichtsbild in Anthropologie und Biologie ab und begriff den Fortschritt des Menschen als Auswirkung seines vorgeschichtlichen Stammbaums, zoologisch und medizinisch, durchaus im Rahmen der Natur« (Plessner 1982, S. 128f ). Mag Plessners* an der deutschen Entwicklung zum Nationalsozialismus exemplifizierte Sonderwegthese auch historiogra– 20 –

Bedingungen und Strukturen sozialdemokratischer Darwin-Rezeption

fisch umstritten sein (vgl. Grebing 1974, S.  49–81), so ist doch die Fruchtbarkeit der von ihm aufgezeigten Differenz der politischen Kulturen in Deutschland und Großbritannien als Arbeitshypothese im Blick auf die Darwin-Rezeption kaum zu bestreiten. Aus marxistischer Sicht hat Anton Pannekoek* eine Erklärung angeboten, warum die Darwin’sche Evolutionstheorie in Deutschland breite Zustimmung fand, während ihre Akzeptanz in England vorwiegend auf die Scientific Community begrenzt blieb. Schon vor der Französischen Revolution hatten sich die modernen Naturwissenschaften im Rahmen der Aufklärung zu einer wichtigen ideologischen Waffe des aufsteigenden Bürgertums gegen Adel und Klerus, den gesellschaftlichen Stützen des Absolutismus, erwiesen. Dem christlichen Glauben konfrontierte es »die neu entdeckten Naturgesetze […]. Bewiesen die Ergebnisse der Naturforschung, daß die Lehren der Pfaffen nur Lug und Trug waren, so fiel damit die göttliche Autorität dieser Pfaffen, und die Heiligkeit des traditionellen angestammten Rechtes der feudalen Klassen war zerstört. Natürlich waren diese Klassen damit nicht selbst besiegt; eine materielle Gewalt kann nur durch eine materielle Gewalt gestürzt werden, aber auch geistige Waffen werden zu materiellen Machtmitteln. Deshalb legte das aufsteigende Bürgertum so hohen Wert auf die Naturwissenschaften« (Pannekoek 1909, S. 16). In England hatte sich die bürgerliche Herrschaft auf der Basis des Kompromisses zwischen Kirche und Königtum dergestalt etabliert, dass nach anfänglichen Irritationen eines anglikanischen Bischofs der Darwinismus zum Zeitpunkt des Todes seines Schöpfers fest etabliert war: Die Evolutionstheorie eignete sich wenig als geistige Waffe im bürgerlichen Klassenkampf. Anders in Deutschland. Nach der Niederlage der Revolution von 1848 schickte sich zu der Zeit, als 1859 Darwins »Die Entstehung der Arten« erschien, das liberale Bürgertum in Deutschland zu einem neuen Kampf gegen Absolutismus und Junkertum an. »Ernst Haeckel […] zog in seinem Werk ›Natürliche Schöpfungsgeschich– 21 –

Teil I

te‹ aus dem Darwinismus sofort die weitgehendsten, gegen die Religion gerichteten Konsequenzen. So fand die Darwinsche Lehre hier bald in weiten Kreisen eine begeisterte Aufnahme, der eine scharfe Bekämpfung auf der anderen Seite gegenüberstand« (Pannekoek 1909, S. 16). Aber nachdem das Bürgertum in der autoritären Politik Bismarcks in den 1860er- und 70er-Jahren die genuine Vertretung seiner materiellen Interessen ausmachen zu können glaubte, überließ sie die freiheitlichen Revolutionsideale von 1848 der Sozialdemokratie. »Der Darwinismus hatte der Bourgeoisie in ihrem Kampfe gegen die alten Gewalten vortreffliche Dienste geleistet. Es konnte daher nicht ausbleiben, daß sie ihn auch gegen einen anderen Feind, gegen das Proletariat anwandte. Nicht, weil das Proletariat etwa dem Darwinismus feindlich war, im Gegenteil: seine Vorkämpfer, die Sozialdemokraten, hatten sofort bei dem Erscheinen die Darwinsche Theorie begrüßt, weil sie darin eine Bestätigung und Ergänzung ihrer eigenen Theorie erblickten. […] Dennoch lag es im Wesen der Sache, daß die Bourgeoisie diesen Darwinismus gegen das Proletariat wandte« (Pannekoek 1909, S.  19). Dieser Angriff erfolgte auf einem Naturforscherkongress in München, als Rudolf Virchow* in seiner Rede Sozialismus und Darwinismus nicht nur gleichsetzte, sondern auch die vermeintlichen Konsequenzen einer solchen Synthese aufzeigte: Er habe angeblich dem Terror der Pariser Commune von 1871 den Weg bereitet (vgl. Teil II, S. 61). Wollten die sozialdemokratischen Intellektuellen das von ihnen antizipierte soziokulturelle und politische Profil ihrer Partei, das realiter bei der Masse ihrer Mitglieder freilich nur rudimentär verinnerlicht war, nicht preisgeben und dem wissenschaftlichen Obskurantismus das Wort reden, so mussten sie Stellung beziehen. Sie konnten den gegen sie gerichteten Terrorismusvorwurf einerseits und die biologistisch-naturalistische Darwin-Rezeption des bürgerlichen Lagers andererseits, wie sie insbesondere unter dem Einfluss Ernst Haeckels* zunehmende Verbreitung fand, nicht auf sich beruhen lassen. – 22 –

Bedingungen und Strukturen sozialdemokratischer Darwin-Rezeption

Noch ein anderer Faktor spielte bei der Aufwertung der Evolutionstheorie im sozialdemokratischen Kontext eine entscheidende Rolle. Insbesondere in Österreich machte der politische Katholizismus Front gegen alle Versuche der Lehrerschaft, die Evolutionstheorie in die Lehrpläne aufzunehmen. Gelänge dies, so hielte die Gottlosigkeit mit unabsehbaren Konsequenzen für die moralische Entwicklung der Schülerschaft Einzug in die Volksschulen. Die Begründung, einer solchen Entwicklung Einhalt zu gebieten, war charakteristisch genug: »Darwin hat mit seiner rein materialistischen Theorie die unleugbare Zweck- und Gesetzmäßigkeit in der Natur überflüssig machen wollen. Weshalb? Nun, mit der Gesetzmäßigkeit sollte eben der Gesetzgeber bei Seite geschoben werden. War es die in der ganzen Natur so auffallend hervortretende, wunderbare Gesetzmäßigkeit, die unerbittlich ein intelligentes Wesen als Gesetzgeber verlangte, und naturnotwendig schließlich zu einem höchstintelligenten Wesen zur ewigen Weisheit, zum allmächtigen Gott hinführen musste. Diesen Gott aber hatte bis dahin der Materialismus in der anorganischen Natur bekämpft, in Darwin war der langersehnte Vorkämpfer des Materialismus auf dem Gebiete der Lebewesen erschienen« (Stauracz 1897, S.  6f ).5 Die christlich-katholische Seite in Österreich schreckte in ihrem Kampf gegen die Evolutionstheorie selbst davor nicht zurück, kritische Argumente des Atheisten und Naturforschers Rudolf Virchow ins Feld zu führen, um das Paradigma Darwins zu destruieren. Virchow führte in seiner Rede vor der Naturforscher-Versammlung in Wiesbaden 1887 aus, dass der Darwinismus nichts weiter als eine Hypothese sei, die im Übrigen auf schwachen Füßen stehe. Sein Kernargument lautete, dass sich die Naturwissenschaft mit wirklichen Objekten zu befassen habe und nicht mit Spekulationen.6 »Eine Hypothese kann diskutiert werden, sie kann aber nur dadurch Bedeutung gewinnen, daß man thatsächliche Beweise gegen sie vorbringt, seien es Experimente7, seien es unmittelbare Beobachtungen. Das ist in – 23 –

Teil I

der Anthropologie dem Darwinismus bisher nicht gelungen. Wir haben vergeblich jene Zwischenglieder8 gesucht, welche den Menschen mit dem Affen direkt verbinden sollen. Der Vormensch, der eigentliche Proanthropos ist noch nicht gefunden« (zit. n. Stauracz 1897, S. 8). Der eigentliche Adressat der Kritik am Darwinismus, wie das christliche Lager sie formulierte, war aber die die Deszendenztheorie positiv rezipierende Sozialdemokratie.9 In der Polemik gegen die von der Evolutionstheorie inspirierten Ethik Herbert Spencers wies ein Jesuitenpater auf die subversiven Wirkungen einer rein biologistischen Moral hin, die »gut« und »böse« ausschließlich davon abhängig macht, in welchem Maße sie dem Leben, also der Anpassung an den Evolutionsprozess, dient. Wenn Spencer eine Arbeiterversammlung mit einer solchen Ethik konfrontierte, könne man deren Reaktion vorhersagen. »Alle Arbeiter werden ihm – und von seinem Standpunkt zu Recht – einstimmig antworten: Gibt es kein Jenseits und keine Vergeltung, dann wollen wir auch unseren gleichen Antheil am Erdenglücke haben, und wollt ihr ihn nicht willig hergeben, so brauchen wir Gewalt. Der Dolch und das Dynamit werden uns zu unserem Rechte verhelfen« (Cathrein 1885, S. 146). Zwar übersah der Jesuitenpater, dass die deutsche und die österreichische Sozialdemokratie das, was man damals unter »Anarchismus« verstand, scharf bekämpften. Doch dass nicht nur für die Parteiintelligenz, sondern auch für die Basis der Mitglieder der Darwinismus zum naturwissenschaftlich verbürgten Garanten einer besseren Zukunft aufstieg, steht auch außer Frage.10 Wie sozialdemokratische Autoren ungerechtfertigte Kritik aus dem christlichen Lager an der Evolutionstheorie zurückwiesen, so setzten sie sich generell vehement gegen die Bevormundung der Evolutionsforschung durch kirchliche Reglementierung ein. Als an der Universität Innsbruck unter dem Biologen Wilhelm Roux* Ex– 24 –

Bedingungen und Strukturen sozialdemokratischer Darwin-Rezeption

perimente unternommen wurden, die den Beweis erbrachten, dass organisches Leben durch technische Eingriffe manipulierbar ist, stießen sie auf die vehemente Ablehnung des konservativen Lagers. Es bezichtigte die Biologen, die Weisheit Gottes zu negieren, weil sie »mit ihren plumpen Händen […] Leben und seine lebendigen Formen […] nach ihrem Willen formen« ( Jacobi 1895, S. 81) wollten. Am Beispiel einer Reihe gelungener Experimente sei, so der Autor, die biologische Forschung in der Lage, »den Organismus im Keime nach unserem Willen zu verändern, ja weiter noch, neue organische Formen entstehen zu lassen« ( Jacobi 1895, S. 84). Offenbar handelt es sich hier um Vorformen des »Human Enhancement«, über dessen Pro und Contra die Geister bis auf den heutigen Tag streiten. Doch was der der Sozialdemokratie zugeneigte Autor als wissenschaftliche Großtat feierte, veranlasste einen österreichischen Politiker wie Rintelen aus religiösen Gründen zu der Forderung, Experimente dieser Art gesetzlich zu verbieten. Ein anderes Beispiel für die Abkehr vom christlichen Menschenbild ist ein Artikel der »Neuen Zeit« unter dem Titel »Pithecanthropus erectus«. Ausgangspunkt ist die Entdeckung von Knochen durch den holländischen Militärarzt Eugen Dubois 1894 auf Java, die dieser als Überreste eines evolutionären Zwischengliedes zwischen Mensch und Anthropoide identifizieren zu können glaubte. Zwar kommt der Verfasser zu dem Schluss, dass es sich – entgegen der Meinung Dubois’ – um Menschenknochen handele. Aber diese Feststellung sei noch lange kein Grund, darin eine Widerlegung der Darwin’schen Evolutionstheorie zu sehen. Warum man eine solche Beweisführung dennoch versuche, sei evident: »Nur beim Menschen schlägt man plötzlich daraus Kapital und bauscht den ganz bedeutungslosen Zufall zu einer Haupt- und Staatsaktion auf, nur darum, weil die Gläubigen um jeden Preis nach dem Ebenbild Gottes geschaffen sein wollen, weil sie es unter ihrer Würde halten, mit den gemeinen Tieren etwas zu tun zu haben« ( Jacobi 1895, S. 314). – 25 –

Teil I

Nicht zufällig stellte Engelbert Graf * seiner Schulungsbroschüre mit dem Titel »Stammt der Mensch vom Affen ab?«, die an die sozialdemokratische Jugend gerichtet war, ein Motto Karl Kautskys voran: »Das Proletariat mit Wissen zu füllen, das Monopol der besitzenden Klassen auf Wissen zu brechen, ist ebenso wichtig wie das Brechen des Monopols der Kapitalisten auf den Besitz der Staatsgewalt und der Produktionsmittel. Nur ein Proletariat, das brennender Durst nach Wissen erfüllt, wird seiner großen historischen Aufgabe gewachsen sein« (zit. n. Graf 1922, S. 2). In der Sozialdemokratie wurde der Darwinismus als eine wissenschaftliche Großtat gefeiert, die die Emanzipation von klerikaler und kirchlicher Bevormundung versprach. In der erwähnten Broschüre heißt es: »[…] hier kämpfen zwei Welten miteinander, die Welt der Gegenwart voller Zukunftshoffnungen und Zukunftsforderungen, und jene, die unseren Geist und unsere Sinne in die Dogmenfesseln der Vergangenheit zwingen möchte. Und der Welt der Vergangenheit stehen zu diesem Zweck die Machtmittel von Staat, Schule und Kirche zur Verfügung. Streng und sorglich wird das Wissen, das man den breiten Schichten des Volkes gnädig gönnt, von dem abgesondert, was zwar die Wissenschaft schon zu den sicheren Beständen der Forschung zählen kann, was jedoch der Kirche und den Machthabern gefährlich werden könnte. ›Dem Volke muss die Religion erhalten werden.‹ Und weil die Arbeit der Forscher und ihre Ergebnisse vor den Laien vielfach gehütet werden, gelingt es den Dunkelmännern immer noch allzu gut, den Blick der Unaufgeklärten zu trüben oder abzulenken. Auch heute noch, 1922« (Graf 1922, S. 3). Tatsächlich spricht die große Zahl der populärwissenschaftlich gehaltenen Broschüren dafür, dass neben der Einführung in den Marxismus die Darwin’sche Deszendenztheorie ein bevorzugter Schwerpunkt der sozialdemokratischen Schulung ihrer Mitglieder war. So berichtet 1903 Wilhelm Bölsche* in »Die Neue Zeit« »von der wunderbaren Anteilnahme«, die sich »bei der sozialdemokrati– 26 –

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schen Arbeiterschaft für darwinistische Probleme zeigte. Ich lernte das kennen bei den Vorträgen über Entwicklungslehre, die ich Jahre hindurch in Berliner Arbeitervereinen selber gehalten habe, vor ungezählten Massen immer neuer Zuhörer und immer vor dem gleichen und aufmerksamen Publikum« (Bölsche 1903, S.  430).11 Exemplarisch für die popularisierende Verbreitung der Deszendenztheorie in den Reihen der Industriearbeiterschaft ist die Schrift von Emanuel Wurm* »Die Naturerkenntnis im Lichte des Darwinismus«. 1887 zuerst und 1889 in zweiter Auflage erschienen, besteht sie aus vier Vorträgen, die der Verfasser im Verein für Volksbildung in Dresden hielt. Angesichts der Tatsache, dass die Lehrpläne von den Volksschulen bis zu den Gymnasien die Unterrichtung der Schülerinnen und Schüler über die Darwin’sche Evolutionstheorie verweigerten, sah der Verfasser seinen volkspädagogischen Auftrag darin, »die an Fremdworten überreiche Gelehrtensprache in unser ›geliebtes Deutsch‹ zu übersetzen, denn für die breiten Massen des Volkes soll dieses Buch geschrieben sein, um ihnen zu zeigen, wie auf naturwissenschaftlichem Gebiet die neue Zeit schon hereingebrochen ist, welche auf volkswirtschaftlichem noch so sehnlich erwartet wird« (Wurm 1889, Vorwort zur ersten Auflage). Dass der Verfasser in seinem populärwissenschaftlichen Versuch unmittelbar an die Diskussionen in der »Neuen Zeit« anknüpft, wird deutlich, wenn er mit wichtigen Zitaten unmittelbar auf die Arbeiten von Edward Aveling* (vgl. Wurm 1889, S.  64) und Arnold Dodel-Port* (vgl. Wurm 1889, S.  51, 61–63, 84f, 89f ) eingeht, die regelmäßig in dieser Zeitschrift über den Stand der wissenschaftlichen Diskussion sowohl der Deszendenz- als auch der Selektionstheorie Darwins berichteten. Im ersten Kapitel informiert Wurm die Leser über die antiken Vorläufer des Entwicklungsgedankens (Anaxagoras, Aristoteles und Dioskorides) sowie den Emanzipationskampf der modernen Natur– 27 –

Teil I

wissenschaften gegen die katholische Kirche seit der Frühen Neuzeit und den von ihr vertretenen dogmatisierten Aristotelismus in der Naturphilosophie. Er zeigt, wie zum Teil unter großen Opfern die Heroen des aufkommenden naturwissenschaftlichen Zeitalters von Nikolaus von Cusa und Giordano Bruno über Bacon, Kopernikus und Tycho Brache bis hin zu Kepler, Galilei und Newton Schritt für Schritt das dogmatisierte Prinzip der Teleologie durch das empirieorientierte Kausalitätsparadigma ersetzten. Das letzte Glied in der Kette dieser intellektuellen Leuchttürme einer neuen Zeit ist dem Autor zufolge Charles Robert Darwin, als er 1859 seine »Entstehung der Arten« veröffentlichte (Wurm 1889, S.  4–38). Im zweiten Teil unterrichtet der Autor seine Leser über die Darwin’schen Theorien, wie sie dem Forschungsstand seiner Zeit entsprachen. Er hebt hervor, dass Darwin sich neben antiken Schriftstellern in seiner eigenen Epoche vor allem auf Lamarck als Vordenker beziehen konnte. Aber den Durchbruch des evolutionären Paradigmas erreichte er dadurch, dass er die Teleologie der Entwicklung konsequent durch das Kausalitätsprinzip ersetzte: Erst jetzt hatte die Biologie eine wirkliche gemeinsame Schnittmenge mit den modernen Naturwissenschaften, die den vier Prämissen der Evolutionstheorie zum eigentlichen Durchbruch verhalfen: dem Gesetz der Vererbung, dem Gesetz der Anpassung, dem Gesetz der natürlichen Zuchtwahl als Kampf ums Dasein und schließlich dem Gesetz der geschlechtlichen Zuchtwahl (Wurm 1889, S. 39–66). In den letzten beiden Kapiteln macht der Autor seine Leser mit der Abstammung des Menschen (vgl. Wurm 1889, S.  67–120) und dem vorgeschichtlichen Menschen (vgl. Wurm 1889, S.  121–170) vertraut. Dem Stand der damaligen Darwinismusforschung entsprechend, folgt er zwar Ernst Haeckel insofern, als er die Embryologie, der zufolge der werdende Mensch im Uterus alle Stadien der Evolution durchlaufen muss (Wurm 1889, S. 115), als Beweis für die Herkunft des Menschen aus dem Tierreich akzeptiert. Auch re– 28 –

Bedingungen und Strukturen sozialdemokratischer Darwin-Rezeption

zipiert er zustimmend Haeckels Stammbaumtheorie, nach welcher der Mensch sich – im Vergleich zur Tier- und Pflanzenwelt – zu immer größeren Höhen der Entwicklung aufschwingt, bis er die Spitze der Hierarchie des Lebens erreicht hat. Doch diese vom Autor verschwiegene Teleologie modifiziert er durchaus im Sinne sozialdemokratischer Intentionen insofern, als von ihr nicht eine kleine Elite, sondern die Gesamtheit der arbeitenden Menschen profitiert. Diese Wahrscheinlichkeit deduziert er aus der Tatsache, dass die Menschen sich durch ihre eigene Tätigkeit, durch ihre Arbeit und die durch sie ermöglichten Artefakte von den Werkzeugen bis zur Kunst, zunehmend von ihren biologischen Zwängen befreien.12 »Gerade die Lehre Darwins, sagt man, zeige, daß der Kampf ums Dasein ein ewiges Naturgesetz sei und nie enden werde, so lange die Erde ihren Lauf durch das Weltall nimmt. Ist dies eine unbestreitbare Schlussfolgerung der darwinistischen Naturerkenntnis? Oder führt nicht der Mensch seit seinem Bestehen einen Kampf gegen diesen Kampf ums Dasein? Hat er nicht Gesellschaftsverbände gebildet, um den gemeinsamen Feind zu bekämpfen – die zerstörenden Kräfte der Natur? Und wer möchte bestreiten, daß der Mensch seit der Steinzeit großartige Siege über diesen Gegner errang? So aber wird auch der fernere Kampf siegreich sein, der Kampf gegen die zerstörenden Kräfte des Menschen!« (Wurm 1889, S. 168f ) Dem Ansehen der Deszendenztheorie im sozialdemokratischen Lager kamen freilich interne Rezeptionsbedingungen durchaus zu Hilfe. Bekanntlich war für die SPD eine der großen Zäsuren in ihrer Geschichte das Erfurter Programm (Münkel 2007, S. 371–374) von 1891 und für die SDAP das Wiener Programm (Bechtold 1967, S.  145–148) von 1902: Sie signalisierten im sozialdemokratischen Selbstverständnis die Wende zum Marxismus, wie er insbesondere von Karl Kautsky und der Zweiten Internationale geprägt worden ist. Von diesem Zeitpunkt an war klar, dass die Sozialdemokratie zwar nicht in allen politischen bzw. taktischen und strategischen – 29 –

Teil I

Detailfragen Positionen vertrat, die sich in jedem Fall eins zu eins auf einschlägige Schriften von Marx* und Engels* beziehen konnten. Doch als analytisches Instrumentarium des soziopolitischen Handlungsspielraums sowie als Orientierungswissen und Legitimationsrahmen der Interpretation der Entwicklungslinien der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft in Vergangenheit und Zukunft wurde das von Marx und Engels konzipierte Theoriegebäude hegemonial. Die Art und Weise, wie die Väter des sogenannten Historischen Materialismus und der »Kritik der politischen Ökonomie« auf die in der wissenschaftlichen Welt als Revolution empfundenen Thesen Darwins zur Evolution der organischen Welt reagierten, musste also nachhaltig auch auf die sozialdemokratische Rezeption der Evolutionstheorie einwirken. 1896, ein Jahr nach Friedrich Engels Tod, veröffentlichte »Die Neue Zeit« zu Ehren des »großen Lehrers und treuen Beraters der Sozialdemokratie aller Länder«, so das redaktionelle Vorwort (Neue Zeit 1896, S. 545), einen nachgelassenen Text von Engels mit dem Titel »Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen« (Engels 1896, S. 545–554). In diesem Aufsatz lässt der Autor keinen Zweifel daran, dass er mit der Rekonstruktion der Naturgeschichte des Menschen auf dem Boden der Darwin’schen Evolutionstheorie sympathisiert. Darwin, so schreibt Engels, habe »uns eine annähernde Beschreibung dieser unserer Vorfahren gegeben« (Engels 1896, S. 546). Ferner erwähnt Engels zustimmend Darwins »Gesetz der Korrelation des Wachstums«. Nach ihm sind »bestimmte Formen einzelner Teile eines organischen Wesens stets an gewisse Formen anderer Teile geknüpft, die scheinbar gar keinen Zusammenhang mit jenen haben« (Engels 1896, S. 546). Vor allem aber wendete er sich in Übereinstimmung mit Darwin gegen den idealistischen Dualismus von Leib und Seele bzw. von Geist und Materie, »wie sie seit dem Verfall des klassischen Altertums in Europa aufgekommen und im Christentum ihre höchste Ausbildung erhalten hat« – 30 –

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(Engels 1896, S.  552). Ausdrücklich lobt Engels Darwin, der »der metaphysischen Naturauffassung den gewaltigsten Todesstoß versetzt hat durch seinen Nachweis, daß die ganze heutige organische Natur, Pflanzen und Tiere und damit auch der Mensch, das Produkt eines durch Millionen Jahre fortgesetzten Entwicklungsprozesses ist« (Engels 1962d, S. 205). Der Berliner Privatdozent Eugen Dühring* warf Darwins »Entstehung der Arten« nicht nur »Scharlatanerie mit ihren leichtfertigen Oberflächlichkeiten und sozusagen wissenschaftlichen Mystifikationen« (zit. n. Engels 1962b, S. 62) vor. Darüber hinaus kritisierte er Darwin, dieser habe die Malthus’sche Bevölkerungstheorie direkt aus der Ökonomie auf die Naturwissenschaft übertragen. In den Vorstellungen des Tierzüchters befangen, treibe er mit dem Kampf ums Dasein »Halbpoesie«. Ziehe man das, was Darwin Lamarck entlehnt habe, ab, so bleibe von dessen Deszendenztheorie nichts weiter als »ein Stück gegen die Humanität gekehrte Brutalität« (Engels 1962b, S.  62) zurück. Engels nahm gegen diese Anwürfe Darwins Evolutionstheorie vehement in Schutz. Nach einer kompetenten Wiedergabe wesentlicher Strukturelemente ihres Paradigmas kam er zu dem – gegen Dührings Kritik gerichteten – Schluss, dass es Darwin gar nicht darum gehe, den Ursprung des Kampfes ums Dasein bei Malthus* zu suchen. »Er sagt nur: seine Theorie vom Kampf ums Dasein sei die Theorie von Malthus, angewendet auf die ganze tierische und pflanzliche Welt« (Engels 1962b, S. 64). Empirisch gesehen hätte Darwin gar nicht die Malthus-Brille aufsetzen müssen, »um den Kampf ums Dasein in der Natur wahrzunehmen – den Widerspruch zwischen der zahllosen Menge von Keimen, die die Natur verschwenderisch erzeugt, und der geringen Anzahl von ihnen, die überhaupt zur Reife kommen können; einen Widerspruch, der sich in der Tat größten Teils in einem stellenweise äußerst grausamen Kampf ums Dasein löst« (Engels 1962b, S. 64). Dührings moralische Beurteilung des Kampfes ums Dasein sei in – 31 –

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dem Maße kontrafaktisch, wie sich dieser der Sache nach nicht nur in der Tierwelt, sondern auch unter Pflanzen abspiele, wie jede Wiese, jedes Kornfeld und jeder Wald beweise (Engels 1862b, S. 65). Auch könne Darwin das bleibende Verdienst für sich reklamieren, den Anstoß für Untersuchungen der Ursachen der Verwandlung und der Differenz der Arten gegeben zu haben. Zahlreiche zustimmende Kommentare von Marx zu Darwins Entwicklungstheorie dürfen in diesem Zusammenhang nicht verschwiegen werden (vgl. hierzu auch Künzli 2001, S. 34–36). Darwin habe, so bemerkte Marx im Ersten Band von »Das Kapital«, »das Interesse auf die Geschichte der natürlichen Technologie gelenkt, d.  h. auf die Bildung der Pflanzen- und Tierorgane als Produktionsinstrumente für das Leben der Pflanzen und Tiere. Verdient die Bildungsgeschichte der produktiven Organe des Gesellschaftsmenschen, der materiellen Basis jeder besonderen Gesellschaftsorganisation, nicht gleiche Aufmerksamkeit? Und wäre sie nicht leichter zu liefern, da, wie Vico sagt, die Menschengeschichte sich dadurch von der Naturgeschichte unterscheidet, daß wir die eine gemacht und die andere nicht gemacht haben?« (Marx 1969, S. 392f, FN 89). Und Engels betonte in der englischen Übersetzung des »Kommunistischen Manifests«, dass Marx’ authentische Idee, in der Geschichte die Geschichte der Klassenkämpfe zu sehen, für die Geschichtswissenschaft den gleichen Fortschritt begründete »wie den Darwins für die Naturwissenschaft« (Engels 1951, S.  21). Nehmen wir noch weitere zustimmende Kommentare hinzu13, so kann kein Zweifel daran bestehen, dass diese beiden Vordenker der internationalen Sozialdemokratie vor dem Ersten Weltkrieg auf dem Boden der Naturgeschichte des organischen Lebens standen, wie Darwin sie in seinen beiden erwähnten Schriften entfaltet hatte. Ein Aufsatz Edward Avelings in der »Neuen Zeit« unterrichtet uns darüber, dass Marx in den Vorlesungen des großen Popularisators und Vorkämpfers der Darwin’schen Evolutionstheorie, Thomas Henry – 32 –

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Huxley*, gesessen habe (vgl. Aveling 1896, S. 89). Aus einem gleichfalls in der »Neuen Zeit« erschienenen Artikel erfahren wir, dass er nicht nur die wichtigsten Werke Darwins gelesen, sondern ihm darüber hinaus 1873 die zweite Auflage des Ersten Bandes von »Das Kapital« zugesandt habe (vgl. Aveling 1897, S. 753). Aber die Leser der »Neuen Zeit« werden auch über die Vorläufer des Darwinismus unterrichtet. So heißt es in einem Artikel von Gustav Eckstein*: »Heute gilt Lamarck neben Darwin als der Begründer der Deszendenztheorie, ohne die wir uns eine wissenschaftliche Biologie nicht mehr vorstellen können« (Eckstein 1910, S. 418). Die deutsche und die österreichische Sozialdemokratie sind Marx und Engels, wie noch zu zeigen sein wird, in der Anerkennung der Evolutionstheorie als einer wissenschaftlichen Großtat des 19. Jahrhunderts gefolgt. Selbst die mehr revisionistisch eingestellten »Sozialistischen Monatshefte« berichteten regelmäßig über den innerwissenschaftlichen Stand der evolutionsbiologischen Diskussion. Rezensenten wie Curt Grottewitz* (vgl. Grottewitz 1901, S. 66–68), Hans Haustein (vgl. Haustein 1925, S. 508–510; Haustein 1927, S. 488–491; Haustein 1930, S. 1161–1163), Max Hodann (vgl. Hodann 1928, S. 530–531,) Adolf Koelsch (vgl. Koelsch 1917, S. 745–747; Koelsch 1919, S.  352–354; Koelsch 1919a, S.  488–489; Koelsch 1921, S.  1161–1163) und Walter Zimmermann (vgl. Zimmermann 1922, S. 365–367) setzten sich zum Teil sehr kritisch mit neuen Büchern über die Weiterentwicklung der Deszendenztheorie auseinander. Die Wertschätzung, die Darwins Evolutionstheorie in den Kreisen sozialdemokratischer Intellektueller genoss, schlug sich nieder in einem groß angelegten Nachruf auf sein Leben, seine Werke und die Wirkungsgeschichte seiner Evolutionstheorie. Bereits in der ersten Nummer der »Neuen Zeit« veröffentlicht, feierte der Biologe Arnold Dodel-Port Darwin als eine wissenschaftliche Koryphäe, die selbst eine Größe wie Alexander von Humboldt überragte. »Seit Alexander von Humboldt ins Grab gestiegen, stand Darwin an na– 33 –

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turwissenschaftlicher Vielseitigkeit und universalen Kenntnissen unerreicht da. Sie beide, Humboldt und Darwin, waren in mancherlei Wissenschaften gleich gut zu Hause: keiner von ihnen war Spezialist im Sinne der modernen wissenschaftlichen Arbeitsteilung. Humboldt war sozusagen eine lebende Enzyklopädie, die überall Bescheid wusste; Darwin war es nicht minder: er umfasste mit seinem Wissen fast alle Zweige der biologischen Forschung und besaß die Wundergabe, an jede der mancherlei Disziplinen jene Fragen zu stellen, welche vor ihm noch nie beantwortet wurden und nach seiner Überzeugung doch zu beantworten möglich sein mussten« (Dodel-Port 1883, S. 111). Darwin bereicherte mit seiner Evolutionstheorie die Geologie und Mineralogie, die Paläontologie, Botanik und Zoologie, die Ethnografie und Anthropologie, die Physiologie der Pflanzen- und Tierwelt sowie die Psychologie.14 Es sei sein Verdienst gewesen, in der Vielzahl der Erscheinungen immer auch die Einheit zu sehen. »Er ist der erste, der nachzuweisen verstand, dass alles Lebende nicht ein Vollendetes, ein Dauerndes, Bleibendes und Unveränderliches, sondern ein Werdendes, ein in Entwicklung Begriffenes, Fortschreitendes ist« (Dodel-Port 1883, S. 112). Der Darwin-Aufsatz von Arnold Dodel-Port ist aber nicht nur als Dokument der Wertschätzung der wissenschaftlichen Leistung Darwins in der SPD der Kaiserzeit bemerkenswert. Er wirft auch ein charakteristisches Licht auf Teilaspekte des sozialdemokratischen Verständnisses der Evolutionstheorie selbst. Neben den bis heute unstrittigen Elementen ihres Musters wie Varietäten und richtunggebende Selektion und daraus folgende Anpassung als Movens des Kampfes ums Dasein, die der Statik feststehender Arten den Boden entziehen, wird zwar die Natur »als unbewusstes und ohne Zweck schaffendes Ganzes« (Dodel-Port 1883, S. 115) gekennzeichnet. Doch verlässt der Autor wieder den Pfad der Kausalität, wenn an deren Stelle von »Beweisen für den genetischen Zusammenhang zwischen Höherem und Niedrigerem« (Dodel-Port 1883, – 34 –

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S.  115) in der organischen Natur die Rede ist. Offenbar folgte der Autor Ernst Haeckels Interpretation, wonach die Evolution ein klar definiertes Ziel in der Entstehung der Vollkommenheit des Menschen hat. Tatsächlich illustrierte Haeckel 1874 die Evolution in Gestalt eines Stammbaumes, an dessen Spitze der vermeintlich am höchsten entwickelte Mensch stand (Mikschi 2010, S. 101). Entsprechend heißt es bei Dodel-Port: »Kein Naturforscher darwinistischer Gesinnung leugnet, daß der Mensch aus einem niederen Wesen allmählich – im Verlauf zahlreicher Generationen – zum Menschen geworden ist kraft des Überhandnehmens seiner geistigen Anlagen bei gleichzeitigem Rückgang der rohen Körperkraft. Wenn aber die langsame Entwicklung aus tierischen Anfängen zum barbarischen Urmenschen und von diesem hinwieder in geschichtlicher Zeit zum wirklichen Kulturmenschen, wie er heute vor uns steht, unter dem Korrektiv des ethischen und intellektuellen Vermögens vor sich gegangen ist: so liegt die Richtung der Weiterentwicklung auch für die Zukunft scharf vorgezeichnet vor uns. Unser Geschlecht wird eher vom Erdball verschwinden, als in einer anderen denn idealen Richtung sich weiter entwickeln« (Dodel-Port 1883, S. 118). Niemand hat unter politisch-legitimatorischen Vorzeichen die These des »naturnotwendigen« Fortschritts der Gesellschaft in Richtung auf den Sozialismus im Kaiserreich folgenreicher vertreten als Karl Kautsky. Er bekannte im Vorwort zur dritten Auflage seines Buches »Vermehrung und Entwicklung in Natur und Gesellschaft«: »Früher noch als zum Marxismus war ich zum Darwinismus gekommen, ihn studierte ich mit Feuereifer, als ich Marx noch kühl, ja ablehnend gegenüberstand« (Kautsky 1921a, S.  V ). Doch worin besteht die gemeinsame Schnittmenge von Kautskys Marxismus und der Darwin’schen Evolutionstheorie? Der Schlüssel zur Beantwortung dieser Frage ist in Kautskys Zurückführung der »steten Entwicklung zu immer höheren, das heißt komplizierteren Organismen« auf rein mechanische Veränderungen zu suchen, »die – 35 –

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an und in unserem Erdball vor sich gingen« (Kautsky 1921a, S. 54). Unter dieser Voraussetzung bestehe »alle Einheitlichkeit zwischen Entwicklungslehre und Marxismus« darin, dass sich »die Entwicklung der Ideen der Menschen wie die der Organismen im allgemeinen in gleicher Weise durch Anpassung an die wechselnden materiellen, das heißt äußeren Bedingungen ihres Lebens« (Kautsky 1921a, S. 54f ) vollziehe. Die materialistische Geschichtsauffassung bezeuge ebenso wie die Entwicklungslehre für ihre Gebiete, nämlich die menschliche Gesellschaft und die Ideen der Menschen auf der einen und die Organisation der Organismen auf der anderen Seite, lediglich, »was allgemeines Gesetz der gesamten Welt ist, auch der anorganischen. Die Formen eines jeden Körpers werden durch die Bedingungen seiner Umgebung bestimmt« (Kautsky 1921a, S. 55). Dem vor dem Ersten Weltkrieg hegemonialen naturwissenschaftlichen Weltbild verhaftet, geht Kautsky in seiner Analogisierung zwischen Historischem Materialismus und Darwin’scher Deszendenztheorie so weit, dass er die Behauptung wagt, revolutionäre Umwälzungen und Epochen des Stillstandes bzw. der Stagnation in der Gesellschaft seien von denen in der Natur nicht zu unterscheiden: »Und so wie in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft haben wir dann auch in der organischen Welt Perioden rascher Umwandlung zu unterscheiden und Perioden des Stillstandes, des Gleichgewichts; revolutionäre und konservative Perioden. In den ersteren wird die Anpassung der Organismen an neue Verhältnisse das wichtigste Moment, werden die Organismen plastisch« (Kautsky 1921a, S. 55). Wir werden später sehen, dass sich Kautskys Immediatverhältnis zur Evolutionstheorie nur im Blick auf seine Analyse der Transformation vom Kapitalismus zum Sozialismus ausmachen lässt, während er sich in seiner Gesellschaftsanalyse im engeren Sinne marxistischer Kategorien bedient. Tatsächlich erscheint in diesem Licht die Differenz zwischen dem Untersuchungsfeld des Marxis– 36 –

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mus und dem des Darwinismus als eine bloß formale: Der Marxismus beschäftigt sich mit der historischen Genesis der bürgerlichen Gesellschaft und ihren Akkumulations-, Ausbeutungs- und Reproduktionsmechanismen. Der Darwinismus dagegen hat es mit der Evolution der organischen Natur zu tun, deren Resultate der Marxist Kautsky unwidersprochen akzeptiert. So wiederholt er die berühmte Darwin’sche Hypothese, wir hätten alle Ursache anzunehmen, »daß der Mensch von einem affenartigen Vorfahren abstammt, der vorwiegend auf Bäumen in tropischen Urwäldern lebte« (Kautsky 1921a, S. 79). Immer wieder beruft sich Kautsky auf Darwin als wissenschaftliche Autorität in biologischen Fragen bzw. Sachverhalten. So hebt er dessen Beobachtung der Anpassung des Organismus an neue Verhältnisse und dessen Plastizität (Kautsky 1921a, S. 55) hervor. Darwins Feststellungen des engen Zusammenhanges der Organismen (Kautsky 1921a, S.  101ff ) zitiert er ebenso wie die von ihm konstatierten Störungen des Gleichgewichts in der Natur (Kautsky 1921a, S. 104). Und nicht zuletzt bezieht er sich auf Darwin, wenn es um die Schädlichkeit der Inzucht geht (Kautsky 1921a, S. 159, 165) und um die Übertragung der Malthus’schen Lehre auf die organische Natur (Kautsky 1921a, S. 18). In seinen politischen Konsequenzen war der Darwinismus also für manche Sozialdemokraten die naturwissenschaftliche Fundierung des Fortschrittsgedankens. Diese Interpretation übersah, dass die Evolution nicht zwangsläufig Höherentwicklung bedeutet und dass Anpassungen auch durch Vereinfachungen ermöglicht werden, wie das Überleben vieler Parasiten durch Reduktion von Merkmalen ihrer Vorfahren zeigt. Dennoch wurde in der politischen Auswirkung diese Interpretation zu einer mächtigen Schubkraft des sozialdemokratischen Fortschrittsoptimismus, dessen Schattenseite freilich eine Tendenz zu einem geschichtsphilosophischen Attentismus war. In ihrem Windschatten, so lautete die Überzeugung, entwickle sich die »natürliche Zuchtwahl im Kampf um die Exis– 37 –

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tenz […] innerhalb unseres Geschlechts in anderer als in brutaler, rohkräftiger Weise […]. Was Darwin die ›sozialen‹ Instinkte der Tiere und unkultivierten Menschenrassen nannte, das wird beim Kulturmenschen nicht ›Instinkt‹, sondern Ausfluß eines klaren Bewusstseins werden. Die Moral, der Idealismus des darwinistischen Zeitalters hat durch Darwin nicht verloren, sondern im Gegenteil gewonnen. Wer den Darwinismus anders verstanden hat, der hat ihn missverstanden« (Dodel-Port 1883, S. 118). Dies vorausgesetzt, so die Erwartung, mutiere der Krieg bei fortschreitender gesellschaftlicher Entwicklung in evolutionären Bahnen zur Selbstnegation, weil seine Fürsprecher »das Gegenteil von dem lehrten, was die Natur und was die Gärtner und Tierzüchter anderswo taten und noch tun, um Rassen zu veredeln und künftige Generationen zu kräftigen« (Dodel-Port 1883, S. 118). Allerdings war die teleologische Interpretation der Evolutionstheorie im Sinne von Ernst Haeckel im sozialdemokratischen Diskurs nicht unumstritten. 1874 illustrierte, wie schon hervorgehoben, der Jenaer Biologe den Evolutionsgedanken in Form eines Stammbaums. In dessen Wipfel positionierte er den Menschen als das vermeintlich am höchsten entwickelte Lebewesen. Damit hatte die christliche Interpretation, die im Menschen die »Krone der Schöpfung« sah, ihre Bestätigung gefunden, jetzt aber nicht belegt durch die biblische Genesis, sondern durch Darwins Evolutionstheorie. 1902 veröffentlichte »Die Neue Zeit« zwei Aufsätze von Curt Grottewitz, die Sturm liefen gegen Haeckels teleologischen Anthropozentrismus. »Haeckel stellte einen festen Stammbaum auf, in dem er allen Tierarten einen Platz anwies. Und an die Spitze stellte er den Menschen. Also wieder den Menschen. Auch bei Haeckel kehrt demnach der anthropozentrische Standpunkt noch einmal wieder, vielleicht nun bald zum letzten Male« (Grottewitz 1902, S. 507). Niemand könne leugnen, dass der Mensch kraft seiner geistigen Fähigkeiten einen großen Teil der Erde beherrsche. Zwar – 38 –

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übertreffe die Langlebigkeit mancher Pflanzen und Tiere die des Menschen ebenso wie ihre Verbreitung auf der Erde, ihre physische Kraft und die Expansionsfähigkeit mancher Bakterien. Gleichwohl habe der Mensch infolge seiner geistigen Fähigkeiten Netze von Kommunikations- und Machtfäden über die Erde gespannt, »daß ihm wirklich der Herrschertitel gebührt. Ohne Zweifel nimmt der Mensch im Gegensatz zum Tier eine ganz exzeptionelle Stellung ein« (Grottewitz 1902, S. 508). Aber es sei etwas qualitativ anderes, einerseits die höchsten geistigen Fähigkeiten und Herrschermacht zu besitzen und sich andererseits an die Spitze des Stammbaums zu setzen. Eine solche Hybris sei schlicht Ausfluss menschlicher Selbstüberschätzung. Im Übrigen kranke eine solche Konstruktion daran, dass eine von den Urtieren an stetige und über die heutigen Tierkreise führende Aufwärtsentwicklung in den Säugetieren, die schließlich im Menschen gipfle, eine einzige Grundform voraussetze, die es nicht gebe. Auch könnten wir nicht wissen, von welchem Ast des Stammbaums wir die höchste Tiergruppe ableiten sollen. »Es kann ein ganz oben stehender Ast plötzlich verdorren und es kann sich andererseits ein Ast, der weiter unten am Stammbaum entspringt, so verzweigen und dadurch so hoch wachsen, daß er jüngere und höhere Äste überragt. Hohe Fähigkeit zu entwickeln, ist eben etwas ganz anderes als an der Spitze des Stammbaums stehen« (Grottewitz 1902, S. 510). Auch unter den Säugetieren könne der Mensch nicht einen Spitzenplatz in der Hierarchie des Stammbaumes beanspruchen. »So darf man auch nicht denken, daß der geistig so außerordentlich überlegene Mensch das letzte und oberste Glied der Tierentwicklung darstellt. Wir haben uns ja das tierische System nicht als eine gerade aufsteigende Entwicklungslinie, auch nicht als einen Stammbaum zu denken, sondern als mehrere parallel miteinander verlaufende Stöcke eines Busches. Nach allem, was wir bisher wissen, haben wir jedenfalls nicht das Recht, den Menschen als Spitzentrieb des tierischen – 39 –

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Stammbaums anzusehen« (Grottewitz 1902, S. 832). Man wird also sagen können, dass der sozialdemokratische Diskurs über die Evolutionstheorie ergebnisoffen geführt wurde. Ihrer teleologischen Interpretation standen von Anfang an Auslegungen gegenüber, die offensiv den innovatorischen Kern des Darwin’schen Ansatzes he­ rausstellten: das Prinzip der Kausalität, wonach die Evolution blind, d. h. ohne vorgegebenes Ziel, verläuft. Kein Geringerer als August Bebel* sprach sich unzweideutig dafür aus, dass die Auseinandersetzung mit Marx und Engels einerseits und Darwins Lehren andererseits ohne dogmatische Festlegungen geführt werden müsse. »Daß die Lehren und Auffassungen von Marx und Engels kein noli me tangere sind, keine Dogmen, die für ewige Zeiten festliegen, ist allseitig anerkannt, um noch ein Wort darüber zu verlieren; sie dürften durch die gesellschaftliche Entwicklung, die in ihren einzelnen Phasen der scharfsichtigste Seher nicht voraussagen kann, modifiziert werden, aber sie bleiben in der Hauptsache die feste Grundlage, von der aus wir weiter streben, genau wie dies bisher den Lehren Darwins ergangen ist« (Bebel 1899, S. 487). In der Tat: Die Redaktionen der sozialdemokratischen Monatsschriften »Die Neue Zeit« und »Der Kampf« bemühten sich, so authentisch wie möglich den Stand der Diskussion über die Darwin’sche Evolutionstheorie ihren Lesern zugänglich zu machen. Sie druckten Beiträge ab, welche die damaligen Schwierigkeiten dokumentierten, in welche die Evolutionstheorie geraten war, weil Darwin keine Erklärung dafür hatte, wie Mutationen zustande kommen: Die biologische Fachwelt war ratlos, wie die Entstehung neuer reproduktionsfähiger Arten möglich war, die nicht aus der natürlichen Zuchtwahl der Varietäten allmählich entstehen, sondern plötzlich »ohne Eingriff der natürlichen und künstlichen Auslese, ohne vermittelnde Übergänge, ohne dass ein Heer von Generationen aussterben musste« (Grottewitz 1903, S. 11). – 40 –

Bedingungen und Strukturen sozialdemokratischer Darwin-Rezeption

Hugo de Vries* meinte, diese neuen Arten entstünden ganz unabhängig von äußeren Einflüssen. Doch im Kern war für ihn die Mutation »ein rätselhafter innerer Vorgang« (Grottewitz 1903). Andere Biologen wie Eimer, Koken u. a. machten die äußeren Verhältnisse für die Mutation verantwortlich. Doch wirkliche Beweise konnten auch sie nicht vorbringen. Bekanntlich wurde dieses Rätsel erst mit der Entdeckung der DNA als molekularer Speicher aller Erbinformationen im Sinne Darwins nach dem Zweiten Weltkrieg gelöst. Erst nachdem man wusste, dass Vererbung das Kopieren der Information der DNA voraussetzt, wurde evident, dass die Mutation Ausfluss einer fehlerhaften Repetition der Erbinformationen ist. Dieser »Abschreibfehler« stimmt durchaus mit Darwins Einsicht überein, dass die Natur keineswegs auf absolute Perfektion hin angelegt ist. Ferner unterliegen die aus der Mutation entspringenden neuen Arten ebenso wie die anderen der Selektion der natürlichen Zuchtwahl. Und falls Mutationen keinen unmittelbaren Selektionsvorteil implizieren, so tragen sie doch zur Vielfalt der Arten bei, die sich bei möglichen veränderten Rahmenbedingungen durchaus positiv im Kampf ums Dasein auswirken kann (vgl. Mikschi 2010, S. 124). Der Offenheit des Dialogs über die Evolutionstheorie entsprach ihre Verteidigung gegenüber unqualifizierten Angriffen. Als in den 1890er-Jahren in Paris ein Mörder seine Tat damit rechtfertigte, er habe nur wissenschaftlich erwiesene Prinzipien des Darwinismus exekutiert, und der damals renommierte französische Schriftsteller Daudet dies zum Anlass nahm, den Darwinismus als eine die Moralität untergrabende Lehre zu denunzieren, stieß diese Diffamierung auf nachhaltige Kritik in der »Neuen Zeit«. In einem Artikel heißt es: »Weit davon entfernt, daß der rücksichtslose ökonomische Kampf Aller gegen Alle die Folge der Darwinschen Theorien ist, sind vielmehr diese der Anwendung der Gesetze der modernen Konkurrenz auf das Leben der Tiere und Pflanzen entsprungen: Darwin selbst hat erklärt, die erste Anregung zu seiner Lehre habe – 41 –

Teil I

er von dem Malthusschen Bevölkerungsgesetz erhalten […]. In dieser Atmosphäre der Konkurrenz leben wir von der Wiege bis zum Grabe; diese grausame Wirklichkeit und nicht wissenschaftliche Theorien oder religiöse Anschauungen sind es, die den menschlichen Ton formen, den Egoismus anstacheln und zur übermächtigen Leidenschaft machen« (Pablo 1890, S. 188). Der anonyme Autor hätte sich in seiner Argumentation auch auf einen Brief berufen können, den Marx am 18.  Juni 1862 an Engels richtete: »An dem Darwin, den ich wieder angesehen, amüsiert mich, dass er sagt, er wende die Malthussche Theorie auch auf Pflanzen und Tiere an, als ob bei Herrn Malthus der Witz nicht darin bestände, dass sie nicht auf Pflanzen und Tiere, sondern nur auf den Menschen […] angewandt wird im Gegensatz zu Pflanzen und Tieren. Es ist merkwürdig, wie Darwin unter Bestien und Pflanzen seine englische Gesellschaft mit ihrer Teilung der Arbeit, Konkurrenz, Aufschluß neuer Märkte, ›Erfindungen‹ und Malthusschem ›Kampf ums Dasein‹ wiedererkennt« (zit. n. Schaxel 1925, S. 487). Wenn dergestalt Darwin Hegels Charakterisierung der bürgerlichen Gesellschaft als »geistiges Tierreich« auf die Natur überträgt, lehnten, wie noch zu zeigen sein wird, sozialdemokratische Autoren es ab, umgekehrt natürliche Gesetze auf die Gesellschaft zu übertragen (vgl. Teil  III, S. 109). Wie weit die Sozialdemokratie auf der anderen Seite aber auch von einer Dogmatisierung der Evolutionstheorie entfernt war, dokumentiert ihre Stellung zum innerbiologischen Streit zwischen den darwinistischen Selektionisten und den Neo-Lamarckisten. Die darwinistischen Selektionisten, auch Neo-Darwinisten genannt, nahmen den Kampf ums Dasein in Gestalt der Selektion in die intraorganischen Zellen und Gewebe zurück. Sich auf die Forschungen von August Weismann* und Wilhelm Roux* berufend, behaupteten sie, die Erbinformationen des sogenannten Keimplasmas seien nicht von außen beeinflussbar. Diese »Weismann-Bar– 42 –

Bedingungen und Strukturen sozialdemokratischer Darwin-Rezeption

riere« verhindere, dass erworbene Eigenschaften von Generation zu Generation weitergereicht werden. Demgegenüber lehnten die Neo-Lamarckisten die natürliche Zuchtwahl ab und sahen in der organischen Selbsttätigkeit den Schlüssel für die Anpassung der Organismen an die Herausforderung der Umwelt. Auf diese Weise könnten erworbene Eigenschaften durchaus vererbt werden; insofern sei die These der hermetischen Abschottung des Genpols gegenüber äußeren Einflüssen nicht haltbar. Dass dieser Ansatz mit dem sozialdemokratischen Selbstverständnis vereinbar war, zeigte Gustav Ecksteins Artikel in der »Neuen Zeit« über Lamarck und Cuvier. Er berichtete zustimmend, in Fachkreisen setzte sich immer mehr die Überzeugung durch, »daß Lamarck nicht nur Darwins größter Vorgänger war, sondern daß er auch sein Nachfolger sein wird, das heißt, dass die von ihm aufgestellten Prinzipien sich für die Erklärung der Entstehung der Tierformen fruchtbarer erweisen als Darwins Theorie der natürlichen Zuchtwahl« (Eckstein 1910, S. 418).15 1907 wagte der Biologe Raoul Hermann Francé* die Prognose, im Zeichen des Lamarckismus werde das 20.  Jahrhundert »ein Zeitalter der biologischen Psychologie und dadurch bei dem glücklicherweise schon ausschlaggebenden Einflusse, den die Naturwissenschaften heute auf den Zeitgeist ausüben, auch ein Jahrhundert sein, das die Würde des Geistes und der ›beseelten Natur‹ wieder herstellen wird« (Francé 1904, S.  84f ).16 Wir wissen heute, dass Darwin gegen Lamarcks These, es gebe keine Verwandtschaft zwischen den Arten und das Ziel der Evolution sei die Entwicklung vom Einfachen zum Komplexen, recht behalten hat.17 Gegen die Hypothesen des Neo-Lamarckismus, die sich in Formeln wie »Körperseele«, »Seelenenergie«, »Zellseele« etc. niederschlugen, konnte sich die moderne Genetik auf ganzer Linie durchsetzen: Sie falsifizierte die Annahme, durch äußere Anpassung erworbene Eigenschaften ließen sich vererben. Die – 43 –

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von den Neo-Lamarckisten behauptete »zellseelische Tätigkeit« (Francé) des Organismus wurde durch die biochemische Analyse der DNA-Spirale der Eiweißmoleküle ersetzt. Sie ist uneingeschränkt dem Kausalitätsprinzip verpflichtet und lehnt den Teleologiegedanken Lamarcks als Rückfall in die Metaphysik vergangener Zeit ab. Auch die Einführung eines vitalistischen Elements in die Entwicklungslehre, das das Selektionsprinzip durch ein psychologisch motiviertes Bedürfnis nach Anpassung des Lebens an die Umwelt ersetzen sollte, konnte sich bei der Mehrzahl der Biologen nicht durchsetzen. Aber andererseits kann Eckstein im Theorieorgan der SDAP »Der Kampf« darauf hinweisen, dass Darwin auch gemeinsame Schnittmengen mit der Evolutionstheorie Lamarcks teilte. »Dass die Arten nicht unveränderlich waren, das ging nicht nur als notwendige Folgerung aus seiner philosophischen Auffassung hervor, das zeigten ihm insbesondere auch die Ergebnisse künstlicher Züchtung von Tieren und Pflanzen« (Eckstein 1910a, S. 137). Auch Larmarcks oft belächelte These, der Hals der Giraffe habe sich durch fortgesetztes Ausstrecken verlängert, hat Darwin in seiner »Die Entstehung der Arten« bestätigt: »Was die Giraffe anlangt, so wird die fortgesetzte Erhaltung derjenigen Individuen einer ausgestorbenen hochreichenden Wiederkäuerart, die die längsten Hälse, Beine usw. hatten und beim Abweiden etwas höher hinauflangen konnten, sowie die fortgesetzte Vernichtung jener, die nicht so hoch abweiden konnten, genügt haben, um dieses merkwürdige Säugetier entstehen zu lassen; auch der fortgesetzte Gebrauch all dieser Teile wird in Verbindung mit der Vererbung mitgeholfen haben« (Darwin 1963, S. 328). Neben der direkten Anpassung bestätigte Darwin in diesem Zitat die These Lamarcks, erworbene Eigenschaften seien vererbbar, sofern beide Eltern sie teilten. 50 Jahre vor Darwins »Die Entstehung der Arten« »stellte er [Lamarck] kühn eine Theorie auf über die Abstammung des Menschen von affenartigen Vorfahren« – 44 –

Bedingungen und Strukturen sozialdemokratischer Darwin-Rezeption

(Eckstein 1910a, S. 140). Und mit Lamarcks erkenntnistheoretischer Prämisse, eine »Erklärung der Welt rein aufgrund natürlicher Zusammenhänge zu bieten« (Eckstein 1910a, S. 135), hätte auch Darwin18 nicht widersprochen.19 Doch Ecksteins Hinweise auf wichtige Übereinstimmungen zwischen Lamarck und Darwin können gewichtige Differenzen nicht verwischen. Darwin betonte das Züchtermodell; Lamarck dagegen interessierte, wie überhaupt Varietäten zustande kommen. »Er erklärt dies damit, dass durch die Züchtung die Tiere und Pflanzen in eine ganz andere Umgebung kommen, als die Natur sie bietet, und daß sie sich dieser anpassen müssen. Diese Anpassung beruht bei Lamarck auf der Tätigkeit, auf dem Lebensprozess der Organismen, während sie nach Darwins Ansicht im freien Naturleben durch die auslesende Wirksamkeit der Schädlichkeiten der Umgebung zustande kommt« (Eckstein 1910a, S. 137).20 Auch führte Darwin die direkte Anpassung am Giraffenbeispiel nur als Ergänzung seiner natürlichen Zuchtwahl an.21 Freilich bekannte er später in »Die Abstammung des Menschen«, er habe »den Einfluss der natürlichen Zuchtwahl auf Kosten der Wirksamkeit des Gebrauchs und Nichtgebrauchs der Organe überschätzt« (Eckstein 1910a, S.  138). Und schließlich sah Darwin den wichtigsten Entwicklungsfaktor des Menschen »in der Not und dem dadurch bedingten Kampf ums Dasein«, Lamarck aber »im möglichst ungehemmten Spiel der Kräfte, denen Zeit und Gelegenheit gegeben sein muss, um auf die reichen Anregungen der Außenwelt zu antworten« (Eckstein 1910a, S. 141). Oder anders formuliert: Während Darwin die zufallsbedingte Kausalität in Verbindung mit der Selektion als Folge des Kampfs ums Dasein in den Vordergrund stellte, setzte Lamarck auf die aktive Selbsttätigkeit der Organismen bei der Befriedigung ihrer Bedürfnisse, was für ihn die Wiedereinführung der Teleologie im Sinne einer Höherentwicklung in der organischen Evolution bedeutete.22 – 45 –

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Ecksteins Konfrontation des Darwin’schen Paradigmas insbesondere in Gestalt der Selektion nach Prinzipien der Kausalität mit dem Ansatz Lamarcks, der die Autonomie des Organismus in seinem Reaktionsverhalten auf äußere Reize betonte, hatte paradigmatische Bedeutung für den sozialdemokratischen Diskurs. Tatsächlich kam es zu einer scharfen Polarisierung, die wissenschaftshistorische, aber auch politische Aufmerksamkeit verdient. Auf der einen Seite schälte sich die Position eines radikalen Selektionismus heraus. Sie wurde in idealtypischer Reinheit 1895 in der Zeitschrift »Der sozialistische Akademiker« vertreten. Danach hat das Gesetz vom Kampf ums Dasein und der »Auslese« (Selektion) der Tüchtigsten den Status eines Gesetzes, das – und darin habe die geniale Leistung Darwins bestanden – »allgemeine Gültigkeit und Anwendung auf alles Leben beansprucht. Das Gesetz bleibt immer dasselbe und wirkt immer auf dieselbe Weise, nur sind die Verhältnisse, in denen der ›Kampf ums Dasein‹ sich abspielt, die verschiedensten« (Pierre 1895, S. 92). Zu den Variablen zählen dem Autor zufolge aber nicht nur die sozialen Milieus, sondern auch die Triebe und die Existenzbedürfnisse der verschiedenen Gattungen: Der Kampf ums Dasein könne individuell, aber auch in Gruppen, Familien oder Horden ausgetragen werden. Weder kann dem Autor zufolge diesem Naturgesetz eine Tendenz zur Vollkommenheit zugerechnet werden. Noch ist es zutreffend, die »natürliche Zuchtwahl« der »künstlichen« Auslese entgegenzusetzen. Die Unterscheidung zwischen Naturding und Artefakt verschwindet im Licht der naturgesetzlich ablaufenden Selektion: Für deren Wirkungsweise ist es gleichgültig, in welchem Medium es sich Geltung verschafft.23 Mit dieser Auffassung richtet sich der Verfasser dann auch gegen die Vorstellung, der Kapitalismus verfälsche durch sein ökonomisch bedingtes Privilegiensystem den »wahren« Kampf ums Dasein. Ebenso sei es falsch, dass dieser im Sozialismus sistiert werde, weil in ihm die strukturellen Ungerechtigkeiten seines Vorgängersystems entfielen. Die nach kausalen Prinzipien erfolgende Selektion – 46 –

Bedingungen und Strukturen sozialdemokratischer Darwin-Rezeption

setze sich in jedem Fall durch wie das Gravitationsgesetz und andere physikalische Gesetzmäßigkeiten auch; die jeweiligen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen bestimmten lediglich die Kriterien, unter denen die Auslese erfolgt. Hier sei das Aufgabengebiet des Marxismus als Gesellschaftstheorie zu verorten. Aber zugleich folge daraus auch, dass der Selektion per se weder eine Tendenz zum Sozialismus noch zum Kapitalismus innewohne. Diese Position wurde auf der anderen Seite von den Vertretern des Neo-Lamarckismus selbst noch in der Zwischenkriegszeit radikal infrage gestellt. In einem Artikel in der Zeitschrift »Die Glocke« aus dem Jahr 1920 heißt es: »Der extreme Selektionist sagt: organisches Leben im gewöhnlichen Sinne gibt es gar nicht; es gibt nur mechanisches Geschehen, d. h. ein Geschehen von außen her, das eine an sich zwar komplizierte, aber tote Maschine in Bewegung setzt« (Kühner 1920, S. 23). Demgegenüber gehe der Lamarckianer davon aus, dass jeder Organismus ein eigengesetzlich autonomes Gebilde sei, das jeden Reiz nach Gesetzen und Modalitäten verarbeite, die in ihm lägen. Die Metapher »Seele« stehe für nichts anderes als für die autonome Reizverwertung (Kühner 1920, S.  23). Niemand könne diese Gegensätze ignorieren, auch die Gesellschaftswissenschaften nicht. Die Folgerungen führten entweder nach rechts oder nach links. Ein Kompromiss zwischen diesen Alternativen sei nicht möglich. »Die Frage ist unerbittlich nur die eine: soll ein totmechanisches System ausgebaut werden, ein System reiner Kräfte, ein System ohne Lebewesen? – oder eine solche soziale Architektonik, die gerade von der Eigengesetzlichkeit des Objektes ›Mensch‹ ausgeht, und seine millionenfache Bedingtheit, Variabilität, Entwicklungsfähigkeit voraussetzt? Heißt die Forderung ›Ausrottung der Untauglichen‹, oder heißt sie ›Aufwärtsentwicklung aller durch Förderung der günstigsten Anlagebestandteile?‹ Ist unsere Position ›Vernichtung der Schwachen‹ oder ›Stärkung der Schwachen‹? Ist sie Lamarck, oder ist sie Darwin?« (Kühner 1920, S. 23). – 47 –

Teil I

Ecksteins Würdigung der Leistungen Lamarcks und deren Aufwertung gegenüber der Lehre Darwins, so kann zusammenfassend festgestellt werden, zeigt, dass ganz im Sinne Bebels der wissenschaftliche Diskurs nicht in ein einseitig orthodoxes darwinistisches Korsett gepresst wurde. Gustav Eckstein ist sogar noch einen Schritt weiter gegangen: Gegen die These der Neo-Lamarckisten, es komme darauf an, den Materialismus der Darwin’schen Selektionstheorie zu überwinden24, der auf Zufall und Kausalität als Movens der Evolution rekurriere, versuchte Eckstein, eine Brücke zwischen der larmackistischen Evolution und dem Marxismus zu konstruieren. Er hielt es nämlich für möglich, im Verhältnis des Neo-Lamarckismus zum Historischen Materialismus das Gegenstück zum Vorbild der ökonomischen Konkurrenzdoktrin Malthus’ und ihrer Beerbung durch die natürliche Zuchtwahl Darwins25 zu sehen. Malthus, so Eckstein, habe nicht in der Arbeit, sondern im Marktgeschehen des Gesetzes von Angebot und Nachfrage den wertschöpfenden Faktor gesehen. Dadurch konnte er zwar den Preis einer Ware, aber nicht die Kraft erklären, welche Werte überhaupt erst hervorbringt. Dieses Defizit setzte sich in der Übertragung des wirtschaftlichen Konkurrenzprinzips auf die gesamte organische Welt als natürliche Zuchtwahl bei Darwin fort: Die Selektion begründet nicht neue Arten, sondern sie stellt nur fest, welche Eigenschaften dem Kampf ums Dasein standhalten und welche nicht. Indem der NeoLamarckismus bei der Entstehung neuer Eigenschaften deren subjektive bzw. psychologische Dimension in Form zu befriedigender Bedürfnisse Rechnung trage, konvergiere er mit dem Historischen Materialismus. Der Satz Engels’, bisher habe der Materialismus die Wirklichkeit nur in Form eines Objekts rezipiert, nicht aber von der subjektiven Seite her als sinnliche Tätigkeit und Praxis, enthalte den Kern »auch der materialistischen Geschichtsauffassung, die davon ausgeht, daß es die Produktionsweise des materiellen Lebens ist, die den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt – 48 –

Bedingungen und Strukturen sozialdemokratischer Darwin-Rezeption

bedingt. Die Arbeit also, die körperliche und geistige Funktion, bestimmt und bewirkt die Entwicklung des Menschengeschlechts wie die der gesamten Lebenswelt« (Eckstein 1925, S. 97). Die gemeinsame Schnittmenge zwischen Mensch und Tier sei also das bedürfnismäßige Handeln, von dem sowohl der Neo-Lamarckismus als auch der Historische Materialismus ausgehe. »So stehen die Lehren der Neulamarckianer und die von Marx im innigsten Zusammenhang« (Eckstein 1925, S. 98). Charakteristisch ist aber, dass Gustav Eckstein zwar die nur begrenzte Relevanz der Selektionstheorie Darwins auf dessen bürgerliche Denkweise zurückführt, weil sie aufgrund des reduktionistischen Konkurrenzmodells lediglich in Teilaspekten die Triebkraft des Evolutionsgeschehens zu erfassen vermag. Aber gleichzeitig lobt er Darwin als einen der größten Naturforscher überhaupt, der mit seiner Abstammungslehre einen ebenbürtigen Platz neben Kopernikus einnehme. »Wenn wir nachweisen, daß seine Theorie durch sein bürgerliches, kapitalistisches Bewusstsein bedingt war, liegt darin selbstverständlich kein Vorwurf. Kein Mensch, und sei er das größte Genie, ist von seiner Zeit und von seiner Umgebung unabhängig. Jeder Forscher kann nur das Rüstzeug, physisch und geistig, verwenden, das ihm seine Zeit bietet. Die Frage ist, ob er es in einseitigem Klasseninteresse anwendet oder zur Erforschung der Wahrheit. Darüber aber kann bei Darwin, einem der lautesten Charaktere, den die Geschichte der Wissenschaft kennt, keine Frage sein« (Eckstein 1925, S.  100). Die Wertschätzung Darwins war also in der Sozialdemokratie ungebrochen. So wurde in einem anderen Artikel die moderne Vererbungslehre Gregor Mendels* dem Publikum der »Neuen Zeit« nähergebracht. Bemerkenswert ist, dass Mendels Einsichten in die Gesetzmäßigkeiten der Vererbung, die Darwin nicht bekannt waren, im Einklang mit dessen Evolutionstheorie verstanden wurden. Am Ende des Artikels heißt es: »Schließlich haben die Kreuzungsexperimente ein neues Licht – 49 –

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auf das Artbildungsproblem geworfen. Sie haben gelehrt, daß bei der Bastardisierung von Individuen, die sich in mindestens zwei Merkmalen unterscheiden, regelmäßig neue Formen auftreten, die stets rein weiterzüchten. Solche Mischlinge können recht wohl zum Ausgangspunkt neuer Arten werden, falls sie eine so günstige Eigenschaftskombination aufweisen, daß sie den Kampf ums Dasein siegreich bestehen« (Drucker 1916, S.  218; Hervorhebung von mir, R. S.). Ein weiteres Indiz der Offenheit des sozialdemokratischen Diskurses über die Evolutionstheorie ist ein Artikel Franz Mehrings*, der den Neo-Lamarckismus mit ideologiekritischen Argumenten schroff zurückwies. Selbst wenn es gelänge, den Darwinismus, d.  h. die Selektionstheorie, durch Zurückgehen auf Lamarck zu beseitigen, »so bliebe die Geschichte für die herrschenden Klassen gleich unheimlich; so sehr sie die Abstammungslehre bekümmert, so gänzlich gleichgültig ist es ihnen, wie sie naturwissenschaftlich begründet wird. Und da mit der Theologie kein Hund mehr vom Ofen gelockt werden kann, so muß die Philosophie helfen, so gut es noch geht« (Mehring 1910, S. 596). Mehring spielte auf Versuche des Neu-Lamarckismus an, dem Kausalitätsprinzip der Evolutionstheorie einen in der Tier- und Pflanzenwelt verankerten »Willen« bzw. eine »Seele«, d. h. ein neo-vitalistisches, die Entwicklung vorantreibendes metaphysisches Prinzip entgegenzustellen, das an die Stelle der blind wirkenden Natur bei Darwin die organisch-hierarchische Dreiheit von Pflanzenseele (Sklaven), Körperseele (Plebejer) und Gehirnseele (Patrizier) setzt. Mehring hatte keine Probleme, die ideologiekritische Auslegung dieses Konstrukts als Ausfluss einer Klassengesellschaft zu entlarven (Mehring 1910, S. 600). Aber dadurch, dass der Darwinismus alle überirdischen Mächte gründlich ausschalte, bleibe er ein Stachel im Fleisch der herrschenden Klassen. Denn in dem Maße, in dem sie dem Volk aus Gründen der Disziplinierung die Religion erhalten wollten, seien sie sich einig, »daß – 50 –

Bedingungen und Strukturen sozialdemokratischer Darwin-Rezeption

der Darwinismus am letzten Ende zu Attentaten auf hohe Häupter, zu Pariser Kommunen und ähnlichen entsetzlichen Sachen führen müsse« (Mehring 1910, S. 596). 1914 erschien ein Artikel in der »Neuen Zeit«, der kritisch über den neuen Stand der Darwin’schen Lehre informierte. Der Verfasser forderte eine klare analytische Trennung zwischen der Abstammungslehre oder der Entwicklungstheorie auf der einen und der Selektionstheorie auf der anderen Seite.26 Die Abstammungslehre gehe von der Prämisse aus, »daß die tierischen Arten keine unveränderlichen, zusammenhanglosen Gebilde sind, sondern in verwandtschaftlichen Beziehungen zueinander stehen, und daß sich die höheren oder richtiger die komplizierteren Lebensformen aus einfachen Organismen im Laufe der Erdgeschichte entwickelt haben« (Thesing 1914, S.  256). Ganz anders die Selektionstheorie. Sie setze die Abstammung der komplizierteren Lebewesen von den einfacheren Vorfahren als erwiesen voraus und konzentriere sich auf die treibende Kraft, die der Entwicklung ihre Dynamik verleiht. Ihr Anspruch ist lediglich, »wie sich diese Umwandlung vollzogen hat und welche Kräfte dabei tätig waren« (Thesing 1914, S.  256). 1914 stellte sich also die Forschungslage so dar, dass die Abstammungslehre als »unerschütterliches Fundament unserer Naturauffassung« (Thesing 1914, S.  256) galt. »Die Tatsachen der Paläontologie, der Entwicklungsgeschichte, der vergleichenden Anatomie und endlich auch der modernen Blutserumforschung schließen sich zu einer lückenlosen Beweiskette zusammen« (Thesing 1914, S. 256). Dagegen stehe die Darwin’sche Selektionshypothese durchaus im Kreuzfeuer wissenschaftlicher Kritik. Von verschiedenen Positionen aus wurde geltend gemacht, dass bei der Entwicklung der Lebewesen auch noch andere Kräfte als die der natürlichen Zuchtwahl tätig gewesen seien. So spielten z. B. veränderte Umweltbedingungen eine zentrale Rolle und ließen den Daseinskampf und die Selektion als zweitrangig erscheinen. Ihre – 51 –

Teil I

einzige Funktion bestehe darin, schlecht angepasste Individuen zu beseitigen und von der Fortpflanzung auszuschließen (Thesing 1914, S. 260). Auch lasse die Selektionstheorie die Ursachen der Mutation im Dunkeln, die zu neuen elementaren Arten führen könne, wenn sie hinreichend dem Anpassungsdruck standhielten. Dies vorausgesetzt, kommt der Verfasser zu dem Schluss: »Es unterliegt keinem Zweifel, daß der Selektion bei der Artbildung eine gewisse und nicht unwesentliche Rolle zukommt, daneben wirken aber auch noch andere Faktoren, vor allen Dingen der direkte Einfluss veränderter Daseinsbedingungen an der Umformung der Lebewesen mit. Nur unter der Annahme der Zusammenwirkung dieser verschiedenen Kräfte« könnten wir uns »ein Bild von der Entstehungsgeschichte der organischen Welt […] machen« (Thesing 1914, S. 265). Bereits 1909 wurde in der sozialdemokratischen Monatsschrift »Der Kampf« festgestellt, dass zwar die Abstammungslehre eine unumstößliche Tatsache sei. Aber das Movens der »Evolution«, die Selektion, stehe in einem Konkurrenzverhältnis zum Lamarckismus, der eine Artenbildung durch »direkte Anpassung« lehre, und zur Mutationstheorie, die sprunghafte Abweichungen der Varietäten fokussiere: Für sie habe die Selektion nur nachgeordnete Bedeutung (vgl. Weiss 1909, S. 234). Dieser Verzicht auf eine parteidoktrinäre Festlegung der Evolutionstheorie hatte ihren Grund in der sozialdemokratischen Option für freie naturwissenschaftliche Forschung, deren Leistungsfähigkeit, von weltanschaulichen Bevormundungen befreit, spätestens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Zuge der forcierten Industrialisierung jedermann vor Augen stand. Bestärkt wurde diese differenzierte Darwin-Rezeption auch durch die Tatsache, dass die Darwin’sche Evolutionstheorie ihre anfänglichen, von der anglikanischen Kirche bereiteten Schwierigkeiten längst überwunden und sich Ende der 1870er-Jahre wissenschaftlich durchgesetzt hatte. Sie abzulehnen, hätte also der Sozialdemokratie den Verdacht des wis– 52 –

Bedingungen und Strukturen sozialdemokratischer Darwin-Rezeption

senschaftlichen Obskurantismus eingebracht, der mit der Sympathie, die ihre Vordenker für die Naturwissenschaften hegten, nicht zu vereinbaren war: Sie sahen bekanntlich im Sozialismus nicht deren Gegner, sondern in Gestalt der Industrialisierung deren Erbe. Umgekehrt ging August Bebel gegen die sozialwissenschaftliche Ignoranz der Vertreter der Evolutionstheorie zum Gegenangriff über. Nach Darwins Tod habe die Arbeiterbewegung eine solche Bedeutung erlangt, dass sie aus dem zeitdiagnostischen Szenario nicht mehr wegzudenken sei. Daher hätten »die Darwianer ex cathedra allen Grund […], sich auch ein wenig mit der politischen Ökonomie und dem Sozialismus zu befassen, damit sie darüber nicht sprächen wie der Blinde von der Farbe« (Bebel 1899, S. 485). So wies er dezidiert die Kritik zurück, der Sozialismus müsse in eine viel engere Beziehung zur Evolutionstheorie gebracht werden, als dies bisher der Fall gewesen sei. Unter Hinweis auf Engels’ Auseinandersetzung mit dem Darwinismus im »Anti-Dühring« bestehe in Sachen Evolution kein Nachholbedarf. Angefangen bei Ernst Haeckel, sei das aber sehr wohl im Lager der Darwinisten der Fall, welche die Einsichten der Marx’schen »Kritik der politischen Ökonomie« ignorierten. »Es zeigt sich hier eine eigenartige Erscheinung. Während Marx und Engels und ihnen folgend sämtliche bekanntere Sozialisten […] sich lebhaft für den Darwinismus und die moderne Naturforschung interessieren, bringen umgekehrt die Naturforscher fast ausnahmslos dem Sozialismus wie dem Studium ökonomischer Fragen weder Interesse noch Verständnis entgegen« (Bebel 1899, S. 486). Dieses Defizit wiegt nach Bebel umso schwerer, als man zwar ohne die Evolutionstheorie »die Entwicklungsgesetze der Gesellschaft auf ihren verschiedenen Entwicklungsstufen begreifen [kann], aber man kann als Darwianer niemals die Entwicklungsgesetze der menschlichen Gesellschaft verstehen, wenn man den wissenschaftlichen Sozialismus und den ihm zu Grunde liegenden historischen Materialismus nicht kennt. Andernfalls – 53 –

Teil I

bleibt man in der rohen, rein mechanischen Auffassung des Darwinismus stecken, in der die Darwinianer fast ausnahmslos stecken geblieben sind« (Bebel 1899, S. 487). Bebel spielte auf einen für den zeitgenössischen Kontext äußerst relevanten Sachverhalt an, wie im folgenden Kapitel zu zeigen ist: Darwin hatte Schüler wie Ernst Haeckel und Herbert Spencer, welche Prinzipien der Evolutionstheorie unmittelbar im liberalistischen Sinne auf die Gesellschaft übertrugen und zu dem Schluss kamen, der Sozialismus sei eine Fehlentwicklung, weil er die natürliche Evolution der Gesellschaft blockiere. Selbstverständlich kommen wir im Folgenden um eine Historisierung des sozialdemokratischen Diskurses über die Evolutionstheorie nicht herum: Wissenschaftstheoretisch spielte sich die Darwinismus-Diskussion der Sozialdemokratie im Vorfeld der modernen Molekulargenetik ab. Ohne Kenntnis der Mendel’schen Vererbungslehre musste Darwin 1859 in seinem Hauptwerk noch bekennen: »Die Gesetze, denen die Vererbung unterliegt, sind größtenteils unbekannt. Niemand weiß, warum dieselbe Eigentümlichkeit bei verschiedenen Individuen einer Art oder verschiedener Arten zuweilen erblich ist und zuweilen nicht: warum ein Kind oft diese und jene Merkmale des Großvaters oder der Großmutter oder noch früherer Ahnen aufweist« (Darwin 1963, S.  39). Zwar war um die Jahrhundertwende die Vererbungslehre Gregor Mendels bekannt, sodass Darwins offene Frage beantwortet werden konnte.27 Auch wusste man ab 1902, dass die Chromosomen Träger der Erbinformationen sind. Ferner wurden schon vor 1914 mathematische Methoden zur biologischen Variationsstatistik eingeführt, »die Erscheinungen der Vererbung in Kurven und Tabellen darstellt und analysiert. Auf dieser Grundlage ist die alte Forderung Galileis: Messe alles, was messbar ist, und mache das nicht Messbare messbar, zum Leitmotiv der modernen Untersuchungen geworden« (Bosch 1914, S. 9). Und schließlich begann die Mikrobiologie eine – 54 –

Bedingungen und Strukturen sozialdemokratischer Darwin-Rezeption

wichtige Rolle zu spielen, die Darwin noch weitgehend unbekannt war (Bosch 1924, S. 9). Doch erst 1927 wurden Mutationen als physikalische Veränderungen der Gene entdeckt, 1944 die DNA als Grundlage der genetischen Erbinformation und 1953 die Struktur der DNA als Doppelspirale. Die Rezeption des Darwinismus erfolgte also in unserem Beobachtungszeitraum vor der Verschmelzung Darwin’scher Theorien mit den Erkenntnissen der molekularen Genetik zur Synthetischen Evolutionstheorie. Und schließlich darf im deutschen Kontext der wissenschaftlich nicht haltbare, aber damals hegemoniale Einfluss Ernst Haeckels keineswegs unterschätzt werden, wonach die Evolution eine Höherentwicklung des organischen Lebens darstellt. Abschließend noch ein Wort zur Quellenlage und zum repräsentativen Wert der zitierten Aussagen. Herangezogen wurden vor allem Artikel in Zeitschriften und Broschüren, die auf die öffentliche Meinung der sozialdemokratischen Klientel Einfluss zu nehmen suchten. Zu Wort meldeten sich profilierte Sozialdemokraten und mit ihnen sympathisierende Naturwissenschaftler, unter denen die Biologen herausragten. Zu nennen sind führende sozialdemokratische Politiker und Intellektuelle wie Otto Bauer*, August Bebel, Max Beer*, Eduard Bernstein*, Heinrich Cunow*, Gustav Eckstein, Rudolf Goldscheid*, Karl Kautsky, Franz Mehring, Anton Pannekoek etc. auf der einen Seite und Naturwissenschaftler wie Grant Allen*, Edward Aveling, Arnold Dodel-Port, Curt Grottewitz, Hugo Iltis* oder Paul Kammerer* auf der anderen. Dass die veröffentlichte Meinung dieser Elite nicht bruchlos mit der emotionalgeistigen Verfassung der Sozialdemokratie als einer proletarischen Massenpartei identisch war, muss nicht eigens betont werden. Doch ebenso sicher ist, dass dieser »Intellektuellen-Diskurs« nach unten diffundierte und dadurch erheblich zur Herausbildung einer sozialdemokratischen »Identität« beitrug, deren Geburtsstätte nicht zufällig die Arbeiterbildungsvereine waren. – 55 –

Teil I

Um diesem Phänomen gerecht zu werden, würde eine vorwiegend alltagsgeschichtliche Sicht zu kurz greifen. Konsequent angewendet, müsste sie vor der Frage kapitulieren, wie eine soziale Bewegung sich in programmatischen Aussagen wiedererkennen und sich so überhaupt erst zu einer politisch handlungsfähigen Partei konstituieren kann. So gesehen ist die Frage, inwiefern die hier zitierten Äußerungen überhaupt der Sozialdemokratie direkt zuzuordnen sind oder ihre Autoren nicht in erster Linie für sich selbst sprechen, sowohl mit einem Ja als auch mit einem Nein zu beantworten. Zumindest in den Kaiserreichen in Deutschland und Österreich wiegt der Konnex zwischen den veröffentlichten Meinungen und ihren Autoren schwer, weil sie sich, aufgrund des herrschenden Wahlrechts ohne Chance auf Regierungstätigkeit, weitgehend von politischer Verantwortung und taktischen Erwägungen entlastet fühlen konnten. Doch andererseits mussten sie sich darüber im Klaren sein, dass ihr Engagement dem kollektiven Projekt der ökonomischen, sozialen und politischen Emanzipation der Arbeiterklasse galt, was einer ausschließlichen Individualisierung ihrer Aussagen Grenzen setzte. Die Fülle dieser veröffentlichten Meinungen und Überlegungen legt es nahe, von einem sozialdemokratischen Diskursschwerpunkt zu reden, der bisher, wie schon hervorgehoben wurde, nur peripher zur Kenntnis genommen wurde. Wenn im Folgenden eine »Diskursanalyse« versucht wird, dann bedeutet dies, dass der Prozess einer Meinungsbildung rekonstruiert werden soll, der in sich pluralisiert und offen war, aber doch auch genügend Konsenslinien erkennen lässt, um ihn im Resultat als »sozialdemokratisch« identifizieren zu können. Dass sich dieser Vorgang nicht in quantifizierende Kategorien pressen lässt, liegt auf der Hand. Aber immerhin ist doch erkennbar, welche Positionen eine gewisse Meinungsführerschaft für sich beanspruchen konnten, die selbstverständlich auch mit dem Bekanntheitsgrad und der Autorität des Autors zu tun hatte. Zwar – 56 –

Bedingungen und Strukturen sozialdemokratischer Darwin-Rezeption

ist gegenüber einem quantifizierenden Zugriff auf das Material ein mehr hermeneutisches Verfahren angesagt. Doch bedeutet dies nicht, dass im Sinne einer parteiischen Geschichtsschreibung nur die sozialdemokratische Position zum Tragen käme. Das Gegenteil trifft zu. Deren Profil wird erst dann zutreffend erkennbar, wenn die gegnerischen Positionen ebenso in den analytischen Fokus rücken wie das pluralisierte Spektrum im eigenen Lager selbst. Erst nach dieser Konfrontation ist eine fundierte Urteilsbildung möglich, von der der Leser ebenso Gebrauch machen sollte, wie es der Verfasser selbst getan hat. In diesem Zusammenhang möchte der Verfasser ausdrücklich darauf hinweisen, dass das Thema dieses Buches nicht auf Rassenhygiene und Eugenik28 fokussiert ist, sondern auf die politischen Implikationen der Darwin-Rezeption innerhalb der deutschen und der österreichischen Sozialdemokratie im angegebenen Zeitraum. Diese analytische Trennung liegt im Untersuchungsgegenstand selber begründet. Das Paradigma der Evolutionstheorie in seiner ursprünglichen Form musste bis zur Unkenntlichkeit deformiert werden, um es mit Rassenhygiene und Eugenik kompatibel zu machen. Darwin hatte sein Erkenntnisinteresse klar definiert und eingegrenzt: Es ging ihm nicht um das Wesen und den Ursprung des Lebens und schon gar nicht um die Begründung und Bewertung der sogenannten »Rassen«, die für ihn nichts weiter waren als Varietäten innerhalb der Art Mensch. Was ihn interessierte, war eine immanente, rein kausale Erklärung für das Zustandekommen von Eigenschaften des organischen Lebens, von deren temporärer Konstanz und ihrer schließlichen Veränderung. Warum setzten sich bestimmte Arten durch, warum verschwanden andere? Wie kam es, dass Varietäten sich zu Arten verdichten konnten? Und welche Triebkraft stand nachweisbar hinter diesen Vorgängen im Zusammenhang mit den geologischen Veränderungen der langen Zeiträume? Dass diese Fragestellungen mit einem liquidatorischen Rassis– 57 –

Teil I

mus und einer Eugenik bzw. »Sozialhygiene«, die ihm dienen, nichts zu tun haben (vgl. Künzli 2001, S.  34), bedarf keiner Erklärung.29 Nicht auf Darwin30, sondern auf Francis Galton* geht der Begriff Eugenik31 zurück, den dieser mit einer quantitativen Methode zu begründen versuchte.32 Ohne diese Themen zu tabuisieren, greift der Verfasser immer dann auf sie zurück, wenn es zur Erhellung der Darwin-Rezeption dienlich erscheint. Schließlich muss der Tatsache Rechnung getragen werden, dass eine politische Partei wie die Sozialdemokratie keine wissenschaftliche Vereinigung war. Selbst wenn sie die wissenschaftliche Diskussion über die Darwin’sche Evolutionstheorie, wie gezeigt, zur Kenntnis nahm, galt ihr Hauptinteresse deren politische Implikation, d.  h. ihren Bezügen zu den gesellschaftlichen Verhältnissen. Zwar erstreckt sich der Beobachtungszeitraum von der Veröffentlichung der Darwin’schen Publikation der »Entwicklung der Arten« im Jahr 1859 bis zum Ende der Ersten Republiken 1933/34. Gleichwohl ist bemerkenswert, dass der Erste Weltkrieg nicht als die entscheidende Zäsur in der sozialdemokratischen Darwin-Rezeption angesehen werden kann. Die von Franz Bosch 1914 formulierte Prognose, dass die politisch-weltanschaulichen Kämpfe, die in den vergangenen Dekaden das Terrain der Evolutionstheorie beherrscht hätten, zugunsten fachwissenschaftlicher Forschung beendet seien (vgl. Bosch 1914, S.  136), erfüllte sich nach dem Ersten Weltkrieg nicht. Vielmehr ist eine Kontinuitätslinie in der politischen Auseinandersetzung zu erkennen, wenngleich andere Probleme, die aus den revolutionären Umbrüchen seit 1917 resultierten, sie zunächst überlagerten. So wurde die Auseinandersetzung mit den Kommunisten, insbesondere mit Sowjetrussland, ebenso aktuell wie die Positionierung der Sozialdemokratie zur Regierungsverantwortung im Zusammenhang mit dem Problem Koalition oder Opposition, die Stellung zur Rätebewegung und zur Sozialisierungsfrage etc. Doch die eigentliche Zäsur in der Darwinismus-Diskussion setzte erst – 58 –

Bedingungen und Strukturen sozialdemokratischer Darwin-Rezeption

mit der Etablierung der nationalsozialistischen Diktatur des Dritten Reiches ab 1933 ein. Die dort praktizierten Formen der Eugenik und der exterminatorischen Rassenhygiene tabuisierte auch in den Reihen der exilierten Sozialdemokratie Fragen der Evolutionstheorie und ihre politische Interpretation. Aus diesem Problemhorizont, mit dem sich die deutsche und österreichische Sozialdemokratie vor dem Ersten Weltkrieg und in der Zwischenkriegszeit konfrontiert sah, resultieren einige Fragen, denen wir uns in den folgenden Ausführungen nähern wollen. Vielleicht mag es auf den ersten Blick befremden, dass diese Problembereiche untersucht werden, ohne zwischen dem sozialdemokratischen Kontext in Deutschland und in Österreich zu unterscheiden. Aber solche Bedenken sind gegenstandslos, wenn man die engen kulturellen und politischen Beziehungen zwischen beiden Parteien im Beobachtungszeitraum berücksichtigt. Österreichische Sozialdemokraten publizierten über gemeinsame Themen in »Die Neue Zeit« und »Die Gesellschaft«, wie umgekehrt deutsche Sozialdemokraten sich im Theorieorgan des Austromarxismus »Der Kampf« zu Worte meldeten. Die spezifische österreichische bzw. deutsche Einfärbung der Darwinismus-Rezeption ist so minimal, dass sie vernachlässigt werden kann. Es sind die folgenden Schwerpunkte, auf die sich das Erkenntnisinteresse beider Parteien bezogen: 1. Wie kritisierten sozialdemokratische Autoren in Übereinstimmung mit wesentlichen Elementen der Evolutionstheorie den biologischen Naturalismus in seinen Spielarten als rechten Sozialdarwinismus? 2. Wie wurde im sozialdemokratischen Diskurs die Differenz zwischen Linksdarwinismus und Marxismus bestimmt? 3. Welche anthropologischen Schlussfolgerungen lassen sich aus dem Evolutionsdiskurs für das sozialdemokratische Selbstverständnis vor dem Ersten Weltkrieg und in der Zwischenkriegszeit ziehen?

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Teil II

Die sozialdemokratische Auseinander­ setzung mit dem antisozialistischen Darwinismus

W

ie bereits betont, erwuchs der deutschen und der österreichischen Sozialdemokratie in Gestalt des Sozialdarwinismus, wie er von Ernst Haeckel, Oskar Schmidt, Thomas Henry Huxley, Herbert Spencer u.  a. entwickelt wurde, ein gefährlicher ideologischer Gegner, weil er mit der Aura naturwissenschaftlicher Erkenntnis auftrat. Diese Gegnerschaft unterschied sich grundlegend von den Konfrontationen mit dem christlichen oder dem konservativ-etatistischen Lager der alten Eliten (Großindustrie, Großgrundbesitz, Heer und Staatsapparat), weil die Sozialdemokratie durchaus gemeinsame Schnittmengen mit dem naturwissenschaftlichen Weltbild des Darwinismus Haeckel’scher Prägung teilte. Haeckels Aussage, wonach »die persönliche Existenz jedes Menschen – mit Leib und Seele ebenso sicher mit seinem Tode aufhört, wie sie mit der Entstehung der Stammzelle (mit der Befruchtung der mütterlichen Eizelle durch die väterliche Spermazelle) begonnen hat« (Haeckel), stieß in der Sozialdemokratie keineswegs auf Ablehnung. »Eine solche Lehre«, so heißt es in einem Artikel in der »Neuen Zeit«, »ist vom christlichen Standpunkt natürlich von Grund auf zu verwerfen, vom sozialdemokratischen Standpunkt meiner Meinung nach nicht« (Quist 1919, S.  492). Auch hätte die Sozialdemokratie dem Vorschlag Haeckels ihre Zustimmung nicht verweigert, die Evolutionstheorie in den Biologieunterricht der Schulen zu integrieren. So brachte Franz Mehring die Mehrheits– 63 –

Teil II

meinung der Partei auf den Begriff, als er in »Die Neue Zeit« die Ansicht vertrat, die darwinistische Lehre sei »ihrem Wesen nach eine revolutionäre Theorie, mag auch Darwin kein Revolutionär und mögen manche Darwinisten Reaktionäre gewesen sein; hat doch sogar Haeckel dem Junker Bismarck auf offenem Markte seine Verehrung bezeugt« (Mehring 1910, S. 596). Aber auch diese These Mehrings, die auf den »revolutionären« Gehalt der Evolutionstheorie abhob, blieb im sozialdemokratischen Lager nicht unwidersprochen, zumindest was deren Erklärung der Triebkraft der Evolution in Gestalt der »natürlichen Zuchtwahl« (Selektion) betraf. Insbesondere Gustav Eckstein wies mit Nachdruck darauf hin, dass Darwins Rückgriff auf Malthus’ Schrift »Über die Bevölkerung« und dessen Doktrin des »überall stattfindenden Kampfes um die Existenz« (Darwin) im Wirtschaftsleben auf die gesamte organische Natur als Ursache der Bildung neuer Arten nichts weiter gewesen sei als Ausfluss »der Konkurrenz des Götzen der Manchesterreligion« (Eckstein 1925, S. 77). Auch ohne den direkten Hinweis Darwins in seiner Autobiografie auf seine direkte Übertragung eines ökonomischen Prinzips auf die organische Natur wüssten wir, »daß seine Aufmerksamkeit auf diesen Faktor nicht so sehr durch eigene Naturbeobachtung gelenkt wurde als durch den Einfluß der herrschenden Anschauung über die treibende Kraft des Wirtschaftslebens […]«. Wir müssten also davon ausgehen, dass »Darwin in diesen Anschauungen befangen war. Dies geht nicht nur aus gelegentlichen Bemerkungen über politische Fragen in seinen Briefen und noch deutlicher aus der beschränkt manchersterlichen Art hervor, mit der er in der ›Abstammung des Menschen‹ die Zuchtwahl in ihrem Einfluß auf zivilisierte Nationen behandelt: Es tritt besonders scharf zutage in der ungeheuren Verehrung, die Darwin für Malthus, den Advokaten, für Buckle, den Geschichtstheoretiker und für Spencer, den Philosophen des Manchestertums, hegt« (Eckstein 1925, S. 78). – 64 –

Sozialdemokratische Auseinander­setzung mit dem antisozialistischen Darwinismus

Dennoch erhebt sich die Frage, ob Darwins Übertragung des Prinzips der ökonomischen »Vernichtungskonkurrenz« unter den Bedingungen knapper Mittel auf die gesamte organische Natur nicht für den Darwinismus von rechts ein mächtiges Legitimationsmuster bot, umgekehrt biologische Muster auf die Gesellschaft zu übertragen: ein Schritt, der, wäre er unwiderleglich begründet, dem Marxismus als authentische Gesellschaftstheorie die Grundlage entzogen hätte. Doch sozialdemokratischen Autoren wie Gustav Eckstein war nicht entgangen, dass im Vergleich zur Abstammungslehre Darwins Selektionstheorie – zumindest in ihrer Haeckel’schen Version – empirisch auf eher schwachen Füßen stand. So musste Darwin einräumen, dass auch das Solidarprinzip ein probates Mittel im Kampf ums Dasein war.33 Er sah sich gezwungen, die natürliche Zuchtwahl durch die geschlechtliche Zuchtwahl zu ergänzen.34 Außerdem räumte er ein, dass der Kampf ums Dasein eher als eine Metapher zu interpretieren sei, die selbst das Bemühen von Pflanzen in der Wüste, sich ein Wasserreservoir zu sichern, mit umfasste.35 Und nicht zuletzt »überleben auch in der freien Natur eine Unzahl von Individuen, die nicht auf der Höhe der Anpassung stehen. Wäre das nicht der Fall, so wäre zur Regeneration überhaupt keine Gelegenheit; denn die Tiere, die Gliedmaßen oder Sinnesorgane verloren haben, müssten als minder tauglich ausgemerzt werden. Hauptsächlich aber wirken gerade die wichtigsten Faktoren der Zerstörung so, daß sie zur Auslese keine Gelegenheit geben. Elementarereignisse wie Dürre, Misswachs, Schnee- und Sandstürme, Lawinen, Überschwemmungen und Verschneiungen und vieles andere lassen kaum irgendeinen individuellen Unterschied aufkommen; sie raffen den Starken meist ebenso dahin wie den Schwachen« (Eckstein 1925, S. 85). Sozialdemokratische Autoren erkannten also, dass die Ausgangslage des Darwinismus von rechts in seinem Verhältnis zur Selektionstheorie ambivalent war. Einerseits wurde ihm konzediert, dass er zu Recht sich auf die Malthus-Rezeption Darwins in seinem Ver– 65 –

Teil II

such berufen konnte, die Differenz zwischen Natur und Gesellschaft einzuebnen. Andererseits ignorierte er aber, dass Darwin selbst aus empirischen Gründen das Selektionsprinzip im Sinne Malthus’ so erheblich modifizieren musste, dass es eigentlich in das Muster ökonomischer Konkurrenz kaum mehr passte. Doch unabhängig von dieser Problematik stellt sich die Frage, welche Argumente der Darwinismus von rechts gegen die Sozialdemokratie vorbrachte. Dieser Angriff erfolgte nicht nur in dem akademischen Schutzraum der Scientific Community des Kaiserreichs, sondern erregte von Anfang an das Interesse der politischen Öffentlichkeit. Auslöser des Streites war eine Rede Rudolf Virchows am 22. September 1872 auf der 50. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in München mit dem Titel »Die Freiheit der Wissenschaft im modernen ­Staate«. In diesem Vortrag stellte er Haeckel und die Evolutionstheorie als Bundesgenossen der Sozialdemokratie hin. Gleichzeitig machte er die Letztere für den Umsturzversuch der Pariser Kommune verantwortlich.36 Der ganze Vorfall eskalierte in seiner Brisanz dadurch, dass am 21. 10. 1878 zwei Attentate auf Wilhelm I. verübt wurden, die hysterische Reaktionen in der Öffentlichkeit auslösten. Da ­V irchow sozialistische Bestrebungen mit der Deszendenztheorie in Verbindung brachte, kam Haeckel nach einigem Zögern nicht umhin, auf Virchows Thesen zu antworten. Tatsächlich hatte dieser in seiner Rede ausgeführt: »Nun stellen sie sich einmal vor, wie sich die Deszendenztheorie heute schon im Kopfe eines Socialisten darstellt! Ja, meine Herren, das mag manchem lächerlich erscheinen, aber es ist sehr ernst, und ich will hoffen, daß die Deszendenz­ theorie für uns nicht alle die Schrecken bringen möge, die ähnliche Theorien wirklich im Nachbarlande angerichtet haben. Immerhin hat auch diese Theorie, wenn sie konsequent durchgeführt wird, eine ungemein bedenkliche Seite, und daß der Sozialismus mit ihr Fühlung genommen hat, wird Ihnen hoffentlich nicht entgangen sein. Wir müssen uns das klar machen« (Virchow 1877, S. 12). – 66 –

Sozialdemokratische Auseinander­setzung mit dem antisozialistischen Darwinismus

Ernst Haeckel wies diese Affinität von Sozialismus und Evolutionstheorie sowohl auf der Ebene der Abstammung als auch auf der der Selektion entschieden zurück. »Deutlicher als jede andere wissenschaftliche Theorie predigt gerade die Deszendenztheorie, daß die vom Sozialismus erstrebte Gleichheit der Individuen eine Unmöglichkeit ist, dass sie mit der tatsächlich überall bestehenden und notwendigen Ungleichheit der Individuen in unlösbarem Widerspruch steht. Der Sozialismus fordert für alle Staatsbürger gleiche Rechte, gleiche Pflichten, gleiche Güter, gleiche Genüsse; die Deszendenztheorie gerade umgekehrt beweist, daß die Verwirklichung dieser Forderung eine bare Unmöglichkeit ist, daß in den staatlichen Organisationsverbänden der Menschen wie der Tiere die Rechte und Pflichten noch die Güter und Genüsse aller Staatsglieder jemals gleich sein werden, noch jemals gleich sein können« (Haeckel 1908, S. 68). Aber auch die Darwin’sche Selektionstheorie stehe quer zum Sozialismus. »Will man dieser englischen Theorie eine bestimmte politische Tendenz beimessen – was allerdings möglich ist – so kann diese Tendenz nur eine aristokratische sein, durchaus keine demokratische und am wenigsten eine sozialistische! Die Selektionstheorie lehrt, daß im Menschenleben wie im Tier- und Pflanzenleben überall und jederzeit nur eine kleine bevorzugte Minderheit existieren und blühen kann, während die übergroße Mehrzahl darbt und mehr oder minder frühzeitig elend zugrunde geht […]. Der grausame und schonungslose Kampf ums Dasein, der überall in der lebendigen Natur wütet, und naturgemäß wüten muss, diese unaufhörliche und unerbittliche Konkurrenz alles Lebendigen, ist eine unleugbare Tatsache; nur die auserlesene Minderzahl der bevorzugten Tüchtigen ist imstande, diese Konkurrenz glücklich zu bestehen, während die große Mehrzahl der Konkurrenten notwendig elend verderben muß!« (Haeckel 1908, S. 68f ) Übereinstimmend setzten die Vertreter eines Darwinismus von rechts den Kampf ums Dasein und die mit ihm korrelierte Selek– 67 –

Teil II

tion und Anpassung mit dem ökonomischen Konkurrenzprinzip gleich.37 Nur in dem Maße, wie ein harter Wettbewerb die gesellschaftlichen Beziehungen steuere, komme es zu deren Weiter- und Höherentwicklung sowie zu einer optimalen Anpassung an neue Herausforderungen. Der Sozialismus aber habe sich die Beendigung dieses Kampfes aller gegen alle auf die Fahnen geschrieben. Also könne er, so argumentierte man, nur eine Fehlentwicklung sein. Er müsse rigoros bekämpft werden, weil er von seinem ganzen Ansatz her die Gesetze der natürlichen Evolution, die auch für die Gesellschaft gälten, negiere, dadurch den Fortschritt blockiere und in letzter Instanz die Kultur zerstöre. In diesem Sinne glaubte Herbert Spencer darauf hinweisen zu können, dass der sozialistische Ansatz mit falschen anthropologischen Prämissen arbeite. Er warnte vor den unbeabsichtigten Nebenfolgen eines künstlichen Eingriffs in die gesellschaftliche Evolution zugunsten des Proletariats: Eine Sozietät könne nur dann stabil bleiben, wenn sie sich den neuen Umweltbedingungen des individualistischen Zeitalters anpasse. Geschehe dies nicht, so sei eine katastrophale Fehlentwicklung die Folge: Es entstehe eine sozialistische Zwangsgesellschaft wie im alten Peru, in der die Masse der Bevölkerung – an den Boden gefesselt – im Privatleben wie bei der Arbeit von einer Beamtenelite des Verwaltungsapparates beherrscht und ausgebeutet werde.38 Im Begründungszusammenhang anders als, aber im Resultat ähnlich wie Herbert Spencer argumentierte Ludwig Büchner*. In seiner Schrift »Sozialismus und Darwinismus« schildert er zunächst die soziale Frage in ihren Auswirkungen auf die Gesellschaft so drastisch, dass ein sozialistischer Kritiker der bürgerlichen Gesellschaft ihn kaum hätte übertreffen können. Auch ist bemerkenswert, dass er im Unterschied zu den sozialdarwinistischen Manchesterliberalen die soziale Frage keineswegs für unlösbar hält. »Man erkennt die sozialen Schäden und Widersinnigkeiten als solche an […]. Aber […] der Zustand ist nicht zu ändern. Es war von jeher so – 68 –

Sozialdemokratische Auseinander­setzung mit dem antisozialistischen Darwinismus

und wird immer so sein und bleiben. Ungleichheit ist ein notwendiges Attribut der menschlichen Gesellschaft. Zu allen Zeiten hat es Adel und Stände, Reiche und Arme gegeben und die große Masse ist immer nur zum Arbeiten und Gehorchen dagewesen« (Büchner 1894, S. 14). Gegen solchen Fatalismus machte Büchner Front.39 Zunächst komme es darauf an, die Ursachen des mit der Industrialisierung einhergehenden sozialen Desasters zu analysieren. Den analytischen Schlüssel böten die aufstrebenden Naturwissenschaften, allen voran die Darwin’sche Evolutionstheorie. Ausgehend von der Tier- und Pflanzenwelt ist es »jener unerbittliche Kampf um das Dasein oder jener Existenzkampf, welcher seit Darwin eine so große Berühmtheit erlangt hat. […] Es ist ein Kampf, welcher von den Einzelnen mit den im ganzen gleichen Mitteln oder der Flucht oder des Wettbewerbs geführt wird, wobei der Einzelne keine Bevorzugung vor andern durch den Schutz der Gesellschaft genießt« (Büchner 1894, S. 6). Ganz anders stelle sich dieser Kampf ums Dasein unter gesellschaftlichen Bedingungen dar. Wenn jemand zur Welt komme, hänge das Ergebnis des Wettbewerbs ab, ob er von Geburt aus über Kapital, Rang usw. verfüge oder nicht. »Daher siegt nicht immer der Beste, sondern der Reichste, nicht der Tüchtigste, sondern der Mächtigste, nicht der Fähigste oder Fleißigste, sondern der durch seine soziale Stellung Bevorzugte […]« (Büchner 1894, S.  7). Aus dieser Asymmetrie der individuellen Fähigkeiten einerseits und der sozial vermittelten Machtinstrumente, sich durchzusetzen, andererseits, die es in der Natur nicht gebe, resultiere im Kern die mit der sozialen Frage gegebene gesamtgesellschaftlich wirkende Ungerechtigkeit. Büchner lässt keinen Zweifel daran, dass er in ihr eine Gefahr für die bürgerliche Gesellschaft sieht, weil sie sich zu einer Revolution ausweiten könnte. Da er sich selber wiederholt zum prinzipiellen Status quo der bürgerlichen Gesellschaft bekennt, optiert er im Sinne einer Revolutionsvermeidungsstrategie für eine – 69 –

Teil II

soziale Reform, welche die ausgewogene Relation zwischen individueller Fähigkeit und den Mitteln, ihnen im Kampf ums Dasein Geltung zu verschaffen, garantiert. Sie beruht auf drei Säulen: 1. der Zurückführung »des von Natur- und Rechtswegen allen gehörigen Eigentums an Grund und Boden in den Besitz der Gesamtheit (mit selbstverständlichem Einschluss der Wasserkräfte und des Bergbaus)« (Büchner 1894, S. 22f ), 2. einer Reform der Erbrechte, die deren Abschaffung mit einschließe, 3.  der »Umwandlung des Staates in eine allgemeine, solidarisch verbundene Versicherungsgesellschaft gegen Krankheit, Alter, Unfall, Individualität und Tod« (Büchner 1894, S. 23). Diese Sozialreform setzte Büchner nun nicht weniger dezidiert als Spencer von der Sozialdemokratie ab, indem er deutlich machte, dass seine Verbesserungsvorschläge die bürgerliche Gesellschaft nicht überwinden, sondern vielmehr stabilisieren wollten. »Ich beabsichtige weder eine Aufhebung des Privateigentums noch eine Beschränkung der persönlichen Freiheit, sondern ganz im Gegenteil eine größere Entfaltung und Entwicklung der letzteren durch die Entfernung der den einzelnen hemmenden Schranken im Kampfe ums Dasein, sowie dadurch, daß im Notfall die Ergreifung der hilfreichen Hand des Staates jedem offen steht, letzteres nicht als ein Almosen, sondern als ein durch Arbeit erworbenes Recht. Wer unter solchen Umständen und bei freier Bahn für Entfaltung seiner Kräfte nichts leistet, der verdient sein Schicksal. Er geht nicht an den Umständen oder an der Ungerechtigkeit der Gesellschaft, sondern an sich selbst zugrunde« (Büchner 1894, S. 47). Demgegenüber müsse die Sozialdemokratie nicht nur an der an­ thropologischen Verfassung der Menschen scheitern, weil die Massen durch ihre bisherigen gesellschaftlichen Erfahrungen den hegemonialen Egoismus internalisiert hätten. Ihn durch altruistische Einstellungen zu korrigieren, würde, wenn es überhaupt gelänge, eine langwierige Erziehungsarbeit voraussetzen. Noch entscheiden– 70 –

Sozialdemokratische Auseinander­setzung mit dem antisozialistischen Darwinismus

der sei, dass ihr Ziel, den gesellschaftlichen Organismus durch die »Organisation der Arbeit von Staats wegen« (Büchner 1894, S. 54) auf eine neue Grundlage zu stellen, eine reine Utopie bleibe. »Die menschliche Arbeit in ihrer Gesamtheit ist ein viel zu kompliziertes und mannigfaltiges, durch das Verhältnis von Angebot und Nachfrage beherrschtes Räderwerk, als dass sich dasselbe auf büreaukratische Weise beherrschen oder regeln ließe. Wollte man eine solche Beherrschung dennoch durchführen, so würde und müsste daraus eine unerträgliche Büreaukratie und Tyrannei und eine Beschränkung der persönlichen Freiheit resultieren, welche die gegenwärtige Beschränkung durch den monarchisch-büreaukratischen Staat« (Büchner 1894, S. 54f ) weit in den Schatten stellte.40 Angesichts der zu erwartenden Zustimmung zu diesen Thesen in der bürgerlichen Öffentlichkeit konnten die sozialdemokratischen Wortführer eine solche Provokation nicht auf sich beruhen lassen. Sie mussten auf dem Boden des Marxismus und in Übereinstimmung mit wesentlichen Elementen der Evolutionstheorie den Sozialismus gegenüber der sozialdarwinistischen Offensive von rechts verteidigen. Die sozialdemokratische Replik konzentrierte sich auf vier Schwerpunkte: 1. Es galt, die These Haeckels zu problematisieren, der Kampf ums Dasein konvergiere mit dem aristokratischen Prinzip. Vielmehr treibe die Entwicklungsdynamik der Evolution die menschliche Kulturentwicklung durch die von ihr bewirkte Individualisierung voran. 2. Die Behauptung der sozialdarwinistischen Gegner, der Kampf ums Dasein laufe auf einen Verdrängungswettbewerb hinaus, war zu kritisieren. In Wahrheit werde dieser durch das natürliche Prinzip der gegenseitigen Hilfe (Kropotkin*) bzw. durch den in der Naturgeschichte verankerten »sozialen Trieb« (Kautsky) korrigiert. 3. Die These, der Sozialismus entziehe der Gesellschaft durch seine Negation des Kampfes ums Dasein seine Entwicklungsdynamik, implizierte die Prämisse, die biologischen Kategorien der Evolution seien direkt auf sozio– 71 –

Teil II

kulturelle Konstellationen anwendbar. Ein solcher biologischer Naturalismus halte der Tatsache nicht stand, dass die Gesellschaft entscheidend von nichtnaturalistischen Faktoren bestimmt werde. 4. Die von Haeckel in die Evolutionstheorie erneut eingeführte Teleologie, wonach der Mensch auf dem obersten Wipfel des evolutionären Stammbaums anzusiedeln sei, und die darauf aufbauende These, es gebe Rassen von unterschiedlicher Qualität, widersprächen sowohl zentralen Aspekten der Evolutionstheorie als auch der historischen Realität. Das erste Argument hat Wilhelm Bölsche in seinem Aufsatz »Sozialismus und Darwinismus« aus dem Jahr 1896 starkgemacht. Wenn man mit der Aristokratie die am besten Angepassten identifiziere, so habe schon Darwin Probleme gehabt, für sie eine passende Definition zu finden. »Sie können auf einer Unmenge verschiedener Eigenschaften je nach den äußeren Existenzanforderungen beruhen. Ebenso ist keine Normalgrenze zu ziehen, wie groß jedes Mal die Zahl der Elite sein soll – auch das wird den Umständen nach ein vollkommen relativer Begriff sein« (Bölsche 1896, S. 273). Noch problematischer werde die Definition, wenn man das »Überleben der Passendsten« auf die Menschen anwende. Wie solle man diese Elite suchen? »Nennen wir sie meinetwegen die ›Aristokratie‹, die sich erhebt – der Ausdruck ist zwar in mehrfacher Hinsicht mangelhaft. Ich denke, man wird mir kaum ernsthaft antworten können, es sei der Rest sogenannter echter Aristokratie, den wir in unseren Kulturländern besitzen, dieses seltsame ›lebende Fossil‹, irgendwie mit der gesuchten darwinistischen Aristokratie der ›Lebensfähigsten‹ gleichzusetzen« (Bölsche 1896, S. 274). Aber auch die offizielle Bildungsaristokratie komme kaum infrage, da »sie nur zu oft starke Degenerationserscheinungen aufweist, die vorläufig bloss unbeachtet bleiben, weil der Besitz der Bildung an sich eine so mächtige Folie giebt« (Bölsche 1896, S. 273). In Wirklichkeit spiele in der Entwicklung der Organismen im Sinne Darwins das individualistische – 72 –

Sozialdemokratische Auseinander­setzung mit dem antisozialistischen Darwinismus

Prinzip eine viel größere Rolle als die aristokratische Ausrichtung, wie Haeckel sie insinuiere. »Im Menschen hat diese Individualvoll­ endung ihren Höhepunkt erreicht hinsichtlich der ganzen übrigen organischen Welt. Die engere Kulturentwicklung dieses Menschen selbst aber ist abermals ein fortschreitender Individualisierungsprozess« (Bölsche 1896, S.  273). Der Sozialismus sei im Kern nichts anderes als der Versuch, alle gesellschaftlichen Hindernisse zu beseitigen, die einer solchen kulturellen Höherentwicklung im Wege stehen. Genau in dieser Dynamik der Individualisierung müsse man die intensivste gemeinsame Schnittmenge zwischen Sozialismus und Darwinismus sehen. Bölsches Argumentation konvergierte in zentralen Aspekten mit der Kritik, die August Bebel in seinem Klassiker »Die Frau und der Sozialismus« an Ernst Haeckels Aristokratie-These übte. Auch er betonte, dass der Kampf ums Dasein in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft »weder den Besten noch den Geschicktesten, noch den Tüchtigsten auf die gesellschaftliche Höhe erhebt, oft aber den Getriebensten und Verdorbensten und diesen in die Lage setzt, die Daseins- und Entwicklungsbedingungen für seine Nachkommen zu den angenehmsten zu machen, ohne daß diese einen Finger zu krümmen brauchen« (Bebel 1990, S.  292f ). Zwar zweifelte auch Bebel nicht an der Existenz eines Kampfes ums Dasein, der freilich in den unterschiedlichen gesellschaftlichen und historischen Kontexten verschiedene Formen annehme. Doch auf den Menschen angewandt, löse er in dessen Bewusstsein Lernprozesse aus, welche ihn der Gewalt blinder Naturzwänge entzögen. In dem Maße, so Bebel, wie der Kampf ums Dasein »zu immer höherer Einsicht in das Wesen der Gesellschaft« verhilft, erkennen die Menschen die Gesetze, »welche ihre Entwicklung beherrschen und bedingen. Schließlich haben die Menschen nur nötig, diese Erkenntnis auf ihre politischen und sozialen Einrichtungen anzuwenden und diese entsprechend umzuformen. Der Unterschied zwischen Mensch und – 73 –

Teil II

Tier ist also, daß der Mensch ein denkendes Tier genannt werden kann, das Tier aber kein denkender Mensch ist. Das begreift ein großer Teil unserer Darwinianer in ihrer Einseitigkeit nicht. Daher der falsche Zirkelschluss, den sie machen« (Bebel 1990, S. 293). Was die zweite Kritikvariante betrifft, so wies man zu Recht darauf hin, dass nach Darwin die schärfste Variante des Konkurrenzkampfes nicht die Regel, sondern die Ausnahme sei. Zwar habe sich Darwin hypothetisch auf die Lehren Malthus’ gestützt. In Wirklichkeit jedoch trete »der scharfe Wettbewerb zwischen verwandten Arten oder Individuen der gleichen Art nur dann ein, wenn die Existenzmittel bis zur äußersten Grenze in Anspruch genommen sind. Das kommt namentlich im Tierreich selten vor; denn je schwieriger die Beschaffung der Existenzmittel wird, je mehr Energie sie beansprucht, desto mehr sinkt die natürliche Fruchtbarkeit der betreffenden Art, da dann entsprechend weniger Energie für die Fortpflanzung bleibt und so ein Hemmnis der übermäßigen Vermehrung entsteht« (Fehlinger 1917, S. 197). Zwar kämpften in Zeiten des Mangels zwei Tiere derselben Art, um in den Genuss von Nahrung zu kommen. Doch lasse sich auch sagen, dass eine Pflanze am Rande der Wüste ums Dasein kämpfe, weil sie von der Feuchtigkeit abhängig sei.41 Auch nach Auffassung der modernen biologischen Erkenntnis bedeute »struggle« »nicht nur Kampf, sondern auch Anstrengung, Abstrampeln oder Ringen. So hat es Darwin verstanden. Es geht auch nicht um die Existenz an sich – es geht darum, sich fortzupflanzen. […] ›Survival of the fittest‹ mit ›Überleben der Bestangepassten oder Stärksten‹ zu übersetzen, ist falsch. Jeder, der grade fit genug ist, Nachkommen zu zeugen, bringt seine Gene in die nächste Runde! Saurier, Riesenhirsche oder Säbelzahnkatzen mögen die Stärksten, die Besten ihrer Zeit gewesen sein. Aber gerade die Spezialisten scheitern oft aufgrund mangelnder Flexibilität, wenn sich die Rahmenbedingungen ändern« (Mikschi 2010, S. 69). – 74 –

Sozialdemokratische Auseinander­setzung mit dem antisozialistischen Darwinismus

Ein weiteres Argument wurde ins Spiel gebracht: Es bezog sich auf die Behauptung der rechten Sozialdarwinisten, der Kampf ums Dasein laufe vorwiegend strikt individualistisch ab.42 Demgegenüber weise bereits Darwin darauf hin, wie in zahlreichen Tiergesellschaften der Kampf ums Dasein zwischen Individuen überlagert werde durch Zusammenwirken. Diese Kooperation führe schließlich zu der Entwicklung der geistigen Fähigkeiten, »die der Art die Bedingungen des Überlebens sichert. Er betonte, dass die Geeignetsten in solchen Fällen weder die körperlich Stärksten noch die Listigsten seien, sondern solche, die gelernt haben, sich so zu verbinden, daß sie sich, ob stark oder schwach, gegenseitig unterstützen, um des Wohls der Gemeinschaft willen« (Fehlinger 1917, S.  197). Diese These wurde von Peter Kropotkin in seinem Buch »Gegenseitige Hilfe in der Entwicklung« (1902) durch selbstständige Forschungen bestätigt.43 »Sobald wir die Tiere zu unserem Studium machen, nicht nur in Laboratorien und Museen, sondern in Wäldern und Prärien, in den Steppen und im Gebirge, bemerken wir sofort, daß trotz ungeheurer Vernichtungskriege unter den verschiedenen Arten und besonders unter den verschiedenen Klassen der Tiere, zugleich in eben so hohem Maße, ja vielleicht noch mehr, gegenseitige Unterstützung, gegenseitige Hilfe und gegenseitige Verteidigung unter Tieren, die zu derselben Art oder wenigstens zur selben Gesellschaft gehören, zu finden ist. Geselligkeit ist ebenso ein Naturgesetz wie gegenseitiger Kampf« (Kropotkin 1904, S. 5f ). Damit ist der dritte Schwerpunkt sozialdemokratischer Auseinandersetzung mit dem Darwinismus von rechts angesprochen. Wenn dieser als Beleg für seine Anwendung biologischer Prinzipien auf die Gesellschaft die Malthus’sche Knappheitsthese Darwins ins Feld führt, so konnte dieser Zuordnung entgegnet werden, dass 1. dieser Rekurs hypothetisch war und dass er 2. durch die Tatsache der Gleichrangigkeit der gegenseitigen Hilfe mit dem Wettbewerb korrigiert und kompensiert wurde.44 Karl Kautsky – nach eigenem – 75 –

Teil II

Bekunden selber Darwinist, bevor er sich zum Marxismus bekannte45 – hat eine anders akzentuierte Antwort auf die Herausforderung des Darwinismus von rechts formuliert, die wohl durchaus auf der Linie der Mehrheitssozialdemokratie lag. Er konzentrierte sich in seiner Replik auf das Hauptargument des gegnerischen Lagers, der Sozialismus strebe programmatisch danach, dem Kampf ums Dasein den Boden zu entziehen. Dadurch nehme er der Gesellschaft die innovatorische Entwicklungsdynamik und verurteile sie zur Stagnation. »Der Einwand gegen den Sozialismus«, erwiderte Kautsky, »er hebe den Kampf ums Dasein auf, ist nicht weniger absurd, als seinerzeit der Einwand, den fromme Leute gegen den Blitzableiter erhoben: er störe den lieben Gott in seinem Richteramt, da er seine Blitze von ihrem Ziel ablenke« (Kautsky 1890, S. 52). In Wirklichkeit sei der biologische Kampf ums Dasein, von dem Darwin spreche, gar nicht auf die Gesellschaft anwendbar.46 Schon in der Tierwelt schränkten ihn zwei Faktoren erheblich ein: das planmäßige Eingreifen der Menschen und das gesellschaftliche Zusammenleben. Beide behinderten nicht nur nicht die Entwicklung der Arten, sondern förderten sie sogar. Doch noch entscheidender sei, dass das biologische Prinzip des Kampfes ums Dasein völlig versage, wenn man es auf die gesellschaftlichen Mechanismen der Arbeit und der Produktion übertrage.47 Darwinismus und Sozialismus als analytische Instrumentarien, so Kautsky, sind mit einem Wort inkompatibel. Der Kampf ums Dasein bedeute Anpassung des Organismus an die ihn umgebenden natürlichen Bedingungen. Umgekehrt bewirke die Produktion die Anpassung der natürlichen Bedingungen an die Bedürfnisse des Organismus, zunächst des Menschen und dann der Tiere. Der Kampf ums Dasein sei blind, die technische Dimension der Produktion dagegen planmäßig. Ersterer ziele ab auf Resultate unter maßloser Verschwendung und Leiden; die Letztere arbeite hin auf optimale Ergebnisse mit möglichst geringem Aufwand. Entwick– 76 –

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lung durch Produktion und Entwicklung durch den Kampf ums Dasein sind also, Kautsky zufolge, zwei völlig verschiedene Begriffe. Das Wissensgebiet der Gesellschaft und das der Arten hätten ihre eigenen Gesetze, die nicht gegenseitig transferierbar seien.« Die Gesetze der Konkurrenz aus den Gesetzen des Kampfes ums Dasein abzuleiten, ist ungefähr ebenso vernünftig, als [sic!] die Gesetze des Geldumlaufs nach denen des Blutumlaufs bestimmen zu wollen« (Kautsky 1890, S. 53). Für Kautsky war also die Frage nach der Vereinbarkeit von Sozialismus und Darwinismus obsolet, weil sie beide nichts miteinander zu tun hätten. »Die Naturforscher haben als solche über den Sozialismus kein Urteil. Aber ebenso wenig die Sozialisten als solche über naturwissenschaftliche Fragen. […] In naturwissenschaftlichen Fragen beugen wir uns vor den Autoritäten auf diesem Gebiet. Aber wir lassen uns von ihnen nicht imponieren, wenn sie auf Fragen zu sprechen kommen, von denen sie oft viel weniger verstehen als wir« (Kautsky 1890, S. 54). Dass Kautskys Unvereinbarkeitsthese durchaus auf positive Resonanz im sozialdemokratischen Darwinismusdiskurs stieß, geht aus einem Aufsatz in den »Sozialistischen Monatsheften« hervor. Zunächst stellt der Autor fest, die eigentliche Leistung Darwins bestehe nicht in der Betonung der Entwicklung der Arten und des Menschen. Was sein Werk vielmehr auszeichne, sei die Tatsache, dass er zum ersten Mal das Kausalitätsprinzip in die Biologie eingeführt und damit die Anschlussfähigkeit an die modernen Naturwissenschaften, allen voran die Physik, ermöglicht habe. »Durch Darwin wurden nun aber die am Menschen bewunderten Eigenschaften auch als naturgemäß und mechanisch entstanden erklärt, und somit die moderne, mechanische Naturauffassung auf den Menschen selbst unmittelbar übertragen« (Borchardt 1897, S. 485). In diesen daraus hervorgegangenen Kulturkampf zwischen moderner Naturwissenschaft und den traditionalistischen, vor allem kirchlichen Anhängern der dualistischen Leib-Seele-Theorie, die – 77 –

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eine Sonderstellung des Menschen im Kosmos behaupte, sei die Sozialdemokratie aufgrund ihres stark von den modernen Naturwissenschaften geprägten Weltbildes voll hineingezogen worden, und zwar so, dass viele ihrer Autoren sich für das Gegenteil der Haeckel’schen These, der Darwinismus widerlege den Sozialismus, einsetzten. Doch der Autor hielt die Behauptung, der Darwinismus sei eine der stärksten wissenschaftlichen Stützen des Sozialismus, für ebenso verfehlt wie das Gegenteil. »Die Darwinsche Lehre ist eine naturwissenschaftliche Theorie, der wissenschaftliche Sozialismus eine national-ökonomische, und ich vermag nicht einzusehen, was sie miteinander zu tun haben« (Borchardt 1897, S. 487). Allerdings ist zu beachten, dass Kautskys These, gesellschaftliche Regelmäßigkeiten ließen sich nur aus dem Studium der Gesellschaft und natürliche Strukturen nur aus der Analyse der Natur erschließen, durchaus die Möglichkeit mit einschloss, dass »Gesetze der Gesellschaft« mit denen der Natur übereinstimmen. Dies ist auch der Grund, warum Kautsky in der Frage, wie die Darwin’sche Abstammungslehre zu erklären ist, dem Neo-Lamarckismus im Vergleich zur Selektionstheorie höhere Priorität einräumte. »Aus der Verschiedenheit der Individuen können sich unmöglich die Gemeinsamkeit der Artmerkmale erklären, weil die vereinzelt vorkommenden Abänderungen von den Kreuzungen verwischt werden. Nur Massenerscheinungen können artbildend sein, Wirkungen, auf die die große Masse der Artgenossen gleichartig reagiert. Artbildende Massenwirkungen der Umwelt stellen die durch geologische und klimatische Wandlungen herbeigeführten Lebensbedingungen dar, die mit der fortschreitenden Abkühlung, Schrumpfung, mit der steigenden Mannigfaltigkeit der Erdrinde auftreten« (Ronai 1928, S. 236). Diese geologischen Veränderungen globalen Ausmaßes sind nach Kautsky die Kräfte, welche die Evolution vorantreiben. Die günstigsten Anpassungen an diese Herausforderungen, vermittelt durch die Vererbung der in diesem Kontext erworbenen Eigen– 78 –

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schaften, überleben und pflanzen sich fort. Es tritt nun ein neues Gleichgewicht zwischen den Arten und der Umwelt ein, das im Falle der Menschen dadurch zustande kommt, dass sie sich durch die Produktion künstlicher Organe eine künstliche Umwelt schaffen, die das Eigenartige der menschlichen Gesellschaft darstelle.48 Das Studium der Natur legt Kautsky zufolge nahe, bei eruptiven Veränderungen der natürlichen Umwelt von Zeitabschnitten der »Revolution« und bei Perioden des Gleichgewichts zwischen den Arten und der natürlichen Umwelt, also der der relativen Ruhe, von konservativen Zeitabschnitten zu reden (vgl. Teil I, S. 15). Auch der Begriff »Gleichgewicht« in der Natur deutet ebenso eine soziologische Semantik an wie die Kategorie »Massenbewegungen in der Natur und individuelle Änderungen« oder »konservative und revolutionäre Zeitabschnitte« (Ronai 1928, S.  236). Zwar dürfen nach Kautsky soziologische Sachverhalte nicht eins zu eins auf natürliche und umgekehrt natürliche Sachverhalte nicht eins zu eins auf soziologische übertragen werden. Doch wenn »bei dem Studium der Gesellschaft Gesetze entdeckt werden, die mit den Gesetzen der Natur übereinstimmen, so dürfen diese gemeinsamen Schnittmengen mit Befriedigung festgestellt werden. Deshalb erblickt Kautsky in den aufeinander verweisenden Zügen der materialistischen Geschichtsauffassung und jener biologischen Lehre, die die Entwicklung der Lebewesen auf Wandlungen der Umwelt zurückführt, eine Bekräftigung der Gesetze auf jedem der beiden Gebiete« (Ronai 1928, S. 236). Im Klartext heißt dies: Regelmäßigkeiten der Natur und der Gesellschaft sind nicht mechanisch transferierbar. Wenn es aber zu Übereinstimmung kommt, tragen sie zur Bestätigung und Befruchtung des jeweiligen Wissensgebietes bei. Die Differenz zum Sozialdarwinismus von rechts besteht dann darin, dass Natur und Gesellschaft zwei autonome Arbeitsgebiete darstellen mit einem jeweils eigenständigen Kategorienapparat. Abgelehnt wird also sowohl eine Hegemonie der Naturwissenschaften, in diesem Falle – 79 –

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der Biologie, über die Gesellschaftswissenschaften als auch umgekehrt eine Vorherrschaft der Gesellschaftswissenschaften über die Naturwissenschaften. Dennoch redet Kautsky keinem Dualismus zwischen beiden Wissensbereichen das Wort. Wie des Menschen animalische Natur nichtdualistisch von seiner soziokulturellen, von ihm selbst geschaffenen sekundären Natur überwölbt ist, so hat die Gesellschaft als Kunstprodukt des Menschen ein eigenes unverwechselbares Profil, aber die »Entstehung der künstlichen Umwelt bedeutet nicht das Verschwinden der natürlichen Umwelt. Kautsky betont die Bedeutsamkeit der Naturbedingungen« (Ronai 1928, S. 237). Doch während Darwin in seinem berühmten Brief an Marx noch bekannte, er könne sich in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften kein kompetentes Urteil erlauben49, gaben seine Schüler wie Huxley, Haeckel und Spencer50 diese Zurückhaltung auf. Sie schlossen Biologie und Gesellschaftswissenschaften kurz, und zwar durch Subsumtion der Letzteren unter die Erstere. So machte Max Beer den Lesern der »Neuen Zeit« plausibel, inwiefern die Prämissen der Sozialphilosophie Herbert Spencers im Gegensatz zu den historisch-gesellschaftlichen Kategorien des Erfurter Programms standen: Bereits in den Anfängen seines Systems in dem 1850 erschienenen Buch »Social Statistics« standen, wie Beer darlegte, folgende Elemente im Vordergrund seines Denkens, die alle eine antisozialistische Stoßrichtung aufweisen: »Der Mensch ist frei und in seiner Freiheit nur durch die Rücksichten auf die Freiheit seiner Mitmenschen beschränkt. Solange der Mensch innerhalb dieser Grenze bleibt, hat der Staat kein Recht zum Eingreifen. Die einzig berechtigte staatliche Tätigkeit ist Justiz und Landesverteidigung. Alle anderen staatlichen Aktionen sind Angriffe, auf die der Bürger mit Steuerverweigerung, mit der Negation des Staates zu antworten hat« (Beer 1904, S. 612). Aber nicht nur das Staatsverständnis Spencers ist dezidiert antisozialistisch; auch das individualistische Men– 80 –

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schenbild mit seiner evolutionär-egoistischen Stoßrichtung steht quer zum Ziel einer sozialdemokratischen Solidargemeinschaft.51 »Die Natur des Menschen modifiziert sich fortwährend und passt sich den Umständen an. Die sich ändernden Umstände verlangen vom Menschen neue Funktionen und die neuen Funktionen verändern die Struktur des Organismus. Die Organismen, die sich nicht anpassen können, sterben aus. Jeder staatliche Eingriff, der darauf abzielt, Hilfe zu leisten den Individuen, die sich nicht anpassen können und im Kampfe der Konkurrenz untergehen, ist schädlich« (Beer 1904, S. 612).52 Dem entspricht, dass Spencer zufolge »eine menschliche Gemeinschaft, wie ein Staat oder eine Nation, […] ein sozialer Organismus« ist; »die Individuen sind die Zellen. Die niedrigeren Typen von Organismen, ebenso wie die niedrigeren Typen von menschlichen Gemeinschaften zeigen den gleichen Zug, daß sie aus mehreren gleichartigen Teilen bestehen, die gleichartige Funktionen erfüllen; höhere Typen von Organismen und Gemeinschaften sind sich darin gleich, daß sie aus mehreren ungleichartigen Teilen bestehen, die ungleichartige Funktionen erfüllen« (Beer 1904, S. 612). Spencers Ziel war es, ein allgemeines Naturgesetz in der Gesellschaft zu entdecken, um die staatlichen Gesetze beseitigen zu können. Und dieses Gesetz glaubte er in der Biologie, genauer: in der Darwin’schen Evolutionstheorie zu finden. Indem die gesellschaftliche Entwicklung auf die Ebene der Biologie (Principles of Biology) heruntergebrochen wird, wird die sozialdarwinistische Stoßrichtung besonders deutlich: »Leben ist eine fortwährende Anpassung der inneren Beziehungen an die äußeren. Da die Umwelt im Laufe der Entwicklung an Verschiedenartigkeit zunimmt, so müssen die Organismen – infolge ihres Bemühens, sich der Umwelt anzupassen – ebenfalls an Verschiedenartigkeit zunehmen. Die Änderungen in der Umwelt erzeugen bei den Organismen die Notwendigkeit nach neuen Funktionen und diese nach neuen Organen. Dieser Prozess – 81 –

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vollzieht sich nicht nur durch ›direkte‹ Anpassung, sondern auch ›indirekt‹, indem die Organismen, die sich nicht anpassen können, aussterben. Dies ist die ›Lehre vom Überleben der Tüchtigen‹, die man bei Darwin als Lehre von der ›natürlichen Auslese‹ wieder findet« (Beer 1904, S. 656f ). Mit diesem biologischen Organismus analogisierte er die menschlichen Vergesellschaftungsformen: mit den Zellen die Horden, Stämme oder Rassen, mit den Ektodermen, Endodermen und Mesodermen den Wehrstand, die Arbeiterklasse und die Kapitalistenklasse. Ferner spielt in seiner Soziologie die Antithese zwischen Militarismus und Industrialismus eine Rolle. Ihm zufolge bedeutete der Militarismus den Krieg und der Handel den Weltfrieden: eine These, die noch zu seinen Lebzeiten durch die kriegerische Tendenz des britischen Imperialismus widerlegt wurde. Zusammenfassend kann gesagt werden: »Spencer hat die in der Gesellschaft wirkenden immanenten ökonomischen Gesetze […] nicht beachtet. Er war weder Ökonom noch Historiker. Seine Zentralwissenschaft war die Biologie, deren Gesetze er überall zu finden glaubte« (Beer 1904, S. 656). Genau diese Feststellung markierte die Grenzüberschreitung, die, wie wir sahen, Kautsky anprangerte. Und sie konstituierte zugleich auch die sozialdemokratische Verteidigungslinie, von der aus man Front machte gegenüber den Versuchen, das sozialistische Terrain mit sozialdarwinistischen Mitteln zu okkupieren. Im Kern wurde nun der Rahmen, den Kautskys Trennlinie zwischen Natur- und Gesellschaftswissenschaften absteckte, mit weiteren inhaltlichen Details gefüllt. Darwin, so lautete ein zusätzliches Argument, sei in seiner Theorie von individuellen Eigenschaften der organischen Welt in ihren Arten und Varietäten ausgegangen. Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kämpfe der Gegenwart beruhten aber nicht auf persönlichen Eigenschaften, sondern auf äußeren Machtmitteln. Daher könnten diese Kämpfe auch nicht als Kampf ums Dasein im darwinistischen Sinne aufgefasst werden. Heinrich – 82 –

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Cunow wandte ferner ein, dass die von Darwin aus der Tier- und Pflanzenwelt abgeleitete Evolutionstheorie deswegen nicht eins zu eins auf gesellschaftliche Konstellationen übertragen werden könne, weil »die Menschen in Folge ihrer Vernunft die Fähigkeit besäßen, den schädlichen Wirkungen der Naturgesetze vorzubeugen« (Cunow 1890, S. 326). Dem stimmte Johann Polach in der Theoriezeitschrift der SDAP »Der Kampf« zu. »Nichts wäre unrichtiger, als den von der materialistischen Geschichtsauffassung statuierten Klassenkampf als einen Daseinskampf im Sinne der Darwinschen Lehre aufzufassen und in der Tatsache der Klassenherrschaft in der auf dem Privateigentum aufgebauten Gesellschaft einen notwendigen Ausdruck natürlicher Überlegenheit, in den Postulaten des Sozialismus ein Löcken wider Naturnotwendigkeit zu sehen« (Polach 1909, S. 330). In dem bekannten Schreiben an Marx (vgl. Anm. 49) habe Darwin selbst zugegeben, dass er sich als Naturforscher nicht kompetent über soziale Tatsachen äußern könne. Im gleichen Sinne antwortete er auf einen Brief des Privatdozenten Dr.  Thiel, der die Selektionstheorie auf die zwischenmenschlichen Beziehungen angewendet wissen wollte, es sei ihm früher nicht eingefallen, »dass meine Ansichten auf so weit abweichende und höchst wichtige Gegenstände ausgedehnt werden könnten« (zit. n. Polach 1909, S. 328). Zwar musste sich der Mensch, so Polach, in den Anfängen seiner Naturgeschichte im Sinne einer natürlichen Selektion gegen die ihn bedrohenden Tiere durchsetzen. Doch in späteren Zeiten trete er uns in sozialen Verbänden organisiert entgegen. Sicherlich geprägt von ererbten sozialen Instinkten, hätten sich jetzt Wille und Bewusstsein zu einem organisierenden Faktor verdichtet, mit dessen Hilfe der Mensch seine Daseinsbedingungen künstlich verbesserte. Es sei ihm gelungen, dadurch dem Korsett naturalistischer Zwänge ein Stück Autonomie abzugewinnen, in deren Rahmen er sich »durch Verlängerung der Hand mittelst der Waffe gegen Zufälligkeiten im – 83 –

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Kampfe, durch Herstellung von Höhlen und Behausungen gegen die Ungunst der Witterung« etc. geschützt habe, bis schließlich der naturwüchsige Kommunismus abgelöst worden sei von arbeitsteilig und staatlich organisierten Stände- und Klassengesellschaften. Diese sozialen Formationen aber seien so durch menschliche Praxis und soziokulturelle Kontexte geprägt, dass sie Gesetzlichkeiten folgten, welche sich vom biologisch-naturalistischen Schema emanzipiert hätten. »Wenn mit Stammler die sozialwissenschaftliche Betrachtung als teleologische (Zweckmäßigkeitsbetrachtung) von der kausalen der Naturwissenschaften unterschieden wird, so kann sich damit ein Marxist einverstanden erklären« (Polach 1909, S. 331). Karl Pearson* kann in diesem Sinne nachweisen, dass sich die Autoren der These, der Sozialismus führe zur Regression des Menschen, indem er ihn wieder auf das Niveau von Affen reduziere, zu Unrecht auf Darwin beriefen. Darwin habe dem Kampf ums Dasein innerhalb einer Spezies nur dann eine selektive Bedeutung zugeschrieben, wenn es sich um eine stationäre Gesellschaft bzw. Population unter der Bedingung handele, dass diese ihren Nahrungsspielraum voll ausgeschöpft habe. Seine Bedeutung nehme aber in dem Maße rapide ab, wie wir es mit zivilisierten Gesellschaften zu tun hätten. In ihnen hänge der Fortschritt nur in geringem Maße von der natürlichen Zuchtwahl ab, weil die gegenseitige Ausrottung wie unter wilden Stämmen für sie kein Thema sei. In Wirklichkeit hätten in modernen Gesellschaften mit dynamischer Bevölkerungsentwicklung und einem durch Technik erweiterten Nahrungsspielraum andere Kräfte noch eine höhere Bedeutung als der Kampf ums Dasein. Der Fortschritt werde nämlich in ihnen durch die Wirkung der Gewohnheit, der Vernunft, der Bildung, Religion usw. stärker vorangetrieben als durch die natürliche Zuchtwahl, »wenn auch dieser Kraft die sozialen Instinkte zugeschrieben werden dürfen, welche die Grundlage für die Entwicklung des moralischen Gefühls dargeboten haben« (Darwin, zit. n. Pearson 1898, S. 755). – 84 –

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Ähnlich wie Cunow und Pearson äußerte sich Eduard Bernstein. Es sei bedauerlich, dass der Name des großen Naturforschers Darwin missbraucht werde, wenn das bürgerliche Lager die Schlüsselkategorie des Kampfes ums Dasein inflationär gebraucht. Es wendete sie »in schablonenhaftester Weise auf Alles und Jedes [an], ob es sich um Pflanze oder Tier, um das Menschengeschlecht auf seinen ersten oder die menschliche Gesellschaft auf ihren höchsten Entwicklungsstufen handelt« (Bernstein 1894, S. 71). Entsprechend könne man auch nicht die Methoden der Naturwissenschaften und ihren Gegenstand umstandslos auf den der Sozialwissenschaften übertragen. Auch wenn der Mensch auf der höchsten Stufe seiner Entwicklung »Geschöpf der Natur« bleibe, so müsse dennoch der Tatsache Rechnung getragen werden, dass er sich von allen anderen Lebewesen unterscheide. Wenn man nun unter der Sozialwissenschaft die Wissenschaft der menschlichen Gesellschaft verstehe, so erzwinge ihr spezifischer Gegenstand die Unterscheidung zwischen Sozial- und Naturwissenschaft. »Die Fragen der Entwicklung der Familie, des Eigentums und des Staates in der Menschheit, die Bevölkerungsfrage, die Konkurrenz, die Frage des Krieges etc. sind mit bestimmten Fragen der Naturwissenschaften verknüpft, aber sie sind selbst keine Fragen der Naturwissenschaft als solcher« (Bernstein 1894, S. 77). In der Auseinandersetzung mit dem Sachbuch von Benjamin Kidd*, »Soziale Evolution« (Kidd 1895), verschärfte Cunow seine Kritik am biologischen Naturalismus und dessen Anspruch, auch die Deutungshoheit über die Sozialwissenschaften zu übernehmen. Kidds Kernthese lautete: »Er [der Fortschritt] ist das Resultat der Selektion und Ausscheidung« (Cunow 1896, S. 422). Unter Selektion fasste er einerseits das Überleben derjenigen Ethnien, die sich den Existenzbedingungen am besten anzupassen wussten (Rassense­ lektion), und andererseits individuelle Selektion (ökonomische Konkurrenz). »Wo Fortschritt ist, da ist unausbleiblich Selektion, – 85 –

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und die Selektion muß irgendwelche Konkurrenz in sich schließen« (Cunow 1896, S. 422). Beide Varianten, aus biologischen Analo­gien gespeist, zielen also auf gesellschaftliche Sachverhalte (Rassenkonflikte und ökonomischen Wettbewerb), und sie implizieren die teleologische Vorstellung einer Höherentwicklung bzw. Perfektion der Gesellschaft durch die vom Kampf ums Dasein vorangetriebene Evolution. Cunow setzte sich nun mit diesen Thesen deswegen ausführlich auseinander, weil sie im Kern wesentliche Prämissen des Sozialdarwinismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf eine prägnante Formel brachten. Doch mit welchen Argumenten kritisierte er diesen Ansatz? Cunows Kritik wählte den Weg der empirischen Widerlegung. 1. Gegen die Gleichsetzung der Selektion mit dem wirtschaftlichen Konkurrenzkampf wendet er ein, sie ignoriere den Unterschied der Rivalität unter natürlichen und artifiziellen (gesellschaftlichen) Bedingungen. »Daß es sich in der Rivalität zwischen den Lebewesen um morphologische Unterschiede, in dem wirtschaftlichen Konkurrenzkampf hingegen um die wirtschaftliche Stellung des einzelnen in der Gesellschaft, resp. um den individuellen Anteil am gesellschaftlich erzeugten Reichtum handelt, kommt für Herrn Kidd nicht in Betracht« (Cunow 1996, S. 422). 2. Die Unterstellung einer Rassenauslese durch Selektion ist historisch nicht haltbar. Denn in der Regel endeten die einschlägigen bewaffneten Konflikte nicht mit der Auslöschung des unterlegenen Teils, sondern in dessen Assimilation mit der siegreichen Ethnie (vgl. Cunow 1896, S. 424). Was die innere, d. h. individuelle Auslese betrifft, so sei die Behauptung kontrafaktisch, nur über den Durchschnitt hervorragende Individuen gelangten zur Reproduktion (Cunow 1896, S. 422). 3. Die Behauptung, in Waffengängen seien kriegerische Eigenschaften wie Mut, Tapferkeit, körperliche Gewandtheit der Einzelnen, also der höhere Grad ihrer biologischen Entwicklung, entscheidend, widerspreche den Tatsachen. »Nicht die individuellen, sondern die sozi– 86 –

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alen Eigenschaften, die größere Individuenzahl, die Festigkeit der inneren Organisation, die zur Verfügung stehenden Hilfsmittel etc. entscheiden über den Sieg. Wohin wir blicken, überall finden sich Dutzende von Beispielen für die Zurückdrängung relativ hochstehender Völkerschaften durch ihnen geistig und körperlich nachstehende, aber an Zahl überlegene ethnische Gruppen« (Cunow 1996. S. 423). Diese Tendenz sei auch im Tierreich zu beobachten. Tatsächlich müsse Darwin als entschiedener Gegner der Perfektionsthese gelten. Anpassung an gegebene Umstände werde von ihm nicht mit »Höherentwicklung« identifiziert. Vielmehr ersetze er den teleologischen Ansatz53 konsequent durch das Kausalitätsprinzip.54 »Es ist eine tendenziöse Einstellung, welcher manche Biologen sich schuldig machen, wenn sie das Wort ›der Passendste‹ ohne weiteres mit ›der Bessere‹ übersetzen und hierunter dann nicht das den jeweiligen Bedingungen am besten Angepasste, das unter den gegebenen Verhältnissen Lebensfähigste begreifen, sondern das im absoluten Sinne Bessere« (Cunow 1896, S. 424). Cunows Kritik an Kidds naturalistischer Gleichsetzung von Natur und Kultur bzw. Gesellschaft oder von Naturding und Artefakt ist bis auf den heutigen Tag aktuell.55 Ursprünglich weitgehend wie die Tier- und Pflanzenwelt von der äußeren natürlichen Umwelt abhängig, habe sich der Mensch im Gegensatz zu den übrigen Lebewesen sukzessiv durch die technische Entwicklung von dieser Abhängigkeit schrittweise emanzipiert. »An die Stelle der Abhängigkeit von den Naturbedingungen tritt die Abhängigkeit von den gesellschaftlichen Bedingungen und damit weiterhin der Kampf um die wirtschaftliche Organisation der Gesellschaften: die sozialen Kämpfe zwischen ihren bevorrechteten und benachteiligten Schichten. Auf unserer heutigen Entwicklungsstufe sind wir bekanntlich in unserer Existenz nur noch in sehr geringem Maße auf die freiwilligen Gaben der Natur angewiesen, desto mehr aber sind wir abhängig vor der gesellschaftlichen Unterhaltsbeschaffung, von der – 87 –

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heutigen Produktion« (Cunow 1896, S. 427). Was folgt aus diesem Auseinanderklaffen der Entwicklung der Tier- und Pflanzenwelt einerseits und der gesellschaftlichen Entwicklung andererseits? In dem Maße, wie der Mensch die natürlichen durch künstliche, d. h. gesellschaftliche Bedingungen ersetzt hat, kann »das soziale Leben des Menschen auch nicht einfach nach Analogien des Tier- und Pflanzenlebens beurteilt werden«, ohne die »aus dem speziellen eigenartigen gesellschaftlichen Entwicklungsgang des Menschen sich ergebenden sozialen Gesetze mit in Rechnung« zu stellen (Cunow 1896, S. 428). Damit liege der Reduktionismus der Formel naturalistischer Biologen auf der Hand, der Mensch und seine sozialen Organisationen seien eins zu eins den Gesetzen der Arten, der Entstehung und der Veränderung des Tier- und Pflanzenreiches unterworfen.56 Die evolutionären Schnittmengen, die der Mensch als Lebewesen mit der organischen Natur teile, reichten nicht aus, sie umstandslos gemeinsamen ahistorischen Gesetzen zu unterwerfen. Zweifellos hat Cunow mit dieser These einen sozialdemokratischen Grundkonsens auf den Begriff gebracht. Aber die Frage bleibt, ob die Sozialdemokratie bei dem Resultat stehen bleiben konnte, »daß für die Gesellschaft nur der Marxismus, für die organische Welt nur der Darwinismus gilt, ohne daß sie auf das andere Gebiet übergreifen dürfen« (Pannekoek 1909, S. 25). Anton Pannekoek war der sozialdemokratische Autor, der, soweit ich sehen kann, diese Frage am konsequentesten gestellt hat. Zwar sei es für die Praxis bequem, das marxistische Prinzip der Gesellschaft und das darwinistische Muster der Tier- und Pflanzenwelt zuzuordnen. Aber bei dieser Arbeitsteilung werde leicht übersehen, »daß der Mensch auch ein Tier ist. Der Mensch hat sich aus dem Tier entwickelt, und die Gesetze, die für die Tierwelt gelten, können doch nicht auf einmal für ihn ihre Gültigkeit verlieren« (Panne­ koek 1909, S. 25). Nun hat die sozialdemokratische Anwendung der Evolutionstheorie gezeigt, dass sie den Menschen in der gemeinsa– 88 –

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men Schnittmenge seiner ersten (animalischen) und seiner zweiten (soziokulturellen) Natur verankert: Der Mensch ist aufgrund seiner animalischen, in der biologischen Naturgeschichte verankerten Dimension ein Tier, aber er ist, weil er nur in einer künstlichen, von ihm errichteten soziokulturellen Umwelt überleben kann, zugleich ein »besonderes Tier«. Folgerichtig zog Pannekoek aus diesem Sachverhalt den Schluss, dass das Besondere des Menschen nur die Differenz sein könne, die ihn vom Tier unterscheidet. Doch warum gilt das für Tiere gültige Prinzip nicht oder nur mit Einschränkung oder in einer anderen Gestalt für den Menschen? Dieses Problem bestehe für den Darwinismus von rechts nicht, weil für ihn der Mensch ein Tier sei und daher die Prinzipien der Evolution unmittelbar auf den Menschen angewendet werden können. Für den marxistischen Sozialismus lägen die Dinge nicht so einfach. In dem Maße, wie er das Besondere des Menschen aufgrund seiner soziokulturellen zweiten Natur betone, komme er um die Klärung der Unterschiede zwischen Mensch und Tier nicht herum (Pannekoek 1909, S. 26). Wie Karl Kautsky und Peter Kropotkin schon vor ihm, geht Pannekoek zunächst davon aus, dass der Mensch als geselliges Wesen auf »gegenseitige Hilfe« angelegt und befähigt ist, das Solidarprinzip als eine mächtige Waffe im Kampf ums Dasein anzuwenden. Doch »das gesellschaftliche Zusammenleben mit seiner Folge, den sittlichen Trieben, ist eine Besonderheit, die den Menschen von einigen, aber nicht von allen Tieren unterscheidet« (Pannekoek 1909, S. 32). Worin bestehen dann aber die Besonderheiten, welche ihm allein zukommen und ihn scharf vom Tierreich trennen? Pannekoek nennt drei Eigenschaften, die diesem Kriterium entsprechen: die Sprache, das vernünftige Denken und die selbst geschaffenen Werkzeuge. Zwar könne niemand bestreiten, dass Tiere über eine Stimme verfügten, die eine Kommunikation zwischen ihnen ermögliche. Aber nur Menschen seien in der Lage, Bezeichnungen als Namen Handlungen und Dingen zuzuordnen. Auch Tiere seien mit einem Ge– 89 –

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hirn ausgestattet. Aber nur den Menschen befähige es zu abstraktem Denken. Gleichfalls könne niemand die Fähigkeit der Tiere bestreiten, Stöcke und Steine als Werkzeuge zu benutzen. Nur der Mensch jedoch benutze Werkzeuge, die er sich zur Erreichung bestimmter Zwecke selbst herstelle. Alle diese besonderen Eigenschaften des Menschen setzten jedoch eines voraus: die Gesellschaft. Freilich handele es sich um eine Conditio sine qua non, die auch für die geselligen Tiere zutreffe. Dennoch gebe es einen entscheidenden Unterschied, der differente Handlungsmuster begründe. »Bei dem Tier folgt die Handlung unmittelbar auf den Eindruck; es sieht die Beute oder die Nahrung und unmittelbar folgt darauf das Zuspringen, das Essen […]. Bei dem Menschen schiebt sich zwischen den Sinneseindruck und die Handlung eine lange Kette von Gedanken und Überlegungen in seinem Kopf, und je nach dem Resultat der Überlegung wählt er seine Handlung aus« (Pannekoek 1909, S. 34). In Anlehnung an Friedrich Engels57 betont Pannekoek, dass diese Differenz auf das Engste verbunden sei mit dem Werkzeuggebrauch als der Grundlage menschlicher Arbeit.58 Zwischen dem selbst gestalteten Werkzeug und dessen Anwendung zur Erreichung eines bestimmten Zweckes schieben sich alternative Reflexionsreihen, die komplizierter werden, je verwickelter die Technik ist. »Diese enge Verknüpfung von Denken, Sprache und Werkzeugen, die ohne einander nicht möglich sind, beweist, daß sie sich alle gleichzeitig und zusammen allmählich entwickelt haben müssen« (Pannekoek 1909, S. 36). Von seiner evolutionären Naturgeschichte mit den Grundbedingungen des gesellschaftlichen Lebens und der Affenhand ausgestattet, beginnt der Mensch durch Arbeit seinen Lebensunterhalt zu sichern: In dem Maße, wie er sich zu diesem Zweck mit der äußeren Natur auseinandersetzen muss, mutieren die Werkzeuge zur Verlängerung der Organe seines Körpers selbst. »Die Hand wird zum Generalorgan, das keiner einzigen Arbeit speziell angepaßt ist, weil es für alle zusammen dient, weil es sich zum – 90 –

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Festhalten und Handhaben aller Werkzeuge ausbildet. Die Werkzeuge sind die äußeren Dinge, die abwechselnd in die Hand genommen werden und sie dadurch zu einem wechselnden Organ mit wechselnden Funktionen machen« (Pannekoek 1909, S.  38). Diese Entwicklungsstufe des Werkzeugsgebrauches eröffnete dramatische Perspektiven, die das Tier nicht kennt. »Während das Tier dem natürlichen Kontext seiner spezifischen Lebenswelt angepasst ist, ist der Mensch mit seinen Werkzeugen« für alle Verhältnisse und »für jede Umgebung gerüstet« (Pannekoek 1909, S.  38): Er kann – im Gegensatz zu den Tieren – in gemäßigten Regionen ebenso überleben wie in der Wüste oder an den Polen.59 Was folgt aus der aus dieser »Organdifferenz« resultierenden Weltoffenheit für den Kampf ums Dasein im Reich der Tiere und der Menschen? »Bei dem Tier führt er [der Kampf ] zu einer stetigen Entwicklung der natürlichen Leibesorgane; dies ist die Grundlage der Abstammungslehre, der Kern des Darwinismus. Bei den Menschen führt er zu einer stetigen Entwicklung der Werkzeuge, der Technik, der Produktivkräfte. Das ist aber die Grundlage des Marxismus« (Pannekoek 1909, S.  40). Das Verhältnis beider lässt sich also als Einheit in der Verschiedenheit interpretieren: »Die neue Richtung, die mit der Entstehung des Menschen eingeschlagen wird, die Ersetzung der natürlichen Organe durch künstliche Werkzeuge, bewirkt, daß dieses Grundprinzip sich in der Menschenwelt in ganz anderer Weise als in der Tierwelt äußert, daß dort der Darwinismus, hier der Marxismus das Entwicklungsgesetz bestimmt« (Pannekoek 1909, S. 40). Doch wie wirkt sich diese Konstellation in den gesellschaftlichen Konfliktlagen aus? Die besondere Form, die der Darwin’sche Kampf ums Dasein als Triebkraft der Entwicklung der Menschheit annehme, so Pannekoek, sei durch das gesellschaftliche Zusammenleben und den Werkzeuggebrauch bestimmt. »Die Menschen führen den Kampf gemeinsam in Gruppen; innerhalb der Gruppe hört der – 91 –

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gegenseitige Kampf ums Dasein auf und treten gegenseitige Hilfe und soziale Gefühle auf, während zwischen den Gruppen immer noch der Kampf herrscht« (Pannekoek 1909, S. 42). Während er im Tierreich weiter als physische Konfrontation stattfindet, verlagert er sich in der Gesellschaft immer mehr auf die technische Ebene der Werkzeuge und später der Maschinen als Organersatz.60 »Die vollkommene Maschine schlägt die unvollkommene Maschine; die leistungsunfähigen Maschinen und kleinen Werkzeuge gehen zugrunde und die Maschinentechnik entwickelt sich mit Riesenschritten zur immer größeren Produktivität. Das ist die richtige Anwendung des Darwinismus auf die menschliche Gesellschaft« (Pannekoek 1909, S.  43). Zunächst innerhalb der privaten Verfügungsgewalt über Eigentum restringiert, schränkt die sozialistische Arbeiterbewegung diese restriktiven Bedingungen bis zu ihrer Aufhebung ein. Der Klassenkampf, der immer auch ein Kampf um die Verfügungsgewalt über Technik war, wird in dem Maße beendet, wie es zu einer großen, weltweiten Produktionsgemeinschaft kommt. Zwar geht der Wettbewerb der Maschinen weiter, der deren Produktivität permanent steigert. Doch zwischen den gesellschaftlichen Gruppen hört der Kampf ums Dasein auf. »Er wird nur noch nach außen geführt, nicht mehr als Wettkampf gegen Artgenossen, sondern als Kampf um den Lebensunterhalt gegen die Natur. Aber die Entwicklung der Technik und der damit zusammengehenden Wissenschaft bewirkt, daß dieser Kampf kaum noch Kampf zu nennen ist. Die Natur ist den Menschen untertan geworden und bietet ihnen mit leichter Mühe einen sicheren, überflüssigen Lebensunterhalt. Damit tritt die Entwicklung der Menschheit in neue Bahnen; die Periode, worin sie sich allmählich aus der Tierwelt erhob und den Kampf ums Dasein in eigenen, durch den Werkzeuggebrauch bestimmten Formen führte, nimmt ein Ende; die menschliche Form des Kampfes ums Dasein hört auf; ein neuer Abschnitt der menschlichen Geschichte fängt an« (Pannekoek 1909, S.  44). – 92 –

Sozialdemokratische Auseinander­setzung mit dem antisozialistischen Darwinismus

Der Darwinismus von rechts, so kann zusammenfassend dieses Kritikmuster gekennzeichnet werden, übersieht, dass in dem Maße, wie die Gesellschaft kraft der Besonderheit des Menschen im Vergleich zum Tierreich ihren naturwüchsigen Charakter verliert und zunehmend zu einer aus menschlicher Praxis herrührenden künstlichen, aus Wissenschaft und Technik fließenden Form einer Superstruktur mutiert, den Kategorien der Evolutionstheorie der Gegenstand abhandenkommt, auf den sie bezogen sind: die wilde, vom Menschen nicht kontrollierte Natur. Statt den Möglichkeitshorizont einer solchen Entwicklung ernst zu nehmen, kommt es im Darwinismus von rechts zur Hypostasierung der Darwin’schen Kategorien in der Anwendung auf Verhältnisse, die nicht zu ihnen passen. Eine andere Variante der Kritik am »Bourgeois-Darwinismus« (Bernstein) hat Eduard Bernstein vertreten. Der Darwinismus von rechts werfe dem marxistischen Sozialismus vor, er vertrete eine abstrakte Gleichheitsthese, obwohl die Mechanismen der Vererbung das Gegenteil zeigten. Doch Bernstein zufolge stößt diese Kritik ins Leere. »Die sozialistische Theorie würde dadurch nicht im Geringsten getroffen. Denn diese setzt weder tatsächliche Gleichheit aller nicht primär sexuellen physischen und geistigen Eigenschaften von Mann und Weib voraus, noch steht oder fällt sie mit der Möglichkeit der Erzielung dieser Gleichheit. Sie verlangt nur für die Frau die Möglichkeit der Betätigung ihrer physischen und geistigen Anlagen ohne Rücksicht auf die Vorurteile und den beschränkten Egoismus der herrschenden Männerkaste – freie Bahn, aber keine mechanische Gleichheit. Sie ist im Gegenteil so sehr Gegnerin mechanischer Gleichheitskonstruktionen, daß sie da, wo tatsächlich physiologische Verschiedenheiten obwalten, die im Interesse der Individuen selbst wie der gesamten Gesellschaft besondere Rücksichtnahme erheischen, denselben viel weitergehende Rechnung zu tragen strebt, als das die heutige Gesellschaft tut […]« (Bernstein 1894, S. 71). Zusammenfassend stellt Bernstein fest: »Die Sozialde– 93 –

Teil II

mokratie sagt nicht: Die Gleichheit erfordert, daß die Frauen Ärzte, Grubenarbeiter, Richter, Steinträger, Professoren, Bleiarbeiter werden; sie sagt nur: die Gleichberechtigung, die wir auf unser Banner geschrieben, erheischt, dass Frauen, die die Neigung und die erforderliche Befähigung zum Beruf des Arztes, des Richters, des wissenschaftlichen Lehrers an den Tag legen« (Bernstein 1894, S. 71), diese Option auch tatsächlich verwirklichen können. Dass die Sozialdemokratie sich weigerte, aus der Anerkennung der Darwin’schen Evolutionstheorie naturalistische Schlüsse für die Gesellschaft zu ziehen, hat Eduard Bernstein auch empirisch zu dokumentieren versucht. Entschieden wandte er sich gegen eine sozialdarwinistische Auslegung der Vererbungstheorie, wonach die Schwarzen in den USA – von ihm dem Sprachgebrauch seiner Zeit gemäß noch »Neger« genannt – auf Inferiorität, auf die Unfähigkeit zur geistigen Betätigung und auf geringe moralische Kraft genetisch festgelegt seien. Dieser Aussage stehe die Empirie entgegen. Über eine Million Kinder der schwarzen Bevölkerung besuchten Elementarschulen, über 12 000 Sekundarschulen, 8 000 Gymnasien und Universitäten. Es gebe ferner in den USA 47 höhere Schulen, 25 Gymnasien, 25 theologische, 5 juristische und 52 höhere Lehrerseminare, die ausschließlich Schwarze unterrichteten. Mit einem Wort: Man könne in der schwarzen Bevölkerung alle positiven und negativen Eigenschaften finden wie in der weißen Rasse. Alles spreche im Übrigen gerade am Beispiel der schwarzen Bevölkerung entgegen der sozialdarwinistisch ausgelegten Vererbungslehre dafür, dass der Einfluss der erworbenen Gewohnheiten stärker sei als die vererbten Anlagen (Bernstein 1894, S. 78): So kehrten sie nicht in die Regionen ihrer afrikanischen Heimat zurück, sondern zögen das Leben in der Kultur der Existenz im Dickicht der Urwälder vor, wie das Anwachsen der schwarzen Bevölkerung in den USA zeige. Auch stieß die sozialdarwinistische These auf Bernsteins Ablehnung, der Kampf ums Dasein laufe auf Perfektion der Arten und – 94 –

Sozialdemokratische Auseinander­setzung mit dem antisozialistischen Darwinismus

damit innerhalb der Menschheit auf eine aristokratische Elitenbildung hinaus. Die am besten Angepassten seien nicht immer die am vollkommensten entwickelten Individuen oder Arten. Bernstein wies schon sehr früh unter Berufung auf Lankester, Aveling und Allen darauf hin, dass das flexible Mittelmaß nicht selten den Sieg über die – in Bezug auf Größe und Vollkommenheit der Organe – besser ausgebildeten Konkurrenten davontragen, wie die Auseinandersetzungen zwischen Griechen und Römern oder der Römer gegen die Germanen zeigten (Bernstein, S. 72). Vor allem aber wandte sich Bernstein gegen die Inanspruchnahme der Evolutionstheorie zur Legitimierung von Kriegen und deren Vorbereitung durch Aufrüstung (Bernstein 1894, S. 72). Wenn Darwin an bestimmten Stellen seines Werkes auf günstige Wirkungen der Selektion hinwies, die aus Kriegen der Stämme und Völker untereinander resultierten, so »beweise es noch immer nichts für die unter ganz veränderten Formen sich vollziehenden Kriege der Gegenwart« (Bernstein 1894, S. 73) unter industriellen Bedingungen. Damit ist übergeleitet zum vierten Schwerpunkt sozialdemokratischer Kritik am Darwinismus von rechts. In dessen Zentrum steht der Versuch einiger Nachfolger Darwins, wie der Huxleys, Haeckels und Spencers, die Teleologie wieder in die Evolution einzuführen und dadurch an der Spitze der Hierarchie überlegene Rassen zu etablieren, welche das »natürliche Recht« der Dominanz über andere »minderwertige« Völker beanspruchten. Bereits im Kaiserreich machte Karl Kautsky entschlossen Front gegen den kulturellen Eurozentrismus61, den insbesondere Herbert Spencer gegenüber den indigenen Völkern geltend machte. Spencer argumentierte in seinen »Principles of Sociology«, die sogenannten Primitiven fielen weit hinter den Zivilisationsgrad der Europäer zurück. Sie seien gekennzeichnet durch viehische Rohheit, durch Hinterlist, Stupidität und Gemeinheit. Die ethnologischen Analysen Lévy-Strauss’ (Lévy-Strauss 1978) – 95 –

Teil II

in vielen Hinsichten vorwegnehmend, vertrat Kautsky die Gegenthese. »Wir haben versucht, ein Bild der sozialen Triebe zu geben, wie sie sich im Naturmenschen äußern, dessen Geselligkeit und Liebenswürdigkeit zu zeichnen, seine Offenheit und Ehrlichkeit, seine Freigiebigkeit und Gastfreundlichkeit, seine Hingebung und Selbstlosigkeit, seinen Stolz gegenüber den Starken und seine Zärtlichkeit gegenüber den Schwachen« (Kautsky 1884, S. 118). Gewiss, es gebe Depravationen bei den indigenen Völkern. Doch bevor man diese von einer angeblich moralisch überlegenen Warte aus verurteile, solle man sich ein illusionsloses Bild über die gewaltsamen Methoden machen, mit denen die Europäer die Zivilisierung der »Wilden« praktizierten. »Ist es ein Wunder, wenn bei solcher ›Erziehung zur Kultur‹ die Wilden grausam, heimtückisch und verräterisch werden? Und musste nicht auch ihr Stolz und ihre Kraft dadurch gebrochen werden? Der Europäer naht sich ihnen mit allen Errungenschaften der Zivilisation, nicht um sie an ihnen teilnehmen zu lassen, um sie mit Hilfe derselben zu vernichten. Die Macht der Kultur zeigt sich den Wilden nur zu ihrem Verderben« (Kautsky 1884, S. 123). Kautsky gibt für diese »dunklen Seiten« der indigenen Völker im Wesentlichen zwei Gründe an: 1. Es ist der Imperialismus vor allem der Europäer, der im Namen ihrer Kultur den indigenen Völkern einerseits ihre traditionelle Identität zerstört und sie damit zur Orientierungslosigkeit verurteilt, welche sich in Alkoholismus, Aggression und Frustration äußert. 2. Zugleich ist der soziale Trieb der indigenen Völker Kautsky zufolge auf ihren eigenen Stamm begrenzt. »Dem Stammesfeinde gegenüber gilt dagegen alles für erlaubt, Lüge und Verrat, Diebstahl, Raub und Mord« (Kautsky 1884, S. 118). Wir werden Kautsky darum so interpretieren müssen, dass unter den gegenwärtigen historischen und gesellschaftlichen Bedingungen der soziale Trieb selbst unter »Naturbedingungen« nur halbiert, also mit verminderter Kraft, wirken kann, weil die Mittel – 96 –

Sozialdemokratische Auseinander­setzung mit dem antisozialistischen Darwinismus

zum Überleben zu knapp sind, um selbst unter indigenen Stämmen den Aggressionen den Boden zu entziehen. Aber dies könnte sich in der Zukunft gerade unter den sozialen Bedingungen der indus­ trialisierten Staaten ändern. Zwar hat deren Kultur bisher entscheidend zur Destruktion des im Menschen verankerten natürlichen Sozialtriebes beigetragen. Doch eben dieselbe Kultur konnte die Produktivkräfte und damit die Produktivität der Arbeit im Indus­ trialisierungsprozess in einem Maße entfalten, dass der enge Stammeskontext durchbrochen wurde, sich nationale Zusammenhänge bildeten und schließlich eine Kultur im Weltmaßstab durchsetzte, und zwar bei gleichzeitiger Unterwerfung der Natur und einer daraus resultierenden Steigerung des materiellen Reichtums, sodass periodische Hungersnöte und Kämpfe zur Erhaltung und Erweiterung des Nahrungsspielraums überflüssig geworden sind (Kautsky 1884, S. 125). Der geschilderte kulturell verbrämte Imperialismus der Europäer hatte sein Fundament in einem Begriff der Nation, der sich bereits in den Kaiserreichen in Deutschland und Österreich mit biologistischen Inhalten auflud. Kaum jemand im frühen 20. Jahrhundert hat ihn scharfsinniger analysiert als der Austromarxist Otto Bauer. Welche Argumente trug Bauer vor, um sich von einer sozialreaktionären Umdeutung des Darwin’schen Ansatzes abzusetzen? Im Gegensatz zum nationalen Spiritualismus, der mit metaphysischen Konstrukten wie dem Volksgeist operiere, sehe der biologistisch aufgeladene nationale Materialismus das Substrat der Nation in dem von Geschlecht zu Geschlecht übergehenden Keimplasma. »Der Keimplasma-Begriff ist einst durch den Zoologen August Weismann auf der Grundlage der Erkenntnisse, dass der Zellkern als Träger der Erbanlagen anzusehen sei, populär geworden. Nach ihm beinhaltet die Kernsubstanz verschiedene ›Eigenschaftsträger‹ (sog. Biophoren), die mit den Keimzellen als ›Keimplasma‹ von Generation zu Generation weitergegeben wer– 97 –

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den. Der Botaniker Carl Correns definierte 1904 das Keimplasma als ›materiellen Träger der Vererbungskraft‹« (Penzlin 2010). Dessen Veränderung determiniere, so Bauer, angeblich die Erscheinungsform einer Nation. Am Ende erscheine die gesamte Weltgeschichte »als bloßes Spiegelbild des Schicksals des Keimplasmas« (Bauer 1975, S. 79). Zwar habe gegenüber dem nationalen Spiritualismus der biologistische Zugriff eine höhere Stufe der Erkenntnis der Nation erreicht, weil er an die empirische Tatsache der körperlichen Vererbung der Eigenschaften der Eltern auf die Kinder anknüpfe. Doch sein Defizit bestehe darin, dass er das Naturgeschehen monokausal interpretiere und es in ein teleologisches Konzept einbinde, ohne der soziokulturellen Dynamik im historischen Kontext der Nation hinreichend Rechnung zu tragen. »Er ist zufrieden, hat er nur ein materielles Substrat, eine Ursache für die Nation gefunden, in dem von Geschlecht auf Geschlecht übergehenden Keimplasma. Diese merkwürdige Substanz ist das Beharrende in aller Veränderung, das Gemeinsame in aller Verschiedenheit; sie hat in sich die geheimnisvolle Kraft, Individuen mit bestimmter Eigenart aus sich zu erzeugen. Hat der Materialismus nur eine Ursache gefunden und sie mit einer dauernd wirkenden Kraft begabt, als deren Erzeugnis alles Werdende und Seiende erscheint, so ist er zufrieden« (Bauer 1975, S. 81). Bei allen Unterschieden komme er im Resultat zur gleichen Konsequenz wie die metaphysische Spekulation des Volksgeistes: Die Nation ist eine Substanz, die deren Prozesscharakter einerseits und die Erklärung der Vielfalt der Ethnien andererseits verfehle. »Darum wird ihm die Geschichte der Menschheit zu einer Geschichte der Kämpfe und der Vermischungen der beharrenden, unveränderlichen Rassensubstanzen, Vererbungssubstanzen untereinander« (Bauer 1975, S.  181). Dass ein solcher Reduktionismus unwissenschaftlich sei, liege auf der Hand. – 98 –

Sozialdemokratische Auseinander­setzung mit dem antisozialistischen Darwinismus

Entscheidend in unserem Zusammenhang ist nun, dass Bauer die Deutung der Nation als unabgeschlossenen historischen Prozess im Zusammenspiel zwischen der Darwin’schen Evolutionstheorie und dem Historischen Materialismus Marx’scher Provenienz fokussiert. Diese Konvergenz vollziehe sich auf zwei Ebenen. Die materialistische Geschichtsauffassung begreife die Nation als einen permanenten Prozess, »dessen letzte Triebkraft die Bedingungen des Kampfes des Menschen mit der Natur, die Wandlungen menschlicher Produktivkräfte, die Veränderung menschlicher Arbeitsverhältnisse sind. Diese Auffassung macht die Nation zu dem Historischen in uns« (Bauer 1975, S. 102). Auf der anderen Ebene lehrte uns nach Bauer der Darwinismus, »die Zeichen zu deuten […], die die Geschichte des organischen Lebens unserem lebendigen Körper eingegraben« (Bauer 1975, S. 102) habe: Er lehre uns, das biologische Fundament der Nationen in seiner evolutionären Entwicklung zu begreifen. In dem Maße, wie jedes Individuum Eigenarten mit anderen Individuen des Volkes teile, werde es mit ihnen zusammengeschweißt. Insofern habe sich in ihm die »Geschichte seiner (leiblichen und kulturellen) Ahnen niedergeschlagen, sein Charakter ist erstarrte Geschichte« (Bauer 1975, S. 182). Darwin, so müssen wir Bauer interpretieren, erinnert den Historischen Materialismus daran, dass die Produktivkräfte eine biologische Grundlage haben, welche freilich an die sozio-kulturelle Natur des Menschen zurückgekoppelt bleibt. Der Kampf ums Dasein im Interesse der Erhaltung der Art ist eine Naturtatsache, deren Gesetze aufzuzeigen Darwins wissenschaftliche Großtat war. Aber für die Menschen findet dieser Überlebenskampf unter von ihnen selbst geschaffenen soziokulturellen Verhältnissen statt. Deren Strukturen im historischen Kontext verdeutlicht zu haben, ist – Bauer zufolge – die bleibende wissenschaftliche Leistung des Historischen Materialismus. Erst die Beachtung der Resultate dieser beiden Ansätze konstituiere einen tragfähigen Begriff der Nation, nicht als statische Entität, sondern als dynamischen Prozess. – 99 –

Teil II

Bauers Kritik an dem biologistisch aufgeladenen Begriff der Nation wurde aktueller denn je, als nach dem Ersten Weltkrieg der völkische Rassismus einen weiteren Aufschwung erlebte, der ideologisch erheblich zur Wegbereitung des Dritten Reiches beitrug. Mag dessen antisemitische Dimension im sozialdemokratischen Diskurs auch unterschätzt worden sein, so ist nicht zu bestreiten, dass er die hybride nationalistische Selbstüberschätzung des Rassenwahns mit ihren katastrophalen Konsequenzen für die Zukunft Deutschlands im internationalen Kontext klar benannte62 und deren Unwissenschaftlichkeit kompetent kritisierte.63 Im Oktober 1914 und dann in zweiter Auflage 1921 legte darüber hinaus Karl Kautsky eine Schule machende Studie über »Rasse und Judentum« vor, die als eine Pionierstudie der modernen Antisemitismusforschung gelten kann. Auch wenn er die sozialpsychologische Dimension des Antisemitismus noch nicht berücksichtigte, haben sich viele seiner Argumente, die vor und nach dem Ersten Weltkrieg neu waren, in der historischen Forschung vor allem nach 1945 durchgesetzt. Insofern mögen sie heute nicht besonders originell erscheinen. Aber als Beleg dafür, dass der sozialdemokratische Diskurs vor 1933 nicht nur sensibel, sondern sogar führend in der Untersuchung der Funktionen und der Ursachen des Antisemitismus war, spielt er in unserem Untersuchungsfokus eine zentrale Rolle. Der alte Antisemitismus, so Kautsky, hatte theologische ­Wurzeln. Er wurde ideologisch instrumentalisiert, um »alle möglichen weltlichen Sonderinteressen zu decken und zu rechtfertigen« (Kaut­sky 1921, S. 11). Der moderne Antisemitismus hingegen trete in naturwissenschaftlichem Gewand auf. In dem Maße, wie er insbesondere den Begriff der »Rasse« pseudowissenschaftlich aufwerte, fühle er sich frei von religiösen Vorurteilen. »Nachdem der Darwinismus seinen Siegeszug in der Naturwissenschaft angetreten, wurde es modern, ihn ohne weiteres auch auf gesellschaftliche Zustände anzuwenden. In der Natur gibt es keine Sprünge, sondern nur un– 100 –

Sozialdemokratische Auseinander­setzung mit dem antisozialistischen Darwinismus

merkliche Umwandlungen, also wird jede Revolution durch die Naturwissenschaft als Verletzung der Naturgesetze verboten. Der Kampf ums Dasein ist ewig, also widerspricht es der Natur, eine Gesellschaft ohne Konkurrenz bilden zu wollen usw.« (Kautsky 1921, S. 12). Kautsky zählte weitere ideologische Funktionen des naturwissenschaftlich drapierten Rassenbegriffs auf. Er eigne sich nicht nur vorzüglich zur Rechtfertigung der Kolonialpolitik, sondern diene auch zu der Behauptung, »daß die Natur Herrenmenschen schafft und Sklavenrassen. Nur die ersteren sind schöpferisch veranlagt, die anderen jeder Selbständigkeit bar« (Kautsky 1921, S. 12). Ohne fremde Führung hilflos und unfähig zur selbstständigen Weiterentwicklung, »sind sie dazu verurteilt, den Herrenrassen zu dienen« (Kautsky 1921, S. 12). Aber Kautsky zeigte auch die internen Mechanismen auf, die diesen Konstrukten Plausibilität verleihen sollten: die in dieser Untersuchung bereits analysierte Ineinssetzung von politisch-gesellschaftlichen und biologischen Kategorien, wie er am Beispiel Houston Stewart Chamberlains aufweist. Ironisch greift er dessen Diktum der »mitternächtigen Unwissenheit« gelehrter Männer auf, die so groß sei, »daß sie zwischen Haustierrassen und anderen Rassen nicht zu unterscheiden wissen und glauben, die Gesetze des Zuchtstalles seien die allgemeinen Gesetze der Natur und der menschlichen Geschichte: Leute, die da vermeinen, die ›Rasse‹ der Hellenen und die der Kotschinchinahühner seien auf gleiche Weise entstanden« (Kautsky 1921, S. 99). Aber im Zentrum der modernen Rassentheorien, so erkannte Kautsky zutreffend, steht der Antisemitismus. Er arbeite mit der Konstruktion, dass das Judentum über ein Höchstmaß an rassischer Homogenität sowie über feststehende körperliche und geistige Merkmale verfüge, die sozusagen notwendiger Ausfluss eines angeblichen jüdischen Genpotenzials seien. An Kautskys Analyse ist bemerkenswert, dass er alle Eigenschaften des Judentums, die – 101 –

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die Rassentheoretiker als Ausfluss biologischer Determination ausgaben, auf historisch-gesellschaftliche Ursachen zurückführt: ein Verfahren, das, flexibel gehandhabt, bis auf den heutigen Tag in der Antisemitismusforschung ein unverzichtbares analytisches Instrumentarium darstellt. Er zeigt, dass die Judenheit seit ihren Anfängen und dann besonders in der Diaspora sich mit anderen Ethnien vermischt hat, sodass die Behauptung rassischer Homogenität ins Reich der Mythen zu verweisen ist. Das Gleiche gelte für die Annahme von Rassenkämpfen. »Wie die ›arische‹ und ›semitische‹, die teutsche oder die slawische Rasse, so ist auch der Rassenkampf eine Erfindung von Schulmeistern. Ernsthafte Gelehrte lehnen ihn ab« (Kautsky 1921, S. 44). Der entscheidende Impetus für den Zusammenhalt des Judentums sei nicht die Biologie, sondern die Kultur: Es ist die jüdische Religion und ihre Rituale, welche in der Antike, im Mittelalter und bis in die Neuzeit hinein jüdische Identität stifteten. Aber auch diese kulturell vermittelte Homogenität sei mit der Erfahrung der Moderne seit der Französischen Revolution fragil, weil sich starke säkularisierte Tendenzen auch innerhalb des Judentums zunehmend in Richtung Assimilation Bahn brächen. Selbst angebliche physiologische Merkmale (z.  B. Hakennase oder Engbrüstigkeit) der Juden, so Kautsky, sind, wie die Statistiken zeigten, empirisch nicht zu halten. Geistige Attribute des Judentums wie die Achtung vor der Wissenschaft ließen sich »nicht aus seiner Rasse – was immer man darunter verstehen mag –, sondern aus der historischen Eigenart seiner sozialen Entwicklung« (Kautsky 1921, S. 66) ableiten. Auch der Frage, warum die antisemitischen Konstrukte einen fruchtbaren Resonanzboden in den kleinbürgerlichen Massen und in den Reihen junger Akademiker vorfanden, ist Kautsky nicht ausgewichen. Vom Liberalismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts enttäuscht, der sie gegenüber den Konzentrationstendenzen des großen Kapitals nicht schützen konnte, war das Kleinbürgertum in einer prekären Lage. Den Anschluss ans – 102 –

Sozialdemokratische Auseinander­setzung mit dem antisozialistischen Darwinismus

Proletariat versperrte es sich dadurch, dass es am Privateigentum an seinem eigenen handwerklichen Produktionsmitteln festhielt. Den Kampf gegen das Kapital insgesamt zu führen, fühlte es sich politisch und wirtschaftlich zu schwach. Also entwickelte es einen Antikapitalismus, der primär gegen das jüdische Großbürgertum gerichtet war. Die antijüdischen Ressentiments wirkten umso mehr, als es aufgrund ihrer spezifischen Geschichte jüdischen Kapitaleignern und Vertretern der freien Berufe gelungen war, sich optimal dem Industrialisierungsprozess anzupassen und von ihm zu profitieren. Aber auch im akademischen Sektor »sind es wieder auf den verschiedensten Gebieten die Juden, die am raschesten vorwärtskommen. Daher werden auch unter nichtjüdischen Intellektuellen und Angestellten diejenigen für antisemitische Tendenzen zugänglich, die sich nicht zum Sozialismus durchzuringen vermögen, der allen Schäden der Konkurrenzwirtschaft ein Ende macht« (Kautsky 1921, S. 74). Kautskys Insistenz auf der Bedeutung des »Milieus«, also der historisch vermittelten gesellschaftlichen Umwelt, für die Herausbildung einer jüdischen Identität einerseits und die Entstehung einer antisemitischen Akzeptanz auf massenhafter Grundlage andererseits hat erheblich zur Immunisierung der Sozialdemokratie gegenüber einem rassistischen Naturalismus beigetragen.64 So verwarf – ähnlich wie Bauer und Kautsky – auch Hugo Iltis* 1927 in »Die Gesellschaft« die Hypothese August Weismanns von der »Unsterblichkeit« und der »Unveränderlichkeit des Keimplasmas« (Iltis 1927, S. 99), indem er Front machte gegen die »Einflusslosigkeit des Milieus auf das organische Erbgut« (Iltis 1927, S. 99). Aber auch der Neo-Mendelismus stieß auf Ablehnung, wonach der Mensch wie jedes Lebewesen nur als Produkt seiner Erbanlagen erscheint. »Diese Erbanlagen, die ›Gene‹ bzw. ›Faktoren‹ der Mendeltheorie sind starr und unveränderlich, nur ihre wechselnde Kombination bei der Befruchtung bzw. Kreuzung schafft Neues. Die Persönlichkeit des – 103 –

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einzelnen wie der Völker wird fast ausschließlich durch das ›Blut‹, durch die Rasse bedingt, Milieu und Erziehung usw. können nur zeitweilig fördernd oder hemmend einwirken, niemals das körperliche und geistige Wesen einer Rasse dauernd beeinflussen. Edelvolk bleibt Edelvolk, Paria bleibt Paria! Nach der Anschauung der Rassegläubigen, die die Lehre Larmarcks von der Vererbung erworbener Eigenschaften ablehnen, ist nichts von sozialer Umwälzung, alles dagegen von Reinhaltung und Höherzüchtung der Rasse zu erhoffen« (Iltis 1927, S. 100). Im Gegensatz zu den chauvinistischen Rasseforschern, so formulierte 1927 Hugo Iltis die sozialdemokratische Position, »sind wir überzeugt, daß das Milieu, Geographie und Wirtschaft, Kultur und Erziehung, durch andauernde Wirkung eine erbliche Änderung, Verbesserung oder Verschlechterung der Rasse herbeiführen können« (Iltis 1927, S. 113). Habe der Lamarckismus erst einmal seinen großen Methodiker gefunden, so eröffneten sich Wege, »auf denen nicht nur die einzelnen Menschenrassen, sondern die Menschenrasse überhaupt auf ein höheres Niveau gehoben, in ihrer gesundheitlichen und emotionellen Qualität gefördert werden kann. Die soziale Rassenhygiene oder Bevölkerungshygiene hat aber schon heute für die Menschen die günstigsten Bedingungen zu schaffen und so die Entfaltung der guten und die Hemmung der schlechten Anlagen anzustreben. Kinder- und Mutterschutz, Jugendfürsorge, Arbeiterschutz, Altersversorgung, Wohnungsreform, Bekämpfung der Alkoholunsitte und der Geschlechtskrankheiten, dann aber auch die geistige Hygiene, die sich bemühen soll, die junge Generation sozial und vernünftig zu erziehen – das sind neben dem großen Mittel des Kampfes um eine sozial gerechte Gesellschaftsordnung die kleinen Werkzeuge zur Hebung der Rasse und der Menschheit« (Iltis 1927, S.  114). Die Sozialdemokratie, so kann ihr Standpunkt resümierend zusammengefasst werden, optiert für die Buntheit der Ethnien; sie ist weit davon entfernt, die Differenzen zwischen ihnen – 104 –

Sozialdemokratische Auseinander­setzung mit dem antisozialistischen Darwinismus

zu verwischen. Wenn sie sich empathisch zu ihrer Nation als Ethnie und Volk bekennt, dann setzt sie andere Ethnien und Völker nicht herab. »Wir haben und fördern die Achtung vor allem, was Menschenantlitz trägt. Die Zeit wird kommen, für die der Rassenhass und der Rassendünkel unserer Tage dasselbe sein werden, was für uns Zauberei und Kannibalismus sind: traurige Überreste versunkener Barbarei« (Iltis 1927, S. 114). Man wird der Sozialdemokratie der Zwischenkriegszeit in der Tat attestieren müssen, dass ihre differenzierte Auseinandersetzung mit der Evolutionstheorie Darwins vor 1914 ihr die Augen für die ideologischen Funktionen der damals modernen Rassentheorie öffnete, wie sie insbesondere von der Schule Alfred Ploetz’* vertreten wurde. Ausgehend von den rassentheoretischen Vorarbeiten Gobineaus, Woltmanns*, Wisers, Lapouges, Chamberlains u.  a. habe Ploetz die älteren Rassentheorien mit zwei anderen Forschungsbereichen verbunden, sie in ein modern erscheinendes Forschungsszenario vernetzt und sie gleichzeitig mit attraktiven Forderungen verzahnt. Die Pointe seines Ansatzes lief, so Paul Stein in einem Aufsatz in »Der Kampf« aus dem Jahr 1932, auf eine Synthese zwischen den genannten älteren Rassetheorien mit einer Gesellschaftsbiologie und dem Galton’schen Programm der Eugenik hinaus. Darwins Abstammungslehre auf körperliche Varietäten verschiedener Ethnien angewandt, ging man gleichzeitig dazu über, dessen Selektionsprinzip als Kriterium des Hervorgehens einer siegreichen Herrenklasse im Kampf ums Dasein zu instrumentalisieren. »Diesem Rassenselektionismus […] schloß dann die Schule Ploetz’ einen Gesellschaftsselektionismus an, der wieder den im (engeren, sozialen) Kampf ums Dasein hochgezüchteten Typus des Herrenmenschen als das Produkt der ›schöpferischen‹ (obwohl doch rein negativen) Selektion erkennen lassen wollte« (Stein 1932, S. 409). Wie schon hervorgehoben, leugnete dieser Ansatz immer dezidierter die Einflüsse des Milieus auf die Entwicklung der Men– 105 –

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schen. Was nach ihm zählte, waren ausschließlich die ererbten Keimanlagen, deren hochwertige Varianten sich gemäß der Hypothesen Weismanns durch Kontinuität und Konstanz auszeichneten. Unfähig, eine wissenschaftliche Bewertung der Erbanlagen vorzunehmen, sahen sie deren Beweis ausschließlich in ihrem Erfolg im »Kampf ums Dasein«. »Diese ›zoologische‹ Auffassung des Menschen tat ohne weiteres so, als ob Darwin seine Selektionstheorie aus der Stammesgeschichte etwa unserer ›Wirtschaftsführer‹ abgelesen hätte. Nicht etwa die der Nahrung angepaßten Kauwerkzeuge bewiesen den rassischen (jetzt auch ›völkischen‹) Wert des Individuums, die im Kampf ums Dasein bewährte Tüchtigkeit wurde auch in einer ererbten Angepaßtheit an die gesellschaftlichen Funktionen innerhalb der menschlichen, und zwar auch gerade der kapitalistischen Gesellschaft erblickt« (Stein 1932, S. 410). Die ideologische Stoßrichtung dieser Auslegung der Evolutionstheorie ist offensichtlich: Die soziale Stellung mutiert zu einem Produkt der Keimanlage: eine Transformation, welche den Grundlagen für eine biologische Klassentheorie den Weg bahnte. Danach funktioniert soziale Mobilität nach folgendem Prinzip: Der soziale Aufstieg ist das Resultat ererbter Qualitäten, das soziale Elend die negative Auslese minderwertiger Erbqualitäten. Oder anders formuliert: Das Ziel der Rassentheoretiker von rechts war von Anfang an die Verwandlung der sozialen Frage in eine biologische, die Ersetzung der sozialen Integration des Proletariats durch dessen Ausgrenzung. »Das individuelle Schicksal wurde zu einem vorwiegend naturgegebenen und damit die Armut im wahren Sinne des Wortes zu einem ›Geburtsfehler‹. Damit wurde aber das notleidende Proletariat geradezu zu einem Schuldigen an der gesellschaftlichen Armut« (Stein 1932, S. 411). Entsprechend registrierten die Rassentheoretiker es als einen höchst bedenklichen Zustand, »daß einerseits die hochwertigen Menschen den Geburtenrückgang pflegen, während andererseits die Fürsorge und die Sozialversicherung die Zahl – 106 –

Sozialdemokratische Auseinander­setzung mit dem antisozialistischen Darwinismus

der Minderwertigen vermehre« (Stein 1931, S. 412). Selbstverständlich gehörten zu der »hochwertigen« Bevölkerungskategorie die Hochschulprofessoren, die großen Kaufleute, Industrielle und höhere Staatsbeamte. Pflanzten sich diese »Sorgenkinder der rassenhygienischen Bevölkerungspolitik« zu schwach fort, dann sei »eben der rassenhygienisch wertvolle Volksbestand in Gefahr« (Stein 1931, S. 412): eine bis auf den heutigen Tag grassierende Angst, wie die Sarrazin-Debatte jüngst erneut gezeigt hat. Dem Sozialdarwinismus von rechts, wie er von Herbert Spencer, Thomas Henry Huxley und Ernst Haeckel einerseits und von Joseph Arthur Comte de Gobineau, Houston Stewart Chamberlain, Hans  F. Günther und Alfred Ploetz andererseits vertreten wurde, trat bereits seit dem Ende des 19.  Jahrhunderts eine linke Fraktion im Lager der Darwinisten gegenüber. Sie bildete in England in der Fabian Society sowie in der Unabhängigen Arbeiterpartei ihren Schwerpunkt, scharte sich in Italien um den damaligen Sozialisten Enrico Ferri und fand in Deutschland Anhänger unter den Revisionisten. Freilich kann der Linksdarwinismus nicht dieser Gruppierung insgesamt zugeordnet werden, wie die kritische Distanzierung Eduard Bernsteins von der darwinistischen Gesellschaftsanalyse und deren soziologischer Kategorienbildung zeigt. Der Darwinismus von links definierte zwar wie die rechten Sozialdarwinisten die Gesellschaft ebenfalls in Analogie zu natürlichen Phänomenen. Aber sie wendeten die durch Vererbung vermittelten Degenerationserscheinungen nicht als Argument gegen die Unterschicht, sondern gegen die herrschende Elite, die sie der geistigen und physischen Dekadenz bezichtigten. Im Sozialismus sahen sie die Möglichkeit, die physische und kulturelle Verfassung der Arbeiterklasse zu heben und sie optimal für den Kampf ums Dasein »fit« zu machen. Zwar schieden diese Linksdarwinisten für die Sozialdemokratie in ihrem Klassenkampf gegen die Eliten der bürgerlichen Gesellschaft und ihren Massenanhang als mögliche Bündnispartner nicht von vorn– 107 –

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herein aus. Aber sie mussten sich zugleich von ihnen absetzen, da sie in ihrer Gesellschafts- und Geschichtsanalyse dem marxistischen Paradigma verpflichtet waren, innerhalb dessen sie ihre Erkenntnisse nicht in biologischen, sondern in sozioökonomischen Kategorien artikulierten. Tatsächlich kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Gruppierungen der internationalen Sozialdemokratie, die es im Folgenden zu dokumentieren gilt.

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Teil III

Die Kontroverse innerhalb der Sozial­ demokratie zwischen Linksdarwinisten und marxistischem Zentrum

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n der »Neuen Zeit« erschien 1906 ein Artikel unter dem Titel »Biologischer Sozialismus«. In ihm stellt Max Beer das Buch »Socialism and Society« (1905) des Sekretärs des Labour Representation Committee der Unabhängigen Arbeiterpartei, J. R. Macdonald*, vor. Diese Rezension ist für den sozialdemokratischen Diskurs deswegen bedeutungsvoll, weil sie prägnant über das Profil dessen informiert, was im Folgenden »Linksdarwinismus« genannt wird. Sofort stellt sich die Frage, was »links« und was »darwinistisch« am Selbstverständnis dieser damals neuen Arbeiterpartei gewesen ist. Als »links« kann gelten, dass Macdonald und seine Partei sozialhumanitäre Reformen zugunsten der Industriearbeiterschaft auf den Weg bringen wollten. Sie distanzierten sich dadurch notwendig von jener Variante des Sozialdarwinismus, welche die Notwendigkeit des Kampfes ums Dasein hervorhebt, die Unverzichtbarkeit der natürlichen und gesellschaftlichen Auslese ebenso wie die Wirkungen der Vererbung betont, und zwar zu Lasten der Emanzipationsbestrebungen des Industrieproletariats. Aber die Sozialreformen sollten nicht auf dem Weg des Klassenkampfes und der Revolution erfolgen, sondern durch »organische Assimilation«. »In unserem Lande«, schreibt Macdonald, »mit seinen freien Einrichtungen und seiner Verwaltungsmaschinerie, die dem geringsten Druck des Volkswillens sofort nachgeben, sobald das Volk sich bemüht, seinen Willen auszudrücken – in einem sol– 111 –

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chen Lande vollzieht sich der Fortschritt durch die Assimilation von Ideen und Verhältnissen. Der Prozess der organischen Ernährung findet seine Parallele in der sozialen Ernährung. Individuen formulieren Gedanken; die Gesellschaft eignet sie sich nach und nach an; die Assimilation zeigt dann nach und nach ihre Wirkung auf den sozialen Körper. Die Gesetze der organischen Assimila­tion finden in einer besonders einfachen Art ihre Anwendung auf unsere Zustände, unsere Politik und unsere Parteien; und es ist die Wirksamkeit dieser katastrophenlosen und unrevolutionären Gesetze, die gegenwärtig unsere sozialen Erschütterungen hervorruft und eine Neuordnung verlangt« (zit. n. Beer 1906, S. 433). Programmatisch stellte James Ramsay Macdonald in den »Sozialistischen Monatsheften« fest: »Revolutionen mögen den Evolutionsprozess verkürzen, aber sie können ihn nicht beseitigen. Am Tage nach einer Revolution wird das Regierungssystem der Majorität und der Volkseinwilligung aufgenommen und so mit dem Ausgleich der individuellen und der allgemeinen Interessen begonnen werden müssen. Dann wird man den Widerstand des sozialen Körpers gegen grundlegende Änderungen erproben. Dann wird man entdecken, daß die einzige dauernde Basis, worauf das sozialistische System aufbauen kann, die ist, welche die Bedeutung der Praxis selber notwendig macht. Die auf Gegenseitigkeit beruhende Ordnung der ökonomischen Funktionen, welche das sozialistische System herstellen will, stimmt mit dem Prinzip der biologischen Wissenschaft überein, demzufolge eine Teilung der Funktionen, verbunden mit einer Einordnung dieser Teilfunktionen in einander, die Erklärung für das Entstehen höherer Lebensformen abgibt« (Macdonald 1906, S. 26; Hervorhebung von mir, R. S.). Macdonalds programmatische Aussage ist deutlich von der biologischen Soziologie Herbert Spencers inspiriert, die sich wiederum auf den Darwin’schen Gradualismus der langen Zeiträume beruft.65 Das Paradigma der organischen Gesellschaftslehre Spencers ist in – 112 –

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seinen Grundzügen im vorangegangenen Kapitel bereits umrissen worden und muss hier nicht wiederholt werden. Die Differenz besteht darin, dass das linksdarwinistische Muster Spencers Antisozialismus, seinen besitzindividualistischen Egoismus und seine Ablehnung der staatlichen Intervention in gesellschaftliche Prozesse nicht teilt. Doch andere soziologische Strukturelemente werden übernommen: »Organismus und Zelle sollen die Stelle von bestimmten Wirtschaftssystemen und Klassen des Marxismus übernehmen; anstatt Revolution – langsamer Fortschritt; Klassenkämpfe gäbe es nicht, wohl aber Kämpfe, die nur abnorme Störungen, Krankheiten des Organismus seien« (Beer 1906, S. 433). Wieder war es Karl Kautsky, der prinzipiell zu dieser Sozialismusvariante Stellung nahm. Er bezog sich auf das Buch von Enrico Ferri »Sozialismus und positive Wissenschaft«, das ebenso wie Macdonalds Arbeit in der Sozialistischen Bibliothek der Unabhängigen Arbeiterpartei erschienen war. Ferri ging in seinem Buch von der bereits erwähnten Kontroverse zwischen Rudolf Virchow und Ernst Haeckel aus. Seine These ist, Virchow habe auf der ganzen Linie recht behalten, dass der Sozialismus nicht nur mit dem Darwinismus bzw. der Evolutionstheorie vereinbar sei; er laufe in seiner Stoßrichtung geradezu »naturnotwendig« auf diesen hinaus. Den »Beweis« führte Ferri in der Auseinandersetzung mit den drei Argumenten Haeckels, dass 1. die vom Sozialismus angestrebte Gleichheit durch die natürliche Ungleichheit der Menschen in ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten konterkariert werde, dass 2. die Perspektive, keiner werde im Daseinskampf unter sozialistischen Bedingungen unterliegen, im Gegensatz zu der Tatsache stehe, dass nur eine kleine Minderheit im Daseinskampf siegreich sein könne, und dass 3. das Überleben der Besten und der am besten Angepassten ein aristokratischer Ausleseprozess sei, der sich gegen die demokratische und kollektive Nivellierung des Sozialismus sperre (Ferri 1895, S. 6f ). Gegen die erste These Haeckels – 113 –

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wandte Ferri ein, man könne dem Sozialismus nicht unterstellen, er strebe »eine materielle positive Gleichheit von Arbeit und Genuss für alle Bürger« (Ferri 1895, S. 13) an. In Übereinstimmung mit der Evolutionstheorie sei sein Ziel vielmehr, allen Menschen die Bedingungen einer menschenwürdigen Existenz zu sichern. Zwar sollten alle Menschen gleich am Ausgangspunkt des »struggle for life« sein, so dass »jeder seine Individualität unter gleichen socialen Bedingungen entwickeln kann« (Ferri 1895, S.  14). Die Ungleichheit als solche vermag aber Ferri zufolge auch der Sozialismus nicht ganz aufzuheben, »die der Darwinismus in den tiefsten Gesetzen des Lebens, in der endlosen Aufeinanderfolge der Arten und Individuen nachgewiesen hat« (Ferri 1895. S. 14f ). Allerdings nehme unter sozialistischen Bedingungen die Ungleichheit erheblich ab, weil die psychischen und organischen Depravationen entfielen, »welche das Elend entstehen und von Generation zu Generation sich vererben und vermehren lassen« (Ferri 1895. S. 15). Der zweiten These Haeckels, nur eine kleine Minorität könne im Kampf ums Dasein überleben, hält Ferri entgegen, dass die Zahl der Opfer der natürlichen Selektion unter den Menschen – im Vergleich zur Tierwelt – mit steigender Komplexität der organischen Organisation der jeweiligen Spezies abnehme. Auch milderten sich im Sozialismus die Modalitäten des Kampfes ums Dasein beständig, die – anfangs brutal und rein körperlich – »trotz mancher atavistischer Rückfälle oder krankhafter Äußerungen in Gewalttaten einzelner gegen die Gesellschaft und Unterdrückung einzelner durch die Gesellschaft« (Ferri 1895, S. 29) zunehmend an Aggressivität verlören. Und gegen die dritte These Haeckels wandte Ferri ein, sie beruhe auf einer sehr einseitig interpretierten Version der Darwin’schen Selektionstheorie. »Die Selektionstheorie bedeutet ja nicht das Überleben der Besten, sondern nur der ›meist Angepassten‹« (Ferri 1895, S. 44). Wenn also der Kapitalismus den Rahmen konstituiere, unter dem der Kampf ums Dasein stattfinde, dann sei es durchaus die – 114 –

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Regel, dass nicht die Besten, sondern die defizitären Charaktere obsiegten, welche am besten zu dem »verfaulten M ­ ilieu« passten. Der Sozialismus hingegen schaffe Bedingungen, unter denen dann aus der Selektion tatsächlich die Besten hervorgingen (Ferri 1895, S. 46). Außerdem gibt Ferri zu bedenken, dass es ein korrigierendes Naturgesetz gebe: Wenn sich eine Elite etabliert habe, bezahle sie den Höhepunkt ihres Aufstiegs mit dem dialektischen Umschlag ihres Niederganges. Der Preis sei das Verschwinden in den vererbbaren Wahnsinn und der Entartung. Die Vererbung als große Gleichmacherin demokratisiere auf diese Weise die Menschheit (Ferri 1895, S. 47). Die linksdarwinistische Widerlegung der gegen den Sozialismus gerichteten Thesen Haeckels gewinnt ihre Plausibilität aus der Übernahme des biologistischen Gesellschaftsbildes der Soziologie Herbert Spencers. In der Tat wird Ferri nicht müde, gesellschaftliche Aktivitäten wie die Arbeit oder die Gesellschaft selbst in Analogie zum Funktionieren von Organismen der Tier- und Pflanzenwelt zu interpretieren. So arbeiteten alle Mitglieder der Gesellschaft in gleicher Weise, »wie im einzelnen Organismus alle Elementarorganismen (die Zellen) ihre besonderen Funktionen erfüllen müssen, die mehr oder weniger bescheiden sein mögen […], deren Leben und Leistung für eine normale Funktion des Organismus aber gleich unentbehrlich sind. Und wie in einem Organismus keine Zelle ohne zu arbeiten leben kann, weil sie genau in demselben Maße, in dem sie arbeitet, auch Nährstoffe an sich zieht, so darf auch im socialen Organismus kein Individuum leben, ohne zu arbeiten, gleichviel was es arbeitet« (Ferri 1895, S. 16). Aber auch die Struktur der Gesellschaft insgesamt begreift Ferri in Analogie zum Organismus eines Säugetiers. Wie dieses nur eine Assoziation von Geweben und Organen sei, »so kann der Organismus einer Gesellschaft nur eine Verbindung von Gemeinden, Gauen und Provinzen, der Organismus der Menschheit nur eine Föderation von Völkern – 115 –

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sein« (Ferri 1895, S. 59). Doch selbst marxistische Kernbegriffe wie »Klassenkampf« (Ferri 1895, S.  67)66 und »Transformation« (ebd., S. 131)67 sind Ausfluss naturalistischer Gegebenheit und nach Ferri nur innerhalb eines organologischen Musters »wissenschaftlich« adäquat zu verstehen. Mit der Festlegung des Linksdarwinismus auf ein naturalistisches Gesellschaftsmuster nach biologischem Vorbild ist auch aus seiner Sicht dessen Verhältnis zum Marxismus bestimmt. Ferri betont immer wieder, es bestehe kein Widerspruch zwischen beiden Paradigmen. Aber der Marxismus sei keine selbstständige, sondern eine der Evolutionstheorie nachgeordnete Größe, »ja, er ist nichts anderes als die logische und konsequente Anwendung evolutionistischer Theorien auf das wirtschaftliche Gebiet« (Ferri 1895, S. 84). Doch diese Vereinnahmungsstrategie blieb nicht unwidersprochen. So bestätigte Kautsky in seiner Rezension des Buches von Ferri seine bekannte Position: Marxismus und Darwinismus bezeichneten zwei verschiedene Arbeitsfelder: Jener artikuliere sich in historisch grundierten sozioökonomischen Kategorien, dieser in naturwissenschaftlich-biologischen Begriffen. Linke Darwinisten wie Ferri übertrügen die evolutionären Naturgesetze ohne Weiteres auf die Gesellschaft im Namen der Darwin’schen Kategorie des Kampfes ums Dasein: Erst im Sozialismus werde dessen »richtige Form« verwirklicht. Demgegenüber sei dessen bürgerliche Form in Gestalt des Konkurrenzkampfs in der kapitalistischen Gesellschaft »eine irrationale, die Entwicklung hemmende, nicht fördernde Form des Kampfes ums Dasein« (Kautsky 1895, S. 710). Eine solche These könne aber nur dann Plausibilität beanspruchen, wenn man, wie Ferri, in Anlehnung an Spencer die Gesellschaft als einen Organismus definiere. Tatsächlich wies dieser darauf hin, »daß ›die Soziologie durch den Nachweis der Analogie zwischen organischem und gesellschaftlichem Leben dem Individuum in der Gesellschaft dieselbe Stelle anwies, welche die Zelle im Organismus einnimmt‹ – 116 –

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(Spencer)« (Ferri 1895, S 154). Erst unter der Bedingung eines solchen organologischen Gesellschaftsbildes, so Kautsky, könnten soziale Bewegungsgesetze plausibel als Naturgesetze und umgekehrt gedeutet werden. Eine Konzeption, die Spencers Ansatz lediglich »links« wende, im Übrigen aber nicht aus dessen Schatten trete, stehe freilich in einem schroffen Gegensatz zu einem marxistischen Ansatz der Gesellschaftsanalyse. Wieder war es Kautsky, der diese Kritik folgenreich artikulierte und damit die ideologische Trennlinie zwischen Linksdarwinismus und marxistischem Zentrum markierte. Der Marxismus zeige, so Kautsky, dass eine jede Gesellschaftsform, die bestanden habe, in dem Maße einmal historisch notwendig war, wie den verschiedenen aufeinanderfolgenden Produktionsweisen verschiedene Gesellschaftsformen entsprächen. Er beweise in diesem Sinne die Notwendigkeit des Sozialismus nicht schlechthin als naturgegebene Tatsache, sondern nur für bestimmte, historische Voraussetzungen. Unter anderen Bedingungen könne eine andere Gesellschaftsform ebenso notwendig sein. Der Fehler des Linksdarwinismus bestehe darin, den Sozialismus »durch ein Naturgesetz beweisen zu wollen« (Kautsky 1895, S. 710). Ungewollt äußere sich Ferri »mitunter in einer Weise, […] die Herbert Spencer ähnlicher sieht wie [sic!] Karl Marx« (Kautsky 1895, S.  711). Auch der Biologe Edward Aveling, ein britischer Sozialist und Schwiegersohn von Karl Marx, bestand in seinem Vergleich zwischen Darwin und Marx darauf, dass beide sich zwar mit ihren wissenschaftlichen Theorien insofern ergänzten, als sie mit ihnen nicht nur das Weltbild der Wissenschaft, sondern auch das Alltagsbewusstsein der Massen und damit die Welt veränderten. Aber Marx mit seiner »Kritik der politischen Ökonomie« und aus ihr folgend dem »Kapital« sowie Darwin mit seiner »Entstehung der Arten« und der »Abstammung des Menschen« vollbrachten ihre Leistungen auf zwei verschiedenen Wissensgebieten: dem der Biologie auf der einen und dem der – 117 –

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Nationalökonomie auf der anderen Seite (vgl. Aveling 1897, S. 749). Darwin erarbeitete die Evolutionstheorie, Marx die wirtschaftliche Theorie des Mehrwerts sowie des Historischen Materialismus (Aveling 1897, S. 751f ). Dass in der Tat der Linksdarwinismus eine vom Marxismus getrennte, eigenständige Größe darstellt, hat der Biologe und Darwin-Schüler Grant Allen* dargelegt. Er hielt einen Vortrag vor der Fabian Society in London unter dem Titel »Steht der Sozialismus im Widerspruch zur Wissenschaft, insofern er in das Gesetz der natürlichen Auslese eingreift?«. 1891 wurde er in deutscher Übersetzung in der »Neuen Zeit« abgedruckt. Allen fasste als Darwinist von Anfang an die Stellung des Sozialismus zur Evolutionstheorie als biologische Frage auf, die unter biologischen Gesichtspunkten und biologischen Analogien aus zu beurteilen sei. »Ich hoffe im Folgenden den Nachweis erbringen zu können, dass der Sozialismus, wenn man ihn von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, sofort in der Geschichte der Erscheinungen der lebendigen Welt seinen richtigen Platz erhält als das letzte und geradezu notwendige Resultat des Wirkens der evolutionären Entwicklungsgesetze auf die Gestaltung der menschlichen Gesellschaften. Er ist nur das letzte Glied in der großen Kette jener biologischen Gesetze, durch die von Anbeginn des organischen Lebens an jeder Fortschritt im Leben der pflanzlichen und thierischen Welt bewirkt worden ist« (Allen 1891, S. 172). Wenn, so Allen, der noch zu schaffende Sozialismus im vollen Einklang mit der Evolution steht, so muss das Gegenteil in seiner Negation, der kapitalistischen Gesellschaftsformation, auffindbar sein. Zwar wirke auch in ihm sowohl die natürliche als auch die geschlechtliche Zuchtwahl, aber durch die bestehenden soziopolitischen Herrschaftsverhältnisse würde ihr Resultat ins Gegenteil verkehrt. »Der Kapitalismus und das moderne Bodenmonopol bringen notwendigerweise ein ganzes System von speziellen Hemmnissen – 118 –

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und Vergünstigungen mit sich, die die Klasse der Kapitalisten und Landlords, wie unfähig, schwach oder verkommen die Einzelnen auch sein mögen, von vornherein in eine vorteilhaftere Position setzen, die arbeitenden Klassen aber, das Proletariat, benachteiligen, wie kräftig intelligent, hochgesinnt seine einzelnen Mitglieder auch sein mögen« (Allen 1891, S. 173). Allen dreht also die Argumentation Herbert Spencers um: Nicht der Sozialismus, sondern der konkurrenzbezogene Kapitalismus verhindere die positive Weiterentwicklung der Gesellschaft, weil er sich im Gegensatz zu den Entwicklungstendenzen der Evolution befinde. Doch wie begründete Allen nun seine These im engeren biologischen Sinne? Zunächst bestreitet er die Prämisse der SpencerSchule, »daß die absolut unbeschränkte natürliche Zuchtwahl im rohen und vulgären Sinne des Wortes die höchsten Resultate in der Natur gezeitigt hat. Im Gegenteil, jeder Schritt vorwärts in Bezug auf die Fortpflanzung bzw. das Wachstum der Horde, des Stammes oder der Nation ist zum Teil durch eine ausgesprochene Beschränkung der natürlichen Zuchtwahl – oder besser eine neue Form der natürlichen Zuchtwahl – bewirkt worden; Beschränkungen, die sich gewissermaßen von selbst aufdrängten« (Allen 1891, S.  174). Allen setzt bei seiner Beweisführung im organischen Reich der Natur an. Absolut unbeschränkte natürliche Zuchtwahl finde lediglich unter den Tieren und Pflanzen mit dem niedrigsten Komplexitätsgrad ihrer Organisation statt. Bei dem höheren Organismus beginne sie, durch Vorkehrungen der Eltern zum Schutz der Nachkommen zu greifen. »Die Härte des Kampfs ums Dasein wird gemildert, der Spielraum des Zufalls wird eingeschränkt oder seine Wechselfälle werden ausgeglichen, ja, innerhalb der Familie, der Herde oder des Schwarms direkt aufgehoben« (Allen 1891, S.  174). Diese Tendenz setze sich verstärkt bei den Säugetieren durch. Hier werde nicht nur das Ei im Körper des einen der Eltern zurückbehalten und entwickelt, sondern selbst nach der Trennung vom elterlichen Organis– 119 –

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mus das Junge überwacht, erzogen und durch Milch auf Kosten des Organismus der Mutter genährt, eigens zu diesem Zweck von der Mutter produziert. Die Fortsetzung dieser Entwicklungslinie ist auch bei Lebewesen mit der komplexesten Organisation, bei Menschen, festzustellen. »Die lange und hilflose Kindheitsepoche des jungen Menschen bedingt einen Aufwand an elterlicher Pflege, der überall sonst unbekannt ist, und die der natürlichen Zuchtwahl in seiner Art geradezu ins Gesicht schlägt. Wenige Jungen werden erzeugt und die meisten derselben werden erhalten. Der Kampf ums Dasein unter dem Nachwuchs ist außerordentlich beschränkt. Andererseits fördert jedoch die natürliche Auslese gerade die Gruppen, bei denen diese Sorgfalt und Pflege im weitesten Umfange aufgewendet werden, und diejenige Rasse erhält sich schließlich am besten, die am meisten für die Auffütterung, Ausbildung, Erziehung und Ausstattung ihrer Kinder thut« (Allen 1891, S. 176). Genau diese Zielsetzung für alle, nicht nur für eine kleine Oberschicht zu verfolgen, zeichne den Sozialismus aus. In dem Maße, wie künstliche Begünstigungen und Benachteiligungen aufgrund von Klassenstrukturen entfielen und je mehr die Gesellschaft für die Gesundheit, Tüchtigkeit und den Unterricht ihrer Jugend tue, desto größer weite sich der Spielraum »des Gesetzes des Überlebens des Tüchtigsten« (Allen 1891, S. 174) aus. Ähnlich argumentierte Karl Pearson*. Sein linksdarwinistischer Standort wird deutlich, wenn er aus seiner Kritik der sozialdarwinistischen Gleichsetzung von natürlicher Zuchtwahl und individualistischer Verdrängungskonkurrenz keineswegs den Schluss zieht, für den Sozialismus seien Konkurrenzmechanismen bedeutungslos. Vielmehr treffe das Gegenteil zu. Zwar seien die Sozialisten der Meinung, es existiere kein Beweis dafür, dass in zivilisierten Gesellschaften der innere Kampf ums Dasein eine bedeutsame Rolle spiele. »Aber sie geben bereitwillig zu, daß er von großem sozialen Werte sein könne, indem er den richtigen Mann auf den richtigen – 120 –

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Platz stellt«. Auch schätzten sie ihn als ein Mittel, um die möglichst höchsten Leistungen zu erzielen. Auf der anderen Seite glaubten sie jedoch, dass dieser Kampf einen zu großen Einsatz erfordere, »wenn er das Gleichgewicht der Gesellschaft durch die übermäßigen Vorteile bedrohe, welche er einzelnen Individuen zukommen« lasse. Daher sei es ihr Ziel, den Kampf ums nackte Dasein in einen Wettbewerb »um verschiedene Grade des Wohlstandes innerhalb bestimmter Grenzen« zu mildern. »Und wenn die Sozialisten diesen Wettkampf regeln wollen, so sind sie sich bewusst, dabei nicht im Widerspruch zu biologischen Gesetzen und kosmischen Vorgängen zu handeln, sondern auf den Pfaden der Evolution zu wandeln, durch welche die zivilisierte Menschheit sich bisher entwickelt hat; und das ist ebenso ›biologisch‹ und ›kosmisch‹ wie die Entwicklungsgeschichte der Ameisen und Bienen« (Pearson 1898, S.  756). Man sieht also: Auch wenn Pearson die Einschränkung der inneren Konkurrenz nicht als eine Aufgabe biologischer Spezialisten, sondern als eine solche für praktische Politiker definiert, argumentiert er im Kern nicht wie die marxistischen Sozialdemokraten in sozioökonomischen Kategorien, sondern innerhalb eines biologischevolutionären Paradigmas. Wenn Linksdarwinismus und marxistische Sozialdemokratie auch zwei selbstständige politische und intellektuelle Positionen sind, so stellt sich doch die Frage, wie sich der Darwinismus von links gegenüber dem marxistischen Paradigma positionierte. Ein solcher Versuch ist in der Tat von Ludwig Woltmann* in seinem Buch »Die Darwinsche Theorie und der Sozialismus« unternommen worden. Die Untersuchung »will ein Beitrag zur Naturgeschichte der menschlichen Gesellschaft sein, indem insbesondere die organische Entwicklungslehre Darwins und die soziale Entwicklungstheorie Marx’ auf ihre gemeinsame biologische Grundlage zurückgeführt werden. Es wird gezeigt, daß der historische und ökonomische Materialismus dieselbe wissenschaftliche Methode in Bezug – 121 –

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auf die Entstehung und Entwicklung menschlicher Gesellschaftsformen bedeutet, welche Darwin auf den Ursprung der tierischen und pflanzlichen Art angewendet hat. Dieses Zusammenhanges ist sich Marx selbst klar bewußt gewesen, obgleich der historische Ursprung seiner eigenen Anschauung in der dialektischen Entwicklungslehre Hegels liegt. Es ist daher durchaus im Sinne von Marx gedacht, wenn der Zusammenhang zwischen organischer und sozialer Entwicklungslehre weiter ausgebaut wird« (Woltmann 1899, S. 247). Freilich kann diese Analogisierung zwischen Darwin und Marx wenig überzeugen. Die von Darwin aufgedeckte Evolution der organischen Welt folgt ausschließlich kausalen Prinzipien; ihr Voranschreiten ist gewissermaßen blind, weil der ihr zugrunde liegende Kausalnexus nicht auf zielgerichtete, sondern auf kontingente Ursachen reagiert. Marx’ Entwicklungsmuster geht, wie Woltmann zu Recht hervorhebt, auf Hegel zurück. Dessen Ansatz, historische Entwicklung zu interpretieren, ist aber hochgradig teleologisch. Es ist sicherlich keine Fehlinterpretation, dass auch das Marx’sche Fortschrittsmuster teleologische Elemente enthält, wenn auch politökonomisch und materialistisch gewendet. Aus diesen unterschiedlichen Entwicklungsmustern folgen unterschiedliche Zugriffe auf die jeweiligen Forschungsgegenstände: Marx bedient sich sozioökonomischer, Darwin biologischer Kategorien; der eine argumentiert in ökonomisch-historischen Kontexten, der andere szientifisch-naturalistisch im Sinne eines naturwissenschaftlichen Erkenntnisinteresses; der eine sieht das Ziel des Kampfes in der Emanzipation der Arbeiterklasse und damit der Gesamtgesellschaft durch Veränderung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, der andere in der Anpassung an die Herausforderungen der natürlichen Umwelt; der eine strebt eine höhere Qualität menschlichen Lebens an, der andere entsagt jedem Perfektionismus und setzt an dessen Stelle das bloße Überleben. – 122 –

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Allerdings räumt auch Woltmann ein, dass »die Mittel und Resultate der kulturgeschichtlichen und sozialen Auslese […] relativ andere als die der natürlichen Züchtung in der Tier- und Pflanzenwelt [sind]. Durch die Technik und Intelligenz, welche alle höheren geistigen und materiellen Kräfte des Menschen bedingen, ist das Prinzip des Daseinskampfes und der Auslese verschoben worden, und infolge dessen kann es nur in einer kritisch geklärten Auffassung auf die Menschenwelt übertragen werden. Auch die Kulturgeschichte des Menschengeschlechts vollzieht sich aufgrund der großen biologischen Prinzipien der Anpassung, Vererbung und Vervollkommnung« (Woltmann 1899, S. 248). Doch worin besteht die Differenz, die aus der Verschiebung der Übertragung biologischer Prinzipien von der Tier- und Pflanzenwelt auf die soziokulturelle Welt der Artefakte resultiert? 1. Bei den Tieren findet der Kampf ums Dasein mit organischen Mitteln zu organischen Zwecken statt. Dieser Sachverhalt wird bei den Menschen von technischen Werkzeugen und wirtschaftlichen Produktionsmitteln überlagert, welche »ohne notwendigen genetischen Zusammenhang den einzelnen Individuen zur Verfügung stehen« (Woltmann 1899, S.  248). 2.  Die Vererbung bei den Tieren ist organisch, d. h. genetisch. Das ist auch bei Menschen der Fall. Aber die genetische Vererbung wird durch artifizielle, nicht gendeterminierte Varianten erweitert, wie z.  B. »durch eine äußere juristisch geregelte Vererbung von technischen Arbeitsinstrumenten und weiterhin von Kapital« (Woltmann 1899, S. 248). 3. Der Daseinskampf der Tiere ist auf organische Produk­ tion und Reproduktion festgelegt. Bei den Menschen, speziell in der kapitalistischen Ordnung, geht es dagegen um die Konkurrenz von Waren, Stellen und Profit. Sie habe mit der natürlichen Zuchtwahl kaum noch etwas zu tun (vgl. Woltmann 1899, S. 248). Hätte Woltmann es bei dem Aufweis dieser Differenz belassen, so wäre seine Position mit dem Standpunkt der marxistischen Sozialdemokratie durchaus vereinbar gewesen. Aber das, was er als – 123 –

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Differenz zwischen der organischen und der soziokulturellen Welt ansieht, ist nur eine graduelle, die hervorgerufen wurde durch die destruktiven Tendenzen des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Entfallen sie im Sozialismus, so wird »der Kampf wieder ein normaler Kampf, wie er der Darwinschen Theorie entspricht. Er wird dem organischen Kampfe ums Dasein wieder analog, insofern beide einen persönlichen und produktiven Wettbewerb bedeuten, dort mit Organen, hier mit Werkzeugen, die Jedem zur Verfügung gestellt werden, wenn er seine entsprechende Fähigkeit und Tüchtigkeit beweist. Nicht wird aufhören der Kampf um Stellung und Genuß, aber auf einer rationellen gesellschaftlichen Basis, welche die idealen Ziele des Liberalismus einer Verwirklichung näher bringt« (Woltmann 1899, S.  248). Den letzten Zweifel an diesem links gewendeten Darwinismus räumt Woltmann aus, wenn er dem vollendeten Sozialismus mit seiner Befreiung der Einzelnen vom blinden Schicksal, vom Zufall und damit auch vom Mythos der Religion den Weg öffnet für eine irdische Philosophie, »sich in und mit der großen ›Mutter Natur‹ eins zu fühlen und allen jenseitigen Wünschen und Träumereien zu entsagen. In dieser Hinsicht ist der Sozialismus eine wahrhaftige Rückkehr zur Natur« (Woltmann 1899, S. 248). Wenn Woltmann auf diese Weise den kausal argumentierenden und sich an empirischen Phänomenen haltenden Darwinismus zu einer Philosophie des Organischen mit säkularisierter Erlösungstendenz überhöht, so beantwortet diese Apotheose nicht die Frage, inwiefern die biologische Grundierung, die die Linksdarwinisten dem Sozialismus unterstellen, selbst noch in der politökonomischen Terminologie der Marx’schen Geschichts- und Gesellschaftstheorie nachweisbar ist. Einen solchen Versuch hat Ludwig Woltmann in seinem Buch »Politische Anthropologie« unternommen und in einer Replik (Woltmann 1993, S. 781–782) in der »Neuen Zeit« auf die kritische Rezension von Heinrich Cunow (Cunow 1903, S. 581–588) – 124 –

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erneut bestätigt. Diese Kontroverse ist deswegen bemerkenswert, weil sie ein scharfes Licht auf die Differenz zwischen der Kategorienbildung der Linksdarwinisten und der marxistischen Sozialdemokratie wirft. Woltmann bezog sich auf fünf Marx-Zitate, welche seiner Meinung nach den mit der Evolutionstheorie in Übereinstimmung befindlichen biologischen Impetus, wenn auch nicht bis zum Ende entfaltet, belegen. Im Ersten Band seines Hauptwerkes »Das Kapital« schreibt Marx: »Kasten und Zünfte entspringen aus demselben Naturgesetz, welches die Sonderung von Pflanzen und Tieren in Arten und Unterarten regelt, nur daß auf einem gewissen Entwicklungsgrad die Erblichkeit der Kasten oder die Ausschließlichkeit der Zünfte als gesellschaftliches Gesetz dekretiert wird« (Marx 1969, S.  360). Woltmann schloss daraus, dass Marx die Bildung von Kasten und Zünften in Analogie zu den Varietäten im Pflanzen- und Tierreich aus einem universal geltenden Naturgesetz abgeleitet habe. Dieser Schlussfolgerung widersprach – von einem marxistischen Ansatz her argumentierend – Heinrich Cunow vehement. Wenn man das Marx-Zitat in seinem Kontext lese, besage der Ausdruck »Natur­ gesetz« nicht, dass die Zunft- bzw. Kastenbildung dessen Ausfluss sei. Vielmehr habe Marx die Tradierung der gewerblichen Familien­ geschicklichkeit im Blick gehabt. Es gehe dabei also nicht um die Vererbbarkeit einer physiologischen Veranlagung, sondern da­rum, dass Erfahrungen, Fachkenntnisse und Kunstfertigkeiten durch Unterweisung von Generation zu Generation überliefert werden. Im Übrigen lasse Marx keinen Zweifel daran, dass die Entstehung von Zünften und Kasten nicht vom Naturgesetz der Vererbung, sondern von bestimmten historischen Bedingungen abhängen, die darüber entscheiden, ob solche Institutionen entstehen, temporär sich durchhalten und schließlich kollabieren. Jedenfalls könne von einem ahistorischen Naturgesetz der Vererbung keine Rede sein (Cunow 1903a, S. 784). – 125 –

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Marx vertrete außerdem die These, so Woltmann, dass der griechischen Gesellschaft Sklavenarbeit zugrunde gelegen habe. Er habe damit die Ungleichheit der Menschen zur Naturbasis des antiken Griechenland erhoben. Woltmann bezog sich auf folgendes MarxZitat: »Daß aber die Form der Warenwerte alle Arbeiten als gleiche menschliche Arbeit und daher als gleichgeltend ausgedrückt sind, konnte Aristoteles nicht aus der Wertform selbst herauslesen, weil die griechische Gesellschaft auf der Sklavenarbeit beruhte, daher die Ungleichheit der Menschen und ihrer Arbeitskräfte zur Naturbasis hatte. Das Geheimnis des Wertausdrucks, die Gleichheit und gleiche Gültigkeit aller Arbeiten, weil und insofern sie menschliche Arbeit überhaupt sind, kann nur entziffert werden, sobald der Begriff der menschlichen Gleichheit bereits die Festigkeit eines Volksvorurteils besitzt. Das aber ist erst möglich in einer Gesellschaft, worin die Warenform die allgemeine Form des Arbeitsprodukts, also auch das Verhältnis der Menschen zueinander als Warenbesitzer das herrschende gesellschaftliche Verhältnis ist« (Marx 1969, S. 74). Woltmann folgerte daraus, dass der Terminus »Naturbasis« in Verbindung mit der »Ungleichheit der Menschen« sich durchaus in Übereinstimmung mit der Evolutionstheorie befinde. Auch dieser Interpretation widersprach Cunow. Der Kontext des Zitates mache klar, dass Marx nicht auf physiologische Ungleichheit, sondern auf Ungleichheit als ein soziales Verhältnis abziele. »Die soziale Ungleichheit ist ein Erzeugnis sozialer (genauer) ökonomischer Entwicklungsverhältnisse, wie sie sich denn auch mit diesen im Wechsel der Zeiten mannigfach verändert hat und mit ihr […] der Begriff der menschlichen Arbeit« (Cunow 1903a, S. 784). Auch habe Marx den tierischen Kampf ums Dasein, so argumentiert Woltmann weiter, direkt mit der wirtschaftlichen Konkurrenz verglichen, wenn er schrieb: »Die gesellschaftliche Teilung der Arbeit stellt unabhängige Warenproduzenten einander gegenüber, die keine andre Autorität anerkennen als die der Konkurrenz, – 126 –

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den Zwang, den der Druck ihrer wechselseitigen Interessen auf sie ausübt, wie auch im Tierreich das bellum omnium contra omnes [der Kampf aller gegen alle, R.  S.] die Existenzbedingungen aller Arten mehr oder weniger erhält« (Marx 1969, S. 377). Cunow hielt dagegen, dass diese Analogisierung keine Beweise für biologische Elemente im Marxismus impliziere und schon gar nicht als Beleg gelten könne. Denn Marx habe die ökonomische Konkurrenz im kapitalistischen Wirtschaftsleben nicht als Naturgesetz begriffen. Vielmehr betone er den temporären Charakter der Konkurrenz, der im vollendeten Sozialismus verschwinde. »Ewige Naturgesetze kann man nicht aufheben« (Cunow 1903a, S. 784). Marx, so Woltmann, hätte ferner in der »Rasse« einen naturalistischen Faktor gesehen. So heiße es im Ersten Band von »Das Kapital«: »Von der mehr oder weniger entwickelten Gestalt der gesellschaftlichen Produktion abgesehn, bleibt die Produktivität der Arbeit an Naturbedingungen gebunden. Sie sind alle zurückführbar auf die Natur des Menschen selbst, wie Race usw., und wie die ihn umgebende Natur« (Marx 1969, S. 535). Keiner bestreite, so Cunow, dass es »Rassen« gebe. Auch Marx nicht. Aber ihm sei es nicht auf die Frage angekommen, ob die Errungenschaften von Staaten Derivat ihrer physiologischen Eigenart und der biologischen Ungleichheit ihrer Ethnien seien. Vielmehr gehe es ihm um das Problem, »ob das soziale Leben der Völker durch ihre ökonomische Struktur bestimmt wird und die Rassencharaktere, speziell die sogenannten ›psychischen‹, nichts anderes sind als Niederschläge früherer sozialer Entwicklungsepochen« (Cunow 1903a, S.  785). Und schließlich behauptete Woltmann, der entscheidende Schlüsselbegriff der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie, der Mehrwert, sei eine biologische Kategorie. Die Naturbasis des Mehrwertes bestehe nach Marx darin, »daß kein absolutes Naturhindernis den einen abhält, die zu seiner eigenen Existenz nötige Arbeit von sich selbst ab- und einem andern aufzuwälzen, z.  B. ebensowenig wie abso– 127 –

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lute Naturhindernisse die einen abhalten, das Fleisch der andern als Nahrung zu verwenden« (Marx 1969, S.  534). Der Fehler von Woltmann, erwiderte Cunow, bestehe darin, aus der Abwesenheit eines absoluten Naturhindernisses zu schließen, dass es Mehrwertproduktion in jeder Gesellschaft geben müsse. Das aber sei ein unzulässiger Schluss. Wenn es kein absolutes Naturhindernis gibt, Menschenfleisch zu verzehren, könne man daraus noch lange nicht schließen, in jeder Gesellschaft sei Kannibalismus erlaubt, auch wenn der Mensch über Kauwerkzeuge verfüge. So gebe es soziale Hemmnisse, die auch ohne Naturhindernisse wirkten, wie Gesetzgebung, Organisationsformen, Moralanschauungen etc. (Cunow 1903a, S. 785). Freilich darf nicht vergessen werden, dass sich auch im Werk von Friedrich Engels drei Analogien freilegen lassen, die auf den ersten Blick eine Annäherung des Historischen Materialismus an naturalistische Implikationen der Darwin’schen Evolutionstheorie nahezulegen scheinen. 1.  Genau wie Darwin einen wichtigen Aspekt der Naturwissenschaft, nämlich den des organischen Lebens, historisiert habe, könne das Marx’sche »Kapital« das Verdienst für sich beanspruchen, den Beweis der geschichtlichen Entwicklung der Nationalökonomie erbracht zu haben. »Während selbst die Naturwissenschaft sich mehr und mehr in eine geschichtliche Wissenschaft verwandelt – man vergleiche Laplaces astronomische Theorie, die gesamte Geologie und die Schriften Darwins –, war die Nationalökonomie bisher eine ebenso abstrakte, allgemeingültige Wissenschaft wie die Mathematik. Was auch das Schicksal der sonstigen Behauptungen dieses Buches [»Das Kapital«, R. S.] sein mag, wir halten es für ein bleibendes Verdienst von Marx, dass er dieser bornierten Vorstellung ein Ende gemacht hat« (Engels 1964, S.  217). 2.  Wie im Historischen Materialismus die neue Gesellschaftsform aus der alten hervorgehe, so entstünden nach Darwins Evolutionstheorie neue Arten aus ihren alten Varianten. »Soweit er – 128 –

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[d. h. Marx, R. S.] sich bemüht nachzuweisen, daß die jetzige Gesellschaft, ökonomisch betrachtet, mit einer andern, höheren Gesellschaftsform schwanger gehe, insoweit bestrebt er sich, nur denselben allmählichen Umwälzungsprozeß auf dem sozialen Gebiet als Gesetz hinzustellen, den Darwin naturgeschichtlich nachgewiesen hat« (Engels 1964a, S. 226f ). 3. In Anlehnung an Malthus äußert sich das Konkurrenzprinzip, das die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft beherrscht, als Kampf ums Dasein auch in der gesamten organischen Natur.68 Wie Woltmann es bereits im Blick auf eine analoge Äußerung bei Marx hervorhob, könnte auch für Engels’ Diktum die Vermutung zutreffen, dass der Wettbewerb eine naturalistische Dimension habe, die für die Gesellschaft ebenso zutreffe wie für die Natur. Aber wie alle Analogien, so hat auch Engels’ Parallelisierung von Historischem Materialismus und Evolutionstheorie ihre Grenzen. So bedeutet »Historisierung« im Historischen Materialismus etwas anderes als in der Abstammungslehre. Wir kommen nämlich nicht umhin, zwischen einem Entwicklungsbegriff, wie die Evolutionstheorie ihn unterstellt, und einem von der historischen Forschung verwendeten Ansatz zu unterscheiden, von dem auch der Historische Materialismus ausgeht. Jener »erklärt die Verwandtschaft der Organismen und die Sukzession ihrer Formen in den Erdzeiten als das Ergebnis eines realen Zusammenhanges, als Entstehung vieler verschiedener Gestalten aus wenigen einfachen Grundformen« (Portmann 1960, S. 22). Dieser fokussiert den Menschen »in einer Kette von Generationen, die sich das Ergebnis ihrer Arbeit weiterreichen und für die deshalb mit jeder Generation eine Ausgangslage entsteht, die völlig neu ist – ohne daß diese Lage durch eine erbliche Veränderung des Menschen beeinflusst würde oder etwa selber eine derartige erbliche Änderung zur Folge hätte« (Portmann 1960, S. 23). Was nun das Hervorgehen des Neuen aus dem Alten betrifft, so haben es der Historische Materialismus und die Deszen– 129 –

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denztheorie mit zwei verschiedenen Sachverhalten zu tun. In der Darwin’schen Abstammungslehre läuft die Entwicklung im Rahmen kontingenter Umstände nach Prinzipien der Kausalität gleichsam »blind« ab. Ihr Gesetz besteht darin, dass die Organismen auf nicht prognostizierbare Herausforderungen im Kampf ums Überleben in langen Zeiträumen mit optimaler Anpassung reagieren oder untergehen. In Anlehnung an Hegels Geschichtsphilosophie unterstellt der Historische Materialismus dagegen, wie bereits hervorgehoben, eine welthistorische Teleologie, deren historisches Subjekt das Industrieproletariat ist.69 Und eine Naturalisierung des Konkurrenzprinzips verbietet sich für Engels schon allein deswegen, weil es zwar Ausfluss des »menschlichen Tierreichs« der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ist, aber nach Engels eigenen Worten in einer Gesellschaft mit geplanter Wirtschaft »aufgehoben« sein wird.70 Sollte also Kautsky in seinem Aufsatz von 1890 recht behalten, dass es keine methodologische Brücke zwischen politikökonomisch argumentierendem Marxismus und sich in biologischen Begriffen ausdrückendem Darwinismus gibt? Neunzehn Jahre später schien Rudolf Goldscheid in seiner Auseinandersetzung mit dem extremen Selektionismus August Weismanns (vgl. Goldscheid 1909) die Position Kautskys glänzend zu bestätigen, wie Lipsius in seiner Rezension von Goldscheids »Darwismus als Lebenselement unserer modernen Kultur« (1909) zeigt. Bekanntlich übertrugen die Neo-Darwinisten Weismann’scher Prägung schematisch »die Gesetze der Auslese im Kampf ums Dasein, der Ausmerzung der weniger Tüchtigen und der dadurch bedingten Anpassung und Höherentwicklung, wie sie von Darwin fürs Tierreich entdeckt worden sind, auf die menschliche Gesellschaft […]. Praktisch läuft […] der extreme Selektionismus«, so kommentierte Lipsius diesen Ansatz, »auf eine Verherrlichung der Greuel der kapitalistischen Wirtschaftsordnung hinaus, auf eine Verherrlichung der Greuel der Konkurrenz, der Kolonialpolitik etc.« (Lipsius 1910, S.  285). Dem – 130 –

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halte Goldscheid entgegen, dass zwar die Selektion in der frühen Entwicklung der Menschheit außerordentlich wichtig gewesen sei. Doch in der Gegenwart befinde sich der Mensch in einer Situation, in der die Auslese als Motor der Vervollkommnung keine Rolle mehr spiele. Ursprünglich habe die Selektion die Entwicklung dadurch vorangetrieben, dass sie die Organismen an das Milieu ihrer Umwelt anpasste. Jetzt gehe es umgekehrt für die Menschen um die Anpassung ihres Milieus an die eigenen Bedürfnisse. Dieses Ziel werde durch Gehirnleistungen erreicht, nicht durch größere Fertilität der Arten. Nicht die rohen Mittel der Auslese seien heute für die Menschen relevant wie im Tierreich, sondern das Erbe des Kapitals seiner geistigen Kultur. Dennoch gab es Marxisten der deutschen und österreichischen Sozialdemokratie, die es bei dem Hiatus zwischen den Erscheinungen der Tierwelt einerseits und der Gesellschaft andererseits nicht bewenden lassen wollten. Zu nennen sind hier Autoren wie Cunow und Lipsius. Sie lehnten zwar, wie gezeigt, die einfache Übertragung der Selektion in der organischen Welt auf soziale Verhältnisse ab. Auch unterschieden sie sich von den Linksdarwinisten dadurch, dass sie deren Anwendung organologischer Prinzipien auf die Struktur der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft verwarfen. Aber sie bestritten zugleich auch, dass es obsolet sei, ein Gesetz wie das der Selektion für die menschliche Gesellschaft überhaupt zu unterstellen. Ließe der Sozialismus diese Trennung zu, argumentierte Cunow, so unterliefe ihm der Fehler, den die Theologie begangen habe: Er würde zu einem Dogma erstarren, welches die Fortschritte der anderen Wissensgebiete, in diesem Fall die der Naturwissenschaften, ignoriert (Cunow 1890, S. 327). Soziologie ohne Ethnologie und politische Ökonomie würden sich ohne Referenz auf ihre jeweiligen Hilfswissenschaften im Kern ihrer Innovationsfähigkeit begeben. Und dasselbe treffe für den Marxismus zu, wenn er die Evolutionstheorie unbeachtet lasse. – 131 –

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Doch wenn diese Aussage richtig war, musste Cunow die gemeinsame Schnittmenge beider Wissenskategorien benennen, die sich einerseits in sozioökonomischen und andererseits in biologischen Begriffen artikulieren. Oder anders formuliert: Inwiefern ist der Kampf ums Dasein deckungsgleich mit den Kämpfen der industriellen Gesellschaft in dem Sinne, dass beide gleichermaßen die aus der Evolution hervorgegangene Physis des Menschen verändern? Zwar hätten sich seit der Beendigung der Hordenbildung innerhalb der Menschheit keine neuen Arten mehr herausgebildet. Aber es sei ein unbestrittenes Faktum, dass die wirtschaftlichen und sozialen Konflikte in der Geschichte der Menschheit »von höchstem Einfluss auf die körperliche und geistige Ausbildung der vorhandenen Arten und deren Fortpflanzung« seien. Insofern zählten sie zu jenen Momenten, deren Gesamtheit Darwin unter der Bezeichnung »Kampf ums Dasein« begreife. Zwar nicht der Kampf ums Dasein selbst, stellten sie doch Teile desselben dar: »einige der mannigfachen Formen, in welchen er sich innerhalb der Menschheit abspielt« (Cunow 1890, S. 327). Cunow nennt: Krankheiten, die auf defizitäre Umweltbedingungen zurückzuführen sind, aus Nahrungsmangel resultierende körperliche Leiden, Nervosität als Resultat der Hektik des modernen Lebens etc. Cunow geht also deutlich über Goldscheids Aszendenztheorie hinaus, wenn er den Kampf ums Dasein unter optimalen Lebensbedingungen auch im Sozialismus fortschreibt. Zwar schwinde in ihm der individuelle Einzelkampf. »Aber er ist nicht der Kampf ums Dasein selbst, er ist nur eines der speziellen Momente desselben, das erst auf einer bestimmten Entwicklungsstufe eingesetzt hat und demgemäß auch auf einer bestimmten anderen Stufe verschwindet. In seiner heutigen Nebenform, dem Konkurrenzkampf, ist er sogar erst Erzeugnis der allerletzten Epoche; das Mittelalter wusste davon nichts. Aber der Kampf um die Lebensbedingungen bleibt. Selbstverständlich nicht um die Bedingungen für eine rohe – 132 –

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thierische Existenz, sondern um die Lebensbedingungen für eine in ihren Bedürfnissen außerordentlich gesteigerte, hoch entwickelte Gesellschaft. Es gilt, der Natur immer weitere Garantien für die Erhaltung und Fortpflanzung der Menschengattung abzuringen, jene Emanzipation, die mit dem ersten Gebrauch von Werkzeugen begann, in immer höherer Form fortzusetzen« (Cunow 1890, S. 385). Auch die inneren Kämpfe ums Dasein, so Cunow, werden mit der Vergesellschaftung der Produktionsmittel in der sozialistischen Gesellschaft der Zukunft nicht beendet sein. Als Beispiel nennt er die Emanzipation der Frau, deren individuelle und gesellschaftliche Gleichberechtigung dann auf der politischen Tagesordnung stehe. Die Frauenfrage sei nicht Teil der sozialen Frage, wie oft behauptet werde, sondern deren Nachfolgerin. Die Bedingung der Befreiung der Frau »ist die Vernichtung ihrer ökonomischen Abhängigkeit vom Mann, d. h. volle Antheilnahme an der sogenannten Erwerbsarbeit« (Cunow 1890, S. 385). Ähnlich wie Cunow argumentierte Lipsius in seiner GoldscheidRezension. Er ging sogar insofern noch einen Schritt weiter, als er eine »einheitliche Weltauffassung« verlangte. Sie setze voraus, »daß man auch das menschliche Sein, die menschliche Gesellschaft mit allen ihren Äußerungen als eine Anpassungserscheinung, die durch Selektion, durch Auslese, erreicht wird, begreift. Wie die Selektion hier arbeitet, ist eine Spezialfrage, die nach der Auffassung der materialistischen Geschichtsforschung in dem Sinne beantwortet wird, dass der Mensch planmäßig seine Umgebung modelt, indem er das Werkzeug zu gebrauchen gelernt hat« (Lipsius 1910, S.  286). Gezwungen, sich jeder neuen Herausforderung seiner Umwelt zu stellen, hält der Mensch dem Zwang der Selektion nur dadurch stand, dass er stets neue Techniken entwickelt, um im Daseinskampf zu überleben und sich weiterzuentwickeln. Stets setzt die Herstellung eines neuen Gleichgewichtszustandes zwischen sich und der Umwelt die Entwicklung neuer Techniken voraus. Auf diese Weise lasse – 133 –

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sich die Geschichte der menschlichen Technik als Geschichte der menschlichen Anpassung interpretieren, die den eigentlichen Kern seiner Historie ausmache. Freilich ist der Preis einer dergestalt monistisch interpretierten Selektion sehr hoch: Sie verliert ihre analytische Trennschärfe in der Unterscheidung zwischen Naturding und Artefakt, sodass Lipsius am Ende die materialistische Geschichtsauffassung mit der »Biologie des Menschen« (Lipsius 1910, S. 286) identifiziert. So ist es 1909 Otto Bauer vorbehalten geblieben, sechs Jahre nach der Kontroverse zwischen Cunow und Woltmann die wohl differenzierteste Klärung des Verhältnisses zwischen »Marx und Darwin«, so der Titel seines Aufsatzes in »Der Kampf«, vorzulegen. Bauer bestritt nicht, dass es partielle Übereinstimmungen zwischen den beiden Wissenschaftsparadigmen gebe. Wenn Marx’ Vorwort zur »Kritik der politischen Ökonomie« und Darwins »Entstehung der Arten« im selben Jahr, nämlich 1859, erschienen, sei dies mehr als ein Zufall: In diesem Jahrzehnt gingen das expandierende kapitalistische Wirtschaftssystem und die aufstrebenden modernen Naturwissenschaften Hand in Hand. Deren sich wechselseitig stimulierende Dynamik habe erst die Voraussetzung für beide Werke und zwei neue Forschungsfelder geschaffen: »Darwin führt die unübersehbare Mannigfaltigkeit der Arten zurück auf das elementare Substrat des organischen Lebens, das nach wenigen einfachen Gesetzen im Kampf ums Dasein aus sich heraus die vielen verschiedenen Arten der Tier- und Pflanzenwelt hervorbringt. Marx führt die unendlich vielen Gestalten der sozialen Beziehungen, des Staats- und Rechtslebens, der wissenschaftlichen und religiösen Vorstellungen, der Urteile über das Gute und Schöne zurück auf das elementare Subs­ trat der Seele des vergesellschaftlichten Menschen, die nach bestimmten Gesetzen mit der Wandlung der Produktivkräfte aus sich heraus jene mannigfachen Formen unseres Kulturlebens erzeugt« (Bauer 1909, S.  170). Beide hätten ihr Erkenntnisinteresse nicht – 134 –

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auf »das Dauernde im Wechsel der Erscheinungen« (Bauer  1909, S.  170) konzentriert, sondern auf die »Gesetze der Bewegung, der Entwicklung« (Bauer 1909, S.  170) ihres Forschungsgegenstandes. Vom Geist der modernen Naturwissenschaften durchdrungen, sei es ihnen auf die Analyse der fortwährenden Umbildung und Umgestaltung ihres Untersuchungssubstrats angekommen. Aber diese innere Verwandtschaft beider Denkrichtungen habe viele zu dem Fehler verleitet, ihr Immediatverhältnis überzubetonen: sei es, dass man die materialistische Geschichtsauffassung »als notwendige Konsequenz der Abstammungslehre, als ihre Anwendung auf das gesellschaftliche Leben« (Bauer 1909, S.  171) ansah; sei es, dass man glaubte, den Historischen Materialismus mit evolu­ tionären Argumenten widerlegen zu können. Doch in Wirklichkeit handele es sich um zwei verschiedene Forschungsfelder, die nicht miteinander transferierbar seien. Indem für Marx »die umwälzende Praxis« bzw. die »Selbsttätigkeit der menschlichen Gesellschaft« im Zentrum seiner Analyse stehe, erhebe sich sein Ansatz über die biologische Natur. Er habe es nicht nur mit dem Menschen als Geschöpf der Natur, »sondern auch mit dem Menschen als dem Schöpfer seiner eigenen Daseinsbedingungen zu tun« (Bauer 1909, S.  174). Gewiss, der Mensch bleibe auch unter vergesellschafteten Bedingungen Naturobjekt und die menschliche Kultur Teil des Naturprozesses. Aber dadurch, dass Marx nicht den bildsamen Stoff, den die Natur gestalte, sondern die Willensbeziehungen der Menschen zueinander fokussiere, schaffe er eine von der Biologie losgelöste Sozialwissenschaft, die freilich aufgrund der Reproduktion der Gattung durch ihre Auseinandersetzung mit der Natur an diese zurückgekoppelt bleibe. »Darum ist der Begriff der Produktion, der Arbeit der zentrale Begriff des Marxschen Systems; er erhebt uns über die Biologie, indem er uns die Geschichte der Menschheit als das Erzeugnis ihrer bewussten Selbsttätigkeit begreifen lässt, aber – 135 –

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er verankert diese Geschichte doch wieder im Naturprozess, indem er die ganze Kulturentwicklung hervorgehen läßt aus jenem Zweig der menschlichen Tätigkeit, der der Gewinnung der Güter für unseren Lebensunterhalt dient, aus der besonderen Form, in der die Menschheit ihren Daseinskampf in der Natur führt« (Bauer 1909, S.  177). Man sieht also: die »Kreuzungspunkte« der Generallinien des Historischen Materialismus einerseits und der Darwin’schen Evolutionstheorie andererseits können Bauer zufolge nicht über die Selbstständigkeit der beiden Wissenschaftsgebiete hinwegtäuschen (Bauer 1909, S. 175): Jener ist kategorial an eine ökonomische, diese an eine biologische Begriffsbildung zurückgekoppelt, die nicht miteinander identifizierbar sind.71 Anton Pannekoek hat in einer bemerkenswerten Broschüre aus dem Jahr 1909 unter dem Titel »Marxismus und Darwinismus« die subkutane Verwandtschaft von rechtem und linkem Sozialdarwinismus auf den Begriff gebracht, die zugleich ein charakteristisches Licht auf den Letzteren wirft. Der im bürgerlichen Lager vertretene Sozialdarwinismus sehe die bürgerliche Gesellschaft mit den im Tierreich geltenden Gesetzen der Evolution in Übereinstimmung und klassifiziere damit diese als eine »naturgemäße Ordnung«, die immer bestehen bleiben müsse. Der linke Sozialdarwinismus argumentiere umgekehrt: Erst im Sozialismus könnten die darwinistischen Prinzipien eine Gesellschaft strukturieren, die auf einer natürlichen Ordnung beruhe. »Unter dem Kapitalismus, so lautet die Beweisführung, wird der Kampf ums Dasein, der Wettkampf, von den Menschen nicht mit gleichen, sondern mit künstlich ungleichen Waffen geführt. Die natürliche Überlegenheit der gesünderen, kräftigeren, intelligenteren oder sittlich besseren Individuen kann nicht zur Geltung kommen, weil Geburt, Stand, und vor allem Geldbesitz den Ausgang des Kampfes beherrschen. Der Sozialismus hebt diese künstliche Ungleichheit auf, macht die Bedingungen für alle gleich günstig, und damit kann der wirkliche Kampf ums Dasein, – 136 –

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worin die persönliche Überlegenheit entscheidet, zum ersten Mal zur Geltung kommen. Nach Darwinistischen Prinzipien sei also die sozialistische Produktionsordnung die wirklich natürliche und naturgemäße zu nennen« (Pannekoek 1909, S. 24). Doch die eine Anschauung habe insofern eine ebenso kranke Wurzel wie die andere, als sie beide von einer bestimmten naturgemäßen Gesellschaftsform ausgingen, die es nicht gebe: ein Kunstprodukt der Menschen, sei sie stets von dem historischen Stand der Wirtschaftsform imprägniert, in deren Kontext sie sich entwickle. Marxistische Sozialdemokraten und Linksdarwinisten nahmen aber nicht nur in der Anwendung der Evolutionstheorie auf die Gesellschaft eine unterschiedliche Position ein; auch die praktischen Folgerungen, die sie aus ihnen zogen, differierten beträchtlich, wie z.  B. die Stellung zur Kolonialpolitik zeigt. Auf dem Stuttgarter Kongress der Zweiten Internationale von 1907 erteilte Kautsky einer »sozialistischen Kolonialpolitik« eine klare Absage.72 Er hob in seiner Rede vier Aspekte hervor: »(1) Kolonialpolitik bedeute die Eroberung und gewaltsame Fesselung eines überseeischen Landes und habe mit Demokratie und Sozialismus nichts zu tun. (2) Die Kolonialpolitik führe allenthalten nicht zur Hebung, sondern zum Niedergang der Völker. Daran könne auch ein sozialistisches Regime nichts ändern. Wenn man auf Naturvölker zivilisatorisch wirken wolle, so müsse man zu allererst ihr Vertrauen gewinnen; und dieses gewinne man nur dadurch, dass man ihnen die Freiheit gebe. (3)  Nach Bernstein gebe es zwei Gruppen von Völkern: das sei aber nur eine Variation des alten Satzes, der eine komme auf die Welt mit Sporen an den Füßen, der andere mit dem Sattel auf dem Rücken, um den ersten zu tragen.73 (4) Gewiß habe Marx gesagt, dass die Erde der Menschheit gehöre. Die Menschheit aber betreibe keine Kolonialpolitik. Marx habe nicht gesagt, dass die Erde den kapitalistischen Nationen gehöre« (Nishikawa 1976, S. 102). – 137 –

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Eine andere Linie vertrat der Linksdarwinismus. So wertete Karl Pearson im Gegensatz zu Kautsky den Kolonialismus der europäischen Großmächte als einen nach außen gewendeten Kampf ums Dasein auf. Der weiße Mann habe eine »inferiore Rasse« nach der anderen unterworfen. Der äußere Kampf für Märkte, Handelswege und Einflusssphären diene, wenn auch nur indirekt, so doch nicht weniger wirklich, dem Zweck, die Lebensmittel der wachsenden Bevölkerung im eigenen Lande zu sichern. Innenpolitisch hänge die Stabilität und Stärke einer jeden Gemeinschaft weit mehr ab von der Bewahrung und Vermehrung ihrer Traditionen, ihres technischen Könnens, ihrer Wissensressourcen, ihrer materiellen Hilfsquellen und ihrer Energie als von der Fortdauer eines Kampfes ums Dasein innerhalb dieser Gemeinschaft. Wenn der »äußere Kampf mit den inferioren Rassen des Auslandes zu Ende gefochten« sei, »dann, wenn nicht früher, wird die Bevölkerungsfrage den zivilisierten Gesellschaften der Erde einen noch furchtbareren Kampf ums Dasein aufzwingen. Ob nun dieser Kampf die Gestalt eines wirklichen Krieges oder noch heftigerer Konkurrenz um den Handel und die Nahrungszufuhr annehmen wird – jene Gesellschaft wird zuerst zusammenbrechen, in welcher der innere Wettbewerb ein ungeheures Proletariat erzeugt hat, das außerstande ist, auszuharren, oder das – um die Zunftphrase zu gebrauchen – kein Interesse am Staate hat« (Pearson 1898, S. 756). Der Linksdarwinismus zeigte aber nicht nur eine offene Flanke zum Kolonialismus; er machte sich auch stark für die evolutionistische Anwendung eugenischer Maßnahmen auf das verelendete Industrieproletariat. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Kontroverse in der »Neuen Zeit« zwischen dem zum damaligen Zeitpunkt mit der Sozialdemokratie sympathisierenden Mediziner Wilhelm Schallmayer* und der deutsch-italienischen Sozialistin Oda Olberg*. Schallmayer bedauerte, dass man in weiten Kreisen der SPD der um die Jahrhundertwende in Mode gekom– 138 –

Sozialdemokratie zwischen Linksdarwinisten und marxistischem Zentrum

menen Rassenhygiene und Sozialeugenik eher skeptisch begegne, weil für sie die Lösung der sozialen Frage absolute Priorität habe. Demgegenüber sah er im Gegensatz zu anderen Rassenhygienikern »zwischen sozialistischen und rassehygienischen Bestrebungen […] keinen prinzipiellen Gegensatz« (Schallmayer 1907, S.  732). Die Sozialdemokratie laufe mit ihrer attentiven Haltung Gefahr, das Feld der Eugenik und der Rassenhygiene dem rechten Spektrum zu überlassen (Schallmayer 1907, S. 734). Doch kann Schallmayers Linkswende nicht darüber hinwegtäuschen, dass seine Sympathie für die wirtschaftliche und kulturelle Hebung des Lebensstandards des Industrieproletariats geringer wog als die für dessen »Erb- oder Rassetüchtigkeit«, die mindestens gleichrangig mit der Lösung der sozialen Frage sei (Schallmayer 1907, S. 736), und zwar nicht nur im Interesse einer Klasse, sondern des ganzen Volkes. Die SPD isoliere sich, wenn sie die Rassenhygiene nur vom »öden Parteistandpunkt« aus bewerte.74 Oda Olberg wandte gegen Schallmayer ein, er übersehe, dass schon heute die Partei rassenhygienische Aufklärung betreibe, wenn sie dem Proletariat die Ursachen und Gefahren des Alkoholismus, der Geschlechtskrankheit und der Kindersterblichkeit lehre. Aber diese Übel könnten erst an der Wurzel bekämpft werden, wenn das materielle Elend der Arbeiterschaft zumindest in seinen gröbsten Auswüchsen beseitigt sei. »Der Kampf für diese Bedingungen absorbiert die besten Kräfte; sind erst die elementarsten Bedingungen geschaffen, so wird das Tempo des weiteren Fortschritts in immer steigendem Maße beeinflusst werden von dem biologischen Werte der Masse und diesem muß sich die wachsende Aufmerksamkeit der Partei zuwenden« (Olberg 1907, S. 884). Entartungserscheinungen im Proletariat seien nicht zu leugnen. Aber unter den vielen Ursachen, die sie bedingten, rage das Massenelend heraus (Olberg 1907, S. 884). Im Übrigen sei bekannt, dass wirtschaftliche Verhältnisse die Zuchtwahl im Sinne der Verminderung der Fortpflanzung – 139 –

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der Tüchtigeren beeinflusse. Andererseits bekannte sich Olberg zum Neo-Malthusianismus. Die am meisten verelendeten Schichten des Proletariats seien für die Gesellschaft verloren und nach dem Prinzip der natürlichen Selektion zum Aussterben bestimmt. Ausdrücklich übertrug Olberg die biologische Selektion eins zu eins auf die Gesellschaft. »Nun scheint mir, daß ohne selektionistische Betrachtung vom Standpunkt der Auslese der Besten, keine einzige Erscheinung des Gesellschaftslebens vom Standpunkt der Rassenhygiene bewertet werden kann. Auslese findet überall statt, wo etwas zugrunde geht […]. Was übrig bleibt, was der Zerstörung entgeht, beweist eben dadurch, daß es in irgendeiner Form besser gewappnet, geschickt, befähigter war, der Zerstörung zu entgehen. Die Selektion, die Auslese, hat immer recht« (Olberg 1906, S. 728). Olbergs These, auch andere als soziale Faktoren, nämlich genetische Komponenten, bestimmten einen wesentlichen Teil des gesellschaftlichen Elends des Proletariats, blieb im sozialdemokratischen Diskus nicht unwidersprochen. Insbesondere ihre Unterscheidung zwischen den »politischen Rassenvorstellungen« der Nazis und dem Ansatz der Schule um Alfred Ploetz, dem sie attestierte, »ein ernster Hüter der ›Erbwerte‹« (zit. n. Stein 1932, S. 413) zu sein, geriet ebenso ins Kreuzfeuer sozialdemokratischer Kritik wie die Idee des »Erbgutes eines Volkes«, die in ihren Büchern eine affektive Rolle spielt. So wurde ihr in einem Artikel in »Der Kampf« vorgeworfen, sie begebe sich ohne Not in die Nachbarschaft von Rassentheoretikern, die aus der Kategorie der Erbwerte »die reaktionärsten Ungeheuerlichkeiten ableiten« (Stein 1932, S. 414).75 In dem Maße, wie sie die Terminologie der rechten Rassentheoretiker wie »Rassenhygiene«, »Erbwerte«, »Volkskraft«, »Entartung« etc. offensiv übernehme, transportiere sie auch die reaktionären Konsequenzen, die ihnen wie ein Schatten folgten.76 Daher könne auch ihre These, ohne Rassenhygiene sei das Proletariat zu einem erfolgreichen Klassenkampf unfähig (Olberg 1906, S.  726), nicht überzeugen.77 – 140 –

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Es widerspreche dem sozialdemokratischen Konsens, wenn Olberg gesellschaftliche Ursachen dafür verantwortlich mache, dass dem Proletariat die Erkenntnis versagt bleibe, biologisches Erbgut sei für das Elend der Menschen »vielleicht« von ausschlaggebender Bedeutung. »Verschieben wir doch nicht die Problemstellungen des Sozialismus«, rät der Autor, »sprechen wir doch nicht von der ausschlaggebenden Bedeutung der Erbwerte, sondern sagen wir – im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten verbleibend, daß die allermeisten Menschen mit so gesunden Anlagen geboren werden, daß sie leistungsfähig bleiben können, wenn sie die Milieubedingungen sozialistisch gestalten« (Stein 1932, S. 414). Freilich können die Beiträge über Rassenhygiene und Eugenik im sozialdemokratischen Diskurs nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie niemals, wie schon hervorgehoben, eine nennenswerte Hegemonie in der politischen Praxis erreichten. Ganz abgesehen davon, dass Begriffe wie Eugenik und Rassenhygiene vor Errichtung des Dritten Reiches und dem von ihm zu verantwortenden Zivilisa­tionsbruch von Auschwitz in der Regel mit neutraleren semantischen Konnotationen ausgestattet waren als ihre zu Recht pejorative Einfärbung nach 1945, blieben sie, wenn überhaupt affirmativ verwendet, stets an das Ziel gebunden, zunächst das verelendete Proletariat durch klassische Sozialpolitik physisch und psychisch überhaupt erst in die Lage zu versetzten, lern- und bildungsfähig zu sein. So wies der spätere amtsführende Stadtrat für das Gesundheitswesen des Roten Wien, Julius Tandler*, in einer Rede am 23. Januar 1918 darauf hin, dass wir »nicht auf die Erfüllung der Forderungen der Eugenik und auch nicht der Rassenhygiene warten« (Tandler 1918, S.  109). Dem Zeitgeist verhaftet, hatte er grundsätzlich gegen Forderungen dieser Art, die international in fast allen Ländern von den USA über England bis zu Schweden und Sowjetrussland erhoben wurden, keine Einwände. Aber einen prinzipiellen Vorbehalt formulierte er als Sozialdemokrat dennoch: »Qualitätszucht kann man am – 141 –

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Menschen nicht betreiben, und zwar aus zwei Gründen: Erstens fehlt uns das Zuchtziel. Ich glaube nicht, daß wir eine Einigung über das erzielen könnten, auf was wir zu züchten hätten, denn die sog. Tüchtigkeit [in Anspielung auf Darwins »fitness«] kann kein Zuchtziel sein. Dann fehlt uns die zweite Voraussetzung einer jeden Zucht. Es fehlt uns das Pedigree [Stammbaum, R.  S.], und ohne Pedigree kann man nicht züchten, auch Menschen nicht züchten. Von der einwandfreien Erhebung des Pedigree sind wir aber noch weit entfernt« (Tandler 1918, S. 110). Das Gebot der Stunde sei vielmehr eine sozialstaatlich imprägnierte Wirtschaftspolitik als Basis der Verbesserung des Gesundheitszustandes der großen Masse der Bevölkerung. Was dieses Postulat in seiner praktischen organisatorischen Umsetzung bedeutete, wies Julius Tandler 1925 am Beispiel des Roten Wien auf. Noch 1913 bekannte er sich in einem Vortrag vor der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene zur Eugenik, in dem er sich für die Sterilisation Körper- und Geistesbehinderter aussprach. Aber diese Optionen schwächten sich in dem Maße ab, wie er im Roten Wien unter sozialdemokratischer Vorherrschaft als führender Gesundheitspolitiker Verantwortung übernahm.78 So gesehen, ist seine praktische Abkehr von Eugenik und Rassenhygiene charakteristisch für viele Linksdarwinisten, die sich als Sozialdemokraten verstanden.79 Der prinzipielle Ausgangspunkt seiner Darstellung des Fürsorgesystems im Roten Wien in seiner Broschüre von 1925 war die analytische Unterscheidung zwischen Wohlfahrtspflege und Fürsorge. In dieser Schrift wird ganz deutlich, daß es ihm auf die Würde des Einzelnen ankam und nicht auf dessen Reduktion zum Objekt privater oder öffentlicher Alimentierung. »Der Wohltäter beschenkt jemand und tritt dadurch zu ihm in ein rein individuell menschliches Verhältnis, das dem einen eine gewisse Genugtuung, dem anderen Dankesschuld bringt. Der Wohltäter ist nur sich selbst verantwortlich, sonst niemand. […] Etwas ganz anderes – 142 –

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ist der Fürsorger. Er ist ein Beauftragter der Gesellschaft, daher der Gesellschaft verantwortlich in seinem Tun und Lassen. Er ist Mitverwalter der öffentlichen Mittel, auf Kosten derer er Fürsorge betreibt. Er steht zum Befürsorgten nicht im Verhältnis von Dank, sondern Fürsorger und Befürsorgter befinden sich zueinander in einem Rechts- und Pflichtenverhältnis, denn jeder in einem Gemeinwesen lebende Mensch hat ein Anrecht auf Fürsorge. Hier handelt es sich um ein kollektivistisches Verhältnis« (Tandler 1925, S.  4). Fürsorge sei nicht Ausfluss des Mitleids und des guten Herzens. Sie setze vielmehr einen kritischen Verstand unter Leitung eines sozialen Pflichtbewusstseins voraus. Insofern avanciere sie zu einem wichtigen Teil der Volkserziehung. Wenn man so will, war der Neue Mensch nach Tandler derjenige, der eine »Erziehung zum sozialen Pflichtbewusstsein, Erziehung zur Einordnung in die menschliche Gesellschaft, Erziehung zum Klassenbewusstsein und darüber hi­ naus zur vollen, reinen Menschlichkeit« (Tandler 1925, S. 4) durchlaufen habe. Auch die Mittel zur Erreichung des Zieles, »aufrechte Menschen« zu formen, welche die sozialdemokratische Solidargemeinschaft tragen und weiterentwickeln, nennt Tandler: Es ist kein direkter eugenischer Zugriff auf die Menschen, keine Stigmatisierung bestimmter Minoritäten, sondern ein umfassendes Organisationsgefüge, das Basiseinrichtungen mit zentralisierten Koordinationsinstanzen verbindet und sich wie ein feinmaschiges Netz über die Kommune des Roten Wien ausbreitet, um flächendeckend dem sozialen und psychischen Elend insbesondere der Kinder und Jugendlichen Einhalt zu gebieten. Wir werden Tandler so interpretieren müssen, dass der Adressat des Fürsorgesystems vor allem die jungen Menschen sind. Dabei ist das Ziel, dass sie lernen, selbstbewusst öffentliche Unterstützung als Recht einzufordern, um dadurch überhaupt erst ihre individuelle Autonomie im Rahmen der sozialdemokratischen Solidargemeinschaft verwirklichen zu können. »Für – 143 –

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die Familien ist der Kampf ums Dasein bedeutungslos, wenn das Errungene nicht den Kindern zugute kommt. Für das Volk, für eine Klasse aber ist der Kampf ums Dasein, sind Errungenschaften der Kultur hinfällig und bedeutungslos, wenn niemand da ist, der diese Errungenschaften fortzuführen in der Lage ist, der Nutznießer dieses Kampfes zu sein« (Tandler 1925, S. 15). So findet auf freiwilliger Basis eine Eheberatung statt, »ob ihre geistige und körperliche Verfassung mit Wahrscheinlichkeit verspricht, daß die von ihnen gezeugten Nachkommen geistig und körperlich gesunde Menschen sein können« (Tandler 1924, S. 7). Die Schwangerenfürsorge ist »für das Schicksal des zukünftigen Kindes um so bedeutungsvoller, als wir wissen, daß durch Einwirkung auf den Gesundheitszustand der Mutter das im Mutterleib befindliche Kind mit beeinflusst wird« (Tandler 1924, S. 7). Säuglingsfürsorge, Zentralkinderheim, Pflegeeltern, Kinderübernahmestellen, Kleinkinder- und Schulfürsorge sind Institutionen, die nur einem Ziel dienen: dem kämpfenden Proletariat die Gewissheit zu vermitteln, »daß hinter jedem der einen Generation ein anderer der nächsten steht, der die Waffe dort übernimmt, wo sie aus den müden Händen des Vordermanns fällt« (Tandler 1925, S. 15).80 Der Fall Tandler legt nahe, dass die historische Eugenik-Debatte nicht mehr »einzig unter dem verengten und verzerrenden Blickwinkel der NS-Praxis geführt werden sollte« (Schwartz 1995, S. 11). Aber gleichzeitig ist der Sozialismus »nicht länger apriorisch für inkompatibel mit eugenischem Denken zu erklären« (Schwartz 1995, S. 11). Allerdings ist an einer wesentlichen Differenz zu den Nazis festzuhalten: »Sowohl die rassistische, antisemitische Neigung vieler NS-Rassenhygieniker als auch die nach 1933 zu beobachtende Tendenz einer Infragestellung nicht nur des Fortpflanzungsrechts, sondern auch des allgemeinen Lebenswertes und Lebensrechts sogenannter Minderwertiger hatten in den Konzeptionen sozialistischer Eugenik keinen Ort« (Schwartz 1985, S. 343). Auch stimme ich Schwartz in – 144 –

Sozialdemokratie zwischen Linksdarwinisten und marxistischem Zentrum

der Einschätzung zu, dass nicht nur in Deutschland, sondern auch international eugenische Politik als Erfolg versprechender Ansatz für eine Modernisierung der Gesellschaft angesehen wurde (Schwartz 1995, S. 22). Dennoch verhielt sich die deutsche und die österreichische Sozialdemokratie nicht wie ein homogener Block uneingeschränkt affirmativ zur eugenischen Variante der Biopolitik. Es ist, so eine These dieser Untersuchung, ganz entscheidend auch dieser Tatsache zuzuschreiben, dass die Umsetzung einer sozialistischen Eugenik insbesondere in den Ersten Republiken in Deutschland und Österreich auf das Niveau einer »Ersatzhandlung« regredierte (Schwartz 1995, S. 340f ): Sie hatte einen zutiefst avantgardistischen Charakter und verharrte in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre »weitgehend im Ghetto des Arbeiterbewegungsmilieus« (Schwartz 1995, S.  342). Eine ähnliche Entwicklung ist, wie wir sahen, im Roten Wien zu beobachten. Ein Eugeniker wie Julius Tandler, so konnte gezeigt werden, praktizierte als Stadtrat für das Gesundheitswesen klassische Sozialpolitik, nicht zu vergleichen mit den entsprechenden eugenischen Maßnahmen sozialdemokratisch regierter Länder der Zwischenkriegszeit wie Schweden und Norwegen. Insbesondere das sozialdemokratisch dominierte Schweden partizipierte an dem weltweit verbreiteten Trend der Eugenik im Rahmen seiner Sozialpolitik. So erfahren wir in einer neueren Publikation, dass sich in den 1940er-Jahren in diesem Land die eugenische Praxis vor allem auf Ehefrauen konzentrierte, deren Ehen durch den übermäßigen Alkoholkonsum der Männer und durch zahlreiche Kinder »bedroht waren. Sie sollten durch (freiwillige) Sterilisierungen vor weiteren Belastungen bewahrt werden« (Etzemüller 2010, S. 102). Der Anteil der Frauen an Sterilisierungen stieg von 64 % im Jahr 1942 auf 99 % im Jahr 1965. Insgesamt wurden in Schweden zwischen 1935 und 1975 über 60 000 Personen sterilisiert, »etwa 20  000 gegen ihren Willen. 1975 wurden die alten Sterili– 145 –

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sierungsgesetze stillschweigend kassiert« (Etzemüller 2010, S. 102). Dass in Schweden trotz der katastrophalen Ereignisse im Dritten Reich Zwangssterilisierungen auch nach 1945 durchgeführt wurden, wirft einen tiefen Schatten auf das sozialdemokratische Emanzipationsprojekt. Durch diese Erfahrung wissen wir, dass auch dieser Ansatz als Ausfluss der Aufklärung nicht gegenüber deren eigener Dialektik a priori immunisiert ist. Doch bevor voreilige Schlüsse im Blick auf Analogien zur »Rassenhygiene« der NS-Diktatur gezogen werden, sollte man einige Eigenheiten des schwedischen Modells beachten.81 Die eugenische Theorie und Praxis spielte sich – im Gegensatz zum Dritten Reich – in einer liberalen und demokratischen Gesellschaft ohne Konzentrationslager und einen exterminatorischen Rassenwahn ab. Wenn man heute im deutschen Bundestag diskutiert, ob die Präimplantationsdiagnostik (PID) eingeführt werden soll, dann ist davon auszugehen, dass diese Variante der Eugenik, d. h. die gezielte Selektion von erbgeschädigten Embryonen, zumindest über eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz verfügt.82 Und selbst die wissenschaftlichen und politischen Ikonen des schwedischen Wohlfahrtstaates, Alva und Gunnar Myrdal, rekurrierten zwar auf eugenische Ideen, »allerdings verglichen mit dem, was die Rassenhygieniker ihrer Zeit forderten, eher skeptisch. Eine ›Veredelung‹ von Menschen (positive Eugenik) scheint ihnen, wie den meisten Eugenikern, technisch nicht machbar. Die verbreitete Annahme, daß Unterschiede zwischen den Klassen erbbiologisch bedingt seien, lehnten sie – gegen viele Eugeniker – ab. Für sie waren die Menschen in erster Linie durch die Umwelt geprägt« (Etzemüller 2010, S. 126). Dies vorausgesetzt, sollte nicht übersehen werden, dass die eingeschränkte eugenische Option der Myrdals überlagert und korrigiert wurde durch sozialstaatliche Strukturpolitik, in deren Zentrum – nicht anders als im Roten Wien – durch Wirtschaftsplanung und Umverteilungspolitik die Verbesserung der Lebensbedingungen der – 146 –

Sozialdemokratie zwischen Linksdarwinisten und marxistischem Zentrum

lohnabhängigen Bevölkerung stand, was Bildungs- und Erziehungsprogramme ebenso einschloss wie die Schaffung neuen Wohnraums, erhöhter Einkommen und eine sinnvolle Gestaltung der Freizeit. Das eugenische Moment war lediglich ein Einsprengsel in das Gefüge eines starken Sozialstaates und nicht umgekehrt. Wenn von Neuen Menschen die Rede war, so handelte es sich vor allem um Produkte der Erziehung, die sich nur randständig genetischen Eingriffen verdankten. Nicht zufällig ist in den Texten der Myrdals seit 1946 von Sterilisierungen nicht mehr die Rede (Etzemüller 2010, S. 329). Nur wer – aus welchen Gründen auch immer – diese Perspektive nicht zur Kenntnis nehmen will, kann die These vertreten, sozialbiologische Politiken seien Ausfluss eines genuinen sozialdemokratischen Selbstverständnisses (vgl. Steinfeld 2020, S. 11). Bei aller berechtigten Kritik an dem mit großer Konsequenz zu Ende gedachten sozialtechnologischen Ansatz der Myrdals, das Projekt des Sozialstaates als »Volksheim« zu gestalten, bleibt die Frage der Alternative auf der Tagesordnung. Sie ist idealtypisch rein in den Favelas der südamerikanischen Metropolen von jedermann zu besichtigen, und zwar als das Dilemma, das die Myrdals und mit ihnen die Sozialdemokratie bereits im Ansatz verhindern wollten: Am Sockel der Armutspyramide die Straßenkinder der materiell und psychisch verelendeten Schichten ohne Perspektive, denen auf der anderen Seite eine hauchdünne Oligarchie der unermesslich Reichen gegenübersteht, die ihre Besitztümer durch elektrisch geladene Zäune und private Sicherheitsdienste schützen lassen. Im zeitgenössischen Kontext hat die sozialdemokratische Politik der Verhinderung solcher Zustände ihre Bewährungsprobe bestanden: Schweden erwies sich zwischen 1933 und 1945 als eines der wenigen Länder in Europa, das nicht nur gegenüber der »faschistischen Versuchung« immun war, sondern auch eine soziale Polarisierung der Gesellschaft verhindern konnte und dadurch die sozialen Voraussetzungen schuf, mehr Demokratie zu wagen. – 147 –

Teil III

Doch die Frage bleibt, ob Linksdarwinisten wie Allen, Pearson, Schallmayer, Olberg, Tandler u. a. ihre rassenhygienischen Optionen aufrechterhalten hätten, wenn sie das Dritte Reich sowie die von den Nazis praktizierte Eugenik, welche die Liquidierung der europäischen Juden sowie der Sinti und Roma mit umfasste, und den von ihnen exekutierten Imperialismus insbesondere gegen Osteuropa gekannt oder zumindest antizipiert hätten. Olberg selber gesteht, dass die von ihr gezogene selektionistische Konsequenz, Teile des verelendeten Proletariats ihrem Schicksal zu überlassen, alles andere als »orthodox sozialistisch« sei. Eine solche Option deutet in der Tat eher auf den Topos des »struggle for existence« eines Robert Thomas Malthus hin als auf die sozialdemokratische Solidargemeinschaft. Offenbar stand Kautsky der sozialdemokratischen Mehrheit näher, wenn er den Neo-Malthusianismus als eine antiemanzipatorische Strategie verwarf. Freilich hatte er selbst eine Wende vom Linksdarwinisten zu einem Vertreter der marxistischen Darwin-Rezeption vollzogen. Dieser Tatbestand spielte eine Rolle in der Kontroverse über die Malthus’sche Bevölkerungstheorie zwischen Ludwig Quessel und P. Maßloff auf der einen und Karl Kautsky auf der anderen Seite. 1880 hatte Kautsky seine frühe Schrift »Der Einfluss der Bevölkerungsvermehrung auf den Fortschritt der Gesellschaft« veröffentlicht. »Wie Malthus erkennt Kautsky die Tendenz in der Gesellschaft, sich über die Unterhaltsmittel hinaus zu vermehren, unumwunden an und gibt zu, daß diese Tendenz nur durch eine bewusste Aktion der Menschheit, durch die Beschränkungen der Zeugungen, aufgehoben werden kann. […] Ohne Zweifel hätte dieses tapfere Bekenntnis zu den Grundgedanken der Malthusschen Lehre […] einen großen Einfluss auf das sozialistische Denken gewinnen müssen, wenn der Verfasser seine Anschauungen nicht selbst als unvereinbar mit der marxistischen Lehre aufgegeben hätte« (Quessel 1911, S.  560). Aber auch nach Kautskys marxistischer – 148 –

Sozialdemokratie zwischen Linksdarwinisten und marxistischem Zentrum

Konversion bestätige er in seinem neuen Buch von 1910 eher die Thesen Malthus’, als dass er sie widerlegte. Zu einem ähnlichen Resultat kam P.  Maßloff in seinem Aufsatz »Droht der Menschheit eine Überbevölkerung?« (Maßloff 1911, S.  538–587). Kautsky blieb die Antwort in Form einer groß angelegten Replik unter dem Titel »Malthusianismus und Sozialismus« nicht schuldig. Ja, in seinem Erstlingswerk sei er von dem Malthus’schen Bevölkerungsgesetz ausgegangen, dieses könne eins zu eins auf Natur und Gesellschaft angewandt werden. Aber ein Marx’sches Diktum habe ihm die Augen geöffnet, dass dieser Standpunkt unhaltbar sei: »Jede besondere historische Produktionsweise hat ihr besonderes Bevölkerungsgesetz, das nur unter ihr herrscht, mit ihr vergeht und daher nur historische Geltung hat. Ein abstraktes und unveränderliches Bevölkerungsgesetz existiert nur für Pflanze und Tier, und auch da nur, soweit der Mensch nicht geschichtlich eingreift« (zit.  n. Kautsky 1911, S. 621). Pointiert fasste Kautsky am Ende des ersten Teils seiner Re­ plik die Differenz zwischen der Bevölkerungstheorie Malthus’ und seiner eigenen marxistisch inspirierten Auffassung zusammen: Sie bestehe »erstens darin, daß sie mit Marx historische Bevölkerungsgesetze für den Menschen und ein abstraktes für Pflanze und Tier unterscheidet. Dann bei der Erforschung der letzteren darin, daß sie nicht von der Fruchtbarkeit der Individuen, sondern von den Bedingungen der Reproduktion der Arten und Systeme von Arten ausgeht. Drittens darin, daß sie in der Natur nicht eine Tendenz nach Vermehrung der Individuenzahl der Arten, sondern nach ihrer Konstanz, nach ihrem Gleichgewicht findet, endlich viertens darin, daß sie als Mittel der Erhaltung dieses Gleichgewichts nicht die Grenze der Menge vorhandener Nahrungsmittel betrachtet, sondern nur die Ausgleichung zwischen den Kräften der Fortpflanzung und der Vernichtung« (Kautsky 1911, S.  626). Hinzuzufügen wäre, dass Kautsky nicht wie Malthus vom Individuum bzw. vom – 149 –

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individuellen Paar, sondern von der Gesamtheit der geschichtlichen Produktionsweise im historisch-gesellschaftlichen Kontext ausgeht. Und nicht zuletzt verwarf er die These, auch im Sozialismus herrsche das universale Malthus’sche Gesetz nach Art eines Naturgesetzes, wenn auch in abgemilderter Form. Das Gegenteil sei der Fall: »Bebel und ich behaupten, die sozialistische Produktionsweise werde unter Bedingungen vor sich gehen, die die Landwirtschaft auf das mächtigste fördern und ihre Produktivität gewaltig steigern, so daß ein sozialistisches Regime für viele Jahrzehnte hinaus vor jedem Nahrungsmangel gesichert sei, wie immer die Bevölkerung zunehmen mag. Die Bevölkerungsfrage ist also für uns nicht eine Frage, die uns heute schon zu bekümmern braucht. Wir können sie ruhig unseren Nachkommen überlassen« (Kautsky 1911, S. 655f ). Dennoch wäre es verkürzt, es einfach bei dem aufgezeigten analytischen und politischen Hiatus zwischen der Mehrheitsströmung des marxistischen Zentrums in der SPD und dem Linksdarwinismus zu belassen. Es gab auch Angebote des Linksdarwinismus, die für die SPD und die SDAP durchaus attraktiv waren. So wurde von wenigen Ausnahmen abgesehen Kropotkins »Gegenseitige Hilfe in der Entwicklung« positiv rezipiert und als eine Bestätigung analoger Gedanken Kautskys angesehen, wonach das Solidaritätsprinzip zu einem wichtigen Faktor im Kampf ums Dasein avancierte. Vor allem aber entsprach der Kampf vieler Linksdarwinisten gegen die These Weismanns und der Neo-Mendelianer, die Vererbung erfolge immanent und lasse erworbene Eigenschaft vollkommen unberücksichtigt, dem ideologischen Interesse der Sozialdemokratie: Er gab ihrer Reformpolitik zur Verbesserung der Lage der Arbeiterschaft durch hohe Investitionen für Schulen, Volksbildung, Forschung, Verbesserung der Wohnbedingungen, Verbilligung der Nahrungsmittel, Verzicht auf Einnahmen, die aus vergifteten Genussmitteln etc. resultieren, eine zusätzliche Legitimation dadurch, dass die Wirkungen dieser Politik die physische und geistige Konstitution – 150 –

Sozialdemokratie zwischen Linksdarwinisten und marxistischem Zentrum

der folgenden Generationen verbessern würden, ohne sie »zum Gegenstand planmäßiger Zuchtversuche« (Kammerer o. J., S. 24) machen zu müssen. Diese gemeinsame Schnittmenge zwischen Sozialdemokratie und Linksdarwinismus arbeitet Paul Kammerer in einer interessanten Broschüre »Sind wir Sklaven der Vergangenheit oder Werkmeister der Zukunft?« heraus. Zwar stimmten Weismannismus und Mendelismus in der Ablehnung der Vererbung erworbener Eigenschaften überein. Doch ließen sich die Mendel’schen Erkenntnisse, wenn man sie nicht als Naturgesetze, sondern als Regeln begreife, durchaus mit der Darwin’schen Evolutionstheorie vereinbaren. »Ja, sie vermögen einander wertvoll zu ergänzen, da die Mendel’schen Regeln zeigen, wie jede genügend befestigte [und erworbene, R. S.] Eigenschaft sich dauernd erhält, auch wenn nur wenige Exemplare sie in erblichen Besitz nahmen; trotz vielfacher Kreuzung mit unveränderten Exemplaren kann die neue Eigenschaft, sobald sie nur einmal im Keimplasma definitiv zur Ruhe gelangt ist, nicht verschwinden, sondern wird immer wieder in einem festen Prozentsatz von Nachkommen rein hergestellt« (Kammerer o. J., S. 16). Aber ein solcher Kompromiss werde von den Neo-Mendelianern und den Vitalisten ausgeschlagen. Vielmehr stellten sie die gesamte Deszendenztheorie infrage: In Wirklichkeit täusche Darwins Artenwandel das Hasardspiel der Natur mit elementaren Eigenschaftsanlagen nur vor, weil im Kern die Erbanlagen schon immer vorhanden gewesen seien; von Anfang an konstant, produzierten sie durch ihre vielfältigen Kombinationen eine unendliche Gestaltenfülle. »Diese Anschauung bedeutet nichts Geringeres als eine verkappte, auf moderner vererbungstheoretischer Grundlage gebaute Rückkehr zum Alt-Linnéschen und Vor-Darwinschen Glauben an die Unveränderlichkeit der Arten und damit zugleich eine Rückkehr zum Schöpfungsglauben: denn wenn die erstmalige Entstehung der Formen nicht durch physikalisch-chemische Kräfte der Außenwelt, – 151 –

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also auch nicht durch Umwandlung anorganischer Substanz in organische, nicht durch Urzeugung erfolgt ist, so bleibt eben nur der überphysikalische Schöpfer übrig« (Kammerer o. J., S. 17). Worin besteht nun die politische Dimension des wissenschaftlichen Streites zwischen den radikalen Selektionisten der WeismannSchule und den Linksdarwinisten? Sie hat Rudolf Goldscheid auf eine prägnante Formel gebracht. »Man dichtet dem Vererbungsprinzip eine Starrheit an«, schreibt er, »die ihm in dieser Härte bei weitem nicht zukommt und sucht uns damit zu einer Geringschätzigkeit unserer energetischen und organischen Stellung in der Natur zu veranlassen, deren Pessimismus ganz und gar unberechtigt ist. Unsere tatsächliche Macht über die Natur ist eine weitaus größere, als die Verkleinerer des Variabilitätsprinzips uns mit eindringlichster Beredsamkeit glauben machen wollen. Man interpretiert die Vererbungstatsachen in einer Weise, daß wir darnach in allem und jedem ewig und immer Galeerensklaven der Vergangenheit bleiben müssen. Aber die soziologische Bedeutung der Vererbung ist eine wesentlich andere, als sie im Licht der Neo-Darwinisten erscheint. Wir sind weder die Galeerensklaven der Vergangenheit, noch die wehrlosen Knechte der organischen Naturgewalten oder gar die Marionetten unseres ererbten Organismus, unserer ererbten Psyche, unseres Gedächtnisses« (Goldscheid 1911, S. 245f ). Die Nichtvererbbarkeit erworbener Eigenschaft bzw. »die eherne Konstanz der Vererbung«, so Goldscheid, bedeute »das letzte Bollwerk des reaktionären Willens zur Macht. Am Keimplasma sollen jetzt alle revolutionären Hoffnungen zerschellen« (Goldscheid 1911, S. 341). Doch die Frage ist, welche Alternative Goldscheid der Ausschaltung aller larmarckischen Elemente aus dem Darwinismus und dessen Reduktion auf einen extremen Selektionismus gegenüberstellte. Es ist sein Versuch, einerseits den Einfluss der Milieubedingungen auf die Entwicklung der Menschen zu betonen und andererseits die Untauglichkeit des naturalistischen Selektionsprinzips des Kampfs – 152 –

Sozialdemokratie zwischen Linksdarwinisten und marxistischem Zentrum

ums Dasein als Movens der Weiterentwicklung der Menschheit zu begründen. Immer wieder hebt Goldscheid gegen die Weismann’sche Doktrin hervor, dass das Milieu in der Natur nicht nur die Rolle spielt, »die es bei der künstlichen Zuchtwahl der Züchter innehat«, und dass es »die seiner Reizkonfiguration entsprechende Ausmerzung vornimmt« (Goldscheid 1909, S.  32). Darüber hinaus fungiere die Umwelt als Spiritus Rector der Varietäten, indem sie diesen die Richtung der Anpassung vorgebe. Umgekehrt werde im Falle der Menschheit klar, dass es zu einer Rückwirkung der Lebewesen auf das Milieu komme. Hier sei eine »aktive Anpassung des Milieus an unsere inneren Entwicklungstendenzen« zu beobachten, »und nicht mehr die passive Anpassung unseres Organismus an die uns umgebende Natur, welche nicht nur den Gang der Entwicklung, sondern auch die natürliche Zuchtwahl ganz wesentlich bestimmt« (Goldscheid 1909, S. 33). Zwar bestreitet Goldscheid nicht, dass der Mensch auch das ist, »was er kraft seiner angeborenen Anlagen, seiner angeborenen Persönlichkeit ist« (Goldscheid 1909, S. 71f ). Aber er insistiert darauf, dass Umweltfaktoren einen gewissen Spielraum für Entwicklungsmöglichkeiten garantieren, an welchem die »planbewusste Entwicklungsarbeit mehrerer Generationen« (Goldscheid 1909, S. 72) ansetzen kann. Wir werden Goldscheid so interpretieren müssen, dass die wirkliche Entwicklung insbesondere der Menschheit »die Resultierende im Parallelogramm der inneren und äußeren Kräfte« ist, die »bestimmt wird durch die Intensität und Richtung der äußeren und inneren Tendenzen« (Goldscheid 1909, S. 72). Es eröffnen sich also für Goldscheid Möglichkeiten eines Social Engineering, die insbesondere im Jugendstadium die Chance hat, auf die Entwicklung Einfluss zu nehmen (Goldscheid 1909, S. 73). Dass dieser Ansatz von einem prometheischen Geist des »Machens« lebt, ist unübersehbar. »Die Langsamkeit der Naturprozesse zu ersetzen durch die Schnelligkeit unserer technischen Verfahren, das ist ja das große Geheimnis des Fortschritts im Jahrhundert der – 153 –

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Naturwissenschaften« (Goldscheid 1909, S.  71). Ausdrücklich forderte er, dass man der Deszendenztheorie eine Aszendenztheorie zur Seite stellen müsse, die nichts anderes ist als eine Umschreibung von Sozialtechnologien, welche die natürliche Evolution durch künstliche, d.  h. technische Mittel fortsetzen und beschleunigen. Aber diese Möglichkeiten bleiben nach Goldscheid ungenutzt, wenn man der Doktrin der radikalen Selektionisten der WeismannSchule folge. Auf die bloße Beseitigung der bereits Geschädigten und damit auf die Symptome fixiert, interessiere sie die Ursachen des Übels und deren Beseitigung nicht. Demgegenüber stehe auf der politischen Tagesordnung die »oberste Aufgabe […], die in der Natur blind wütende negative Selektion planbewusst durch Umgestaltung des Milieus, durch aktive Auslese der ungeeigneten Züchter zu beseitigen« (Goldscheid 1909, S. 77f ). Erst dann, wenn durch sozialstaatliche Maßnahmen die materiellen Lebensbedingungen der Schwachen dieser Gesellschaft verbessert worden sind, könnten sozialhygienische Maßnahmen greifen. Freilich habe z. B. eine präventive Fortpflanzungsauslese nur dann Erfolg, »wenn man das kulturelle Niveau der Menschen hebt und damit ihr soziales Verantwortungsgefühl steigert« (Goldscheid 1909, S. 75). Goldscheids Ansatz muss als die entscheidende Brücke zwischen dem Linksdarwinismus und dem marxistischen Zentrum innerhalb der Sozialdemokratie vor 1933 gelten. Dass er ein Linksdarwinist war, steht außer Frage. Nicht nur seine nach vorn gerichtete DarwinInterpretation83, sondern auch seine rigide Ablehnung des ex­tremen Selektionismus des bürgerlichen Darwinismus spricht ebenso für eine solche Zuordnung, wie sein sozialhygienischer Ansatz eines Social Engineering zugunsten der Schwachen in der Gesellschaft zeigt, die er gegenüber jeglicher Diskriminierung verteidigte.84 Hinzu kommt sein Bekenntnis zu Francis Galton, dem er attestiert, er habe »von den blutrünstigen Selektionsphrasen nichts mehr hören wollen« (Goldscheid 1909, S. 79). Mit seiner Eugenik strebe er das – 154 –

Sozialdemokratie zwischen Linksdarwinisten und marxistischem Zentrum

Ziel an, »daß nicht nur einige Auserwählte, sondern alle Menschen ausnahmslos auf das Prädikat ›wohlgeboren‹ Anspruch erheben ­können« (Goldscheid 1909, S. 80). Das Resultat könne sich freilich niemals als »ein von sich selbst einstellendes Produkt des natürlichen Kampfes ums Dasein« ergeben, sondern »nur als das Ergebnis planbewusster Arbeit« (Goldscheid 1909, S. 80). Aber mit dem marxistischen Zentrum verband ihn, dass er dessen Prämisse teilte, durch Veränderung der sozialen Verhältnisse könnte eine konstruktive gesellschaftliche Entwicklung für alle ermöglicht werden. Wie dies die sozialdemokratische Programmatik forderte, sah er im Ausbau, nicht in der Zurückdrängung des Sozialstaates den entscheidenden Hebel für den sozialen Fortschritt.85 Auch erkannte er in der menschlichen Kultur eine Größe, die sich weitgehend von ihren biologischen Grundlagen entfernt hat und ein Milieu konstituiert, das erheblich die Entwicklungspotenziale der Menschen beeinflusst.86 Fassen wir zusammen: Wenn es eine Strömung in der deutschen und der österreichischen Sozialdemokratie während des Beobachtungszeitraums gab, die sich gegenüber dem weltweiten Diskurs über Rassenhygiene und Eugenik öffnete, dann war es der Linksdarwinismus. Aber diese Feststellung ist an die Einschränkung gebunden, dass für sie – im Gegensatz zum Darwinismus von rechts – in der Regel Priorität zunächst die materielle und kulturelle Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiterschaft gegenüber Rassenhygiene und Eugenik hatte, die man nicht durch staatlichen Zwang, sondern auf freiwilliger Basis durchzusetzen hoffte. Ferner darf nicht vergessen werden, dass der Linksdarwinismus innerhalb der SPD und der SDAP niemals eine Mehrheitsfähigkeit erlangen konnte. Gehen wir davon aus, dass sich in ihren Programmen die mehrheitsfähigen Ziele der Parteien niederschlugen, so ist das Resultat eindeutig: Rassistische Orientierungen, wie sie sich in kolonialistischen und imperialistischen Stoßrichtungen artikulierten, wurde ebenso eine eindeutige Absage erteilt, wie anstelle eugenischer Maßnahmen klassische Sozi– 155 –

Teil III

al- und Bildungspolitik zugunsten der lohnabhängigen Bevölkerung trat, verbunden mit der Forderung nach Demokratisierung der politischen Systeme in Gestalt des allgemeinen Wahlrechts. Nicht einer »natürlichen Ungleichheit« aufgrund genetischer Faktoren wurde das Wort geredet, sondern die universalistische Forderung nach gleichen Rechten und Pflichten aller Staatsbürger erhoben (Münkel 2007, S. 394). Das Gothaer Programm hebt die Bedeutung der Arbeit und nicht der genetischen Substanz als die »Quelle alles Reichtums und aller Kultur« (Münkel 2007, S. 379) hervor. Im Vordergrund steht, wie es im Erfurter Programm heißt, die Emanzipation der arbeitenden Klassen, welche nur durch diese selbst erfolgen könne. Es komme darauf an, »jede Art der Ausbeutung und Unterdrückung« abzuschaffen, »ob sie sich gegen eine Klasse, eine Partei, ein Geschlecht oder eine Rasse« richte (Münkel 2007, S. 372). In der »Resolution gegen revisionistische Bestrebungen« von 1903 wird die Partei aufgefordert, den »Kampf wider Militarismus und Marinismus, wider Kolonial- und Weltmachtspolitik, wider Unrecht und Unterdrückung und Ausbeutung in jeglicher Gestalt« (Dowe/Klotzbach 1990, S.  133) noch energischer zu führen. Diese Linie wurde nach dem Ersten Weltkrieg auch im Görlitzer Programm von 1921 und dem Heidelberger Programm von 1927 fortgeführt. Das Görlitzer Programm »betrachtet die demokratische Republik als die durch die geschichtliche Entwicklung unwiderruflich gegebene Staatsform« und »jeden Angriff auf sie als ein Attentat auf das Lebensrecht des Volkes« (Münkel 2007, S.  254). Auch das Heidelberger Programm legt sich darauf fest, »in gemeinsamen Aktionen mit den Arbeitern aller Länder gegen imperialistische und faschistische Vorstöße und für die Verwirklichung des Sozialismus« (Münkel 2007, S.  348) zu kämpfen. Und nicht unerwähnt sollte bleiben, dass im Linzer Programm von 1926 der Malthusianismus als Maxime der Bevölkerungspolitik explizit abgelehnt wurde. Der Malthusianismus, führte Otto Bauer aus, »war seinem Ursprung – 156 –

Sozialdemokratie zwischen Linksdarwinisten und marxistischem Zentrum

nach die Lehre, daß es den Massen so schlecht gehe, weil sie sich zu schnell vermehren, daß sie ihre Lage zu verbessern vermöchten, wenn sie ihre Vermehrung nur verlangsamen, daß es gar nicht notwendig sei, die kapitalistische Gesellschaftsordnung zu überwinden oder den Klassenkampf zu führen, weil die bloße Änderung der Lebensgewohnheiten der breiten Massen, die bloße Beschränkung ihrer Geburtenzahl genüge, jedem ein auskömmliches Leben zu ermöglichen« (Bauer 1926, S. 316). Doch weitaus wichtiger erscheint, dass in keinem sozialdemokratischen Parteiprogramm der Vor- und Zwischenkriegszeit der absolute Primat der Bildung und Erziehung als interne Conditio sine qua non der Emanzipation der Arbeiterschaft und der Gesellschaft insgesamt so betont wurde wie in diesem klassischen Dokument des Austromarxismus, das auf dem Parteitag der SDAP in Linz 1926 beschlossen wurde: »Die Sozialdemokratie begründet und fördert Erziehungsorganisationen, die eine von sozialistischem Geist erfüllte geistige und körperlicher Erziehung der Jugend anstreben. Sie bekämpft die Trunksucht und die Trinksitten. Sie fördert den Arbeitersport. Sie organisiert das Arbeiterbildungwesen und fördert den Ausbau des Volksbildungswesens und der volkstümlichen Kunstpflege. Sie unterstützt alle Anstrengungen der fortgeschrittenen Schichten der Arbeiterklasse, sich die Errungenschaften der Wissenschaften und der Kunst anzueignen und sie mit den sich allmählich aus den Lebensbedingungen der Arbeiterklasse selbst entwickelnden, vom Geiste ihres Befreiungskampfes erfüllten Kulturelementen und Keimzellen der werdenden proletarisch-sozialistischen Kultur zu verschmelzen« (Bechtold 1967, S. 260). Abschließend bleibt die Frage zu beantworten, welche Auswirkungen die sozialdemokratische Auseinandersetzung mit der Darwin’schen Evolutionstheorie auf die anthropologischen Grundlagen ihres Sozialismusverständnisses vor dem Ersten Weltkrieg und in der Zwischenkriegszeit hatte. – 157 –

Teil IV

Anthropologische Aspekte im Selbstverständnis der SDP und der SDAP bis 1933/34

D

er sozialdemokratische Diskurs über die Darwin’sche Evolutionstheorie wirft ein helles Licht auf die anthropologischen Prämissen, unter denen er die Emanzipation des Industrieproletariats voranzutreiben suchte. Deren Umrisse werden in zwei Per­ spektiven deutlich: einerseits in der marxistischen Positionierung des Menschen in Gestalt seiner nicht dualistischen Stellung zwischen Natur und Kultur (im weitesten Sinne) und andererseits in der Identifikation mit den evolutionär gegebenen Solidaritäts- und Altruismuspotenzialen, ohne freilich das in der Naturgeschichte des Menschen verankerte Aggressionsverhalten zu leugnen. Was die erste Ebene betrifft, so ist klar, dass die hegemoniale Strömung in den Sozialdemokratien in Deutschland und Österreich bis 1933 weder dem christlichen Spiritualismus noch dem biologischen bzw. naturwissenschaftlichen Naturalismus zuzuschlagen ist. Eine spiritualistisch-religiöse Anthropologie schied für sie aus, weil ihr Emanzipationsanspruch durch und durch säkularisiert war. Geschult durch den Historischen Materialismus war es ihr Ziel, das »gute Leben« für die proletarischen Hintersassen der entstehenden und entwickelten Industriegesellschaft auf dieser Welt und nicht erst im Jenseits zu erlangen. »Jene Stimmen unserer Gegner«, heißt es in einem Artikel in »Der Kampf«, »welche der Sozialdemokratie vorwerfen, daß sie einem utopistischen Ziele nachjage, begründen ihre […] Meinung mit dem Hinweis auf eine vorgestellte Wesen– 161 –

Teil IV

heit der menschlichen Natur, der gemäß wir von unserem Schöpfer nun schon einmal als eine Zweiheit von Leib und Seele geschaffen worden seien; diese dualistische Teilung mache eben […] die unverrückbare Grundlage unseres Seins aus und erstrecke sich als solche auf alle Gebiete irdischen Lebens; und da doch unleugbar die Seele, das geistige Prinzip, das vornehmere, und das stoffliche, der Leib, das weniger einzuschätzende sei, nun, so müsse folgerichtig jenem doch überall der Vorrang eingeräumt sein« (Slekow 1914, S.  376). So gesehen war die Verheißung der Ebenbildlichkeit Gottes für die Mehrheit der sozialdemokratischen Klientel, aber auch für ihre Intellektuellen ohne jede Attraktion, auch wenn ein parteioffizieller Atheismus oder Agnostizismus, soweit ich sehen kann, für sie nie ein Thema war: Zu sehr setzte sich die Mehrheit mit dem frühbürgerlichen Emanzipationspostulat in eins, dass Religion Privatsache sei. Aber auch der biologische Naturalismus stand quer zum sozialdemokratischen Emanzipationsszenario. Indem der biologische Naturalismus sowohl in seiner linken als auch in seiner rechten Variante unmittelbar Naturgesetze auf die Gesellschaft übertrug, waren die gesellschaftlichen Hierarchien im Kern unangreifbar. Als ahistorische Strukturen konsumierten sie genau die historischen Ressourcen und ihre Möglichkeiten, ohne die eine Befreiung der lohnabhängigen Schichten aus selbstverschuldeter und/oder oktroy­ ierter Unmündigkeit nicht möglich war. Das sozialdemokratische Gesellschaftsbild, so konnte die vorliegende Untersuchung zeigen, gründete zwar auf der Anerkennung der biologischen Dimension des Menschen: In Auseinandersetzung mit der äußeren Natur muss er sich ernähren, er muss sich fortpflanzen können, und er hat sich um die Erhaltung seiner natürlichen Lebensbedingungen zu kümmern. Aber zugleich befreit er sich auch partiell von den Zwängen der Biologie, wenn er im Interesse seines Überlebens und seines »guten« Lebens um sich herum eine Welt der Artefakte schafft, die sich auf ein tradigenetisches Informationssystem stützt. Die Ana– 162 –

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lysen dieser Untersuchung dürften verdeutlicht haben, dass zu einem solchen Gesellschaftsbild nur eine Anthropologie des »dritten Weges« passt: Der Mensch war für die Mehrheit der Sozialdemokratie im angegebenen Beobachtungszeitraum ein Wesen, dessen erste animalische Natur von einer zweiten soziokulturellen Natur in nicht dualistischer, sondern ineinander verzahnter Weise überwölbt wurde. In dem Maße, wie sich die Hand im Zusammenhang mit dem aufrechten Gang von biologischen Restriktionen befreite und multifunktional einsetzbar war, war der Mensch imstande, seine künstlichen Umwelten durch Arbeit zu schaffen, wo immer er es für angemessen hielt. Das sozialdemokratische Menschenbild, so lässt sich aus der Rekonstruktion der einschlägigen Debatten ableiten, hat die Verwurzelung des Menschen in seiner evolutionären Naturgeschichte niemals geleugnet. Im Gegenteil: Darwins Abstammungslehre fiel in der sozialdemokratischen Arbeiterschaft auf fruchtbaren Boden und fand großes Interesse in ihren Reihen, wie die zahlreichen Diskussionen in den einschlägigen Theoriezeitschriften und Broschüren eindeutig dokumentieren. Aber zugleich war ebenso klar, dass der Mensch nicht nur »Natur«, sondern auch »Kultur« ist: Ihn an dieser teilhaben zu lassen, war eines der wichtigsten Ziele der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Nicht zufällig standen an ihrem Beginn die Arbeiterbildungsvereine. Und in Übereinstimmung mit diesem Tatbestand konnte Gustav Eckstein feststellen, dass dem Streit über die Nichtvererbbarkeit (Weismann/Roux)87 oder Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften (Lamarck) dann die Grundlage entzogen ist, wenn man von dem Zusammenhang zwischen der ersten animalischen und der zweiten soziokulturellen Natur des Menschen ausgeht. Wer in der Tat an dieser Prämisse festhält, kommt um die Einsicht nicht herum, dass das Erbe des Menschen kulturell imprägniert ist: Seine Eigenschaften, ob ererbt oder erworben, werden in jedem Fall von der Kultur geprägt, in der – 163 –

Teil IV

der Einzelne lebt und die von ihm mitgestaltet wird. »Ob nämlich erworbene Eigenschaften erblich sind oder nicht, jedenfalls sind sie Errungenschaften der Kultur, ihre materiellen und geistigen Güter, auf die kommenden Geschlechter übertragbar. Wenn sich nun auch der angeborene Charakter des Menschen im Laufe der Generationen gar nicht ändern sollte, so muß doch ihr Tun und Denken ein ganz anderes sein, wenn sie von Jugend auf in einer Atmosphäre von Frieden und Sympathie leben, als wenn sie in Not, Verwahrlosung, ewigem Kampfe und Verzweiflung heranwachsen« (Eckstein 1925, S. 87). Hinzu kommt, dass im anthropologischen Diskurs der Sozialdemokratie die Argumentationsfigur, der Mensch sei im Vergleich zum Tier ein Mängelwesen, in seiner Bedeutung nicht unterschätzt werden darf. »Wenige Lebewesen sind aber mehr auf Vergesellschaftung angewiesen wie der Mensch, der allein fast waffenlos der ihn umgebenden Natur gegenübersteht. Dieser ständige Zusammenhalt, der zur Entstehung der Sprache führt, hat seinen Verstand gekräftigt, so daß er fähig wurde, zunächst Werkzeuge zu benutzen, wie sie ihm die Natur darbot, später aber auch, sie selbst zu produzieren« (Eckstein 1925, S. 97f ). Insofern scheint die sozialdemokratische Anthropologie mit ihrem Fokus auf der Verklammerung der biologischen und der soziokulturellen Dimension der menschlichen Natur ein genuiner Vorläufer der Philosophischen Anthropologie zu sein, wie sie seit 1928 von Max Scheler* (vgl. Scheler 1947) sowie Helmuth Plessner (vgl. Plessner 1965) und 13 Jahre später von Arnold Gehlen* (vgl. Gehlen 1978) sowie in den 1940er- und 50er-Jahren von dem Biologen Adolf Portmann (vgl. Portmann 1960) entwickelt worden ist. Ist es nicht auffällig, dass auch sie einen »dritten Weg« zwischen dem biologischen Naturalismus und dem religiösen Spiritualismus suchten? Betonten sie nicht in gleicher Weise, dass eine Ortsbestimmung des Menschen nur vom Tierreich aus erfolgen könne, ohne freilich einem darwinistischen Gradualismus das – 164 –

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Wort zu reden? Gingen sie nicht gleichfalls von der Prämisse aus, dass sich der Mensch auf einer bestimmten Höhe der Evolution seiner Besonderheit bewusst wurde? Weitere Übereinstimmungen können darin gesehen werden, dass von diesem Augenblick an der Organersatz in Form selbst gefertigter Werkzeuge und schließlich der modernen Technik ein Entwicklungstempo ermöglichte, das den evolutionären Gradualismus der langen Zeiträume hinter sich ließ. Und war nicht die Weltoffenheit als spezifische Differenz zur Umweltgebundenheit der Tiere ein Orientierungspunkt in der anthropologischen Ortsbestimmung, die beide Richtungen teilten? Doch darf eine entscheidende Differenz nicht übersehen werden. So hat die vorliegende Untersuchung auch gezeigt, dass sozialdemokratische Autoren des marxistischen Zentrums dazu neigten, den Kampf ums Dasein im vollendeten Sozialismus für beendet zu erklären. Der dann einsetzende Zustand der weitgehenden Aufhebung der Entfremdung hätte auch eine Minimierung institutioneller Absicherung der menschlichen Existenz impliziert: eine Konsequenz, die weder Gehlen noch Plessner zogen. Sie hielten die Entfremdung des Menschen und damit seine institutionelle Stabilisierung als weitgehend instinktentbundenes Wesen für einen nicht hintergehbaren Tatbestand. Zu Recht hebt Joachim Fischer hervor, dass Gehlens programmatische Schrift »Über die Geburt der Freiheit aus dem Geist der Entfremdung« von 1963 »gar nicht so weit entfernt [ist] von Plessners Formeln von 1924: ›Der Mensch verallgemeinert und objektiviert sich durch die Maske, hinter der er bis zu einem gewissen Grade unsichtbar wird, ohne doch völlig als Person zu verschwinden‹ oder dessen Formel von der ›indirekten Direktheit‹ bzw. der ›vermittelten Unmittelbarkeit‹ als anthropologischem Grundgesetz« (Fischer 2009, S.  269). Erst im Rahmen des institutionell gegebenen Haltes mit seinen Entfremdungserscheinungen konnte sich der Mensch in seiner Subjektivität überhaupt erst selbst wahrnehmen. – 165 –

Teil IV

Zusätzliche Differenzen kommen hinzu. Gehlen ließ nie einen Zweifel daran, dass der Mensch aufgrund seiner Weltoffenheit verloren ist, wenn er sich nicht durch selbst geschaffene Institutionen stabilisiert. Die unendliche Fülle von Möglichkeiten seines weltoffenen Horizontes desorientiert ihn in einem Maße, dass seine überschüssigen Energien zur Selbstdestruktion neigen, wenn er sich nicht von haltenden Institutionen wie die der Familie oder des Staates konsumieren lässt, um das ihm eigene überbordende Antriebspotenzial zu kanalisieren. »Nietzsche sprach einmal vom Menschen als dem nicht festgestellten Tier – das ist ein drohendes Wort. Es meint nicht nur dasjenige sonderbare Tier, über das es keine endgültigen Feststellungen gibt, sondern es meint auch das in sich nicht festgestellte, zur Chaotik, zur Ausartung bereite Tier« (Gehlen 1961a, S.  23). Dass ein solcher Ansatz quer steht zum Emanzipationsstreben der sozialdemokratischen Arbeiterschaft, muss nicht eigens betont werden. Zwar hatte die Partei stets ein positives Verhältnis zu Institutionen. Nicht zufällig resultierte die Macht der Sozialdemokratie vor 1933 sowohl in Deutschland als auch in Österreich zum großen Teil aus dem Aufbau ihrer Massenpartei und deren zahlreichen Konnexorganisationen. Aber ihre Macht bestand auch darin, dass sie als erste moderne Partei der Industriegesellschaft außerinstitutionelle Macht zu mobilisieren in der Lage war. Eine »Kristallisation« ihrer Institutionen88, die tatsächlich im Ansatz am Ende der Weimarer Republik angesichts der Dynamik der nationalsozialistischen Massenbewegung sichtbar wurde, hätte ihr Ende als innovatorische politische Kraft bedeutet. In dieser Hinsicht stand Plessners Version der Philosophischen Anthropologie dem Selbstverständnis der alten Sozialdemokratie sicherlich näher als Gehlens Institutionalismus. Insbesondere ist in diesem Zusammenhang sein drittes anthropologisches Gesetz zu nennen, das er auf die Formel des »utopischen Standorts« bringt (vgl. Plessner 1965, S.  341–346). Für ihn »ist charakteristisch, dass – 166 –

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er den utopischen – freilich nicht chiliastischen – Standpunkt aufwertet. Als Ausfluss der Conditio humana muss utopisches Denken und Handeln im nicht-chiliastischen Sinn Plessner zufolge als ein zentrales Monopol des Menschen angesehen werden. Da­ rüber hinaus dient der utopische Standpunkt als Hebel, über den es zu einer institutionellen Erneuerung kommen kann, und sei es auf dem Weg und mit den Mitteln der Revolution« (Saage 2011a, S. 10). Tatsächlich schreibt Plessner: »So gibt es ein unverlierbares Recht der Menschen auf Revolution, wenn die Formen der Gesellschaftlichkeit ihren eigenen Sinn selbst zunichte machen, und Revolution vollzieht sich, wenn der utopische Gedanke von der endgültigen Vernichtbarkeit aller Gesellschaftlichkeit Macht gewinnt. Trotzdem ist er nur das Mittel der Erneuerung der Gesellschaft« (Plessner 1965, S.  345). Der Mensch ist also nicht nur von seiner Stabilisierung durch Institutionen abhängig, sondern die Geschichte lehrt uns, dass er auch neue Institutionen schaffen oder sogar ihre repressiven Potenzen reduzieren kann. Diese Annahme kommt dem sozialdemokratischen Transformationsverständnis sehr nahe. Aber es handelt sich um eine gemeinsame Schnittmenge, die ihre Grenzen darin hat, dass nach Plessner die Geschichte in jedem Fall offen bleibt. Ein im Sinne des Marxismus antizipierbares Ziel einer »klassenlosen Gesellschaft« lässt sich in Plessners Anthropologie nicht integrieren. Auch die soziokulturelle Potenz der menschlichen Natur wurde in sozialdemokratischer Sicht anders akzentuiert, als dies zum Beispiel in der Soziologie Hans Freyers, Arnold Gehlens und Helmut Schelskys der Fall war. Die sozialdemokratische Anthropologie folgte weitgehend Karl Marx und Friedrich Engels, wenn sie die Bedeutung der Arbeit als spezifisches Element der Menschwerdung betonte. Dadurch, dass sich der Mensch vom Tier durch den Gebrauch selbst geschaffener Werkzeuge unterschied, mit deren Hilfe er gezielt und reflektiert der äußeren Natur das abrang, was er zum – 167 –

Teil IV

Leben benötigt, ist es die Arbeit, die das Besondere des Menschen ausmacht, obwohl er in seiner animalischen Existenz verwurzelt bleibt. Durch Arbeit überlebt er im Kampf ums Dasein. Durch sie schafft er in Form immer differenzierterer Techniken die künstlichen Umwelten seiner soziotechnischen Superstrukturen. Durch Arbeit gewinnt er sein Selbstbewusstsein. Durch sie durchbricht er Schranken biologischer Zwänge und erweitert ihnen gegenüber sukzessive seinen Handlungsspielraum. Aber die Arbeit ist auch das Mittel, mit dem sich das Industrieproletariat seiner Stellung im kapitalistischen Produktionsprozess bewusst wird. Indem es arbeitend Technik und Industrie in seiner Entwicklung vorantreibt, befördert es zugleich seine eigene Emanzipation. Über weite Strecken haben Hans Freyer und Arnold Gehlen in Anlehnung an Hegel ein ähnliches Muster vertreten. Doch sie diagnostizierten mit der Etablierung der soziotechnischen Superstrukturen des industriellen Zeitalters eine Post-Histoire, eine nachgeschichtliche Epoche89: Die moderne Technik bringt aus sich kristalline, die klassischen Herrschaftsvorstellungen verändernde Sachzwänge90 hervor, die zwar durch arbeitende Menschen geschaffen wurden, aber sie bleiben in deren Netzwerken gefangen. Dieser Fatalismus ist dem sozialdemokratischen Menschenbild zumindest vor dem Ersten Weltkrieg fremd. Wenn der Mensch die soziotechnischen Superstrukturen durch seine eigene Arbeit im Kampf ums Dasein geschaffen und er damit allmählich seine biologischen Fesseln aufgrund seiner naturgeschichtlichen Herkunft aus dem Tierreich wenn nicht zerreißt, so doch lockert, dann begünstigt dieser Prozess, dass er auch Herr der technischen Entwicklung bleibt und ihr im Sog der Dynamik seines eigenen Aufstiegs aus dem Tierreich eine dienende Rolle im Emanzipationsprozess der Menschheit vorschreibt. Gewiss war dieser Optimismus auch Teil des Fortschrittsglaubens, der von fast allen politischen Lagern vor 1914 geteilt wurde. Dass der Erste Weltkrieg die Grundlagen dieses – 168 –

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Fortschrittsglaubens destruierte, dürfte auch an der Sozialdemokratie nicht spurlos vorübergegangen sein. Doch daran, dass die Arbeit, die täglich jeder Lohnabhängige im Industrieprozess oft unter schwersten Bedingungen abzuliefern hatte, ein Teil seiner Würde und seines Selbstrespekts blieb, dürften auch die katastrophischen Erfahrungen des Ersten Weltkrieges nichts geändert haben. So dominant das Kulturpotenzial für die anthropologische Grundierung des sozialdemokratischen Selbstverständnisses auch immer gewesen sein mag: Wesentliche Impulse schöpfte sie freilich auch aus der Naturgeschichte des Menschen selbst. Damit ist die zweite Ebene des anthropologischen Szenarios der Sozialdemokratie bis 1933/34 angesprochen. Es ist bemerkenswert und viel zu wenig gewürdigt worden, dass ein sozialdemokratischer Vordenker wie Karl Kautsky das altruistische Potenzial in unserem evolutionären Erbe betonte, während der herrschende, von Ernst Haeckel wesentlich bestimmte Zeitgeist die aggressive Komponente der biologischen Selbstbehauptung des Homo sapiens hervorhob, der in seiner Stammesgeschichte die konkurrierenden Hominiden mithilfe seiner überlegenen Intelligenz verdrängte (vgl. Penzlin 2011). Kautskys Argumentationsstrategie zielte hingegen darauf ab, innerhalb der Darwin’schen Evolutionstheorie gegen die asoziale, auf Vernichtungskonkurrenz angelegte Dimension der menschlichen Natur deren soziale Stoßrichtung als entscheidende Waffe im Kampf ums Dasein stark zu machen. Ziel war, nicht – wie der Sozialdarwinismus von rechts – die Unvereinbarkeit von Selektion und Adaption mit dem Solidarverhalten festzuschreiben, sondern das Umgekehrte nachzuweisen: in den in der natürlichen Evolution wirksamen »sozialen Trieben« die entscheidende Waffe im Kampf ums Überleben zu sehen. Nicht der schrankenlose Egoismus, so Kautsky, sei das ausschließliche Signum der Evolution. Ihm trete die »gegenseitige Hilfe als Faktor der Entwicklung« (Kropotkin) ebenbürtig zur Seite. – 169 –

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Folgende anthropologische Prinzipien lassen sich aus dem in der vorliegenden Untersuchung analysierten Material ableiten: 1. Es besteht eine Kontinuität zwischen der Menschen- und Tierwelt, deren wichtigste gemeinsame Schnittmenge der »soziale Trieb« (Darwin) ist. Demgegenüber ist der Krieg aller gegen alle zwar auch ein natürliches, aber stark kulturell überwölbtes Phänomen. 2. Der soziale Trieb hat im Kampf ums Dasein einen höheren Stellenwert als der schrankenlose Egoismus des »bellum omnium in omnes« (Hobbes), für den die Sozialdarwinisten eintreten. Aber es ist zu betonen, dass die individuellen und kollektiven Aggressionspotenziale von sozialdemokratischer Seite als Teil der Conditio humana nicht geleugnet werden. 3. Die Gesellschaft als Ausfluss des sozialen Triebes ist per se auf die Beseitigung des Leitbildes des »homi homini lupus« (Hobbes) ausgerichtet. Indem die Sozialdarwinisten den Konkurrenzgedanken in die Gesellschaft einschleusen und behaupten, er sei das Mittel des Fortschritts der Gesellschaft, schlagen sie den Menschen das wichtigste Instrument der Selbstbehauptung in ihrem Kampf ums Dasein aus der Hand. 4. Die Weigerung sozialdemokratischer Autoren, biologische Strukturen umstandslos auf die Gesellschaft zu übertragen und demgegenüber die historischkulturelle Eigengesetzlichkeit der sozialen Strukturen zu betonen, immunisierte sie gegenüber den nationalsozialistischen Rassenlehren, die bekanntlich nach dem Ersten Weltkrieg hegemonial wurden und die die Zerstörung der Ersten Republiken in Deutschland und Österreich begleiteten. 5.  Dieselbe Immunisierungsstrategie gegenüber dem nationalsozialistischen Rassenwahn resultierte aber auch aus der Ablehnung der Haeckel’schen Interpretation der Darwin’schen Evolutionstheorie, wonach die Selektion eine aristokratische Stoßrichtung habe. Nicht die Besten, so erkannten nicht wenige sozialdemokratische Autoren, setzen sich durch, sondern diejenigen, die im Sinne ihrer Selbsterhaltung am angemessensten auf neue Herausforderungen reagieren. Damit war dem vermeint– 170 –

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lichen Überlegenheitsanspruch der sogenannten »arischen Rasse« der Boden entzogen. Doch andererseits ist der sozialdemokratische Rückgriff auf die in der Naturgeschichte des Menschen verankerten altruistischen Ressourcen schon sehr früh mit dem Schule machenden Argument Herbert Spencers kritisiert worden, Sozialisten gingen von einer fundamental irrigen und verfehlten Anthropologie aus. In einer Jahrtausende umfassenden Zeitspanne habe sich die Menschheit aufgrund ihrer Vermehrung durch Arbeit vom ursprünglich wilden Zustand in den der Zivilisation emporentwickelt. Jahrhunderte habe die Menschheit benötigt, sich an die Arbeit zu gewöhnen und eine entsprechende Wandlung ihrer Natur zu erreichen. Vom primitiven Menschen ererbt, harmoniere sie nicht einmal mit den Verhältnissen der bürgerlichen Gesellschaft, wie der brutale Umgang der Zivilisierten mit den indigenen Völkern unter dem Beifall von Priestern und Pastoren zeige: Ganz abgesehen davon, dass, wie Beobachtungen zeigten, auch die Arbeiterschaft ein ebenso egoistisches Verhalten an den Tag lege wie die Unternehmer. Dieser Tatbestand vorausgesetzt, sei eine solche Menschennatur einfach nicht reif, »einen allgemein beglückenden socialen Zustand zu schaffen« (Spencer 1891, S. 29). Aber in dem Maße, wie Spencer die Überwölbung der animalischen Natur durch eine soziokulturelle Dimension, die anderen Gesetzmäßigkeiten als jene folgt, zugunsten eines naturalistischen Biologismus in Abrede stellt, muss er das Potenzial menschlicher Lernfähigkeit und die Differenz zwischen den tradigenetischen und biogenetischen Lernprozessen verkennen. Ausschließlich auf die letzteren fixiert, entgeht ihm, dass sich das kulturelle Lernen schneller vollzieht, weil sich die Weitergabe genetischer Informationen von den Eltern auf die Kinder nicht nur bei der Geburt, sondern lebenslang vollzieht. Sie läuft in alle Richtungen, schreitet in großen Einzelschritten voran, kann durch Reflexion Selektionshürden umgehen und ist, weil genetisch nicht – 171 –

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fixiert, auch umkehrbar (Penzlin 1996, S.  20f ). Ist im Lichte dieser Möglichkeiten Spencers Kritik am sozialdemokratischen Menschenbild nicht eher Ausfluss der Interessenlage der herrschenden Eliten seiner Herkunftsgesellschaft, als dass sie wissenschaftlicher Argumentation verpflichtet ist? Darüber hinaus konnte sich die sozialdemokratische Position auch darauf berufen, dass sie, wie schon hervorgehoben, bei aller Betonung menschlichen Solidaritätsverhaltens keineswegs blind gegenüber den dunklen, d. h. aggressiven Seiten der menschlichen Natur war. Nicht einmal Kautsky hat sich nachweisbar zu der simplen Behauptung hinreißen lassen, der Mensch sei schlechthin »gut« und soziabel. Auf diesem Hintergrund bekommt die sozialdemokratische Entscheidung für die Demokratie eine wichtige anthropologische Tiefendimension. Das, was sich vor 1918 wie ein roter Faden durch alle sozialdemokratischen Parteiprogramme zog (vgl. Bechtold 1967, S. 109–163, 213–316 sowie Münkel 2007, S. 339–394), nämlich die Forderung nach der Demokratie des allgemeinen Wahlrechts auf allen Ebenen des politischen Systems, begründet erst den angemessenen Entfaltungsraum für partizipatorisches Handeln in der Solidargemeinschaft, weil sie die optimalsten Voraussetzungen für kommunikative Lernprozesse schafft. Ist dergestalt die Demokratie aufgrund des Sozialtriebs des Menschen überhaupt erst möglich, so muss sie zugleich durch öffentlich relevante Diskurse Korrektive für die destruktiven Kräfte der menschlichen Natur entwickeln, die in der Zwischenkriegszeit im Faschismus kulminierten. Ein fragiles Gut, hat die Demokratie nur dann eine Überlebenschance, wenn sie kontrollierende Institutionen in der Verwaltung, der Rechtspflege, dem Heer und der Polizei zur Verteidigung der Republik hervorbringt und gleichzeitig Garantien »zum Schutz der persönlichen Freiheit, Vereins‑, Versammlungs- und Pressefreiheit; Bekämpfung der Pressekorruption, Aufhebung des Vagabundengesetzes, Asylrecht für politische Flüchtlinge« (Bechtold 1967, S. 254) – 172 –

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verstärkt, wie es im Linzer Programm von 1926 heißt. Die Diktatur der Bolschewiki vor Augen, sah Kautsky genau dieses Korrektiv der Demokratie mit der Liquidierung der Verfassungsgebenden Versammlung mit schwerwiegenden Folgen in Russland zerstört: »Die Erbsünde des Bolschewismus ist seine Verdrängung der Demokratie durch die Regierungsform der Diktatur, die einen Sinn nur hat als unumschränkte Gewaltherrschaft einer Person oder einer kleinen, fest zusammenhaltenden Organisation« (Kautsky 1919, S. 144). Bleibt noch die abschließende Frage zu klären, welche anthropologische Entwicklungshöhe im sozialdemokratischen Lager als Fernziel angestrebt wurde. In einem von der Zentralstelle für das Bildungswesen der deutschen Sozialdemokratie in Österreich 1911 herausgegebenen Vortrag »Der Ursprung und die Entwicklung des Lebens« von H. Redel heißt es abschließend: »Das Leben erhob sich aus dem Meer, eroberte sich das Land und entwickelte sich weiter, bis es im Menschen seine höchste Stufe erklommen hatte. Wir sind einer Abstammung mit allen übrigen Tieren und von ihnen nicht im Wesen, sondern nur im Rang unterschieden. Wir haben unsere beherrschende Stellung nicht durch ein Geschenk von oben gewonnen, sondern erworben durch unsere Arbeit, durch eigenen Kampf« (Redel 1911, S. 27). Ausdrücklich weist der Autor auf die Kunstprodukte des Urmenschen hin, die ihn erst dem Rang nach von den Tieren unterscheiden: Sie reichen von zerschlagenen Steinen, die als Schaber und Kratzer dienten, über Pfeil und Lanzenspitzen, Beile, Harpunen für den Fischfang bis hin zu künstlerischen Darstellungen, die ursprünglich mit Farben, aus ockerartiger Erde hergestellt, bestrichen waren (Redel 1911, S.  26). Doch welche Folgerungen sind aus der »Menschwerdung des Affen« (Engels) durch den Gebrauch selbst gefertigter Handwerkzeuge für seine weitere Evolution zu ziehen? Ungeachtet der Tatsache, dass »viel des Tierhaften noch in ihm steckt« (Redel 1911, S. 27), entzweite auch das »Wohin?« der Evolution des Menschen das kommunistische und das sozialdemokratische – 173 –

Teil IV

Lager. Vor dem Machtantritt Stalins waren kommunistische Intellektuelle von der Vorstellung besessen, die Plastizität und Formbarkeit der menschlichen Natur sei schier unbegrenzt. Ihnen haben im Westen britische Naturwissenschaftler wie John Burdon Sanderson Haldane* (vgl. Haldane 1995) sowie John Desmond Bernal* (vgl. Bernal 1970), die Mitglieder der Kommunistischen Partei ihres Landes waren, und ein Revolutionär wie Leo Trockij* (vgl. Trockij 2009) in Sowjetrussland ein klares Profil gegeben. Bei allen Unterschieden in den Methoden kam es für sie auf ein Ziel an: Nach jahrhundertelanger Erstarrung des Homo sapiens komme es nun darauf an, die weitere Evolution des Anthropos in die eigenen Hände zu nehmen, und zwar mit dem Ziel, ihn von biologischen Zwängen zu befreien und dadurch zu einem Übermenschen zu transformieren. »Das Leben, selbst das rein physiologische, wird kollektiv-experimentell werden. Die menschliche Gattung, der erstarrte Homo sapiens, wird abermals eine radikale Revision durchlaufen und – unter den eigenen Händen – zum Objekt kompliziertester Methoden der Auslese und des physo-psychischen Trainings werden. Das liegt vollkommen im Entwicklungstrend« (Trockij 2009, S. 419). Die Zeit, in welcher der Mensch »sich demütig undurchsichtigen Gesetzen von Vererbung und blinder Geschlechtsauslese beugte« (Trockij 2009, S. 420), seien endgültig vorbei. Stattdessen werde sich der Mensch das Ziel setzen, »seiner eigenen Gefühle Herr zu werden, die Instinkte auf die Höhe des Bewusstseins zu heben, sie transparent zu machen, die Drähte seines Willens bis ins Unterschwellige und Untergründige hinein zu verlegen und damit eine neue Stufe zu erklimmen – einen höheren gesellschaftlich-biologischen Typ schaffen, einen – wenn man so will – Über-Menschen« (Trockij 2009, S. 420). Trockij ließ die Frage der konkreten Mittel, wie dieser Übermensch zu schaffen sei, weitgehend offen; Haldane und Bernal äußerten sich in der Dekade, als Trockij 1924 seinen Text publizierte, umfassend in visionären Szenarios zu diesem Problem (vgl. Euchner – 174 –

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2008, S.  173–204; Heil 2010, S.  41–62; Saage 2011). Bei allen Unterschieden stimmten sie in einem Punkt mit Trockij überein: Die Entstehung des Neuen Menschen setzte die Diktatur des Proletariats voraus. In deren Rahmen vollzog sich die biologische Umgestaltung der menschlichen Natur zu einem Neuen Menschen durch technische Mittel mit der Dynamik eines unwiderstehlichen Sachzwanges. »We must regard science«, schrieb Haldane, »from three points of view. First it is the free activity of man’s divine faculties of reason and imagination. Secondly it is the answer of the few to the demands of many for wealth comfort and victory, for […] gifts which it will grant only in exchange for peace, security and stagnation. Finally it is man’s gradual conquest, first of space and time, then of matter as such, then of his own body and those of other living beings, and finally the subjugation of the dark and evil elements in his own soul« (Haldane 1993, S. 13f ). Die These der künstlichen Entwicklungssteuerung des Neuen Menschen ist von Haldanes kommunistischem Mitstreiter J.  D. Bernal dezidiert vorangetrieben worden. Zwar verändere die Evolution auch den Menschen. Aber diese Transformation finde in solchen unermesslichen Zeitdimensionen statt, dass man den Eindruck habe, seine Entwicklung stagniere. Wolle man in der Logik der Darwin’schen Evolution verharren, sei die Konsequenz unausweichlich: Der Mensch müsse selbst seine Entwicklung in die Hand nehmen, und zwar mit höchst artifiziellen Mitteln, die Wissenschaft und Technik ihm bereitstellten (Bernal 1994, S. 10). Zwei Methoden zur Erreichung dieses Zieles stünden zur Verfügung. Der Biologe Haldane setzt auf die Manipulation der genetischen Strukturen und/oder auf Eingriffe in die physiologischen Abläufe des Körpers bei der Entstehung neuen Lebens. Der zweite Ansatz, den Bernal selber favorisiert, zielt darauf ab, die Veränderung des Menschen durch systematische Anreicherung seines Körpers mit maschinellen Elementen zu erreichen. Sie könnten den großen Vorteil für sich – 175 –

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reklamieren, physiologische Restriktionen zu durchbrechen und die Perfektionierung des Menschen bis ins Unendliche fortzusetzen. »Normal man is an evolutionary dead end; mechanical man, apparently a break in organic evolution, is actually more in the true tradition of a further evolution« (Bernal 1994, S. 13). Dieses auf technischer Basis unbegrenzte Perfektionspotenzial läuft nicht nur auf ein virtuell unsterbliches Leben hinaus. Der mechanische Mensch, der sich selbst in allen seinen Details kontrolliert, hat zuvor längst die äußere Natur in gleicher Weise seinen Zwecken dienstbar gemacht wie den eigenen Körper. Die Energiefrage löste er durch die Nutzbarmachung der Sonnenenergie, welche, in Batterien gespeichert, jederzeit abrufbar ist. Nahrungsmittel sind auf synthetischer Grundlage im Überfluss vorhanden. »This will mean that agriculture will become a luxury, and that mankind will be completely urbanized. Personally I do not regret the probable disappearance of the agricultural labourer in favour of the factory worker, who seems to me a higher type of person from most points of view. Human progress in historical time has been the progress of cities dragging a reluctant countryside in their wake. Synthetic food will substitute the flower garden and the factory for the dunghill and the slaughterhouse, and make the city at last self-sufficient« (Haldane 1993, S.  7). Nach Bernal beherrscht der technisch perfektionierte Mensch das All durch im Detail beschriebene Raumstationen. Den Bedingungen des Kosmos bestens angepasst, erkunden diese Neuen Menschen in Raumschiffen immer neue Himmelskörper und erweitern dadurch ihren Herrschaftshorizont ins Unermessliche. Sind diese Szenarien, die hier nur in sehr vereinfachter Form rekonstruiert werden können, »links« zu nennen? Lassen sie sich den normativen Vorgaben der Solidarität und des Primats der Kollektivität, ohne die eine sozialistische Gesellschaft nicht auskommt, assimilieren? Bernal jedenfalls war der Meinung, dass in der Sozietät der Zukunft das individualistische Zeitalter zu Ende gegangen sei: – 176 –

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Die Borniertheiten der Individualität seien dann zugunsten eines in sich integrierten hierarchischen Ganzen überwunden, das durchaus mit Strukturen eines autoritären Sozialismus vereinbar scheint. »Feeling would truly communicate itself, memories would be held in common, and yet in all this identity and continuity of individual development would not be lost. It is possible, even probably, that the different individuals of a compound mind would not at all have similar functions or even be the same rank of importance. Division of labour would soon set in: to some minds might be delegated the task of ensuring the proper functioning of the others, some might specialize in sense reception and so on. Thus would grow up a hierarchy of minds that would be more truly a complex than a compound mind« (Bernal 1994, S. 44). Da im vollendeten Sozialismus die Wissenschaftler selbst an den Schalthebeln der Macht säßen, komme als stärkster Faktor deren emotionaler Konservativismus zum Tragen. Befürchtungen, sie würden sich als Übermenschen vom Rest der Menschheit emanzipieren, seien unbegründet. »For whether they are inventing submarines or depth charges, they feel they are serving humanity. The consciousness of solidarity – and even more, the unconscious emotional identification with the group – is a terrific force binding humanity together« (Bernal 1994, S. 71). Es sollte freilich nicht vergessen werden, dass jenseits des normativen Horizontes des modernen Naturrechts der ursprünglich Gleichen und Freien der Neue Mensch des Kommunismus mit dem Menschenbild des Faschismus konkurrierte. Auf den ersten Blick scheint eine zentrale Gemeinsamkeit beider Varianten des Totalitarismus zu dominieren: die Schaffung einer Aristokratie von Übermenschen, die sich endgültig von den individuellen Menschenrechten der liberalen Demokratie verabschieden. Aber diese Übereinstimmung kann über weitreichende Unterschiede nicht hinwegtäuschen. Die Faschisten assimilierten ihrem Neuen Menschen durchgehend vormoderne Qualitäten: vorreflexiver – 177 –

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Mut, atavistische Tapferkeit, physische Kraft, blinder Fanatismus, unerschütterlicher Glaube an die Mission ihres Führers etc. Dieser Antiintellektualismus verdichtete sich zu einem Kult der vermeintlich heroischen Tugenden, der historisch von den Nazis im Germanentum verankert wurde. Demgegenüber war der Neue Mensch des Kommunismus mit Eigenschaften ausgezeichnet, die auf eine die bürgerliche Gesellschaft transzendierende Hypermoderne verweisen. Der Mensch sollte nicht dem angeblichen Niveau tierischer Aggressivität angenähert werden und sein Vorbild im raubtierhaften Verhalten suchen, sondern sich von Grund auf mit technischen Mitteln neu gestalten. So gesehen war der kommunistische Neue Mensch durch einen hochgradigen technizistischen Konstruktivismus gekennzeichnet, der nicht zurück zu den angeblich naturwüchsigen Formen des Kampfes ums Dasein wollte. Vielmehr intendierte er, wie wir sahen, die technische Kontrolle des Menschen über seine eigene Evolution. Die Sozialdemokraten entzogen sich keineswegs der Diskussion über den Neuen Menschen. Niemand hat diesen Terminus entschiedener und beredter in den sozialdemokratischen Diskurs der Zwischenkriegszeit eingespeist als der Austromarxist Max Adler*. Für ihn war eine der Hauptaufgaben der »Partei der Zukunft«, der Sozialdemokratie, »neue Menschen zu gestalten« (Adler 1924, S. 52). Aber ebenso klar war für ihn, dass die Hervorbringung des Neuen Menschen keine biologisch-technische (Kommunismus) oder sozialdarwinistisch archaische Herausforderung (Faschismus), sondern ein soziales Problem war.91 Wolle man ihn anstreben, so müssten die alten Lebensformen beseitigt werden. »Die neue Menschheit erwächst erst aus einer neuen Gesellschaft« (Adler 1924, S. 22). Er ordnete dieses Ziel historisch in die klassische Tradition der Päda­ gogik ein, die mit den Namen Lessing und Herder, Winkelmann und Kant, Schiller und Goethe bis zu Pestalozzi, Fichte und Owen verbunden ist (Adler 1924, S. 21). Und an einer Stelle seines Buches – 178 –

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»Neue Menschen. Gedanken über sozialistische Erziehung« heißt es programmatisch: »Neue Menschen! – Das also ist das eigentliche Ziel einer Erziehung, die jene neue Gesellschaft auch in den Seelen der Menschen vorbereitet, die sonst in ihrer Vorbereitung durch den ökonomischen Prozess bloß eine objektive Möglichkeit bleibt« (Adler 1924, S. 66f ). Die Entstehung des Neuen Menschen aus dem Geist sozialistischer Erziehung begründete Adler nicht nur negativ durch die Ablehnung des innermarxistischen ökonomistischen Zukunftsglaubens einer »naturnotwendigen« Entwicklung zum Sozialismus, die einer Erziehung der proletarischen Massen weitgehend entraten zu können glaubte: »Aus Furcht vor dem utopischen Aktivismus gelangte man so nicht selten zu einer Art ökonomischen Fatalismus, der als solcher nur deshalb nicht empfunden wurde, weil er dorthin führte, wohin man wollte, zum Sozialismus, also weil hier ökonomisches Verhängnis und subjektives Ziel zusammenfielen« (Adler 1924, S. 23). Max Adler fundierte darüber hinaus seine Erziehungskonzeption wie kaum ein anderer Autor der marxistischen Schule auch wissenschaftstheoretisch. Er brachte den Darwinismus indirekt dann ins Spiel, wenn er zwischen Naturwissenschaft und moderner Soziologie unterschied, die er gleichsetzte mit marxistischer Gesellschaftslehre. Durch diese Differenzierung bestätigte er zugleich die These des marxistischen Zentrums, dass naturwissenschaftliche Kategorien nicht auf gesellschaftliche Tatbestände anwendbar seien. Der Gegenstand der Naturwissenschaft entwickele sich nämlich ohne menschliches Zutun nach dem ahistorischen Gesetz der Kausalität. Das Objekt der Sozialwissenschaften dagegen sei die Gesellschaft, die, von menschlicher Praxis geprägt, dadurch zu einem historischen Phänomen werde.92 Zwar zerfalle die Gesellschaft zurzeit noch in divergierende Einzelwillen und Interessen. Doch ordne die moderne Soziologie diese diffuse Gemengelage im Medium der marxistischen Arbeiterbewegung auf ein klares – 179 –

Teil IV

Ziel hin: die klassenlose Gesellschaft. Freilich handelt es sich in der Sicht Adlers bei dieser Teleologie, wie schon hervorgehoben, nicht um einen historischen Automatismus. Das Proletariat als der gesellschaftliche Motor dieser Entwicklung muss sie durch seine Praxis erst wollen und schließlich durch seinen Klassenkampf vorantreiben. Doch damit das Industrieproletariat diese historische Mission bewältigen kann, ist gleichzeitig durch Erziehung der Neue Mensch in seinen Reihen zu schaffen. Sozialismus, Erziehung und Neuer Mensch, so müssen wir Adler interpretieren, sind Pleonasmen. Sie verweisen strukturell aufeinander und dürfen nicht parzelliert werden. Man sieht also: In der Debatte über den Neuen Menschen akzentuierten die Sozialdemokratien sowohl ihre Methode als auch ihre Ziele qualitativ anders als ihre kommunistischen Konkurrenten. Dass die Reduktion des Menschen zum Objekt wissenschaftlicher Experimente im Rahmen einer Diktatur des Proletariats oder seine Deformation durch eine exterminatorische Genetik das Mittel sei, um ein Human Enhancement im Sinne des Sozialismus oder der Schaffung rassischer Homogenität zu ermöglichen, war für sie von Anfang an ein historischer Irrweg 93. Ihn konfrontierte sie mit dem alternativen Ziel, in der Demokratie vor allem der arbeitenden Bevölkerung die Chance zu ermöglichen, durch Bildung und Erziehung uneingeschränkt an dem kulturellen Erbe der Menschheit teilzuhaben. »Was je Menschen erdacht und ersonnen«, schrieb Otto Bauer, »gedichtet und gesungen haben, wird nun zum Erbe der Massen. Ihr Besitztum wird, was vor Jahrhunderten der Minnesänger einer stolzen Fürstin gesungen, was der Künstler der Renaissance dem reichen Kaufherrn gemalt, was die Denker der frühkapitalistischen Zeit für eine enge Schicht Gebildeter erdacht. So schaffen die Menschen der Zukunft aus dem Erbe der Alten und dem neuen Werk der Zeitgenossen ihre eigene Kultur« (Bauer 1975, S.  164). Dem anfangs von den Kommunisten gesetzten Ziel – 180 –

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Trockijs, den durchschnittlichen Menschentyp auf die Höhe eines Aristoteles, Goethe und Marx zu optimieren, stellten sie das demokratische Postulat der sozialstaatlich verbürgten Existenzsicherung und der Bildungschancen für alle – unabhängig von der sozialen Herkunft – gegenüber, um den Einzelnen zu ihrer Autonomie und Würde zu verhelfen. Otto Bauer brachte sicherlich einen sozialdemokratischen Konsens auf den Begriff, wenn er in der Erziehung zum arbeitenden Kulturbürger die entscheidende Integrationsinstanz der zukünftigen sozialistischen Gesellschaft sah. »Zwar hielt er die biologische Abstammungsgemeinschaft für ein wichtiges Element der Nationenbildung. Aber die Geschichte zeige, dass ihre integrative Kraft über längere Zeiträume begrenzt sei, wie die älteren Stammesgesellschaften der Germanen verdeutlichten. Sie enthielten in sich den Keim des Zerfalls. ›Je mehr die Nachkommen gemeinsamer Ahnen voneinander örtlich geschieden und verschiedenen Bedingungen des Daseinskampfes unterworfen wurden, desto mehr wurden sie verschieden voneinander, wurden sie zu verschiedenen Völkern mit verschiedenen Mundarten, so daß sie einander nicht mehr verstanden; mit verschiedenem körperlichen Typus, da sie keine Wechselheirat mehr verband; mit verschiedenen Sitten, verschiedenen Rechten, verschiedenen Lebensgewohnheiten, verschiedenem Temperament, verschiedener Art, auf gleichen Reiz zu reagieren‹ (Bauer). Anders im Sozialismus der Zukunft. Wie in der utopischen Tradition wird zwar die Abstammungsgemeinschaft nicht ausgelöscht, wohl aber durch die Erziehungsgemeinschaft hegemonial überlagert. ›Alle ihre Kinder unterwirft sie gemeinsamer Erziehung, alle ihre Genossen arbeiten zusammen in den Werkstätten der Nation, wirken miteinander zusammen an der Bildung des Gesamtwillens der Nation, genießen miteinander die Kulturgüter der Nation. So trägt der Sozialismus in sich auch die Gewähr der Einheit der Nation‹ (Bauer)« (Saage 2009, S. 88). – 181 –

Teil IV

Diese Strukturmerkmale eines dem demokratischen Sozialismus verpflichteten Menschenbildes, so kann zusammenfassend festgestellt werden, stellen gewiss keine in sich geschlossene umfassende Anthropologie dar: Eine solche hat es weder in der deutschen noch in der österreichischen Sozialdemokratie jemals gegeben. Aber es handelt sich sehr wohl um regulative Prinzipien einer Anthropologie, die das individuelle und kollektive Denken und Handeln der ältesten demokratischen Parteien in beiden Ländern so angeleitet haben, dass sie trotz aller temporärer Niederlagen ihre politische und moralische Integrität in den Katastrophen des 20. Jahrhunderts bewahren konnten. So gesehen trifft es nicht zu, dass innerhalb der Sozialdemokratie der nationalsozialistische Antisemitismus auf einer intellektuellen Ebene in seiner Rechtfertigung als Rassendoktrin nicht hinreichend erkannt wurde. Allerdings war die Ungeheuerlichkeit der Ermordung von 6 Millionen Juden jenseits ihres Vorstellungsvermögens, weil sie den Nationalsozialismus primär als ein soziales, von Kapitalinteressen beherrschtes Phänomen identifizierte und eine Verselbstständigung der rassistischen Ideologie, die in der faschistischen Praxis auf direktem Weg in den Holocaust führte, für unmöglich hielt. Aber darüber, dass es im Sinne Darwins keine Rassenfrage gibt, weil Rasse gleichbedeutend mit Varietät, also einer Sondergruppe innerhalb der Art ist, hat Karl Kautsky bereits 1914 sein Publikum ebenso aufgeklärt wie über die Instrumentalisierung des Konstrukts der Rasse für ideologische Zwecke (vgl. Kautsky 1921).94 In diesem Sinne schreibt Julius Schaxel* in der Festschrift für Kautsky 1924: »Eine der Wissenschaft fremde Vorstellung, nämlich die Vorstellung von der Judenrasse als eines auszusondernden Gesellschaftsteils, wird in die Wissenschaft hineingetragen und dann wieder ohne weitere Verarbeitung für tauglich befunden, um völkischen Absichten als kurz vorher selbst vorausgeschickte ›naturwissenschaftliche‹ Stütze zu dienen« (Schaxel 1924, S.  493). Als weiterer – 182 –

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historischer bzw. zeitgenössischer Beleg der sozialdemokratischen Distanzierung vom nationalsozialistischen Rassenantisemitismus kann ein Artikel gelten, der im April 1940 in der im Pariser Exil erscheinenden Zeitschrift »Der sozialistische Kampf« (»La Lutte Socialiste«) erschien. Er reagierte auf die Frage, ob nach dem Sieg der nationalsozialistischen Rassendoktrin in Deutschland »die bisherige Geschichtsauffassung des Sozialismus sich noch in gleicher Form aufrechterhalten lasse oder nicht durch biologische Gedankengänge ergänzt werden müsse« (Roeder 1941, S. 162). Der Autor beantwortete diese Frage mit einer Kritik des nationalsozialistischen Rassismus, die nicht nur heutigen Maßstäben standhält, sondern sich auch bruchlos in die sozialdemokratische Distanzierungen von allen rechten und linken Festlegungen auf einen biologistischen Naturalismus seit den beiden Kaiserreichen einfügt. Elemente des rassistischen Mythos in pseudowissenschaftlicher Verkleidung seien: die absolute Hegemonie der Vererbung gegenüber dem Einfluss der Umwelt, Stigmatisierung des Individuums zugunsten der kollektiven Erbströme als das Bleibende und Kontinuierliche, die daraus folgende Forderung der Rassereinheit, die Ablehnung der Rassenmischung, die Behauptung, es gebe aus der Erbmasse von Anfang an dafür bestimmte Herren- und Sklavenrassen, die Erklärung der Geschicke der Völker aus Erbeigenschaften der Rasse (Roeder 1940, S. 163). Keines dieser mythologischen Elemente, die einer empirischhistorischen Überprüfung nicht standhalten, spielte, wie die Untersuchung zeigen konnte, im sozialdemokratischen Diskurs in Deutschland und Österreich jemals eine mehrheitsfähige Rolle. Im Gegenteil: Sie wurden von Anfang an zurückgewiesen. Spätestens als Otto Bauer 1909 seine Schrift »Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie« veröffentlicht hatte, welche die einschlägigen Diskurse im Fokus nationaler Identitäten auf den Begriff brachte, war klar, dass die völkisch und rassistisch aufgeladene Kategorie – 183 –

Teil IV

der Nation, wie sie bereits vor dem Ersten Weltkrieg von rechten Sozialdarwinisten vertreten wurde, weder methodisch noch inhaltlich mit sozialdemokratischen Vorstellungen vereinbar war: Wer die Nation als das niemals abgeschlossene Resultat eines ökonomisch grundierten historischen Prozesses und nicht als eine nach außen abgeschottete Substanz begreift, »die von Anfang fix und fertig, wie von Gott geschaffen, bei den Rassen so und nicht anders erbmäßig vorhanden [war] und keiner Beeinflussung und Entwicklung unterlieg[t]« (Roeder 1940, S. 164), steht auf dem Boden einer Anthropologie, die immun ist gegenüber rassendoktrinären Gedankengängen. Mit dieser Feststellung schließt sich der Kreis. In seiner »Einleitung« drückte der Verfasser die Hoffnung aus, die vorliegende Studie möge nicht nur zum besseren Verständnis der geistigen Situation der deutschen und österreichischen Sozialdemokratie beitragen. Er verband mit ihr auch das Ziel, eine historisch-analytische Folie zu erarbeiten, auf der sich das sozialdemokratische Menschenbild in seiner Entwicklung nach dem Zivilisationsbruch des Dritten Reiches abbilden lässt. Ob diese Intention verwirklicht wurde, werden weitere Forschungen zu einem lange vernachlässigten Gegenstand der Historiografie zur sozialdemokratischen Arbeiterbewegung zeigen müssen.

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Anhang

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Quellen und Literatur

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Anhang

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Quellen und Literatur

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Wagner, Günther A./Hermann Rieder/Ludwig Zöller/Erich Mick (Hg.) (2007): Homo heidelbergensis. Schlüsselfund der Menschheitsgeschichte, Stuttgart 2007. Weindling, Paul (o.  J.): A City Regenerated: Eugenic, Race, and Welfare in Interwar Vienna, in: Deborah Holmes/Lisa Silverman (Hg.): Interwar Vienna. Culture between Tradition and Modernity, Rochester/New York o. J., S. 81–113. Weiss, Otto (1909): Die Abstammungslehre. Zur Jahrhundertfeier der Geburt Charles Darwins, in: Der Kampf, 2.  Bd. (1909), S. 234–237. Woltmann, Ludwig (1899): Selbstanzeige von Woltmann: Die Darwinsche Theorie und der Sozialismus. Ein Beitrag zur Naturgeschichte der menschlichen Gesellschaft, Düsseldorf 1899, in: Die Neue Zeit, 17. Jg. (1899), S. 246–249. Woltmann, Ludwig (1903): Anthropologie und Marxismus, in: Die Neue Zeit, 21. Jg. (1903), S. 781–782. Wurm, Emanuel (1889): Die Naturerkenntniß im Lichte des Darwinismus. Vier Vorträge in gemeinverständlicher Darstellung. Zweite, verbesserte Auflage, Dresden 1889. Zimmermann, Walter (1922): Deszendenztheorie, in: Sozialistische Monatshefte, 28. Jg. (1922), S. 365–367.

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Kurzbiografien

Die folgenden Kurzbiografien sind alphabetisch geordnet. Sie erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Aus Umfangsgründen mussten sie sich auf die wichtigsten Daten der Hauptakteure und Ideengeber der Darwinismusdebatte in der alten Sozialdemokratie in Deutschland und Österreich beschränken. Die Hauptquelle der biografischen Abrisse sind leicht zugängliche Nachschlagwerke, nämlich Ilse Jahn/Rolf Löther/ Konrad Senglaub (Hg.): Geschichte der Biologie, 1. Auflage, Jena 1985, S.  622–755; Dieter Hoffmann/Hubert Laitko/Steffan Müller-Wille unter Mitarbeit von Ilse Jahn (Hg.): Lexikon der bedeutenden Naturwissenschaftler, 3  Bde., Heidelberg und Berlin 2003; Walther Killy, ab Bd. 4 auch Rudolf Vierhaus (Hg.): Deutsche Biographische Enzyklopädie (DBE), 10 Bde., München u. a. 1995–1999; Österreichische Akademie der Wissenschaften (Hg.): Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950, 11 Bde., Wien 1957–1999; The New Encyclopaedia Britannica, 12 Bde., London u. a. 2007; Brockhaus-Enzyklopädie, 30 Bde., 19. Auflage, Mannheim 1986–1996, sowie die Einträge zu den in unserem Zusammenhang relevanten Autoren in Wikipedia, die freie Enzyklopädie, wie sie dem Stand vom 7. bis zum 14. Mai 2011 entsprechen. Die Quellen der Kurzbiografien wurden nach jedem Abriss gesondert aufgeführt, sodass die von mir oft aus Platzgründen vorgenommene Auswahl der Fakten leicht überprüfbar ist. Weiterführende Literatur zu den einzelnen Biografien sind in den genannten Nachschlagewerken aufgeführt. Da es sich im Prinzip um bekannte Daten handelt, sind die Informationen, die den einzelnen Lexika entnommen wurden, nicht durch Anführungszeichen noch einmal zusätzlich gekennzeichnet worden. – 201 –

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Adler, Max, österreichischer Gesellschaftswissenschaftler und sozialistischer Theoretiker, geb. 1873, gest. 1937. Max Adler promovierte 1896 zum Dr. jur. und wurde Rechtsanwalt. Im Frühjahr 1919 wirkte er als Pädagoge des Schönbrunner Kreises. Dem Wiener Vizebürgermeister Max Winter gelang es, das Hauptgebäude des Schlosses Schönbrunn den Kinderfreunden zur Verfügung zu stellen. In dieser Schönbrunner Arbeiterschule, in der junge Menschen zu Pädagogen ausgebildet wurden, konnte Max Adler gemeinsam mit seinen Kollegen Wilhelm Jerusalem, Alfred Adler, Marianne Pollak, Josef Luitpold Stern und Otto Felix Kanitz reformpädagogische Programme verwirklichen. 1920 habilitierte er an der Universität Wien und wurde a.  o. Professor für Soziologie und Sozialphilosophie an der Universität Wien. Von 1919 bis 1921 war er sozialdemokratischer Abgeordneter im Landtag von Niederösterreich. Adler war in der Volkshochschulbewegung tätig und gab von 1904 bis 1925 mit Rudolf Hilferding die Marx-Studien heraus, die den ersten Kristallisationskern des Austromarxismus darstellten. Als a. o. Professor in Wien bemühte er sich um eine Synthese der Lehren von Immanuel Kant und Karl Marx sowie um den Entwurf einer sozialistischen Kultur- und Lebenslehre. Mit Otto Bauer, Karl Renner und Rudolf Hilferding war er einer der führenden Vertreter des Austromarxismus. Er war Mitarbeiter von »Der Kampf«, der »Arbeiter-Zeitung« und der in Berlin erscheinenden Zeitschrift »Der Klassenkampf«. Quelle: Brockhaus-Enzyklopädie, 19. Auflage, Bd. 1, S. 146; Killy (Hg.): Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd.  I, München u.  a. 1995, S.  40–41; Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950, Bd. I, Graz und Köln 1957, S. 7; Wikipedia, die freie Enzyklopädie. Allen, Grant, eigentlich Charles Grant Blairfindie Allen, englischkanadischer Schriftsteller und Naturforscher, geb. 1848, gest. 1899. Er wurde teils in Amerika, teils in Frankreich erzogen. Da er ein – 202 –

Kurzbiografien

Stipendium gewann, studierte er klassische Sprachen am Merton College in Oxford. Als Professor für Philosophie lehrte er ab 1873 Ethik, Latein und Griechisch an einer neu gegründeten Universität für Schwarze in Spanish Town, Jamaika. Nach deren Auflösung mangels Studenten kehrte er nach England zurück, wo er als freier Schriftsteller lebte. Er vertrat in zahlreichen naturwissenschaftlichen Schriften den Darwinismus. Zugleich griff er in seinen über 40 Romanen und Kurzgeschichten aktuelle Diskussionen auf, z. B. über Frauenemanzipation. Sein naturwissenschaftliches Hauptwerk »The colour sense« erschien 1879. Quelle: BrockhausEnzyklopädie, 19. Auflage, Bd. 1, S. 381; Wikipedia, die freie Enzyklopädie. Aveling, Edward, englischer Biologielehrer und Schriftsteller, geb. 1849, gest. 1898. Aveling war das fünfte von acht Kindern des Geistlichen Thomas William Baxter Aveling und dessen Frau Mary Ann. Nach dem Besuch der Harrow School begann er 1867 sein Medizinstudium am Universitätskolleg London. Aveling lehrte Biologie am King’s College London. Wegen seiner atheistischen und linken Anschauungen musste er jedoch diese Tätigkeit einstellen. Er setzte seine Vorlesungen in Anatomie und Biologie daher am London Hospital bis 1882 fort. Aveling profilierte sich als Protagonist der Darwin’schen Evolutionstheorie und des Atheismus. Er lebte später mit Eleonore Marx zusammen, der jüngsten Tochter von Karl Marx. Autor zahlreicher Bücher und Pamphlete, war er eines der Gründungsmitglieder der Sozialistischen Liga und der Independent Labour Party. 1888 verließ Aveling mit Marx die anarchistisch dominierte Sozialistische Liga. Er schloss sich der GasarbeiterGewerkschaft an. Die Independent Labour Party verließ er 1896, um sich der marxistischen Sozialdemokratischen Föderation anzuschließen. Quelle: Wikipedia, die freie Enzyklopädie. – 203 –

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Bauer, Otto, österreichischer Politiker und Theoretiker des Austromarxismus, geb. 1881, gest. 1938. Otto Bauer war Sohn des wohlhabenden jüdischen Textilfabrikanten Philipp Bauer, der sich zum Liberalismus bekannte. Er studierte Rechtswissenschaften an der Universität Wien und promovierte 1906. Bauer begann sich ab 1900 in der SDAP politisch zu betätigen. Er wurde auf Wunsch von Parteichef Viktor Adler Sekretär des Klubs sozialdemokratischer Abgeordneter im Reichsrat. Von 1918 bis 1934 war er stellvertretender Parteivorsitzender der SDAP. Als Mitbegründer des theoretischen Parteiorgans »Der Kampf« und Redakteur der »Arbeiter-Zeitung« war er einer der Hauptvertreter des Austromarxismus. Bauer verband in seiner Schrift von 1908 »Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie« das Nationalitätenprogramm seiner Partei mit der marxistischen Theorie. Von November 1918 bis Juli 1919 war er Staatssekretär des Auswärtigen. Nach dem militärischen Zusammen­ bruch Österreich-Ungarns trat er für die Eingliederung der am 12.  11.  1918 ausgerufenen Republik Deutschösterreich in das Deutsche Reich ein. Anknüpfend an die Engels’sche These vom Gleichgewicht der Klassenkräfte setzte sich Bauer in dem von ihm maßgeblich beeinflussten »Linzer Programm« (1926) der österreichischen Sozialdemokratie für einen Ausgleich zwischen den revolutionären und den reformistischen Kräften seiner Partei ein. Nach dem Scheitern des sozialdemokratischen Februaraufstandes von 1934 floh Bauer in die Tschechoslowakei und ging 1938 nach Paris. Bauers Hauptwerke sind »Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie« (1908), »Die österreichische Revolution« (1923) und »Zwischen zwei Weltkriegen?« (1936). Quelle: Brockhaus-Enzyklopädie, 19. Auflage, Bd. 2, S. 639f; Killy (Hg.): Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd. I, München u. a. 1995, S. 329; Österreichisches Biographisches Lexikon, Bd. I, Graz und Köln 1957, S. 56; Wikipedia, die freie Enzyklopädie. – 204 –

Kurzbiografien

Bebel, August, Mitbegründer und Führer der deutschen Sozialdemokratie, geb. 1840, gest. 1913. Bebel besuchte die Armen- und Bürgerschule in Wetzlar, absolvierte 1856 bis 1857 eine Lehre als Drechsler und war seit 1858 auf Wanderschaft, die ihn durch Süddeutschland, die Schweiz, Österreich und schließlich im Mai 1860 nach Leipzig führte. Als Drechslermeister schloss sich Bebel 1861 in Leipzig der Arbeiterbewegung an. 1865 wurde er Mitglied des Leipziger Arbeiterbildungsvereins, 1867 des »Verbandes der deutschen Arbeiterbildungsvereine«. 1866 gründete er mit Wilhelm Liebknecht die Sächsische Volkspartei. Im selben Jahr wurde er als Kandidat dieser Partei in den Reichstag des Norddeutschen Bundes gewählt. Unter dem Einfluss Liebknechts wandte sich Bebel dem Marxismus zu. Innerhalb der Arbeiterbewegung trat er als scharfer Kritiker Lassalles und des von diesem geprägten »Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins« (ADAV) hervor. Auf marxistischer Grundlage gründete er mit Liebknecht in Eisenach 1869 die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP). 1875 trug er maßgeblich zur Vereinigung von SDAP und ADAV in Gotha bei. Während des Sozialistengesetzes von 1878 bis 1890 gelang es ihm, die vereinte »Sozialistische Arbeiterpartei« (SAP) zu konsolidieren. 1872 wurde er wegen Hochverrat und Majestätsbeleidigung und 1886 wegen Geheimbündelei zu Festungshaft verurteilt. Im Zuge der Neuorganisation der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) nach 1890 beteiligte er sich maßgeblich an der Formulierung des Erfurter Programms. Unter Bebels Führung entwickelte sich die SPD zur Massenpartei. Bebels Hauptwerk »Die Frau und der Sozialismus« erschien illegal 1879 in Leipzig. Quelle: Brockhaus-Enzyklopädie, 19. Auflage, Bd. 2, S. 692; Killy (Hg.): Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd. I, München u. a. 1995, S. 363–364. Beer, Max, eigentlich Moses Beer, österreichischer Publizist und Historiker, geb. 1864, gest. 1943. Max Beer wuchs in einer traditionellen jüdischen Familie auf. Nach Schulabschluss mit 15  Jahren – 205 –

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übersiedelte er 1889 nach Deutschland. Hier war er u.  a. als He­ rausgeber der sozialdemokratischen »Volksstimme« in Magdeburg tätig. Nachdem er wegen eines angeblichen Verstoßes gegen das Pressegesetz inhaftiert gewesen war, emigrierte Max Beer 1894 nach London und studierte dort 1895 bis 1896 als einer der Ersten an der neu gegründeten London School of Economics. 1898 bis 1902 lebte er in New York, wo er Korrespondent für die SPD-Zeitschrift »Die Neue Zeit« und das Parteiorgan »Vorwärts«, für die »Münchener Post« und die Wiener »Arbeiter-Zeitung« war. 1902 bis 1905 war er in London englischer Korrespondent des »Vorwärts« als Nachfolger von Eduard Bernstein. 1915 wurde er als feindlicher Ausländer aus London ausgewiesen. 1919 bis 1921 gab Max Beer die sozialistische Halbmonatszeitschrift »Die Glocke« heraus und arbeitete von 1927 bis 1929 am Marx-Engels-Institut in Moskau sowie von 1929 bis 1933 am Frankfurter Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main. Kurz nach der Machtübergabe an Hitler und dem Beginn der nationalsozialistischen Diktatur emigrierte er 1934 nach London, nachdem Deutschland ihn ausgebürgert hatte. Beers Hauptwerk »Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe« (5 Bde.) erschien 1921–1923. Quelle: Wikipedia, die freie Enzyklopädie. Bernal, John Desmond, britischer Physiker, geb. 1901, gest. 1971. Bernal wirkte als Physiker 1923–1927 am Davy-Faraday Laboratory. Von 1924 bis 1938 war er Direktor des Forschungslabors für Kristallografie an der Universität Cambridge (England). 1936 ein Jahr als Honorarprofessor an der Universität Moskau tätig, hatte er ab 1938 die Professur für Kristallografie am Birkdale College in London inne, wo er starb. In Cambridge beschäftigte er sich mit Strukturanalysen von anorganischen und später auch organischen Substanzen. Er entwickelte eine Theorie der Struktur des Wassers und der Flüssigkeiten und befasste sich in dem Buch »The social function of science« – 206 –

Kurzbiografien

(1939) mit den sozialen Bezügen der Wissenschaft. Bernal gehört zu der Phalanx von Physikern, die im vergangenen Jahrhundert einen großen Beitrag zur Begründung der modernen Biowissenschaften leisteten. Er schloss sich als überzeugter Marxist 1923 der Kommunistischen Partei Großbritanniens (CPGB) an. Erst 1968 gab er zu, dass Lyssenkos Ansatz der Schaffung eines Neuen Menschen durch radikale Veränderung der gesellschaftlichen Bedingungen auf der Ausblendung der Resultate der modernen biologischen Forschung in der Genetik beruhte. Die molekulare Biologie und die Doppelspirale der DNA seien materialistischer und marxistischer als Lyssenkos Ansatz. Quelle: Brockhaus-Enzyklopädie, 19.  Auflage, Bd.  3, S.  159, Jahn u.  a. (Hg.): Geschichte der Biologie, Jena 1985, S. 636; Hoffmann u. a. (Hg.): Lexikon der bedeutenden Naturwissenschaftler, Bd. I., Heidelberg und Berlin 2003, S. 14–146; The New Encyclopaedia Britannica, Vol. 2, London u. a. 2007, S. 144. Bernstein, Eduard, deutscher Schriftsteller und Politiker, geb. 1850, gest. 1932. Seit 1866 als Bankangestellter tätig, schloss sich Bernstein 1872 den Sozialdemokraten an und war 1875 führend an der Ausarbeitung des Gothaer Programms beteiligt. Von 1880 bis 1888 leitete er das illegale Parteiorgan »Der Sozialdemocrat« zunächst von Zürich, später von London aus. In London unterhielt er enge Beziehungen zu Friedrich Engels und Karl Kautsky. Mit seinem Buch »Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie« (1899) legte er die theoretischen Grundlagen seiner Kritik am Marxismus und begründete den Revisionismus. Er suchte die Kluft zwischen revolutionärer Theorie und reformistischer Praxis in der Sozialdemokratie zu überbrücken, als deren Nahziel er die Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse sah. 1901 nach Deutschland zurückgekehrt, war er 1902–1906, 1912–1918 und 1920–1928 Mitglied des Reichstags. Nach der Spaltung der Partei 1917 gehörte er der USPD an. Jedoch kehrte er 1919 zur SPD – 207 –

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zurück, ohne hier eine nennenswerte Anhängerschaft zu gewinnen. Quelle: Brockhaus-Enzyklopädie, 19.  Auflage, Bd.  3, S.  168; Killy (Hg.): Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd. I, München u. a. 1995, S. 475. Bölsche, Wilhelm, deutscher Schriftsteller, geb. 1861, gest. 1939. Wilhelm Bölsche studierte von 1863 bis 1865 Philosophie, Kunstgeschichte und Archäologie an den Universitäten Bonn und Paris. Ab 1885 lebte er als Schriftsteller und Naturphilosoph in Berlin, wo er als Popularisator des Darwinismus hervortrat. Nach 1890 wohnte er an wechselnden Wohnstätten in Berlin-Friedrichshagen. Eine Zentralfigur des Friedrichshagener Dichterkreises, war Bölsche 1906 Mitbegründer des Deutschen Monistenbundes und seit Anfang 1906 Mitglied der Gesellschaft für Rassenhygiene. Als Freund Gerhard Hauptmanns und Anhänger des Naturalismus redigierte er von 1890 bis 1893 für den Verleger S. Fischer die »Freie Volksbühne«, eine der wichtigsten kulturpolitischen Zeitschriften Deutschlands. Auch war er als Redakteur der »Freien Rundschau« tätig. Quelle: Jahn u. a. (Hg.): Geschichte der Biologie, Jena 1985, S. 638; Wikipedia, die freie Enzyklopädie. Büchner, Ludwig (Louis) Friedrich Karl Christian, deutscher Philosoph und Arzt, geb. 1824, gest. 1899. Als Sohn des Chirurgen Karl Büchner und jüngerer Bruder von Georg Büchner, dessen »Nachgelassene Schriften« er anonym herausgab, war Ludwig Büchner überzeugter Republikaner, der die Revolution von 1848 unterstützte. Von 1849–1852 wirkte er als Arzt in der väterlichen Arztpraxis in Darmstadt. Nach seiner Tätigkeit als Assistenzarzt 1852–1854 in Tübingen war er 1854–55 Privatdozent der inneren und gerichtlichen Medizin. Wegen obrigkeitsfeindlicher Tendenzen in seinem Hauptwerk »Kraft und Stoff« (1855) wurde ihm die Lehrbefugnis in Tübingen entzogen, sodass er nach Darmstadt zurückkehren – 208 –

Kurzbiografien

musste, um dort als praktischer Arzt und populärwissenschaftlicher Schriftsteller tätig zu werden. Nach dem Niedergang der idealistischen Philosophie in Deutschland stellte Büchner seine Materialismuskonzeption auf die Grundlage der sich entfaltenden Naturwissenschaften in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts. Naturwissenschaftliche Forschungsergebnisse popularisierend, propagierte er die Darwin’sche Evolutionstheorie. Quelle: Hoffmann u. a. (Hg.): Lexikon der bedeutenden Naturwissenschaftler, Bd. I, Heidelberg und Berlin 2003, S. 271–272; Brockhaus-Enzyklopädie, 19. Auflage, Bd. 4, S. 91. Cunow, Heinrich, deutscher Sozialwissenschaftler, Ethnologe und Politiker, geb. 1862, gest. 1936. Nach Abschluss seiner kaufmännischen Lehre war er als Buchhalter einer Tapetenfabrik in Hamburg beschäftigt und schloss sich der SPD an. Ab 1898 war Cunow Redakteur der Zeitschrift »Die Neue Zeit« und wirtschaftspolitischer Mitarbeiter von Karl Kautsky. Gleichzeitig arbeitete er ab 1902 nach dem Tod Karl Liebknechts als Redakteur des SPD-Zentralorgans »Vorwärts«. Seit 1907 lehrte er an der Parteischule der SPD in Berlin. Daneben betrieb Cunow schon frühzeitig wissenschaftliche ­Studien im Bereich der Ethnologie, auf die er die marxistische Methode anwendete. Ursprünglich gegen die Bewilligung der Kriegskredite argumentierend, änderte Cunow später seine Meinung und schloss sich 1917 nicht der USPD an. 1919 war Cunow SPD-Abgeordneter der Nationalversammlung und später von 1919 bis 1925 Abgeordneter des Preußischen Landtages. 1919 wurde Cunow nicht nur zum a. o. Professor für Sozialwissenschaften und Wirtschaftsgeschichte an der Berliner Universität, sondern im gleichen Jahr zum Leiter des Völkerkundemuseums ernannt (bis 1924). 1933 verlor er nach der Machtübergabe an die Nazis seine Ämter. Er starb verarmt und vergessen in Berlin. Seine Schriften wurden öffentlich verbrannt. Cunow veröffentlichte u.  a. »Die Marxsche Geschichts-, – 209 –

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Gesellschafts- und Staatstheorie« (1920/21). Quelle: Wikipedia, die freie Enzyklopädie; Brockhaus-Enzyklopädie, 19. Aufl., Bd. 5, S. 55; Killy (Hg.): Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd.  II, München u. a.1995, S. 410f. Cuvier, Georges Baron de, französischer Naturforscher, geb. 1769, gest. 1832. Er studierte Philosophie und Cameralia an der Karlsschule in Stuttgart. 1786 als Hauslehrer in der Normandie tätig, war er ab 1795 Professor für vergleichende Anatomie am Collège de France und 1798 am Muséum national d’Histoire naturelle in Paris. Cuvier bekleidete außerdem zahlreiche öffentliche Ämter. Ab 1802 war er Sekretär der mathematisch-physikalischen Klasse der Akademie der Wissenschaften in Paris, wo er starb. Cuvier teilte das Tierreich in vier Typen ein (Wirbeltiere, Weichtiere, Gliedertiere, Strahltiere) und rekonstruierte fossile Wirbeltiere, indem er aus den Muskelansatzstellen an den Knochen die gesamte Muskulatur herleitete. Unterschiede zwischen fossilen und rezenten Tieren erklärte er mit einer Katastrophentheorie. Danach wird das Leben auf der Erde periodisch durch große Katastrophen vernichtet und danach immer wieder neu erschaffen. Cuvier profilierte sich als Gegner der Evolutionstheorie Lamarcks. Er wandte sich insbesondere gegen den Ansatz Geoffroy Saint-Hilaires, der eine Ableitbarkeit der Tiertypen im Sinne einer Stufenleiter annahm, aber er bekämpfte auch die idealistische Naturphilosophie der Goethe-Zeit. Quelle: Brockhaus-Enzyklopädie, 19. Auflage, Bd. 5, S. 63; Jahn u. a. (Hg.): Geschichte der Biologie, Jena 1985, S.  650; Hoffmann u.  a. (Hg.): Lexikon der bedeutenden Naturwissenschaftler, Bd. I, S. 366–368. Darwin, Charles Robert, britischer Naturforscher, geb. 1809, gest. 1882. Darwin studierte 1825–1827 Medizin an der Universität Edinburgh. 1828 brach er das auf Wunsch seines Vaters in Edinburgh begonnene Medizinstudium ab. Er studierte dann in Cambridge Theologie – 210 –

Kurzbiografien

und schloss in diesem Fach seine universitäre Ausbildung 1831 mit dem BA ab. Bereits während seines Theologiestudiums insbesondere an biologischen und geologischen Fragen interessiert, erhielt er auf Empfehlung des Cambridger Botanikprofessors Henselow einen Platz auf dem Forschungs- und Vermessungsschiff »Beagle«. Die Reise von 1831 bis 1836 führte ihn über die Kapverdischen Inseln an die Ost- und Westküste des südlichen Amerika von dort über die Galapagosinseln und Tahiti nach Neuseeland, schließlich über Mauritius und St. Helena nach England zurück. Darwin lebte zunächst in Cambridge, ab 1837 in London und ab 1842 auf seinem Landsitz Down House (heute London Bromley). Insbesondere seine Erforschung der Vogelwelt auf den Galapagosinseln inspirierten ihn zum Studium der Entstehung der Arten. Nach seiner Rückkehr nach England entwickelte er über 20 Jahre seine Ideen, bis er 1856 einen detaillierten Bericht über die Evolution verfasste. 1858 erhielt er einen Artikel von Alfred Russel Wallace, einem jüngeren Naturforscher, der einen Abriss des evolutionären Paradigmas enthielt, wie er ihn selbst entwickelt hatte. Im selben Jahr kam es auf Veranlassung von Darwins Freunden zur Verlesung beider Artikel vor der Linnean Society in London. 1859 veröffentlichte Darwin seine Entdeckungen in seinem Hauptwerk »On Origins of Species«. Quelle: Brockhaus-Enzyklopädie, 19. Auflage, Bd. 5, S. 147; Jahn u. a. (Hg.): Geschichte der Biologie, Jena 1985, S. 651; Hoffman u. a. (Hg.): Lexikon der bedeutenden Naturwissenschaftler, Bd.  II, Heidelberg und Berlin 2003, S.  377–384; The New Encyclopaedia Britannica, Vol. 3, London u. a., S. 894. Dodel-Port, Arnold, deutscher Botaniker, geb. 1843, gest. 1908. DodelPort wurde 1880 Professor in Zürich. Er legte Studien über höhere Pflanzen sowie eine Anatomie der Algen vor. Von einem monistischen, von Haeckel inspirierten Standpunkt herkommend, wurde er jedoch vor allem durch populärwissenschaftliche Schriften bekannt. – 211 –

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Dodel-Port verfasste aber auch Texte mit radikal-sozialistischer Tendenz. Seine wichtigsten Buchveröffentlichungen sind: Biologische Fragmente (1885), Entweder-oder (1902) sowie Ernst Haeckel als Erzieher (1906). Quelle: Wikipedia, die freie Enzyklopädie. Dühring, Karl Eugen, deutscher Philosoph, Nationalökonom und Wissenschaftstheoretiker, geb. 1833, gest. 1921. Dühring studierte Rechtswissenschaft, Philosophie und Nationalökonomie an der Universität Berlin. 1863 wurde er hier Privatdozent für Philosophie (später auch für Nationalökonomie). Wegen seiner heftigen Kritik am zeitgenössischen Universitätswesen in der 2. Auflage seiner »Kritischen Geschichte der allgemeinen Prinzipien der Mechanik« (1873) verlor er 1877 die Lehrbefugnis. Von da an war er als freier Schriftsteller tätig. Neben E. Mach und R. Avenarius gilt er als einer der bedeutendsten Vertreter des deutschen Positivismus. Dühring sah die zeitgenössische sozialistische Bewegung ebenso wie die christliche und jüdische Religion als die entscheidenden Hindernisse auf dem Weg zu einer freien Gesellschaft an. Im »AntiDühring« kritisierte Engels diesen Ansatz als vulgärmaterialistisch und utopisch. Dühring selbst bezeichnete sich als den eigentlichen Begründer des Antisemitismus. Quelle: Brockhaus-Enzyklopädie, Bd.  6, S.  20; Killy (Hg.): Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd. II, München u. a. 1995, S. 634. Eckstein, Gustav, österreichischer Journalist, Sozialdemokrat und Vordenker des Austromarxismus, geb. 1875, gest. 1916. Eckstein entstammt einer großbürgerlichen, jüdisch-liberalen Familie. Sein Vater Albert Eckstein war Chemiker, Erfinder und Gründer einer Pergamentfabrik in Perchtoldsdorf. Eckstein studierte Rechtswissenschaften in Wien und beendete seine Studien mit dem Dr. jur. Inspiriert durch die Wahlrechtskämpfe der 1890er-Jahre, schloss er sich schon in seiner Studentenzeit der sozialdemokratischen Be– 212 –

Kurzbiografien

wegung an. Ab 1902 war er journalistisch tätig. Zur Heilung seines Lungenleidens wurde ihm eine Seereise ermöglicht, die ihn bis nach Japan führte. Später zog er nach Deutschland um, war Mitarbeiter des Berliner »Vorwärts«, des Leipziger »Volksblattes« sowie von »Der Kampf«. Daneben schrieb er für mehrere österreichische Zeitungen. 1910 unterrichtete er an der Parteihochschule in Berlin, trat danach in die Redaktion der »Neuen Zeit« ein und wirkte 1912 an der Parteischule in Klagenfurt. Vielseitig gebildet und interessiert, beschäftigte er sich neben Politik und wissenschaftlichem Marxismus auch mit Ethnografie und Naturwissenschaften. Quelle: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950, Bd. 1, Graz und Köln 1957, S. 214–215; Killy (Hg.): Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd. III, München u. a. 1996, S. 16. Engels, Friedrich, deutscher Philosoph und Politiker, geb. 1820, gest. 1895. Als Sohn eines Textilfabrikanten stand er in seiner Lehrzeit der politisch-literarischen Bewegung »Junges Deutschland« nahe. Während seiner Militärdienstzeit in Berlin schloss er sich den Junghegelianern an. Während seiner Tätigkeit im väterlichen Zweiggeschäft in Manchester (1842–44) lernte er die Arbeiterfrage in England kennen. Seine Erfahrungen schlugen sich nieder in seiner Studie »Die Lage der arbeitenden Klasse in England« (1845). Auf seiner Rückreise nach Deutschland traf Engels in Paris erstmals mit Karl Marx zusammen, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft und Zusammenarbeit verband. Während der Revolution von 1848 gehörte er zum Redaktionsstab der »Neuen Rheinischen Zeitung«, und er nahm 1849 am Aufstand in Baden und der Pfalz teil. Nach der Niederlage der Revolution in Deutschland emigrierte Engels über die Schweiz nach Großbritannien, wo er von 1850 bis 1869 im Betrieb seines Vaters arbeitete. Marx politisch und materiell unterstützend, lebte er ab 1870 in London und widmete sich ausschließlich der Theorie und Praxis der sozialistischen Bewegung. 1885 gab – 213 –

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er den zweiten und den dritten Band des »Kapitals« von Marx heraus. Mit seiner publizistischen Tätigkeit trug Engels erheblich zur Verbreitung des Marxismus bei. Quelle: Brockhaus-Enzyklopädie, 19. Auflage, Bd. 6, S. 383; Killy (Hg.): Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd. III, S. 122–123. Ferri, Enrico, italienischer Kriminologe, Rechtsphilosoph und Politiker, geb. 1856, gest. 1929. Als Professor für Strafrecht führte er die von C. Lombroso begründete positivistische Schule der Kriminologie fort. Später betonte er die sozialen Ursachen von Verbrechen und differenzierte zwischen »politischen« und »normalen« Kriminellen. Seit 1886 Mitglied des italienischen Parlaments, schloss er sich 1893 der Italienischen Sozialistischen Partei an und gab deren Tageszeitung »Avanti« heraus. Zwischen 1900 und 1904 sprach er sich gegen die Beteiligung sozialistischer Minister in bürgerlichen Regierungen aus. Ferri trat für Italiens Neutralität im Ersten Weltkrieg ein. 1921 wurde er als sozialistischer Abgeordneter wiedergewählt. In der Nachkriegszeit sympathisierte er zunehmend mit den Faschisten, denen er sich 1926 anschloss. Am italienischen Strafgesetzbuch (1926) hatte er maßgeblichen Anteil. Seine Hauptwerke sind »Sozialismus und moderne Wissenschaft« (1895), »Das Verbrechen als soziale Erscheinung« (1896) sowie »Die revolutionäre Methode« (1908). Quelle: Brockhaus-Enzyklopädie, 19. Auflage, Bd. 7, S. 224; Wikipedia, die freie Enzyklopädie. Francé, Raoul (Heinrich), eigentlich Rudolf Heinrich Franzé, österreichischer Botaniker, Mikrobiologe und Naturphilosoph, geb. 1874, gest. 1943. Francé studierte an den Universitäten Budapest, Breslau und Wien Naturwissenschaften. Er war 1898–1907 Leiter der Pflanzenphysiologischen Versuchsanstalt Ungarisch Altenburg sowie von 1907–1919 Direktor des Biologischen Instituts in München. Von da an lebte er als Privatgelehrter in Salzburg, der große Forschungsrei– 214 –

Kurzbiografien

sen nach Afrika, Indien, Australien, Südamerika und in die Südsee unternahm. 1909 gründete er die die Deutsche Naturwissenschaftliche Gesellschaft. Als Philosoph vertrat er die Richtung eines Monismus im Sinne der Allbeseeltheit der Natur (Panpsychismus). Als Biologe war er Neolamarckist und vertrat die Ansicht, die Entwicklung beruhe wesentlich auf direkter funktioneller Anpassung. Seine Hauptarbeitsgebiete bildeten die Physiologie (und Psychologie) der Pflanzen und die Entwicklungslehre. 1906 initiierte Francé das achtbändig Monumentalwerk »Das Leben der Pflanze«, dessen vier erste Bände (1906–1910) aus seiner eigenen Feder stammen. Heute wird Francé als Begründer der Biotechnik wiederentdeckt. Zahlreiche seiner damals wie heute fortschrittlichen Ideen erlangten erst am Ende des 20. Jahrhunderts ihre Würdigung. Quelle: Killy (Hg.): Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd. III, München u. a. 1996; Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950, Bd. I, Graz und Köln 1957, S. 341; Wikipedia, die freie Enzyklopädie. Galton, Francis, britischer Naturforscher und Schriftsteller, geb. 1822, gest. 1911. Galton studierte zunächst Medizin in London. Ab 1844 unternahm er aufgrund seines Privatvermögens Studienreisen durch Europa und Afrika, wo er anthropologische und ethnologische Forschungen durchführte. Ab 1857 Privatgelehrter in London, wurde er 1860 Mitglied der Royal Society. Galton veröffentlichte Reiseberichte über seine Expeditionen an den Nil, nach Palästina, Nordafrika und in unerforschte Gebiete Südwestafrikas. 1865 publizierte er die Schrift »Hereditary talent and character«, in der er auf die Erblichkeit v. a. psychischer Eigenschaften hinwies. Durch seine Schrift »Hereditary genius, its laws and consequences« (1869) gilt er als Mitbegründer der Eugenik. Auch führte er mathematische Methoden in die Biologie ein. So stellte er die Galton-Regel auf, wonach bestimmte erbliche Eigenschaften stets um einen Mittelwert schwanken. Ferner erkannte er unveränderliche Eigenschaften der – 215 –

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Hautreliefs, die den polizeilichen Erkennungsdienst auf eine neue Grundlage stellten. Zusammen mit seinem Schüler Karl Pearson schuf er die Grundlagen der statistischen Analyse genetischer Beziehungen. Galtons Bemühungen um eine empirische Humangenetik sind von der Überzeugung motiviert, die Qualität der Menschheit könne durch gezielte Auswahl der Eltern verbessert werden. Doch Galtons Ziel war nicht die Schaffung einer aristokratischen Elite. Seine Ideen waren insofern defizitär, als er ebenso wenig wie Darwin über eine adäquate Theorie der Vererbung verfügte. Die Wiederentdeckung Mendels kam für ihn zu spät, um seine Ideen beeinflussen zu können. Quelle: Brockhaus-Enzyklopädie, 19. Auflage, Bd. 8, S. 108f; Jahn u. a. (Hg.): Geschichte der Biologie, Jena 1985, S.  666; Hoffmann u.  a. (Hg.): Lexikon bedeutender Naturwissenschaftler, Bd. II, Heidelberg und Berlin 2003, S. 75; The New Encyclopaedia Britannica, Vol.  5, 15.  Auflage, London u.  a. 2007, S. 97–98. Gehlen, Arnold, deutscher Philosoph und Soziologe, geb. 1904, gest. 1976. Nach dem Studium von Philosophie, Geschichte und Kunstgeschichte (daneben auch Physik und Biologie) an den Universitäten Leipzig und Köln habilitierte er sich 1930 in Leipzig mit der Schrift »Wirklicher und Unwirklicher Geist« (1931). 1933 schloss er sich den Nationalsozialisten an. Als Nachfolger seines Lehrers Hans Driesch lehrte er Philosophie in Leipzig (1934), dann in Königsberg (1938) und in Wien (1940). Seit 1942 nahm er am Krieg teil und wurde 1945 im Zuge der Entnazifizierung seiner Ämter enthoben. Doch bereits zwei Jahre später setzte er seine akademische Laufbahn durch Rufe nach Speyer (1947) und an die TH ­Aachen (ab 1962) fort. Gehlens Arbeitsgebiete waren vor allem die Philosophische Anthropologie sowie die Politische Philosophie. Hier versuchte er, die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften, insbesondere der Biologie (L. Bolk, A. Portmann) für das – 216 –

Kurzbiografien

philosophische Denken fruchtbar zu machen. Ausgangspunkt ist für Gehlen die Bestimmung des Menschen als eines Mängelwesens. Aufgrund mangelhafter Ausstattung mit Organen und Instinkten sei der Mensch in seiner individuellen und gattungsmäßigen Existenz permanent bedroht. Dieser Bedrohung müsse er sich handelnd entgegenstellen. Dazu dienen vor allem Institutionen des menschlichen Zusammenlebens, aber auch kulturelle Leistungen wie Sprache, Wissenschaft und Kunst. Aufgrund des naturgeschichtlichen Hintergrundes seines Institutionalismus ist ein konservativer Grundzug der Anthropologie Gehlens unverkennbar. Quelle: Brockhaus-Enzyklopädie, 19. Auflage, Bd. 8, S. 222f; Killy (Hg.): Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd.  III, München u. a. 1996, S. 599. Geoffroy Saint-Hilaire, Étienne, franz. Naturforscher, geb. 1772, gest. 1844. Er studierte am Collège de Navarre in Paris Naturphilosophie, später Theologie und wurde Kanonikus in Sainte Croix in seiner Heimatstadt Étampes. Nach Paris zurückgekehrt, studierte er dort Rechtswissenschaft und Medizin. Seit 1793 war er Professor für Zoologie am Muséum national d’Histoire in Paris. 1794 gründete er eine Menagerie. 1798 bis 1802 war er Teilnehmer an der napoleonischen Expedition nach Ägypten und Vizepräsident des 1793 gegründeten Institut égyptien in Kairo. 1809 erhielt er den ersten Lehrstuhl für Zoologie an der Universität Paris. Bekannt wurde er vor allem durch den Akademiestreit (1830) mit Cuvier, in dem er, ähnlich wie Lamarck, die Ansicht vertrat, dass die Entwicklung der Lebewesen (Artenbildung) von einem einzigen Bauplan hergeleitet werden könne. Ferner begründete er die Lehre von den Missbildungen (Teratologie), die er als beeinflussbare Störungen der Embryonalentwicklung ansah. Neben Lamarck und Cuvier hat er als Zoologe und Anatom am Beginn des 19.  Jahrhunderts die theoretische Debatte über die Biologie nachhaltig beeinflusst. Quelle: – 217 –

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Brockhaus-Enzyklopädie, 19. Auflage, Bd. 8, S. 317; Jahn u. a. (Hg.): Geschichte der Biologie, Jena 1985, S.  667; Hoffmann u.  a. (Hg.): Lexikon bedeutender Naturwissenschaftler, Bd. II, Heidelberg und Berlin 2003, S. 91–94. Goldscheid, Rudolf, österreichischer Soziologe und Sozialist, geb. 1879, gest. 1931. Goldscheid entstammte einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie, studierte Philosophie und Soziologie an den Universitäten in Berlin und Wien. Als Privatgelehrter in seiner Heimatstadt Wien lebend, gehörte er zu den Wissenschaftspionieren der Soziologie. 1907 war er Mitbegründer der »Soziologischen Gesellschaft« und mit Ferdinand Tönnies, Max Weber, Georg Simmel Mitbegründer der »Deutschen Gesellschaft für Soziologie« in Berlin. 1911 trat Goldscheid als Anhänger eines wissenschaftlichen Sozialismus und als Pazifist dem von Ernst Haeckel gegründeten Deutschen Monistenbund bei. Zwischen 1912 und 1917 war er Präsident des Österreichischen Monistenbundes. Goldscheid widmete sich besonders einer Menschenökonomie. Sein Ziel war die Umwandlung des »Steuerstaates« in einen selber wirtschaftenden Staat. Durch seine einschlägigen Arbeiten gilt er als Begründer der Finanzsoziologie. Daneben engagierte er sich als Menschenrechtler, Sozialbiologe und Eugeniker. Eines seiner Hauptwerke galt der »Höherentwicklung und Menschenökonomie. Grundlegung der Sozialbiologie« (1911). Quelle: Killy/Vierhaus (Hg.): Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd. IV, München u. a. 1996, S. 81; Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950, Graz und Köln 1959, S. 25; Wikipedia, die freie Enzyklopädie. Graf, Georg Engelbert, deutscher Schriftsteller und Pädagoge, geb. 1881, gest. 1952. Nach dem Abitur studierte Graf Geografie, Nationalökonomie und Soziologie in Berlin und Zürich, trat der SPD bei und arbeitete nach der Promotion zum Dr.  phil. als Lehrer – 218 –

Kurzbiografien

beim Zentralausschuss seiner Partei. 1919 bis 1921 leitete er die sozialistische Heimvolkshochschule Schloss Tinz bei Gera, danach das Bildungswesen im Deutschen Metallarbeiterverband und seit 1926 dessen Wirtschaftsschule in Bad Dürrenberg. 1928–1933 war er Mitglied des Reichstags. Innerhalb der Jungsozialisten marxistisch orientiert, stand er in Opposition zum Hofgeismarer Kreis. In den 1920er- und frühen 1930er-Jahren gehörte Graf dem linken Flügel der SPD um Max Seydewitz und Kurt Rosenfeld an. Mitglied des Reichstags war Graf zwischen 1928 und 1933. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete er zunächst als Schulreferent der Provinzialregierung in Brandenburg sowie als Dozent für Sozialgeografie an der Universität Jena. Nach dem Austritt aus der SED wurde er erneut Mitglied der SPD. Von 1948 bis zu seinem Tod leitete er die Volkshochschule in Berlin-Wilmersdorf und wurde Dozent an der Pädagogischen Hochschule Berlin. Quelle: Killy/Vierhaus (Hg.): Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd. IV, München u. a. 1996, S. 127; Wikipedia, die freie Enzyklopädie. Grottewitz, Curt, eigentlich Max Curt Pfütze, deutscher Naturwissenschaftler, Schriftsteller und Germanist, geb. 1866, gest. 1905. Grottewitz gehörte zwischen 1906 und 1933 zu den meist gelesenen Autoren der Arbeiterschaft, der Wander- und Naturschutzorganisationen sowie der Naturfreunde von Berlin und Umgebung. Seine Werke wurden vor und nach dem Ersten Weltkrieg mehrfach aufgelegt. Grottewitz wollte mit seinen Werken seiner Leserschaft die Zusammenhänge der Natur aus ökologischer Perspektive näherbringen. Er beschrieb detailliert zahlreiche Pflanzen und versuchte den kulturellen Wert der Natur und ihre Nützlichkeit für den Menschen dazustellen. Gleichzeitig setzte er sich für den Erhalt der Natur und gegen deren Raubbau ein. Quelle: Wikipedia, die freie Enzyklopädie. – 219 –

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Haeckel, Ernst Heinrich Philipp August, deutscher Zoologe und Naturphilosoph, geb. 1834, gest. 1919. Von 1852 bis 1858 studierte er Medizin in Berlin, Würzburg und Wien (Dr. med. 1857, Approbation 1858 in Berlin). 1862 wurde er a. o. Professor für vergleichende Anatomie, 1865 bis 1909 o. Professor für Zoologie und Gründer des Zoologischen Instituts der Universität Jena. Haeckel unternahm zahlreiche meeresbiologische Forschungsreisen. Ab 1863 leidenschaftlicher Verfechter der Abstammungslehre von Darwin und Wallace, verfasste er bedeutende morphologische und entwicklungsgeschichtliche Arbeiten. Er beteiligte sich mit grundlegenden Werken an der Diskussion über die Evolutionstheorie. In seinen theoretischen Schriften begründete Haeckel eine monistische (atheistische) Weltanschauung, die anfangs engagierte Anhänger fand. Als Erster vertrat er 1863 die These, dass das Prinzip des Fortschritts auch auf die historischen Analysen und die politische Umgestaltung von kulturellen und sozialen Leistungen anzuwenden sei. Zwar sei der Mensch in seiner Vervollkommnung nicht mehr ein Geschöpf Gottes, wohl aber der am weitesten fortgeschrittene Organismus, wie er es durch seine Konstruktion von Stammbäumen zu visualisieren suchte. In dem Maße, wie Haeckel das Recht des Stärkeren als aristokratischen Kern der Abstammungslehre erhob, wurde er zum Vordenker der dem Nationalsozialismus nahestehenden Eugeniker. Mit den neuen Erkenntnissen der Genetik und der Entwicklungsphysiologie, denen er seine Anschauungen nicht anpasste, sind heute viele seiner Thesen überholt. Sein Hauptwerk »Generelle Morphologie der Organismen« (2  Bde.) erschien 1866. Quelle: Brockhaus-Enzyklopädie, 19. Auflage, Bd. 9, S. 343; Jahn u. a. (Hg.): Geschichte der Biologie, Jena 1985, S. 672–673; Hoffmann u. a. (Hg.): Lexikon bedeutender Naturwissenschaftler, Bd. II, Heidelberg und Berlin 2003, S. 144–145. – 220 –

Kurzbiografien

Haldane, John Burdon Sanderson, britischer Biologe und Genetiker, geb.  1892, gest.  1964. Haldane studierte Mathematik und Biologie in Oxford. Privat setzte er sich mit Vererbungsstudien auseinander. Beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs ging er zur britischen Armee, wo er sich vorrangig mit Sprengstoffen beschäftigte. Nach dem Krieg studierte er Physiologie und Biochemie an der Universität Cambridge, wo er ab 1921 Biochemie lehrte. 1927 bis 1936 trieb er genetische Studien am John Innes Horticultural Institute, dann in Merton bei London. Ab 1933 hatte er den Lehrstuhl für Genetik, dann für Biometrie an der Universität London inne. Sein berühmtes Buch »The Causes of Evolution« (1932) war das erste Hauptwerk, das als »Synthetische Evolutionstheorie« bekannt wurde. In dem Buch wurde die natürliche Selektion wieder als der Hauptmechanismus der Evolution eingeführt und mit den Mendel’schen Regeln mathematisch begründet. In jungen Jahren war Haldane Kommunist. Er schrieb in den 1930er-Jahren zahlreiche Artikel in der kommunistischen Zeitung »The Daily Worker«, trat aber erst 1938 in die Kommunistische Partei ein. Trotz der Moskauer Prozesse und anderer Exzesse stalinistischen Terrors blieb er ein »fellow traveller« und brach erst 1950 mit der Kommunistischen Partei, nachdem er durch den Aufstieg des sowjetischen Biologen Lyssenko desillusioniert wurde, ohne sein Bekenntnis zum Marxismus aufzugeben. Aus Protest gegen das Verhalten der britischen Regierung in der SuezKrise wanderte Haldane 1957 nach Indien aus. 1961 nahm er die indische Staatsangehörigkeit an. Er war von 1957 bis 1961 Professor am Indian Statistical Institute und leitete das Orissa State Government Genetics and Biometry Labaratory. Quelle: Jahn u.  a. (Hg.): Geschichte der Biologie, Jena 1985, S. 673–674; Hoffmann u. a. (Hg.): Lexikon bedeutender Naturwissenschaftler, Bd. II., Heidelberg und Berlin 2003, S. 148–149; The New Encyclopaedia Britannica, Vol. 5, 15. Auflage, London u. a., S. 2007. – 221 –

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Huxley, Thomas Henry, britischer Zoologe, geb. 1825, gest. 1895. Huxley trat 1841 als Gehilfe in die Praxis seines Schwagers, des Arztes James Godwin Scott, in London ein und besuchte parallel Vorlesungen am Sydeham College. Am 1.  Oktober 1842 nahm er am Charing Cross Hospital das Studium der Medizin auf, welches er 1845 mit dem akademischen Grad eines Bacc. med. der University of London abschloss. Im Anschluss daran verdingte er sich bei der Royal Navy. Nach kurzer Tätigkeit am Royal Naval Hospital in Haslar vermittelte ihm sein dortiger Chef die Teilnahme an einer Expedition der HMS Rattlesnake zur Toerres-Straße in den Jahren 1846 bis 1850 als Schiffsarzt, die ihm ausgedehnte, viel beachtete zoologische Forschungen ermöglichte. 1854 wurde er von der Londoner Royal School of Mines, einer Vorgängerin des heutigen Imperial College, zum Professor für Naturgeschichte ernannt. In London forschte er auf dem Gebiet der vergleichenden Anatomie der Wirbellosen und der Wirbeltiere. Huxley war einer der ersten Anhänger des Darwinismus und der Deszendenztheorie. Als 1859 Darwins »On Origins of Species« erschien, schlug die Schrift wie eine Bombe ein. Huxley war trotz seiner Jugend neben Joseph Dalton Hooker und Charles Lyell einer der drei Wissenschaftler, deren Rat Darwin vor Publikation seines Hauptwerkes einholte. In der weiteren Rezeption dieses Buches avancierte Huxley zur »Bulldogge« Darwins, zu einem der wichtigsten öffentlichen Verteidiger der Evolutionstheorie. Huxleys »Evidence as to Man’s place in nature« erschien 1863. Diese Schrift war der Ausgangspunkt des bekannten Streits, ob der Mensch vom Affen abstamme oder nicht. Huxley gründete 1869 gemeinsam mit anderen Anhängern der Darwin’schen Lehre die noch heute führende Fachzeitschrift »Nature«. Quelle: Brockhaus-Enzyklopädie, 19. Auflage, Bd. 10, S. 322; Jahn u. a. (Hg.): Geschichte der Biologie, Jena 1984, S. 684–685; Hoffmann u. a. (Hg.): Lexikon der bedeutenden Naturwissenschaftler, Bd. II, Heidelberg und Berlin 2003, S.  258–260; The New Encyclopaedia Britannica, Vol.  6, 15.  Auflage, London u. a. 2007, S. 178–179. – 222 –

Kurzbiografien

Iltis, Hugo, österreichischer Botaniker und Naturhistoriker, geb. 1882, gest. 1952. Iltis wurde in der Provinz Mähren geboten. Während seiner Schulzeit stieß er 1899 beim Lesen eines Brünner naturhistorischen Journals auf einen alten Forschungsartikel Gregor Mendels, dessen Person fortan sein Leben beeinflusste. 1901 studierte er in Zürich deskriptive Naturwissenschaften und 1903 war er an der KarlFerdinands-Universität Prag immatrikuliert. Eventuell promovierte er dort. Am Prager Botanischen Institut machte er Versuche zum Wurzelwachstum von Wasserpflanzen. Mit dem Studienabschluss wurde er Mathematiklehrer am Brünner deutschen Gymnasium. Daneben arbeitete er als Privatdozent für Botanik und Genetik am deutschen Polytechnikum in Brünn. Nach dem Ersten Weltkrieg gründete Iltis in Brünn das Museum Mendelianum. 1924 verfasste er ein Biografie Mendels. Sie galt für einige Zeit als Standardwerk zu Mendel. Zunehmend betätigte sich Iltis ab Mitte der 1920er-Jahre als Anthropologe und Rassentheoretiker, um die Rassenhygiene des Nationalsozialismus zu konterkarieren. Insbesondere polemisierte er gegen den Rassentheoretiker Günther, dessen Lehre er als »unwissenschaftlich« und »politisch gefährlich« bekämpfte. Mithilfe Albert Einsteins emigrierte er 1939 in die USA. Franz Boas ermöglichte Iltis in den USA eine Anstellung als Professor für Biologie an der University of Virginia. Quelle: Wikipedia, die freie Enzyklopädie. Kammerer, Paul, österreichischer Biologe, geb. 1880, gest. 1926. Kammerer war der Sohn des Fabrikbesitzers Carl Kammerer in Wien und dessen Frau Sofie. Zunächst studierte er von 1900 bis 1902 Musik am Wiener Konservatorium, daneben ab 1899 Zoologie an der Naturwissenschaftlichen Universität Wien. 1904 promovierte er zum Dr. phil., 1910 wurde er Privatdozent für experimentelle Morphologie der Tiere. 1902 mit der Einrichtung von Terrarien und Aquarien an der im Entstehen begriffenen biologischen Versuchsanstalt in Wien (Prater) betraut, gehörte er dieser als Volontär, dann – 223 –

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als Privatassistent H. Przibrams und seit der 1913 erfolgten Verstaatlichung als Adjunkt an. Mit den damals modernsten Einrichtungen begann er, Amphibien zu züchten. Bald fiel er durch sein Geschick in der Tierzucht auf und konnte erste selbstständige Versuche über die Vererbung erworbener Eigenschaften (Lamarckismus) durchführen. Kammerer stellte dem Zufallsprinzip der Evolution (Darwin) die Konzeption Lamarcks gegenüber, dass Lebewesen, die organische Eigenschaften im Laufe ihres Lebens zur besseren Anpassung an ihre Lebensumstände veränderten, an ihre Nachkommen weiter vererben konnten. Übertragen auf den Menschen bedeute dies, dass Abstammung kein Schicksal sei, sondern dass die Menschen selber die »Werkmeister der Zukunft« (Kammerer) seien. Damit hatte er eine Gegenposition zum rassistischen Biologismus bezogen. 1926 schied Kammerer freiwillig aus dem Leben, nachdem man ihm Fälschungen in seinen Forschungen vorgeworfen hatte, obwohl er kurz vorher zum Universitätsprofessor in Moskau ernannt worden war. Quelle: Jahn u. a. (Hg.): Geschichte der Biologie, Jena 1984, S. 688; Österreichisches Biographisches Lexikon, Bd. III, Graz und Köln 1965, S. 14–15; Wikipedia, die freie Enzyklopädie. Kautsky, Karl, deutsch-österreichischer sozialistischer Theoretiker und Politiker, geb. 1845, gest. 1938. Als Sohn eines Malers und Theaterdekorateurs war Kautsky in den Jahren 1866 bis 1870 tschechischer Nationalist. Seit 1863 in Wien lebend, studierte er an der dortigen Universität ohne Studienabschluss Geschichte, Philosophie und Nationalökonomie. Zunächst überzeugter »Darwianer«, begann ab 1880 Kautskys konsequente Hinwendung zum Marxismus. Bereits 1875 schloss er sich der österreichischen Sozialdemokratie an. Er begründete 1883 das sozialdemokratische Organ »Die Neue Zeit«, das er bis 1924 redigierte. 1880 ging er nach Zürich, 1881 nach London (mit Unterbrechung bis 1890). Hier lernte er Karl Marx und Friedrich Engels kennen. In enger Zusammenarbeit mit Engels – 224 –

Kurzbiografien

machte er sich mit der Marx’schen Gesellschaftstheorie vertraut. Nach Engels Tod entwickelte er sich zu einem führenden Vertreter des Marxismus, zum »Roten Papst«. Nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes 1890 nach Deutschland übergesiedelt, hatte er maßgeblichen Anteil am theoretischen Teil des Erfurter Programms. Innerhalb der Sozialdemokratie war Kautsky ein klassischer Zentrist. Er bekämpfte den Revisionismus Eduard Bernsteins ebenso wie die bolschewistische Version des Marxismus unter Lenin. Quelle: Brockhaus-Enzyklopädie, 19. Auflage, Bd. 11, S. 564; Killy/Vierhaus (Hg.): Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd.  V, München 1997, S.  477–478; Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950, Bd. III, Graz und Köln 1965, S. 274–275. Kidd, Benjamin, britischer Soziologe, geb. 1858, gest. 1916. Kidd vertrat in seinem Hauptwerk »Social Evolution«, erschienen 1894, einen Sozialdarwinismus, der einerseits auf August Weismanns Neodarwinismus Bezug nimmt, andererseits Religion als wesentlichen Faktor einer sozial progressiven Evolution ansieht. Für ihn hatte das Christentum einen erheblichen Beitrag geliefert für den Aufstieg der westlichen Welt, in deren Rahmen angeblich die englische Gesellschaft den höchsten Rang einnimmt. Wegen der teleologischen Elemente wurden seine Arbeiten schon früh als Pseudowissenschaft bezeichnet. Kidd war ein vehementer Gegner der Eugenik. Da Kidds Sozialdarwinismus eine gemäßigte Position gegenüber dem traditionell mit dem Sozialdarwinismus verbundenen politischen Konservatismus, der Laissez-Faire-Politik, dem Imperialismus und Rassismus einnimmt, gilt er als unkonventioneller Sozialdarwinist. Quelle: Wikipedia, die freie Enzyklopädie. Kropotkin, Pjotr Aleksejwitsch, Fürst, russischer Revolutionär, geb. 1842, gest. 1921. Ursprünglich Offizier, arbeitete er bei der Armee auch als Geograf. Von 1868 bis 1872 studierte er Mathematik im – 225 –

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Zentralen Statistischen Komitee in Petersburg. Anschließend ging er in die Schweiz, wo er zum Anarchismus konvertierte. Nach seiner Rückkehr agitatorisch tätig und 1874 verhaftet, gelang ihm 1876 die Flucht aus der Peter-und-Pauls-Festung. Nach der Ausweisung aus der Schweiz (1881) und einer Gefängnishaft in Frankreich (1882– 86) lebte er bis zu seiner Rückkehr nach Russland 1917 zumeist in Großbritannien. Kropotkin gilt als der bedeutendste Vertreter des kommunistischen Anarchismus. Auf der Grundlage des Gemeineigentums an den Arbeits- und Produktionsmitteln setzte er auf »gegenseitige Hilfe« in einer offenen Föderation von Genossenschaften. 1902 erschien sein Hauptwerk »Mutual Aid«, in dem er sich, die altruistischen Elemente des Kampfes ums Dasein betonend, als Linksdarwinist profilierte. Nach 1917 lehnte er die Machtergreifung der Bolschewiki ebenso ab wie die Intervention der Alliierten im russischen Bürgerkrieg. Quelle: Brockhaus-Enzyklopädie, 19. Auflage, Bd. 12, S. 542. Lamarck, Jean-Baptiste Antoine Pierre de Monet, Chevalier de, französischer Naturforscher, geb. 1744, gest. 1829. Lamarck besuchte zunächst die Jesuitenschule in Amiens. Von 1761 bis 1768 schloss er sich der französischen Armee an. Ab 1768 studierte er in Paris Medizin und Botanik. 1779 zunächst Assistent, avancierte er 1786 zum Kustos am königlichen botanischen Garten in Paris, verfasste 1790 bis 1793 Denkschriften zur Reorganisation der Gärten und Sammlungen, die zur Grundlage des Muséum d’Histoire naturelle wurden. Hier zum Professor für Zoologie ernannt, arbeitete er mit Geoffroy Saint-Hilaire und George Cuvier zusammen. Durch dieses Trio konnte das Museum großen Einfluss auf die Entwicklung der Paläobiologie im 19.  Jahrhundert ausüben. Lamarck befasste sich in seinen Anfängen mit Meteorologie, Chemie und Botanik. Dann wandte er sich ganz der Zoologie zu. 1802 prägte er als Erster den Begriff »Biologie«. Er unterschied Wirbellose und Wirbeltie– 226 –

Kurzbiografien

re, klassifizierte als Erster die Wirbellosen genauer und führte ein neues System des Tierreichs ein (»Histoire naturelle des animeaux sans vertèbres« [1815–22]) und legte die Grundlagen für die moderne Evolutionstheorie, an die Darwin anknüpfen konnte. Sein Hauptwerk »Philosophie zoologique« erschien 1809 in zwei Bänden. In dieser Untersuchung stellte er die Unveränderlichkeit der Arten infrage. Quelle: Brockhaus-Enzyklopädie, 19. Auflage, Bd. 13, S. 15; Jahn u. a. (Hg.): Geschichte der Biologie, Jena 1985, S. 696; Hoffmann u. a. (Hg.): Lexikon bedeutender Naturwissenschaftler, Heidelberg und Berlin 2003, S. 358–363. Macdonald, James Ramsay, britischer Politiker, geb. 1866, gest. 1937. Macdonald schloss sich 1886 der Fabian Society an, 1894 auch der Independent Labour Party. 1900 beteiligte er sich an der Gründung des Labour Representation Committee (LRC), der späteren Labour Party, dessen Sekretär er wurde. 1906–1918 war er Mitglied des Unterhauses, 1911–1914 parlamentarischer Vorsitzender seiner Partei. Macdonald wandte sich gegen den Eintritt Großbritanniens in den Ersten Weltkrieg. Von Januar bis November 1924 führte Macdonald als Ministerpräsident und Außenminister die erste Regierung der Labour Party. Seine Bemühungen beim Völkerbund, dort zu einer Übereinkunft über eine friedliche Regelung internationaler Streitfragen zu gelangen, schlugen sich im »Genfer Protokoll« (2. 10. 1924) nieder. Nach dem Wahlsieg seiner Partei bildete Macdonald im Juni 1929 erneut eine Labour-Regierung, die jedoch im August 1931 unter dem Druck der Weltwirtschaftskrise und ihrer Lasten (u.  a. Arbeitslosigkeit) zurücktrat. Gegen den entschiedenen Widerstand seiner Partei führte Macdonald 1931–35 eine von bürgerlichen Kräften bestimmte Koalitionsregierung (National Government). Quelle: Brockhaus-Enzyklopädie, 19. Auflage, Bd. 13, S. 668–669; The New Encyclopaedia Britannica, Vol. 7, 15. Auflage, London 2007, S. 617–618. – 227 –

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Malthus, Thomas Robert, englischer Nationalökonom und Sozialphilosoph, geb. 1766, gest. 1834. 1784 wurde er für das Jesus College Cambridge zugelassen. Hier studierte er eine Reihe von Fächern, erhielt Preise für Latein und Griechisch. Seinen M.  A. erhielt er 1791. 1793 wurde er Fellow des Jesus College Cambridge und 1797 zum Priester geweiht. 1805 wurde er Professor für Geschichte und politische Ökonomie am Kollegium der Ostindischen Kompanie in Haileybury bei Herford. 1819 wählte ihn die Royal Society zu ihrem Fellow und 1821 der Polit-Ökonomische Klub zu seinem Mitglied, dem auch Ricardo und James Mill angehörten. Malthus war einer der Gründer der Statistischen Gesellschaft in London 1834. Ein Jahr später wählte ihn die Französische Akademie der Wissenschaften und die Königliche Akademie in Berlin zu ihrem Mitglied. Bereits 1796 schrieb er einen nicht veröffentlichten Essay »The Crisis«, in dem er die Armengesetze verteidigte, welche Arbeitshäuser für die Armen vorsahen. Malthus war ein ökonomischer Pessimist, der in der Armut einen nicht hintergehbaren Tatbestand sah. Als einer der führenden Vertreter der klassischen Nationalökonomie hat er zu deren Fortbildung erheblich beigetragen. In seiner Streitschrift »An essay on the principle of population« (1798) entwickelte er eine Position zur Bevölkerungsfrage, die Darwin zum Movens der Evolution inspirierte. Nach seinem Bevölkerungsgesetz vermehrt sich die Bevölkerung in geometrischer, der Nahrungsspielraum aber nur in arithmetischer Progression. Den daraus resultierenden Kampf ums Dasein aufgrund der Mittelknappheit übertrug Darwin hypothetisch auf die gesamte organische Natur. Quelle: BrockhausEnzyklopädie, 19.  Auflage, Bd.  14, S.  117; The New Encyclopaedia Britannica, Vol. 7., 15. Auflage, London u. a. 2007, S. 746–747. Marx, Karl Heinrich, deutscher Philosoph und Kritiker der Nationalökonomie, geb. 1818, gest. 1883. Als Sohn des Justizrates Heinrich Marx, der sich der Aufklärung verpflichtet fühlte und zum – 228 –

Kurzbiografien

Protestantismus übertrat, studierte Marx nach dem Gymnasium in Trier zunächst in Bonn, dann seit 1836 in Berlin Rechtswissenschaften, später vorwiegend Philosophie. In Berlin verkehrte er im Doktorklub (A. Ruge, B. Bauer u. a.), der Keimzelle des Linkshegelianismus. Die Aussichten einer akademischen Karriere in Bonn zerschlugen sich. Marx übersiedelte nach Köln, wo er Chefredakteur der linksliberalen »Rheinischen Zeitung« wurde. Nach dem Verbot der Zeitung durch die preußische Zensur ging er 1843 nach Paris, wo er mit A. Ruge die »Deutsch-französischen Jahrbücher« herausgab. Wie die »Ökonomisch-philosophischen Manuskripte«, die erst 1932 erschienen, bezeugen, begann er hier mit dem Studium der Politischen Ökonomie. Auch die lebenslange Freundschaft und Zusammenarbeit mit Friedrich Engels begann in Paris. Von der französischen Regierung ausgewiesen, ging Marx nach Brüssel. 1847 schrieb er im Auftrag des Londoner Bunds der Gerechten das »Kommunistische Manifest«. Wegen seiner kommunistischen Aktivitäten wurde Marx 1848 aus Brüssel, 1849 aus Köln ausgewiesen. Über Paris begab er sich nach London ins Exil, wo er den Rest seines Lebens verbrachte. 1867 erschien der Erste Band von »Das Kapital«, das ihn – zusammen mit Friedrich Engels – als Begründer des Marxismus auswies. Quelle: Brockhaus-Enzyklopädie, 19. Auflage, Bd. 14, S. 260f; Killy/Vierhaus (Hg.): Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd. VI, München 1997, S. 645–648. Mehring, Franz, deutscher Schriftsteller und Politiker, geb. 1846, gest. 1919. Als Sohn eines preußischen Offiziers und Beamten wurde Mehring nach dem Studium der klassischen Philologie in Leipzig und Berlin Journalist, der zunächst bei demokratischen und liberalen Zeitungen, später bei sozialdemokratischen Blättern tätig war. Er schloss sich 1891 dem linken Flügel der Sozialdemokraten an und bekämpfte den Revisionismus Bernsteins. Als Leitartikler der »Neuen Zeit« (1891–1912), Chefredakteur der »Leipziger Volkszei– 229 –

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tung« (1902–1907) sowie Mitarbeiter des »Vorwärts« entwickelte sich Mehring zu einem der einflussreichsten Publizisten der Sozialdemokratie. Neben der publizistischen Tätigkeit lehrte Mehring von 1906 bis 1911 an der zentralen Parteischule in Berlin. Daneben war er von 1892 bis 1895 Leiter des Vereins der Freien Volksbühne in Berlin und 1917/1918 Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses. Obwohl bürgerlicher Herkunft und erst spät zur Arbeiterbewegung konvertiert, wurde Mehring zu einem der entschiedensten Verfechter der revolutionären Intentionen des Marx’schen Werkes. Neben Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg war er ein führendes Mitglied des 1916 gegründeten Spartakusbundes und wurde zum Mitbegründer der USPD. Von einem marxistischen Ansatz ausgehend, untersuchte er als Erster wissenschaftlich die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Sein Hauptwerk war die »Geschichte der Deutschen Sozialdemokratie« (1897–98, 2 Bde). Quelle: Brockhaus-Enzyklopädie, 19.  Auflage, Bd.  14, S.  409; Killy/Vierhaus (Hg.): Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd.  VII, München 1998, S. 28; Wikipedia, die freie Enzyklopädie. Mendel, Johann Gregor, österreichischer Botaniker, geb. 1822, gest. 1884. Von 1840 bis 1843 studierte Mendel am Philosophischen Institut Olmütz. 1844–1848 folgte das Studium der Theologie und Landwirtschaft (Obst- und Weinbau) im Augustinerkloster Alt-Brünn, dem er sich als Mönch anschloss. Von 1849 bis 1850 war er Gymnasiallehrer in Znaim und Brünn. 1851 bis 1853 studierte er Naturwissenschaften in Wien. Ab 1868 war er Prior seines Klosters. Mendel führte im Brünner Klostergarten umfangreiche botanische Vererbungsforschungen durch. Er kreuzte Varietäten derselben Pflanzenart (zunächst Gartenerbsen, später u.  a. auch Gartenbohnen) und führte künstliche Befruchtungen durch. Aufgrund der über 10 000 im Verlauf von acht Jahren durchgeführten Experimente formulierte er die – später nach ihm benannten – Mendel’schen Regeln für – 230 –

Kurzbiografien

die Vererbung einfacher Merkmale. Diese Gesetze wurden erst um 1900 von C. E. Correns, E. von Tschermak und H. de Vries wiederentdeckt. Mendel beschäftigte sich auch mit Bienenzucht und Meteorologie. Sein Hauptwerk »Versuche über Pflanzen-Hybriden« erschien 1866, 1870 publizierte er seinen Aufsatz »Über einige aus künstlicher Befruchtung gewonnene Hieracium-Bastarde«. Quelle: Brockhaus-Enzyklopädie, 19. Auflage, Bd. 14, S. 449f; Jahn u. a. (Hg.): Geschichte der Biologie, Jena 1985, S.  705–706; Hoffmann u.  a.: Lexikon bedeutender Naturwissenschaftler, Bd.  III, Heidelberg und Berlin 2003, S. 705–706; Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950, Bd. IV, Wien 1975, S. 218–219. Olberg (Olberg-Lerda), Oda, deutsch-italienische Journalistin, geb. 1872, gest. 1955. Oda Olberg war die Tochter eines hohen deutschen Marineoffiziers. Ihre Jugend verbrachte sie in Deutschland. Sie erlernte den Beruf der Krankenschwester. In Leipzig besuchte sie das Gymnasium und hörte Vorlesungen in Medizin und Philosophie. Früh in der sozialdemokratischen Bewegung aktiv, ging sie 1896 aus gesundheitlichen Gründen nach Italien. Dort lernte sie ihren Mann, den sozialistischen Abgeordneten Lerda kennen. 1896 heirateten sie. Aus der Ehe gingen vier Kinder hervor. In Italien war Olberg als freie Journalistin tätig. Sie arbeitete für den »Avanti« und die »Arbeiter-Zeitung« sowie für verschiedene deutsche Blätter, u. a auch als Mitarbeiterin der »Neuen Zeit«. Nach der Machtübergabe an die Faschisten war sie mehrfach Repressalien ausgesetzt. Olberg flüchtete nach Wien. Nach einem Aufenthalt in Südamerika kehrte sie 1929 nach Wien zurück. 1934 übersiedelte sie nach Buenos Aires, wo sie, weiterhin publizistisch tätig, bis zu ihrem Tod lebte. Olberg trat für eine sozialistische Eugenik ein, war aber eine entschiedene Gegnerin des Faschismus und des Nationalsozialismus. Über den italienischen Faschismus berichtete sie kritisch in zahlreichen Broschüren und Artikeln. Ihr Hauptwerk »Die Entartung in ihrer Kul– 231 –

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turbedingtheit« (1926), das sie in Anlehnung an Lombroso verfasste, versucht, das Phänomen der Kriminalität als Ausfluss biologischer Minderwertigkeit zu erklären. Quelle: Killy/Vierhaus (Hg.): Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd. VII, München 1998, S. 483; Wikipedia, die freie Enzyklopädie. Pannekoek, Anton, niederländischer Astronom, Astrophysiker, Theoretiker des Rätekommunismus, geb. 1873, gest. 1960. Pannekoek studierte in den Jahren 1891 bis 1895 Astronomie an der Universität Leiden. Im Anschluss daran war er für das dortige Observatorium tätig. 1902 promovierte er. Mitglied der SDAP geworden, begann Pannekoek seine Laufbahn als Publizist. Seine Artikel erschienen übersetzt auch in der »Neuen Zeit« von Karl Kautsky und der »Leipziger Volkszeitung« unter Franz Mehring. 1904 gezwungen, seine politische Arbeit in den Niederlanden einzustellen, übersiedelte er 1906 nach Deutschland, trat in die SPD ein und war als Dozent an der Parteihochschule in Berlin tätig. Nachdem ihm diese Tätigkeit unter Androhung der Ausweisung untersagt wurde, arbeitete er im Parteiarchiv, schrieb für verschiedene Parteizeitungen und nahm als Bremer Delegierter an zahlreichen sozialdemokratischen Parteikongressen teil. Nach Bremen war er als Schulungsleiter der SPD berufen worden. Im Rahmen der Massenstreikdebatte kam es zum Bruch mit Karl Kautsky. Ab 1917 war Pannekoek, der nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges in die Niederlande zurückkehrte, Vertreter des Rätekommunismus, der den Parlamentarismus und die Mitarbeit in den Gewerkschaften ebenso wie die Diktatur einer Partei ablehnte. Quelle: Wikipedia, die freie Enzyklopädie. Pearson, Karl, englischer Mathematiker und Biologe, geb. 1857, gest. 1936. Nach einer Anwaltstätigkeit wurde Pearson 1884 Professor für angewandte Mathematik und Mechanik, später auch für Geometrie, am University College London, wo er bis zu seiner Emeritierung – 232 –

Kurzbiografien

lehrte. 1911 auf eine Professur für Eugenik am University College in London berufen, wurde er Direktor des Francis Galton Laboratory for National Eugenics. 1912 schrieb er eine Serie von Aufsätzen unter dem Titel »Mathematical Contribution to the Theory of Evolution«, der zu seinen wichtigsten Arbeiten zählt. Beeinflusst von Charles Darwin und Francis Galton, wandte er die Statistik auf die Biologie an, insbesondere auf die Darwin’sche Abstammungslehre. Ganz im Sinne Galtons war nach Pearson das Wohlergehen eines Landes untrennbar verbunden mit der Verbesserung seines Erbgutes. Er gründete 1901 die Zeitschrift »Biometrika« und gilt als Begründer der angelsächsischen statistischen Schule. Quelle: Brockhaus-Enzyklopädie, 19. Auflage, Bd. 16, S. 625; The New Encyclopaedia Britannica, Vol. 9, 15. Auflage, London u. a. 2007, S. 228; Wikipedia, die freie Enzyklopädie. Plessner, Helmuth, deutscher Philosoph, geb. 1892, gest. 1985. Als Sohn eines Arztes studierte Plessner Medizin, Zoologie und Philosophie in Freiburg/Breisgau, Berlin, Heidelberg und Göttingen. 1916 wurde er in Erlangen zum Dr. phil. promoviert. 1917/18 war er Volontärassistent am Germanischen Museum in Nürnberg. 1920 habilitierte er sich in Köln für Soziologie und Philosophie und war dort Privatdozent bis zu seiner Entlassung 1933 wegen seiner jüdischen Herkunft. Plessner musste 1933 nach Istanbul emigrieren und ging dann in die Niederlande. 1934 bis 1939 forschte er an der Universität Groningen, an der er 1939–1943 und 1945–1951 o. Professor zunächst der Soziologie, dann der Philosophie war. Von 1951 bis 1961 Professor für Philosophie und Soziologie in Göttingen, lebte er ab 1962 in Zürich. Neben Max Scheler gilt Plessner als der Begründer der Philosophischen An­thropologie. Der Beginn dieser philosophischen Disziplin wird auf das Jahr 1928 datiert, als Schelers »Die Stellung des Menschen im Kosmos« und Plessners »Die Stufen des Organischen und der Mensch« erschienen. Unter Einbeziehung der empirischen Wissenschaften des Menschen, – 233 –

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besonders der Humanbiologie, der Psychologie und der Soziologie, arbeitete Plessner eine Philosophische Anthropologie aus, die die offene exzentrische Positionalität des Menschen von der geschlossenen, zentrischen Positionalität des Tieres unterscheidet. Gegenüber der Umweltfixiertheit des Tieres zeichnet sich der Mensch durch die Einheit von Weltgebundenheit und Weltoffenheit aus. Er muss als das »leere Hindurch der Vermittlung« sein Leben führen und sich zu dem bestimmen, was er ist. Quelle: Brockhaus-Enzyklopädie, 19. Auflage, Bd. 17, S. 248; Killy/Vierhaus (Hg.): Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd. VII, S. 694–695, München 1998. Ploetz, Alfred, deutscher Arzt und Rassenhygieniker, geb. 1860, gest. 1940. Zunächst praktischer Arzt, wurde er später Privatgelehrter und seit 1936 Titularprofessor. Seine Schulzeit verbrachte Ploetz in Breslau. Danach studierte er zunächst Nationalökonomie. Einer seiner Freunde war Ferdinand Simon, der spätere Schwiegersohn August Bebels. Wegen seiner sozialistischen Neigungen floh Ploetz als Folge des Bismarck’schen Sozialistengesetzes (1878–1890) 1883 in die Schweiz. In Zürich setzte er seine nationalökonomischen Studien fort. Nach kurzem Aufenthalt in Deutschland begann Ploetz sein Studium der Medizin. 1890 wurde er in diesem Fach promoviert. Im gleichen Jahr distanzierte sich Ploetz von seinen sozialistischen Idealen. Er gründete 1904 die Zeitschrift »Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie«. 1905 war er Initiator der Gründung der »Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene«. Seine Arbeit für die Zeitschrift wurde von Ernst Haeckel unterstützt, mit dem er befreundet war und regelmäßigen Kontakt hielt. Im Februar 1906 wurde er Mitglied in Haeckels Monistenbund. Im April 1933 schrieb Ploetz eine Ergebenheitsadresse an Adolf Hitler. 1936 wurde er von Hitler zum Professor ernannt. Ein Jahr später trat er in die NSDAP ein. Ploetz ist ein führender deutscher Vertreter des Sozialdarwinismus von rechts und des Rassismus. Er führte 1895 den – 234 –

Kurzbiografien

Terminus »Rassenhygiene« ein. Quelle: Jahn u. a. (Hg.): Geschichte der Biologie, Jena 1985, S. 718; Wikipedia, die freie Enzyklopädie. Portmann, Adolf, Schweizer Zoologe und Anthropologe, geb. 1897, gest. 1982. 1916 erwarb Portmann das Abitur in Basel und studierte anschließend an der hiesigen Universität Naturwissenschaften. Von 1921 bis 1922 setzte er seine Studien in Genf, von 1922 bis 1923 in München und Berlin fort. 1923/24 folgte ein Aufenthalt in Paris. 1921 promoviert, arbeitete er zwischenzeitlich in den marinen Laboratorien von Helgoland, Roscoff und Villefrance sur Mer. Bis 1925 als Unterassistent an der Zoologischen Anstalt in Basel tätig, wurde er 1926 Oberassistent, um noch im gleichen Jahr zu habilitieren. 1933 erfolgt seine Ernennung zum o. Professor an diesem Institut, das er bis zu seiner Emeritierung 1968 leitete. Die Bedeutung Portmanns ist in der Tatsache begründet, dass er den biologischen Horizont über das nur Messbare hinaus erweiterte. Seine Arbeitsgebiete umfassten die vergleichende Morphologie und Embryologie, Untersuchungen mit Wirbeltieren, Cerebralisationsstudien, anthropologische Forschungen und Biophilosophie. Um die Sonderstellung des Menschen zu belegen, hob er besonders hervor, dass der Mensch die zweite Hälfte seiner eigentlichen Embryonalzeit als »extrauterines Erstjahr« außerhalb des Mutterleibs verbringt. Ferner ging er von der Annahme aus, dass die Natur des Menschen nicht auf ihre Verwurzelung in seiner Naturgeschichte reduzierbar sei. Vielmehr ist diese nichtdualistisch mit seiner von ihm selbst geschaffenen soziokulturellen Natur verbunden, die anderen Gesetzmäßigkeiten folgt als seine animalische. Nicht zufällig wurde Portmann zum biologischen Gewährsmann der Philosophischen Anthropologie, wie sie von Arnold Gehlen und Helmuth Plessner entwickelt worden ist. Quelle: Hoffman u.  a. (Hg.): Lexikon bedeutender Naturwissenschaftler, Bd. III, Heidelberg und Berlin 1985, S. 170–171; Brockhaus Enzyklopädie, 19. Auflage, Bd. 17, S. 378. – 235 –

Anhang

Roux, Wilhelm, deutscher Anatom, geb. 1850, gest. 1924. Ab 1870 studierte Roux in Jena Naturwissenschaft und Medizin u. a. bei Ernst Haeckel. Er setzte seine Studien 1876 bei Rudolf Virchow an der Berliner Universität fort. Nach Staatsexamen (Straßburg 1877) und Promotion zum Dr.  med. in Jena wurde er Assistent am HygieneInstitut in Leipzig und 1879 in Breslau. Roux avancierte später zum a. o. Professor für Anatomie in Breslau (1886) sowie zum o. Professor für Anatomie in Innsbruck (1889) und in Halle (Saale) von 1895 bis 1921. Roux arbeitete u. a. über die Kausalfaktoren in der Morphologie und begründete die von ihm Entwicklungsmechanik genannte Entwicklungsphysiologie. Programmatisch für die neue Richtung wurde seine Schrift »Der Kampf der Teile im Organismus« (1881), in der er den Darwin’schen »Kampf ums Dasein« auf die intraorganismischen Zellen und Gewebe übertrug. Durch Analysen hochgradig funktionell bedingter Organgestaltungen gelang ihm der Nachweis einer Physiologie der Formbildung. Berühmt wurde Roux durch Experimente am sich entwickelnden Froschkeim. Auf ihnen gründet das Programm einer »Entwicklungsmechanik des Embryo« (1885). Die Bedeutung Roux für die Biologie besteht in der Begründung eines experimentellen biologischen Konzepts. Damit wurde sein Werk zum Ausgangspunkt der modernen Biologie. Quelle: Brockhaus-Enzyklopädie, 19. Auflage, Bd. 18, S. 600; Jahn u. a. (Hg.): Geschichte der Biologie, Jena 1984, S. 726; Hoffmann u. a. (Hg.): Lexikon bedeutender Naturwissenschaftler, Heidelberg und Berlin 1885, S. 224–225. Schallmayer, Wilhelm, deutscher Arzt, geb. 1857, gest. 1919. Schallmayer studierte zunächst Rechtswissenschaft und Philosophie, wandte sich dann aber dem Studium der Medizin zu. 1886 wurde er an der Münchener Universität promoviert. Anschließend bildete er sich für Urologie und Venerologie in Wien, Leipzig und Dresden weiter. Als Arzt praktizierte er in Kaufbeuren und Düsseldorf, später ein Jahr als Schiffsarzt in China. Den Rest seines Lebens verbrachte er als Privat– 236 –

Kurzbiografien

gelehrter. Schallmayer interessierte sich in seiner Jugend für sozialistische Ideen und rechnete sich der politischen Linken zu, ohne jedoch einer sozialistischen Partei anzugehören. Später wandte er sich immer mehr rassenhygienischen Fragen zu. Gefördert von Ernst Haeckel, gilt Schallmayer als führender Vertreter des Sozialdarwinismus und der darauf fußenden Eugenik. Sein 1903 publiziertes Werk »Vererbung und Auslese im Lebenslauf der Völker« wird als programmatische Grundlage der »Rassenhygiene« im nationalsozialistischen Deutschland eingestuft. Quelle: Brockhaus-Enzyklopädie, 19. Auflage, Bd. 19, S. 274; Jahn u. a. (Hg.): Geschichte der Biologie, Jena 1985, S. 728. Schaxel, Julius, deutscher Biologe, geb. 1887, gest. 1943. Ab 1906 studierte Schaxel Biologie, Philosophie und Psychologie besonders bei Ernst Haeckel. 1908 wandte er sich meeressoziologischen Studien in Villefrance und Winnéreux zu. 1908–1909 studierte er in München bei R. Herwin, der sein Dissertationsthema anregte (Dr. phil. 1909 in Jena). 1910 Assistent und Kustos, betrieb er 1911 meeressoziologische Studien in Neapel. 1912 habilitierte er sich. Von 1914–1916 war Schaxel im Laboratorium der Jenaer Psychiatrischen Klinik tätig. 1916 zum a.  o. Professor in Jena ernannt, war er von 1918 bis 1933 Leiter der Anstalt für experimentelle Biologie. Dort hielt er Vorlesungen und führte Kurse über Allgemeine Biologie durch. Mit der Gründung der Zeitschrift »Urania« 1924 setzte Schaxels intensive populärwissenschaftliche Aktivität ein. 1933 wegen marxistischer Tätigkeiten entlassen, emigrierte Schaxel zunächst in die Schweiz. Er erhielt dann einen Ruf an das A.‑N.‑Severtzoff-Institut für Evolutionsmorphologie der sowjetischen Akademie der Wissenschaften. 1942 verfasste Schaxel den Aufruf »An die deutschen Professoren« und wirkte im Nationalkomitee »Freies Deutschland«. Quelle: Jahn u.  a. (Hg.): Geschichte der Biologie, Jena 1985, S.  728; Hoffmann u. a. (Hg.): Lexikon der bedeutenden Naturwissenschaftler, Bd. III, Heidelberg und Berlin 2003, S. 248–249. – 237 –

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Scheler Max, deutscher Philosoph, geb. 1874, gest. 1928. Scheler studierte Philosophie, Psychologie und Medizin in München und Berlin. In Jena wurde er von dem neuidealistischen Philosophen Rudolf Eucken promoviert. Die Habilitation folgte wenig später. In München habilitierte er sich um, verlor aber – wie schon in Jena – seine Dozentur wegen der angeblichen Anstößigkeit seiner Eheführung. Als Privatgelehrter arbeitete er dann vor allem in Berlin und Göttingen. Beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges nahm er zunächst eine nationale Position ein, entwickelte sich später jedoch zu einem Anhänger des dritten Weges zwischen dem Kapitalismus des Westens und dem Kommunismus bolschewistischer Provenienz. Aufgrund der Initiative des Kölner Oberbürgermeisters Konrad Adenauer erhielt er einen Ruf an die neu gegründete Kölner Universität. Als Direktor des Instituts für Sozialwissenschaften beteiligte sich Scheler am Aufbau der Soziologie. Vor allem aber hat er viele Richtungen der Gegenwartsphilosophie, besonders der Anthropologie, der Ethik und der Religionsphilosophie, beeinflusst. Seine phänomenologischen, von Husserl geprägten Analysen wirkten aber auch auf Theologie, Soziologie und Psychologie ein. Mit seiner Schrift »Die Stellung des Menschen im Kosmos« (1828) gilt Scheler neben Helmuth Plessner als Begründer der Philosophischen Anthropologie. Kurz nach Antritt seiner Professur in Frankfurt am Main 1928 verstarb er. Quelle: Brockhaus Enzyklopädie, 19.  Auflage, Bd.  19, S. 317–318; Killy/Vierhaus (Hg.): Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd. VIII, München 1998, S. 591. Spencer, Herbert, englischer Philosoph, Biologe und Soziologe, geb. 1820, gest. 1903. Er arbeitete als Hilfslehrer, Eisenbahningenieur, Mitherausgeber des »Economist« und freier Schriftsteller. Innerhalb der Chartistenbewegung setzte er sich für das allgemeine Wahlrecht ein. Spencer insistierte in seinen Schriften auf der Anwendung naturwissenschaftlicher Methodik und Erkenntnis für – 238 –

Kurzbiografien

philosophische Untersuchungen. Neun Jahre vor Darwin entwickelte er unter dem Einfluss Lamarcks eine organizistische Evolutionstheorie in seinem Werk »Social Statistics« (1851). Als begeisterter Anhänger des Darwinismus glaubte er, das Evolutionsprinzip in allen Wissenschaften, also auch auf die Gesellschaft, anwenden und diese dadurch zu einem »System synthetischer Philosophie« vereinigen zu können. Spencer übte einen erheblichen Einfluss auf die Entwicklung der Soziologie im 20. Jahrhundert aus. So prägte er nicht nur den Begriff »Überleben der Geeignetsten«, sondern wandte zum ersten Mal auch den Terminus »Evolution« im Sinne einer Höherentwicklung an. Quelle: Brockhaus-Enzyklopädie, 19.  Auflage, Bd.  20, S.  634–635; Jahn u.  a. (Hg.): Geschichte der Biologie, Jena 1985, S.  736; Hoffmann u.  a. (Hg.): Lexikon der bedeutenden Naturwissenschaftler, Heidelberg und Berlin 2003, S. 736. Tandler, Julius, österreichischer Arzt und sozialdemokratischer Politiker, geb. 1869, gest. 1936. Tandler lernte in Wien bereits in seiner Jugend das ganze Elend der Industrialisierung kennen. Er war 1810 Inhaber der Ersten Anatomischen Lehrkanzel an der Universität Wien und in den Kriegsjahren 1914 bis 1917 Dekan der Medizinischen Fakultät. Am 9.  Mai 1919 erfolgte seine Bestellung zum Unterstaatssekretär und Leiter des Volksgesundheitsamtes. Im Jahr 1920 wechselte er vom Volksgesundheitsamt zur Stadt Wien, wo er als Stadtrat für das Wohlfahrts- und Gesundheitswesen in den nächsten Jahren vor allem für einen Ausbau der Fürsorge arbeitete. Tandler errichtete in Wien zahlreiche soziale Einrichtungen, z.  B. Mutterberatungsstellen, Säuglingswäschepakete oder Eheberatungsstellen, aber auch die erste Krebsberatungsstelle. Er engagierte sich besonders gegen die als »Wiener Krankheit« bezeichnete Tuberkulose. Im Zuge der Februarereignisse des Jahres 1934 wurde Tandler zwangspensioniert. 1936 erhielt er einen Ruf als Berater für – 239 –

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Krankenhausreformen nach Moskau. Eines seiner Hauptwerke ist das »Lehrbuch für systematische Anatomie«, das vier Bände umfasst (1918–24). Quelle: Wikipedia, die freie Enzyklopädie. Trockij, Lev, eigentlich Leib Bronstein, russischer Revolutionär und marxistischer Theoretiker, geb. 1879, gest. (ermordet) 1940. Nach der Spaltung der russischen Sozialdemokratie 1903 neigte er zunächst den Menschewiki zu, suchte aber dann zwischen diesen und den Bolschewiki zu vermitteln. In der russischen Revolution von 1905 bis 1906 nahm er von Oktober bis Dezember 1905 eine führende Rolle im Petersburger Sowjet ein. Nach dem Ausbruch der Februarrevolution kehrte Trotzkij im Mai 1917 nach Russland zurück und schloss sich im Juli den Bolschewiki an. Mit großer Energie und Beredsamkeit ausgestattet, stieg er schnell in die Führungsspitze der Bolschewiki auf. Nach seiner Ernennung zum Kriegskommissar im März 1918 baute er die Rote Armee auf. Im Bund mit Sinowjew und Kamenjew gelang es Stalin, Trotzkij zu entmachten. Nach seiner Absetzung als Kriegskommissar 1925 musste er 1926 das Politbüro verlassen. 1928 wurde er nach Kasachstan verbannt und 1929 aus der Sowjetunion ausgewiesen. Als Emigrant (zuletzt in Mexiko) setzte er seinen Kampf gegen Stalin unter der Devise »Verrat der Revolution« fort und veranlasste seine Anhänger, die »Trotzkisten«, zur Gründung der IV.  Internationale. Auf Anordnung Stalins wurde Trotzkij in Mexiko ermordet. Quelle: Brockhaus-Enzyklopädie, 19. Auflage, Bd. 22, S. 407. Virchow, Rudolf Ludwig, deutscher Pathologe, geb. 1821, gest. 1902. Virchow studierte Medizin in Berlin, wurde dann Assistent und Prosektor an der Charité. Von 1849 bis 1856 o. Professor für pathologische Anatomie in Würzburg und ab 1856 in Berlin, leitete er in der Reichshauptstadt das neu gegründete pathologische Institut. Er trat durch grundlegende Untersuchungen zur pathologischen – 240 –

Kurzbiografien

Anatomie hervor (u.  a. Geschwulstforschung, Entzündungslehre). Als Begründer der Zellularpathologie, die maßgeblich die Medizin und Biologie in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts beeinflusste, stand er zunächst der aufkommenden Bakteriologie (Robert Koch u. a.) skeptisch gegenüber. Virchow war ein Förderer und Vorkämpfer der Hygiene (Desinfektion, Kanalisation usw.). In seinen an­thropologischen Arbeiten unterliefen ihm schwere Einordnungsfehler, wenn er bestritt, dass der Pithecanthropos und der Neandertaler Typen einer alten besonderen Menschenform sind. 1862 wurde er in das preußische Abgeordnetenhaus gewählt. Bereits 1848 unterbreitete er Vorschläge zu einschneidenden sozialpolitischen Reformen. Virchow war einer der Begründer der Deutschen Fortschrittspartei (1861) und Gegner Bismarcks im preußischen Verfassungskonflikt. Anfang der 1870er-Jahre prägte er den Begriff »Kulturkampf«. Von 1880 bis 1893 war er Mitglied des Reichstags. Quelle: Brockhaus-Enzyklopädie, 19. Auflage, Bd. 23, S. 366f; Jahn u.  a. (Hg.): Geschichte der Biologie, Jena 1985, S.  747; Hoffmann u. a. (Hg.): Lexikon der bedeutenden Naturwissenschaftler, Bd. III, Heidelberg und Berlin, S. 394–396. Vries, Hugo de, niederländischer Botaniker und Genetiker, geb. 1848, gest. 1935. De Vries studierte Biologie an der Universität Leiden und promovierte dort 1870 zum Dr. phil. 1870 Assistent an der Universität Heidelberg, war er ab 1870 Oberlehrer in Amsterdam. Es folgte 1875 ein Studienaufenthalt in Würzburg und 1877 in Halle (Saale). Danach wurde er Lektor für Pflanzenphysiologie an der Universität Amsterdam. 1878 zum a.  o. Professor ernannt, hatte er ab 1881 die o.  Professur für Botanik inne. De Vries macht sich insbesondere durch seine Forschungen auf dem Gebiet der Genetik einen Namen. 1889 veröffentlichte er sein Buch über »Intracellulare Pangenesis«, in dem er sich mit den Theorien von Darwin und Weismann auseinandersetzt und seine eigene Vererbungstheorie entwickelt. Danach – 241 –

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werden erbliche Merkmale durch materielle, intrazellulare Partikel bestimmt, die sich selbstständig ernähren, wachsen und teilen. Seine umfangreichen Vererbungsstudien an Nachtkerzengewächsen führten ihn um 1900 zur Wiederentdeckung der Mendel’schen Regeln und zur Aufstellung seiner Mutationstheorie. Mit seinen Schriften zur Mutationstheorie vermittelte er der Evolutionsforschung neue Impulse. Quelle: Brockhaus-Enzyklopädie, 19.  Auflage, Bd.  23, S. 470; Hoffmann u. a. (Hg.): Lexikon bedeutender Naturwissenschaftler, Bd. III, Heidelberg und Berlin 2003, S. 408–409; Jahn u. a. (Hg.): Geschichte der Biologie, Jena 1985, S. 748. Weismann, August, deutscher Zoologe, geb. 1834, gest. 1914. Weismann studierte Medizin an der Universität Göttingen und praktizierte als Arzt in Rostock, Frankfurt am Main und Diez (Lahn). Ab 1860 wandte er sich im Rahmen eines Studienaufenthalts in Gießen der Zoologie zu. 1865 apl. Professor und 1867 a. o. Professor, war er von 1873 bis 1912 o. Professor für Zoologie an der Universität Freiburg (Breisgau) und Direktor des Zoologischen Instituts. Weismann arbeitete u.  a. über die Embryologie der Insekten und die Deszendenztheorie. Aus seiner Beschäftigung mit Charles Darwins Arbeiten entstanden die Vorstellung von der »potenziellen Unsterblichkeit der Einzeller« sowie die Keimplasmatheorie und der Neo-Darwinismus. Die Keimplasmatheorie besagt, dass multizellulare Organismen aus Keimzellen, die die Erbinformationen enthalten, sowie aus somatischen Zellen bestehen, die die Körperfunktionen ausführen. Die Keimzellen werden weder beeinflusst durch das, was der Körper lernt, noch durch irgendwelche Fähigkeiten, die dieser während seines Lebens erwirbt. Sie können somit diese Informationen auch nicht an die nächste Generation weiterreichen (Weismann-Barriere). Auf diese Weise entwickelte er die Theorie der Kontinuität des Keimplasmas und den Begriff der Keimbahn. Weismanns Innovation bestand darin, dass er Darwins – 242 –

Kurzbiografien

Selektionstheorie auf die Keimesentwicklung ausdehnte (»innere Selektion«). Einerseits führte dieser Ansatz zur Wiederentdeckung Gregor Mendels. Anderseits stellte er den Gegenpol zum Lamarckismus dar. Weismanns Hauptwerke sind: »Die Kontinuität des Keimplasmas als Grundlage einer Theorie der Vererbung« (1885) und »Das Keimplasma – eine Theorie der Vererbung« (1892). Quelle: Brockhaus-Enzyklopädie, 19.  Auflage, Bd.  23, S.  715; Jahn u.  a. (Hg.): Geschichte der Biologie, Jena 1985, S.  750; Hoffmann u.  a. (Hg.): Lexikon bedeutender Naturwissenschaftler, Heidelberg und Berlin 2003, S. 434–435. Woltmann, Ludwig, deutscher Anthropologe und Zoologe, geb. 1871, gest. 1907. Ludwig Woltmann praktizierte zunächst als Arzt und publizierte dann als Privatgelehrter. Er wird in der Geistes- und Ideologiegeschichte des 20. Jahrhunderts zusammen mit den Rassentheoretikern Gobineau, Chamberlain und Ploetz genannt, insbesondere in Bezug auf seine rassentheoretischen Gedankengänge. Seine Ideen wurden vor allem in der von ihm begründeten Zeitschrift »Politisch-Anthropologische Revue« (1902–1907) sowie in dem Buch von 1903, »Politische Anthropologie«, propagiert. Dieses und zwei weitere seiner Bücher hat Otto Reche 1936 in einer Zusammenfassung herausgegeben. Quelle: Jahn u. a. (Hg.): Geschichte der Biologie, Jena 1985, S. 753; Wikipedia, die freie Enzyklopädie. Wurm, Emanuel, deutscher Politiker (SPD, USPD), geb. 1857, gest. 1920. Nach dem Abitur in Berlin studierte Wurm, der jüdischen Glaubens war, von 1876 bis 1880 in Breslau Chemie. Er leitete Fabriken in Deutschland, Österreich und Russland und begründete 1888 den Konsumverein »Vorwärts« in Dresden. 1890–1893 war er Redakteur des sozialdemokratischen Tagesblatts »Volkswille« in Hannover, 1902–1917 der Wochenschrift »Neue Zeit«. Als Publizist popularisierte er für die Arbeiterschaft vor allem die Deszen– 243 –

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denztheorie Darwins. 1890–1906 und 1912–1919 gehörte Wurm dem Reichstag an. 1918/19 war er Staatssekretär im Reichsernährungsamt. Anschließend war er bis zu seinem Tod Mitglied der Weimarer Nationalversammlung. Ursprünglich Mitglied der SPD, leitete er gemeinsam mit Karl Kautsky »Die Neue Zeit« und unterrichtete auch an der Parteihochschule in Berlin. Im Streit um die Kriegskredite schloss er sich 1917 der neu gegründeten USPD an. Quelle: Killy/Vierhaus (Hg.): Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd.  10, München 1999, S. 599; Wikipedia, die freie Enzyklopädie.

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Anmerkungen

1 Als Beleg für diese Feststellung kann der Versuch Ernst Haeckels gelten, Darwins naturwissenschaftliche Evolutionstheorie zur Weltanschauung des Monismus auszuweiten. »So wie Haeckel es ursprünglich formuliert hat, ist der Monismus die einheitliche Weltanschauung, welche alle Erscheinungen aus einem und demselben Urgrunde ableitet und für alle ein und dasselbe Naturgesetz gelten läßt; im Gegensatz zum Dualismus, der behauptet, daß es zwei verschiedene Welten gibt und daß die Naturgesetze nur für die materielle Körperwelt gelten, nicht für die immaterielle Geisteswelt« (Kado 1909, S. 10). Zwar sei diese Weltanschauung noch in ihrem Anfangsstadium. Aber ihr Ziel stehe bereits jetzt fest: die Entstehung einer Menschheitsreligion, die allerdings im Gegensatz zum dualistischen Weltbild der katholischen Kirche stehe. »Erst wenn dieses Werk vollbracht ist, hat die entwicklungsgeschichtliche Biologie und die kosmische Entwicklungsgeschichte die rein materialistisch-mechanistische Weltanschauung überwunden und einer wahren monistischen Weltanschauung den Weg geebnet« (Kado 1909, S. 11). Dass ein solcher Ansatz, der »in seiner Anwendung [den] […] Gedanken des Animismus, der Naturbeseelung, bis ins Anorganische, bis zur Atomseele, ausdehnt« (Brunner 1913, S. 48), mit den Erkenntnisinteressen Darwins nichts mehr zu tun hat, liegt auf der Hand. 2 Der Umgang Kautskys und Spencers mit dem subjektiven oder kontraktualistischen Naturrecht kann hier nicht weiter diskutiert werden. Immerhin sei so viel angemerkt: Kautskys Annahme natürlicher, in der Evolutionsgeschichte des Menschen verwurzelter sozialer Triebe, mit der er seine Vergesellschaftungstheorie grundiert, verkennt, dass die Vertreter des individualistischen Naturrechts in diesem keine historische Konzeption wie die naturgeschichtliche Evolution Darwins verstanden, sondern ein Gedankenkonstrukt, dessen kritische Stoßrichtung sich delegitimierend gegen das Feudalsystem richtete. Und Spencer scheint zwar den Individualismus des Hobbes’schen »bellum omnium in omnes« mitsamt seiner Vertragskonzeption, wenn auch in modifizierter Form, in sein sozialdarwinistisches Selektionsprinzip einzubauen. Aber er ignoriert, dass die ursprünglich sich bekämpfenden Freien und Gleichen kraft ihrer Vernunft einen Vertrag eingehen, aus dem die Regeln fließen, innerhalb derer die Einzelnen kooperieren können. Ob ein solches Konstrukt mit dem Kausalitätsprinzip der Evolution vereinbar ist, ist zu bezweifeln.

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Anhang 3 In unserem Zusammenhang interessiert, welches Argument Kautsky der These Spencers der Individualisierung des Kampfes ums Dasein entgegensetzt. Oder anders formuliert: Was hält er der Hauptthese der sozialdarwinistischen Schule entgegen, der Untergang der Kultur sei absehbar, »wenn an die Stelle des Kampfes aller gegen alle der Kampf aller für alle, das bewusste Zusammenwirken gesetzt wird« (Kautsky 1884, S. 14). Kautsky geht in seiner Widerlegung Spencers aus von dessen Ansicht, »dass die tiefststehenden Wilden sich durch einen gänzlichen Mangel sozialen Zusammenhaltes von den anderen Stämmen unterscheiden«. Aber ihm entschlüpfe dabei das Wort »heruntergekommen«. Die isolierten Wilden seien also nicht zurückgeblieben, sondern heruntergesunken, »da sie von anderen Stämmen in Einöden vertrieben wurden, in denen sie nur kümmerlich ihr Leben fristen können und der Auflösung entgegen gehen« (Kautsky 1884, S. 14). Im Klartext bedeutet dies nach Kautsky, dass die Gesellschaftlichkeit der Wilden intensiver wird, je mehr sie an ihrer ursprünglichen Natürlichkeit festhalten können. Aber der gesellschaftliche Zusammenhalt nimmt in dem Maße ab, je mehr die indigenen Völker von der europäischen Kultur imprägniert werden. Er hält damit Spencers These, ohne das Konkurrenzprinzip sei Vergesellschaftung unmöglich, für widerlegt. »Wäre der soziale Zusammenhang wirklich das Ergebnis der steigenden Zivilisation, wie Spencer annimmt, dann müssten die sozialen Triebe bei den Angehörigen der europäischen Kultur viel stärker sein als beim Naturmenschen. Dies behauptet auch Spencer. In Wahrheit aber findet das Gegenteil statt« (Kautsky 1884, S. 14). 4 »Der philosophisch-biologische Materialismus aus der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, wie ihn Büchner, Moleschott und Vogt lehrten, war namentlich in Deutschland richtunggebend. Der Darwinismus wird ein Bestandteil außerwissenschaftlicher Vorgänge und erleidet Wandlungen, die mit seinem eigenen Gegenstand und Bereich nichts zu tun haben, aber doch darauf zurückwirken. Er wird zur Lebenslehre erweitert, die er nach Darwins Fragestellung nicht sein kann und will, und zur kritischen Abwägung seines Gehaltes kommt es nicht« (Schaxel 1924, S. 489f ). 5 Die Konsequenz des naturwissenschaftlichen Materialismus, so wurde befürchtet, laufe auf den Verlust der Sittlichkeit des Menschen hinaus. »Es gibt nämlich bei der SelectionsHypothese keine sittliche Bestimmung für den Menschen: denn woher soll diese kommen, wenn – wie man nach den Darwin’schen Grundsätzen annehmen muß – der Mensch nicht deshalb da ist, um irgend einen specifisch menschlichen Zweck zu erfüllen, sondern nur darum, weil seine (thierischen) Vorfahren im Kampfe ums Dasein den Mitbewerbern glücklich überlegen waren? Das Gewissen ist nach dieser Hypothese nur ein zufälliges Product der gesellschaftlichen Triebe, die ihrerseits selbst wieder nur zufällig sich entwickelt haben. […] Es gibt für den Darwinismus keine objectiv gültige sittliche Norm, denn sonst müsste es auch eine sittliche Bestimmung geben« (Stauracz 1897, S. 58). 6 Bereits 1877 stellte Virchow auf der 50. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in München fest: »Ich will nicht behaupten, dass die ganze Rasse so gut war, wie die paar Schädel, die übrig geblieben sind. Aber ich muss sagen: irgend ein fossiler Affenschädel, der wirklich einem menschlichen Besitzer angehört haben könnte, ist noch nicht gefunden worden« (Virchow 1877, S. 31).

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Anmerkungen 7 Das Problem, das Darwin schwer zu schaffen machte, war tatsächlich die unvorstellbar lange Zeitdauer, innerhalb derer sich das Evolutionsgeschehen abspielt: Ihre Resultate lassen sich daher nicht ohne Weiteres im Rahmen gängiger künstlicher Versuchsanordnungen reproduzieren. Insofern weist Rudolf Virchow zu Recht auf eine Schwachstelle der Evolutionstheorie aus naturwissenschaftlicher Sicht hin. Doch neuerdings weiß man, dass sich in kürzeren Zeiträumen abspielende evolutionäre Veränderungen durchaus einem experimentellen Zugriff zugänglich sind. 8 Auch dieses Desiderat ist konstitutiv für die Verifikation der Evolutionstheorie. Ohne den Aufweis von »missing links« ist der evolutionäre Gradualismus nicht zu halten. Doch 1861 war es so weit: »Der ›Urvogel‹ Archaeopteryx wurde gefunden. Er passte quasi zwischen Saurier und Vogel. Heute kennt man mehrere solcher Übergangsformen, z.  B. den Tiktaalik (zwischen Fisch und Vierbeiner) oder walartige Fossilien, die noch Hinterbeine haben. Archaeopteryx besitzt sowohl Sauriermerkmale (Zähne) als auch typische Vogelmerkmale (z.  B. das Gefieder). Er kann als ›connecting link‹ zwischen zwei großen Linien der Entwicklung (Saurier und Vogel) interpretiert werden« (Mikschi 2010, S. 73). Erleichtert konnte Darwin feststellen, beim Archaeopteryx handele es sich um einen »merkwürdigen Flieger […] mit langem eidechsenartigem Schwanz, einem Paar Federn an jedem Schwanzwirbel und mit Flügeln, die zwei mit Krallen versehene freie Finger aufweisen, im lithographischen Schiefer Solnhofens entdeckt« (Darwin 1963, S. 459). Ohne dadurch den Geltungsanspruch der Evolutionstheorie infrage zu stellen, gehen heute viele Experten davon aus, »dass der vermeintliche ›Urvogel‹ aus dem Solnhofener Plattenkalk kein direkter Vorfahre und Stammlinien-Vertreter sein kann, der einst unmittelbar zu den heutigen Vögeln führte. Vielmehr sehen sie das einstige Vorzeige-Fossil zusammen mit jüngeren Funden kleiner Saurier als Hinweis auf ein breites evolutionäres Übergangsfeld während der Jura-Zeit« (Glaubrecht 2011, S. 25). Zu dem Problem der Übergangsformen von Mensch und Affe, auf das sich Virchow bezieht, vgl. neuerdings Wagner u. a. 2007. 9 »Der Socialismus, die große Gefahr der Gegenwart, beweist, daß die Lehren Darwins nicht bloße Hypothese, über welche die Naturforscher streiten, geblieben sind. Das wäre hinzunehmen, wenn auch nicht zu billigen, weil diese Zunft nur einen verschwindend kleinen Teil der Menschheit repräsentiert und bei ihrem gesichert guten Einkommen keine Revolution macht. – Die gewaltige socialistische Partei hat aber die naturgemäßen Folgerungen aus dieser ganz unwissenschaftlichen Hypothese gezogen und verlangt jetzt, da es keinen Gott gibt, Abschaffung der weltlichen Autorität, der Regierungen von Gottes Gnaden; weder Kaiser noch Papst, sondern nur das Volk soll gelten. Da es keinen Himmel im Jenseits gibt und Vergeltung, so verlangen sie den Himmel auf Erden; kein Privateigentum, keinen Herren und keine Diener, kein Vorrecht eines Standes soll es geben, alles sei für alle gleich, wie im Thierreich. Keine Ehe, sondern ›freie Liebe‹; keine Familie, sondern öffentliche Kinderzucht; gleiche Arbeitspflicht für alle; kein Unterschied im Genusse; kein Vorrecht der geistigen Arbeit vor der physischen; keine Kunst, kein ideales Streben, sondern nur Sinnlichkeit; keine Religion, sondern nur Natur u. s. w.« (Stauracz 1897, S. 66f ).

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Anhang 10 »Nun, wo wir wissen, daß das Paradies nicht hinter, sondern vor uns liegt, wo wir uns nicht mehr auf ein ›besseres Jenseits‹ vertrösten lassen, strebt unser Denken und Handeln einzig und allein darauf hinaus, im Diesseits auf der Bahn der Entwicklung fortzuschreiten: danach zu streben, dass gesunde und leistungsfähige Menschen, bewußt ihrer Verantwortung der Mit- und Nachwelt gegenüber, leben und wirken, und daß alle Menschen in gleicher Weise durch eine sozialistische Gesellschaftsordnung ihres Anteils an den errungenen Kulturschätzen teilhaftig werden« (Graf 1921, S. 30). Dieses Ziel ist von dem der Freidenkerbewegung zu unterscheiden, die Ernst Haeckel auf einem Kongress in Rom zum Gegenpapst ausrief. Sie versuchte ebenfalls, im Sinne der Haeckel’schen Version der Deszendenztheorie Einfluss auf die sozialdemokratische Bildungsarbeit zu nehmen. Vgl. hierzu exemplarisch Anckenbrand 1906. Doch blieb das Verhältnis der Sozialdemokratie zu Haeckel gebrochen. Zwei Gründe sorgten für diese Distanz. Wie noch zu zeigen sein wird, lehnten ihre führenden Intellektuellen es ab, evolutionäre Prinzipien ein zu eins auf gesellschaftliche Konstellation zu übertragen. Ferner distanzierten sie sich von Haeckels antisozialistischer Auslegung des Selektionsprinzips, das per se antidemokratisch und aristokratisch strukturiert sei. Außerdem sahen sie das Ziel der Entwicklung der Arbeiterklasse darin, ihr die volle Partizipation am kulturellen Erbe der Menschheit zu ermöglichen. Die Freidenker, die sich auf Haeckel beriefen, gingen über dieses Ziel weit hinaus. In dem Maße, wie sie von Darwins Kausalitätsprinzip abwichen und erneut den Menschen teleologisch auf dem Wipfel des Stammbaums platzierten, war der Weg frei für transhumanistische Varianten, die quer zu den sozialdemokratischen Zielen einer Verbesserung der materiellen Lage der Arbeiterklasse standen. So verbanden die Freidenker mit der Evolution des Menschen das Ziel, diesen auf ein Niveau zu heben, welches die geistigen Gaben der heutigen Generationen ebenso hoch überragen werde, »›wie wir mit unserem Verstand den Infusorien [Aufgusstierchen, R. S.] überlegen sind, die als erste Bewohner unseres Planeten das Urmeer belebten‹ (Bunge)« (Anckenbrand 1906, S.  13). Aber diese Visionen eines »Übermenschen«, der nichts weiter ist als Ausfluss der von Haeckel in die Evolution des Menschen wieder eingeführten Teleologie, sind im Sinne des ursprünglichen Darwinismus unhaltbar, weil dieser vom Kausalitätsprinzip in der Biologie ausgeht. Haeckels Versuch, seine hierarchische Stammbaumtheorie durch die Embryologie zu bestätigen, ist gescheitert. Mit seiner These, die Embryologie sei ein Schnelldurchgang durch die Stufen der Evolution, »liegt er weitgehend falsch« (Mikschi 2010, S. 55). 11 Eine ähnliche Resonanz der Deszendenztheorie in den unterbürgerlichen Schichten ist offenbar in Großbritannien festzustellen. Jedenfalls weist Jenny Marx in ihrem Brief an Johann Philipp Beeker vom 29.  Januar 1866 darauf hin, »daß die ersten Männer der Wissenschaft, Huxley (Darwins Schule) an der Spitze, Charles Lyell, Bowring, Carpenter usw. […] in St. Martin’ Hall höchst aufgeklärte, wahrhaft kühne, freigeistige Vorlesungen für das Volk (geben)« ( Jenny Marx 1964, S. 510). Die englische Arbeiterschaft habe eine tiefe Sympathie für die Freidenker empfun-

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Anmerkungen den, welche versuchten, die Nutzanwendung ihrer Forschung dem Volk plausibel zu machen. Der Grund für dieses Interesse sei, dass die vermittelten Erkenntnisse »gegen die Pfaffen gerichtet« und »republikanisch« orientiert seien ( Jenny Marx 1964, S. 510). 12 »Das fortschreitende Wissen allein kann der Menschheit Glück und Zufriedenheit geben: wenn wir erkennen, was wir waren, vermögen wir auch zu begreifen, was wir sind. Und indem wir dann sehen, daß wirklich keine unüberschreitbare Schranke aufgerichtet ist, die der Menschheit verbietet, sich weiter zu entwickeln, immer mehr die Kräfte der Natur sich nutzbar zu machen und in brüderlicher gemeinsamer Arbeit die feindlichen Elemente zu fesseln, dann werden wir auch, wir Materialisten, der Menschheit gezeigt haben, daß diese Welt kein Jammerthal ist, sondern eine schöne Stätte für freudiges Schaffen und glückliches Genießen« (Wurm 1889, S. 119). 13 So stellte Friedrich Engels Darwin und Marx in seinem Entwurf zur Grabrede für den Letzteren auf eine Stufe: »Karl Marx war einer jener hervorragenden Männer, von denen ein Jahrhundert nur wenige hervorbringt. Charles Darwin entdeckte das Gesetz der Entwicklung der organischen Natur auf unserem Planeten. Marx ist der Entdecker jenes grundlegenden Gesetzes, das den Gang und die Entwicklung des menschlichen Geistes bestimmt, ein Gesetz, so einfach und einleuchtend, daß gewissermaßen seine bloße Darlegung genügt, um seine Anerkennung zu sichern« (Engels 1962, S. 333). Und in der Grabrede selbst heißt es: »Wie Darwin das Gesetz der organischen Natur, so entdeckte Marx das Entwicklungsgesetz der Geschichte« (Engels 1962a, S. 335). 14 1898 konnte Ernst Gystrow bereits feststellen: »Langsam aber unaufhaltsam ist die Evolutionstheorie allmählich in alle Disziplinen eingesickert, die überhaupt einer historischen Gestaltung fähig sind« (Gystrow 1898, S.  498). Es entstehe der Eindruck, »dass es ein größeres heuristisches Prinzip in der Wissenschaft niemals gegeben hat und kaum jemals geben wird« (Gystrow 1898, S. 499). Allerdings hatte schon damals die Ausweitung des Darwin’schen Evolutionsgedankens selbst auf die Geisteswissenschaften ihren kognitiven Preis: Man sah sich gezwungen, den Darwin’schen Fokus so auszudehnen, dass der ursprüngliche Ansatz der Evolutionstheorie nur noch reduziert zur Geltung kam. »Diese erweiterte Begriffsbestimmung wird demnach vor allem auch für die psychologische Entwickelungsgeschichte festzuhalten sein, wo wir mit der ›Vererbung‹, dieser terra incognita [also in ihrer vorgenetischen Fassung, R. S.] soweit es sich um Geistiges handelt, und ebenso mit der Zuchtwahl noch sehr wenig anzufangen wüssten« (Gystrow 1898, S. 503). In dieser Feststellung steckt eine Mahnung, welche die evolutionäre Forschung bis auf den heutigen Tat ernst nehmen sollte: Als wissenschaftliche Disziplin hat sie nicht nur auf die Deutungshoheit auch in anderen Disziplinen hinzuarbeiten, sondern sie muss sich auch der Grenzen ihrer Anwendbarkeit bewusst werden. Niemand hat dies besser begriffen als Darwin selbst, wie aus seinem Schreiben an Marx hervorgeht.

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Anhang 15 »Lamarcks Grundgedanke, daß sich die Entwicklung nur aus dem Lebensprozeß erklären lasse, hat sich fruchtbar erwiesen und erobert immer größere Gebiete der Lebenskunde zurück. Bei Darwin ist der Organismus etwas Passives, das zufällige Änderungen erfährt, soweit nicht auch von ihm das Lamarcksche Prinzip anerkannt wird. Dieses besteht darin, daß sich der lebendige Organismus aktiv der Umgebung anpaßt, indem er von seinen Bedürfnissen geleitet wird, diejenigen Organe zu üben, die ihm zur Befriedigung dieser Bedürfnisse dienlich sind und sie dadurch zu kräftigen, während die nicht mehr in Gebrauch genommenen Organe verkümmern. Die so erworbenen Eigenschaften vererben sich und werden von den Nachkommen dadurch verstärkt, daß diese in derselben Umgebung leben und daher dieselben Organe üben und weiter ausbilden. Auf diese Weise erklären sich die großen Verschiedenheiten im Bau der Organismen, die verschiedenen Formen und Richtungen der Organismen« (Eckstein 1909, S. 1). 16 An anderer Stelle schreibt Francé: »Denn die vielversprechende Zukunft des Lamarckismus ist schon mit den Händen zu greifen. Man darf ruhig behaupten: die Beseelungslehre wird die Naturforschung des 20. Jahrhunderts bestimmen und aus ihr werden auch dessen Weltbild, seine geistigen Kämpfe und kulturellen Zustände hervorgehen, so wie der Materialismus die Philosophie, Kultur und Politik des 19. Jahrhunderts bestimmte« (Francé 1907, S. 117). 17 Eine gute Einführung in den Neo-Lamarckismus hat Brunner 1913 vorgelegt. Sein Ausgangspunkt ist die Kritik an Darwins Selektionsprinzip und dessen Anwendung auf die Gesellschaft. »In dem Auslesegedanken spiegelt sich der Materialismus des 19.  Jahrhunderts: wie in allen großen geistigen Bewegungen ist alles gleichzeitig Ursache und Folge: Materialismus, Selektion und Kapitalismus, der den mörderischen Daseinskampf entfesselt hat, sind gleichsam Geschwister. Der konsequente Mechanist [also Anhänger des Darwin’schen Selektionsprinzips, R. S.] muß die Natur als ein ewiges Schlachtfeld betrachten, indem auch er immer ein Kämpfer sein muß, um sich zu behaupten, mag er auch noch so sehr versichern, daß der Kampf im Kulturleben mit den feinsten Waffen des Geistes geführt wird; wurde doch aus dem Darwinismus die Berechtigung zum Herrenmenschentum gefolgert« (Brunner 1913, S. 57). Demgegenüber umgeht der Neo-Lamarckismus das Selektionsprinzip als Faktor der Evolution. Er ersetzt Darwins Kausalitätsprinzip durch die Teleologie des »ununterbrochenen Aufwärtsstrebens und die Vervollkommnung des Lebens von der Amöbe bis zum Menschen« (Brunner 1913, S. 3), die durch Selektion vermittelte indirekte Anpassung durch direkte Erwerbung neuer Eigenschaften (Brunner 1913, S.  47), die Vernichtungskonkurrenz durch die gegenseitige Hilfe (Brunner 1913, S. 8), die Selektion durch das Bedürfnis nach Anpassung (Brunner 1913, S. 24) sowie die Mechanik kausaler Abläufe durch ein psychisches Element (Brunner 1913, S. 24), das selbst die Pflanzenwelt erfasst (Brunner 1913, S. 30). 18 »Lamarck war der erste, dessen Äußerungen über die Entstehung der Arten lebhaftes Interesse erregten. Dieser mit Recht gefeierte Naturforscher […] stellte die Lehre auf, daß die Arten mit Einschluß des Menschen von anderen Arten abstammten.

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Anmerkungen

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Ihm gebührt das Verdienst, zuerst auf die Wahrscheinlichkeit hingewiesen zu haben, daß alle Veränderungen sowohl der organischen wie der anorganischen Welt von Naturgesetzen und nicht das Produkt von Zufälligkeiten [im Sinne des Kreationismus, R. S.] im Entwicklungsgang seien« (Darwin 1963, S. 12). Aus Sicht der Lamarckisten machte Darwin folgende Zugeständnisse an Lamarck, »daß der Gebrauch der Organe umgestaltenden Einfluß auf sie hat, ebenso daß die Lebensverhältnisse unmittelbare Anpassungen nach sich ziehen; nicht minder aber auch der Grundgedanke der geschlechtlichen Zuchtwahl, der doch eine Wahlfähigkeit, also Urteilsfähigkeit der Lebewesen, voraussetzt« (Francé 1907), S. 62. Einer der bedeutendsten Wiederentdecker Lamarcks, der Zoologe August Pauly, formulierte diese Differenz folgendermaßen: »Es entsteht […] von vorherein in den Aufstellungen beider Theoretiker der große Unterschied, daß Darwin, indem er den Organismus seine Erwerbungen passiv gewinnen läßt, die Forschung von der Ergründung des aktiven Vermögens des Organischen abhält, ihr den Zugang zu diesem Problem durch seine den Wissenstrieb beruhigende Theorie verdeckt, während Lamarck, die Aktivität des Organismus vom ersten Augenblick an erkennend, der Forschung den Zugang zur Erkenntnis der organischen Leistungsfähigkeit aufschließt […]« (Pauly 1905, S. 55). Tatsächlich schwankt Darwin zwischen Zustimmung und Ablehnung der These Lamarcks, die erworbenen Eigenschaften seien vererbbar. Einerseits schreibt er: »Aus den […] erwähnten Tatsachen geht meines Erachtens unzweifelhaft hervor, daß der Gebrauch gewisse Teile kräftigt und vergrößert, während der Nichtgebrauch sie schwächt; und es geht ferner daraus hervor, daß solche Modifikationen erblich sind« (Darwin 1963, S.  191). Andererseits drückt er seine Verwunderung darüber aus, »daß bisher niemand den Fall der geschlechtslosen Insekten gegen die wohlbekannte Lehre Lamarcks von den ererbten Gewohnheiten vorgebracht hat« (Darwin 1963, S.  381). Dieses Oszillieren Darwins könnte dadurch mit bewirkt worden sein, dass er mit der Vererbungslehre Mendels nicht vertraut war. Gegen die Perfektionsthese Lamarcks gab Darwin zu bedenken: »Wenn aber nun alle organischen Wesen auf der Stufenleiter emporstreben, wie kommt es alsdann, könnte man fragen, daß auf der Erde noch eine Menge niedrigster Formen leben? Und wie kommt es, daß in jeder großen Klasse einige Arten höher entwickelt sind als die anderen? Warum haben nicht die höher entwickelten Formen überall die niederen ersetzt und vernichtet? Lamarck, der eine angeborene, unabänderliche Tendenz zur Vervollkommnung bei allen organischen Wesen annimmt, scheint diese Schwierigkeit so stark empfunden zu haben, daß er sich zu der Annahme veranlaßt sah, es würden fortwährend neue und einfache Formen durch Selbstzeugung (Generatio spontanae) hervorgebracht. Wie immer es die Zukunft damit halten mag: vorläufig hat die Wissenschaft diese Annahme nicht bestätigt« (Darwin 1963, S. 177f ). Und an anderer Stelle heißt es: »Die natürliche Zuchtwahl führt nicht notwendig zur absoluten Vollkommenheit, die nach unserer begrenzten Kenntnis überhaupt nirgends besteht« (Darwin 1963, S. 280).

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Anhang 23 »Ebenso falsch ist es, von einer Veränderung, etwa, wie man zu sagen pflegt, von einer Ein- oder Beschränkung des ›Kampfes ums Dasein‹ zu sprechen bei der ›künstlichen Zuchtwahl‹, welche gegenübergestellt wird der ›natürlichen Zuchtwahl‹. Ein grundsätzlicher Unterschied besteht zwischen diesen beiden Zuchtarten natürlich nicht. […] Hier wie dort siegen die Tüchtigsten über die weniger Tüchtigen, hier wie dort geben die Lebensverhältnisse einen Gradmesser für die Tüchtigkeit ab, nur dass bei den künstlich gezüchteten Tieren der Wille des züchtenden Menschen den in erster Linie bestimmenden Einfluss auf diese Lebensverhältnisse ausübt« (Pierre 1985, S. 93). 24 Für die Lamarckisten war die angebliche Krise der Darwin’schen Selektion eine bedeutsame Zäsur in der Geschichte der Naturerkenntnis. »Die Selektion ist jetzt ein versandeter und verlassener Lauf und der Strom der Erkenntnis hat sich ein neues Bett gegraben. Dadurch kam auch die an dem Selektionsarm errichtete und so lange klappernde Mühle des Materialismus um ihre Betriebskraft. Nicht lange mehr und sie hat nichts mehr zu mahlen« (Francé 1907, S. 58). 25 Programmatisch stellt Darwin fest: »Ich werde aber wenigstens erörtern, welche Umstände die Variation am meisten begünstigen. In dem folgenden Kapitel soll der Kampf ums Dasein der organischen Wesen der ganzen Erde betrachtet werden, der eine unvermeidliche Folge der großen geometrisch fortschreitenden Vermehrung ist – die die Lehre von Malthus auf das gesamte Tier- und Pflanzenreich angewendet« (Darwin 1963, S. 27). Da mehr Individuen existierten, als ernährt werden könnten, sei der Kampf ums Dasein unvermeidlich, »entweder zwischen Individuen derselben oder verschiedener Arten oder zwischen Individuen und äußeren Lebensbedingungen. Das ist die Lehre von Malthus mit verstärkter Kraft auf das ganze Tier- und Pflanzenreich angewendet« (Darwin 1963, S. 103). 26 Schon 1909 wies A. Lipsius in Anlehnung an Tschulok darauf hin, dass logisch zwischen Deszendenzlehre und Selektionstheorie unterschieden werden müsse, und zwar in dem Sinne, dass jener die Priorität gegenüber dieser zukomme. »In Darwins Vorstellung waren die beiden Teile seiner Lehre so innig verbunden, dass er bald geneigt ist, die Unsicherheit in der Begründung der Selektionstheorie auf die viel sicherer fundierte Deszendenztheorie zu übertragen und in anderen Fällen umgekehrt für die Selektionstheorie den Grad der Sicherheit und Beweiskraft in Anspruch zu nehmen, welche nur der Deszendenztheorie zukommt. […] Die Zuchtwahltheorie Darwins mag modifiziert werden oder fallen – die Abstammungslehre ist, und ihre Begründung durch die Tatsachen der vergleichenden Anatomie, der Embryologie, der Paläontologie und Tiergeographie bleibt das unsterbliche Verdienst von Charles Darwin« (Lipsius 1909, S. 525). 27 So konnte Alfred Adler 1908 feststellen, das »Gregor Mendel uns die Abhängigkeit der Veränderungen von der Verschiedenheit des Elternpaares und die Gesetzmäßigkeit der Vererbungsprinzipien [zeigt]« (Adler 1908, S. 426). Adler ließ keinen Zweifel daran, dass insbesondere die Vererbung von Krankheiten vor allem ein Problem des Industrieproletariats sei. »Die Schädigungen des Individuums: chronischer

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Anmerkungen Hungerzustand, dauernd schlechte, unzweckmäßige Ernährung, Überarbeitung, ein Übermaß seelischer Anstrengungen und Sorgen, frühzeitiger Arbeitsbeginn vor vollendeter Entwicklung, zittern in der Erbfolge nach« (Adler 1908, S. 429). 28 Die jüngste Studie zu diesem Thema hat vorgelegt Mocek 2002. Leider gelangte diese Arbeit dem Verfasser erst in der Endphase des Drucks seiner Untersuchung zur Kenntnis, so dass sie nicht mehr systematisch ausgewertet werden konnte. Dennoch sei eine klärende Anmerkung erlaubt. Mit dem Titel »Biologie als soziale Befreiung. Zur Geschichte des Biologismus und der Rassenhygiene in der Arbeiterbewegung« ist zugleich die Differenz der Forschungsgegenstände gekennzeichnet, die Moceks Untersuchung und der vorliegenden Studie zugrunde liegen. Mocek geht es um Variationen des »proletarischen Biologismus«, wie er sich im sozialistischen Diskurs in der Sozialhygiene und in der Eugenik brach. Die vorliegende Untersuchung ist demgegenüber auf die sozialdemokratische Rezeption der Darwinschen Evolutionstheorie fokussiert, die in Moceks Darstellung nur eine marginale Rolle spielt. Dieser Unterschied wird noch dadurch verschärft, dass Mocek von fließenden Übergängen zwischen zwischen der Darwinschen Entwicklungslehre und der Eugenik bzw. der Sozialhygiene durch die Übertragbarkeit evolutiver Schlüsselkategorien wie »Anpassung und Auslese, Kampf ums Dasein und Zuchtwahl als Entwicklungsfaktoren« (Mocek 2002, S. 91) auf die Gesellschaft ausgeht, während die vorliegende Studie systematisch zwischen der (kausalen) Deszendenztheorie und dem (teleologischen) Sozialdarwinismus als einem ideologischen Unternehmen unterscheidet. Aus dieser Differenz folgen die unterschiedlichen interpretatorischen Zugriffe auf das z.T. identische Quellenmaterial beider Studien. Vgl. auch das österreichische Beispiel bis 1934 bei Byer 1988 und für die Zeit von 1890–1933 in Deutschland Schwartz 1995, der eine materialreiche Studie zum Thema vorgelegt hat, die als Standardwerk gelten kann. Leider kann dies von Byers Untersuchung nicht gesagt werden. Es ist nicht der kritische Umgang mit bestimmten Traditionen der Sozialdemokratie, die das Defizit dieser Studie kennzeichnen. Kein Leser kann wollen können, dass die Historiografie der Arbeiterbewegung zur Hagiografie verkommt. Doch was man erwarten darf, ist eine faire Beurteilung der Akteure im zeitgenössischen Kontext. Aber genau daran mangelt es dieser Studie. Das methodologische Problem ist der weit gefasste, amorphe Machtbegriff Michel Foucaults, auf den sich die Verfasserin bezieht. Im Fokus der Verklammerung von Macht und Diskurs interessieren Byer nur die »reinen« Texte, die die eugenische Debatte artikulierten, nicht deren historische Einfärbung im zeitgenössischen Zusammenhang. Dieser strukturalistische Ansatz hat fatale Konsequenzen. Da das sozialdemokratische Machtdispositiv a  priori gesetzt ist, verblassen alle Facetten ihres Untersuchungsgegenstandes, die in der historischen Umwelt durchaus wirksam geworden sind. So unterscheidet die Verfasserin nicht zwischen linken Sozialdarwinisten und linker Darwin-Rezeption des marxistischen Zentrums mit ihren sehr unterschiedlichen Positionierungen zu Themen wie Eugenik und Rassenhygiene. Indem sie linksdarwinistische Positionen der Sozialdemokratie insgesamt zuordnet, kommt

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Anhang der Leser um den fatalen Eindruck nicht herum, als wolle die Autorin suggerieren, die Sozialdemokratie des Kaiserreichs und der ersten Republik in Österreich sei eine Vereinigung von Kryptorassisten gewesen. 29 Die Unvereinbarkeit des wissenschaftlichen Paradigmas der Evolutionstheorie mit dem Sozialdarwinismus schließt freilich punktuelle ideologische Abweichungen Darwins nicht aus. Sie weisen ihn als Kind seiner Zeit aus, das sich nicht immer den Fallstricken des hegemonialen Zeitgeistes entziehen konnte. So übertrug er in Anlehnung an Malthus das aus einer Knappheitssituation der bürgerlichen Marktgesellschaft resultierende Konkurrenzprinzip als »Kampf ums Dasein« umstandslos auf die gesamte organische Natur. Dem entspricht die Tendenz des Sozialdarwinismus, natürliche Prinzipien unvermittelt auf die Gesellschaft zu übertragen. Auch wenn sich bei Darwin dieser Schritt als Hypothese auslegen lässt, ist sie einem Anthropomorphismus geschuldet, der quer steht zur Reduktion der Entwicklung auf rein kausale Abläufe. Außerdem ist die Herunterstufung der Iren als eine – im Vergleich zu den Schotten – minderwertige Ethnie zu nennen, die sich im Gegensatz zu jener wie die Kaninchen vermehrten. Und schließlich konnte Darwin nicht immer der Versuchung widerstehen, ein »›ethnozentrisches Zerrbild‹ anderer Kulturzustände« (Vogel 2002, S. XXX), zumal der indigenen Völker, zu malen. »Diese Ideologien verletzen allerdings drei Prinzipien aus Darwins wissenschaftlicher Theorie der ›natürlichen Auslese‹ und sind daher mit dem biologischen Darwinismus genauso genommen überhaupt nicht vereinbar, auch wenn Darwin selbst in dieser Hinsicht keineswegs immer konsequent war« (Vogel 2002, S.  XXXIII). Vogel nennt drei Differenzen: 1. Die Sozialdarwinisten übertragen das Konkurrenzprinzip direkt vom Individuum (als Träger der Gene) auf kollektive Einheiten wie die »Rasse«, das Volk, die Nation oder die Klasse. »Die Selektion soll hier unmittelbar ›rassendienliches‹, ›volksdienliches‹ oder ›klassendienliches‹ Verhalten unabhängig vom individuellen Nutzen und Schaden, den dieses dem Akteur selbst einbringt, begünstigen« (Vogel 2002, S. XXXIII). Sie schreiben also dem Selektionsprinzip Wirkungen zu, die »Darwin selbst mit seinem Konzept der ›natürlichen Auslese‹ nicht erklären konnte« (Vogel 2002, S. XXXIII). 2. Darwin verbannte die Teleologie aus dem evolutionären Muster und ersetzte sie durch die Kausalität. Er stufte also die Vermehrung der »Bestangepassten« zu einem Resultat der natürlichen Selektion herunter. Die Sozialdarwinisten belassen es aber nicht bei dieser Feststellung; vielmehr erheben sie das Resultat eines kausal ablaufenden Prozesses zu einem ideologischen Ziel. 3.  Dieses ideologische Selektionsziel erlangt eine zusätzliche moralische Aufwertung, auf welches die Gesellschaft festgelegt wird, um deren Denken und Handeln im Sinne der rassistischen Vorgaben zu verändern. Es gilt dann die Maxime: »Wer im Sinne dieser ›natürlichen Selektionsziele‹ handelt, handelt biologisch und moralisch-sittlich richtig und gut« (Vogel 2002, S. XXXIII). Es lässt sich 4. eine zusätzliche Differenz hinzufügen: Darwin weitete das Selektionsprinzip auch in einem weiteren metaphorischen Sinn aus, das auch den Kampf einer Pflanze in der Trockenheit der Wüste um Feuchtigkeit mit einschließt. Vgl. Darwin 1963, S. 101, 109, 118.

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Anmerkungen 30 Darwin hat sich eindeutig gegen eugenische Maßnahmen gewandt: »Die Hilfe, die wir dem Hilflosen schuldig zu sein glauben, entspringt hauptsächlich dem Instinkt der Sympathie, die ursprünglich als eine Nebenform des sozialen Instinkts auftrat, aber in der schon früher angedeuteten Weise allmählich feiner und weitherziger wurde. Jetzt können wir diese Sympathie nicht mehr unterdrücken, selbst wenn unsere Überlegung es verlangte, ohne daß dadurch unsere edelste Natur an Wert verlöre« (Darwin 2002, S. 172). 31 »The natural ability […] is such as a modern European possesses in a much greater average share than men of the lower races. There is nothing either in the history of domestic animals or of that of evolution to make us doubt that a race of sane men may be formed, who shall be as much superior mentally and morally to the modern European, as the modern European is to the lowest of the Negro races. Individual departures from this high average level in an upward direction would afford an adequate supply of a degree of ability that is exceedingly rare now, and is much wanted« (Galton 1972, S. 27). Galton transformiert dieses Ziel eines »verbesserten Menschen« zu einem eugenischen Programm: »The processes of evolution are in constant and spontanous activity, some pushing toward the bad, some towards the good. Our part is to watch for opportunities to intervene by checking the former and giving free play to the latter« (Galton 1972, S. 41). Aufgabe vernünftiger Politik (»reasonable political action«) der Zukunft sei es, allmählich »the present miserably low standard of the human race to one in which the Utopias in the dreamland of philantropists may become practical possibilities« (ebd.) zu heben. 32 »Quantitative studies led Galton a little astray. They led his successors down to the present day much further astray. It seemed no great harm that Galton should assume in theory a simple scale for physical beauty, moral virtue, or mental ability. But it was a short way from here to noticing a practical point, namely that the Hottentot comes low on our scale and our friends and kindred come high. The measurement of merit, the quantitative as apposed the qualitative method of study, leads to simple assessments of superiority and inferiority. Hence it justifies simple policies of opposition, of exclusion and of oppression« (Darlington 1972, S. 18). 33 Gewisse gesellige Pflanzen, so Darwin, überlebten nur dort, »wo sie so günstige Lebensbedingungen finden, daß viele vereint bestehen und dadurch ihre Art vor gänzlicher Vernichtung bewahren können« (Darwin 1963, S. 110). 34 »Diese Form der Zuchtwahl hängt nicht von einem Kampf ums Dasein mit anderen Lebewesen oder äußeren Umständen ab, sondern vom Kampf zwischen den Individuen eines Geschlechts, gewöhnlich des männlichen, um den Besitz des anderen. Das Schlußergebnis für den erfolglosen Mitbewerber ist nicht dessen Tod, sondern eine geringe oder gar keine Nachkommenschaft. Die geschlechtliche Zuchtwahl ist deswegen weniger streng als die natürliche. Gewöhnlich werden die lebenskräftigsten Männchen, die ihrem Platz in der Natur am besten angepaßt sind, die meisten Nachkommen hinterlassen« (Darwin 1963, S. 131).

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Anhang 35 »Es sei vorausgeschickt, daß ich die Bezeichnung ›Kampf ums Dasein‹ in einem weiten metaphorischen Sinne gebrauche, der die Abhängigkeit der Wesen vonei­ nander, und was noch wichtiger ist: nicht nur das Leben des Individuums, sondern auch seine Fähigkeit, Nachkommen zu hinterlassen, mit einschließt. Mit Recht kann man sagen, daß zwei hundeartige Raubtiere in Zeiten des Mangels um Nahrung und Dasein miteinander kämpfen; aber man kann auch sagen, eine Pflanze kämpfe am Rande der Wüste mit der Dürre ums Dasein, obwohl man das ebensogut so ausdrücken könnte: Sie hängt von der Feuchtigkeit ab. Von einer Pflanze, die jährlich Tausende von Samenkörnern erzeugt, von denen im Durchschnitt nur eines zur Entwicklung kommt, läßt sich mit noch viel größerem Recht sagen, sie kämpfe ums Dasein mit jenen Pflanzen ihrer oder anderer Art, die bereits den Boden bedecken« (Darwin 1963, S. 101). In den arktischen Gebieten werde der Kampf ums Dasein »fast nur gegen die Elemente geführt« (Darwin 1963, S. 109). Und schließlich könne ein lebensfeindliches Klima dazu führen, dass der Kampf ums Dasein ganz aufhöre (Darwin 1963, S. 118f ). 36 »Wir halten, trotz Virchow die Deszendenztheorie für bewiesene Wahrheit […] und hören mit gesteigertem Erstaunen, daß sie eine ungemein bedenkliche Seite hat. Dieses Wort Virchows ist für alles, was reaktionär ist, Götterspeise. Die Deszendenztheorie bedenklich, gefährlich! Von einem Beweise dieser nicht noblen Beschuldigung bei Virchow, der so sehr auf die Wahrheit der Lehre hält, keine Spur. Er hat nur einige dunkle Andeutungen fallen lassen ›von ähnlichen Theorien – welchen? – im Nachbarlande‹ und hat seinen Zuhörern und Lesern das Problem hingeworfen, sich von der im Kopfe eines Sozialisten durch die Deszendenzlehrer angerichteten Verwirrung eine Vorstellung zu machen. […] Wenn die Sozialisten klar denken würden, so müssten sie alles tun, um die Deszendenzlehre zu verheimlichen, denn sie predigt überaus deutlich, daß die sozialistischen Ideen unausführbar sind« (Schmidt 1908, S. 91). 37 Freilich wird man Ernst Haeckel eine gewisse Selbstreflexivität bei der Übertragung biologischer Begriffe auf gesellschaftliche Sachverhalte und umgekehrt nicht absprechen können, die vielen seiner intellektuellen Gefolgsleute abging. Gegen Virchows Insinuation, der Darwinismus sei mitverantwortlich für die angeblichen Schrecken der Pariser Kommune, wandte er ein: »Übrigens möchten wir bei dieser Gelegenheit nicht unterlassen, darauf hinzuweisen, wie gefährlich eine derartige unmittelbare Übertragung naturwissenschaftlicher Theorien auf das Gebiet der praktischen Politik ist. Die höchst verwickelten Verhältnisse unseres heutigen Kulturlebens erfordern von dem praktischen Politiker eine so umsichtige und unbefangene Berücksichtigung, eine so gründliche historische Vorbildung und kritische Vergleichung, daß derselbe immer nur mit größter Vorsicht und Zurückhaltung eine derartige Nutzanwendung eines ›Naturgesetzes‹ auf die Praxis des Kulturlebens wagen wird« (Haeckel 1908, S. 69). Und er fährt fort: »Ich selber bin nichts weniger als ein Politiker. Mir fehlt dazu das Talent wie die Neigung und der Beruf. Ich werde daher weder in Zukunft eine politische Rolle spielen, noch habe ich früher jemals einen Versuch dazu gemacht. Wenn ich hie und da gelegentlich eine politi-

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sche Äußerung getan oder eine politische Nutzanwendung naturwissenschaftlicher Theorien gegeben habe, so besitzen diese subjektiven Meinungen keinen objektiven Wert« (Haeckel 1908, S. 69f ). Dieses Bekenntnis Haeckels erstaunt freilich, wenn er einige Absätze zuvor in seinem Text den biologischen Mechanismus der Selektion politisch als einen aristokratischen Vorgang klassifiziert. »In jener Zwangsgenossenschaft, wie sie der Socialismus verlangt, würden die Dirigierenden ihre persönlichen Vorteile mit nicht geringerer Selbstsucht verfolgen [als die Unternehmer unter Marktbedingungen, R. S.], und ihnen würde keine starke Vereinigung freier Arbeiter gegenüberstehen; ihre Gewalt würde durch keinen Streik gehemmt werden; und würde folglich wachsen und sich ausdehnen und sich befestigen, bis sie unwiderstehlich wäre. Das schließliche Ergebnis müsste […] eine Gesellschaft sein wie jene im alten Peru, wo (man kann sie nur mit Grauen betrachten) die Masse des Volkes auf das künstlichste eingeordnet war in Gruppen von 10, 50, 100, 500 und 1000 Leuten, die von Beamten entsprechender Grade regiert wurden und an ihre Scholle gefesselt waren, die im Privatleben wie bei der Arbeit überwacht und kontrolliert sich hoffnungslos abquälten: um die Beamten des Verwaltungsapparates zu mästen« (Spencer 1891, S. 30). Dass er trotzdem dem sozialdarwinistischen Lager zugeordnet werden muss, geht aus seinem organologischen Staatsverständnis hervor. »Die große Staatskasse muss gewissermaßen das Herz des staatlichen Organismus bilden, welches einerseits seinen befruchtenden und ernährenden Inhalt durch zahllose Kanäle in die Organe und Gewebe des staatlichen Körpers treibt und denselben andererseits aus ebenso vielen Kanälen und Adern wieder an sich saugt. Ohne das verhasste kommunistische ›Teilen‹ wird ein Zustand hergestellt, in welchem das schöne, öfter zitierte Wort ›einer für alle und alle für einen‹ zur Wahrheit wird« (Büchner 1894, S. 51). Immerhin konzedierte Büchner der Sozialdemokratie, »dass sie einerseits durch ihre Agitation eine große und wichtige Menschenklasse auf das Missliche und Unbefriedigende ihrer Lebenslage aufmerksam gemacht, und daß sie andererseits vielfache Anregung zur Besprechung und Inangriffnahme der sozialen Frage überhaupt gegeben hat. Dieses Verdienst wird auch ohne Lösung der sozialen Frage im sozialdemokratischen Sinne für die Herbeiführung einer besseren gesellschaftlichen Zukunft seine Früchte tragen« (Büchner 1894, S. 72). »Es ist völlig verkehrt, in dem Kampf ums Dasein die einzige, die alles beherrschende Kraft zu sehen, die die organische Welt gestaltet. Der Kampf ums Dasein ist die Hauptkraft, die das Entstehen neuer Arten erklärt. Aber Darwin selbst wusste ganz gut, daß noch andere Kräfte mitwirkten, die Formen, Gewohnheiten und Eigenschaften der Lebewesen zu gestalten. Namentlich in seinem späteren Werke ›Die Abstammung des Menschen‹ hat er ausführlich die sexuelle Zuchtwahl behandelt und dargelegt, wie der Wettkampf der Männchen um die Weibchen die bunten Farben der Vögel und der Schmetterlinge und die Singstimmen der Vögel hervorrief. Dort hat er auch dem gesellschaftlichen Leben ein Kapitel gewidmet. Viele Beispiele gibt darüber auch das Werk des bekannten Anarchisten Kropotkin Gegenseitige

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Hilfe als Faktor der Evolution. Die beste Darstellung des gesellschaftlichen Lebens findet sich in Kautskys Schrift Ethik und materialistische Gesellschaftsauffassung« (Pannekoek 1919, S. 27). So formulierte Herbert Spencer: »Anstatt der Selbstsucht der Unternehmerklasse und der egoistischen Konkurrenz soll die Selbstlosigkeit, die gegenseitige Hilfswilligkeit einziehen. Wie weit zeigt sich denn die Selbstlosigkeit jetzt schon in dem Betragen der Arbeiter gegeneinander? […] In solchen Bestimmungen entdeckt man noch keine Spur von jenem Altruismus, von dem die socialistische Gesellschaft erfüllt sein soll. Im Gegenteil, man sieht darin eine ebenso rücksichtslose Verfolgung des eigenen Vorteils, wie sie den Unternehmern vorgeworfen wird. Wenn wir nicht annehmen wollen, daß die Natur des Menschen sich plötzlich verändern wird, müssen wir daher schließen, daß die Verfolgung des Privatvorteils die Triebkraft bei allen Klassen der socialistischen Gesellschaft sein wird« (Spencer 1891, S. 25). »Kropotkin weist darauf hin, daß zuerst die russischen Schüler Darwins diesen Faktor der gegenseitigen Hilfe hervorhoben, und er führt dies darauf zurück, daß sie die beste Gelegenheit hatten, das Tierleben auf den weiten Steppen zu beobachten. Die Hauptursache wird jedoch darin zu suchen sein, daß in Russland die kapitalistische Konkurrenz, die in Westeuropa den Kampf von allen gegen alle zu einer jedem geläufigen Idee machte, noch nicht das Leben beherrschte und der Geist des Dorfkommunismus, der auf der gegenseitigen Hilfe beruht, die Vorstellungen der russischen Gesellschaftskreise noch stark beeinflusste. Der Mensch sieht immer die Natur durch die Brille seiner eigenen gesellschaftlichen Verhältnisse« (Pannekoek 1919, S. 27). Auch wenn Kautsky die Altruismusthese bereits vor Kropotkins Buch »Gegenseitige Hilfe in der Entwicklung« vertrat, stieß die Version des russischen Anarchisten keineswegs nur auf Zustimmung innerhalb der Sozialdemokratie. So heißt es in den »Sozialistischen Monatsheften«: »Ein alter Mann, während seines Londoner Aufenthalts, kam er noch einmal in Berührung mit der Zoologie. Darwins Formel vom Kampf ums Dasein schien ihm infolge ihrer Gewalttätigkeit viele Herzen verdorben zu haben und als Entwicklungsmittel der menschlichen Gesellschaft jedenfalls unbrauchbar zu sein. Als er daher in einer Broschüre eines russischen Zoologen die Bemerkung fand, gegenseitige Hilfe sei ebenso ein Naturgesetz wie gegenseitiger Kampf, jene aber für die fortschrittliche Entwicklung der Arten viel bedeutungsvoller, war er so begeistert, daß er (von der Richtigkeit dieser nachträglich von Bölsche und Kammerer bei uns popularisierten) Idee überzeugt, für eine englische Zeitschrift jene Serie von Aufsätzen zu schreiben begann, die 1908 unter dem Titel Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt als Buch bei Thoma in Leipzig erschien. Wissenschaftlich wertlos [Hervorhebung von mir, R.  S.], ist das Buch als letztes, bedeutendes Dokument seines Herzens sein ganzes Wesen kennzeichnend« (Koelsch 1921, S. 205f ) In seiner frühen Schrift »Der Einfluss der Volksvermehrung auf den Fortschritt der Gesellschaft« (1880) war Kautsky, wie Gustav Eckstein zu Recht betont, »ein streng-

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Anmerkungen gläubiger Anhänger der Lehre Darwins vom unerbittlichen und erbitterten Kampfe ums Dasein, den alle gegen alle führen; aber schon im ersten Jahrgang der bald darauf gegründeten ›Neuen Zeit‹ führt er in einer sehr interessanten Artikelreihe den Gedanken weiter aus, den Darwin bereits angedeutet hatte und der später auch in der Biologie und besonders der Psychologie wieder größere Bedeutung gewinnen sollte, daß eines der wichtigsten Hilfsmittel im Kampfe ums Dasein vieler Tierarten und besonders des Menschen der Zusammenhalt sei, das Solidaritätsgefühl. Diese Erkenntnis bildet auch die Grundlage von Kautskys späterer Schrift ›Ethik und materialistische Geschichtsauffassung‹. Aber auch hier lässt er die Voraussetzung des Darwinismus, die Lehre von dem durch Überbevölkerung hervorgerufenen Kampf ums Dasein, unangefochten« (Eckstein 1910, S. 488). Die Wende zum Marxismus schlug sich erst in seiner These nieder, dass viel wichtiger als die natürliche Umgebung für die Bevölkerungsfrage die von den Menschen selbst geschaffenen sozialen Milieus seien. Oder anders formuliert: »Es hat daher, wie Marx sagt, jede Wirtschaftsform ihr eigenes Bevölkerungsgesetz« (Eckstein 1910, S. 489). Diesen Paradigmenwechsel vollzieht er in seinem Buch »Vermehrung und Entwicklung in Natur und Gesellschaft« (1910). 46 Kautsky konnte sich mit dieser These unmittelbar auf Marx berufen. Im »Kapital« bezieht er sich auf die Naturwissenschaften nur in dem Maße, wie sie die Warenproduktion unmittelbar betreffen. Obwohl hochgradig an den Naturwissenschaften interessiert und als deren gründlicher Kenner nach den Aussagen Averlings und Liebknechts ausgewiesen, sind sie für sein System randständig, weil »er die Gesetze des Naturgeschehens für völlig verschieden hielt von denen des sozialen Geschehens und zu deren Feststellung den historischen Materialismus als vollkommen genügend erachtete« (Diner Dènes, 1907, S. 859). 47 »Die zusammengesetzten Organe einer Ameise sind ihr unveräußerliches Eigentum und mit Ausnahme der Ameisenarten, bei welchen die Sklaverei blüht, kämpfen alle anderen Ameisenarten nicht deswegen unter sich, um sich fremde individuelle Eigenschaften anzueignen und sie auszubeuten. Bei den Menschen aber bemächtigen sich die Mächtigeren der Maschinen und anderer Produktionswerkzeuge und gebrauchen sie in zweifacher Weise: erstens zur Produktion, d. h. zum Kampfe mit der Natur; zweitens zur Wahrung ihrer privilegierten Stellung, also nicht zum Kampfe mit der Natur, also zum Kampfe mit den Menschen, also zu solchen Zwecken, deren Resultate keineswegs die Entwicklung, sondern die Ausartung und öfters selbst der Untergang ganzer Arbeitergruppen ist, welche brotlos bleiben in Folge des eigennützigen Gebrauchs der Maschinen, die nur das Eigentum Einzelner sind« (Podolinsky 1879, S. 31). 48 »Die Bedeutung der künstlichen Umwelt überrage die der natürlichen. Kautsky spricht von einem Doppelcharakter der künstlichen Umwelt. Für die Anfänge der Technik nimmt er die Kapp-Noirésche Lehre der Organprojektion an; in diesem Stadium wurde in erster Reihe der menschliche Organismus nachgeahmt, der innere Mechanismus in die Außenwelt versetzt. Auch später gehören die Werkzeuge

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zum Menschen wie künstliche Organe. Gleichzeitig bilden sie aber einen Teil der Umwelt, die vom Menschen bewußt fortentwickelt wird, aber trotzdem von ihm in gewissem Maße unabhängig ist. Diese Umwelt, die, was die Arbeitsteilung und die Kraftentfaltung betrifft, den menschlichen Organismus weit übertrifft und vom Bedürfnis und der Kraft der Gesellschaft und nicht des Einzelnen abhängt, ist ein Werk des Menschen und zugleich eine Macht über die Menschen. Sie spielt die Rolle eines Zauberlehrlings. Haben je die Besitzer der Spinnmaschinen daran gedacht, daß diese zur Arbeiterschutzgesetzgebung oder zu einer wachsenden Kraftentfaltung des Proletariats führen werden?« (Ronai 1928, S. 237). »Geehrter Herr! Ich danke Ihnen für die Ehre, die Sie mir durch Übersendung Ihres großen Werkes ›Kapital‹ erwiesen haben. Ich wünsche von Herzen, daß ich der Gabe durch ein größeres Verständnis der tiefen und wichtigen nationalökonomischen Fragen würdiger wäre. Obgleich unsere Forschungsgebiete so verschieden sind, glaube ich, daß wir beide ernstlich die Ausbreitung des Wissens wünschen, und daß dies Wissen schließlich sicherlich zum Glück der Menschheit beitragen wird. Ich verbleibe, geehrter Herr, Ihr ergebener Charles Darwin« (zit. n. Aveling 1897, S. 753). Insbesondere Herbert Spencer wies nachdrücklich darauf hin, dass die Evolution gleichzusetzen sei mit dem »Weltgesetz, das im Himmel und auf Erden herrscht, das besonders in der organischen Welt herrscht, ganz besonders im Tier- und Menschenreiche. Kein Geschöpf, bis auf das einfachste und winzigste, beginnt sein Leben in der Form, die es nachher hat, und in den meisten Fällen ist die Verschiedenheit sehr groß, so groß, daß ein Zusammenhang zwischen der ersten und der letzten Form einfach nicht glaublich erschiene, wenn er nicht auf jedem Hühnerhof, in jedem Garten täglich beobachtet werden könnte. […] Und diese allgemeine Umwandlung, die gleichermaßen in der Entwicklung jedes Planeten wie in jedem Samenkorn, das auf der Oberfläche zu keimen beginnt, gilt auch für die menschlichen Gemeinwesen, ob man sie als Ganzes oder in ihren einzelnen Einrichtungen betrachtet« (Spencer 1891, S. 17). Auf den Klassenstandpunkt Spencers hat auch Gustav Eckstein zu Recht hingewiesen: »Nicht nur, daß Spencer entgegen den von ihm selbst betonten Grundsätzen das Eigentum als ethisch gerechtfertigt anerkennt, er erklärt geradezu, die freie Konkurrenz unter den Arbeitern für ein Gebot der Moral, während sie bei den Unternehmern durch Rücksicht auf das Wohl der anderen einzuschränken ist« (Eckstein 1925, S. 89). Im Anschluss an Leopold von Wiese schreibt Paul Kampffmeyer in den »Sozialistischen Monatsheften«: »Die Spencerschen Grundlagen reichen nur gerade zur Durchforstung der unzivilisierten Zustände aus. Spencer schaltet den wollenden Menschen aus seiner Soziologie aus. Der Mensch ist hohl und inhaltsleer. Nicht die umgebenden äusseren Verhältnisse allein formen den Menschen und die Gesellschaft, sondern der Mensch und die Gesellschaft gestalten die äusseren Verhältnisse. Die inneren Beziehungen werden nicht nur fortwährend den äusseren angepasst, sondern die äusseren werden den inneren angepasst« (Kampffmeyer 1906, S. 529).

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Anmerkungen 53 »Kann […] [mit Bezug auf Nägelis Lehre von der angeborenen Tendenz zur Vervollkommnung oder zur progressiven Entwicklung] von […] stark hervortretenden Variationen gesagt werden, sie seien just auf dem Wege des Fortschreitens zu einer höheren Entwicklungsstufe ausfindig gemacht worden? Im Gegenteil« (Darwin 1963, S. 292). 54 »Es muß für jeden geringen individuellen Unterschied ebenso eine wirkende Ursache geben wie für gelegentlich entstehende mehr ausgeprägte Veränderungen. Und wenn die unbekannte Ursache dauernd wirkte, so würden fast sicher alle Individuen der Art ähnlich abgeändert werden« (Darwin 1963, S. 286). 55 »Ob etwas oder jemand natürlich oder künstlich, lebend oder nicht-lebend, gesund oder krank, macht in allen unseren Handlungen und moralischen Bewertungen einen ganz entscheidenden Unterschied aus. Die teleologischen Konzepte der NanoMetaphysik verschleiern das zwar, indem sie die zugrunde liegenden Normen und Werte als naturgegebene Zwecke deklarieren, über die nicht zu diskutieren ist. Aber gerade in diesem metaphysischen Kunstgriff besteht gleichsam ein Großangriff auf unser Wertesystem, das wohlgemerkt niemals statisch war, sondern stets verhandelt worden ist« (Schlummer 2009, S. 110). 56 »Naturwissenschaftliche Argumente müssen in gesellschaftlichen Fragen fast immer zu verkehrten Schlüssen führen, denn die Natur bleibt im großen und ganzen während der Zeit der Menschengeschichte immer dieselbe, während die Formen der Gesellschaft in dieser Zeit rasch und stetig wechseln. Was die Gesellschaft bewegt und in der gesellschaftlichen Entwicklung eine Rolle spielt, kann sich nur durch das Studium dieser Gesellschaft selbst ergeben. Marxismus und Darwinismus sollen also jeder auf seinem eigenen Gebiet bleiben; sie stehen unabhängig nebeneinander und haben unmittelbar nichts miteinander zu tun« (Pannekoek 1909, S. 25). 57 »Hunderttausende von Jahren – in der Geschichte der Erde nicht mehr als eine Sekunde von Menschenleben – sind sicher vergangen, ehe aus dem Rudel baumkletternder Affen eine Gesellschaft von Menschen hervorgegangen war. Aber schließlich waren sie da. Und was finden wir wieder als den bezeichnendsten Unterschied zwischen Affenrudel und Menschengeschlecht? Die Arbeit« (Engels 1896, S. 549). 58 »Die Praxis des gesellschaftlichen Lebens, die Arbeit, ist die Urquelle, aus der Technik und Denken, Werkzeug und Wissenschaft emporwachsen und sich stetig vervollkommnen. Durch seine Arbeit hat sich der Affenmensch zum wirklichen Menschen emporgehoben. Der Werkzeuggebrauch ist die materielle Grundlage des ganzen großen Unterschieds, der sich zwischen dem Menschen und den Tieren immer mehr ausprägt« (Pannekoek 1909, S. 37) 59 Gleichzeitig ermöglicht der Gebrauch selbst gefertigter Werkzeuge unterschiedliche Entwicklungsgeschwindigkeiten der Organe. »In der Tierwelt findet auch eine stetige Entwicklung und Vervollkommnung der Organe statt. Aber diese Entwicklung ist an die Umänderung des Tierkörpers gebunden und findet daher mit der unendlichen Langsamkeit statt, die die biologischen Gesetze vorschreiben. Jahr-

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Anhang tausende gelten in der Entwicklung der organischen Welt nichts. Aber die Menschen haben sich aus dem Zwange dieser biologischen Gesetze befreit, indem sie die Entwicklung ihrer Organe auf tote Gegenstände außerhalb ihres Körpers verlegten. Die Werkzeuge können rasch umgebildet werden, die Technik schreitet mit einer Geschwindigkeit vorwärts, die im Vergleich zum Entwicklungstempo der tierischen Organe ungeheuer ist« (Pannekoek 1909, S. 39). 60 Pannekoek vertritt die These, mit der Entstehung der Werkzeuge und ihrer Nutzung zur Unterwerfung der äußeren Natur höre die weitere Umbildung des menschlichen Körpers auf. »Die Organe bleiben, was sie bis jetzt geworden waren, mit einer einzigen Ausnahme. Das Gehirn, das Organ des Denkens, musste sich mit den Werkzeugen zusammen entwickeln […]. Aber auch die Entwicklung dieses Organs hörte mit einer gewissen Stufe auf. Seit dem Anfang der Zivilisation wird die Funktion des Gehirns immer mehr von künstlichen Hilfsmitteln übernommen; die Wissenschaft wird in Büchern aufgespeichert. Unser Denkvermögen ist heute nicht wesentlich besser und höher als das der Griechen und Römer und vielleicht der Germanen; aber unser Wissen ist ungeheuer gewachsen, nicht am wenigsten dadurch, daß das Organ des Geistes durch seine künstlichen Stellvertreter, die Bücher, entlastet wurde« (Pannekoek 1909, S. 39). Diese These ist auch heute noch nachvollziehbar, aber sie wird problematisch, wenn Pannekoek sie mit dem Zusatz verbindet, der »Unterschied zwischen höheren und tieferen Menschenrassen (besteht) hauptsächlich in einem Unterschied des Gehirninhalts« (Pannekoek 1909, S. 39). Dieser Zuordnung ist gerade von sozialdemokratischer Seite heftig widersprochen worden. Insbesondere Hugo Iltis polemisierte gegen den von dem schwedischen Anthropologen Retezius behaupteten Zusammenhang von Schädelbau und Gehirnbau: Er sei die Erfindung rassistischer Ideologie und habe mit einer kritischen Anthropologie nichts zu tun. Vgl. Iltis 1931, S. 549–562. 61 Es ist bemerkenswert, dass selbst die revisionistischen »Sozialistischen Monatshefte« Artikel abdruckten, welche sich gegen den kulturellen Eurozentrismus wandten. Im Blick auf den Stand der deutschen Forschung über die indische Kultur heißt es: »Das Selbstbewusstsein des weißen Mannes auf Grund seiner Allgemeingültigkeit ist erschüttert und muß zerstört werden. Dann erst sind neue Grundlagen zu schaffen« (Salmony 1926, S. 537). Ähnlich kritisch wird die Erforschung der Kulturen Chinas bewertet: »Die maßlose Überschätzung des eigenen Lebenskreises in seiner geschichtlichen Bedeutung, wie sie für die Gruppe der […] Rassenfanatiker bezeichnend ist, beruht meistens auf einer sehr mangelhaften Kenntnis der außereuropäischen Kulturmächte, von denen vor allem die chinesische in den letzten Jahrzehnten ihre Autonomie gegenüber der europäisch-amerikanischen Machtkultur zu behaupten versucht« (Hodann 1928, S. 532). 62 »Der Nationalismus ist eine sehr ungeistige, ja geistfeindliche Erscheinung. Überall gefällt er sich ja darin, sowohl die Geltung der Moralgebote gegenüber anderen Völkern und selbst innerhalb des eigenen Volkes zu leugnen, als auch jede Anwendung von Vernunft zur Zügelung der die Welt verwüstenden nationalen Leidenschaften

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und zur Verbesserung der Gesellschaft zu bekämpfen. Insbesondere in Deutschland ist eine ganze Philosophie der Vernunftfeindschaft ausgebildet worden, die alles verhöhnt, was einst den höchsten Ruhm der deutschen Kultur gebildet hatte. Ein Hauptbestandteil dieses Nationalbarbarismus ist die sogenannte Rassenwissenschaft, die ganz besonders im Bereich des deutschen Nationalismus blüht« (Hertz 1932, S. 29). »Wer sich auf seinen eigenen Langschädel etwas einbildet, trotzdem die Wissenschaft festgestellt hat, daß Australier und Eskimos langschädlig, viele der bedeutendsten Dichter und Denker rundschädlig gewesen sind, der zeigt damit nur, daß ein Langschädel auch ein Hohlschädel sein kann. Der rassistischen Hypothese vom Primat des Langschädels ist durch die kritische Wissenschaft der Boden entzogen worden. Und ebenso brüchig erweist sich das ganze Fundament des Rassismus, auf das der Nationalsozialismus seine Ideologie aufgebaut hat« (Iltis 1931, S. 562). Kautsky sah das entscheidende Mittel gegen den Antisemitismus in der Bereitschaft der bedrohten Juden, sich der Sozialdemokratie anzuschließen und mit ihr für den Sozialismus und ihre vollständige Assimilation zu kämpfen, während er den Zionismus mit seinem Ziel der Errichtung eines jüdischen Staates in Palästina aus politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Gründen als Irrweg verwarf (vgl. Kautsky 1921, S. 105–108). Er teilte damit die Sichtweise vieler säkularisierter Juden vor 1933. Ob er an dieser Position nach dem Holocaust festgehalten hätte, ist eine interessante, aber nicht beantwortbare Frage. »Da die natürliche Zuchtwahl nur durch die Häufung kleiner aufeinanderfolgender günstiger Abänderungen wirkt, so kann sie keine großen und plötzlichen Modifikationen hervorrufen. Daher die Regel: ›natura non facit saltum‹ […]. Warum dies aber ein Gesetz der Natur sein sollte, wenn alle Arten unabhängig erschaffen wären, vermöchte niemand zu sagen« (Darwin 1963, S. 654). »Die Lehre vom Klassenkampf bedeutet, dass die menschliche Gesellschaft wie jeder andere lebendige Organismus nicht eine homogene Masse, eine gleichförmige Summe mehr oder weniger zahlreicher undifferenzierter Individuen ist, sondern eine Organisation, die sich aus verschiedenartigen und mit der steigenden Entwicklung immer mehr differenzierten Teilen zusammensetzt« (Ferri 1895, S. 67). »Als Prozesse der sozialen Umwandlung kommen in Frage: die Entwicklung, der Aufstand, die Revolution, die Gewalttätigkeit gegen Personen. Auch im Leben der Entwicklung der Tiere und Pflanzen finden sich diese vier Prozesse der Neugestaltung vertreten. So lange der Keim oder Embryo langsam an Volumen und Feinheit der Struktur zunimmt, handelt es sich um eine zusammenhängende allmähliche Entwicklung, die an einem gegebenen Punkte in einen Prozess der Revolution übergehen muss, wie er in der Zeugung, der Geburt, der Durchbrechung der Eischale u. s. w. gegeben ist: so kann es auch zu Bewegungen kommen, die einer Revolte analog sind, wie sich das vielfach in den Tiergesellschaften zwischen einzelnen Individuen zeigt, und schließlich finden sich auch Gewalttaten zwischen einzelnen Individuen vor, so beim Kampfe um den Besitz des Weibchens oder der Nahrung« (Ferri 1895, S. 131f ).

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Anhang 68 »Zwischen einzelnen Kapitalisten wie zwischen ganzen Industrien und ganzen Ländern entscheidet die Gunst der natürlichen oder geschaffenen Produktionsbedingungen über die Existenz. Der Unterliegende wird schonungslos beseitigt. Es ist der Darwinsche Kampf ums Einzeldasein, aus der Natur mit potenzierter Wut übertragen in die Gesellschaft. Der Naturstandpunkt des Tiers erscheint als Gipfelpunkt der menschlichen Entwicklung. Der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und kapitalistischer Aneignung stellt sich nun dar als Gegensatz zwischen der Organisation der Produktion in der einzelnen Fabrik und der Anarchie der einzelnen Produktion in der ganzen Gesellschaft« (Engels 1962d, S. 216). 69 Arnold Künzli stellt zusammenfassend fest: »Marx hatte erkannt, dass Darwin den Kampf ums Dasein nicht heilsgeschichtlich interpretierte. Während Darwin Natur und menschliche Kultur als getrennte Entitäten auffasste, charakterisierte er den Sozialdarwinismus, aus dem die moderne Eugenik hervorgegangen ist, dahin gehend, dass hier die Trennung von Natur und Kultur aufgehoben ist und die menschliche Kultur vom Biologischen abgeleitet wird. Zu dieser Kultur gehört aber das jeweilige Wirtschaftssystem, weshalb der eugenische Sozialdarwinismus als ideologische Biologisierung des vom Kapitalismus inaugurierten Klassenkampfes gedeutet werden kann. Das Gewinnstreben erhielt damit eine biologische Weihe: der Kapitalismus – ein Naturprinzip« (Künzli 2001, S. 35f ). Dass die Marxisten der deutschen und österreichischen Sozialdemokratie gegen eine solche Hypostasierung Sturm liefen, ist gezeigt worden. 70 »Darwin wußte nicht, welch bittere Satire er auf die Menschen und besonders auf seine Landsleute schrieb, als er nachwies, daß die freie Konkurrenz, der Kampf ums Dasein, den die Ökonomen als höchst menschliche Errungenschaft feiern, der Normalzustand des Tierreichs ist. Erst eine bewußte Organisation der gesellschaftlichen Produktion, in der planmäßig produziert und verteilt wird, kann die Menschen ebenso in gesellschaftlicher Beziehung aus der übrigen Tierwelt herausheben, wie dies die Produktion überhaupt für die Menschen in spezifischer Beziehung getan hat. Die geschichtliche Entwicklung macht eine solche Organisation täglich unumgänglicher, aber auch täglich möglicher« (Engels 1962c, S. 324). 71 Allerdings gibt es eine entscheidende Differenz zwischen Bauers und Kautskys Versuch, sich der Kompatibilität des Historischen Materialismus mit der Evolutionstheorie zu vergewissern. Den gravierenden Unterschied zwischen dem Forschungsgegenstand der Evolutionstheorie und dem des Historischen Materialismus sah Bauer darin, dass es sich um zwei verschiedene Ausformungen des »Daseinskampfes« handelt, auf die sich die beiden Ansätze beziehen. Im Mittelpunkt des Marx’schen Systems stehe »die umwälzende Praxis, die Selbsttätigkeit der menschlichen Gesellschaft in der Entwicklung ihres Daseinskampfes in der Natur. Dadurch erhebt sich seine Auffassung über die biologische; sie hat es nicht mehr nur mit dem Menschen als dem Geschöpf der Natur, sondern zugleich auch mit dem Menschen als Schöpfer seiner eigenen Daseinsbedingungen zu tun« (Bauer 1909, S. 174). Demgegenüber führt Kautskys naturwissenschaftlicher Positivismus

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Anmerkungen in eine Sackgasse, wenn er die Strukturmuster der gesellschaftlichen Entwicklung analogisierte mit der natürlichen Evolution, auch wenn er gleichzeitig die Unterscheidung zwischen den Arbeitsgebieten des Historischen Materialismus und des Darwinismus betont: Die Umwälzungen und der Stillstand in der Natur sollen von derselben Qualität sein wie Revolution und Konservatismus in der Gesellschaft. Dabei übersieht er nicht nur die Differenz der Zeitdimensionen beider Vorgänge in Natur und Gesellschaft: In der Natur hat man Umwälzung und Stagnation auf einer Skala zu vermessen, welche auf Millionen von Jahren zu berechnen sind, während gesellschaftliche Veränderungen in überschaubaren Zeiträumen stattfinden. Vor allem aber blendete Kautsky mit dieser Analogisierung den wichtigen Tatbestand aus, dass historische Veränderungen in der Gesellschaft immer auch auf die Praxis der Menschen bezogen bleiben. Bei aller Verklammerung mit ihrer naturalistischen Vorgeschichte sind es – im Gegensatz zu den Veränderungen in der Natur – Menschen als soziokulturelle Wesen, die ihre Geschichte zu verantworten haben. Diese Inkonsequenz scheint Kautsky in seiner Schrift »Vermehrung und Entwicklung in Natur und Gesellschaft« nicht bewusst geworden zu sein (vgl. Kautsky 1921). Die von ihm selbst als Marxist vertretene Ablehnung einer Übertragung natürlicher Prinzipien auf gesellschaftliche und historische Tatbestände der Gesellschaft ist auch unvereinbar mit der Formulierung im Erfurter Programm von 1891, »die ökonomische Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft führt mit Naturnotwendigkeit zum Untergang des Kleinbetriebs […]« (Münkel 1997, S. 371, Hervorhebung von mir, R. S.). 72 Kautskys Antwort auf die Befürworter einer sozialistischen Kolonialpolitik wie Bernstein, David oder van Kol war unnachgiebig. Er wies die These der Notwendigkeit einer kulturellen Bevormundung aufgrund der Unausweichlichkeit der kapitalistischen Entwicklung, welche durch den westlichen Imperialismus gefördert werde, als schlimme Fehlorientierung zurück. »Wenn das Proletariat in Europa und Normamerika die politische Macht erobert hat, wird es nicht vor der Frage stehen, ob es sozialistische Kolonialpolitik treiben soll oder nicht, ob die Kolonialvölker zur Selbstregierung reif sind oder nicht, ob es ihnen die Freiheit geben oder sie durch einen wohlwollenden Despotismus erziehen soll. […] Das Proletariat kann sich nicht befreien, ohne die gesamte Menschheit zu befreien. Darin beruht seine Größe, darin seine Anziehungskraft, die es zum Streben nach Emanzipation und zum Klassenkampf von seinem Beginn an für die größten und weitestblickenden Geister aller Klassen besessen hat. Das ist das Zeichen, unter dem es siegen wird« (Kautsky 1907, S. 78). 73 In seiner Replik bekannte sich Bernstein ausdrücklich zu einer sozialistischen Kolonialpolitik, deren Kern er in der historischen Mission sah, dass Europa die kulturelle Vormundschaft über die Nicht-Kulturvölker zu übernehmen habe. Er schrieb in den »Sozialistischen Monatsheften«: »Aber die Kolonialfrage ist viel mehr, als bloß eine Menschlichkeitsfrage. Sie ist eine Menschheitsfrage und eine Kulturfrage ersten Ranges. Sie ist die Frage der Ausbreitung der Kultur und, solange es große

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Kulturunterschiede gibt, die Ausbreitung oder, je nachdem, die Behauptung der höheren Kultur. Denn früher oder später tritt es unvermeidlich ein, dass höhere oder niedere Kultur auf einander stoßen, und im Hinblick auf diesen Zusammenstoß, diesen Kampf ums Dasein der Kulturen ist die Kolonialpolitik der Kulturvölker als geschichtlicher Vorgang zu werten« (Bernstein 1907, S. 989). Seine eigene Position fasste Schallmayer am Ende seines Aufsatzes noch einmal zusammen: »Nach meiner seit Jahrzehnten gehegten und erwogenen Überzeugung sind die Ziele sowie die Mittel und Wege der Sozialeugenik oder der Rassenhygiene zwar nur zum Teil identisch mit denen des Sozialismus und zu anderen Teilen verschieden; aber zur eifersüchtigen Gegnerschaft ist kein vernünftiger Grund vorhanden. Ich hoffe vielmehr, weitsichtigere Vertreter der sozialistischen Ideale werden finden, daß es nicht wohlgetan ist, die Bearbeitung dieser neuen Probleme solchen Männern zu überlassen, denen die sozialistischen Ideen und Ziele verwerflich erscheinen« (Schallmayer 1907, S. 740). Das einzig überzeugende Angebot, das man den Massen machen könne, sei eine eng gefasste Eugenik, die nicht mehr umfasse als die Bekämpfung erblicher Krankheiten, soweit erkennbar, Eheberatung, Empfängnisverhütung und im äußersten Fall künstliche Sterilisierung. Angesichts fehlender wissenschaftlicher Grundlagen entfielen überzeugende Gründe, sich zu den vagen Idealen der Rassenhygiene zu bekennen, vor allem dann, wenn der Preis »der Ablenkung der Massen von dem Kampfe gegen jene sozialen Umweltbedingungen« zu zahlen sei, »von denen wir tausendfach beweisen können, daß sie den Nachwuchs aller Erbqualitäten verderben«, sofern sie den proletarischen Nachwuchs betreffen (Stein 1932. S. 414). Ein Appell an die Massen könne nur ein milieugezielter, sozialhygienischer Appell sein: die Nachbarschaft zu rassenhygienischen Appellen nütze nur der Ausweitung des Agitationsspielraums der Nationalsozialisten (Stein 1932, S. 414). Diese Gefahr verkennt Gustav Radbruch, wenn er über die Arbeiten Oda Olbergs schreibt: »Mit der Rassenlehre ist bei der Erörterung nationaler und sozialer Fragen so oft reaktionärer Unfug getrieben worden, daß sie dem Sozialisten gründlich verdächtig geworden ist. Der Sozialist neigt dazu, unter Außerachtlassung der biologischen Persönlichkeit mit der Milieutheorie allen Schaden und alles Heil in der sozialen Umwelt zu suchen. Um so lebhafteres Interesse muß er an dem Buche einer Sozialistin nehmen, die sich mit Geist und Nachdruck der Rassentheorie annimmt, zumal wenn ihr Buch [»Die Entartung in ihrer Kulturbedingtheit«, München 1926] zugleich einen Beitrag liefert zu der gleichzeitig von so vielen Seiten in Angriff genommenen Kritik der Kultur und auch dabei zu verbreiteten sozialistischen Auffassungen in Widerspruch tritt: im Gegensatz zu dem unbedenklichen Kulturoptimismus, wie er im Vulgärsozialismus lebendig ist, weist Oda Olberg eindrucksvoll hin auf die rassenbiologischen Gefahren der Kultur« (Radbruch 1926, S. 302). »Wenn man in sozialistischen Kreisen nicht jene rassenhygienische Begeisterung aufbringt wie die bürgerlichen Rassenhygieniker, so hat das eben seinen Grund da­rin, daß für die Arbeiterklasse der Kampf gegen die Entartung ein Teil ihres

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Anmerkungen Kampfes um die Macht ist. Die rassenhygienischen Zwecke kommen vielfach gar nicht zum Bewusstsein, was um so begreiflicher ist, als sie ja gleichzeitig lebenswichtige Individualzwecke sind. Aber alles, was die Arbeiterschaft durch ihre wirtschaftliche und politische Organisation erstrebt, stellt die Grundlage für die biologische Hebung der Rasse dar, ja, es ist die eigentliche rasshygienische Tat unserer Zeit. Ohne höhere Löhne, geringere Arbeitszeit und bessere Wohnverhältnisse – die eben erkämpft werden müssen – ist das Wissen von hygienischen und rassenhygienischen Forderungen blutwenig wert. Je mehr die erste Grundlage gewonnen ist, um so mehr Raum erlangt die Belehrung von den Pflichten gegen die Rasse. Wem menschenwürdige Lebensbedingungen fehlen, der genügt seiner Elementarpflicht gegen die Rasse, indem er sie erringt« (Olberg 1906, S. 726f ). 78 »[…] on 9 May 1919 Tandler assumed a leading role in the republic’s new Volksgesundheitsamt. However, prior to that he had for years involved in issues of racial hygiene. On 7 March 1913 Tandler lectured before the Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene, making a clear entry from positive anatomical science into eugenic circles, although he had not joined the society. The text of his lecture was printed in his journal, and he delivered a lecture on a similar theme to the new Volksgesundheitsamt in 1920. In 1914, when Tandler launched the Zeitschrift für angewandte Anatomie und Konstitutionslehre […], the idea of an inherited constitution was viewed as shaping all aspects of metabolism, human anatomy, psychology. Tandler soon assumed the mantle of the visionary architect of the Vienna municipal welfare system. Although certain of his extreme comments, such as the sterilisation of the unfit, have gained prominence, it should also be noted that these link him more to radical sexology than to an exterminatory racial hygiene. In practice Tandler’s eugenic bark was worse than his bite when it came to preventing those considered of lesser value – the Minderwertigen – from procreating« (Weindling o. J., S. 90). Als Stadtrat für das Wohlstandswesen und als Unterstaatssekretär im Staatsamt für Volksgesundheit »Tandler concentrated on the delivery of benefits to mothers and kindergartens, as well as model housing schemes, as cures for the degeneration of society. This can be seen as a biological form of environmentalism« (a. a. O., S. 90f ). 79 Für Byer ist dieser Paradigmenwechsel bedeutungslos, weil er im Sinne Foucaults äußere Zwangsmaßnahmen lediglich in innere Zwangsmechanismen transformiert (vgl. Byer 1988, S. 144). Aber selbst wenn diese These zuträfe, bliebe immer noch die Frage zu klären, warum nicht schon in den ersten Republiken in Deutschland und Österreich, sondern erst unter der faschistischen Diktatur Hitler das »Gesetz zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses« am 14. 7. 1933 verabschiedet und exekutiert wurde. Auch kann Byer nicht erklären, warum in keinem der Parteiprogramme von SPD und SDP jemals Sozialhygiene und Eugenik auch nur erwähnt worden sind. 80 Es ist leicht, dieses engmaschige System der Fürsorge als sozialdemokratisches Machtdispositiv zu kritisieren. Doch die Sozialdemokratie, wollte sie sich nicht selbst aufgeben, musste auf die ungeheure Herausforderung des materiellen und psy-

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Anhang

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chischen Elends der Massen nach dem Ersten Weltkrieg reagieren. Man bediente sich zur Lösung dieses Problems der Sozialtechniken, die im zeitlichen Kontext als die fortschrittlichsten galten, wobei das marxistische Paradigma mit seiner kulturellen und ökonomischen Unterfütterung und seiner universalistischen Stoßrichtung als wichtiges Korrektiv diente, um die Differenz zu den sozialtechnischen Strategien des rechten Lagers betonen zu können. Nicht alles, was dergestalt im Roten Wien in Angriff genommen wurde, war perfekt. Aber gewiss ist: Die Alternative konnte aus Furcht vor der Anwendung von »Macht« nicht sein, die Verelendeten wie heute die Entwurzelten in den Favelas der südamerikanischen Städte verkommen zu lassen. »Beide Myrdals haben die NS-Verbrechen zwar kritisiert, aber eben u. a. mit dem Argument, dass die Nationalsozialisten die eigentlich sinnvolle Eugenik ›missbraucht‹ hätten. In diesem Zusammenhang fielen dann auch schon einmal Kennzeichnungen wie ›rassenhygienisch‹ und ›radikal aussortiert‹. Aber die Gleichsetzung von Begriffen und Bezeichnungen – hier die Myrdals und dort die Nazis – führt in die Irre. Man enthistorisiert damit die jeweiligen zeitkontextualen Inhalte […]. Denn: Nach dem Holocaust ist alles anders als vor ihm. Nach dem Holocaust war Abschied zu nehmen von dem durch die europäische Aufklärung geprägten Glauben an die humane Vernunft. Es stimmt eben nicht, dass die Menschen im Grunde rational und gut sein wollen und man ihnen helfen kann, es auch zu können. […] Aber das verbietet dann auch die interpretatorische Hilfskonstruktion, die von einem sozialdemokratischen Erbe sprechen lässt« (Grebing 2011, S. 164f ). So unterscheidet der Biologe Heinz Penzlin zwischen einer humanen Eugenik und einer exterminatorischen Variante. Die humane Eugenik maße sich nicht an, unter ideologischen Gesichtspunkten zu entscheiden, was lebenswert ist und was nicht. Aber sie sieht in der Gesundheit des Menschen, wie immer diese im soziokulturellen Kontext definiert sein mag, einen humanen Wert, der sowohl für das Individuum als auch für die Gesellschaft verbindlich ist. Wenn die technischen Möglichkeiten bestehen, Erbschäden zu vermeiden, hält sie es für human, dass die Eltern freiwillig von ihnen Gebrauch machen (vgl. Penzlin 2011). »Aber nur, wenn wir uns an die Irrtümer Darwins halten, statt anzuknüpfen an die großen Errungenschaften, zu welchen seine Lehre uns verhilft, wird der Darwinismus im gleichen Maße zur sittlichen, wie zur biologischen, ja zur kulturellen Gefahr. Wenn wir ihn hingegen in durchaus modernem Sinne fortbilden, dann wird es seine auf Malthus fußende Lehre gerade sein, die uns hilft, Malthus zu überwinden« (Goldscheid 1909, S. 104). »So wird heute immer stärker über die hohen Kosten und die schädlichen Wirkungen des Schutzes der Schwachen geklagt, ohne daß man sieht oder sehen will, daß der größte Teil des angeblich so kostspieligen und rassegefährlichen Schutzes der Schwachen in Wirklichkeit Schutz vor Schwächung ist. Betrachten Sie das Gros der sozialpolitischen Maßnahmen der bestehenden und noch mehr der geforderten: überall überwiegt weitaus der Schutz vor Schwächung. Und dieser ist Existenznotwendigkeit für unsere moderne Kultur, denn in die größten Industrien – man denke

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Anmerkungen

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nur an den Bergbau und viele andere – strömen gerade die kräftigsten Elemente der Bevölkerung ein. Werden diese nachhaltig geschädigt oder herrscht eine große Sterblichkeit unter ihnen, so haben wir die schlimmste Kontraselektion vor uns, die sich denken läßt« (Goldscheid 1909, S. 98f ). Goldscheid formulierte damit die Gegenthese zu den extremen Selektionisten: Wenn für die Weiterentwicklung des Menschen die tradigenetischen Werte hegemonial sind, bedarf es nicht der Ausmerzung, sondern des Schutzes der Schwachen: »Da die Schwachen de facto, trotz aller Phrasen der Selektionisten, gar nicht ausgemerzt werden und sich fortpflanzen, schädigen sie [die Selektionisten, R. S.] die Gesellschaft, und ein Schutz der Schwachen bedeutet mithin Schutz vor Schwächung der Gesellschaft. Das sei der Grundzug jeglicher bestehenden und noch mehr der tatsächlich geforderten sozialpolitischen Maßnahmen. Es sei die Aufgabe, neben der Deszendenztheorie eine ›Aszendenztheorie‹ aufzubauen, die uns die Entwicklungsmöglichkeiten, die Möglichkeiten unseres Aufstiegs erkennen lehren soll« (Lipsius 1910, S.  285). Dieser Ansatz konvergiert mit dem marxistischen Standpunkt insofern, als sich die von Goldscheid geforderte Aszendenztheorie mit dem Historischen Materialismus und der von ihm angeleiteten Politik der Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse für die sozial Schwachen in Übereinstimmung befindet. »Neben der Organisationshöhe spielen also bei der Spezies Mensch auch das Kapital objektiver Kultur und die geistigen Traditionen ein große Rolle. […] Für das Tier gilt in der Tat der Satz: omnia mea mecum porto. Die Stellung des Menschen in der Natur hingegen basiert, namentlich in der Gegenwart, in erster Linie auf der künstlichen Umgestaltung des Milieu, auf der Schöpfung eines Milieu, das auch die Selektion in eine für die Entwicklung unserer Art möglichst günstige Bahn lenken soll« (Goldscheid 1909, S. 86f ). August Weismann nahm, wie schon betont, den Kampf ums Dasein in die Determinanten der Eigenschaften innerhalb des sogenannten Keimplasmas, des Sitzes der Erbinformationen, zurück. Die spätere molekulare Genetik im Zeichen der DNA ist einen anderen Weg gegangen. In Verbindung mit den Mendel’schen Erbgesetzen dominieren zunächst bestimmte Eigenschaften in der befruchteten Eizelle. Die Selektion setzt erst nach der Geburt des organischen Wesens ein. Das Überleben von Eigenschaften hängt dann davon ab, inwiefern sie den Herausforderungen der Umwelt gewachsen sind. Gehlen schlägt vor, »mit dem Wort Kristallisation denjenigen Zustand auf irgendeinem kulturellen Gebiet zu bezeichnen, der eintritt, wenn die darin angelegten Möglichkeiten in ihren grundsätzlichen Beständen alle entwickelt sind. Man hat auch die Gegenmöglichkeiten und Antithesen entdeckt und hineingenommen oder ausgeschieden, so daß nunmehr Veränderungen in den Prämissen, in den Grundanschauungen zunehmend unwahrscheinlich werden. Dabei kann das kristallisierte System noch das Bild einer erheblichen Beweglichkeit und Geschäftigkeit zeigen […]. Es sind Neuigkeiten, es sind Überraschungen, es sind echte Produktivitäten

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Anhang

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möglich, aber doch nur in einem abgesteckten Feld und auf der Basis der schon eingelebten Grundsätze, diese werden nicht mehr verlassen« (Gehlen 1961, S. 11). »Ich exponiere mich also mit der Voraussage, daß die Ideengeschichte abgeschlossen ist und daß wir im Posthistoire angekommen sind, so daß der Rat, den Gottfried Benn den einzelnen gab, nämlich ›Rechne mit deinen Beständen‹, nunmehr der Menschheit als ganzer zu erteilen ist. Die Erde wird demnach in der gleichen Epoche, in der sie optisch und informatorisch übersehbar ist, in der kein unbeachtetes Ereignis von größerer Wichtigkeit mehr vorkommen kann, auch in der genannten Hinsicht überraschungslos, so wie auch auf dem Felde der Religion, und sind in allen Fällen endgültig« (Gehlen 1961, S. 13). »Für diesen ›Staatsmann des technischen Staates‹ ist dieser Staat weder ein Ausdruck des Volkswillens noch die Verkörperung der Nation noch das Gefäß einer weltanschaulichen Mission, weder ein Instrument der Menschlichkeit noch das einer Klasse. Der Sachzwang der technischen Mittel, die unter der Maxime seiner optimalen Funktions- und Leistungsfähigkeit bedient sein wollen, enthebt von diesen Sinnfragen nach dem Wesen des Staates. Die moderne Technik bedarf keiner Legitimität; mit ihr ›herrscht‹ man, weil sie funktioniert und solange sie optimal funktioniert. Sie bedarf auch keiner anderen Entscheidungen als der nach technischen Prinzipien; dieser Staatsmann ist daher gar nicht ›Entscheidender‹ oder ›Herrschender‹, sondern Analytiker, Konstrukteur, Planender, Verwirklichender. Politik im Sinne der normativen Willensbildung fällt aus diesem Raume eigentlich prinzipiell aus, sie sinkt auf den Rang eines Hilfsmittel für Unvollkommenheiten des ›technischen Staates‹ herab« (Schelsky 1961, S. 25). Heinz Penzlin weist darauf hin, dass es ein in der Naturgeschichte des Menschen verankertes aggressives Potenzial gibt. Kraft seiner überlegenen Intelligenz hat der Homo sapiens im Verlauf seiner Entwicklung keine von ihm abweichende Hominidenart geduldet (vgl. Penzlin 2011). Wer aber glaubt, dem Problem der »Verbesserung des Menschen« mithilfe einer exterminatorischen Eugenik beizukommen, erreicht das Gegenteil des vielleicht Intendierten: Er macht sich zum Agenten seines Aggressionstriebs mit technischen Mitteln und wirkt innerhalb seiner Art zerstörerischer, als dies jemals in der Tierwelt beobachtet werden konnte. Die Lösung des Problems kann nach allen historischen Erfahrungen nur darin bestehen, dass auf Bildung und Erziehung zurückgegriffen wird. Auf eine kurze Formel gebracht, wird man sagen können, dass die sozialdemokratische Formierung des Neuen Menschen im hier untersuchten Beobachtungszeitraum in diese Richtung verlief, wie die Position Max Adlers exemplarisch zeigt. »Die Naturwissenschaft ist sozusagen die Wissenschaft von dem, was außer uns ist, was nicht wir sind, also von dem in diesem Sinne Unmenschlichen. Selbst dort, wo sie den Menschen zum Gegenstand hat, sei es als Physiologie seinen Körper, sei es als zergliedernde Psychologie seine Seele, hat sie diese Objekte nicht in ihrer Bedeutung als menschlich-persönliche Wesenheiten, sondern als sachlich-unpersönliche Gegebenheiten. In der Naturwissenschaft kommt der Mensch überhaupt nicht vor;

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Anmerkungen die tätige, Ziele setzende, Werte prägende, Partei nehmende Aktion des Bewusstseins, was das eigentlich Menschliche ausmacht, erscheint erst, gleichsam wie eine neue Naturkraft in der Sozialwissenschaft« (Adler 1924, S. 33). 93 So heißt es in einem Aufsatz der »Sozialistischen Monatshefte«: »Die Liebesheirat, die [im Sozialismus, R. S.] an die Stelle der heutigen Geldheirat treten würde, ist die einzig mögliche menschliche Zuchtwahl. Sie würde die denkbar höchste Garantie für Erzeugung gesunder und geistig höher veranlagter Menschen bieten« (Frey 1898, S. 575). 94 Ganz in diesem Sinne schrieb Giuseppe Sergi in den »Sozialistischen Monatsheften« gegen den rassentheoretischen Polygenismus, den Gumplowicz vertrat. »Ich selbst bin Polygenist, aber mein Polygenismus gründet sich auf Tatsachen und Gesetze, die in der Zoologie gelten. […] Die weite Verbreitung der Geschlechter, die verschiedenen Lebensbedingungen, die verschiedenen Mischungen der Rassen haben eine Menge von Variationen hervorgebracht« (Sergi 1898, S. 565). Unter empirischen Gesichtspunkten würde man im Gegensatz zu Gumplowicz’ rassischer Homogenität als Beurteilungskriterium der Ethnien »sehen, wie aus einer einzigen Rasse verschiedene Varietäten entstanden sind, wie sich die einzelnen Gruppen bekämpfen, wie die einen zugrunde gingen, die anderen sich entwickelten« (ebd., S. 566).

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Personenregister Adler, Max*  178, 179

Cathrein, Viktor  24

Allen, Grant*  55, 95, 118, 120, 148

Chamberlain, Houston Stewart  101,

Anaxagoras 27

105, 107

Aristoteles  27, 126, 181

Aveling Edward*  27, 32, 33, 35, 95 117, 118

Cunow, Heinrich*  55, 82f, 83, 85, 86,

87, 88, 124, 125, 126, 127, 128, 131, 132, 133, 134

Cusa, Nikolaus von  28

Bacon, Francis  28

Cuvier, George Baron de*  18, 43

Bauer, Otto*  55, 97, 98, 99, 100, 103,

Correns, Carl  38

134, 135, 136, 156, 157, 180, 181, 183

Bebel, August*  40, 48, 53. 54, 55, 73,

Darwin, Charles Robert*  8, 11, 17, 19,

74, 150

21, 22, 23, 26, 27, 28, 29, 30, 31, 32, 33,

Bechtold, Klaus  29, 172

35, 37, 38, 40, 41, 42, 43, 44, 45, 46, 47,

Beer, Max*  55, 80, 81, 82, 111, 112

48, 49, 50, 51, 52, 53, 54, 55, 57, 58, 64,

Bernal, John Desmond*  174, 175, 176,

65, 66, 69, 72, 75, 76, 77, 78, 81, 82, 84,

177

87, 91, 95, 99. 105, 106, 114, 117, 121, 122,

Bernstein, Eduard*  55, 85, 93, 94, 95, 107, 137

128, 129, 130, 132, 134, 142, 162, 169, 170, 175, 182

Bismarck, Otto von  22, 64

Daudet, Alphonse  21

Borchardt, Bruno  77, 78

Dodel-Port, Arnold*  27, 33, 34, 35,

Bölsche, Wilhelm*  26, 27, 72, 79 Bosch, Franz  54, 55, 58

Dioskorides 27 38, 55

Brache, Tycho  28

Dowe, Dieter  156

Buckle, Henry Thomas  64

Dubois, Eugen  25

Bruno, Giordano  28

Büchner, Ludwig*  68, 69, 70, 71

Drucker, S.  50

Dühring, Eugen*  31

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Anhang Eckstein, Gustav*  33, 43, 44, 45, 46, 48, 49, 55, 64, 65, 163, 164

35, 38, 54, 55, 63, 64, 66, 67, 71, 72, 73, 78, 80, 95, 107, 113, 114, 115, 169, 170

Engels, Friedrich*  8, 11, 30, 31, 33, 40,

Haldane, John Burdon Sanderson* 174.

Eimer, Theodor  41

Haustein, Hans  33

48, 53, 90, 128, 129, 130, 167, 173

175, 176

Hegel, Georg Wilhelm  42, 122, 130,

Etzemüller, Thomas  145, 146, 147

168

Euchner, Walter  174

Heil, Reinhard  175

Faber, Klaus  14

Herder, Johann Gottfried  178

Fehlinger, H.  74, 75

Ferri, Enrico*  107, 113, 114, 115, 116, 117 Fichte, Johann Gottlieb  178 Fischer, Joachim  165

Hobbes, Thomas  170 Hodann, Max  33

Hoßfeld, Uwe  17

Humboldt, Alexander von  33, 34

Francé, Raoul Hermann*  43, 44

Huxley, Thomas Henry*  11, 32f, 63, 80,

Freyer, Hans  167, 168

95, 107

Galilei, Galileo  28, 54

Iltis, Hugo*  55, 102, 104, 105

Gehlen, Arnold*  164, 165, 166, 167,

Jacobi, Arthur  25, 84

Galton, Francis*  58, 105, 154 168

Junker, Thomas  17

Geoffroy Saint-Hilaire Étienne*  18 Geyer, Christian  8

Kammerer, Paul*  55, 151, 152

Goethe, Johann Wolfgang von  178, 181

Kautsky, Karl*  7, 19, 26, 29, 35, 36, 37,

Gobineau, Arthur de  105, 107

Goldscheid, Rudolf*  55, 140, 131, 152,

Kant, Immanuel  178

55, 71, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 82, 89, 95,

153, 154, 155

96, 97, 100 101, 102, 103, 116, 117, 130,

Grebing, Helga  13, 21

137, 138, 148, 149, 150, 169, 172, 173, 182

Graf, Engelbert*  25

Kepler, Johannes  28

Günther, Hans F.  107

Klotzbach, Kurt  156

Grottewitz, Curt*  33. 38, 39, 40, 51, 55

Haeckel, Ernst*  11, 19. 21, 22, 27, 28, 29,

Kidd, Benjamin*  85, 86, 87 Koelsch, Adolf  33 Koken, Ernst  41

– 274 –

Personenregister Kopernikus, Nikolaus  28

Nishikawa, Masao  137

Kühner, F.  47

Olberg, Oda*  138, 139, 140, 141, 148

Lamarck, Jean Baptist*  18, 19, 27, 28,

Pablo (Pseudonym)  42

Kropotkin, Peter*  71, 75, 89 Künzli, Arnold  58

Owen, Robert  178

31, 33, 43, 45, 46, 47, 48, 104, 163

Pannekoek, Anton*  21, 22, 55, 88, 89,

Langkavel, Ernst  19

80, 91, 92, 136, 137

Lankester, E.  95

Pearson, Karl*  84, 85, 120, 121, 138

Lapouge, Georges Vacher de  105

Pestalozzi, Johann Heinrich  178

Laplace, Pierre Simon de  128

Penzlin, Heinz  14, 38, 169, 172

Lessing, Gotthold Ephraim  178

Pierre, L.  46

Lévy-Strauss, Claude  95

Plessner, Helmuth*  20, 164, 165, 166,

Lipsius, A.  130, 131, 133, 134

167

Ploetz, Alfred*  105, 107, 140

Macdonald, James Ramsay*  111, 112

Polach, Johann  83, 84

Maderthaner, Wolfgang  14

Portmann, Adolf*  129, 164

Malthus, Thomas Robert*  31, 42, 48, 64, 65, 66, 74, 75, 148, 149

Marx, Karl*  8, 11, 12, 30, 32, 33, 40, 42, 53, 83, 99, 117, 122, 124, 125, 126, 127, 128, 129, 134, 135, 137, 149, 157, 181

Maßloff, P.  148, 149

Mehring, Franz*  50, 51, 55, 63, 64 Mendel, Gregor*  49

Mikschi, Ernst  35, 41, 74

Münkel, Daniela  29, 156, 172 Myrdal, Alva  146, 147

Myrdal, Gunnar  146, 147 Newton, Isaak  28

Nietzsche, Friedrich  166

Quist, August  63

Quessel, Ludwig  148 Redel, H.  173

Roeder, R.  183, 184

Ronai, Zoltàn  78, 79

Rousseau, Jean-Jacques  19

Roux, Wilhelm*  24, 42, 163 Saage, Richard  7, 14, 167, 175, 181 Sarrazin, Thilo  8, 107

Schallmayer, Wilhelm*  138, 139, 148 Schaxel, Julius*  20, 42, 182 Schelsky, Helmut  167

– 275 –

Anhang Scheler, Max*  164

Schiller, Friedrich  178 Schmidt, Oskar  63

Schwartz, Michael  144, 145 Slekow, Gustav  162

Spencer, Herbert*  11, 12, 19, 20, 24, 54, 63, 64, 68, 70, 80, 81, 95, 112, 113, 116, 117, 119, 171

Stalin, Jossif Wissarionowitsch  174

Stauracz, Franz  23, 24

Stein, Paul  105, 106, 107, 140, 141 Steinfeld, Thomas  147

Tandler, Julius*  141, 142, 143, 144, 148 Thesing, E.  51, 52

Thienel-Saage, Ingrid  14

Trockij, Leo*  174, 181

Vico, Giovanni Battista  32

Virchow, Rudolf*  22, 23, 66, 113 Vries, Hugo de*  41

Weismann, August*  42, 97, 130, 153, 163 Weiss, Otto  52 Wilhelm I.  66

Winkelmann, Johann Joachim  178

Woltmann, Ludwig*  105, 121, 122, 123, 124, 129, 134

Wurm, Emanuel*  27, 28, 29 Zimmermann, Walter  33

– 276 –

Sachregister Absolutismus 21

Bolschewismus, siehe Kommunismus

Aristokratie, siehe Adel

Bürgertum  21, 22

Adel  21, 69, 72, 73, 95

Bourgeoisie, siehe Bürgertum

Altruismus 161

Anarchismus 24

Anpassung, auch Adaption  52, 76, 81, 95. 82, 87, 113, 123, 130, 153, 169

Anthropologie  24, 70 161, 163, 164, 167, 169. 171, 182, 183, 184

Anthropologie, Philosophische  164,

Civil society, siehe Bürgerliche Gesellschaft

Darwinismus  9, 11, 12, 18, 21, 22, 26, 28, 33, 37, 38, 41, 51, 63, 68, 72, 73, 76, 77, 78, 91, 92, 99, 114, 121, 152, 179

166

Darwinismus von links  7, 12, 59, 107,

Anthropozentrismus 38

Antisemitismus  100, 101, 102, 103, 144, 182, 183

Antisemitismusforschung 102

111, 113, 114, 117, 117, 118, 121, 124, 25, 131, 136, 138, 148, 15o, 152, 154, 155

Darwinismus von rechts  7, 11, 12, 20,

59, 63, 78, 71. 75, 76, 79, 82, 86, 93, 95,

Antisozialismus 113

107, 120, 154, 169, 184

Arbeit  29, 30, 49, 69, 71, 90, 114, 115,

126, 127 129,135, 155, 156, 163, 168, 171,

Deszendenztheorie, siehe Evolutionstheorie

173

Diktatur des Proletariats  180

184

DNA  41, 44, 55

Arbeiterbewegung  9, 17, 53, 163, 179, Arbeiterbildungsvereine  55, 157, 163

Diskursanalyse 7

Artefakte, auch Kunstprodukte  29, 46, 86, 87, 88, 162, 173

Assimilation, organische  112 Aszendenztheorie  132, 154 Austromarxismus  97, 178

Egoismus  42, 70, 113, 169

Entfremdung 165

Erfurter Programm  29, 80

Erster Weltkrieg  7, 17, 32, 59, 100, 156, 157, 168, 169, 170, 184

– 277 –

Anhang Erziehung, auch Bildung  11, 13, 26, 27, 70, 84, 104, 143, 147, 150, 156, 157, 178, 179, 180, 181

Ethnie, siehe Rasse

Gesellschaftsbild  162, 163

Gleichgewicht  79,121, 133, 149 Gleichheit  93, 94, 114, 115, 126 Görlitzer Programm  156

Eugenik  57, 59, 105, 138, 139, 141, 144,

Gothaer Programm  156

145, 146, 154, 155

Gradualismus  112, 164

Eugenik, sozialistische  144, 145, 148

Eurozentrismus  12, 95

Heidelberger Programm  156

Evolution, gesellschaftliche  68, 85

Historischer Materialismus  11, 12, 30,

Evolution, kulturelle  71, 73, 125, 173,

36, 48, 53, 79, 99, 118, 121, 128, 129, 130,

174, 178

134, 135, 136, 161

Evolution, natürliche  37,78, 89, 90, 118,

Holocaust 182

Evolution, synthetische  55

Human Enhancement  7, 25, 180

119, 154, 175

Evolutionstheorie  9, 10, 11, 18, 19, 21, 19,

Homo sapiens  169, 174

21, 23, 24, 25, 26, 27, 29, 30, 3 31, 32, 33.

Imperialismus, siehe Kolonialismus

58, 59, 64, 66, 67, 69, 72, 81, 83, 94, 105,

Industriegesellschaft 166

34, 35, 36, 38, 40, 42, 50, 52, 53, 54, 57,

106, 113, 114, 116, 118, 129, 130, 131, 135, 137, 151, 154, 157, 161, 163, 165, 169, 170 Faschismus  156, 172, 177, 178, 182

Fortschritt  35, 37, 68, 84, 85, 113, 139, 168, 169

Französische Revolution  102

Frauenfrage 133

Freiheit  70, 80, 137 Fürsorge  142, 143

Industrielle Revolution  8 Indigene Völker  96

Individualisierung 73

Instinkte, soziale  38, 71, 84, 89, 96 Institutionen  165, 166, 167

Judentum  100, 101, 102, 182 Kaiserreiche  9, 19, 34, 56, 66, 95, 97, 183 Kampf ums Dasein  31, 34, 41, 45, 46,

50, 51, 67, 69, 70, 71, 73, 75, 76, 82, 85, 86, 90, 92, 94, 99, 101, 105, 106, 107,

Genetik, molekulare  55

111, 114, 116, 119, 120, 121, 123, 124, 126,

Gesellschaft, bürgerliche  12, 20, 30,

120, 130, 132, 133, 134, 136, 144, 150,

69, 70, 107, 116, 129, 136, 171, 178

152f, 155, 165, 168, 169, 178, 181

– 278 –

Sachregister Kapitalismus  36, 46, 82, 103, 114, 118,

Mensch-Tier-Vergleich  73, 74, 85, 88,

Kausalität  13, 28, 34, 48, 50, 77, 84, 87,

Militarismus 82

127, 136

122, 124, 130, 179

Keimplasma  42, 98, 103, 152

89, 90, 91, 93, 114, 123, 164, 167, 173

Mutation  40, 41

Klassenkampf  12, 21, 32, 83, 92, 107, 111,

Nationalsozialismus  20, 59, 140, 144,

Kolonialismus  12, 82, 96, 101, 130, 137,

Natur des Menschen, animalische  13,

Kommunismus  7, 84, 173, 174, 175, 177,

Natur des Menschen, soziokulturel-

Konkurrenz  42, 48, 49, 52, 65, 67, 68,

Naturalismus, biologischer  13, 24, 59,

113, 116, 140, 180

148, 156 180

71, 75, 81, 86, 92, 101, 103, 120, 121, 124, 126, 127, 129, 130, 136, 138, 16

Lamarckismus  11, 42, 43, 47, 48, 49, 50, 52, 78, 104, 152

Leib-Seele-Dualismus  30, 77, 162

146, 148, 178, 182, 183 80, 89, 135, 161, 171

le  13, 80, 89, 135, 161, 163, 167, 171

72, 85, 97, 98, 103, 127, 139, 161, 162, 164, 171, 183

Naturding  46, 86, 87, 88

Naturrecht, modernes  19, 177

Neuer Mensch  174, 175, 177, 178, 179, 180

Lernprozesse, biogenetisch  171

Lernprozesse, tradigenetisch  125, 162,

Öffentlichkeit, bürgerliche  71

Linzer Programm  156, 157, 173

Paläontologie 51

Malthusianismus  31, 74, 75, 140, 148,

PID 146

171

Pariser Kommune  51, 66

149, 150, 156

Marxismus  7, 29, 35, 36, 37, 47, 48, 59,

65, 71, 76, 88, 91, 13, 116, 117, 127, 130, 131, 167

Privateigentum  70, 83 Rasse  72, 95, 101, 102, 104, 105, 120, 127, 138, 156, 182, 184

Materialismus,  23, 48

Rassenauslese 98

Menschenbild  8, 10, 13, 25, 80f, 172, 177,

Rassendünkel 105

Mehrwert  127, 128 182, 184

Rassencharakter 127 Rassenhass 105

– 279 –

Anhang Rassenhygiene  12, 57, 59, 104, 139, 104,

Teleologie  28, 29, 35, 38, 39, 45, 72, 84,

Rassensubstanz 98

Transhumanismus 7

140, 141, 142, 144, 146, 155

Rassentheorien  12, 57, 72, 101, 102, 106, 140, 183, 184

87, 95, 122, 130, 180

Trieb, sozialer, siehe Instinkt

Rassenwahn  100, 146

Übermensch, siehe Neuer Mensch

Reform  70, 111, 150

Variabilität 47

Rassismus  57, 100, 144, 180, 182, 183 Revolution  12, 30, 36, 69, 79, 111, 112,

Varietäten  57, 153, 182

113, 167

Vererbungslehre  49, 54, 94, 103, 107,

Rotes Wien  142, 143, 145, 146

123, 125, 150, 151, 152, 174

Selektion, siehe Zuchtwahl

Völker, indigene  96

Schöpfungsglaube  151, 152

Selektionstheorie  11, 27, 34, 41, 42, 46,

48, 49, 50, 51, 52, 65, 78, 83, 85, 86, 106, 114, 130, 131, 133, 152, 154, 169

Social Engineering  153, 154

Volksheim 147

Weltbild, naturwissenschaftliches  35

Wettbewerb, siehe Konkurrenz Wiener Programm  29

Solidargemeinschaft  143, 172, 176

Wohlfahrtspflege 142

Sozialhygiene  58, 104

Sozialismus  36, 47, 53, 66, 67, 69, 71, 72,

Wohlfahrtsstaat  146, 155

73, 76, 77, 78, 84, 89, 103, 112, 113, 114,

Zentrum, marxistisches  111, 121, 125,

137, 145, 149, 165, 177, 180, 181, 182, 183

Zuchtwahl, geschlechtliche  65, 118, 174

116, 117, 118, 119, 120, 121, 131, 132, 136, Sozialpolitik  141, 145, 155f

Sozialstaat, siehe Wohlfahrtsstaat 

137, 150, 154, 155, 165, 179

Zuchtwahl, künstliche  153, 154

Zuchtwahl, natürliche  28, 37, 40, 41,

Spiritualismus  13, 25, 97, 98, 161, 164

43, 45, 46, 48, 64, 64, 84, 114, 115, 119,

Superstruktur  93, 168

120, 140, 153

Survival of the fittest  74, 82 Technik  90, 91, 92, 93, 123, 130, 133, 154, 165, 168, 178

– 280 –