Die Rezeption, Interpretation und Transformation biblischer Motive und Mythen in der DDR-Literatur und ihre Bedeutung für die Theologie [Reprint 2020 ed.] 9783110882131, 9783110137736

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Die Rezeption, Interpretation und Transformation biblischer Motive und Mythen in der DDR-Literatur und ihre Bedeutung für die Theologie [Reprint 2020 ed.]
 9783110882131, 9783110137736

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Marie-Elisabeth Lüdde Die Rezeption, Interpretation und Transformation biblischer Motive und Mythen in der DDR-Literatur und ihre Bedeutung für die Theologie

DE

Arbeiten zur Praktischen Theologie Herausgegeben von Karl-Heinrich Bieritz und Christian Grethlein

Band 4

Walter de Gruyter • Berlin • New York 1993

Marie-Elisabeth Lüdde

Die Rezeption, Interpretation und Transformation biblischer Motive und Mythen in der DDR-Literatur und ihre Bedeutung für die Theologie

Walter de Gruyter • Berlin • New York 1993

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. Die Deutsche Bibliothek —

CIP-Einheitsaufnahme

Lüdde, Marie-Elisabeth: Die Rezeption, Interpretation und Transformation biblischer Motive und Mythen in der DDR-Literatur und ihre Bedeutung für die Theologie / Marie-Elisabeth Lüdde. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1993 (Arbeiten zur praktischen Theologie ; Bd. 4) Zugl.: Greifswald, Univ., Diss., 1990 ISBN 3-11-013773-9 NE: GT

© Copyright 1993 by Walter de Gruyter & Co., D-1000 Berlin 30. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Werner Hildebrand, Berlin 65 Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, Berlin 61

Inhaltsverzeichnis 0.

Einleitung

1.

Die Struktur des mythischen Denkens — Versuch einer Definition Grundlegung Mythos als Ursprungsgeschichte Die Einheit von Subjekt und Objekt Die Begegnung mit numinosen Wesen Die Unterscheidung zwischen heilig und profan Die Verbindung mit einem Kult Abgrenzung des Mythos gegenüber Märchen, Sagen und Legende

1.1. 1.2. 1.3. 1.4. 1.5. 1.6. 1.7.

2. 2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5.

3.

Der Weg der Mythen von ihrer Herkunft aus archaischen Gesellschaften bis zu ihrer Ankunft in der Gegenwartsliteratur Schriftliche Fixierung — Allegorisierung — Historisierung Der Umgang des Alten Testaments mit den altorientalischen Mythen Mythische Strukturen im NT Geschichte der Mythendeutung Die Einwanderung der Mythen in die gegenwärtige Literatur Mythos und Offenbarung — die theologische Auseinandersetzung mit dem Mythos

1

5 5 11 15 21 24 29 32

36 36 39 45 53 56

62

VI

Inhaltsverzeichnis

3.1. Die Diskussion um Bultmanns Entmythologisierungsprogramm 3.2. Heinrich Fries 3.3. Paul Tillich 3.4. Wolfhart Pannenberg

62 67 72 75

4. 4.1. 4.2. 4.3.

Untersuchung wichtiger Texte der Gegenwartsliteratur. . 82 Franz Fühmann — Essays und Erzählungen 82 Peter Hacks — „Adam und Eva" und „Jona" 109 Stefan Hermlin — „Corneliusbrücke" und „Abendlicht" 122

5. 5.1. 5.2. 5.3.

Zentrale biblische Mythenmotive in der Literatur Das Paradiesmotiv Das Babelmotiv Das Kreuzmotiv

128 128 138 147

6.

Theologisch-ästhetische Überlegungen

155

Nachbemerkung

164

Literaturverzeichnis

169

0. Einleitung Diese Arbeit geht von einem theologischen Interesse an der Gegenwartsliteratur aus. Dabei richtet sich dieses Interesse auf die Verwendung biblischer Stoffe und Motive durch eine Literatur, die sich nicht als christliche versteht. Die interesseleitenden Fragen sind folgende: 1. Warum wurden biblische Motive in der DDR-Literatur so häufig verwendet, obwohl doch die biblischen und traditionell christlichen Kenntnisse bei den Lesern abnehmen? 2. Welche Rolle spielen biblische Motive in einem Text? Worin verändern, vertiefen oder konstituieren sie ihn? Wie werden sie selbst transformiert? 3. Worin liegen die theologischen Implikationen solcher Übernahme? Welche Angebote zum Dialog liegen darin? 4. Was bedeutet es, daß die biblischen Motive wie Mythen verwendet werden, also als zeitlose Menschheitsmodelle, die ebenso aus dem antiken Bereich wie aus der Bibel oder anderen Quellen entnommen werden? 5. Was bedeutet die Mythisierung biblischer Texte für die Bibel, die sich selbst anders verstehen muß, was für die Literatur, für den Leser? 6. Was ist Mythos überhaupt und woher rührt seine wachsende Faszination für die Literatur, aber auch für die Welt- und Lebensdeutung vieler Menschen? Zunächst untersucht diese Arbeit die Struktur des mythischen Denkens, um herauszufinden, was Mythen sind. Die Ansätze und Untersuchungen der Religions-

2

Einleitung

Wissenschaft bildeten hierfür die geeignete Grundlage. Es konnten so Grundkategorien erarbeitet werden, die sich bei der Literaturanalyse als hilfreich erwiesen, da sie ein äußerst unübersichtliches, kontrovers diskutiertes und verschwommenes Feld strukturierten. Die zunächst auftauchende Frage war: Was geschah mit den Mythen von ihrem Sitz in der archaischen Gesellschaft bis hin zu ihrer Verwendung in der Literatur? Daß hier ein radikal verändernder Prozeß stattgefunden hat, liegt auf der Hand. Aber wie kommt es, daß diese so verwandelten Mythen mindestens einen Teil ihrer kreativen Potenz behalten haben? Dies mußte untersucht werden, jedoch drückt diese erstaunliche Tatsache - ins Gleichnis gewendet - am besten eine Geschichte aus, die G. Scholem überliefert: „Wenn der Baal-schem etwas Schwieriges zu erledigen hatte, irgend ein geheimes Werk zum Nutzen der Geschöpfe, so ging er an eine bestimmte Stelle im Walde, zündete ein Feuer an und sprach, in mystische Meditationen versunken, Gebete und alles geschah, wie er es sich vorgenommen hatte. Wenn eine Generation später der Maggid von Meseritz dasselbe zu tun hatte, ging er an jene Stelle im Wald und sagte: ,Das Feuer können wir nicht mehr machen, aber die Gebete können wir sprechen', und alles ging nach seinem Willen. Wieder eine Generation später sollte Rabbi Mosche Leib aus Sassow jene Tat vollziehen. Auch er ging in den Wald und sagte: ,Wir können kein Feuer mehr anzünden, und wir kennen auch die geheimen Meditationen nicht mehr, die das Gebet beleben; aber wir kennen den Ort im Walde, wo all das hingehört, und das muß genügen.' Und es genügte. Als aber wieder eine Generation später Rabbi Israel von Rischin jene Tat zu vollbringen hatte, da setzte er sich in seinem Schloß auf seinen goldenen Stuhl und sagte:, Wir können kein Feuer machen, wir können keine Gebete sprechen, wir kennen auch den Ort nicht mehr, aber wir können die Geschichte davon erzählen'. Und - so fügt

Einleitung

3

der Erzähler hinzu - seine Erzählung allein hatte dieselbe Wirkung wie die Taten der drei anderen." 1 Das folgende Problem, das sich stellte, war die Auseinandersetzung der Theologie mit dem Mythos, die anhand einiger systhematisch-theologischer Ansätze untersucht wurde. Im 4. Hauptteil wurde Gegenwartsliteratur der DDR analysiert. Da es nicht möglich war, die gesamte DDR-Literatur seit 1949 zugrunde zu legen, geschah die Auswahl nach folgenden Kriterien: 1. Kinderliteratur und Lyrik wurden außer acht gelassen. Beides wäre einer eigenen Untersuchung wert. 2. Dramatische und belletristische Werke wurden nur berücksichtigt, wenn sie in den letzten 20 Jahren erschienen waren. Gerade in diesem Zeitraum allerdings fand sich für dieses Thema das Interessanteste. Es handelt sich hier also um eine Querschnittsuntersuchung, die die Entwicklung in der Verwendung biblischer Mythen außer acht läßt. Auch dies wäre aber lohnenswert zu bearbeiten. 3. Auch in dem anvisierten Zeitraum war es längst nicht möglich, alle Werke heranzuziehen. Das hätte den Rahmen dieser Arbeit bei weitem gesprengt. So sind wichtige Texte hier nicht zur Sprache gekommen. Trotzdem ist die präsentierte Auswahl nicht zufällig. Es handelt sich durchweg um Werke, die in der Literaturwissenschaft bearbeitet und durch die Literaturkritik besprochen wurden, die auch unter Lesern ein größeres Echo fanden, also um wichtige Werke der DDR-Literatur. Auch subjektive Momente spielten eine Rolle. Was die Organisierung des literarischen Materiales betraf, erwies sich ein doppeltes Herangehen als sinnvoll:

1

Scholem, G., „Die jüdische Mystik...", a.a.O, S. 384.

4

Einleitung

Im ersten Ansatz wurden von drei besonders wichtigen Schriftstellern jeweils mehrere Werke untersucht, von Fühmann ein großer Teil seines Gesamtschaffens. Fühmann erwies sich für dieses Thema überhaupt als eine Schlüsselfigur: 1. was die Stellung seines Werkes in der DDR-Literatur betrifft, 2. was seine grundlegenden Arbeiten zum Mythos und zur Bibel betrifft und 3. was seinen persönlichen Einfluß und seine Ermutigung im Vorfeld dieser Arbeit betrifft. In einem weiteren Ansatz wurde von besonders häufig zu findenden biblisch-mythischen Motiven ausgegangen. Sie wurden im Werk verschiedener Autoren untersucht. Es ließen sich weit mehr solcher Motive benennen und in literarischen Texten auffinden, aber auch das hätte den Rahmen dieser Arbeit überschritten. So sind die hier angeführten Motive nur als typische Beispiele anzusehen. Interessant dabei war die unterschiedliche Verwendung und damit Funktion dieser biblischen Motive zu den untersuchten Texten. Eine letzte, notwendig gedrängte, Überlegung galt Konzepten des Zusammenhanges von Ästhetik (Kunst, Literatur) und Theologie. Erst dadurch konnte deutlich gemacht werden, welchen geisteswissenschaftlichen Traditionen des Verhältnisses von Kunst und Theologie sich sowohl die DDR-Literatur als auch ihre Untersuchung verdankt.

1. Die Struktur des mythischen Denkens Versuch einer Definition 1.1. Grundlegung Mythische Verstehensstrukturen gewinnen auf dem Hintergrund einer wissenschaftsorientierten Weltanschauung eine neue Faszination, weil sie einen ganzheitlicheren Ansatz versprechen. „An die Stelle der wissenschaftlichen Distanzierung des Menschen von der Welt soll dessen Integration in den Gesamtkosmos treten." 1 Angesichts der globalen Bedrohungen wird wieder neu nach Sinnzusammenhängen und Lebensorientierungen gefragt. Dieser Neuaufbruch wird von Schriftsteilem mit ihrer Sensibilität für gesellschaftliche Veränderungen früher als von anderen empfunden und ausgesprochen. Die Themenwahl des Theologentages Wien 1987 ging ebenfalls davon aus, daß durch diese geisteswissenschaftliche Situation die Theologie in besonderer Weise herausgefordert sei. Mythos erweist sich für Theologie als von erheblicher Bedeutung. Von daher scheint es angemessen, an dieser Stelle Literatur und Theologie miteinander ins Gespräch zu bringen. Bei allen unterschiedlichen Ansätzen und Ergebnissen des Theologentages wurde doch deutlich, „daß das mythische Verstehen ganz offensichtlich eine fundamentale, allgemein-menschliche Wahmehmungskategorie darstellt, die sich auch

1

Schmid, H.H., „Vorwort", a.a.O, S. 10.

6

Die Struktur des mythischen Denkens

durch die aufgeklärteste Rationalität nicht verdrängen läßt. Neben und hinter der etablierten neuzeitlichen Rationalität leben zahlreiche Mythen der Gegenwart. Daß diese oft nicht ausformuliert werden, sondern latent bleiben, schmälert deren Wirksamkeit in keiner Weise, sondern erhöht sie nur um so mehr. 2 Eingedenk dessen will diese Arbeit einen Beitrag nicht zu einer neuen Mythologisierung sondern zur Aufklärung, zu einer bewußten Durchdringung des Mythischen, leisten. In Wien hat Bürkle betont, daß die Dimension des Mythischen eine Grundstruktur des menschlichen Seins darstelle und durch vermeintliche Aufklärungsprozesse nicht zum Verschwinden gebracht werden könne.3 „Sie kann und darf nicht in Gegensatz gebracht werden zu den Erkenntnismöglichkeiten menschlicher ratio. Zu ihr steht sie in notwendiger und ergänzender Spannung... Das zu Verkündigende ist immer auch wesentlich mythisch bestimmt und bedingt."4 So fordert er, für die Inhalte des christlichen Glaubens die Sprache des Mythos ungescheut in Anspruch zu nehmen 5 , ebenso wie andererseits die Literatur mythische Bilder verwendet, dabei allerdings weniger Berührungsängste vorzuliegen scheinen. Seit der Romantik gibt es einen standig anwachsenden Strom der Auseinandersetzung mit den Mythen der Völker, aber besonders in den letzten Jahrzehnten und Jahren haben neue Forschungen und Hypothesen für Erhellung und Durchdringung, aber auch für eine äußerste Verwirrung des Vokabulars auf diesem Gebiet gesorgt. So sollen hier lediglich Eckpunkte aufgeführt werden, die das Feld abstecken, auf dem der Mythos spielt; es sollen Indikatoren benannt werden, die Mythos anzeigen. Nach landläufiger Meinung ist Mythos eine Erzählung, die mit dem Anspruch einer wichtigen Wahrheit auftritt, ohne den Nachweis dafür zu erbrin2 3 4 5

Schmid, H.H., „Vorwort", a.a.O., S. 11. Bürkle, H., „Theologische Konsequenzen...", a.a.O., S.352. Ebenda. Bürkle, H., „Theologische Konsequenzen... ", a.a.O., S.362.

Grundlegung

7

gen, ein ideologieverdächtiger Text also. 6 Wollte man diese Linie ausziehen, geraten Fabel, Lüge, Wahnbild und sogar Priestertrug in die Perspektive des Mythos. Echte Mythen freilich lassen sich immer auf ein Urphänomen zurückführen, unechte dagegen sind zu manipulatorischen Zwecken gemacht worden. Dies läßt sich allerdings nicht immer leicht entscheiden, und so ist die Frage nach der Wahrheit des Mythos immer dringlich geblieben. Für Gadamer ist es der Glaubensanspruch der christlichen Offenbarung, der den Mythos der Wahrheitsfrage aussetzt und ihm seinen Wahrheitsanspruch nehmen will. .Alles, was nicht in geschichtlichem Zusammenhang der Heilsgeschichte seinen Platz hat, verliert vom Glauben her gesehen die Verbindlichkeit der mythologischen Venmittlung und wird zur heidnischen Verirrung." Aber dann, so fährt Gadamer fort, hat der europäische Rationalismus eine Gegenwirkung hervorgerufen, in deren Folge nicht nur auf „die Heilswahrheit des Christentums, sondern in einem neuen universalen Sinne auf die mythische Überlieferung aller Völker ein neues Licht" 7 fiel. Die Wahrheitsfrage war wieder offen. Bis heute bemühen sich Religionswissenschaftler darum, sie zu beantworten. Teils argumentieren sie von der Wirksamkeit der Mythen in der archaischen Gesellschaft her, teils gewinnen sie ihr Kategorien aus dem Vergleich der mythischen mit der naturwissenschaftlichen Ontotogie. Der Wahrheitsfrage widmet Hübner ein ganzes Buch, und so soll hier mit ihm gefragt werden: „Wenn der Mythos als in einer numinosen Wirklichkeit verwurzelt betrachtet, ja, erlebt wird, dann bedeutet das doch nichts anderes, als daß man ihn in irgendeiner Weise für wahr hält. Wie aber läßt sich eine solche Auffassung vor

6 7

Vgl. Kerenyi, K., „Vom Wesen des Mythos...", a.a.O., und Kerenyi, K., „Die antike Religion, a.a.O., S. 260f. Gadamer, H.-G./Fries, H., „Mythos und Wissenschaft", a.a.O., S. 19.

8

Die Struktur des mythischen Denkens

unseren heutigen, von der Wissenschaft geprägten Vorstellungen von Wahrheit rechtfertigen?" 8 In „Die Wahrheit des Mythos" unternimmt Hübner den Versuch, die ontologischen Strukturen der modernen Naturwissenschaft, die auf apriorischen Annahmen beruhen, mit den ontologischen Strukturen des mythischen Denkens, denen ebensolche unhinterfragbaren Annahmen zugrunde liegen, zu vergleichen. Er kommt zu dem Schluß, daß beide Ontologien ihre eigene, allerdings radikal unterschiedliche Logik aufweisen, sodaß man nicht davon ausgehen könne, mythisches Denken sei vorwissenschaftlich, irrational, der Kindheit des Menschengeschlechtes zuzuordnen.9 Die meisten maßgeblichen Mythenforscher halten Mythen für wahr, insofern ihnen ein Kult entspricht bzw. entsprochen hat. Ein typisches Beispiel ist W.F. Otto, der formuliert: „Die sprachliche Untersuchung hat ergeben, daß der Mythos ursprünglich wahr sein will, und zwar nicht als die Wahrheit des Gedachten, sondern als die Wahrheit des Erfahrenen, als die Erscheinung des Seins und Geschehens im wahren Wort." 10 Pettazoni läßt als wahre Mythen nur die gelten, deren rituelle Rezitation heiliges Urgeschehen wiederholt. Von der Wiederholung hängt eine Welt ab, „die ohne den Mythos nicht weiterexistieren kann." Die Wahrheit des Mythos, schließt Pettazoni darum, ist „die Wahrheit des Lebens". 11 Ähnlich argumentierte Oberhammer in Wien: „Der Mythos ist nicht der unverbindliche Gehalt einer beliebigen Erzählung, sondern Wahrheit des Daseins, die der Mensch setzt, indem er den Mythos zur Sprache bringt und in ihm die Sinn-Wirklichkeit seines Denkens gewinnt." 12 8 9 10 11 12

Hübner, K., „Die Wahrheit des Mythos", a.a.O. S. 82. Vgl. Hübner, K., „Die Wahrheit des Mythos", a.a.O. Otto, W.F., „Die Gestalt und das Sein, a.a.O., S. 72. Pettazoni, R., „Die Wahrheit des Mythos", a.a.O., S. 7, zitiert nach Hübner, K., „Die Wahrheit des Mythos", a.a.O., S. 82f. Oberhammer, G., „Mythos, woher und wozu?...", a.a.O., S. 16.

Grundlegung

9

In Schellings Nachfolge muß betont werden, daß der Mythos unbedingt, also autonom ist; er bedarf nicht der Erklärung, da er bedeutet, was er sagt. Er will UrKunde geben, kündet also vom Ursprung der Welt und damit unserer selbst. 13 Etymologisch ist die Herkunft des Wortes „Mythos" nicht aufzuhellen, was allein schon für ein hohes Alter spricht.14 Karl Kerenyi hat mit Andre Jolles hervorgehoben, „daß er ursprünglich das .wahre Wort' bedeutete... - den noch exakteren Sinn ,der Sachverhalt' hat W.F. Otto später hinzugefügt." 15 Bei Homer stellt ,Ergon' den Gegensatz zu ,Mythos' dar, die Geschicklichkeit in der Rede wird der in den Taten gegenübergestellt.16 Es waren die Sophisten, die ,Mythos' in einen Gegensatz zu .Logos' gesetzt haben, wobei letzteres das argumentierende, verstandesmäßig beweisende Wort ist, ersteres deutende, erzählende Rede. 17 Mythos erzählt den Sinn der Wirklichkeit und versteht sich so als höchste Realität, er ist die aus den Elementen begrifflicher Sprache und Rede zusammengesetzte Symbolik für das unbedingt Reale, welches in allen Religionen gemeint ist. 18 Kerenyi vermutet: „Die strenge Scheidung zwischen mythos und logos selbst wurde auf Grund einer rationalistischen Lehre, wohl der rhetorisch-sophistischen Synonymik, vorgenommen. Herodot sagt noch ruhig logos dort, wo Protagoras und Sokrates mythos gesetzt hätten. Piaton selbst bezeichnet beide - logos und mythos - als einen und denselben Teil der musischen Kunst." 19 Auch Gadamer betont, daß erst im Zuge der griechischen Aufklärung .Mythos' nach und nach durch ,Logos' verdrängt worden sei, und damit,Mythos' die Bedeutung von: .Geschich-

13 14 15 16 17 18 19

Vgl. Mann, U., „Schöpfungsmythen", a.a.O., S. 8. Vgl. Otto, W.F., „Die Gestalt und das Sein", a.a.O., S. 67. Kerenyi, K./Mann, Th., „Gespräche in Briefen", a.a.O., S. 21. Vgl. Kerenyi, K., „Die antike Religion", a.a.O., S. 15. Vgl. auch Lanczkowski, G., „Mythos", a.a.O.. Vgl. Beth, K., „Mythologie und Mythos, a.a.O.. Kerenyi, K , „Die antike Religion", a.a.O., S. 15.

10

Die Struktur des mythischen Denkens

ten von Göttern erzählen' bekam, während .Logos' auf dem Feld siedelte, auf dem es um rationales Wissen, gegründet auf Beweise ging. 20 Am Ende wird der „Mythos (...) zur .Fabel' - soweit er nicht durch einen Logos seine Wahrheit erlangt." 21 Spätestens seit Aristoteles galt das Mythische als unscharf, verschwommen, ja als bloße Phantasterei; gefordert wurde darum eine rationale Metaphysik statt des poetischen Mythos. 22 „Auch der Logosbegriff hat dann, schon bei Heraklit und später in der stoischen Philosophie bis hin zum johanneischen Begriffsverständnis, einen durch und durch religiösen Sinn erhalten: Logos tritt also in jene Rolle ein, die ursprünglich dem Wort Mythos vorbehalten war, wogegen Mythos eben dann das bloß Phantastische bezeichnete.23 Um der Durchsichtigkeit der Begriffe willen muß freilich eine kennzeichnenden Unterscheidung zwischen .Mythos' und .Mythologie' gemacht werden, wobei der Bedeutungsgehalt von Mythologie ein dreifacher ist. Mythologie kann bedeuten: a) Mythos legein, b) die systematisierende Gesamtheit mythischer Geschichten eines Kulturkreises, wobei diese Gesamtheit im Gewand ihrer jeweiligen Zeit auftritt, da sie immer die historische Ausformung des Ursprungs ist und c) das ordnende Erfassen des Mythenbestandes der Welt. 2 4

20 21 22 23 24

Vgl. Gadamer, H.-G./Fries, H., „Mythos und Wissenschaft", a.a.O.. Gadamer, H.-G./Fries, H., „Mythos und Wissenschaft", a.a.O., S. 10. Vgl. Mann, U., „Schöpfungsmythen", a.a.O., S. 10. Mann, U., „Schöpfungsmythen", a.a.O., S. 12. Vgl. Mann, U., „Schöpfungsmythen", a.a.O., Lanczkowski, G., „Mythos, a.a.O., Kerenyi, K., „Umgang mit Göttlichem, a.a.O..

Mythos als Ursprungsgeschichte

11

1.2. Mythos als Ursprungsgeschichte Im Mythos wird erzählt, was ursprünglich einmal war, und zugleich wird damit ausgedrückt, was ,ist'. Das heißt, Mythen sind Ursprungsgeschichten, in denen es um Einsetzung und Gründung des Lebens durch die Götter geht, um urzeitliche Begebenheiten, die das Dasein der Menschen bis in die Gegenwart hinein bestimmen. 25 Der Mythos vergegenwärtigt ein uranfängliches Modell, er feiert immer wieder (Ur-)Ereignisse der Menschheit oder des eigenen Volkes, um in der Vergegenwärtigung des Vergangenen dessen erneuernde Kraft und immerwährende Präsenz zu erweisen. „Mythos ist eine Erzählung von den Gründen und Anfängen allen Geschehens. Genauer gesagt: Das jetzige Geschehen wird nach dem befragt und beschrieben, wie es bestimmt ist durch eine urzeitliche Wirklichkeit, die zugleich eine, urbildliche Wirklichkeit' ist (Pannenberg, Eliade), die im gegenwärtigen Geschehen weiter wirkt... Dadurch macht der Mythos die Realität verständlich und gibt Antwort auf die Frage: Warum? in der zugleich die Frage: Was ist das? eingeschlossen ist. Das Urbild wird zugleich zum Vorbild für das je Gegenwärtige." 26 Das bedeutet, daß Mythos nicht nur eine erzählende, sondern vielmehr eine weltschaffende und welterhaltende Funktion hat. 27 ,Jede Mythe ist letztlich Erfahrungs- und so Existenzentwurf." 28 Kerenyi betont darum, daß lebendige Mythologie gelebt wird, „sie ist eine Ausdrucks-, Denk- und Lebensform." 29 Und er zitiert zustimmend den Ethnologen Bronislaw Malinowski, der bei seinen Forschungen im Melanesischen Kulturkreis mit einer lebenden Mythologie in Berührung kam: „Der Mythos in einer primiti25 26 27 28 29

Vgl. Kerenyi, K., „Umgang mit Göttlichem, a.a.O., Kap. II. Gadamer, H.-G./Fries, H., „Mythos und Wissenschaft", a.a.O., S. 32. Vgl. Mann, U., „Schöpfungsmythen", a.a.O., S. 35. Oberhammer, G., „Mythos, woher und wozu?..." a.a.O., S. 17. Kerenyi, K , „Die antike Religion", a.a.O., S. 21.

12

Die Struktur des mythischen Denkens

ven Gesellschaft, das heißt in seiner lebendigen, ursprünglichen Form, ist keine bloß erzählte Geschichte, sondern eine gelebte Realität. Er ist nicht von der Art einer Erfindung, ... sondern lebendige Wirklichkeit, von der geglaubt wird, sie sei in Urzeiten geschehen und sie beeinflusse die Welt und die Schicksale der Menschen seitdem fortwährend." 30 Die Zeit, die der Mythos meint, ist die vor jeder Realität und zugleich das Hier und Jetzt; in dieser schillernden Balance geschieht die Wiederholung des Uranfänglichen. Eliade hat diesen Gedanken, den alle bedeutenden Religionswissenschaftler reflektiert haben, so gefaßt: „... die Funktion des Mythos besteht vornehmlich darin, exemplarische Modelle für alle menschlichen Riten und alle bedeutenden menschlichen Tätigkeiten zu entwickeln ... daher bilden Mythen die Paradigmata für alle wichtigen menschlichen Handlungen."31 Ähnlich Oberhammer in Wien: ,.Indem die mythische Erzählung Sterben und Töten, Zeugen und Gebären, Schuld und Sühne als dem Menschen vorgegeben und vorgelebt zur Sprache bringt, macht sie das tatsächliche Geschehen von Tod und Leben, von Schuld und Sühne zu Lebensvollzügen, die der Mensch im Wissen um die urbildhaft-transzendenten Geschehnisse der Mythen annehmen darf, ja verantwortlich auf sich nehmen muß." 32 Hübner weist darauf hin, daß die Urmodelle, er nennt sie .Archai', nicht einfach Vorbilder seien, die nachgeahmt werden, sondern daß sie identisch wiederholt würden. 33 Damit ist der Mythos „... absolut verbindlich für das ganze Dasein des Menschen ... Er spricht nicht nur bestimmte Fähigkeiten, Eigenschaften und Funktionsmöglichkeiten an, sondern den ganzen Menschen in seiner Daseinshal-

30 31 32 33

Malinowsli, B., „Myth in Primitive Psychologie", a.a.O., S. 21, zitiert nach Kerenyi, K., „Die antike Religion", a.a.O., S. 39. Eliade, M., „Myth and Reality", a.a.O., S. 18. Oberhammer, G., „Mythos - woher und wozu?...", a.a.O., S. 17. Vgl. Hübner, K., „Die Wahrheit des Mythos", a.a.O., S. 139.

13

Mythos als Ursprungsgeschichte

tung." 3 4 Hübner faßt zusammen, wenn er schreibt: „Das ganze soziale Leben, sofern es durch Regeln, Normen, stereotype Handlungen und dergleichen bestimmt war, wurde genauso wie die gesetzlichen Abläufe in der Natur und im psychischen Verhalten des Menschen verstanden als der Vollzug eines numinosen Prototyps." 3 5 Dies alles wäre nicht verständlich, wenn man sich nicht vor Augen hielte, daß der Mythos eine symbolische Struktur hat. Jetter hat hervorgehoben, daß Mythos und Symbol verwandte Gebiete sind, wobei er das Symbol um einen Schritt näher an der Abstraktion sieht als den Mythos.

Nun kann hier nicht entschieden werden,

ob ein engerer oder weiterer Symbolbegriff angemessen ist, denn es gibt zahlreiche Systeme. Wichtig ist hier nur, daß das mythische Denken auf symbolischen Elementen beruht, wie j a überhaupt die Religion „die älteste Interessentin an allem Symbolischen" war. Ihre „Darstellung setzt bei Erfahrungen ein, in denen Gegenstände,

Naturerscheinungen,

Örtlichkeiten,

Begebenheiten,

Personen,

ihre

menschliche Machtfülle, Geschicklichkeit oder Gestaltungskraft, eindrücklich und durchscheinend werden für die Bedeutsamkeit oder Mächtigkeit, mit der das Leben dem Menschen überhaupt begegnet ... Grundgeheimnisse des menschlichen Lebens im Kosmos und des kosmischen Lebens im Menschen stellen sich in ihnen dar." 3 7 So erscheint der Mythos als Symbolsystem, von dem Weltdeutung, Orientierung, Legitimierung der Ordnungen, individuelle und kollektive Sinndeutung und praktische Lebensleitung ausgehen. Zwischen den Menschen und die Welt der Tatsachen treten die mythischen Bilder. Ihre kreative Funktion kann kaum überschätzt werden.

34 35 36 37

Otto, W.F., „Das Wort der Antike", a.a.O., S. 361. Hübner, K„ „Die Wahrheit des Mythos", a.a.O., S. 136f. Vgl. Jetter, W., „Symbol und Ritual", a.a.O., S. 62, besonders Fußnote 85. Jetter, W „ „Symbol und Ritual", a.a.O., S. 30f.

14

Die Struktur des mythischen Denkens

In jüngster Zeit hat Fritz Jürß vom marxistischen Standpunkt aus einen Versuch unternommen, den Mythos zu reflektieren und seine anhaltende Bedeutung zu uniJO

tersuchen.

Für ihn sind die Mythen Erzeugnisse eines Denkens, das das Welt-

und Selbstverständnis des Menschen auf einer relativ niedrigen Stufe seiner Entwicklung widerspiegelt. Phantastische Entwürfe würden für die reale Welt genommen und diese damit in Wahrheit verfehlt. In seiner noblen Weise wundert sich Jürß darüber, wie, jenes grandiose mythische Mißverständnis der Welt" 39 entstanden sein könnte. Er beschreibt den niedrigen Stand der Arbeitsmittel und der Produktivkräfte. Wo die „Entwicklung noch in den Kinderschuhen steckt, entsprechen den kaum entfalteten Produktivkräften die fehlende objektive Naturkenntnis ebenso wie das defekte subjektive Selbstgefühl und der mangelhaft ausgeprägte geistige Habitus." 40 Dies alles erscheint der aufgeklärten, rationalen Vernunft ziemlich willkürlich und sinnlos. Offensichtlich muß eine andere Spur verfolgt werden, wenn begründet werden soll, warum mythisches Denken und mythische Systeme, die ja einer archaischen Gesellschaft entsprechen, ihre Kraft bis heute nicht eingebüßt haben. „Daß vielmehr das Wort .Mythos' seit nahezu zweihundert Jahren seinen eigenen Klang hat, vorwiegend einen positiven, ist eine überaus nachdenkenswerte Tatsache." 41 Dazu kommt noch ein anderer Einwand, den Susanne Langer so formuliert hat: „Alle magischen und rituellen Praktiken (sind) hoffnungslos ungeeignet zur Erhaltung und Förderung des Lebens ... Wenn ein Wilder in Unkenntnis der physikalischen Gesetze versucht, einen Berg dadurch, daß er ihn umtanzt, zum Öffnen seiner Höhlen zu bewegen, so müssen wir beschämt zugeben, daß keine Ratte im Expe38 39 40 41

Jürß, F., „Vom Mythos der alten Griechen", a.a.O. Jürß, F. „Vom Mythos der alten Griechen", a.a.O., S. 14, Vgl. auch S. 5 und S. 187. Jürß, F. „Vom Mythos der alten Griechen", a.a.O., S. 14. Gadamer, H.-G./Fries, H., „Mythos und Wissenschaft", a.a.O., S. 8.

15

Die Einheit von Subjekt und Objekt

rimentierkäfig des Psychologen eine so offenkundig unwirksame Methode anwenden würde, um die Türe zu öffnen. Auch dürften angesichts ihrer Nutzlosigkeit solche Versuche nicht jahrtausendelang fortgesetzt werden; selbst Schwachsinnige würden schneller lernen ... Die Liebe zur Magie, die hohe Entwicklung des Rituales, der Ernst der Kunst und die charakteristische Tätigkeit des Träumens sind viel zu bedeutende Faktoren, als daß man sie bei der Konstruktion einer Theorie des Geistes außerachtlassen dürfte. Offenbar tut der Geist etwas ganz anderes, oder zumindest einiges mehr, als Erfahrungsdaten zu verbinden."42 Obwohl Müller mit der integrierenden Funktion des Mythischen eine regenerative verbunden sieht ("Soll Zerstörtes wieder heil werden, bedarf es des Anschlusses an die schöpferischen und ordnenden Kräfte des Urbeginns...

43

), fragt er aber

auch: „Ist denn die Bindung aller Gegenwart an Begründung und Legitimation durch ein Urgeschehen nicht auch eine Fessel, die den Menschen übermächtigt... Kann er sich damit zufriedengeben, daß alles Erkennen und Sagen nur ein Erinnern und Zitieren, alles Vorwärtsschreiten nur Wiederherstellung, alle Spontaneität nur Rückkehr sein darf.. ,?" 4 4

1.3. Die Einheit von Subjekt und Objekt Aufgrund der Analyse von Hölderlinschen Gedichten und Bildern von Paul Klee ist Hübner zu der Erkenntnis gelangt, daß die Besonderheit ihrer Kunst darin liegt, daß es eine ursprüngliche Einheit von Mensch und Natur, von Subjekt und Objekt gibt. „In traditioneller philosophischer Ausdrucksweise könnte man sagen, es han42 43 44

Langer, S.K., „Philosophie auf neuen Wegen...", a.a.O., S. 44-47, zitiert nach Jetter, W„ „Symbol und Ritual", a.a.O., S. 44f, Fußnote 48. Müller, H.-P., „Jenseits der Entmythologisierung", a.a.O., S. 36. Müller, H.-P., „Jenseits der Entmythologisierung", a.a.O., S. 37f.

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Die Struktur des mythischen Denkens

dele sich hier um eine wechselseitige Durchdringung von Subjekt - der die Natur erfahrende Mensch - und Objekt - eben diese Natur. Das Objekt, die Natur, ist ganz von der menschlichen Sicht... durchsetzt, wie umgekehrt das Subjekt gerade deswegen vollkommen objektiviert ist. Damit erhält hier jeder Gegenstand auch personale Züge." 4 5 Und hier, so könnte hinzugefügt werden, liegt das Geheimnis der kreativen Kräfte des Mythos, das er über das Ende archaischer Gesellschaften hinaus mindestens für die Kunst erweist. Die Einheit von Subjekt und Objekt, die die Einheit von Ideellem und Materiellem ist, hat nach Hübner für den Mythos ein ebenso grundlegende Bedeutung, wie ihre Auflösung für die wissenschaftliche Ontologie 46 , die zuerst von Descartes theoretisch vollzogen wurde. Diese Einheit aber ist als das Primäre anzusehen, von ihr her wird mythisches Denken erst verständlich. Ratschow hat diese primäre Einheit von Natur und Mensch, von Außen und Innen, von Allgemeinem und Individuellem als „Verwobenheit" und „übergreifendes Lebensgefühl", als „ein alles umschließendes großes Band des Einverständnisses", beschrieben. 47 „Wo alles Materielle zugleich ideell, alles Ideelle zugleich materiell aufgefaßt wird, wo deshalb zwischen Physikalischem und Psychologischem, wie wir es verstehen, keine scharfe Grenze gezogen wird, da existiert auch nicht der für uns so selbstverständliche Unterschied von Innen und Außen." 48 Das .Innere' ist - mythisch gesehen - viel eher als Spielfeld und Schauplatz numinosen Einflusses zu betrachten. Glück und Mutlosigkeit, Tapferkeit und Verblendung, aber auch Verwirrung und Krankheit haben nicht ihre Quelle im Menschen, sind nicht von ihm gewirkt, sondern können direkt auf die Wirkung numinoser Mächte

45 46 47 48

Hübner, K., „Die Wahrheit des Mythos", a.a.O., S. 2 3 . Vgl. Hübner, K„ „Die Wahrheit des Mythos", a.a.O., S. 109. Vgl. Ratschow, K.-H., „Magie und Religion, a.a.O.. Hübner, K., „Die Wahrheit des Mythos", a.a.O., S. 118.

Die Einheit von Subjekt und Objekt

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- Götter oder Dämonen - zurückgeführt werden. Der innere Mensch ist völlig mit dem Mythos verwoben, es handelt sich nicht um subjektive Stimmungen, sondern um „Realitäten, bleibende Gestalten des Seins, die dem Menschen in jedem bedeutenden Augenblick mit göttlicher Wesenhaftigkeit entgegentreten können ... Wer diese Gestalten sind, das ist die wichtigste Frage. Wenn er sie kennt, kennt er sich selbst." 49 So hat es, die Vergangenheit ein wenig verherrlichend, W.F. Otto ausgedrückt. Fritz Jürß untersucht dasselbe Phänomen, wertet es aber negativ, wenn er die mythische Denkform des Subjektiven beschreibt.50 Subjektivierung heißt demnach: Interpretation der Natur nach dem Bilde des Menschen, heißt, von sich auf die Außenwelt schließen. Und das geschieht aus dem Eindruck der Ohnmacht heraus, die wiederum aus dem .Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit' erwächst, in dem Schleiermacher den Grund alles Religiösen erblickt.51 So kann für Jürß kein Zweifel bestehen, daß „die mythische und religiöse Denkform, in ihrem Kern dieselbe Wurzel haben." 52 Durch diese Subjektivierung der objektiven Welt aber verliert der Mensch seine innere Eigenwelt, denn sie vergegenständlicht sich in Gestalt göttlicher Mächte. 53 Vielleicht aber, so räumt Jürß ein, sei in diesem Verfahren der erste primitive Versuch einer Selbsterkenntnis zu sehen aus einer Zeit, da der Mensch noch nicht durch sich selbst zu sein gelernt hatte und deshalb meinte, alles durch die Götter zu sein." 54

49 50 51 52 53 54

Otto, W.F., „Die Götter Griechenlands", a.a.O., S. 175f. Vgl. Jürß, F. „Vom Mythos der alten Griechen", a.a.O., S. 14. Vgl. Jürß, F. „Vom Mythos der alten Griechen", a.a.O., S. 15. Ebenda. Vgl. Jürß, F. „Vom Mythos der alten Griechen", a.a.O., S. 18. Ebenda.

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Die Struktur des mythischen Denkens

Ob es nun positiv oder negativ gewertet wird, von hier her rührt der eigentümlich objetivierende Zug des Mythos, der auffällt, dessen andere Seite dann aber der personale Charakter aller Dinge, j a der ganzen Natur ist. Cassirer hat hervorgehoben, daß es im mythischen Denken keinerlei Trennung gibt zwischen den Formen des .abbildlichen' und denen des .urbildlichen' Seins, das betrifft den Mikrokosmos und den Makrokosmos, Bild und Sache, Name und Ding, Ganzes und Teil. Geistiges wird also materialisiert und an ein dingliches Substrat gebunden. 55 Es ist ebenfalls Cassirer, der betont, daß es gerade der Mythos sei, der den Prozeß der Trennung in Gang setze und das Selbständigwerden des Individuums bedinge, weil er geistiges Werkzeug für die Subjektivierung bereitstelle. 56 Andererseits ist immer wieder gezeigt worden, wie gerade dieses Lebensgefühl der Verbundenheit zu einer .Ehrfurcht vor dem Weltganzen', zu einem .geschwisterlichen Verband aller Wesen und Erscheinungen' geführt hat, wie er aus indianischer Mythologie und Religion deutlich wird. 57 Diese Zusammenschau ist heute schwer nachvollziehbar geworden, ist aber doch nicht mehr so einfach als bloße Vergötzung der Natur abzutun. Gerade der Zusammenhang aller Dinge zieht Menschen heute an, denen die Rettung der Natur am Herzen liegt. Es ist die mythische Ganzheitlichkeit der Wirklichkeitsauffassung, in der die Natur nicht instrumentalisiert wird, die besonders Künstler und Schriftsteller fasziniert. Dazu kommt noch ein anderes: Cassirer nennt es die „Einerleiheit von Wort und Wesen, von .Bedeutendem' und .Bedeutetem'". 5 8 Es geht hier um die Einheit von

55 56 57 58

Vgl. Cassirer, E., „Philosophie der symbolischen Formen" II, a.a.O., S. 57. Vgl. Cassirer, E., „Philosophie der symbolischen Formen" ü, a.a.O., S. 209. Vgl. Müller, W., „Indianische Welterfahrung", a.a.O., S. 32-50, zitiert nach Drewermann, E., „Tiefenpsychologie und Exegese", Bd. la, a.a.O., S . , Anmerkung 97. Cassirer, E., „Philosophie der symbolischen Formen" II, a.a.O., S. 48f.

Die Einheit von Subjekt und Objekt

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mythischer Wirklichkeit und gesprochenem Wort. Der Name ist mythisch erlebte Präsenz des Genannten, sie „ist besonders im Gebet, im Trinkspruch, im Schwur und im Fluch. Im Worte steckt eine Kraft, die den Menschen als numinose Substanz durchdringt, eine Kraft, durch die ein Mythos gegenwärtige Wirklichkeit wird ... und künftiges Heil oder Unheil herbeigezwungen werden kann. ,,59 Diese mythische Kraft umgibt die Worte bis heute als Aura. Es sind die mythischen Wurzeln der Sprache, durch die mythische Bilder bis in die Gegenwart ernährt werden. Eine sehr weitreichende und in neuester Zeit außerordentlich fruchtbar untersuchte Beziehung ist die zwischen Traum und Wirklichkeit. Dem Menschen der archaischen Gesellschaft war es zweitrangig, ob Gott im Wachen oder im Schlafen erschien. Auch Cassirer hebt die außerordentliche Bedeutung hervor, die Traumerlebnisse für das mythische Bewußtsein haben. Für ihn besteht kein Zweifel daran, daß grundlegende mythische Begriffe in ihrer eigentümlichen Struktur erst dann verstanden werden können, wenn der schwebende Übergang von der Welt des Traumes zur objektiven Wirklichkeit in Erwägung gezogen wird. 60 Neuerdings hat sich von theologischer Seite vor allem E. Drewermann mit der Rolle des Traumes beschäftigt. 61 Er geht davon aus, daß der eigentliche Ort des Religiösen der Traum sei, „das bildhaft-wortlose Erleben in den Tiefenschichten der menschlifO

chen Psyche."

Drewermann möchte den Traum in seiner religionsgeschichtli-

chen und religionspsychologischen Bedeutung untersuchen, er fragt danach, wie der Traum sich in den Mythos übersetzt. Mit S. Freud und C.G. Jung sind in diesem Jahrhundert umwälzende und grundlegende neue Traumtheorien vorgelegt worden. Diese Taumtheorien unterscheiden 59 60 61 62

Hübner, K„ „Die Wahrheit des Mythos", a.a.O., S. 124. Vgl. Cassirer, E., „Philosophie der symbolischen Formen" II, a.a.O., S. 48f. Drewermann, E., „Tiefenpsychologie und Exegese", Bd. 1, a.a.O.. Drewermann, E., „Tiefenpsychologie und Exegese", Bd. 1, a.a.O., S. 99.

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Die Struktur des mythischen Denkens

sich tiefgreifend von den Methoden der Traumdeutung archaischer Gesellschaften, und doch wird deutlich, wie berechtigt die mythische Auffassung war, im Traum wiesen numinose Mächte heilend und mahnend den Weg. Drewermann deutet immer wieder auf die grundsätzliche Nähe zwischen Traum und Mythos hin, etwa, wenn er betont, daß die wichtigsten Charakteristika des Traumes ihn in den Bereich des Mythos rückten. Diese Charakteristika sind: a) Bilder statt Gedanken b) archetypische Szenen (der Einzelne träumt in Szenen und Bildern, die in den Mythen der Völker vorgeprägt sind), und c) die Aufhebung von Raum und Zeit. 63 "Besonders die archetypischen Bilder der menschlichen Psyche legen immer wieder das Gefühl einer inneren Verwandtschaft und Wesenseinheit von Subjekt und Objekt, von Innen und Außen, von Selbsterfahrung und Welterfahrung nahe, denn ihre Symbolik hat sich selbst aus dem Gedächtnis der Evolution im Umgang mit den Mächten der Natur gebildet und stellt gewissermaßen ein Stück verinnerter Außenwelt im Inneren des Subjektes dar." 64 Es kann an dieser Stelle nicht auf die Traumtheorien Freuds und vor allem Jungs eingegangen werden, obgleich sie für die Untersuchung der Mythen wesentliches beigetragen haben. Es läßt sich zu diesem komplexen Problem zusammenfassend nur sagen, daß die Symbole der Träume (und damit der Religion) als wesentlicher Weg ('via regia' nach Freud) zum Unbewußten des Einzelnen wie der Gesellschaft gelten können. Es kann an dieser Stelle auch nicht der radikale Ansatz Drewermanns diskutiert werden, der in gewiß beeindruckender Weise, aber eben auch stark vereinfachend, 63 64

Vgl. Drewermann, E., „Tiefenpsychologie und Exegese", Bd. 1, a.a.O., S. 112f. Drewermann, E., „Tiefenpsychologie und Exegese", Bd. 1, a.a.O., S. 124.

Die Begegnung mit numinosen Wesen

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Mythos, Märchen, Sage und Legende aus der einen Wurzel Traum (Archetypos) hervorgehen sieht. Damit fügt sich Drewermann in die animistische Tradition ein, die wesentlich durch Tylor geprägt wurde. Freilich bemerkt schon Cassirer in seinem Werk .Philosophie der symbolischen Formen", Teil II, das bereits 1923 erschien: „Die animistische Theorie freilich, die den gesamten Inhalt des Mythos wesentlich aus der einen Quelle abzuleiten versucht, die den Mythos in erster Linie aus einer .Verwechslung' und Vermischung von Traumerfahrungen und Wacherfahrungen entspringen läßt, bleibt in dieser Form ... einseitig und ungenügend." 65

1.4. Die Begegnung mit numinosen Wesen Für die Erhellung dieser grundlegenden Kategorie des Mythos hat Rudolf Otto mit seinem Buch „Das Heilige" Wesentliches geleistet. Das, was dem Menschen begegnet, ist für ihn sowohl das ,Tremendum' als Furchterregendes, Schreckliches und dennoch Erhabenes, als auch das ,Fascinosum' als Erfüllendes, Beglückendes und Beseligendes. 66 Cassirer hat ausgeführt, daß die Begegnung mit numinosen Mächten (in der Frühzeit der Stammesgesellschaften noch nicht notwendigerweise als Götter erfahren) zur Minimum-Definition von Religion gehört. Er faßt dies als „Mana-Tabu-Formel", wobei ,Mana' eine(n) außerordentliche(n) geistige(n) und übernatürliche(n) Kraft/Stoff/Wirksamkeit bezeichnet und ,Tabu' die entsprechende Negativvorstellung meint.67 In späteren Gesellschaften wird diese Macht als Gott erlebt, und so kann man sagen: Der Mythos erzählt von den Ursprüngen, genauer gesagt: Götter sind Ursprünge. „Es gibt Aspekte der Wirklichkeit selbst,

65 66 67

Cassirer, E., „Philosophie der symbolischen Formen" II, a.a.O., S. 48f. Otto, R., „Das Heilige", a.a.O.. Cassirer, E., „Philosophie der symbolischen Formen" II, a.a.O., S. 97.

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Die Struktur des mythischen Denkens

deren Realität zu bezweifeln unsinnig wäre, die sich in den Gestalten der Götter... zur sinnfälligen Anschauung ausgestaltet haben." 68 Auch W.F. Otto hat die numinose Begegnung im Mittelpunkt des Mythos gesehen. „Die Gottheit ist die Gestalt, die in allen Bildungen wiederkehrt, der Sinn, der alles zusammenhält, und in der menschlichen, als sublimsten, seine Geistigkeit zu erkennen gibt." 69 Besonders intensiv mit den Göttern, sofern sie Urgestalten sind, hat sich K. Hübner beschäftigt. Ein numinoses Wesen ist nicht einfach ein beseelter Naturgegenstand, denn es gibt nicht so viele Götter wie Naturgegenstände. „Der Name eines Gottes, obgleich ein Individuum bezeichnend, kann also insofern dieselbe Funktion wie ein Allgemeinbegriff ... haben, als er mannigfaltige Einzelerscheinungen zusammenzufassen und zu ordnen gestattet. Allgemeines und Individuelles verschmelzen in dieser Hinsicht im Mythos genauso wie Materielles und Ideelles ... Die ... Götter sind folglich ... ideelle und materielle Individuen mit Allgemeinheitsbedeutung." 70 Das bedeutet nun aber weiterhin, daß diese .Individuen mit Allgemeinheitsbedeutung' mythische Substanzen sind, die sowohl ideell als auch materiell gedacht werden können. Überall, wo solche Substanzen auftreten, kann auf das jeweils gleiche Individuum geschlossen werden. Dem widerspricht auch nicht, daß viele Götter bevorzugt an bestimmten Orten auftauchen oder an sie gebunden sind. „Aber oft ist die Gegenwart des Gottes an einer heiligen Stelle nur beständiger und konzentrierter als anderswo, ohne deswegen dort sozusagen verwurzelt zu sein. So ist zwar Demeter überall da, wo das Korn reift und auf dem Felde angerufen werden kann, und Zeus ist in jedem Blitz, Pan in vielen Wäldern einsamer Berggegenden, aber sie alle können sich auch irgendwo bevorzugt auf-

68 69 70

Gadamer, H.-G./Fries, H., „Mythos und Wissenschaft", a.a.O., S. 27. Otto, W.F., „Die Götter Griechenlands", a.a.O., S. 166. Hübner, K„ „Die Wahrheit des Mythos", a.a.O., S. 1 lOf.

Die Begegnung mit numinosen Wesen

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halten und sich dort vielleicht sogar zur Personengestalt .verdichten' (was die Griechen eine ,Epiphanie' nennen)."71 Daß die Macht der einzelnen Gottesgestalt partikular sei, wäre mit Müller anzufügen, „Additiv fügt sich die Vielzahl der Gestalten zu einem Ganzen. Jede einzelne Gottheit vermittelt dabei nur einen Teil der Wirklichkeit an den Menschen; in gegenseitiger Duldung überläßt die eine den anderen das übrige." 72 Nach Kerenyi bestehen die Mythen aus drei Bestandteilen, die voneinander zu unterscheiden sind. Der erste Bestandteil umfaßt die Charakteristik, also die Beschreibung der Macht und der Wirksamkeit der Götter. Der zweite Bestandteil umfaßt die Lebensgeschichte des jeweiligen Gottes. Drittens enthält die mythologische Geschichte einen historischen Teil, wenn auch verdeckt. Die Kämpfe, die von einem Gott berichtet werden, können die Kämpfe widerspiegeln, die die Ausbreitung seines Kultes gekostet haben, das heißt, sie bezeichnen den Weg, den die Verehrung des Gottes kämpfend zurückgelegt hat. 73 Aufgefallen ist schon immer, daß Götter anthropomorph gedacht wurden, das ist offenbar in jeder Mythologie so. Kerenyi vermutet, daß die menschliche Gestalt das Göttliche dem Menschen näher brächte und sich so besonders gut eignete, von Begegnungen zwischen Göttern und Menschen zu berichten.74 „In den Göttern ist die Wirklichkeit selber anthropomorph geworden und damit zugleich heimatlich vertraut." 75 Zusammenfassend läßt sich mit Hübner sagen: „Götter sind Gestalt gewordene komplexe Erfahrungen, die für die menschliche Welt eine urbildhafte Bedeutung

71 72 73 74 75

Hübner, K., „Die Wahrheit des Mythos", a.a.O., S. 113. Müller, H.-P., „Jenseits der Entmythologisierung", a.a.O., S. 21. Vgl. Kerenyi, K., „Die antike Religion", a.a.O., S. 24f. Vgl. Kerenyi, K., „Die antike Religion", a.a.O., S. 36. Müller, H.-P., „Jenseits der Entmythologisierung", a.a.O., S. 34.

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Die Struktur des mythischen Denkens

haben. Gerade deswegen sind sie auch für den mythischen Menschen das Vertrauteste und Anschaulichste selbst da, wo sie Schrecken und Schauder auslösen. Die numinosen Wesen des Mythos haben die Wirksamkeit der Urmächte. Es sind Mächte, die in einem bestimmten Lebensraum, unter bestimmten geschichtlichen Bedingungen gegeben sind und als etwas zugleich Individuelles und Allgemeines, Materielles und Ideelles erfaßt werden." 76 "Innerhalb des Mythos hat daher die Frage, warum diese Gestalten so und nicht anders gezeichnet sind, warum sie aus einer denkbaren Welt von Möglichkeiten nicht anders ausgewählt wurden, keinen Sinn. Der mythische Grieche ging vielmehr von ihnen wie von einem Apriori seiner Welterkenntnis aus. Überall sieht er sie gegenwärtig und wirksam ... Mit den Göttern besaß der Grieche, um mit Kant zu reden, das Alphabet, das ihm half, seine einzelnen Erfahrungen zu buchstabieren." 77 Dies war offensichtlich, so läßt sich hinzufügen, nicht nur für den griechischen Menschen so, sondern gilt für das mythische Denken aller archaischen Gesellschaften.

1.5. Die Unterscheidung zwischen heilig und profan Für den archaischen Menschen haben Raum und Zeit keine in sich jeweils homogene Struktur und sind nicht quantifizierbar. Die Inhomogenität von Raum und Zeit erlebt er als den Gegensatz von heiligem Raum/Zeit und profanem Raum/Zeit. Mircea Eliade hat zu diesem Problem Grundlegendes geschrieben. Bezüglich des Raumes faßt er seine Erkenntnisse, die er dem Studium vieler und sehr verschiedener ursprünglicher Völker verdankt, so zusammen: „Die Erfahrung des heiligen 76 77

Hübner, K., „Die Wahrheit des Mythos", a.a.O., S. 127. Hübner, K„ „Die Wahrheit des Mythos", a.a.O., S. 134.

Die Unterscheidung zwischen heilig und profan

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Raums macht die .Weltgründung' möglich: wo sich das Heilige im Raum manifestiert, enthüllt sich das Reale, gelangt die Welt zur Existenz. Doch der Einbruch des Heiligen projiziert nicht nur einen festen Punkt in die amorphe Unbestimmtheit des profanen Raums, ein .Zentrum' in das ,Chaos', er bewirkt zugleich eine Durchbrechung der Ebenen, stellt die Verbindung zwischen den kosmischen Ebenen (zwischen Erde und Himmel) her und ermöglicht den ontologischen Übergang von einer Seinsweise zur anderen. Ein solcher Bruch in der Heterogenität des profanen Raumes schafft das Zentrum, von dem aus man mit dem .Transzendenten' kommunizieren kann, und gründet somit die .Welt', denn erst das Zentrum ermöglicht die Orientierung. Die Manifestation des Heiligen im Raum hat folglich kosmologische Valenz: jede räumliche Hierophanie und jede Weihung eines Raums kommt einer ,Kosmogonie' gleich. Daraus ergibt sich eine erste Folgerung: Die Welt läßt sich insofern als Welt, als Kosmos fassen, als sie sich als heilige Welt offenbart."1* Der heilige Raum ist in den profanen Raum eingebettet. Er hat strukturierende, orientierende, zentrierende und verbindende Funktionen. Hübners Augenmerk war bei der Untersuchung der mythischen Raumvorstellungen nicht so sehr auf die Untersuchung archaischer Gesellschaften gerichtet, sondern vielmehr auf den Vergleich mythischer mit modernen naturwissenschaftlichen Ansichten vom Raum. Die wichtigsten Unterschiede lassen sich folgendermaßen wiedergeben: a) Der mythische Raum ist kein leeres Medium, in dem sich Gegenstände befinden, sondern Raum und Rauminhalt bilden eine Einheit.

78

Eliade, M., „Das Heilige und das Profane", a.a.O., S. 58f.

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Die Struktur des mythischen Denkens

b) Er bildet keine kontinuierliche Punktmannigfaltigkeit, sondern reiht sich aus lauter heiligen Elementen, die Räumliches konstituieren, eine ,heilige Geographie' bilden. c) Der mythische Raum ist nicht homogen, vielmehr ist der heilige Raum in den profanen eingebettet, zudem haben Orte nicht nur eine relative sondern auch ein absolute Lage (Oben, Unten). d) Er ist nicht isotrop, es ist also nicht gleichgültig, in welche Richtung sich ein Ereignis ausbreitet, liturgisch ist es bedeutsam, ob der Priester linksherum oder rechtsherum um den Altar geht. e) Der profane Raum ist metrisch dadurch definiert, daß jeder seiner Gegenstände eine dreidimensionale Ausdehnung hat. Dies gilt für den mythischen Raum nicht. 79 Ebensowenig wie der Raum ist für den Menschen einer mythischen Epoche die Zeit homogen. Es gibt die Intervalle heiliger Zeit und andererseits die gewöhnliche, die profane Zeit. Die profane Zeit ist die sich erschöpfende, die verfallende Zeit, der profane Raum ist der Chaosraum, der Totraum. Raum und Zeit hängen aber auch etymologisch in ,templum' und ,tempus' zusammen. "Hermann Usener has the distinction of having been the first to explain the ethymological kindship between templum and tempus by interpreting the two terms through the concept of .intersection' (Schneidung, Kreuzung).80 Later studies have refined the discovery: , templum designates the spatial, tempus the temporal aspect of the motion of the horizon in space and time.'" 81

79 80 81

Hübner, K„ „Die Wahrheit des Mythos", a.a.O., S. 170. Eliade, M., „Myths, Rites, Symbols", a.a.O., Als Quelle gibt Eliade hier an: Usener, H„ „Göttemamen", a.a.O., S. 191ff. Ebenda, als Quelle gibt Eliade hier an: Müller, W., „Kreis und Kreuz", a.a.O., S. 39 und 3 3 ff.

Die Unterscheidung zwischen heilig und profan

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Eliade hat gezeigt, daß zwischen der heiligen und der profanen Zeit ein Bruch liegt, der jedoch mit Hilfe von Riten gefahrlos überwunden werden kann. Das heißt, der Mensch kann von der einen Zeit in die andere überwechseln.

Die hei-

lige Zeit ist ihrem Wesen nach rückholbar, wiederholbar, denn sie ist mythische Urzeit, Schöpfungszeit, die vergegenwärtigt wird. Jeder Kult ist die Reaktualisierung eines sakralen Ereignisses, das in der Urzeit, ,zu Anbeginn', stattgefunden hat. Eliade hat immer wieder auf diesen Punkt hingewiesen.83 Die heilige Zeit läuft nicht ab, erschöpft sich nicht. Der religiöse Mensch lebt also in zweierlei Zeit, deren wichtigere, die heilige, wiedererreichbar ist, in die das Mitglied einer archaischen Gesellschaft periodisch wieder eingefügt wird. So erneuert sich die Welt jedes Jahr, sie gewinnt mit jedem neuen Jahr ihre ursprüngliche Heiligkeit und Kraftgeladenheit zurück. Hübner hat darauf hingewiesen, daß wegen der identischen Wiederholungen von Urereignissen die mythische Zeit zyklisch sei. 84 Genauer gesagt ist die heilige Zeit zyklisch, da sie reversibel ist. Daneben lebt der Mensch auch noch in einer irreversiblen Zeit, die die profane Zeit seines sterblichen Daseins ist. Analog seiner Raumvorstellungen erfährt der archaische Mensch die heilige Zeit im Rahmen, also eingebettet in die profane Zeit, die fließt, sich darum erschöpft, während die heilige Zeit keinen Zeitfluß hat. ,J)er Mythos unterscheidet zwischen einer heiligen Zeit, die sich in einem göttlichen transzendenten Raum abspielt, und einer profanen, deren Bestimmung durch die Zeitmetrik erfolgt. Die heilige Zeit umfaßt nun eben jene Archai und Urereignisse, von denen bereits die Rede war ... Der springende Punkt liegt nun darin, daß solche Urereignisse sich nicht innerhalb des 82 83 84

Vgl. Eliade, M., „Das Heilige und das Profane", a.a.O., Kap. II, „Die heilige Zeit und die Mythen", S. 63ff. Vgl. ebenda. Vgl. Hübner, K„ „Die Wahrheit des Mythos", a.a.O., S. 142.

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Die Struktur des mythischen Denkens

kontinuierlichen und unendlichen Flusses der profanen Zeit abspielen und ihre Abfolge nicht auf etwas außerhalb dieser Ereignisse Liegendes reduziert oder daraus abgeleitet oder erklärt werden kann. Sie zeigen vielmehr eine jeweils nur ihnen eigentümliche Zeitgestalt und haben eine zyklische Struktur."85 Auch in Bezug auf die Zeit vergleicht Hübner die mythischen mit den modernen, naturwissenschaftlich geprägten Zeitvorstellungen und hält folgende Unterschiede fest: a) Die mythische Zeit ist kein Medium, in dem sich Ereignisse abspielen, sondern Zeit und Zeitinhalt bilden eine Einheit. b) Mythische Gegenstände können zeitlich nicht fixiert werden, sie erzählen lediglich eine bestimmte Ereignisabfolge. Zahlenangaben geben die Bedeutung wieder. c) Die mythische Zeit ist mehrdimensional, denn sie besteht aus profaner und heiliger Zeit. Die profane Zeit läuft ab, sie ist nach vorn hin offen, sie ist irreversibel, sie hat eine Gegenwart. Die heilige Zeit dagegen ist zyklisch, sie markiert keine Gegenwart. Sie kennt keinen kontinuierlichen Zeitzusammenhang, denn sie besteht aus teilweise unabhängigen Zeitgestalten, den ,Archai'. d) Die heilige Zeit ist in die profane eingebettet, wo immer sich eine Arche .ereignet'. Vergangenes kehrt wieder. Aus profaner Sicht ist es sogar etwas Zukünftiges. So fallen Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart zusammen. e) Dazu kommen metrische Unterschiede zu heutigem Zeitempfinden. Nur die profane Zeit ist meßbar. Da die heilige Zeit aus der Wiederholung des Gleichen besteht, ist sie seriell nicht abzählbar. Das Ereignis einer Arche hat im Sinne einer zeitlichen Metrik keine Dauer. 86

85 86

Hübner, K., „Der Mythos, der Logos...", a.a.O., S. 30. Vgl. Hübner, K., „Der Mythos, der Logos..." a.a.O., S. 157.

Die Verbindung mit einem Kult

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1.6. Die Verbindung mit einem Kult Als Kult soll hier ein Komplex religiöser Rituale verstanden werden. Mythos und Kult sind eng miteinander verbunden, ja, daß einem Mythos ein Kult zugeordnet werden kann, dient als Echtheitsausweis für denselben. Das außerhalb der Zeit liegende mythische Urereignis begründet das innerzeitliche Geschehen durch seine Wiederholung im Kult. „Indem der Mythos gewissermaßen die Theologie, die verbale Darstellung der dramatischen Auffassung des Ritus darstellt, ist er wie von selbst an die großen archetypischen Szenen des Ritus gebunden." 87 Das mythische Wort wird kultisch begangen und realisiert damit die ewige Geltung des mythischen Urereignisses. Der Ritus ist darstellerisch, mimisch, er verleiblicht damit den Mythos für einen Stamm, eine Gruppe, eine Glaubensgemeinschaft. Die enge Zusammengehörigkeit von Kult und Mythos herausgestellt und anhand von breitem ethnologischem Material untersucht zu haben, ist das bleibende Verdienst der soziologisch-ritualistischen Schule, deren herausragender Vertreter B. Malinowski ist. Im Kult, so hat er betont, wird der Mythos dargestellt als eine größere und relevantere Wirklichkeit, die das gegenwärtige Leben bestimmt. So ist der Mythos nicht gemacht, um Erklärungen zu liefern, sondern Begründungen der Welt und jedes Momentes in ihr. Freilich hat damit der Mythos auch die Fähigkeit, erklärend zu sein. 88 Die kultische Begegnung war auch die Begegnung mit einer Gottheit und seiner Ursprungstat in einer symbolisch-dramatischen Aufführung. Aber diese Aufführung, darauf weist Hübner hin, hatte einen realen Sinn, keinen bloß allegorischen oder nachbildenden, der Vorgang wurde vollzogen, nicht nur nachgeahmt. Es handelte sich um Realität, nicht um Repräsentation. Weil der Gott den kul-

87 88

Drewermann, E., „Tiefenpsychologie und Exegese", Bd. 1, a.a.O., S. 310. Vgl. Malinowski, B., „Magie, Wissenschaft, Religion", a.a.O..

30

Die Struktur des mythischen Denkens

tischen Tänzer durchdringt, wird er zum Gott während der Dauer des Rituales. Es ist allgemein geteilte Überzeugung, daß auf der rechten Auffassung der Riten der Fortbestand des menschlichen Lebens, sogar die Existenz der Welt beruht. 89 Man kann es auch mit Eliade sagen: Im Kult wird der Mythos gelebt, so schafft er exemplarische Modelle für alle Riten und für alle wichtigen Tätigkeiten - Ernährung oder Heirat, Hausbau oder Erziehung, Kunst oder Bestattung. Es handelt sich nicht um eine Erinnerungsfeier (commemoration) mythischer Ereignisse, sondern um ihre Wiederholung (reiteration): Das bedeutet zugleich, daß der Kultteilnehmer sporadisch zum Zeitgenossen der Götter wird. 90 Ganz ähnlich drückt es W.F. Otto aus, wenn er schreibt: „Die heiligsten Begegnungen in den Gottesdiensten aller Völker sind ein Gedächtnis und eine genaue Wiederholung dessen, was in Urzeiten von Göttern selbst getan worden ist."91 Drewermann hat darauf hingewiesen, daß der Kult imstande sei, starke Affekte zu binden. 92 Ihm geht es auch um die sozialintegrierende Funktion des Mythos, „weil er in sich selbst die großen Leidenschaften und Gefühle, die zentrale Themen des menschlichen Daseins gerade im Zeitpunkt ihrer Krise aufgreift, zur Darstellung bringt und damit in kulturfähiger Weise löst und beantwortet."

Der Folgerung

freilich, die er daraus zieht, kann nicht zugestimmt werden, wenn er nämlich die Götter - mögen sie Osiris, Christus oder Maria heißen - als mächtige Gestalten sieht, die aus dem Unbewußten steigen.

„Denn

es erscheinen dem Bewußtsein auf

diese Weise im Kult die Inhalte des Unbewußten als absolute, transzendente und autonome Mächte, so daß der Ritus selbst religionspsychologisch zum Offenba89 90 91 92 93

Vgl. Hübner, K., „Die Wahrheit des Mythos", a.a.O., S. 194, Hübner bezieht sich hier auf Cassirer. Vgl. Eliade, M., „Myth and Reality", a.a.O., S. 18f. Otto, W.F., „Die Gestalt und das Sein", a.a.O., S. 13. Vgl. Drewermann, E., „Tiefenpsychologie und Exegese", Bd. 1, a.a.O., S. 304. Drewermann, E., „Tiefenpsychologie und Exegese", a.a.O., S. 309.

Die Verbindung mit einem Kult

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rungsort des ,Heiligen', des Numinosen, zur Gegenwart des Gottes werden kann." 94 Drewermann liefert für diese gewalttätige Psychologisierung und Subjektivierung, als deren Folge das Unbewußte des Menschen zum Göttlichen aufsteigt, keine Begründung. Er legt aber ein breites und differenziertes Material vor und weist auch auf A. van Gennep hin, dessen wichtiges Werk: „Les rites de passage" schon 1909 publiziert wurde und seitdem vielfältig zitiert wird. Mit den ,rites de passage' sind Übergangsriten gemeint, die das Individuum einer archaischen Gesellschaft von einem Zustand in den nächsten geleiten und somit eine stabilisierende Funktion haben. Diese Riten begleiten Schwangerschaft, Geburt, Initiation, Heirat und Tod und haben überall die gleiche Grundstruktur, die Gennep .Trennung' (Separation), .Übergang' (marge) und .Einfügung' (agregation) nennt. 95 „Vielleicht sollte man die Differenz des Mythischen gegenüber dem Rituellen und Kultischen vor allem darin sehen, daß ersteres zur Zeit, letzteres zum Raum eine stärkere Affinität zeigt." 96 Kerenyi hat sich darüber gewundert, daß das spezifische Festlichkeitsgefühl, das dem Kult eignet, bei Religionswissenschaftlern und Ethnologen so wenig beachtet worden sei. 97 Hübner hat später das Fest allerdings als „kennzeichnendste Lebensäußerung" des Mythos bezeichnet.98 Ihm zufolge stellt das Opfermahl, bei welchem ein Gott zu Gast ist, das Herzstück des mythischen Kultes dar. „So ist das mythische Opfermahl, bei allen tiefgreifenden Unterschieden im Einzelnen und Inhaltlichen, ebenso Kommunion mit einer Gottheit wie das christliche."99 „Das

94 95 96 97 98 99

Drewermann, E., „Tiefenpsychologie und Exegese", a.a.O., S. 306. dargestellt nach: Drewermann, E., „Tiefenpsychologie und Exegese", a.a.O., S. 308. Müller, H.-P., „Jenseits der Entmythologisierung", a.a.O., S. 46. Vgl. Kerenyi, K., „Die antike Religion", a.a.O., S. 47. Hübner, K„ „Die Wahrheit des Mythos", a.a.O., S. 186. Hübner, K., „Die Wahrheit des Mythos", a.a.O., S. 189.

32

Die Struktur des mythischen Denkens

Fest- und Feierliche des mythischen Festes lieg aber darin, daß in ihm der Gott gegenwärtig ist, daß sich in ihm eine Epiphanie ereignet." 100 A. Dietrich gibt an, welchen Weg die Riten nehmen, wenn sie sich nach und nach von den Mythen lösen. Wenn nämlich der Glaube, der den Ritus schuf, abgestorben ist oder nur noch in Resten existiert, dann verselbständigt sich der Ritus und bleibt noch Jahrhunderte lebendig im Volksbrauch. Insofern liegen im Volksaberglauben die Endzustände von Kulten und ihren dazugehörigen Mythen. 101

1.7. Abgrenzung des Mythos gegenüber Märchen, Sagen und Legende Märchen, Mythos, Sage und Legende liegen so dicht beieinander, daß sie kaum voneinander gesondert werden können. Kerenyi hält es für eine unleugbare Tatsache, daß es in stofflicher Hinsicht keinen Unterschied gibt. 102 Immerhin hält er bei den Märchen im Vergleich zu den Mythen einen Verlust an „stofflichem Adel" für möglich. 103 Jürß sieht den Unterschied zwischen Mythos und Märchen auch nicht im Stofflichen, sondern im .Glauben'. Den Märchen liegt ein in „früheren Zeiten geglaubter Kern, ein Mythos zugrunde." 104 Das heißt, aus den Mythen werden in aufgeklärter Zeit, wenn man nicht mehr an sie glaubt, Märchen. Jeder Mythos muß so einmal zum Märchen werden, jeder Mythos ist lebendig geglaubtes Märchen. Hier werden freilich die unleugbaren Unterschiede zwischen Mythos und Märchen nicht mehr gesehen, sie liegen nunmehr noch im, Subjekt', in der Art, wie eine Er-

100 101 102 103 104

Hübner, K„ „Die Wahrheit des Mythos", a.a.O., S. 186. Vgl. Dietrich, A., „Mutter Erde...", a.a.O., und Beth, K , „Mythologie und Mythus". Vgl. Kerenyi, K., „Die antike Religion", a.a.O., S. 23f. Kerenyi, K„ „Die antike Religion", a.a.O., S. 24. Jürß, F. „Vom Mythos der alten Griechen", a.a.O., S . l l .

Abgrenzung des Mythos

33

Zählung aufgefaßt wird. Bei fließenden Grenzen sind die Schwerpunkte von Mythen, Märchen, Sagen und Legenden aber noch verschieden gelagert. Drewermann hat demgegenüber sehr differenzierte Unterscheidungsmerkmale für diese vier Genres entfaltet, wobei sein Ansatz, im Traum (Archetypos) allein die Quelle zu sehen, nicht notwendig übernommen werden muß. Auch er sieht die Nähe dieser vier Formen, denn sie verarbeiten gleiches Material, aber von diesem wird unterschiedlich Gebrauch gemacht. 105 Mythenmotive, die ihres religiösen Gehaltes entkleidet werden, entwickeln sich durch freie Kombination zu Märchen. Da Religion am Anfang des Sprechens steht, sind Märchen sekundär gegenüber dem Mythos. Mythen sind stärker konfliktorientiert, Märchen dagegen wunschorientiert. Drewermann zitiert zustimmend S. Langer, wenn er hervorhebt, daß Märchen den kosmischen Bezug aufgegeben haben. 1 0 6 Der Mythos ist soziologisch geprägt; ohne den sozialen Organismus eines Stammes ist er nicht denkbar, während das Märchen diesen soziologischen Bezug aufgegeben hat und auf der psychologischen Ebene funktioniert. Während also der Mythos zum Kosmologischen hin transzendiert, verläßt das Märchen die soziale Wirklichkeit in Richtung Psychologie. Dieses Aufgeben des sozialen Bezuges kann auch als ein Gewinn betrachtet werden. Während der Mythos sein Sozialgefüge nicht verläßt,,gewinnen die Mythen, wenn sie nach ihrem Tod in verjüngter Form als Märchen wiedergeboren werden; sie erlangen eine Universalität und Freiheit, die ihren Stoffen im Stadium des Mythos schlechterdings verwehrt bleiben mußte." 1 0 7 Den Märchen ist es um Innerseelisches zu tun und nicht um Soziales oder gar Historisches. Für beide aber 105 106 107

Vgl. auch im Folgenden: Drewermann, E., „Tiefenpsychologie und Exegese", a.a.O., S. 142. Drewermann, E., „Tiefenpsychologie und Exegese", a.a.O., S. 142. Drewermann, E., „Tiefenpsychologie und Exegese", a.a.O., S. 143.

34

Die Struktur des mythischen Denkens

trifft zu, daß ihre Akteure überpersönlich sind, wenn auch die Namen im Mythos den Eindruck von Individualität hervorrufen, während es im Märchen vollends Typenbezeichnungen sind. Hänsel und Gretel sind Charakterfiguren, in denen sich jeder und jede wiedererkennen soll. Der Mythos spielt in Zeit und Ewigkeit, in heiligen und profanen Raum-Zeit-Verhältnissen, das Märchen ist zeit- und raumlos, denn Zeit und Raum sind hier innerpsychische Realitäten. Ein auffälliger Unterschied besteht darin, daß Mythen eine tragische Grundstruktur haben, denn sie bilden Grundwidersprüche des Menschen ab. Sie lösen sie nicht, aber sie deuten sie und können so zwischen den harten Polaritäten vermitteln und Weisheit lehren. Drewermann weist darauf hin, „daß die Mythen selten ohne Tragik sind, während die Märchen bis auf Ausnahmen, dem Glück des Einzelnen vertrauen. Die Mythen sind zu wahr, als daß sie an den Lebensgegensätzen vorbeiphilosophieren könnten. Sie mögen die Ambivalenzen, die Polaritäten, die erschreckenden Weltgegensätze zwischen Tod und Leben, Gut und Böse, Menschenordnung und Naturgefüge miteinander in vermittelnden Symbolen auslegen, versöhnen und verständlich machen, aber sie werden diese Gegensätze selber nicht verleugnen. Das Märchen denkt .kürzer'. Mag das Leben als Ganzes auch tragisch sein, so kann doch der Einzelne darin sein Glück finden ,.." 1 0 8 Mythen zeugen von schonungsloser Lebenswahrheit. Auch in den Sagen und Legenden ist der Stoff im Grunde mythischer Art, aber er ist in einer anderen Richtung weiterbearbeitet worden. Sage und Legende erzählen auch, was immer gilt, aber sie zielen dabei auf die Historie, mit der sie allerdings frei umgehen. Die Legende hat wie der Mythos eine religiöse Zielsetzung, die

108

Drewermann, E., „Tiefenpsychologie und Exegese", a.a.O., S. 145.

Abgrenzung des Mythos

35

Sage wiederum hat mit dem Märchen gemein, daß sie beide profan sind und des Religiösen entkleidet. Man kann Märchen als einen profanisierten Mythos und Sage als eine profanisierte Legende verstehen. 109 So siedelt die Legende im Unterschied zur Sage im Gebiet des Erbaulichen. In der Form der Sage geht der Mythos in die Zeitlichkeit ein, denn erzählt wird nun die Geschichte eines Volkes, freilich in mythischen Bildern. Sagen ähneln den Mythen in ihrer Konfliktorientierung, wohingegen Legenden wie Märchen stärker wunschorientiert sind. So versucht Drewermann deutlich zu machen, daß Mythos, Märchen, Sage und Legende zwar mit dem gleichen Material arbeiten, aber im doppelten Spannungsfeld von .Religiös-Profan' und .Geschichtlich-Ungeschichtlich' an j e verschiedenen Stellen wurzeln. 110

109 110

Drewermann, E., „Tiefenpsychologie und Exegese", a.a.O., S. 150. Drewermann, E., „Tiefenpsychologie und Exegese", a.a.O., S. 152.

2. Der Weg der Mythen von ihrer Herkunft aus archaischen Gesellschaften bis zu ihrer Ankunft in der Gegenwartsliteratur 2.1. Schriftliche Fixierung - Allegorisierung - Historisierung Es liegt auf der Hand, daß die Mythen, die wir in der Gegenwartsliteratur verwendet finden, nicht mehr die gleichen sind, wie sie es in den archaischen Gesellschaften waren. Es ist also nötig, den Prozeß ihrer Veränderung zu beschreiben. Im ersten Kapitel war der Mythos als Ausdrucks-, Denk- und Lebensform archaischer Gesellschaften charakterisiert worden. Was geschah mit ihm nach der allmählichen Auflösung der ursprünglichen Gesellschaften? U. Mann hat gezeigt, wie es in sehr unterschiedlichen Zeiträumen zur Ausbildung der Hochkultur und dann der Hochreligion gekommen ist.1 Dies hatte tiefgreifende Auswirkungen auf die Mythen. Nach und nach lockerte sich die Verbindung mancher Mythen zu dem dazugehörige Kult, sie verselbständigten sich. Zudem wurden sie nun schriftlich fixiert; und nur in dieser Form - sieht man von bildlichen Darstellungen ab - sind sie uns überliefert. Das heißt, die Mythen sind uns in einer Form überliefert, die einer Zeit entspricht, als ihre Kraft schon zu erlöschen begann. Für uns ist damit auch undeutlicher geworden, daß es von den jeweiligen Mythen eine festgeschriebene Urform nicht gab, sondern daß mehrere 1

Vgl. Mann, U., „Schöpfungsmythen", a.a.O..

Schriftliche Fixierung - Allegorisierung - Historisierung

37

Varianten von Anfang an nebeneinander her bestanden, ohne daß ihre Bedeutung gewichtet war oder ihrer Autorität Abbruch getan wurde. In dieses Variantennebeneinander griff die schriftliche Fixierung empfindlich ein. Gadamer bedenkt diesen Tatbestand, wenn er schreibt:

„Man

hört es dem Wort

Mythos förmlich an, ... daß das eigentliche Leben des Mythos sich als Sage und Weitersage vollzieht und mit kanonischer Schriftlichkeit im Wesen unverträglich ist." 2 Allerdings, so fährt er fort, bedeute das für die griechischen Dichter sowohl des Epos als auch der Tragödie nicht, daß ihre schriftlich niedergelegten Texte, die sie mit ihren Empfindungen anreicherten, kanonische Geltung gewonnen oder beansprucht hätten. Erst die Auszeichnung von Schriften im Judentum wie im Christentum als .heilige' Schriften stellt einen Bruch mit dem Mythos dar. 3 „Es ist gewiß kein Zufall, daß diese Offenbarungsreligionen Religionen des Buches sind", 4 resümiert er. Mit der schriftlichen Fixierung ging in vielen Fällen eine gewisse Systematisierung der Mythen zur Mythologie einher. Vor allem im griechischen, aber auch im vorderorientalischen Kulturraum wurden Götter und ihre Kultgeschichten durch verwandtschaftliche und genealogische Beziehungen in Gesamtsystemen untergebracht, ohne daß diese Geschlechterabfolgen zugleich ein chronologisches Nacheinander bedeuteten. Als am Folgenreichsten jedoch sollte sich der Zug zur Allegorisierung herausstellen. In dem Maße, wie der Glaube an die Götter und ihre mythischen Geschichten an unmittelbar einleuchtender Überzeugungskraft verlor, an prägender Kraft für das kollektive Dasein ebenso wie für das Individuum, „wurden die Göttergestalten

2 3 4

Gadamer, H.-G./Fries, H., „Mythos und Wissenschaft", a.a.O., S. 13. Vgl. Gadamer, H.-G./Fries, H., „Mythos und Wissenschaft", a.a.O.. Vgl. Gadamer, H.-G./Fries, H., „Mythos und Wissenschaft", a.a.O., S. 13.

38

Der Weg der Mythen

und alle mit ihnen verbundenen Vorstellungen als Allegorien aufgefaßt, als ,Anders-sagungen' für gewisse menschliche Eigenschaften und Handlungen."5 Hübner hat ausgeführt, wie etwa bei den Stoikern und Epikureern Mythen als Gleichnisse und Personifikationen von Naturmächten aufgefaßt wurden. Der Grund dafür wurde in der primitiven Unwissenheit und Unaufgeklärtheit der Menschen gesehen. 6 Hand in Hand mit der Allegorisierung ging, allerdings in verschiedenen Kulturkreisen sehr unterschiedlich, eine gewisse Historisierung. Die ewige Gegenwärtigkeit des Mythos verlor an Interesse gegenüber der chronologischen Geschichtsschreibung. Jedoch darf man sich wohl dieses Interesse keinesfalls im modernen Sinn vorstellen. Eingebettet blieb die Geschichtsschreibung immer in ein mythisches Gesamtkonzept von Geschichte, auch wenn Historie und Mythos einander entgegengesetzt erscheinen, weil sich die Historie aus einer Kette einmaliger, unwiederholbarer Ereignisse in Raum und Zeit zusammensetzt, der n

Mythos aber das immer Gegenwärtige bezeichnet. Drewermann plädiert dafür, die alternative Fragestellung, Historie oder Mythos, fallenzulassen zugunsten einer Theorie, die von der Übersetzung äußerer historischer Fakten in die Sprache mythischer Formen ausgeht.8 So fragt er, „ob man es bei dem Bedauern belassen will, daß die Alten zu einer .wirklichen' Geschichtsschreibung außerstande waren, oder ob man es akzeptiert und als Gewinn hochzuschätzen lernt, daß sie die Geschichte, die ihnen wichtig war, als ewige Geschichte , als Mythen überliefert haben." 9

5 6 7 8 9

Beth, K., „Mythologie und Mythus", a.a.O.. Vgl. Hübner, K., „Die Wahrheit des Mythos", a.a.O., S. 50. Vgl. Drewermann, E., „Tiefenpsychologie und Exegese", a.a.O., S. 300f. Vgl. Drewermann, E., „Tiefenpsychologie und Exegese", a.a.O., S. 336. Drewermann, E., „Tiefenpsychologie und Exegese", a.a.O., S. 331.

Umgang des AT mit altorientalischen Mythen

39

Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß nach dem Ende archaischer Gesellschaften Mythen von den darauffolgenden Kulturen zwar übernommen, aber auch verändert und umgebaut wurden. Das mythische Denken blieb als Humus erhalten. „Als Verständigungsmittel kann der Mythos eine Teil seiner Bedeutung sogar dann noch behalten, wenn die ihm ursprünglich zugehörigen Riten und Kulte an Integrationskraft verlieren oder gar nicht mehr ausgeübt werden." 10

2.2. Der Umgang des Alten Testaments mit den altorientalischen Mythen Es kann hier nicht die gesamte, sehr ausgedehnte Diskussion unter Alttestamentlem, wie und in welchem Umfang altorientalische Mythen in die Bibel eingewandert sind, ausgebreitet werden. Jedoch erscheint der Ansatz, den R. Lux in seinem Aufsatz „Die Rache des Mythos" 11 entwickelt hat, der Aufarbeitung des Problems, dem sich diese Arbeit stellt, angemessen zu sein. Das liegt zum einen daran, daß die Frage nach dem Verhältnis von Mythos und Altem Testament präzise gestellt wird, und zum anderen, daß ein differenziertes Modell gefunden wurde, eben diese Frage darzustellen und zu untersuchen. Für R. Lux ist einerseits deutlich, daß es im alten Israel eine Tendenz zur Mythenliquidation gab, mindestens jedoch eine Reserve gegenüber den Mythen der Umwelt. Andererseits hatte Israel Anteil an der mythischen Bilderwelt des Alten Orients, wurzelte also in der mythischen Denk- und Lebensform seiner Umgebung. Daraus ergibt sich als Ergebnis eine Transformation von Mythen hinein in das Alte Testament, die mehr ist als eine bloß Anleihe.12 10 11

Müller, H.-P., „Jenseits der Entmythologisierung", a.a.O., S. 45. Lux, R., „Die Rache des Mythos", a.a.O., S. 157-170.

40

Der Weg der Mythen

Der von Lux benannten Tendenz zur Mylhenliquidation liegen mehrere Faktoren zugrunde, von denen hier der Zug zum Monotheismus und zur Historisierung näher ausgeführt werden soll. Der Monotheismus, der sich im Alten Testament immer mehr durchsetzte, war auf die Reinheit des Gottesbegriffes aus und darauf, Gott und Welt weit auseinanderzuhalten. 13 Auch wenn das Reden von Jahwes Menschengestalt die ganze Bibel durchzieht, 14 so ist doch auch die Abhebung von aller anthropomorphen Rede zu spüren. 15 Jahwes Kommen und Eingreifen sieht H.-P. Müller an als die Aufhebung des Mythischen: .Jahwes Kommen und Eingreifen durchbricht den Zusammenhang des Mythischen sozusagen von außen, weil Jahwe die gegenständliche Welt, in die er ankommt, bei seinem Eingreifen aufsprengt." 16 Grundlegende Übereinstimmung besteht darin, daß eine polytheistische Welterfahrung dem Mythischen zumindest näher steht. So ist die Entwicklung hin zum Monotheismus, die aber auch anderswo zu beobachten ist, ein Weg aus dem Mythos heraus. „Die Einflußsphären der Götter werden in den verschiedenen Religionen sowohl sachlich als auch räumlich und zeitlich gegeneinander abgegrenzt. Machen verschiedene Götter einander den gleichen Funktions-, Raum,- und Zeitbereich streitig, so können sie, sofern nicht einer den anderen verdrängt, auch als Gestalten miteinander verschmelzen: Verbindungen von Namen mit scheinbaren Epitheta wie Jahwe El äljon Gen. 14,22 entstammen oft solchen Ineinssetzungen einstmals selbständiger Größen. Auf der verlängerten Linie dieser Synthesen entsteht eine Art von Monotheismus, wie er in Spätzeiten religiöser Kulturen nicht

12 13 14 15 16

Vgl. Waschke, E.-J., „Mythos als Strukturelement...", a.a.O.. Vgl. Lux, R., „Die Rache des Mythos", a.a.O., S. 157. Vgl. Müller, H.-P., „Jenseits der Entmythologisierung", a.a.O., S. 70. Vgl. Lux, R., „Die Rache des Mythos", a.a.O., S. 157. Müller, H.-P., „Jenseits der Entmythologisierung", a.a.O., S. 49.

Umgang des AT mit altorientalischen Mythen

41

selten angestrebt wird. Solche Stillegung der Vielfalt und ihrer Konflikte geschieht freilich oft auf Kosten der Lebendigkeit der Gottesgestalten." 17 Ähnlich Lux, wenn er zustimmend Gershom Scholem zitiert: „Diese Tendenz, den transzendenten Gott vor aller Verflechtung ins Mythische zu schützen,... führt aber zu einer Entleerung des Gottesbegriffes ... Die R e i n h e i t . . . wird mit der Gefährdung der Lebendigkeit erkauft." 1 8 Daß die Tendenz zur Historisierung aus den Mythen herausführt, also in einem gewissen Sinne Entmythologisierung ist, hat schon K. Kerenyi betont. 1 9 „Die Historisierung des Mythos galt", E. Noort zufolge, „längere Zeit als eine Wünschelrute, mit der man den Umgang des Alten Testamentes mit der altorientalischen Denk- und Glaubenswelt auf die Spur kommen und ihn bewerten konnte. Und obwohl sich auch Gegenstimmen erhoben, die den Mythos nicht nur negativ bewerten wollten und auch einer theologischen Beurteilung der Umkehrung: einer Mythisierung der Geschichte, nicht aus dem Weg gingen, so galt doch die Geschichtsbezogenheit Israels als Eigenheit par excellence. Denn wo der Mythos sich nach der Gunkelschen Definition in der Ätiologie ausdrückte, mit ihrer Kernfrage d e s , W a r u m ' , und dieses, Warum' seitdem als die .große Kinderfrage aller Zeiten' durch die Literatur ging, war die Primitivität eines solchen Fragens festgelegt. Pointiert gesagt: Im religiösen Kindesalter lebt man mit dem Mythos, im Erwachsenendasein tauscht man den Mythos ein gegen die Wirklichkeit der Geschichte." 2 0 Hier wird in den Blick genommen, daß der Prozeß der Zerstörung des Mythos im Zuge der Historisierung auch umschlagen kann in den Prozeß der Mythisierung der Geschichte. H.-P. Müller untersucht diesen Umschlag genauer, stellt 17 18 19 20

Müller, H.-P., „Jenseits der Entmythologisierung", a.a.O., S. 24. Lux, R„ „Die Rache des Mythos", a.a.O., S. 157. Vgl. Kerenyi, K., „Theos und Mythos", a.a.O.. Noort, E., „Zwischen Mythos und Rationalität", a.a.O., S. 149.

42

Der Weg der Mythen

aber zunächst erst einmal klar, daß die Äußerungen über ein geschichtliches Eingreifen der mesopotamischen Götter vergleichsweise seltener sei; ihr Betätigungsfeld sei eher das urzeitliche primuin actum sowie der Naturzyklus. Zudem würde auch die Geschichte im AT nicht auf vordergründige Weise zum Universalschlüssel der Wirklichkeit gemacht, sondern integriere die mythischen Urzeittraditionen von Schöpfung, Flut und Fall ebenso wie die Weisheitstraditionen.21 Jedoch bestätigt sich für ihn dann nicht die Behauptung von der grundsätzlichen Diastase des Mythischen gegenüber der Geschichte, 22 vielmehr kommt es für ihn zu einer „Wiederkunft des Mythischen in der heilsgeschichtlichen Erzählung" 23 Bezugnehmend auf die Erzählungen von der Rettung am Schilfmeer führt er aus: „Bedingt die Erzählung vom Handeln Jahwes in der Geschichte deren Mythisierung, so entspricht dem zuletzt, daß das Erzählte zu einer Art Urgeschehen wird, das die Gegenwart des Erzählers begründet, umschließt und normiert. Freilich liegt die betreffende Urzeit nun in der Geschichte wie diejenige Homers." 24 Mythisierte Geschichte aber ist daran erkennbar, „daß sie historisch nicht verifizierbar ist." 25 Neben dem Hang zur Verwerfung der Mythen sieht R. Lux aber auch die Tendenz zur Mythenrezeption, weil Israel Anteil hatte an der mythischen Bilderwelt des Alten Orient, indem es gewählt, verworfen, übernommen und das Erbe in einem neuen Interpretationszusammenhang gestellt habe. 26 „... ist in der selektiven Übernahme der mythischen Sprach- und Bilderwelt nicht immer auch ein Stück vom Wesen des Mythos erhalten geblieben?" fragt R. Lux.

21 22 23 24 25 26 27

97

Vgl. Müller, H.-P., „Jenseits der Entmythologisierung", Vgl. Müller, H.-P., „Jenseits der Entmythologisierung", Vgl. Müller, H.-P., „Jenseits der Entmythologisierung", Vgl. Müller, H.-P., „Jenseits der Entmythologisierung", Vgl. Müller, H.-P., „Jenseits der Entmythologisierung", Vgl. Lux, R„ „Die Rache des Mythos", a.a.O., S. 157. Ebenda.

a.a.O., a.a.O., a.a.O., a.a.O., a.a.O.,

S. S. S. S. S.

55. 59. 57. 67. 69.

Umgang des AT mit altorientalischen Mythen

43

Unbestreitbar ist, daß die alttestamentliche Botschaft aus einer mythenbestimmten Umwelt kommt. Für F. Stolz spielt der Mythos in der altisraelitischen Religion eine tragende Rolle, wobei ihm sein weitgefaßter Mythosbegriff die Sicht erleichtert. Ob es nun Urzeitgeschichten, Vätersagen, Helden- und Kriegsgeschichten, Psalmen oder apokalyptische Stücke sind, gemeinsam ist ihnen, „daß durch den Vorgang der Narration Wirklichkeit gesetzt und begründet wird. Insofern halte ich diese Redeformen insgesamt für mythisch." 28 Andere sind sehr viel vorsichtiger, wenn sie Alttestamentliches dem Mythos zuschlagen. Mindestens aber für die sogenannte Urgeschichte, also die ersten 11 Kapitel der Bibel, besteht eine gewisse Übereinstimmung, jedenfalls Annäherung, die mit Westermann so formuliert werden könnte: Die Hauptmotive der biblischen Urgeschichte begegnen „in der Frühzeit der Völker über die ganze Erde hin", darin kommt etwas „der Menschheitsgeschichte Gemeinsames zum Ausdruck", was gerade „deswegen für die Zukunft der Menschheit von Bedeutung werden kann." 29 „Von Gott wird in der Urgeschichte so geredet, daß sein Wirken die ganze Welt und die ganze Menschheit umfaßt ... Urgeschichte bedeutet: Das, was hier geschieht, liegt allem Geschehen zugrunde, in zeitlicher und räumlicher Erstreckung ... Gott hat es hier nicht mit einem bestimmten Volk, auch nicht mit einer bestimmten Religion zu tun, sondern mit dem Ganzen der Welt und dem Ganzen der Menschheit, vom Anfang bis zum Ende." 30 So erweist sich die alttestamentliche Mythenrezeption als Transformation, deren Ausmaß in der Literatur allerdings sehr unterschiedlich eingeschätzt wird. Müller jedenfalls hält die Aufnahme von Mythen nicht nur für ein „Zugeständnis an un-

28 29 30

Stolz, F., „Der mythische Umgang..." a.a.O., S. 93. Westermann, C., „Im Anfang...", a.a.O., Teil 1, S. 6. Westermann, C., „Im Anfang...", a.a.O., S. 129.

44

Der Weg der Mythen

verbesserliches Heidentum oder poetische Ausschmückung zu konträr gezielten Absichten; sie hat vielmehr ein theologisches Recht und eine theologische Funktion ... " 3 1 R . Lux rechnet mit der Möglichkeit eines dialektischen Umschlages der theologischen Begriffssprache in die Symbolsprache des Mythos, also die ihm eigene Sprache, innerhalb der biblischen Uberlieferung.

Und Gunkel findet My-

thisches vor allem in den poetischen Stücken des Alten Testamentes.„Daß es aber gerade die Dichter sind, die diese Mythen so liebten, ist gewiß kein Zufall; zehrt doch die Dichtung der ganzen späteren Welt von der Herrlichkeit der alten mythischen Gebilde ... Eben darauf aber, daß Israel die Mythologie zwar im Grundsatz überwunden, im einzelnen aber vielfach beibehalten hat, beruht die besondere Schönheit der biblischen Dichtung" 33 Es bleibt aber mit Gadamer daran zu erinnern, daß die schriftliche Fixierung in einer als autoritativ verstandenen Heiligen Schrift schon eine gewisse Absage an die bunte, variantenreiche Fülle erzählter Mythen bedeutet.34 Zusammenfassend läßt sich ein .wenig verkürzt sagen: Wenn denn schon der Mythos im Alten Testament nicht gefunden werden kann, so doch das Mythische - verstanden als Denkform, als Subkultur des Mythos, als Humus. 35 Als Ausblick bis in die Gegenwart hinein soll hier ein Votum eines Religionswissenschaftlers stehen, H. Bürkle, der dem christlichen Heilsverständnis nachdenkt: „Es bedarf der zeittranszendenten und raumtranszendenten mythischen Vermittlung, wenn es (das Heils Verständnis, d.V.) in seiner biblisch erzeugten kosmischen Ewigkeitsdimension festgehalten werden soll. Wo sie abgeschnitten wird, wird zu-

31 32 33 34 35

Müller, H.-P., „Jenseits der Entmythologisierung", a.a.O., S. 75. Vgl. Lux, R., „Die Rache des Mythos", a.a.O., S. 157. Gunkel, H., „Mythus und Mythologie im AT", a.a.O.. Vgl. Gadamer, H.-G./Fries, H., „Mythos und Wissenschaft", a.a.O., S. 17f. Vgl. Lux, R„ „Die Rache des Mythos", a.a.O.. S. 158.

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Mythische Strukturen im NT

gleich der Zugang zur Wirklichkeit des nachösterlichen und erhöhten Christus versperrt. Die Theologie muß sich dann auf die überschaubaren Themen des Tages reduzieren. Sie aber verlieren ihren Bezugsrahmen in der das All umgreifenden Christusherrschaft. Hand in Hand geht eine Einbuße an geschichtlich-endzeitlicher Orientierung." 36

2.3. Mythische Strukturen im NT Im NT werden Mythen anders aufgenommen, verarbeitet und gebrochen als im AT. Freilich ist der Unterschied nicht so zu verstehen, daß die Schriftsteller des NT mythenkritischer wären als die des AT, weil sie Mythen als . f a b e l n " oder „Lügen" ansähen. Das tun sie zwar in der Tat, es handelt sich dabei aber um Abwehrreaktionen gegen andere religiöse Strömungen, um Polemik also, mit deren Hilfe man sich von anderen Glaubensweisen absetzen möchte, die als gefährlich angesehen werden. Noch 1536, als das Wort .Mythos" erstmals im deutschen Sprachgebrauch nachgewiesen wird (und zwar im Lexikon des in Straßburg lebenden Gelehrten Dasypodius „Dictionarium Germanico-Latinum") wird es wiedergegeben als „erdichtete Märe" und Jatine fabula". Im 15. Jahrhundert galt der Mythos als „lügmere", nach Luther als „ungeistliche aber und altvettersche Fabeln". Im Teutschen Dictionarius von 1571 gilt „fabula" als „Fabel/Meer/ein sag/sie sey war oder nit".

36 37 38

•50

Bilrkle, H., „Theologische Konsequenzen..." a.a.O., S. 359. Dieses Kapitel danke ich den aufschlußreichen Gesprächen und den Vorarbeiten von Dr. Christoph Kahler / Leipzig. Vgl. Betz, W„ „Zur Wortgeschichte von .Mythos'", a.a.O., S. 21-31, ders.: „Vom „ ,Götterwort' zum ,Massentraumbild'..." a.a.O., S. 11-24.

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Der Weg der Mythen

Der Unterschied in der Behandlung des Mythischen liegt zwischen AT und NT aber darin, daß im NT in geringerem Maße mythische Gesamtkonstruktionen verwendet werden als im AT, stattdessen werden mannigfache Materialbruchstücke aus dem großen Fundus jüdischer, vorderorientalischer und griechischer Mythen herangezogen und verarbeitet. Obwohl sich das NT mythenkritisch versteht, kann es insgesamt doch der mythischen Strukturen nicht entraten. Diese werden um eine zweifelsfrei historische Figur - Jesus von Nazareth - in konzentrischen Kreisen herumkomponiert. Geschichte in ihrer Faktizität aber bricht den Mythos. Nun ist es in den einzelnen Teilen des NT außerordentlich unterschiedlich, in welchem Grade Mythologeme herangezogen werden. G. Sellin weist darauf hin, „daß Paulus auch gerade mit ihnen, die er schon als Motive und Motivsysteme übernimmt, die strukturellen mythischen Züge seiner Theologie zur Geltung bringt. Diese begegnen aber bei ihm selbst dort, wo sie von der religionsgeschichtlich geprägten Exegese, die nach Motiven sucht, nicht vermutet werden: in der Struktur seiner Theologie (und nicht nur im Adam-Christus-Schema)." 39 Sellin hält die paulinische Predigt des Evangeliums für mythische Rede, und zwar aufgrund der Ineinssetzung von Inhalt und Wirkung. Diese Predigt hat Tod und Auferstehung Jesu zum Inhalt und zugleich macht sie die Hörer tot und lebendig. „Kreuzestod und Auferweckung Jesu sind eine mythische Arche, die im Akt der Verkündigung identifizierend nachvollzogen wird." 40 Die Auferweckung Jesu fällt mythisch zusammen mit dem vergangenen Urgeschehen, gegenwärtiger Repräsentation, die im Glauben geschieht, und zukünftiger leiblicher Auferweckung des Glaubenden vom Tode. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fallen hier zusammen. 41 Das

39 40 41

Sellin, G., „Mythologeme und mythische Züge...", a.a.O., S. 215. Ebenda S. 217. Vgl. ebenda S. 221.

Mythische Strukturen im NT

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Christusgeschehen in Kreuz und Auferstehung wird zum exemplarischen Modell - ein Prozeß, an den bei der dichterischen Umsetzung im 20. Jahrhundert noch zu erinnern sein wird. Nach Sellin erzählt Paulus „zwar keine Mythen, aber seine Theologie setzt in den wesentlichen Punkten die Ontologie des Mythos voraus." 42 Aber doch sehen wir insgesamt, wie sich im NT das Mythische ins Allegorische verdünnt oder auch ins Metaphorische („Im Gleichnis kommt Gott zur Sprache" 4 3 ) oder ins Apokalyptische - auch dies eine mythische Schwundform. Es ist bei gebotener Kürze nicht möglich, die Probleme, die das Miteinander bzw. Gegeneinander von Kerygma und Mythos aufwerfen, in den einzelnen Teilen des NT differenziert aufzufächern. So muß es bei der paradigmatischen Behandlung zweier kleiner und darum überschaubarer Komplexe bleiben, die freilich schlaglichtartig Strukturen deutlich zu machen vermögen, ohne jedoch ein Gesamtbild zu bieten: - Der Menschensohn in der jüdischen Überlieferung und im NT - Zu Phil 2, 5-11 als mythologischem Text

Der Menschensohn in der jüdischen Überlieferung und im NT

Die Vorstellung vom Menschensohn entstammt der frühjüdischen Apokalyptik. 44 Dabei kommen drei Quellentexte infrage: Daniel 7 4 5 , das Äthiopische Henochbuch 37-71 46 und das 4. Esrabuch 13 47 . Das Buch Daniel ist die jüngste Schrift des 42 43 44 45

Ebenda S. 222. Jüngel, E., „Gott als Geheimnis der Welt...", a.a.O., S. 403. Vgl. als gute Einführung in diese religiöse Strömung: Schreiner, J., „Alttestamentlich-jüdische Apokalyptik...", a.a.O.. Vg. den Kommentar von Plöger, O., „Das Buch Daniel", a.a.O., und den Forschungsbericht von Koch, K., „Das Buch Daniel", a.a.O..

48

Der Weg der Mythen

AT (entstanden zwischen 167 - 163 v.Chr.) und ist teilweise schon aramäisch geschrieben. Das Äthiopische Henochbuch gliedert sich in fünf - ursprünglich wohl selbständige - Schriften. Die Kapitel 37-71 werden als „Buch der Bilderreden Henochs" bezeichnet. Die Datierung dieser „Bilderreden" stellt sich als schwierig dar. Die Vermutung ist seit der Entdeckung aramäischer Henochfragmente in Qumran - unter denen gerade die „Bilderreden" fehlen - zunächst in Richtung Spätdatierung gegangen. So datierte J.T. Milik sie auf das Ende des 3.Jahrhunderts n.Chr. 48 . Inzwischen besteht jedoch breite Übereinstimmung darin, die Entstehung der „Bilderreden" wieder kurz vor der Zeitenwende anzusetzen49. Das 4.Esrabuch wurde um das Jahr 90 n.Chr. verfaßt. „Ben Adam" bzw. „bar Enosch" meint im Hebräischen sowie im Aramäischen zunächst nur „Sohn eines Menschen", d.h. .jemand", „einer", „irgendwer" und wird in diesem Sinne auch häufig gebraucht. Erst bei Daniel, dem äthiopischen Henoch und dem 4. Esrabuch ist daraus ein Titel geworden, der eine jenseitige, vorwiegend mit richterlichen Funktionen ausgestattete und für die Endzeit erwartete Figur des himmlischen Hofstaates bezeichnet 50 . In den synoptischen Evangelien begegnet uns der Titel „Menschensohn" etwa 70mal - und dies ausschließlich in Selbstaussagen Jesu: 12mal im Johannesevangelium, einmal in der Apostelgeschichte. Als alttestamentliches Zitat steht er zweimal in der Apokalypse und einmal im Hebräerbrief. ,flyios tou anthropou" über46 47 48 49 50

Übersetzung am besten bei: Uhlig, S., „Das äthiopische Henochbuch", a.a.O., S. 461780. Übersetzung am besten bei: Schreiner, J., „Das vierte Esrabuch", a.a.O., S. 289-412. Milik, J.T., „The Books of Enoch...", a.a.O., S. 96. Vgl. eine Zusammenfassung der Diskussion bei Charlesworth, J.H., „The SNTS Pseudepigrapha Seminars...", a.a.O., S. 315-323. Vgl. Otto, R., „Reich Gottes und Menschensohn...", a.a.O., Sjöberg, E., „Der Menschensohn im äthiopischen Henochbuch", a.a.O., Borsch, F.H., „The Son of Man...", a.a.O., Gerlemann, G., „Der Menschensohn", a.a.O., Caragounis, C.C., „The Son of Man...", a.a.O..

Mythische Strukturen im N T

49

trägt wörtlich die hebräisch-aramäische Wendung ins Griechische - sie wird also als fester Terminus verstanden. Nicht alle Aussagen gehen auf den historischen Jesus zurück - die Mehrzahl ist von der nachösterlichen Gemeinde bzw. den Redaktoren der Evangelien mit eingetragen worden - worin sich jedenfalls theologische Absicht zeigt. Als authentisch gelten etwa die folgenden Belege - ihre Zahl ist in der Literatur umstritten

die sich in drei Kategorien aufgliedern lassen:

- Worte vom kommenden Menschensohn (Lk 17,24.26 par; Lk 17,30; Lk 18,8; Lk 21,36; Lk 22,69; Mt 10,23) Diese Worte sind vor allem an die Jünger gerichtet und thematisieren die Frage von Verleugnen und Bekennen. Der Menschensohn wird als künftiger Richter an Gottes Statt gesehen und nimmt damit die frühjüdische Tradition direkt auf. - Worte vom gegenwärtigen Menschensohn (a: Mk 2,28 par; Mk 2,10 par - hier wird die Vollmacht des gegenwärtigen Menschensohnes betont; b: Mt 8,20 par; Mt 11,19 par; Mt 12,32 par - hier wird die Niedrigkeit des gegenwärtigen Menschensohnes ausgesagt.) - Worte vom leidenden Menschensohn (Mk 8,31; Mk 9,31) In der Verbindung des Menschensohn-Titels mit der Niedrigkeit, dem Leiden und dem Todesgeschick Jesu geschieht im NT etwas Neues und Überraschendes: Der vorausliegende Mythos kennt nur die Hohheit und richterliche Vollmacht jener mit den Endzeitereignissen verbundenen Gestalt. Daran knüpfen die Aussagen des NT an, übernehmen sie jedoch nicht einfach. Jesus wird mit dem aus der Tradition bekannten Menschensohn identifiziert, derselbe jedoch mit genau gegenteiligen Zügen ausgestattet. Der Mythos wird aufgenommen, aber gleichzeitig gebrochen.51

50

Der Weg der Mythen

Zu Phil 2, 5-11 als mythologischem Text52

Kurze, rhythmische Zeilen, veränderte Wortstellung und eine andere Vokabelgarnitur weisen auf einen traditionellen Text, der eher als Psalm zu denken ist, da er als Lied kaum singbar wäre. Er prägt den Kontext, der sich konzentrisch um diesen „Hymnus" legt, wobei vor allem die erste Hälfte genutzt wird, weniger die zweite. Die beste strophische Gliederung findet sich bei Lohmeyer: zwei Teile mit je zwei Strophen, alle anderen Zuordnungen sind problematischer. 53 Nach intensiven Diskussionen ist man neuerdings wieder vorsichtiger geworden: Nur noch für „thanatou de staurou " (Vers 8c) wird überlegt, ob Paulus hier zur Verdeutlichung und Verschärfung eine Zeile hinzugefügt hat, weil hier der Dreiervers deutüch durchbrochen und erweitert ist. Anders sieht es freilich Hofius, da der Sklaventod am Kreuz am deutlichsten der Annahme der Gestalt (= des Seins) eines Sklaven belegt. 54 Der Streit seit Lohmeyer, Dibelius und vor allem seit Käsemanns Pamphlet, das indirekt gegen seinen Lehrer Bultmann gerichtet war, geht um die religionsgeschichtliche Herkunft der eigentlichen Theologie des Hymnus. 55 Die wahrscheinlich beste Zuordnung findet sich bei Schenk mit dem Hinweis auf Philo Vita Mosis §§ 148-162 (Momente der Präexistenz § 162, Vereicht auf Herrschaft § 148f„ Verzicht auf materiellen Reichtum § 155, Erhöhung durch Gott § 155, Namensverlei51

52 53 54 55

Vgl. Pesch, R./Schnackenburg, R. (Hrsg.), „Jesus und der Menschensohn...", a.a.O. (enthält zahlreiche wichtige Beiträge zum Thema), Kümmel, W.-G., „Jesus und der Menschensohn?", a.a.O., Kellner, W., „Der Traum vom Menschensohn...", a.a.O., Keams, R., „Das Traditionsgefüge um den Menschensohn...", a.a.O., ders.: „Die Entchristologisierung des Menschensohnes...", a.a.O.. Beste Übersetzung bei: Dibelius, M., „An die Philipper", a.a.O., S. 59-98. Vgl. Lohmeyer, E., „Der Brief an die Philipper", a.a.O., Gnilka, J., „Der Philipperbrief', a.a.O., Schenk, W., „Die Philipperbriefe des Paulus", a.a.O.. Hofius, O., „Der Christushymnus Philipper 2, 6-11...", a.a.O.. Käsemann, E„ „Kritische Analyse von Phil 2, 5-11", a.a.O., S. 96-100.

Mythische Strukturen im NT

51

hung als Zeichen der Würde § 158) 56 . Auch Philo nutzt bereits mythologische Elemente, um die kosmische Bedeutung seines Mose zu beschreiben. Die verschiedene traditionsgeschichtliche Zuordnung läßt sich unter Umständen dazu nutzen, nachzuweisen, wie stark einzelne Vorstellungen sowohl im hebräisch-jüdischen wie auch im römisch-griechischen Kulturkreis verbreitet waren. Philo wäre dann ein Vertreter, der die Überschneidungen und gegenseitigen Einflüsse erkennen läßt. Gegen Schenk wäre zu sagen, daß dieser Hymnus wohl nicht nur eine „Eintagsfliege" ohne „Ewigkeitswert" ist, sondern daß hier in konzentrierter Form Tradition und Theologie in mythischer Form aufgenommen und weiterentwickelt wurde. Die Deutungen des Textes unterscheiden sich sehr stark. Für Käsemann ist „Kosmokrator ... nun der, der die Menschen dahin stellt, wo sie wirklich Menschen werden, nämlich in den Gehorsam." Die Kategorie Gehorsam ist Käsemanns engagierter Protest gegen Bultmanns billige Gnade - wird aber nicht ein schlichter gesetzlicher Pietismus daraus?57 Hofius/Walter zeichnen dagegen das Bild des freiwillig auf Macht verzichtenden, freiwillig Leiden auf sich nehmenden - und darum - Vorbildes. 58 Die Geschichte des Leidens Jesu wird im mythischen Bilde so gezeichnet, daß Gründe dafür erkennbar werden, aus denen heraus die Übernahme und die Sinnhaftigkeit von Leiden erkannt werden - um Gottes und des Nächsten willen. Wohingegen Leiden nach griechischem Verständnis keine positive Bedeutung hatte. 59

56 57 58 59

Schenk, W., „Der Philipperbrief in der neueren Forschung...", a.a.O. 3280-3313. Vgl. Käsemann, E., „Kritische Analyse...", a.a.O.. Vgl. Hofius, O., „Der Christushymnus...", a.a.O., Walter, N., „Die Philipper und das Leiden...", a.a.O., S. 417-434. Vgl. Walter, N., „Die Philipper und das Leiden...", a.a.O..

52

Der Weg der Mythen

Eine moderne sozialgeschichtliche Interpretation bietet Wengst: 60 Die Sklaventugenden Demut und Gehorsam sind mehr als die Überhöhung der Ohnmacht. Vielmehr zeigen sie den Weg Gottes in die Unscheinbarkeit der Ohnmacht und die Durchbrechung der Ohnmacht. Das heißt, die Sklaverei wird aufgehoben mit dem Ziel der Einheit aller im Lobpreis Christi und Gottes. In mythischen Bildern wird hier eine Geschichte der Befreiung von versklavenden Mächten erzählt. 61

Schlußfolgerungen

Wir haben gesehen, wie in neutestamentlichen Vorstellungen und Texten mythische Strukturen zugrunde liegen, ja gelegentlich in den Vordergrund dringen, auch wenn sie auf eine spezifische Weise gebrochen werden. H. Weder stellt die hermeneutische Grundfrage, „ob die Würdigung des Wortes Jesu je ohne den mythischen Rückgang auf das Unvordenkliche auskommt" 62 . So vermutet er, „daß eine Theologie, die das wahre Gewicht der Dinge wahrnehmen will, ohne das Mythische niemals auskommt" 63 . Das Begriffliche hätte auszusagen, was ist, das Mythische hingegen, was „im Grunde" ist. Hiermit hängt die sinnstiftende Funktion des Mythischen zusammen. Da der Mythos Urerzählung, Rahmenerzählung ist, bildet er einen Fundus an Urszenen heraus - moderne Autoren würden von Schlüsselszenen sprechen. So haben letztlich alle Rahmenerzählungen der synoptischen Evangelien mit Jesus als Akteur noch etwas von ihrer mythischen Funktion bewahrt - besonders bei Markus. 60 61 62 63

Vgl. Wengst, K., „Demut - Solidarität der Gedemütigten", a.a.O.. Weitere Literatur zum Thema: Ernst, J., „Die Briefe an die Philipper...", a.a.O., Friedrich, G., „Der Brief an die Philipper", a.a.O., S. 125-175, Mengel, B., „Studien zum Philipperbrief', a.a.O., Walter, N., „Rez. Mengel", a.a.O., S. 670ff. Weder, H., „Der Mythos vom Logos...", a.a.O., S. 63. Ebenda S. 64.

Geschichte der Mythendeutung

53

Strukturell ließe sich das an den Wunder- und Epiphanieerzählungen deutlich machen. 64 Eben diese verborgene mythische Funktion vieler neutestamentlicher Vorstellungen und Texte, diese Qualifikation als „Schlüsselgeschichte" machen sie für Schriftsteller so außerordentlich faszinierend.

2.4. Geschichte der Mythendeutung Die Geschichte der Mythendeutung ist eine lange und wechselvolle. Nachdem die Kraft der ursprünglichen Mythen durch die Allegorisierung gebrochen war und sie durch die philosophische Aufklärung der Antike einer ersten rationalistischen Kritik unterzogen worden waren, schienen sie erledigt zu sein. Piaton beurteilte sowohl die Dichtkunst als auch die Mythologie negativ und wünscht ihnen keinen Platz im Stadtstaat einzuräumen. Zu Beginn der naturwissenschaftlichen Aufklärung in Europa zerbrachen endgültig die mythologischen Weltbilder. Die Mythen schienen nur noch Platz zu haben in der Kindheit des Menschengeschlechts. Aber mit Beginn der Frühromantik begann vor knapp 200 Jahren ein neues Kapitel der Mythosforschung, das Hübner als eine „stille Revolution" bezeichnet, „weil sie, obgleich noch kaum beachtet, erschüttert haben, was uns vorher geradezu selbstverständlich schien, nämlich die Meinung, Mythen seien bloße Ausgeburten der Phantasie, zumindest von der Wissenschaft überholt und widerlegt."65 Mit Herder begann eine ungeahnte Aufwertung des Mythos. Der Mythos wurde als Ausdruck erfahrbarer göttlicher Wirklichkeit gesehen. Hübner hat die Leistung der romantischen Mythosforschung ausführlich geschildert und gewürdigt, die noch ohne breiteres ethnologischen Material auskommen mußte. 66 64 65

Vgl. Sellin, G., „Mythologeme...", a.a.O.. Hübner, K., „Die Wahrheit des Mythos", a.a.O., S. 410.

54

Der Weg der Mythen

Auch Gadamer stellt die Vorläuferschaft eines Herder fest und betont, daß es die romantische Bewegung mit ihrer„Kritik am Rationalismus der Aufklärung und ihrer .tristen atheistischen Halbnacht' (Goethe)" 67 war, die die religiöse Bedeutung der Mythen untersuchte und anerkannte. „Zugleich gewann die mythische Leuchtkraft, die in den heiligen Geschichten des Christentums steckte, einen neuen Glanz. Man spürte einen neuen Sinn für das Mythische in den dichterischen Schöpfungen des Zeitalters."68 Als besonders interessanten Vertreter dieser Richtung bezeichnet Hübner J.J. Bachofen. 69 Sein Ansatz war: Die mythische Grunderfahrung des Menschen besteht darin, in der Erde die große Mutter zu sehen, die das Leben hervorbringt und wieder zurücknimmt. Mutterkult und Totenkult sind sehr nahe beieinander. Symbole sind nicht Gleichnisse, sondern konzentrierte Wirklichkeit, in der das tiefste Wesen der Welt anwesend ist und angeschaut wird. Der Mythos ist die Exegese des Symbols. Zu den chtonischen Kulten gehörten mutterrechtliche Gesellschaftsformen. Der chtonische Mythos entwickelt sich zum homerischen Mythos weiter, eine Bewegung, die das Christentum vollendet, indem Gott endgültig Geist geworden ist. Das Alte aber ruht in den tiefen Schichten der Seele und bleibt dort wirksam, alles ist im Tiefsten Gegenwart. Bachofen, in seiner Zeit ein belächelter und unverstandener Außenseiter, hat viele Künstler und Psychologen des 20. Jahrhunderts beeinflußt. Die Mythenforschung des 20. Jahrhunderts hat den romantischen Ansatz weitergetrieben und verfeinert. In der soziologischen Schule wurde der Mythos nicht länger nur theoretisch betrachtet, sondern als praktische Lebenswirk66 67 68 69

Vgl. Hübner, K , „Die Wahrheit des Mythos", a.a.O., Kap. III, „Zur Geschichte der Mythosdeutung". Gadamer, H.-G., „Mythos und Wissenschaft", a.a.O., S. 20. Ebenda. Vgl., auch im Folgenden: Hübner, K., „Die Wahrheit des Mythos", a.a.O., Kap. III, 8, S. 71 ff.

55

Geschichte der Mythendeutung

lichkeit, als Grundlage menschlicher Gemeinschaften begriffen. B. Malinowski ist neben anderen dafür ein bedeutendes Beispiel. 7 0 Daneben trat die psychologische Deutung des Mythos, durch die das menschliche Innere bis hinein ins Unbewußte untersucht und strukturiert wurde. Als Vorläufer gehören hier Nitzsche („Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik") und W. Wundt dazu. Die Psychoanalytische Schule nahm ihre Anregungen auf und deutet Mythen als innerseelische Dramen, z.B. den Ödipusmythos. C.G. Jung ging einen anderen Weg als Freud. Ihm zufolge spiegelt der Mythos gewisse Grundmuster und Strukturen menschlichen Seelenlebens wider. Diese Grundmuster werden in Urbildern (Archetypen) dargestellt. Sowohl Freud als auch Jung und ihre Schulen können in ihrer Wirkung auf die Literatur kaum überschätzt werden. Die objektive Verbindlichkeit ist dem Mythos in dieser Deutung allerdings kaum abhandengekommen, sie wird durch subjektive Zwangsläufigkeit ersetzt. Im Inneren des Menschen regiert der Mythos für immer. 71 Einen anderen Weg ging Cassirer, der die ontologische Struktur des Mythos untersuchte. Er postulierte, daß sich der Mythos über den Weg der Religion (Mythisches als Symbolisches) in die Wissenschaft auflösen müsse. 72 In den letzten Jahrzehnten hat die strukturalistische Mythendeutung neue Ansätze vorgelegt, die hier nicht eingehend erläutert werden können.

Diesem Ansatz zu-

folge ist der Mythos ein Code, der dechiffriert werden kann und muß und so seine Logik preisgibt. Hauptvertreter dieser Deutung sind Levy-Bruhl und Levy-Strauss, in neuester Zeit besonders auch R. Barthes.

70 71 72 73

Vgl. Hübner, Vgl. Hübner, Vgl. Hübner, Vgl. Hübner, „Der Mythos

K., „Die Wahrheit des Mythos", a.a.O., Kap. III, 4, S. 54ff. K., „Die Wahrheit des Mythos", a.a.O., Kap. III, 5, S. 57ff. K., „Die Wahrheit des Mythos", a.a.O., Kap. III, 6, S. 61ff. K„ „Die Wahrheit des Mythos", a.a.O., Kap. III, 7, S. 66ff, und Jürß, F. der alten Griechen", a.a.O., S. 21ff.

56

Der Weg der Mythen

In diesem Jahrhundert waren es aber vor allem die Philologen, die sich der Erforschung des Mythos gewidmet haben, unter anderem K. Kerenyi, W.F. Otto, R. Pettazoni. M. Eliade, A. Jolles. Bei ihnen besteht weitgehend Einigkeit darüber, was unter Mythos verstanden werden muß, und sie sind es, auf die sich Schriftsteller heute berufen.

2.5. Die Einwanderung der Mythen in die gegenwärtige Literatur „Die Mythen des alten Ostens, als Urbilder des menschlichen Lebensdramas, füllen unsere Literatur. Häßlich gesagt: Sie haben Hochkonjunktur. Bedächtig gesagt: Sie sind ein Teil von uns" 74 So sagt es Gisela Kraft in ihrem Diskussionsbeitrag auf dem X. Schriftstellerkongreß der DDR im November 1987 in Berlin. Es bleibt aber festzuhalten, daß Schriftsteller eines sozialistischen Landes des 20. Jahrhunderts einen gewandelten Mythenbegriff zugrundelegten, vergleicht man ihn mit den gelebten Mythen der archaischen Gesellschaft. Worin liegen die Übereinstimmungen und worin die Unterschiede? - Die ursprüngliche Verbindung von Mythos und Kult interessiert nicht mehr. - die Trennung von ,Heilig' und ,Profan' in Raum, und Zeit wird lediglich reflektiert als das Vorhandensein einer Urzeit, die eine für immer gültige Zeit ist und darum modellhaft und der historisch meßbaren, chronologisch ablaufenden Zeit korrespondiert. - Numinose Wesen werden als gestaltgewordene, komplexe menschliche Erfahrung angesehen, die eine urbildhafte Bedeutung erlangen.

74

Kraft, G., „Diskussionsbeitrag...", a.a.O., S. 186.

Die Einwanderung der Mythen

57

So etwa ließen sich die Differenzen formulieren. Es gibt andererseits auch Übereinstimmungen: - Mythen werden im Sinne der religionswissenschaftlichen Auffassung als Ursprungsgeschichten angesehen. Sie gelten als wesentliche Modelle menschlicher Erfahrung, an denen heutige individuelle Erfahrung gemessen werden kann. Wobei festzuhalten bleibt, daß Mythen Erfahrung nicht nur messen, sondern auch eröffnen. - Alle große Dichtung lebt von der Verschmelzung von Subjekt und Objekt, lebt von der Erkenntnis, daß sich Inneres im Äußeren spiegelt, und Äußeres im Inneren Platz hat. Poetische Sprache ermöglicht gerade diesen Verschmelzungsprozeß, der Erkenntnis und Selbsterkenntnis vermittelt. Stürme gibt es im Außen wie im Innen, und Nadelstiche gehen ins Fleisch wie in die Seele, so hat es F. Fühmann in seinem Essay „Das mythische Element in der Literatur" ausgedrückt.75 Mythen erzählen davon in naiver, ursprünglicher Sprache und werden so zu einer der Wurzeln heutiger Kunst. - in einer wissenschaftlich orientierten, zukunftsoptimistischen Gesellschaft müssen Menschheitsfragen nach dem Woher und Wohin, nach dem Sinn menschlicher Existenz und des Leidens, nach der Herkunft des Bösen und der Bewältigung des Todes letztendlich unbeantwortet bleiben. Sie müssen aber bei Strafe der Reduzierung der Humanität gestellt werden. Schriftsteller entdecken in dieser Zeit erneut, daß es diese Fragen sind, die die Mythen hervorgetrieben haben. Der Mythos als Daseinsform einer archaische Gesellschaft ist vergangen. Wenn Mythen trotzdem und gerade heute wieder faszinierend wirken, dann spricht das für ihre die Zeit überdauernde prägende Kraft. Und auch der Mißbrauch von My-

75

Vgl. Fühmann, F., „Das mythische Element...", a.a.O., S. 82ff.

58

Der Weg der Mythen

then in der jüngsten Vergangenheit des Dritten Reiches hat ihre Geltung nicht für immer zerstört. Der Literaturwissenschaftler J. Pischel sprach 1984 in einer Diskussion zum Thema,Literaturentwicklung in der DDR' davon, daß „sozialistische Literatur von weit her kommt und weit hinausgreift" und daß da bedeutende „Gewinne wie große ... mythologische Modelle" zur Herausforderung geworden wären.

V. Ebersbach benennt diese Gewinne noch genauer, wenn er schreibt: .My-

then verkörpern relativ frühe und doch hochentwickelte Formen einer künstlerischen Verarbeitung von Wirklichkeit", sie „versetzen uns in die Lage, den .allgemein menschlichen', überzeitlichen', d.h. über große Zeiträume hinweg oder gar nicht veränderlichen Teil unseres Wesens besser zu erkennen und zu begreifen. Sie liefern, läßt man sich mit ihnen ein, erstaunlich einfache, vielfach gültige, überraschend einleuchtende Modelle unseres dringend benötigten Selbstverständnisses, weil sie sich um die großen Themen wie Liebe und Haß, Tod und Leben, Krieg und Frieden, Macht und Ohnmacht bewegen." In den Mythen enthalten ist „eine lange Reihe erstaunlich psychologischer Modelle menschlicher Verhaltensweisen, traumhaft überhöht, parabelartig verallgemeinert .,." 7 7 Das Interesse an Mythen war freilich nicht nur in der Literatur der DDR verbreitet, sondern entspricht einer breiten Strömung in der Weltliteratur. Ausgehend von der neuen Wirklichkeitssicht und damit Einsicht der lateinamerikanischen Literatur der letzten 40 Jahre finden Mythen heute in den Literaturen vieler Völker starke Beachtung. 1949 erschien als Vorwort zu dem Roman „Das Reich von dieser Welt" von A. Carpentier sein Essay „Über die wunderbare Wirklichkeit Amerikas", der eine neue Verbindung von Realismus und Mythos signalisierte und in der Folgezeit einen nicht zu überschätzenden Einfluß auf die Literatur der DDR aus76 77

Pischel, J., „DDR-Literatur ,84. ..", a.a.O, Klappentext. Ebersbach, V., „Lesart", a.a.O., S. 45.

59

Die Einwanderung der Mythen

übte. In frühen und guten Übersetzungen lagen die Werke des lateinamerikanischen .magischen Realismus' bei uns vor. Als weiterer wesentlicher Einfluß muß die moderne sowjetische Prosa angesehen werden. Spätestens seit Beginn der siebziger Jahre sind diese beiden Einflüsse verstärkt zu beobachten. Der Literaturwissenschaftler H. Kaufmann schätzte es als außerordentlich bedeutsam ein, daß sich die DDR-Literatur derart weiträumigen Zusammenhängen geöffnet hat und benennt eben diese beiden großen, my thenverarbeitenden Traditionen: die lateinamerikanische und die sowjetische. Die südamerikanische Literatur ist für ihn ein „Lehrbuch heutiger Weltprozesse", dessen Miteinander von Mythos, Moderne und politischem Engagement zu internationaler Geltung gelangt sei. „In bemerkenswerter Korrespondenz dazu", fährt er fort, „stehen übrigens die weitsichtigen poetologischen Überlegungen des sowjetischen Autors Aitmatow." 78 In demselben Aufsatz stellte Kaufmann als besonders bemerkenswert fest, „daß unsere Gesellschaft sich in dem Maße, wie ihre Mitglieder sich von der Sorge um das tägliche Brot, den Arbeitsplatz, das Dach überm Kopf befreit haben, paradoxerweise .alten' Fragen menschlicher Kultur gegenübersieht." 79 In der theologischen Forschung ist durchaus strittig, ob überhaupt und wenn ja inwieweit biblische Stoffe zu den Mythen zählen. Gadamer nannte das Verhältnis von Mythologie und Bibel, das Thema der Anwendbarkeit von Mythologie auf das OA

Neue Testament das „zentrale Problem der neuzeitlichen Theologie." Betrachtet man dagegen die Literatur, fällt sofort ins Auge, daß Schriftsteller ebendiese strittigen biblischen Geschichten wie Mythen ansehen und behandeln. Im 78 79 80

Kaufmann, H., „Veränderte Literaturlandschaft", a.a.O., S. 167. Kaufmann, H„ „Veränderte Literaturlandschaft", a.a.O., S. 182. Gadamer, H.-G./Fries, H., „Mythos und Wissenschaft", a.a.O., S. 13f.

60

Der Weg der Mythen

Prinzip werden alte Geschichten antik griechischer, sibirischer, indianischer, altorientalischer oder biblischer Herkunft auf eine Stufe gestellt. Das heißt: Schriftsteller fragen nicht nach ihrem Selbstverständnis. Der Gottesbezug wird ausgeblendet. Sie fragen vielmehr nach den Modellen, die biblische Mythen für heutige Weltdeutung hergeben. Das bedeutet auch, daß Literatur nicht an den Ergebnissen der historisch-kritischen Exegese interessiert ist. Theologie mag das als einseitige Sicht beklagen, hat es aber doch zur Kenntnis zu nehmen. Typisch für diese Haltung, diese Interessenlogik, ist, was Aitmatow in einem Interview nach Erscheinen seines Buches „Die Richtstatt" gesagt hat: „So ist das europäische Bewußtsein angelegt - stößt es auf Begriffe wie Moral, gut und böse, so wendet es sich unausweichlich an die Persönlichkeit desjenigen, der - der Legende nach - an der Schädelstätte bei Jerusalem vor zweitausend Jahren gekreuzigt wurde. Das ist der Ursprung von allem. Alles, was einstmals war, alle Ereignisse und Menschen, und seien sie noch so real gewesen, wird als Legende, als Mythos aufgenommen. Und der legendäre Christus, der sehr wohl auch eine Erfindung von Menschen sein kann, ist in unserem Verständnis eine lebendige Figur... Nach ihm hat es in allen Lebensbereichen große Persönlichkeiten, hat es Märtyrer, Heilige und - das Gegenteil - Antichristen gegeben ... Jesus aber hat sie alle überdauert, denn er wendet sich gleichermaßen an die Menschen des zweiten wie des zwanzigsten Jahrhunderts." 81 Dieses Verfahren, eine biblische Figur oder Geschichte zum Mythos zu machen, sie aber dann mit enormer Bedeutung aufzuladen, wurde keineswegs nur von sozialistischen Gegenwartsschriftstellern angewandt. Es gilt gleichermaßen auch von anderen Schriftstellern und solchen früherer Zeiten. So führt W. Jens in einer

81

Anastassjew, N., „Gespräch mit Tschingis Aitmatow", a.a.O., S. 1170f.

Die Einwanderung der Mythen

61

Untersuchung zu Dostojewski aus, daß es biblische wie griechische Gestalten sind, die jede Generation neu zum Weiterdenken, zum Ausmalen und Variieren des Vorgegebenen provozieren. Es ginge um Selbstversicherung mit Hilfe von mythischen Figuren, es ginge um „indirekte Bezeichnung des eigenen Welt- und Selbstverständnisses durch die Anverwandlung von Hiob und Antigone, Abraham und Don Juan, Hamlet und Faust. In einer Zeit wie der unseren, der es an zeichensetzenden Zentral-Symbolen fehlt (literarischen Archetypen also), gewinnt die poetische Technik, schattenwerfende Symbolfiguren zu ersuchen, sich in zeitgemäßer Gewandung, Denkweise und Erfahrungskunst zu präsentieren, neue Bedeutung. Da gesellen sich, auf kühne Metharmophosen angelegt, biblische Figuren zu den Heroen und Heroinen des griechischen Mythos, da begegnen Judas und Klytaimnestra, Isaak und Odysseus einander, Archill und Salomon." 82

82

Jens, W./Küng, H„ „Dichtung und Religion", a.a.O., S. 268.

3. Mythos und Offenbarung - die theologische Auseinandersetzung mit dem Mythos 3.1. Die Diskussion um Bultmanns Entmythologisierungsprogramm Noch immer wird die theologische Diskussion um den Mythos durch die Entmyhologisierungsdebatte, die Bultmann initiiert hat, bestimmt, ja, sie ist in jüngster Zeit neu aufgeflammt. Das hängt mit dem erwachten Interesse an mythischen Problemen und allgemein religiösen Phänomenen zusammen. Es muß hier auf Bultmanns Konzeption eingegangen werden, obwohl sie für die Literaturwissenschaft ebenso wie für die literarische Verarbeitung mythischer Stoffe keine Rolle spielt. Es bleibt bemerkenswert festzuhalten, daß die Forderung nach Entmythologisierung bei Schriftstellern und Dichtem kein Interesse ausgelöst hat. Nach Bultmann ist der Mythos eine Form der Vorstellung und Anschauung, darin „das Unweltliche, Göttliche als Weltliches, Menschliches, das Jenseitige als Dieseitiges erscheint, in der Gottes Jenseitigkeit als räumliche Ferne gedacht wird; eine Vorstellungsweise, der zufolge der Kultus als ein Handeln verstanden wird, in dem durch materielle Mittel michtmaterielle Kräfte vermittelt werden."1 ,.Mythen sind ein Bericht von einem Geschehen oder Ereignis, in dem übernatürliche, übermenschliche Kräfte oder Personen wirksam sind, daher oft einfach als

1

Bultmann, R., „Neues Testament und Mythologie", a.a.O., S. 15ff, Fußnote 2.

Bultmanns Entmythologisierungsprogramm

63

Göttergeschichten definiert." 2 Nach dem Mythos sind Welt und Mensch nach allen Seiten hin für göttliche und dämonische Einflüsse geöffnet. Alles in der Welt und im menschlichen Dasein kommt aus dem Ineinanderwirken irdischer, überirdischer und unterirdischer Mächte. Bultmann stellt nun zweierlei fest: Einerseits ist das im Neuen Testament vorherrschende Weltbild, das Dreistockwerkschema: Himmel, Erde und Unterwelt, mythisch. Die Darstellung des Offenbarungsgeschehens in Jesus Christus, sein Kommen in die Welt, seine Taten, seine Auferstehung und Erhöhung, erfolgt in der Sprache des Mythos. Das so verstandene Mythische und Mythologische hat jedoch als .erledigt' zu gelten und kann als vorwissenschaftliche Stufe heute nicht mehr übernommen werden. H. Schroer hält dagegen: „Wenn ich recht sehe, ist es die unerledigte Frage nach den Bildem, die im Mythos lebendig ist und die durch ein .Erledigt!' der Entmythologisierung, um an Bultmanns so oft wiederholtes Zitat zu erinnern, nicht erledigt ist."3 Andererseits ist das Weltbild der Gegenwart, das Bultmann als unwiderruflich ansieht, durch Naturwissenschaft und Technik bestimmt, also durch die Entwicklung und Anwendung empirisch nachzuweisender, kausaler Zusammenhänge und Gesetze. Damit ist ein Gegensatz zum mythischen Weltbild bezeichnet, das aus Unkenntnis der realen Ursachen überall göttliche Kräfte am Werk sieht. Ebenso ist die menschliche Geschichte nicht Spielfeld über- oder unterirdischer Mächte, sondern unterliegt den nachprüfbaren Gesetzen von Ursache und Wirkung. Weiterhin ist der Mensch nicht ein mythisch bestimmtes Wesen, sondern ist zu sehen als „einheitliches Wesen, das sich selbst sein Empfinden, sein Denken und

2 3

Bultmann, R., „Zum Problem der Entmythologisierung", a.a.O., S. 179ff. Schroer, H., „Vom Logos zum Mythos...", a.a.O., S. 30.

64

Mythos und Offenbarung

Wollen zuschreibt"4, das sich also als autonomes Subjekt versteht, als Herren über alle Dinge und Initiator der Geschichte. Der entscheidende Grund der Entmythologisierung ist freilich für Bultmann ein theologischer. Der Gott der christlichen Offenbarung ist - im Widerspruch zur Welt und zum Diesseits - der Gott des .qualitativen Unterschieds', ein unwelthafter, transzendenter, verborgener Gott. Gott ist der ,ganz Andere'. Diese Wahrheit sieht Bultmann durch den Mythos verdeckt, ja verfälscht, der vom Göttlichen menschlich, vom Unweithaften welthaft redet und damit die entscheidenden Differenzen zwischen Gott und Welt verfehlt, weil verwischt. Indessen will die Entmythologisierung für Bultmann keine Demontage sein, sondern ein Anstoß, um die wahre Absicht des Mythos an den Tag zu bringen. Die Methode dieser Aufdeckung findet Bultmann in der existentialen Interpretation; immer geht es um die Frage nach dem Verstehen und der Verwirklichung der Existenz. Die Entmythologisierung wird zu hermeneutischen Methode, die uns dazu verhilft, einen von den mythische Entstehungsbedingungen der biblischen Schriften entkleideten Sinn des Evangeliums zu erfassen, der heutigen Menschen zugänglich und zumutbar ist. Die Kategorien dieser Methode entstammen der existentiellen Analytik Heideggers. Bedeutsam ist das ,Daß' des Heilsgeschehens, der Verkündigung. Einzelheiten über Leben, Tod und Auferstehung Christi sind dagegen zweitrangig. Gretchenfragen werden dem Gläubigen erspart. Abgesehen von der Frage, ob Menschen mit der ihnen eigenen Sinnlichkeit nicht von solcher Transzendenz wie abgeschnitten sind5, wurden früh schon andere Zweifel laut. So hat Kerenyi bezweifelt, ob Bultmann einen zureichenden Mythosbegriff habe und Klarheit darüber gefordert, was das Wort,Mythos' zum Inhalt 4 5

Bultmann, R., „Neues Testament und Mythologie", a.a.O., S. 12. Vgl. Hübner, K„ „Die Wahrheit des Mythos", a.a.O., Kap. XXIV.

Bultmanns Entmythologisierungsprogramm

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habe, ehe man sich an eine .Entmythologisierung' mache. 6 „Wenn ich nun am Anfang sagte, Bultmann habe ein noch unklares Bild vom Mythos gehabt, so lag dieser Mangel daran, daß ihm die erst durch die moderne Mythosforschung ans Licht gekommene Ontologie des Mythos noch nicht bekannt war. Erst wenn die Ontotogie des Mythos explizit erfaßt ist, kann man mythische von nichtmythischen Elementen im christlichen Glauben exakt unterschieden. Mehr noch: Manches wird überhaupt erst verständlich, wenn man es in seinem mythischen Sinnzusammenhang erfaßt und nicht, wie es oft genug geschieht, auf das Prokustesbett der wissenschaftlichen Ontotogie spannt, womit es zwangsläufig zu etwas Widersprüchlichem und Absurdem wird." 7 Ist unsere Wirklichkeit nicht zwiespältiger, also sowohl von mythischen als auch von wissenschaftlichen Denkmustem geprägt? , fragt Hübner.8 „Liegt doch der Unterschied zwischen mythischer und wissenschaftlicher Rede nicht mehr nur in der Differenz austauschbarer .Weltbilder' (R. Bultmann), sondern in einem archaischen Daseinsgefühl und einer dadurch bestimmten ganzheitlichen Wirklichkeitsauffassung ... " 9 Allein die Wurzeln der Sprache reichen hinunter in mythisch bestimmtes Dasein, auch wenn das nicht bewußt ist. So nimmt der Sprache wegen jede Aussage über göttliche Dinge eine mythopoetische Form an, sie würde sonst zur abstrakt-philosophischen Aussage. Davon zeugen die anthropomorphen Gottesbilder, von denen die Bibel voll ist. Die Sprache der Religion ist mythisch und jede Entmythologisierung bedeutet einen Substanzverlust. „Wegen ihrer prototypischen Funktion aber behält zugleich jede religiöse Sprache etwas Mythisches - wie die Sprache 6 7 8 9

Vgl. Kerenyi, K., „Theos und Mythos", a.a.O., S. 28. Hübner, K., „Der Mythos, der Logos...", a.a.O., S. 29. Vgl. Hübner, K., „Die Wahrheit des Mythos", a.a.O., S. 331. Müller, H.-P., „Mythos in der biblischen Urgeschichte...", a.a.O., S. 13.

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echter Dichtung. Darin ist auch die Sprache des christlichen Kerygmas nur ein Sonderfall mythischer Sprache." 10 , betont H.-P. Müller. Und D. Lenzen resümiert: „Zusammenfassend läßt sich für die Position Bultmanns in der Entmythologisierungsfrage nunmehr sagen, daß er sich die Ansprüche (natur)wissenschaftlicher Rationalität zu eigen machte und folglich den umfassenden Gehalt der christlichen Lehre um die Elemente zu kürzen suchte, die mit ihr nicht kompatibel erschienen. Damit erkaufte er sich einen reduktionistischen Mythosbegriff, der den Umgang mit ihm auf seine Auslegung verengte und die Dimension seiner insbesondere rituellen Erfahrung abschnitt."11 Viele Menschen und ihnen voran Kunst und Literatur fragen heute hartnäckig nach dem Mythischen, und damit nach dem .Allgemeinen'. Sie fragen angesichts gegenwärtiger Krisen nach dem Anderen. Da scheint ihnen Mythisch-Ganzheitliches neue Horizonte zu eröffnen. Dieser Suchprozeß wird auch dann stattfinden, „wenn sich die nicht daran beteiligen, die in diesem Felde professionell tätig sind. Aber es wird dieser Prozeß ... dann auch an ihnen vorbeigehen, und sie werden vieles nicht verstehen von dem, was sich ihre Klientel an vermeintlichen Irrationalitäten leistet." 12 Für Sellin verdankt sich das ambivalente Verhältnis von gegenwärtiger Theologie und Geisteswissenschaft zum Mythos der Überlagerung zweier Traditionen. Die eine knüpft an die Aufklärung an. 13 „Hiernach ist der Mythos unzureichend und durch den Logos zu ersetzender uneigentlicher Ausdruck von Wahrheit. Diese Einschätzung des Mythos als eines Defizitären, Überholten wird im 20 Jahrhundert sogar noch gesteigert zu einer Ein10 11 12 13

Ebenda. Lenzen, D., „Ent-oder Remythisierung...", a.a.O., S. 53. Lenzen, D., „Ent- oder Remythisierung...", a.a.O., S. 58. Vgl. Sellin, G„ „Mythologeme...", a.a.O., S. 209.

Heinrich Fries

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Schätzung des Mythos als einer gefährlichen Ideologie ... Die theologische Variante dieser Mythosbewertung setzt an die Stelle des aufklärenden Logos das die Welt entdämonisierende, von Götzen befreiende Evangelium, das zum Feind des objektivierenden, idolisierenden Mythos erklärt wird. Rudolf Bultmanns Entmythologisierungsprogramm verdankt sich zu einem guten Teil dieser Tradition" 14 Die andere, aktuellere Einschätzung des Mythos sieht Sellin an der Romantik anknüpfend. 15

3.2. Heinrich Fries Der Münchner katholische Systematiker Heinrich Fries legte eine eigene Studie über die Beziehung von Offenbarung und Mythos vor. 16 Er entfaltet sie als eine dreifache:

a) die Verbundenheit von Mythos und Offenbarung b) die Offenbarung als Überbietung des Mythos c) Mythos und Offenbarung als Gegensatz.

Diese dreifache Beziehung läßt genug Raum und spannt damit den Mythos nicht von vornherein in das Zwangskorsett einer rationalistischen Erkenntnislehre.

14 15 16

Ebenda. Vgl. ebenda. Gadamer, H.-G./Fries, H., „Mythos und Wissenschaft", a.a.O.

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a) Verbundenheit von Mythos und Offenbarung Für Fries sind Offenbarung und Mythos in der Intention ähnlich, wobei er aber den Mythos als geschichtliche Voraussetzung der Offenbarung beschreibt, also als eine Weise der natürlichen Offenbarung. Daraus entspringt für ihn ihre Angewiesenheit auf den Mythos. „Die Offenbarung ist mit dem Mythos insofern verbunden, als sie die in ihm liegende Frage nach der urzeitlichen Wirklichkeit, die zugleich urbildliche, nur religiös zu bestimmenden Wirklichkeit ist, der ebenfalls die endzeitliche Wirklichkeit entspricht, aufnimmt und ihre eigene Bestimmung über Anfang und Ende der Welt, der Dinge und der Menschen in dem durch Mythos beschriebenen Kontext zur Sprache bringt." 17 Aus dem Zitierten wird deutlich, daß es einen Unterschied macht, welcher Mythosbegriff zugrundegelegt wird. Fries hat, als der Spätere, im Vergleich mit Bultmann, sehr viel fundiertere religionswissenschaftliche Kategorien zur Verfügung. Daß der Mythos eine geschichtliche, also zeitliche Voraussetzung für die Offenbarung ist, liegt nach Fries daran, daß die „Botschaft der biblischen Offenbarung ... auf Menschen (traf), die vom Göttlichen und vom göttlichen Walten, von der göttlichen Gewirktheit des Anfangs, des Verlaufs und des Endes aller Dinge, die ihre Erfahrung und existentielle Betroffenheit durch himmlische Mächte im Mythos ... zum Ausdruck brachten." 18 Der Mythos kann strukturell als Weise der natürlichen Offenbarung angesehen werden, weil (1.) beide die Wirklichkeit nicht nur in ihrer Faktizität hinnehmen, sondern sie auf die Tiefe ihrer Zusammenhänge hin befragen, weil sie (2.) die Welt als Symbol und Gleichnis verstehen und in ihr

17 18

Gadamer, H.-G./Fries, H., „Mythos und Wissenschaft", a.a.O., S. 34. Gadamer, H.-G./Fries, H., „Mythos und Wissenschaft", a.a.O., S. 35.

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die Spuren des Göttlichen erkennen, und weil (3.) beide auf etwas Übergreifendes, auf Grund und Ziel des Daseins verweisen. Daher ist der Mythos als ein Urphänomen der Menschheit anzusehen, zu dessen Bestimmung die Religion gehört. „Der Mythos ist eine Sprache von der Wahrheit und der Tiefe der Dinge, eine Sprache, die durch nichts ersetzt oder überholt werden kann, deren Verlust einen Verlust von Wirklichkeit bedeutet. Es kann nur darum gehen, diese Sprache neu zu erwekken. Der Mythos ist - theologisch gesprochen - eine Weise der natürlichen Offenbarung." 19 Der Mythos redet in Bildern, in Gleichnissen und Symbolen. Und auch die Offenbarung kann ihrer nicht entbehren, weil der Mensch als Erkennender an seine Sinne verwiesen ist. Auch dann, wenn der Mensch das Überweltliche, Unweithafte, Verborgene Gottes beschreiben will, und sollte das auch in der Form der Negation geschehen, kann er auf Bilder nicht verzichten. Die gleichnishafte Weltdeutung, wie sie im Mythos geschieht, ist nicht weniger angemessen als eine andere, vielleicht philosophische Form, im Gegenteil: Im Mythos liegt eine poetische Aufbereitung von Welterfahrung vor, die sie zur künstlerischen und literarischen Verarbeitung so brauchbar macht.

b) Offenbarung als Überbietung von Mythos Fries sieht aber die Offenbarung auch als die Überbietung des Mythos an. Überbietung meint hier, daß die Offenbarung imstande ist, in dem berühmten dreifachen Sinn Mythisches aufzuheben. „Das im Mythos vielfältig ... beschriebene ... Ineinander von Gottheit und Menschheit... wird in der biblischen Offenbarung erhellt durch die Bestimmung Gottes als des freien Gegenübers zur Welt und zum

19

Ebenda.

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Menschen und als des Herrn der Geschichte. Die den Mythos charakterisierende erzählende dramatisch anschauliche und bildhafte Rede vom Heiligen ist eingeholt, in der in Jesus Christus epiphan gewordenen Theodramatik (H.U. v. Baltasar), in seinem Leben und seinem Weg ... Deshalb ist es auch möglich, daß die in vielen Mythen ausgesprochenen Elemente auf Jesus Christus anwendbar sind, daß mythische Bilder, Gestalten und Züge dazu in Anspruch genommen werden, um das Geheimnis Christi, um den Sinn seines Weges, seiner Geschichte, der Worte und Taten auszulegen." 20 Offenbarung ist nicht Mythos, Verwischung der Grenzen ist nicht angebracht, und doch macht die Offenbarung vom Mythos Gebrauch. Festzuhalten ist, daß der christlichen Religion neben Konflikten dabei auch neue Welterkenntnisse und Weltdeutungen zugewachsen sind, die dem im Grunde konservativen, auf Fortschreibung der Verhältnisse angelegten Mythos überschreiten. Und hier ist dann eben Bultmann doch Recht zu geben, denn es gibt keinen Inhalt des Glaubens, der mit dem antiken, mythologischen Weltbild stehen und fallen würde.

c) Mythos und Offenbarung als Gegensatz Fries beschreibt in einem dritten Anlauf aber Mythos und Offenbarung auch als Gegensatz. Offenbarung bedeutet „in einer ganz bestimmten Weise auch das Nein zum Mythos und damit seine Krise, ja Aufhebung." 21 Das rührt daher, daß die Offenbarung das Verhältnis von Göttlichem und Menschlichem anders bestimmt. Zudem lehnt die Offenbarung den Zyklus der Wiederkehr des Gleichen ab, „wenn sie von der Einmaligkeit, Unumkehrbarkeit und Unwiederholbarkeit des Offenbarungsgeschehens spricht und damit Zeit und Geschichte zu wesentlichen Bestim20 21

Gadamer, H.-G./Fries, H„ „Mythos und Wissenschaft", a.a.O., S. 37. Gadamer, H.-G./Fries, H., „Mythos und Wissenschaft", a.a.O., S. 38.

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mungen der Offenbarung erhebt." 22 Die Historisierung in Juden- und Christentum führe aus dem Mythos heraus, sei Entmythisierung, hatte schon Kerenyi betont und hinzugefügt: Historisierung sei Geschehen im Fleische, nicht nur im Geiste. 23 „Im Gegensatz zum Mythos, der viele Götter und Göttergeschichten hat und zuläßt ..., der kein einzelnes Konkretum für verbindlich oder gar exklusiv erklärt, der die Mythen mischt und variiert, beansprucht die Offenbarung Einmaligkeit und Verbindlichkeit, die in der konkreten Entschiedenheit Gottes in Jesus von Nazareth und in dessen Geschick begründet ist" 24 Die Offenbarung verlangt vom Einzelnen eine personale Antwort und Entscheidung - im Unterschied zum Mythos, der kollektives Handeln verlangt. Der Mensch, den die Offenbarung meint und anspricht, ist kein den Schicksalsmächten unterworfenes Geschöpf, sondern Person, ein in der Geschichte sich verantwortendes und sich entscheidendes Wesen, das das Christusgeschehen als Befreiung von den die Mythen erfüllenden Mächten, Elementen und Herren und damit als Befreiung zu sich selbst erkennt. Diese Argumentation läßt bestimmte Probleme offen, deutlich bleibt, daß Schriftsteller, bei allen Unterschieden im Einzelnen, christliche Religion und Mythos nicht so gegeneinandersetzen, sondern vielmehr miteinander versöhnt sehen. Und auch Fries schließt, ein wenig glättend, seinen Gedankengang mit der Betrachtung des Offenbarungshorizontes ab, in dem der Mythos seinen legitimen Ort findet und seine wahre Bedeutung erhält. Um den Mythos aber tatsächlich theologisch aufheben zu können, müssen noch bestimmte Berührungsängste abgebaut werden.

22 23 24

Gadamer, H.-G./Fries, H., „Mythos und Wissenschaft", a.a.O., S. 39. Vgl. Kerenyi, K„ „Theos und Mythos", a.a.O., S. 37. Gadamer, H.-G./Fries, H., „Mythos und Wissenschaft", a.a.O., S. 39.

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3.3. Paul Tillich Der „Schwer faßbaren Dialektik" 25 , die dem Verhältnis von Mythos und Religion (Offenbarung, biblische Überlieferung) innewohnt, hat schon P. Tillich nach-gedacht, und er gibt einer „Theorie der Korrelation"26 den Vorzug. „Es gibt keinen Frömmigkeitsakt ohne mythischen Inhalt. Und umgekehrt: kein Mythos ist religiös, der nicht in Kultus und Frömmigkeit lebendig ist." 27 Freilich, diese Bestimmung ist so allgemein, daß sie glättet, wo bei näherem Hinsehen Probleme auftauchen. Denn, so betont Tillich, es hat sich in der Religion ein Protest gegen den Mythos" 28 entwickelt. „Die im Mythos enthaltene Vergege.iständlichung des Göttlichen in Raum, Zeit und Menschenbefindlichkeit wird von der prophetischen Frömmigkeit bekämpft, von der mystischen überboten, von der philosophischen als unwürdig und widersinnig abgetan" 29 Allerdings erweist sich der Mythos, wiewohl angegriffen, als nicht zu beseitigen, die Korrelation zur Religion, die eine notwendige ist, bleibt bestehen. Die ursprünglich mythischen Stoffe können nicht eliminiert werden: „Das Göttliche ist erfaßt als das Unbedingte, Seins-Jenseitige; es geht nicht ein in Raum und Zeit. Aber es ist nur anschaubar in Symbolen, die raum-zeitlichen Charakter haben. Der Mythos ist überwunden, aber die mythische Substanz ist geblieben." 30 An Stelle des .ungebrochenen' Mythos sieht Tillich den .gebrochenen' getreten, „Gebrochen durch das Bewußtsein um die unbedingte Transzendenz des Göttlichen." 31 So erweist sich das Mythische als „ein Element aller Religion, ist Mythos religiöse Kategorie."32 Aber nicht nur Mythos und Re25 26 27 28 29 30 31

Tillich, P„ „Mythos und Mythologie", a.a.O., S. 189. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Tillich, P., „Mythos und Mythologie", a.a.O., S. 190.

Paul Tillich

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ligion sind unlösbar miteinander verbunden, sondern ebenso gilt das für die Verbindung des Mythos zur Wissenschaft, Metaphysik, Geschichte und Ethos. Das bedeutet, daß für Tillich der Mythos eine Art der Welterkenntnis darstellt. Aber sein besonderes Augenmerk gilt dem Verhältnis von Mythos und Dichtung. Dabei unterscheidet er zwischen mythischem Motiv, Einzelmythos und Mythologie hier als ordnendes Verbinden verschiedener Mythen gedacht. Als primär sieht er das mythische Motiv an, in dem „die eigentliche mythenschaffende Kraft" 33 lebt. „ ... in ihm ist Anschauung und Begriff, Phantasie und Denken, Dichtung und Wissenschaft noch ungeschieden."34 Die mythischen Motive sind „der unmittelbare Ausdruck des mythischen Bewußtseins"35 Im Einzelmythos beginnen sich die dichterischen und wissenschaftlichen Elemente zu entfalten. Dichtung und Phantasie finden hier ein weites und fruchtbares Feld. „Immerhin ist in all diesen Formen das Dichterische noch letztlich gebunden an das Mythische. Das kommt auch darin zum Ausdruck, daß das dichterische Urwort der Sprache überhaupt aus dem mythischen Bewußtsein seine Kraft zieht." 36 Ist jedoch das mythische Bewußtsein erst gebrochen, könne sich die verschiedenen Elemente, seien sie dichterischer oder wissenschaftlicher Art, verselbständigen. „Die mythischen Inhalte können sich in poetische verwandeln."37 Das mythische Bewußtsein aber bleibt der Wurzelgrund dichterischen Schaffens, „es gibt ihm fort und fort die Mächtigkeit des Wortes und hält die verborgene Beziehung der Dichtung zur Religion aufrecht." 38 Und so kommt es zustande, daß in großen Werken der Weltliteratur die

32 33 34 35 36 37 38

Ebenda. Tillich, P., „Mythos und Mythologie", a.a.O., S. 192. Ebenda. Ebenda. Tillich, P., „Mythos und Mythologie", a.a.O., S. 193. Ebenda. Ebenda.

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„ursprüngliche Einheit von Religion, Dichtung und Wissenschaft in der nachmythischen Geisteslage" 39 wiederhergestellt wird. Zusammenfassend muß betont werden, daß nach Tillich der Mythos nur gebrochen, nicht aber überwunden werden kann, denn er ist ein „konstitutives Element des Geistigen überhaupt." 40 Inhaltlich betrachtet ist Mythos für Tillich Göttergeschichte, strukturell hingegen besteht er aus einer Gruppe von Symbolen.41 Das Symbol sieht Tillich als die genuine Sprache der Religion, die einzige, in der sie sich angemessen ausdrücken kann. Tillich nennt die Symbole im Unterschied zu den Zeichen, die keinen Anteil haben an dem, worauf sie hinweisen, „repräsentative Symbole" 42 und bezeichnet folgende vier als ihre wesentlichen Merkmale: a) „Das erste und fundamentale Merkmal aller repräsentativen Symbole ist ihre Eigenschaft, über sich hinauszuweisen."43 b) „Das zweite Merkmal der repräsentativen Symbole ist, daß sie an der Wirklichkeit teilhaben, auf die sie hinweisen." 44 Das heißt, das Symbol partizipiert an der Wirklichkeit, die es repräsentiert. c) Das dritte Merkmal repräsentativer Symbole ist: „... sie können nicht willkürlich erfunden werden." 45 Das Symbol hat eine innere Notwendigkeit, und es bedarf der sozialen Anerkennung. d) „Das vierte Merkmal repräsentativer Symbole ist die Macht, Dimensionen der Wirklichkeit zu erschließen." 46 „Künstlerische Symbole ... erschließen dem 39 40 41 42 43 44 45

Ebenda. Tillich, P., „Das religiöse Symbol", a.a.O., S. 204. Vgl. Tillich, P., „Das religiöse Symbol", a.a.O., S. 187, und „Recht und Bedeutung religiöser Symbole", a.a.O., S. 237. Tillich, P., „Recht und Bedeutung religiöser Symbole", a.a.O., S. 237. Ebenda. Tillich, P„ „Recht und Bedeutung...", a.a.O., S. 238. Ebenda.

Wolfhart Pannenberg

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menschlichen Geist eine Dimension, die allem Wirklichen als Sinngrund innewohnt, die der Mensch aber nur in dem ästhetischen Erlebnis erfassen kann. Religiöse Symbole vermitteln die Erfahrung der letzten Dinge... " 4 7 , die letztlich transzendent sind. Mit diesen grundlegenden Gedanken hat Tillich ein fruchtbares Gespräch zwischen Dichtung und Theologie eröffnet. Der wegweisende Gedanke Tillichs, daß die Literatur mittels mythischer Symbole die verdeckten Dimensionen der Tiefe, die im letzten religiöse Dimensionen sind, aufdecken kann, ist in der europäischen Theologie wohl doch nicht genügend zur Kenntnis genommen worden. Anders läßt es sich nicht erklären, warum es für Theologen so überraschend und fremdartig erscheint, wenn sich säkulare Schriftsteller einer nachmythischen Zeit vom mythischen Denken so angezogen fühlen. Diese Faszination wird in dem Maße stärker, wie sich die Erkenntnis ausbreitet, daß naturwissenschaftliche Weltsicht an ihre Grenzen stößt und nicht in der Lage ist, den Menschen in einem umfassenden Sinnganzen zu beheimaten.

3.4. Wolfhart Pannenberg Auf dem VI. Europäischen Theologentag im September 1987 in Wien hielt W. Pannenberg einen der beiden Hauptvorträge, der sich mit der Funktion des Mythos in seinem Verhältnis zum christlichen Glauben befaßt. 48 Vierzig Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes von„Kerygma und Mythos" gibt er sich Rechenschaft darüber, wo die Theologie sich heute in Bezug auf den Mythos befindet. In den 46 47 48

Ebenda. Ebenda und f. Pannenberg, W., „Mythos und Offenbarung", a.a.O., S. 509ff.

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letzten Jahrzehnten stand nach Pannenbergs Analyse das Wort .Mythos' für eine „Weltauffasung, die durch das moderne, von Naturwissenschaft und Technik geprägte Weltbewußtsein überholt ist." 49 Entmythologisierung bedeutet demnach das Herausschälen einer neuen, der Zeit angemessenen Gestalt des Evangeliums, das von den Elementen mythischer Weltsicht, die aus vorwissenschaftlicher Zeit herrühren, befreit und gereinigt wäre. Was man zu finden hoffte, war der von mythischen Hüllen abgelöste Kern des Evangeliums. Der Mythos galt als überholt, eben als .erledigt'. Pannenberg empfindet es nun als „merkwürdig, daß wir seit einigen Jahren erleben, wie Erörterungen mythischer Weltauffassung in zunehmendem Maße öffentliches Interesse finden. Man könnte von einer Art Umkehrung der Sachlage sprechen, weil heute die mythische Weltauffassung in höherem Maße des öffentlichen Interesses würdig zu sein scheint als das Evangelium selber." 50 Es ist nun an der Zeit, daß sich die Theologie mit diesem Phänomen und den dadurch aufgeworfenen Fragen beschäftigt, wobei Pannenbergs Warnung nicht überhört werden darf, daß es nicht ausreiche, „eine bloß verbale Anpassung zu vollziehen und nunmehr die biblische Überlieferung als im Ganzen mythisch und darum zeitgemäß auszugeben." 51 Pannenberg sieht drei Gründe für das wiedererwachte Interesse am Mythos, Gründe, die von der Theologie der Entmythologisierung nicht genügend in Betracht gezogen worden seien: a) „... das zunehmende Unbehagen am Anspruch der modernen, wissenschaftlichen Welterklärung auf alleinige Zuständigkeit für das Verständnis der Weltwirklichkeit." 52 Dieses Unbehhagen zeigt sich in der zunehmenden Skepsis vieler

49 50 51 52

Pannenberg, W., „Mythos und Offenbarung", a.a.O., S. 509. Ebenda. Ebenda. Ebenda.

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Menschen gegenüber den Auswirkungen der in der Technik angewandten Naturwissenschaft auf die Natur. b) „... die Erschütterung des positivistischen Wissenschaftsideals in den wissenschaftstheoretischen Diskussionen der letzten Jahrzehnte."53 c) „... ein wachsendes Bewußtsein von der Teilhabe der modernen wisenschaftlichen Rationalität an den Sinndefiziten der säkularen Kulturwelt."54 Pannenberg vermutet, daß sich die Theologie der Entmythologisierung leicht dazu verstand, den Mythos als überholt anzusehen, weil sie „an den Themen der Weltinterpretation gar nicht interessiert war." 55 Der existentialen Interpretation ging es vielmehr darum, durch mythologische Vorstellungen hindurch das menschliche Selbstverständnis zu deuten. Das heißt pointiert ausgedrückt: Bultmann und seinen Anhängern ging es nicht um Weltverständnis sondern in erster Linie um Selbstverständnis. „Bultmann wollte nicht etwa die veralteten weltbildhaften Vorstellungen der Bibel übersetzen in eine heute plausible Weltauffassung. Vielmehr konnte er den Anspruch der modernen säkularen Wissenschaft auf Alleinzuständigkeit in Fragen der Welterklärung als Theologe akzeptieren, weil es für ihn beim Glauben allein um das Selbstverständnis ging." 56 Zuvor hatte schon W. Nethöfel formuliert: „Im Akt der existentialen Interpretation werden die kosmologischen und geschichtlichen Erfahrungen ausgeblendet, die sich im Mythos niedergeschlagen haben..." 5 7 Wenn dieser Gedanke weitergeführt wird, dürfte gesagt werden: Dichtung erinnert immer wieder daran, daß die beiden Größen Weltverständnis und Selbstverständnis nicht ohne Schaden voneinander getrennt werden können. Man 53 54 55 56 57

Ebenda. Ebenda. Ebenda. Pannenberg, W., „Mythos und Offenbarung", a.a.O., S. 510. Nethöfel, W., „Theologische Hermeneutik...", a.a.O., S. 219, zitiert nach: Lenzen, D., „Ent- oder Remythisierung", a.a.O., S. 53.

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kann nicht das Weltbild der Urchristenheit schlicht für überholt erklären, das Selbst- und Menschenbild dagegen für aktuell und angemessen. Subjektivität ist weltlos nicht zu denken. Wenn Literatur heute verstärkt auf Mythen zurückgreift, kritisiert sie damit indirekt und implizit nicht so sehr die Mythenvergessenheit zeitgenössischer Theologie, sondern vielmehr ihre Weltvergessenheit. Es ist ein Rückzug, wenn man davon ausgeht, daß die moderne Naturwissenschaft „endgültig Gott aus der Erklärung der Naturwelt ausgetrieben" habe, „so daß das Feld des moralischen Selbstverständnisses der letzte Zufluchtsort des Gottesglaubens sei." 58 Das Kennzeichen mythischen Denkens ist ja nun gerade die Verbindung von Welt und Selbst, von Objekt und Subjekt. So „ist die Tatsache, daß sich das Verlangen nach einer alternativen Orientierung dem Mythos und nicht etwa der christlichen Überlieferung zuwendet, auch ein Anzeichen für Schwäche einer weltlos gewordenen christlichen Frömmigkeit und Theologie." 59 Für die Literatur der DDR bleibt hier aber doch festzuhalten, daß es in ihr nun gerade keine Abwendung von der christlichen Überlieferung gegeben hat, etwa zugunsten einer Hinwendung zu Mythen der verschiedenen Kulturen. Vielmehr hat sie es gerade vermocht, christliche, vor allem biblische Überlieferungen stillschweigend einzubeziehen in das Arsenal von Modellen mythischer Welt- und Lebensdeutung. Dabei wirken biblische Geschichten offenbar ähnlich fremd und exotisch und darum faszinierend und überzeugend wie Überlieferungen aus der griechischen oder vorderasiatischen Mythologie. Die theologische Diskussion zu diesem Thema ist von den Schriftstellern der DDR dabei nicht zur Kenntnis genommen worden. Unbekümmert konnte so christliches Traditionsgut den Mythen 58 59

Pannenberg, W., „Mythos und Offenbarung", a.a.O., S. 510. Ebenda.

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verschiedener Herkunft zugeschlagen werden, ohne daß dies als Abwertung verstanden wird. Vielmehr wird im Gegenteil Biblisches so als Teil mythischer Weltkultur zum wesentlichen Gesprächspartner. Mit Hilfe solcher mythischen Modelle versucht Literatur, Wirklichkeit aufzudecken und betrachtet dabei Mythen keinesfalls als „subjektive Glaubenseinstellung" oder als „Erzählungen, von denen versichert wird, sie seien mißverstanden, wenn man annehme, es sei auch der Fall, was dort erzählt wird." 60 Trotzdem warnt Pannenberg meines Erachtens zu Recht, wenn er hervorhebt: „Eine Kompensation der Einseitigkeiten des säkularen Bewußtseins durch die Welt mythischer Urbilder bleibt allerdings doch wohl ein etwas anachronistischer und nostalgischer Traum." 61 Er räumt aber ein, daß wir durchaus ein „ästhetisches Verhältnis zu den mythischen Urbildern vergangener Kulturen entwickeln" 62 können. Eben dies zu tun ist Gegenwartsliteratur angetreten. Kurz soll hier nur skizziert werden, wie Pannenberg das Verhältnis des mythischen Bewußtseins durch das biblische Gottesverständnis erfahren hat. Der biblische Gott ist zwar auch eine Ursprungsmacht, auf die hin sich zu orientieren mythisches Bewußtsein ausmache, aber er äußert sich vorrangig im geschichtlichen Raum. „Daraus erwuchs offenbar eine Veränderung der mit dem göttlichen Wirken verbundenen Zeiterfahrung: Ihr Akzent rückte von der urzeitlichen Begründung der Welt- und Lebensordnung auf die Erfahrung geschichtlicher Veränderungen .. ," 6 3 Dieser Verschiebung in die Zeitlichkeit wegen „... kann das Glaubensbewußtsein des alten Israel nicht im ganzen als mythisch gekennzeichnet werden." 64 An-

60 61 62 63 64

Ebenda. Pannenberg, W., „Mythos und Offenbarung", a.a.O., S. 511. Ebenda. Ebenda. Ebenda.

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dererseits bleibt festzuhalten, daß, wie H.-P. Müller es formuliert hat, sich „die Gewißheit verstärkt hat, daß die biblische Urgeschichte (Gen. 1-11) ebenso sicher zur Gattung Mythos gehört wie die nachfolgende Vätergeschichte (Gen. 12-36, 38) der Gattung nach eine Sage darstellt", und daß der Grund für diese Gewißheit in der unvorhersehbaren Zunahme altorientalischen Vergleichsmaterials seit Anfang des Jahrhunderts" 65 liegt. So sieht auch Pannenberg Israel im kultischen Zusammenhang „noch lange eingebunden in die mythische Orientierung an einer stiftenden Urzeit." 66 Die grundlegenden heilsgeschichtlichen Erfahrungen werden - entsprechend mythischer Praxis - im Kult vergegenwärtigt. Biblisches Glaubensbewußtsein schließt den Gebrauch mythischer Motive nicht aus, wenn es auch selbst nicht als mythische Form der Wirklichkeitserfahrung zu identifizieren ist. Entsprechend hält Pannenberg die Inkamationslehre sowie die Botschaft vom Reich Gottes und dessen Anbruch in Jesu Wirken zwar nicht für genuin mythisch, aber dies alles habe „für die christliche Gemeinde der Folgezeit wieder die Funktion eines mythischen Archetyps gewonnen ... Vor allem aber erinnert der christliche Gottesdienst frappierend an die kultische Vergegenwärtigung eines urzeitlich-archetypischen Geschehens mit dem Nachvollzug der Taufe, die Jesus auf sich nahm, und des letzten Mahles, das er feierte." 67 So kam es zu einer „Erneuerung der Struktur des Zusammenhangs von Mythos und Kultus im Christentum, bis hin zur zyklischen Vergegenwärtigung des Heilsgeschehens im christlichen Kirchenjahr." 68 Pannenberg kommt zusammenfassend zu dem Ergebnis, daß „die christliche Religion im ganzen nicht als mythisch zu bezeichnen" ist, „obwohl die biblischen 65 66 67 68

Müller, H.-P., „Mythos in der biblischen Urgeschichte", a.a.O., S. 6. Pannenberg, W., „Mythos und Offenbarung", a.a.O., S. 512. Pannenberg, W., „Mythos und Offenbarung", a.a.O., S. 513. Ebenda.

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Überlieferungen in vielen Einzelheiten mythische Bestandteile, Mythologeme, im Zusammenhang anders geprägter Kontexte enthalten, obwohl die biblische Überlieferung ebenso wie das gottesdienstliche Leben der Kirche einer dem Mythos analogen Einstellung zu einer gründenden Urzeit verpflichtet sind, wenngleich es sich inhaltlich dabei nicht um Mythen handelt." 69 Dieser hochkomplizierte Balanceakt stellt ein staunenswertes Ergebnis theologischer Differenzierkunst dar. Freilich bleibt festzuhalten, daß dies von der säkularen Literatur nicht mitvollzogen wird. Trotzdem liegt hier ein Gesprächsangebot von Seiten der Theologie vor, das neue, verfeinerte Aspekte beizutragen imstande ist. Als gemeinsamen Nenner von .Mythos' und .christliche Religion' sieht Stolz das .Erzählwissen' an, das nicht ohne Schaden auf .erzählunabhängige Wahrheiten' reduziert werden darf. 70 Nach Schmidt wäre es verfehlt, „das Christentum nun plötzlich als mythische Religion begreifen zu wollen. Dennoch setzte sich die Überzeugung durch, daß für ein sachgerechtes theologisches Verstehen des biblischen Erbes ein neues Verhältnis zum Mythischen gewonnen werden muß. Ein Wirklichkeitskonzept, das das Ganze der Wirklichkeit umfassen will und auch der Frage nach den Uranfängen und der Transzendenz Gottes offenstehen soll, wird ohne mythische Ausdrucksweisen - oder zumindest Ausdrucksweisen, die im mythischen Verstehen wurzeln - wohl nie zureichend aussagbar sein." 71

69 70 71

Pannenberg, W., „Mythos und Offenbarung", a.a.O., S. 514. Vgl. Stolz, F., „Der mythische Umgang...", a.a.O., S. 97f. Schmid, H.H., „Vorwort", a.a.O., S. 11.

4. Untersuchung wichtiger Texte der Gegenwartsliteratur 4.1. Franz Fühmann - Essays und Erzählungen Im Jahr 1975 wurde Franz Fühmanns zunächst vor Studenten gehaltener Vortrag „Das mythische Element in der Literatur" veröffentlicht, ein Essay, der Aufsehen erregte. Er war Indikator, aber auch Motor eines literarischen Prozesses, innerhalb dessen es zu einem „starken Anwachsen des Gebrauchs des Mythen-, Märchen-, Sagen- und Legendenhaften in der Literatur der DDR der 70er Jahre" 1 kam. In diesem Essay gibt Fühmann der literarischen Öffentlichkeit Rechenschaft von seiner jahrelangen gründlichen Beschäftigung mit Mythen, die er in seinem 1973 erschienenen Tagebuch „Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens" als „Verallgemeinerungen der Menschheitserfahrungen beim Weg aus dem Naturdasein zu sich selber" bezeichnet, als „Grundstoff und Urmuster der Dichtung".2 Drei Jahre nach Fühmanns Tod schrieb seine Lektorin, daß es das „Dreigestirn Märchen-Mythos-Traum" sei, das „über dem genannten Oeuvre Franz Fühmanns" stünde, und gerade die „innere Bezogenheit aller seiner Texte, als Bruchstücke einer großen Konfession", die aus der Entfaltung der einen Wurzel käme, mache seine Größe aus.

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Lohr, H., „ Zur Funktion mythen-...", a.a.O., S. 149. Fühmann, F., „Zweiundzwanzig Tage...", a.a.O., S. 36. Prignitz, I., „Nachwort", a.a.O., S. 227.

Franz Fühmann

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Anhand einiger Beispiele aus der Weltliteratur, unter anderem des Liedtextes „Der Mond ist aufgegangen" von Matthias Claudius, fragt Fühmann, wie es denn eigentlich käme, daß wir uns seiner Wirkung schwerlich entziehen könnten, eine Wirkung, die er mit

„Bewegtsein,

Angerührtsein, Gepacktsein, Ergriffensein und

so fort" 4 beschreibt. Die Vermutung, es sei einfach die Aussage, die so stark auf uns wirke, weist er jedoch zurück. „Was also wurde ausgesagt: Ein Alltagsabend Natur, den eine kleine Mühe originär verschaffen könnte; ein Alltagsbedürfnis nach Ruhe, wie es jeder kennt; ein zumindest nicht ungewöhnliches Solidaritätsgefühl, gegen das mancher den Vorwurf bloß passiven Mitleids zu erheben nicht abgeneigt sein dürfte, und eine leicht verschroben erscheinende Gotteseinfalt - das also wäre jene Macht gewesen, die uns ergriffen? Sonderbar."5 Aber auch die Form des Textes könne nicht jene Wirkung hervorrufen, so setzt er den Gedankengang fort, denn sie sei ja nicht Musik sondern bedürfe des Wortes. Und dann formuliert Fühmann seine Grundthese, die er im Folgenden auf das Gründlichste entfaltet: Das, was in großen Texten der Weltliteratur auf uns wirkt, ist das mythische Element in der Literatur.6 Und die vom Mythischen gesättigte Literatur ist es, „die Modelle, Konzentrate von wesenhafter Menschheits- und Menschenerfahrung schafft und über Gleichnis und Symbol, in der Verschränkung von Innen- und Außenwelt wirke, dem Leser so die Bestätigung und Bewältigung seiner Existenzerfahrung als Akt der Selbstfindung ermöglichend."7 So hat es I. Prignitz als Formel komprimiert.

4 5 6 7

Fühmann, F., „Das mythische Element...", a.a.O., S. 87. Fühmann, F., „Das mythische Element...", a.a.O., S. 89. Vgl. Fühmann, F., „Das mythische Element...", a.a.O., S. 90. Prignitz, I., „Nachwort, a.a.O., S. 215.

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Texte der Gegenwartsliteratur

Im Mythos findet Fühmann „eine Sprache, die Widersprüche wahrnehmen läßt",8 Widersprüche von menschheitlichem Ausmaß und doch immer vom Einzelnen erfahren. Der Mythos erweist sich damit als widerständig gegenüber allzu glatten Welterklärungen und Lebensdeutungen."9 Was ist nach Fühmann der Mythos? Die landläufige Auffassung, nach der Mythen Göttergeschichten seien, die dazu von Helden, Fabelwesen und Ungeheuern erzählen, verwirft er, denn daraus müßte folgen, daß der Mythos gerade nicht die Wirklichkeit ist und damit letztlich irrelevant. Um das Verhältnis von Mythos und Realität zu untersuchen, vergleicht Fühmann in einem ersten Schritt Märchen und Mythen miteinander. Dabei bezeichnet er Märchen als .gesunkene' Mythen, gesunken in dem Sinn, daß der Widerspruch, den der Mythos in sich birgt, im Märchen getilgt sei, denn er werde als ,gut' und ,böse' auf zwei Personen aufgeteilt. „Der Mythos gibt den Widerspruch wieder, das Märchen aber schafft ihn weg; in einem Zug also, den wir wohl als wesentlich anerkennen müssen, stimmt der Mythos mit dem Leben überein." 10 Wenn denn die moralische Schablone von ,gut' und ,böse', .schwarz' und ,weiß' im Mythos wegfällt, welche Belehrung können wir empfangen? Gar keine, „aber: der Mythos leistet hier etwas Anderes und unvergleichlich Anderes: Er macht es möglich, die individuelle Erfahrung ... an Modellen von Menschheitserfahrung zu messen." 11 So führen die Mythen „in die Tiefe, wo die Welt nicht in Gegensätze aufzuteilen war, sondern Gegensatzerfahrungen erschlossen wurden" 12 , eine Beobachtung, die V. Weymann theologisch und geistlich für relevant ansieht. 13 H. Lehr hat in seiner Dissertation nachgezeichnet, 8 9 10 11 12 13

Weymann, V., „Für Widersprüche Sprache finden", a.a.O., S. 431. Ebenda. Fühmann, F., „Das mythische Element...", a.a.O., S. 95. Fühmann, F., „Das mythische Element...", a.a.O., S. 96. Weymann, V., „Für Widersprüche Sprache finden", a.a.O., S. 431. Vgl. Wymnann, V., „Gegensatzerfahrungen", a.a.O., S. 461.

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wie sich in Fühmanns Schaffen das Schwergewicht vom Märchenhaften zum Mythischen hin verlagert hat. In den frühen Werken dienten die Märchen eher einer .Verschönerung' der Wirklichkeit (Lohr weist hier auf .Kabelkran und Blauer Peter' hin.) Gegensatzerfahrungen wurden so eher zugedeckt denn benannt. Der Mythos aber ist für Fühmann vieldimensional14, abgründig15. „Das Märchen lehrt träumen; der Mythos lehrt leben, das Märchen gibt Trost, der Mythos Erfahrung." 16 Die im Mythos aufgehobene Widerspruchserfahrung führt dazu, daß, wie es Fühmann in einem Interview ausdrückte, „Literatur es immer mit jenen ungelösten Problemen zu tun hat, die immer wieder von neuem bewältigt werden müssen, weil sie sich immer wieder stellen und der Mensch sich ihnen stellen muß." 17 Dieses Menschenbild, das den Menschen ganz in den Blick nehmen möchte, „in seinen Siegen und Triumphen wie in seinen Nöten und Niederlagen, in seinen Anfechtungen und Besessenheiten, in Glanz und Kot, in Zwängen und Freiheit, in dem, worin er ein Zeichen der Würde, wie in dem, darin uns vor ihm schaudert!" 18 , ist dem christlich tradierten Menschenbild sehr nahe. Auf der Suche nach der etymologischen Bedeutung des Wortes .Mythos' vertraut sich Fühmann dem „großen alten Mann der modernen Mythologie" an, dem Ungarn Karl Kerenyi. Mythos hat, so entnimmt Fühmann der Lektüre Kerenyis, die Bedeutung: um den Sachverhalt eines bestimmten Vorganges wissen. 19 Und Fühmann fährt fort: „Wer den Mythos vernommen hat, weiß, wie der Berliner so herrlich schnodderig sagt,, was Sache ist'." 20 Damit ist zugleich klargestellt, daß „Rät14 15 16 17 18 19

Vgl. Fühmann, F., „Zweiundzwanzig Tage...", a.a.O., S. 209. Vgl. Fühmann, F., „Zweiundzwanzig Tage...", a.a.O., S. 208. Vgl. Fühmann, F., „Zweiundzwanzig Tage...", a.a.O., S. 209. Fühmann, F., „Vom Eigenen und vom Anderen", a.a.O., S. 290. Fühmann, F., „Vor Feuerschlünden", a.a.O., S. 188f. Vgl. Fühmann, F., „Das mythische Element...", a.a.O., S. 97f.

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selhaftigkeit und Lichtscheu" 21 nicht das Wesen des Mythos seien, er „tut Augen und Ohren auf, und zwar immer das Objektive" 22 . Aber was ist nun die Sache, von der der Mythos weiß? Geht sie möglicherweise auf ein historisches Ereignis zurück, das durch die mündliche Tradierung phantastische Formen angenommen habe? Diesem euhemeristischen Mißverständnis widerspricht Fühmann, denn wenn wir meinten, wir hätten den konkreten historischen Quellort gefunden, „dann hätten wir vielleicht wieder so lange recht, bis wir abermals ältere Quellen aufschlössen und nach denen abermals ältere Quellen, und dann müßte uns ja einmal die Erkenntnis dämmern, daß all dieses Mühen für unser Problem nichts anderes geleistet hätte als den Nachweis, daß sich ein konkret datierbares Gefühlserlebnis in einen Strom gleicher Empfindungen fügte, der offenbar so weit ins Urdunkel der Menschheit zurückreicht, daß seine Quelle niemals chronologisch anders zu ermitteln wäre als eben mit dieser Zuordnung: .entstanden im Urdunkel der Menschheit' ..."

Mit diesen Überlegungen formuliert Fühmann einen Zug des

Mythos, den schon Kerenyi gesehen hat, daß nämlich der Mythos nicht als Urform greifbar ist, sondern immer nur als konkrete Gestaltung einer Vorlage. Damit erweist sich der Mythos als Bereitstellung bestimmter Konflikte, Handlungen, Figuren, Konstellationen, die endlos neu kombiniert werden können. Alle Varianten sind dabei prinzipiell gleichberechtigt. Von daher ist es einleuchtend, daß Fühmann die Vorstellungen C.G. Jungs als überzeugend und faszinierend empfindet, die das kollektive Unbewußte als Aufbewahrungsort der Mythen, der Urtypen, der Urgestalten und der Urtopographien annehmen.24 20 21 22 23 24

Fühmann, F., „Das mythische Element...", a.a.O., S. 98. Fühmann, F., „Das mythische Element...", a.a.O., S. 99. Ebenda. Fühmann, F., „Das mythische Element...", a.a.O., S. lOOf. Vgl. Fühmann, F., „Das mythische Element...", a.a.O., S. 105, Jacobi, J., „Die Psychologie C.G. Jungs", a.a.O., Jung, C.G., „Der Mensch und seine Symbole", a.a.O..

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Die moderne Mythenforschung hat die Frage nach dem Ursprung der Mythen nicht gestellt, weil sie diese Frage für unlösbar hielt. Fühmann nun nähert sich diesem Problem, und er betritt Neuland damit. Seine Gewährsmänner sind dabei Lenin

(„Zur

Frage der Dialektik") und durch dessen Auffassungen hindurch Hegel.

Den Leninschen Satz: „... daß ... die Praxis des Menschen sich dadurch, daß sie sich milliardenmale wiederholt, im Bewußtsein des Menschen als logische Figuren einprägt. Diese Figuren haben gerade (und nur) kraft dieser milliardenmaligen Wiederholung ... axiomatischen Charakter."25 benutzt Fühmann als „Schlüssel zum Offnen jenes Tresors, in dem der Gegenstand des Mythos verwahrt liegt" Erfahrungsspuren von Jahrtausenden prägten den Menschen auf seinem Weg des Zu-sich-selbst-kommens. Und es sind zwei grundlegende Widerspruchsfelder, die der Mensch dabei quert, ohne sie doch jemals durchmessen zu können. Das eine Spannungsfeld besagt, daß der Mensch ein Naturwesen ist und bleibt und zugleich zunehmend ein Gesellschaftswesen wird. Das andere Spannungsfeld baut sich auf, indem der Mensch sich als Einzelner, als Individuum, erfährt und zugleich als Teil einer Gemeinschaft, der er sich verständlich machen muß und vergleichen will. Diese ineinander verschränkten Spannungsfelder gehören zu den Konstanten der Menschheitsentwicklung. „... und nun verknäulen sich sämtliche Widersprüche, und Objekt und Subjekt durchdringen einander...". 27 „Kurzum, ich kann einen an sich ja ungreifbaren Vorgang seelischer Innenwelt an Vorgängen der Außenwelt sichtbar und durch solches Sichtbarmachen auch verständlich machen und also erklären - eine merkwürdige Entsprechung, die man nie genug staunend durchdenken kann, und

25 26 27

Fühmann, F., „Das mythische Element...", a.a.O., S. 109. Ebenda. Fühmann, F., „Das mythische Element...", a.a.O., S. l l l f .

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schließlich erfährt man im All seine Seele und in seiner Brust das gestirnte All. Solche Erfahrungen, bei denen auf eine geheimnisvolle ... Weise das Subjekt des Erfahrenden als Innen wie Außen ebenso untrennbar mit dem Objekt der Erfahrung verschmilzt wie das Was mit dem Wie des Erfahrens selbst, will ich subjektive Erfahrungen nennen. Sie sind in jedem Fall Selbsterfahrung, doch sie weiten das Ich in das Alles der Welt, und sie sind in jedem Fall Welterfahrung, doch sie ziehen die Welt in die Tiefe der Seele. In solchen Erfahrungen sind Subjekt und Objekt, Außen und Innen, Leib und Seele, Ich und Welt und beide im Doppelcharakter von Natur und Gesellschaft auf eine solche Weise miteinander verbunden, daß sie sich gegenseitig bedingen und Eines auf unerklärliche Weise im Anderen sich spiegelt und darum Eines im Anderen abbildbar ist." 28 Und doch, so betont Fühmann, Lenin erinnernd, seien diese Grunderfahrungen keine einmaligen und besonderen, sondern betreffen die vielfachen Alltagsereignisse: Sterben und Leben, Glück und Scheitern, Ich und Welt, Recht und Unrecht. Liebe und Tod. Und sie erweisen sich trotz ihres massenhaften Vorkommens für den Einzelnen als einzigartig und erschütternd. Und wenn es dann geschieht, daß einem Menschen das Liebste stirbt, dann ist das zwar ein gewöhnliches Schicksal, und doch, diese Erkenntnis kann ihn nicht trösten.29 „Hiob schrie so:, Wenn doch mein Gram, mein Leid gewogen würde auf einer Waage, ganz genau, so wäre es schwerer als aller Sand, der an den Küsten der Meere liegt.' Der versteht mich,... der hat mein unwägbares Leid gewogen, ... und siehe, es ist so schwer, nein schwerer als aller Sand, der an den Küsten der Meere liegt! So ist es; doch woher diese Zustimmung und diese innere Sicherheit? Was ich bei Hiob lese, ist doch nur ein Gleichnis und als solches eine Fiktion ... Das Gleichnis ist, wissenschaftlich 28 29

Fühmann, F., „Das mythische Element...", a.a.O., S. 113. Vgl. Fühmann, F., „Das mythische Element...", a.a.O., S. 117 und 119.

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gesehen, eine unwahre, eine unsinnige Aussage - wie kommt es, daß ich sie dennoch als wahr, ja als einzig adäquat empfinde, so daß ich von ihr sage, sie habe mein Leid gemessen, und daß ich an dieser Wahrheit einen ersten Trost, die notwendige Hilfe finden kann? Es kommt zunächst daher, daß meine subjektive Erfahrung nur im Gleichnis objektivierbar ist; und ein Gleichnis wiederum ist nur deshalb möglich, weil Inneres durch Äußeres abbildbar ist...; das Gleichnis ist der dritte Ort... " 3 0 Diese Gleichnisse aber, die sowohl für die Kunst als auch für die Bewältigung und die Deutung des Lebens eine so außerordentliche Bedeutung haben, weil sie Inneres und Äußeres aneinander abbildbar machen und so Subjekt und Objekt miteinander verschmelzen, sind für Fühmann die Mythen. Und auf seine eigene, präzise Art, ungemein hartnäckig die verwickelten Zusammenhänge der tiefsten menschlichen Erfahrung aufspürend, benennend und damit aufdeckend, kommt Fühmann zu übereinstimmenden Ergebnissen mit denen der modernen Mythenforscher, die sich dem Problemfeld von der Philosophie oder der Ethnologie herkommend nähern: Der Mythos hat die Fähigkeit, Subjekt und Objekt miteinander zu verschmelzen und damit einen großen Zusammenhang der Welt und aller ihrer Erscheinungen herzustellen. Fühmann beschreibt es in seiner, die Wirklichkeit bis in ihre Verästelungen beschreibenden, Sprache so: „Vieltausendfache, und eben in dieser Vieltausendfachheit ins Typische überführbare Einzelerfahrungen mit sich selbst, der Gesellschaft und der Natur bilden einen nie ausschöpfbaren Fundus von Gleichnismöglichkeiten heraus, deren menschheitsfrühe Objektivierung gewöhnlich gleich unübertreffbar geschieht, weil jenes dem Menschengeschlecht von Anfang bis wohl an

30

Fühmann, F., „Das mythische Element...", a.a.O., S. 120.

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das Ende Zugehörige darin so gefaßt wird, daß Jedermann es für sich nehmen kann. .Schwerer als aller Sand an den Küsten der Meere': SO IST ES - man könnte es nicht einfacher sagen, aber eben darum auch gültiger nicht. Im Gleichnis der Waage ist das Unsagbare ausgesprochen, das tiefste Leid ist im Wort geronnen, und ich glaube, daß diese einfachsten, am meisten ,das Wesen der Sache treffenden', die erfahrungsschweren uralten Bilder in ihrer Gesamtheit die Mythen sind." 31 Dieses als Gleichnis gefaßte Erfahrungskonzentrat wird vom Menschen als Erklärung akzeptiert, und es hat die Fähigkeit, den Menschen in den großen Seins- und Sinnzusammenhang der Menschheit und ihrer Geschichte, aber auch des Kosmos einzufügen. Denn der Mensch muß nach dem Sinn seines Lebens, der Geschichte und der Welt fragen und immer wieder fragen, auch wenn diese Fragen nicht erschöpfend zu beantworten sind. Diesen tiefsten, wissenschaftlich nicht zu beantwortenden Fragen nach dem Woher und Wohin, nach dem Sinn des Daseins und dem Wozu von Leiden und Tod, geben die Mythen ihre Stimme, und so, die Wirklichkeit aufdeckend und damit deutend, sind sie auch eine mögliche - vielleicht nur vorläufige Erklärung und Antwort. Für Fühmann jedenfalls ist klar, daß die Mythen ihre Gültigkeit behalten werden, solange es eine Menschheit gibt, denn: „Der Mythos hat unzerstörbare Kraft." 32 Aus dieser Darlegung wird deutlich, daß für Fühmann nicht äußere Strukturmerkmale wie Ort der Handlung (antike oder Urgesellschaft), Personen der Handlung (Götter und Heroen) Zeit der Handlung (Vorgeschichte oder Urzeit) den Mythos ausmachen, sondern die Gleichnis- und Modellhaftigkeit überlieferter Texte. An dieser Stelle wird auch deutlich, daß für ihn nicht der historische ,Sitz im Leben' 31 32

Fühmann, F., „Das mythische Element...", a.a.O., S. 123f. Fühmann, F., „Das mythische Element...", a.a.O., S. 128.

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einer Mythe von Interesse ist, sondern die zeitlos gültige Aussage, die als Menschheitsmodell erfahren wird. In dieser zugleich geschehenen Konzentration und Ausweitung des Begriffes hat Fühmann in einzigartiger Weise die Literatur der DDR beeinflußt. Konzentration meint, daß Fühmann Begriff und Erscheinungsform des Mythos noch in einfachsten Alltagshandlungen zu erkennen vermag, und daß er die Wirksamkeit noch der herabgekommensten Formen von Kunst (Kitsch, Schlager) in dem Splitterchen Mythos sieht, der darin enthalten ist. Eindrucksvolles Beispiel für die Entdeckung des Mythos im Alltag ist das nach Fühmanns Tod erschienene Buch über das Leben mit geistig Behinderten, das er mit dem Fotografen Dietmar Riemann zusammen gemacht hatte. 33 In seinem Essay zu den Fotografien reflektiert Fühmann auch das Bild eines alten Mannes in der Badewanne. Der Moment, den Riemanns Fotografie uns zeigt, so schreibt er: „Er hat ihn aus dem Mythos gewonnen, der jede Alltagshandlung auch ist und der in deren Verdichten zum Wesen hervortritt: im Gehen, Stehen, Spielen, Tanzen, Schlafen, Wachen, Träumen, Lernen, Nehmen, Geben, Atmen, Singen, Schweigen, Lachen, Weinen, Feiern, Reden, Essen, Trinken, ja sogar noch bei der Defäkation ... Und so ist dann auch Baden Alltag wie Mythos: Susanna im Bad, der Teich Bethesda, von dem das Johannesevangelium spricht, das Baden im Meer, das Baden im Ganges, das Bad des Täufers, das Bad Agamemnons, das Bad des Neugeborenen, und hier also, ein Neues, das Bad des Alten: nahe der Pforte des Todes ... Wie jedes gültige Kunstwerk sind auch Photographien von Rang als Träger eines Mythos verstehbar; sie halten jenen Ort und jenen Moment fest, da der Alltag transzendiert, oder, um es noch einmal zu sagen, da ein Atom Zeit ein Atom Ewigkeit wird." 34 Sofem es also gelingt, den Alltag zu verdichten auf seinen we-

33 34

Fühmann, F./Riemann, D., „Was für eine Insel...", a.a.O.. Fühmann, F./Riemann, D., „Was für eine Insel...", a.a.O., S. 16 und 17.

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sentlichen Ausdruck, scheint hinter ihm der Mythos auf, der den Moment erleuchtet und ihm eine Perspektive zurück und damit nach vorn eröffnet. Und „wenn auch nur ein Splitterchen des Mythischen" im Kitsch aufglänzt, dann übt dieser Glanz eine Faszination aus, vor der wir ... immer wieder verdattert stehen ... " 3 5 Und so lebt der Mythos fort, „in den Liedern der Küchenmädchen und den Moritaten der Bänkelsänger, im Kasperletheater, in den Karussells, in alten Balladen und den sinnlosen Reimereien Verliebter, in den Bildern abgegriffener Skat- und Tarockkarten, in Abziehbildchen und auf Plakaten, er tollt durch den Rosenmontag und schweigt in den Steinen und Statuen über den Gräbern; die Kinder hüpfen ihn als Himmel und Hölle; er ist wie ein Gießbach durch den alten Kintopp geschossen, er flackert immer wieder auf in den Schlagern ... Darum ist das Bedürfnis nach Vogelwiese und Weihnachtsmarkt und Schnulzen und Rührstükken unausrottbar... " 3 6 Dies alles gilt auch dann, wenn sich der Kommerz dieser Formen bedient, und das tut er. Was ist nun das Mythische im Text des Liedes:„Der Mond ist aufgegangen"? Es ist nach Fühmann „die entsetzliche Ahnung, daß eine Welt, die allen noch heil scheint, einen Riß hat, durch den Kälte strömt. - Es wird kalt in dieser trauten Welt, und in der Seele beginnt ein Frieren..." 37 Und so ist für Fühmann der Mythos ein Wesenskern von Literatur und ist damit das bleibende Geheimnis großer Dichtung. Folgerichtig deutet Fühmann einen Mythos aus - den er der Homerischen Odyssee und der Ilias entnimmt - wenn es ihm um so wichtige Fragen geht wie die Über35 36 37

Fühmann, F., „Das mythische Element...", a.a.O., S. 139, Vgl. auch, Fühmann, F., „Vor Feuerschlünden", a.a.O., S. 95. Fühmann, F., „Das mythische Element...", a.a.O., S. 138f. Fühmann, F., „Das mythische Element...", a.a.O., S. 132.

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lebensproblematik der Menschheit. Das Hörspiel „Die Schatten" entstand im Krankenhaus wenige Monate vor Fühmanns Tod und ist eine seiner letzten abgeschlossenen Arbeiten. Erzählt wird von den Männern des Odysseus, die an ihrem letzten Abend auf Aiaia mit den Nymphen der Kirke am Feuer sitzen. Kirke hatte sie an den Eingang der Unterwelt nach Kimmerien geschickt, wo die Schatten der toten Helden von Troja jämmerlich nach Blut gebettelt hatten. Achill hatte ihnen gestanden, „daß er lieber droben der letzte Tagelöhner sein wolle als drunten der herrliche Held Achilles." 38 Fühmann gibt dieser Reise den Sinn, daß die Leute des Odysseus über ihre Kriegsvergangenheit nachdenken sollen. Hier wird deutlich, daß es die Frage nach einem sinnerfüllten menschlichen Leben ist, das in diesem Hörspiel im Mittelpunkt steht. Die im Kampf vor Troja Gefallenen finden nicht einmal im Tod Ruhe, sondern dürsten nach Blut. Aber die lebenden Krieger verdrängen diese Erinnerung sofort. Sie haben nichts gelernt. Totschlag und Blutvergießen ist der Inhalt ihres Lebens, mit dem sie hoffen, im Gedächtnis der Nachkommen eine kleine Zeit zu überdauern. Ihre Identität finden sie in einem aggressiven Lebensgesetz. Die Mädchen der Kirke bestreiten dieses Gesetz. Aber sie können die Griechen nicht überzeugen, denn sie sind unsterblich. Und sie sind Frauen, die von den Griechen zwar begehrt, aber nicht gemocht werden, wie es Ursula Heukenkamp ausgedrückt hat. 39 Die Nymphen stehen hier als Vertreterinnen längst besiegter matrilinearer Kulturen, die ähnlich der minoischen als friedfertig gelten. 40 Die letzte Nacht auf Aiaia endet im Kampf Mann gegen Mann um den Besitz der Nymphen. Peter Gugisch bescheinigt dem Schlußbild „archaische Größe" 41 , wenn - während die Überlebenden fliehen - das Laub von den Bäumen 38 39 40 41

Fühmann, F., „Die Schatten", a.a.O., S. 182. Vgl. Heukenkamp, U., „Versuche über Menschlichkeit", a.a.O., S. 10. Vgl. ebenda. Gugisch, P., „,Die Schatten' - Ein Hörspiel..." a.a.O., S. 158.

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fällt. Kirke ruft: „Wehe! Ihr habt unseren Frieden entweiht!... Der Tod ist auf unsere Insel gekommen! Es wird Herbst. Das Laub fällt von den Bäumen. Den Schnee werden sie nicht mehr sehen!" 42 Als Fühmanns poetisches Vermächtnis benennt Gugisch die strikte Absage an jede Art von Krieg, dessen Perspektive die Vernichtung der Menschheit ist. Leben wird als friedliche Arbeit definiert. 43 U. Heukenkamp hat das zugrunde liegende fatalistische Geschichts- und Menschenbild beklagt. 44 Sie sieht hier einen Zweifel ausgedrückt, was die Wandelbarkeit des Menschen und ebenso was die Sinnhaftigkeit der Geschichte betrifft. Sie vermutet, daß diese Skepsis bei Fühmann aus christlichen Quellen gespeist wird. „Fühmann trennt sich von der Zuversicht auf eine unversiegliche Vervollkommnungsfähigkeit der Menschen ... das Spiel wiederholt die Konstellationen von Sündenfall, Paradiesverlust und Brudermord. Unumkehrbar ist der Verlauf von der Unschuld zur Schuld ,.." 4 5 Trotzdem räumt sie dem Text eine kathartische Wirkung auf den Hörer ein. 46 Hans Richter macht den Wandel deutlich, den Fühmanns Menschenbild im Laufe der Zeit erfahren hat: „Eine aufs Äußerste gefährdete Menschheit vor Augen, verwandelt der Dichter seine alte, revidierte, insgeheim aber doch festgehaltene Idealvorstellung vom Menschen in eine Reihe harter Kritiken am Homo sapiens, in illusionslose Auskünfte über ihn, die ihm als Herausforderung zum Sich-Besinnen dienen können. Daß sich der Mensch nur allzu leicht zum Werkzeug machen, gegen andere wie gegen sich selbst einnehmen und ent-menschen läßt, ist eine bittere Grunderfahrung Fühmanns ... An die Stelle der poetischen Analyse individuellen Fehlverhaltens ist...

42 43 44 45 46

Fühmann, F., „Die Schatten", a.a.O., S. 207f. Vgl. Gugisch, P„ „,Die Schatten' - Ein Hörspiel..." a.a.O., S. 160. Vgl. Heukenkamp, U., „Versuche über Menschlichkeit", a.a.O., S. 10. Vgl. Heukenkamp, U., „Versuche über Menschlichkeit", a.a.O., S. 12. Vgl. ebenda.

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das literarische Studium des Gattungswesens Mensch getreten, das in den Augen Fühmanns die Jahrhunderte und Jahrtausende hindurch erschreckend gleichbleibende Merkmale aufweist." 47 Dieses Menschenbild, das in den späten Arbeiten klar hervortritt, ist aus dem intensiven Gespräch mit den Mythen entstanden. Die im Mythos vorgeformten, lange bekannten Figuren, werden zum Wahrzeichen des Menschlichen, das Glanz und Elend gleichermaßen umfaßt. Ganz gewiß hat die christliche Tradition an diesem Bild mitgewirkt. Aus der Modellhaftigkeit der Mythen, die immer auch eine Befreiung vom Autobiographischen ist, und die ebenso als Konzentration wie als Ausweitung beschrieben werden kann, ergibt sich für Fühmann, daß die Mythen etwa aus antiker Tradition eng zusammenrücken mit den Geschichten der Bibel, besonders denen des Alten Testamentes. Er macht - wie alle Schriftsteller und Künstler - keinen prinzipiellen Unterschied zwischen ihnen. In der Erzählung „Die Schöpfung" berühren beide sich sogar, indem Biblisches in eine antik geprägte Staffage gestellt wird. Ein junger deutscher Wehrmachtssoldat vermeint, da er mit seinen Kameraden die griechische Küste betritt, die Schöpfung noch einmal zu erleben. Aber in dieser Vision kann er sich selbst nicht mehr als Geschöpf begreifen, vielmehr erfüllt ihn das Gefühl, „Herr dieser Erde, ja noch mehr: Erwecker, Erschaffer, Erlöser eines Urlands zu sein, das, ... ein Chaos aus Finsternis,..., vor ihnen lag und ihrer harrte, ihrer, ihres Anrufs und Blicks!" 48 In einer grenzenlosen Selbstüberhebung sieht er sich und Seinesgleichen als „Schöpfervolk" angetreten, „die alte Ordnung der Welt mit Waffengewalt zu zerstören und, über ihren Trümmern sein gewaltiges .Werde!' sprechend, das neue, 47 48

Richter, H., „Vermächtnisse Fühmanns", a.a.O., S. 206. Fühmann, F., „Die Schöpfung", a.a.O., S. 125.

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lichte, herrliche Reich zu erbauen,... das Reich des Führers ... Es war die Schöpfung, zu der sie aufgebrochen waren, die Schöpfung einer neuen Welt und eines neuen Äons, und dies war ihr erster Tag." 49 Und ganz wie in der Heiligen Schrift beschrieben meint der deutsche Soldat die Eroberung der griechischen Küste als Schöpfung zu sehen, die gut war, sofern man nur das griechische „Menschengeziefer" ausrotten würde, „so wie man Wanzen vertilgt und Läuse und Schaben, entlausen müßte man das neue Europa,... mit irgendeinem wohltätigen Gas überziehen,... auf daß endlich Platz sei für den wahren Menschen, den Menschen des sechsten Schöpfungstages!" 50 In einem der Häuser eines verlassenen Dorfes findet der Soldat eine alte Frau. Er gibt ihr den Befehl, aufzustehen, damit sie abgeführt werden kann. Über die Schwelle ihres Hauses kriechend, stirbt die todkranke Greisin. Eine alte Kultur wird ausgemerzt durch eine deutsche Wahnidee, die sich anschickt, die Welt neu zu erschaffen. Der letzte Satz zerstört den Wahn, kehrt die Logik um: „... doch da, aus dem Nichts, aus dem Ungewissen, aus Gott weiß welchem Nebel aufgestiegen, stand plötzlich ein Mensch vor ihm. Der junge Soldat war zu verblüfft und, da er im vollen Licht des Mittags stand, auch zu geblendet, um mehr zu sehen, als daß da plötzlich ein Unbekannter vor ihm stand; es war die Schöpfung, und ihr sechster Tag war angebrochen, der Mensch war aus dem Nichts erschienen, und der junge Soldat, seine Waffe hochreißend, sah nur zwei brennende Augen und eine hochfahrende Hand, und in seinem Hirn war es wüst und leer und Finsternis, und er sah der Hand einen Blitz entfahren, ein ungeheures Licht zersprengte ihn und alle anderen, und dann war gar nichts mehr als die große heilige Ruhe des siebenten Tages." 51

49 50 51

Ebenda. Fühmann, F., „Die Schöpfung", a.a.O., S. 137. Fühmann, F., „Die Schöpfung", a.a.O., S. 138f.

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Gott läßt sich nicht spotten, kann man hier fast sagen. Die sich zum Schöpfer machen aus selbstherrlicher Gewalt, müssen untergehen. Die Ausrotter werden vernichtet. Das .Menschengeziefer' erweist sich als der erschaffende Mensch, die .Krone der Schöpfung' und erfährt die heilige Ruhe des siebenten Tages. Die selbsternannten Erlöser werden von ihrem Thron gestürzt, während die Erniedrigten und Verfolgten den Ehrentitel .Mensch' erhalten. In solchermaßen großen biblischen, fast archaischen Bildern faßt Fühmann einen Aspekt des faschistischen Eroberungskrieges. Beim Lesen der Fühmannschen Texte bekennt Hermlin, ins Schwärmen zu geraten. 52 Und er hebt besonders die Erzählung „Die Schöpfung" hervor: „Er beherrscht seine Form und daher die Kunst des Schlusses - seine Schlüsse gleichen Donnerschlägen." 53 Und wenig später schließ er lakonisch: „Dieses und ähnliches soll Fühmann erst einmal jemand nachmachen." 54 Noch einmal vermischt sich bei Fühmann Christliches mit Antikem, vermischt sich zu etwas so Geheimnisvollem, daß sich eine zupackende Ausdeutung verbietet. Er hat es einen Traum genannt - „Der Traum von der Moira" - obwohl aus dem Nachwort von P. Prignitz hervorgeht, daß dieser Text zu den,ausgedachten' Träumen gehört. Es handelt sich nichtsdestoweniger um einen der eindrücklichsten Traumtexte aus dem Nachlaßband „Unter den Paranyas - Traum-Erzählungen und -notate" 55 In diesem Traum sieht das Ich, und man darf hier getrost einen autobiographischen Hintergrund annehmen, ein uraltes graues Mütterchen, die Moira, in das unendliche graue Tuch allen Lebens wiederum eisgraue Zeichen einsticken, hebräische Buchstaben, aber gesichtsförmig, Totemzeichen vielleicht, die Sprache', aber zugleich mehr und weniger. „... und Moira murmelt,... Das Sigel Lie52 53 54 55

Hermlin, St., „Lektüre", a.a.O., S. Hermlin, St., „Lektüre", a.a.O., S. Hermlin, St., „Lektüre", a.a.O., S. Fühmann, F., „Der Traum von der

34. 32. 33. Moira". a.a.O..

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be, das Sigel Haß; der Ahne, der Führer, die Feinde, die Freunde; das Dunkle, das Lichte; das Sigel des Glaubens - " 5 6 Die Annäherung an die Gedanken C.G. Jungs ist hier unübersehbar, Fühmann selbst hat sie als faszinierend bezeichnet. Wichtiger aber noch ist die nun folgende Aussage, denn die Moira flüstert: „Söhnchen, siehe das Sigel des Glaubens, man hat es dir zweimal abgetrennt, Söhnchen, doch ein drittes Mal löst es sich nicht mehr!" 57 Und indem das hautlose Fleisch mit dem grauen Tuch sanft umhüllt wird, sagt die Stimme der Moira: „Siehe die Gnade!" 58 Mit Bildern sehr unterschiedlicher Herkunft wird hier die autobiographische Erfahrung der zweimaligen Zerstörung von ,Glauben' beschrieben und seine letztendlich unzerstörbare Wiederherstellung, die als Gnade bezeichnet wird. In seiner Dissertation über die Funkdon des Mythischen in der Literatur (anhand einiger ausgewählter Werke der DDR-Literatur) kommt H. Lohr zu dem einigermaßen überraschenden Schluß, daß, indem Mythen verwendet werden, „unmittelbar ein wichtiger Begriff oder Vorgang direkt oder indirekt neu aufgenommen worden ist: Glauben."59Nach Lohr liegt der Ursprung des Glaubens im Mythischen, ist aber auf die gesellschaftliche Praxis gerichtet und erweist sich so als Glaube „an die potentiell vorhandene schöpferische Kraft des einzelnen Menschen im gesamtgesellschaftlichen Gefüge, eine Kraft, die auf die emanzipierte Gesellschaft hin ausgerichtet ist." 60 Vermutlich liegt in dem von Fühmann gebrauchten Begriff noch mehr, als hier von Lohr aufgewiesen wurde, immerhin bleibt Lohrs Entdeckung bedeutsam. Dieses ,Mehr' bei Fühmann wird aber so in der Schwebe gehalten, daß es nicht ohne Schaden am poetischen Bild dingfest gemacht werden kann. Dem

56 57 58 59 60

Fühmann, F., „Der Traum von der Moira". a.a.O., S. 57. Fühmann, F., „Der Traum von der Moira", a.a.O., S. 58. Ebenda. Lohr, H., „Zur Funktion mythen-..." a.a.O., S. 156. Lohr, H., „Zur Funktion mythen-..." a.a.O., S. 157.

Franz Fühmann

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Begriff .Glauben' korrespondieren bei Fühmann Worte wie .Hoffnung', .Geborgenheit* und emotional vermittelte, aber rational nicht völlig erfaßbare Verwurzelung. Es ist letztlich von einem Geheimnis die Rede, das im Personsein wurzelt und ein utopisches Element enthält. Hier ergeben sich überraschende Berührungen mit dem, was Tillich den, absoluten Glauben' genannt hat. 61 Für Tillich sagt der absolute Glaube ,ja', weil er .trotzdem' sagen kann, er ist keine Meinung, sondern ein Zustand. 62 Dieser Glaube hat keinen besonderen Inhalt, ist nicht auf Bestimmtes gerichtet, insofern ist er absoluter Glaube. Er zehrt von der Erfahrung des Bejahtseins, das der Macht des Seins entspringt. 63 Der Absolute Glaube ist eine Erfahrung auf der Grenze. „Er ist kein Ort, wo man leben kann; er ist ohne die Sicherheit, die Worte und Begriffe vermitteln, er ist ohne Namen, ohne Kirche, ohne Kult, ohne Theologie. Aber er ist in der Tiefe von ihnen allen wirksam. Er ist die Macht des Seins, an dem sie alle partizipieren und dessen fragmentarische Ausdrucksformen sie sind." 64 1983 veranstaltete der Reclam-Verlag eine Neudruck der Erstausgabe von Luthers Bibelübersetzung, für den Fühmann einen umfangreichen Essay beigesteuert hatte, der 1985 noch einmal in einem Nachlaßband 65 erschien. Hans Richter betonte, daß dieser Essay „grundsätzliche Auskünfte über die letzten Einsichten und Anliegen des Erzählers Fühmann" 66 gebe. Fühmann hat hier die einzelnen Stationen seiner lebenslangen Auseinandersetzung mit den Bildern, den Gestalten, den Geschichten der Bibel vorgeführt und gibt sich Rechenschaft darüber, was ihm, einem Nichtchristen, die Bibel bedeutet. „Ich begann die Geschichten der Bibel zu 61 62 63 64 65 66

Tillich, P., „Der Mut zum Sein", a.a.O.. Vgl. Tillich, P., „Der Mut zum Sein", a.a.O., S. 128f. Vgl. Tillich, P., „Der Mut zum Sein", a.a.O., S. 130f. Tillich, P„ „Der Mut zum Sein", a.a.O., S. 139. Fühmann, F., „Das Ohr...", a.a.O.. Richter, H., „Vermächtnisse Fühmanns", a.a.O., S. 201.

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lesen: ein Riß, und der Abgrund Mensch klaffte auf." 67 Als Ausgangspunkt hier wieder: Fühmanns Menschenbild, in dem Gutes und Böses widerspruchsvoll Platz haben. In der Bibel findet er wieder, was ihn an anderer großer Literatur schon aufgegangen war: „Der jähe Wechsel von Aufstieg und Fall war das Beharrende in den Wirren der Zeiten, wie der stete Sturz in Schuld und Sünde und das Sich-Erheben aus ihrer Tiefe das Wesen eines Menschen machte, eines Bettlers nicht minder als das eines Königs." 6 8 H. Richter hat den Abstand zu den Auffassungen des Historischen Materialismus deutlich gemacht und die Gefahr dieses Bildes in seinem Abgleiten ins Unhistorisch-Allgemeine, ins Abstrakt-Anthropologische angedeutet. Andererseits weist er aber auch auf den Gewinn des Fühmannschen Entwurfs hin, der darin liegt, daß der Mensch hier rigoros als Widerspruchswesen gezeigt wird, ohne jede Verklärung, daß ihm alles zugetraut wird. Und eben das sei - so Richter - in den lebensbedrohlichen Problemen unserer Zeit eine schwer überhörbare Warnung und Herausforderung für uns. 69 In der Bibel findet Fühmann auf eine exemplarische Weise das mythische Element wieder, da er sie auf seine originale, unverstellte Art ernstnimmt. „... sie schienen, diese Geschichten, durchaus das nicht zu haben, was .Anliegen' heißt, sie wollten nichts Anderes als erzählen, was sich mit einem Volk zugetragen, offen, ungeschminkt, radikal, ehrlich: So handelt der Mensch, und nun sieh du dich an! Diese Geschichten wurden dem Menschen gerecht, da sie ihn als Widerspruchswesen zeigten, und da sie, die Geschichten, Geschichte erzählten, die Geschichte eines, nein: des auserwählten Volkes, offenbarte sich dieser Widerspruch als Wider-

67 68 69

Fühmann, F., „Meine B i b e l . . . " , a.a.O., S. 121. Fühmann, F., „Meine B i b e l . . . " , a.a.O., S. 122. Vgl. Richter, H., „Vermächtnisse Fühmanns", a.a.O., S. 208.

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Spruch im Gesellschaftlichen-, Der Schwache war stark, und der Starke schwach, der Niedrige ward erhöht und der Hohe erniedrigt."70 Deutlich wird hier, daß es Fühmann um das Menschheitlich-Konstante, um das Exemplarisch-Modellhafte geht, dieses dann aber immer gespiegelt im Schicksal des Einzelnen. TUA RES AGITUR - dies ist der Punkt an dem der Einzelne, der Leser, Mitschöpfer von Kunst wird, sofern er diesen Satz auf sich beziehen kann. Auf diese Weise weckt Fühmann Erkenntnis und Emotion, die eine Veränderung, im Fühmannschen Sprachgebrauch eine .Wandlung' herbeiführen können. Die Verschränkung von Psychischem und Sozialem, von Ideellem und Materiellem, Allgemeinem und Individuellem macht für Fühmann die Tragfähigkeit von Mythen aus, gerade das fasziniert ihn, und gerade das findet er in den Geschichten der Bibel wieder. Dabei sind die antiken griechischen Mythen ebenso wie die exemplarische Geschichten der Bibel für ihn gleich hoch zu schätzen in ihrer Fähigkeit, den Menschen zu ergreifen. Andererseits differenziert er in seinem Bibelessay auch zwischen den biblischen Mythen und denen aus antik-griechischer Kultur.„Den Unterschied zwischen den Geschichten aus Kana und denen vor Troja - ich fühlte ihn früh und faßte ihn spät. Sein Begreifen wuchs aus Problemen. Etwa Segen und Fluch, was waren sie, daß sie, von Menschen gesetzt, sogar Gott banden und nicht mehr zurückzurufen waren, auch von dem doch Allmächtigen nicht; er konnte bei einem Fluch nur die Richtung ändern. Isaaks Segen, einmal von Jakob erlistet, war nicht mehr für Esau zurückzunehmen oder auf ihn zu übertragen, und die spätere Spaltung des Reiches war noch vor dessen Gründung im Ruch Jakobs angelegt. So mächtig stand also der Mensch zu Gott. Im griechischen Mythos war das undenkbar; dort waren die

70

Fühmann, F., „Meine Bibel...", a.a.O., S. 122.

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Götter zwar auch gebunden, jedoch von oben, von den Moiren, den Uralten, Grauen, dem webenden Schicksal, das über Götter wie Menschen befand; in der Bibel aber band der Mensch Gott. - Noch einmal: Was für eine Macht! - Bei den Griechen war alles menschliche Handeln ausschließlich von den Göttern gefügt, und der tapferste Held tat gut, das zu wissen, sonst traf ihn, wie den starken Aias, ihr strafender Arm. Daß der Mensch nur ein Tonkrug in Gottes Hand sei, erklärte die Bibel zwar auch allenthalben, doch dieser Tonkrug, dieses Stück redender Lehm, konnte in den Willen des Schöpfers wirken und dessen gefaßten Entschluß abändern - : Kein Schicksal stand unabänderbar fest; ein Ödipus war in der Bibel ebensowenig denkbar wie ein Abraham bei Homer. Der Gott, der da JHWH genannt war, entbrannte zwar rasch in furchtbaren Grimm, so über Sodom und Gomorrha, das er zu vertilgen beschloß, allein er beschloß dies nicht aus Willkür, wie ein griechischer Gott, den es so ankommen konnte - seine Entschlüsse waren ethisch begründet, und so ließ er im Ethischen mit sich handeln ... Die monotheistische Bibel zeigte andere, a-tragische, nicht minder wesentliche Aspekte menschlichen Existierens, den des Gerechten, des Propheten, des Bezeugers, des Jüngers - allesamt, und selbst als Märtyrer, nicht Opfer unabwendbaren Schicksals, sondern Kämpfer für die Idee. Denn JHWHs Zorn mußte man nicht erregen, man hatte die Wahl von Gut und Böse, die Ideen, nicht Formen des Handelns waren, und selbst wenn man sich für das Böse entschied, blieb die Entscheidung zur Umkehr möglich." 71 Indem Fühmann Einzelaspekte untersucht - einen Tausch von Abraham und Odysseus etwa durchspielt - kommt er zu Unterschieden, die in dieser Form von keinem anderen Schriftsteller reflektiert worden sind. Interessant zu bemerken ist

71

Fühmann, F., „MeineBibel...", a.a.O., S. 126ff.

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nun einerseits, worin Fühmann Unterschiede erkennt und andererseits, worin er sie gerade nicht sieht. Bedeutsam ist ihm die Entdeckung, daß es sich einerseits im griechischen Bereich um tragische, hingegen im biblischen Bereich um a-tragische Modelle, also Weltdeutung handelt. Freilich ist .tragisch' eine Kategorie, die aus dem Griechischen kommt und beinhaltet: für welches Normensystem der Held sich auch entscheidet, er wird bestraft, er scheitert. Es gibt keine wirkliche Handlungsalternative - Antigone ist dafür ein klassisches Beispiel. Der tragische Konflikt - den großen Tragödien des 6. vorchristlichen Jahrhunderts entsprungen mit ihren besonderen gesellschaftlichen Umbrüchen - ist in der Bibel aufgehoben zugunsten einer Fortentwicklung hinein ins Ethische. Das heißt, die biblischen Konfliktmodelle gehen aus auf die Möglichkeit ethischer Bewußtwerdung und Entscheidungsfreiheit bzw. Möglichkeit zur Umkehr. Diese ethische Entscheidungsfreiheit spitzt Fühmann in seinem Essay zu, den biblischen Gegenpol des getragenen und geführten, ja (durch Gott) verführten Menschen bezieht er nicht ein. Allein, dadurch wird die Differenz zum klassischen griechischen Denken erkennbar. Die tragischen und die a-tragischen Möglichkeiten des Menschseins gelten aber Fühmann gleichviel. Die Bibel hat für Fühmann im Laufe seiner Beschäftigung mit ihr eine immer größere Bedeutung gewonnen, weniger als Glaubenszeugnis, denn als Schatztruhe, in der aufbereitet das Konzentrat wesentlicher Menschheitserfahrung lagert. „Ich glaube, ich muß euch erst einmal erzählen, was die Bibel ist" sagt der Sprachgeist Küslübürtün den Kindern. „Ihr habt da wahrscheinlich falsche Vorstellungen, und besonders vom ersten Teil, dem Alten Testament. Das ist ein wunderbares Buch, das jeder kennen sollte, auch der nicht an Gott glaubt. Ein uraltes Volk hat es vermocht, in seiner Geschichte, denn die wird im Alten Testament erzählt - den Weg der Menschheit abzubilden: Herkunft, Wanderschaft, Kämpfe und Schlachten,

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Naturkatastrophen, Drangsale, Hoffnung, Grausamkeit, Nöte, Verirrungen, Treue, Liebe, Opfermut, Schändlichkeit, Aufstieg, Triumph und Absturz und alle Regungen menschlicher Seele in Legenden, Chroniken, Geschichten und Liedern, und dazu die tiefe Weisheit einer bestimmten Art von Märchen, die man Mythen nennt.' Er war richtig ins Schwärmen geraten." 72 Ins Auge springt hier die tiefe Verbundenheit, die Fühmann mit dem Alten Testament empfunden hat. Und es sind Erkenntnisse sehr grundsätzlicher Natur, die er aus den biblischen Mythen gewinnt. In der Auslegung der Turmbaumythe läßt der Schriftsteller eines der Kinder sagen: „Mensch, ... ich begreife was: Mit der Arbeit ist die Sprache geschaffen worden, und durch die Arbeit wurde sie auch verwirrt.' ,Und eben das', sagte Küslübürtün, ,daß die Arbeit sowohl eint wie auch trennt, ist einer der großen Widersprüche des menschlichen Lebens, die im Mythos abgebildet sind. Ich wußte, daß ihr draufkommen würdet. Erwachsene bemerken so was viel schwerer.' ,Es steht doch da', stellte Emmanuel fest. ,Eben darum überliest man's', sagte Küslübürtün, und er fügte hinzu: .Soviel ich weiß, ist das Alte Testament die einzige Mythe, die Sprache und Arbeit in Verbindung setzt - es hat danach lange Zeit gedauert, diesen Zusammenhang neu zu entdecken.'" 73 Fühmanns Interpretation der Turmbaugeschichte ist bemerkenswert. Weitab von jeder traditionellen moralischen Auslegung, der es um Probleme menschlichen Gehorsams und menschlicher Selbstüberhebung gegenüber Gott zu tun ist, entdeckt der Schriftsteller hier einen Zusammenhang, den zwischen Sprache und Arbeit, der christlichen Exegeten bisher entgangen zu sein scheint. ,Weil es dasteht, darum überliest man's', vermutet Fühmann, der freilich an dialektisch-materialistischem Denken geschult ist. 72 73

Fühmann, F., „Die dampfenden Hälse...", a.a.O., S. 100. Fühmann, F., „Die dampfenden Hälse...", a.a.O., S. 107.

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Dem Alten Testament also hat sein besondere Liebe gegolten, von dem er „ahnte, daß es ein Buch der Subversion war, der Unerhörten, des Unerlaubten, des Umkehrens von Oben und Unten und des Zerschlagens der alten Tafeln, ein zersetzendes Buch, das den Königen fluchte und die Armen und Schwachen seligpries, ein Buch der Parteinahme für alle Minderen, das den Herrenmenschen ins Gesicht spie, ein Buch des Aufwiegeins und Unruhestiftens, das alles das in Frage stellte, das sich in fraglos sicherer Gegründetheit wähnte - voran die eigene Existenz." 74 Auch wenn Fühmann vom Alten Testament her denkt, hat er es doch aus der Perspektive des Neuen Testaments gesehen. Im Lichte des Magnifikats erscheinen ihm einige Dinge besonders wesentlich, vor allem im Hinblick auf gesellschaftliche Probleme und Katastrophen des 20. Jahrhunderts, wie zum Beispiel die Bewältigung des Faschismus. Immer wieder wird Schriftstellern, die sich mit Mythen beschäftigen, ,Remythisietrung' vorgeworfen. Damit ist dann jeweils das Abgleiten in ahistorisches und sozial unkonkretes Denken gemeint. Auf Fühmann trifft dieser Vorwurf jedenfalls nicht zu. Gerade die menschliche Perspektive der Mythen, auch der biblischen, hat ihm zur sozialpsychologisch höchst präzisen Benennung und Verarbeitung seiner eigenen Biographie, seines Weges vom jungen Faschisten zum Sozialisten, der Auschwitz immer mitdenkt, geführt. 75 Die Themen ,Wandlung' und .Wahrheit/Wahrhaftigkeit' sind seine Lebensthemen gewesen, und wie in einem Spiegel erkennt er seine Geschichte in der Geschichte Israels: „Die Gestalten der Bibel sind keine Heroen, nicht einmal Josua oder Simson, sie sind Menschen in ihrem Widerspruch, in ihrer Verstocktheit in Schuld und Verfehlung, so wie ja das Volk, das da ,auserwählt4

74 75

Fühmann, F., „MeineBibel...", a.a.O., S. 135. Vgl. Fühmann, F., „Zweiundzwanzig Tage...", a.a.O., und Fühmann, F., „Vor Feuerschlünden", a.a.O..

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heißt, die Menschenart eben darin repräsentiert, daß es ein Volk der Schwachen ist, bedroht von übermächtigen Feinden, in die ungünstigste Umwelt gestoßen, ein irrendes, strauchelndes, ungeborgenes Volk, immer wieder in ausweglos scheinender Lage, doch immer wieder als Volk gerettet und bewahrt selbst in Deportation und Zerstreuung durch ein geistig-moralisches Selbstbesinnen mit dem Kern radikaler Wahrhaftigkeit, die zuerst Wahrhaftigkeit gegen sich selbst ist." 76 Fühmann hat die Geschichten der Bibel als eigene Geschichte erfahren, er hat sie radikal auf sich angewendet, den Leser einladend, es ihm gleich zu tun. Es war ihm dabei überaus wichtig, sie nicht mit Erbaulichkeit zuzudecken.77 Den essayistischen Annäherungen an die Bibel stehen die erzählenden Versuche zur Seite. Der Nachlaßband „Das Ohr des Dionysios" vereint eine Reihe von Geschichten, die zum Teil dem griechischen Mythenschatz und zum anderen der Bibel entnommen sind. In diesen späten Erzählungen, die Fühmann poetische Kompetenz ausweisen, schlägt er im Vergleich zu früheren (,JDie Schöpfung" u.a.) einen entgegengesetzten Weg ein. Nicht zeitgenössische Erfahrung steht im Vordergrund, die mit Biblischem konfrontiert und korrigiert wird; hier bleibt alles scheinbar ganz im Historischen. Aber dieser Eindruck täuscht. Fühmann ist kein Historiker, ihn beschäftigen die Vorgänge als Muster, als verdichtete Grundformel, als Wurzel und Perspektive heutiger Weltverhältnisse und Weltdeutung. Die beiden Erzählungen „Amnon und Tamar" und ,JDer Mund des Propheten" sind in ihrer archaischen Kargheit - die durch einen Verzicht auf weitläufiges Psycholoigisieren erzielt wird - eindrucksvolle Beispiele. „An die Stelle angestrengter, aufwendig psychologisierender Stilisierung des autobiographischen Materiales tritt ein erneuerndes Nacherzählen von weithin Bekanntem; das .mythische Element' 76 77

Fühmann, F., „Meine Bibel...", a.a.O., S. 136f. Vgl. Fühmann, F., „Meine Bibel...", a.a.O., S. 130f.

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wird zum ästhetischen Ferment eines grundsätzlich anderen Erzählens. Sichtbarer oder spürbarer Gegenstand der künstlerischen Untersuchung ist nicht mehr die eigene Person des Autors, sondern die Gattung Mensch, vertreten durch längst vorgeformte Gestalten." 78 , faßt Hans Richter zusammen. 7Q In der Erzählung „Amnon und Tamar"

führt Fühmann anhand der Geschichte

dreier Davidskinder das Problemfeld Mann-Frau wie einen Spiegel für heutige Leser vor. H. Richter weist darauf hin, daß Fühmann daraus nun aber keine InzestGeschichte mache, auch kein banales Beispiel für die Flüchtigkeit männlicher Wünsche, sondern ein vielschichtiges Modell, in dem weder eine Botschaft noch eine Idee sinnfällig vermittelt werden solle, sondern das leidenschaftliche Bestreben, das Leben und den Menschen ganz zu erfassen. 80 In diesem Fall sind die Themen von Liebe und Eifersucht, von Begierde und Glück, von Macht und Vernichtungswille, von Erniedrigung und Mord dargestellt am Konflikt dreier Halbgeschwister, dem die Beziehung zwischen Männern und Frauen zugrunde liegt. Erzählt wird von der Degradierung der Frau, ihrer Verwandlung in ein Objekt. Obwohl Fühmann an keiner Stelle für sie Partei ergreift, sondern einen am biblischen Ton geschulten, schonungslosen Erzählstil wählt, ist die knappe Erzählung durch eine „in hohem grade herbe Klage" 81 über das Schicksal der Tamar, die in der biblischen Geschichte eine Nebenfigur ist. „Die Eiche der Lutherbibel (2. Sam. 18,9) verwandelt Fühmann in eine Tamariske, die als Baum der Tamar in der gesamten Erzählung gegenwärtig ist, Sinnbild ihrer Unschuld, ihres Unglücks, ihres unabgegoltenen Anspruchs auf ein erfülltes Leben; der letzte Satz lautet: ,Die Tamariske grünt noch heute!'" 82 78 79 80 81

Richter, H., „Vermächtnisse Fühmanns", a.a.O., S. 207. Fühmann, F., „Ammon und Tamar", a.a.O.. Vgl. Richter, H., „Vermächtnisse Fühmanns", a.a.O., S. 209. Richter, H., „Vermächtnisse Fühmanns", a.a.O., S. 210.

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Die Erzählung „Der Mund des Propheten" nimmt ganz direkt Bezug zu aktuellen Problemen unserer Zeit, die heftig diskutiert wurden. Das biblische Motto .Schwerter zu Pflugscharen' bildet den ideellen Hintergrund für diese Geschichte, die nach Texten aus den Königsbüchern und des Propheten Micha entstanden ist. Es geht um die Strukturen von Krieg und Frieden, es geht um die Auseinandersetzung von Geist und Macht. Mit Unterstützung der falschen Propheten bricht das Königspaar Achab und Jezebel einen Krieg gegen das Nachbarreich vom Zaun, der auf sie selbst zurückschlägt und in dem sie untergehen. Auf der anderen Seite steht der Prophet, der der ,Mund der Wahrheit' genannt wird und der als Vorbild leidensbereiter Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeitsliebe die Vision von sozialer Gerechtigkeit und Frieden festhält. Am Ende geht er unter, nun schon dem Sieger und nächsten Herrscher unliebsam, aber was er zu verkünden hat, wird durch die Zeiten weitergetragen: „'Auf dem anderen Berg brennen Schmiedefeuer, und die Völker strömen den Berg hinan und bringen ihre Schwerter und Lanzen, und die an den Schmiedefeuern sitzen, schmieden die Schwerter zu Pflugscharen und die Lanzen zu Winzermessem!' - Da sagte der König:, Was soll mir dein Spruch?'... Und der Anführer der Leibwächter sagte: ,Er will, daß wir unsere Waffen ablegen und hinausgehen aufs Feld und Knechtsarbeit tun.' - ,Er will uns den Sieg stehlen', sagte der König ... Er gab dem Henker einen Wink, und der führte den Propheten in den Kerker zurück. Da er das Schwert entblößte, sagte der Henker:, Was nützt nun dein Mund, du törichter Mann?'... ,Das Wort wird bewahrt', sprach der Prophet, der immer nur Einer ist in den Vielen, weil er der Mund der Wahrheit ist." 83

82 83

Ebenda und f. Fühmann, F., „Der Mund des Propheten", a.a.O., S. 29.

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Mit seiner Erzählung, in die die biblische Friedensverheißung eingeschmolzen ist, spricht, wie H. Richter hervorhebt, der Bibel-Leser Fühmann zu uns, fordernd und warnend, Jahre im Voraus „ganz im Geiste einer Friedenspolitik, wie sie heute von der neuen sowjetischen Führung mit überzeugender Kühnheit und Konsequenz verfochten wird" 84 Der Schriftsteller Franz Fühmann hat es auf beeindruckende Weise vermocht, uns biblische Mythen als exemplarische Modelle und biblischen Erzählstil anzuverwandeln. Andererseits bleibt zu bemerken, daß der Nicht-Christ Fühmann die biblischen Geschichten nicht aus dem Gegenüber von Gott und Mensch und ihrer gemeinsamen Geschichte sieht und sehen kann. Von Gott sagt Küslübürtün den Kindern: „Es ist die Natur,... die alles hervorgebracht hat,.. ." 85 und kurz darauf: „... er (der Gott Jahwe) ist mächtig in einem gewaltigen Widerspruch von böse und gut." 86

4.2. Peter Hacks - „Adam und Eva" und „Jona" 1976 veröffentlichte Peter Hacks sein Stück „Adam und Eva", das, wie der Verfasser lakonisch mitteilt, im Paradies kurz nach der Schöpfung spiele. 87 Neben Adam und Eva treten in dem Stück Gott, Gabriel und Satanael auf. „Die Bibel als Vorlage für Dichtung, seit Menschengedenken üblich", stellt Ch. Trilse noch 1977 fest, „ist für die sozialistische Dichtung zumindest in dieser Totalität neu" 88

84 85 86 87 88

Richter, H., „Vermächtnisse Filhmanns", a.a.O., S. 204. Fühmann, F., „Die dampfenden Hälse...", a.a.O., S. 104. Fühmann, F., „Die dampfenden Hälse...", a.a.O., S. 106. Hacks, P., „Adam und Eva", a.a.O.. Trilse, Ch., „Schriftsteller der Gegenwart - Peter Hacks", a.a.O., S. 224f.

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Texte der Gegenwartsliteratur

Es geht um das große biblische Bild vom Sündenfall.„Die moderne Kunst bedient sich wieder der großen Bilder. Große Bilder neu zu erfinden, hat seine Schwierigkeit ... Die moderne Kunst, folglich, bedient sich auch überkommener Bilder, meist derer der Griechen. Aber die der Christen sind viel besser erinnert... Die Paradiesgeschichte, dieses große Bild vom Anfang des Menschen, ist vom Verfasser ausgelegt worden als das große komische Bild vom Betreten der wirklichen Welt". 89 Es geht Hacks also nicht darum, das immer wieder Gegenwärtige, sich in der Biographie des Einzelnen aktualisierende Geschehen, gespiegelt im Bild vom Paradiesverlust, auf die Bühne zu bringen. Ja, er hält es geradezu für unerlaubt, mythischen Charakteren mittels neuzeitlicher Psychologie aufzuhelfen. 90 Ihm geht es vielmehr darum, den notwendigen Eintritt des Menschen, der damit als Gattungswesen aufgefaßt wird, in die Geschichte, die eine Geschichte von Klassenkämpfen und damit von Entfremdung ist, darzustellen. Es liegt auf der Hand, daß es ein sehr ehrgeiziger Plan ist, aus diesem schwergewichtigen Stoff mit Allgemeinheitsbedeutung eine Komödie zu machen, eine komische Wirkung zu erzeugen. Im Vorspiel zur Komödie hält Gott zunächst einen langen Monolog, der auf das Kernproblem des nun Folgenden hinsteuert, das Problem der Freiheit. Er hat es so eingerichtet, „Daß ihnen Möglichkeit auch der Verneinung Im Busen wohnend wäre und mithin ihr Gewolltes Ja von Wert. Kurz, keine Engel

Die eine Pflicht, gemischt ins heitre Dürfen, 89 90

Hacks, P„ „Über Adam und Eva", a.a.O., S. 104f. Vgl. Hacks, P„ „Über Adam und Eva", a.a.O., S. 105f.

Peter Hacks

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Beweist, wird sie erfüllt, mir ihre (ganz leise): Freiheit und tüchtiges Mirähnlichsein ".91 Adam und Eva sind als Partner angelegt, durch die ihnen gegebene Freiheit Gott ähnlich. Allein - die Fähigkeit zum Nein ist eingeschlossen, und eben das nutzt Satanael aus. Eva läßt sich von ihm überreden: „... dieser Apfel ist Von höchster Wichtigkeit des Unerlaubtseins. "92 Und, nachdem sie abgebissen hat: „Ja, ja, das ist, was ausgeprobt sein mußte. Ob es das Schönste sei, ich kann 's nicht sagen, Doch ist sehr klar, das es das Größte ist. "93 Nachdem auch Adam abgebissen hat, verändert sich alles, die Sonne fallt vom Himmel. Es verfinstert sich. Das Wetter wird schlecht. Begehrende Liebe und zugleich Haß sind auf die Welt gekommen, Solidarität (im Gegensatz zur biblischen Vorlage) und die Möglichkeit des Verrates, der Brutalität scheinen auf. „Ihr Raubtiere!...",

sagt Gabriel,

„... nach diesem ersten Beißen Ist nichts so würdig, so geheiligt mehr, Daß ihr nicht eure Zähne fähig wärt, Die blindlings reißenden, hineinzuschlagen. "94 Und, als er Gott die Liebesszene beschreiben muß, die da „exekutiert"95 wird, mißversteht-versteht er sie, indem er sagt: ,JSie toben gegen sich, denn sie sind

91 92 93 94 95

Hacks, P., „Adam und Eva", a.a.O., S. 15f. Hacks, P., „Adam und Eva", a.a.O., S. 61. Hacks, P„ „Adam und Eva", a.a.O., S. 62. Hacks, P., „Adam und Eva", a.a.O., S. 75f. Trilse, Ch„ „Schriftsteller der Gegenwart - Peter Hacks", a.a.O., S. 230.

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Feinde."96 Gott bleibt gelassen, er sagt zu Eva: ,laß gut sein Kind, es war vorhergesehen,"97 Und ein sehr dialektischer Adam 98 resümiert: „Ich habe Sie begriffen, schnell und ganz. Der Garten Eden, so begriff ich, war Uns zubestimmt, um aus ihm fortzuschreiten, Ein teurer Ort, an dem wir hängen müssen, Um, stets vergeblich, stets ihn zu erstreben. Und daß wir ihn, verschlossen und bewacht, Wie er von diesem dumtnen Engel ist, Nie mehr betreten dürfen, bürgt uns, daß Wir bleiben werden, wie wir sollen: frei.

Zeit ist zu gehn. Der Lehm ist einverstanden.

Ich bin sehr lustig, Herr. Sie lehrten uns Bitter und Süß. Seither weiß ich das Süße. Und sehe klar: Ihr Wille ist erflllt, Seit er verletzt ist, alles wird sehr gut, Weil es nie gut wird, und das Paradies, Es war gewonnen, als wir es

verloren.""

Und Adams dialektischer Lehrmeister, Hacks, faßt die zugrundeliegende Idee in seinem Essay zum Stück so zusammen: „Es zeigt die Freiheit als Entfremdung und aber auch die Entfremdung als Freiheit. Die Freiheit zum Guten kann von der zum 96 97 98 99

Hacks, P., „Adam und Eva", a.a.O., S. 85. Hacks, P., „Adam und Eva", a.a.O., S. 96. Vgl. Bieritz. K.-H., „Mensch werden...", a.a.O., S. 176. Hacks, P„ „Adam und Eva", a.a.O., S. 99f.

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Bösen nicht getrennt werden; Freiheit ist die Möglichkeit, einen Weltzustand um eines neueren willen zu verlassen ... Haben Adam und Eva richtig oder falsch gehandelt? Sie haben gehandelt. Ist Gott mit ihnen unzufrieden? Es ist so schwer zu sagen; er schimpft, aber er macht ihnen Hosen." 1 0 0 Ist das Stück, Adam und Eva" nun eine Komödie? Es mag so scheinen - aber: Da die Menschen das Paradies verlassen, weint Gott. Der weinenden Gott - dies ist das Bild, mit dem uns das Stück entläßt. M. Steinhäuser hält dafür, daß dieser „sehr vernünftige Gott" weint, weil er „die Ohnmacht in seinem Weinen in K a u f ' 1 0 1 nehme und dabei doch weiß, daß das Experiment geglückt ist. So besteht für ihn kein Zweifel, „daß Hacks seinem Stück einen optimistischen Schluß gegeben hat." 1 0 2 Auch für Trilse steht fest, daß dies ein „heiteres Spiel von der Menschwerdung" 103 sei. Heiter deshalb, weil gezeigt wird, wie die Menschheit zum Subjekt ihrer Geschichte wird, indem sie die reale Freiheit gewinnt. An dieser Stelle sieht Trilse den größten Unterschied zwischen der marxistischen und der theologischen Sicht, denn, so postuliert er: Die Freiheit eines Christenmenschen ist eben nicht von dieser Welt." 1 0 4 Die scharfsinnigste und subtilste Untersuchung zu „Adam und Eva" stammt - vielleicht nicht zufällig - von einem Theologen. Unter dem Thema „Mensch werden - menschlich bleiben" hielt K.-H. Bieritz 1981 in Eisenach einen Vortrag, in dem es ihm um Überlegungen zur theologischen Anthropologie geht 1 0 5 . In drei großen Anläufen analysiert er das Stück. Seine erste Frage dabei lautet: Ist dies ein opti-

100 101 102 103 104 105

Hacks, P., „Über Adam und Eva", a.a.O., S. 105. Hacks, P., „Über Adam und Eva", a.a.O., S. 105. Steinhäuser, M., „Die literarische Adaption", a.a.O., S. 50. Trilse, Ch., „Schriftsteller der Gegenwart - Peter Hacks", a.a.O., S. 231. Trilse, Ch., „Schriftsteller der Gegenwart - Peter Hacks", a.a.O., S. 232. Bieritz. K.-H., „Mensch werden...", a.a.O..

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mistisches Stück? Was könnte dafür sprechen? Zunächst einmal: Das Stück ist aus, das Paradies ist zu, der Mensch ist frei. „... der Fall erscheint als sachnotwendiges Heraustreten aus dem Schwebezustand einer ,träumenden Unschuld', wodurch erst die menschliche Freiheitsgeschichte eröffnet wird." 106 Vor den Menschen liegt die Suche nach der Vollkommenheit, die unvollkommen ist; und gerade darin ist die Welt ,sehr gut'. „Es scheint, daß hier die Optimisten recht bekommen: Der Aufstand gegen die vollkommene Harmonie des Paradieses, die Entscheidung für den Widerspruch, der Auszug in die Fremde sind Bedingungen dafür, daß der Mensch zu seiner eigentlichen Bestimmung findet."107 „Doch merkwürdig: der Mensch, der die Bühne verläßt, um die Weltgeschichte zu eröffnen, scheint nicht sonderlich optimistisch gestimmt. Zwar sagt er: ,Ich bin sehr lustig, Herr'. Doch das ist - man spürt's sehr deutlich - nichts als Selbstironie, so etwas wie Galgenhumor, vielleicht gar mit einem Schuß Zynismus vermischt. Und Gott weint." 108 Die Kehrseite der Freiheit ist die Entfremdung. Und diese Erfahrung wird den Menschen nun auf allen Ebenen begleiten: als Erfahrung der Vergeblichkeit. Eine Verheißung, am Ende der Zeit doch noch heimzukehren, wird dem Menschenpaar nicht mit auf den Weg gegeben. „Im Gegenteil: Die Entfremdung des Menschen wird als bleibende Bedingung und Gestalt seiner Freiheit beschrieben. ,Das Paradies hat aufgehört zu sein.'" 109 Keine Heilsbotschaft - aber: Der Mensch ist einverstanden: mit seiner Bestimmung, mit seiner Entfremdung. „Zeit ist zu gehn. Der Lehm ist einverstanden" 110 , sagt Adam zum Abschied. „Das ist nun wirklich neu gegenüber der biblischen

106 107 108 109 110

Bieritz. K.-H., „Mensch werden...", a.a.O., Bieritz. K.-H., „Mensch werden...", a.a.O., Bieritz. K.-H., „Mensch werden...", a.a.O., Bieritz. K. H., „Mensch werden...", a.a.O., Hacks, P., „Adam und Eva", a.a.O., S. 101.

S. S. S. S.

175f-Bieritz erinnert hier an Tillich. 176. 177. 178.

Peter Hacks

115

Vorlage: Ein von Gott gerechtfertigter und in seinem Einverständnis durchaus neuer Mensch verläßt das Paradies. Wenn das Stück auch keine auf endzeitliche Vollendung gerichtete Heilsbotschaft enthält, so verkündet es doch einen neuen Menschen. Und hier liegt die eigentliche Provokation für den christlichen Glauben und seine Botschaft von dem in Jesus Christus erschienenen, endzeitlich neuen, Gott entsprechendem Menschen." 111 In einem zweiten Anlauf unternimmt es Bieritz, das angebotene Bild des Menschen über den Rahmen des Stückes hinaus zu entwerfen, das Schicksal des Gattungswesens Mensch auf den vorgeführten Prämissen weiter zu verfolgen. Welche Linien zieht Bieritz? Die eine Linie führt in die Wüste, die nun zu bebauen ist Selbstverwirklichung durch Arbeit. Längst trägt die Erde die Spuren - ja die Narben - der rastlosen menschlichen Tätigkeit. Dem Bebauen ist das Zerstören beigemischt, es gibt keine Schonung. Aber in dieser selbstgemachten Welt erfährt der Mensch, daß er ausgeliefert ist - „an sein eigenes Werk, an eine selbstgemachte Welt, die er längst schon als bedrückend und bedrohend empfindet, ohne jedoch die Fähigkeit dazu zu besitzen, sich ihrer Herrschaft zu entziehen." 112 Das ist das Eine. Die andere, wichtigere Gedankenlinie, geht dem Zwang zur Rechtfertigung nach, dessen Folge Bieritz als überanstrengte Menschlichkeit diagnostiziert. „Gott: Adam, ich rief euch und ihr säumtet lang. Adam: Schließlich, wir mußten uns in Ordnung bringen."113 Es ist die Folge des Falls, daß Adam und Eva meinen, sich in Ordnung bringen zu müssen. Von nun an bleibt ihnen der Zwang, sich zu rechtfertigen. „So wird der Weg, den der Mensch jetzt antritt, zu einer höchst anstrengenden Angelegenheit

111 112 113

Bieritz. K.-H., „Mensch werden...", a.a.O., S. 179. Bieritz. K.-H., „Mensch werden...", a.a.O., S. 181. Hacks, P., „Adam und Eva", a.a.O., S. 91.

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Texte der Gegenwartsliteratur

... Kein Wunder, wenn solche Anstrengung beim Einzelnen in Über-Anstrengung umschlägt: Schon bei Adam und Eva zeigen sich ja ... merkliche Symptome solcher Überanstrengung - Schweiß und Zähneknirschen - ... Was noch schwerer wiegt: Überanstregte Menschlichkeit ist nie weit entfernt von angestrengter Unmenschlichkeit. ,Sie toben gegen sich, denn sie sind Feinde': Das ist nicht nur der Ausspruch eines unverständigen Engels... Das ist vielmehr eine genaue Beschreibung dessen, was eintreten kann, wenn Menschen sich nötigen, ein selbstgesetztes Soll an Selbstverwirklichung, an Liebe, Leben und Menschlichkeit zu erfüllen und zu überbieten. Der mit Vergeblichkeit gepaarte Zwang, sich stets neu aus seinen Werken rechtfertigen zu müssen, läßt den Menschen grausam werden gegenüber sich selbst und seinesgleichen." 114 Und doch - was bleibt dem Dichter anderes übrig - vertraut er auf den neuen Menschen mit all seinen verwickelten Ambivalenzen, dessen Bestimmung es ist, ein unvollkommener Gott zu sein. Ein christliches Menschenbild ist verglichen damit doch optimistischer, denn es sieht den Menschen befreiter, entlasteter, weil befreibar und entlastbar. Es setzt weniger auf Selbstverwirklichung um jeden Preis. „Während er ebenso angestrengt wie vergeblich darum bemüht ist, über sich hinauszugreifen und sich als Gott zu vollenden, hat sich Gott in der Niedrigkeit des Menschen Jesus vollendet. Er hat darum den Menschen als Menschen gerechtfertigt und ihn der Not enthoben, sein Menschsein allererst begründen, ausfüllen, verwirklichen und darin rechtfertigen zu müssen." 115 Gott hat damit, dem Menschen seine Menschlichkeit bestätigend, Mitmenschlichkeit ermöglicht. „'Ich bin sehr lustig, Herr': Dieser Adam spricht von dem zwiespältigen Genuß, den ein auf ewig unvollkommener Gott empfindet, der um seine unendliche, nie zu vollendende Bestimmung weiß. Von dem Genuß, 114 115

Bieritz. K.-H., „Mensch werden...", a.a.O., S. 182f. Bieritz. K.-H., „Mensch werden...", a.a.O., S. 188.

Peter Hacks

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den es bereitet, vollkommen Mensch sein zu dürfen, weiß er nichts. Wir wollen, wenn wir an dem Stück weiterschreiben, vor allem dies sehr bunt und sehr konkret entfalten: Wie dieser Adam neu genießbar wird für sich, für seine Frau, für alle anderen Geschöpfe, für diese von ihm mißhandelte und gequälte Welt, ... ohne in hybrider Selbstüberforderung jedesmal Gesamtlösungen oder - noch fataler Endlösungen verwirklichen zu wollen." 116 Hacks' Stück, das Gegenwärtiges im Mythischen spiegelt und so ins Allgemeine erhebt, das Gattungsgeschichte deutet, indem es schon geprägte Figuren aus der Bibel entnimmt, bleibt als Gesprächsangebot auch an Christen wichtig. Das Verfahren, das Hacks verwendet, ist das der Ästhetisierung biblischer Mythen als „poetisch schon aufbereiteter Realität." 117 So ist es nach Hacks eine, Aufgabe der marxistischen Kunst, das Christentum vor den Christen zu retten" 118 , die ihre Mythen fortwerfen und das Christentum verkleinem „auf einen Rest von Sätzen über Gerechtigkeit, Tugend und die Herstellung einer würdigeren Welt..." 1 1 9 In Form von Kunst also will Hacks das Christentum retten, das sich aus dem Verlangen nach Rationalität minimalisiert und seine mythischen Gehalte über Bord wirft. Interessant dabei ist die Konsequenz, die Hacks zieht: Die Religion von gestern ist die Kunst von heute. 120 Enthüllt sich beim Lüften der Fortschritts-Decke die Komödie „Adam und Eva" eher als Tragödie, so erweist sich demgegenüber das als Trauerspiel ausgewiesene Stück „Jona" als Farce. 121 Noch einmal wendet sich Hacks damit mittels eines Dramas einem biblischen Stoff zu: der Geschichte des Propheten Jona, den Gott 116 117 118 119 120 121

Ebenda. Hacks, P., „Über Adam und Eva", a.a.O., S. 104. Hacks, P., „Über Adam und Eva", a.a.O., S. 103. Ebenda. Vgl. Hacks, P., „Über Adam und Eva", a.a.O., S. 104. Hacks, P„ Jona", a.a.O., S. 1144-1207.

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Texte der Gegenwartsliteratur

nach Ninive sendet, um der Stadt das Strafgericht zu verkündigen, das dann allerdings ausbleibt, weil das Volk Ninives Buße tut, und Gott sich seiner erbarmt. Aber auch Jona hat einiges dabei zu lernen. Der Jonageschichte, die eine ganze Reihe theologischer Erkenntnisse transportiert, liegt ein Mythos zugrunde. 122 Betreffs „Adam und Eva" hatte Ch. Trilse noch hervorgehoben: „Das Große und Kunstevidente der Mythen und ihrer Figuren liegt ja gerade darin, daß der Einzelmensch auftritt und handelt, auch als solcher verstanden wird, gemeint aber letztendlich die Gattung ist, der .kleine Mann' wie die von ,oben\ Und das macht ihre Verbindlichkeit und Kunstfähigkeit aus, ihre Erkenntnisse so allgemein bedeutend." 1 2 3 Wenn der Zuschauer oder Leser nun aber erwartet, daß in „Jona" von Hacks Gegenwärtiges im Mythischen erscheint, so erweist sich das bei näherem Hinsehen durchaus als Irrtum. Das Stück handelt von assyrischen Thronränken und Regierungsintrigen. - „Es ist eine Mär von Herzen und von Thronen" 124 , sagt Semiramis - und die diese Verwicklungen untereinander aushandeln sind Semiramis, Königin von Assur, Asyrte, ihre Tochter, Eskar, Feldherr, und Belit, Schwester des Königs Menua von Ararat, eine Geisel. Hinzu kommt, von einem Wal an den Strand des Tigris gespuckt, Jona, gedacht als Prophet am Hofe Jerobeams. So wird das Stück von Hacks in das 9. vorchristliche Jahrhundert plaziert. Das Spiel um Macht und Liebe, Lüge und Verrat, politisches Kalkül und private Affären kommt nicht im Ton mythischer Archaismen daher, sondern im Ton eines Salonstückes des 19. Jahrhunderts. Es geht kaum um Inhalte - den politischen, vorzüglich außenpolitischen Schachzügen

122 123 124

Vgl. Steffen, U., „Jona und der Fisch", a.a.O.. Trilse, Ch., „Schriftsteller der Gegenwart - Peter Hacks", a.a.O., S. 232. Hacks, P., „Jona", a.a.O., S. 1169.

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kann der Leser nur schwer folgen - es geht vielmehr um Witz und Ironie, um das geschliffene Spiel leichtfüßigen Esprits und leichfertiger Apercus. „Asyrte: Der Vorwurf ist, Sie lieben eher matt. Eskar: Matt oder kühn, Genörgel lieb ich nicht. Asyrte: Es ist kein Nörgeln, Ihnen fehlt der Mut. Eskar: Das hört sich Assurs Feldherr staunend an. Asyrte: Sie setzen nichts aufs Spiel, mich zu gewinnen. Eskar: Ich wage, was Besonnenheit erlaubt. Asyrte: Was meine Mutter Königin erlaubt. Eskar: Semiramis, auch wenn sie plagt, ist Assur. Asyrte: Wer Assurs Heer befiehlt, kann Assur zwingen. Eskar: Der Untertan den Staat! Jetzt rasen Sie. Asyrte: Besser gerast als tatenlos geliebt. "I25 So beginnt das Stück, vorgeblich auf der Königsebene, in Wahrheit wird bürgerlich geplänkelt, Mord und Verrat sind Gelegenheiten für paradoxe Wortspiele. Semiramis hält alle Fäden in der Hand und läßt die Puppen tanzen. Dem entspricht genau die Gestalt des Jona. In leichtem Tonfall, ironisch gebrochen, stattet er, da ihn der Walfisch an Land setzt, seinen Dank ab: „Meinen schuldigsten Dank, Herr, für die Errettung aus so gewaltigem Dunkel. Ihre Güte ist sehr groß, denn Sie selbst haben mich hineingestoßen, und ich weiß, wieviel Überwindung es kostet, eine Maßnahme, die man einmal getroffen hat, zurückzunehmen. Herr, ich rühme, ich lobe; freilich, es wäre übertrieben gelobt, wollte ich andeuten, ich befände mich hernach viel besser... Aber wie Sie wollen, Sie sind der Gott. Ich werde diesen Ort Ninive besichtigen, seine Sitten einschätzen

125

Hacks, P., „Jona", a.a.O., S. 1144.

120

Texte der Gegenwartsliteratur

und, wenn nötig, seine Vertilgung

durch Schwefel

und Feuersturm

veranlassen;

bisher übrigens sieht alles sehr nett und reinlich aus. Ich muß abbrechen, ner nähern

Einwoh-

sich."126

E b e n s o locker, wie J o n a gleichsam per geistlichem Telefon mit Gott verkehrt, stellt er sich a m H o f e vor: „Jona: Mein Name ist Jona, ich komme aus

Jerusalem.

Eskar: Da Sie in Ninive fremd sind, kann ich Ihnen mit Auskünften Jona: Wie sind die Leute Eskar: Gewöhnliche

hier?

Leute, Betrüger, Mörder,

Jona: Wie in Jerusalem

dienen?

Spitzel.

auch. Und die Staatsverwaltung

?

Eskar: Bricht ihr Wort, führt Krieg, ohne ihn zu erklären, erklärt Krieg, ohne ihn zu

fuhren...

Jona: Auch nichts außergewöhnliches

also. Was sollte ich von der Königin

wis-

Herr Jona, die Königin wünscht,

etwas

sen? Eskar: Sie hat ihren Gatten ermordet... über ihre Beschäftigung Jona: Ich bin Prophet,

und über ihre Absichten

zu

erfahren.

ich arbeite am Hof des Königs Jerobeam,

Gott hat mich ge197

sandt, um Erkundigungen

einzuziehen

und Beobachtungen

anzustellen.

U n d d a sich dieser J o n a als wohlerzogen und gesittet vorführt, d a er nicht anfallsweise in die L u f t springt, schäumt oder schmutzige Fingernägel hat, ernennt ihn die Königin z u m Hofrat. D a s wäre erheiternd, wenn man den Abstand vergessen könnte, d e r diesen Jona v o m biblischen J o n a trennt, der zwischen diesem Propheten u n d d e m von F ü h m a n n geschilderten Propheten M i c h a liegt. Z u m Schluß tut die Königin, die .gnädige F r a u ' tituliert wird, Buße, was ihr um so leichter fällt, 126 127

Hacks, P„ „Jona", a.a.O., S. 1148. Hacks, P„ „Jona", a.a.O., S. 1149.

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als sie die neuesten politischen Meldungen schon kennt, im Gegensatz zu Jona. Auch die endgültige Verfluchung unterbleibt, weil es Jona nun stört, daß alle Ninives Untergang wünschen, vor allem die Herrschenden, er will sich nicht zum Hampelmann machen lassen, und so geht Jona ab mit den Worten: „ Es widerstrebt einfach dem Stilgefühl, es verstößt gegen den guten Ton. Ein Weltuntergang, was immer für ihn spricht, er bleibt ein geschmackloses Ereignis. "128 Semiramis dankt scheinbar ab, und der Tölpel Gotthelf kommt auf den Thron. Den Zuschauern ruft die Darstellerin der Asyrte noch hinterher: „Ein Trost auf den Heimweg: Ninive ging tatsächlich unter, aber erst zweihundert Jahre später, und nicht durch Gott, sondern durch Babel, das übrigens auch unterging, und sollte Sie eine gewisse Bangigkeit ergriffen haben, das Theater zu verlassen und in Ihre Stadt hineinzutreten: drei gegen eins, sie steht noch. Guten Abend, und empfehlen Sie uns ihren Nachbarn."129 In der Fortschreibung von „Adam und Eva" war der Zuschauer eingetragen, seine Geschichten begann mit ihrer. Adam und Evas Geschichte weitergedacht stellt uns Heutige vor folgenschwere Konsequenzen, die aus der zwiegesichtigen Bestimmung des Menschen entspringen, so wie sie uns Hacks vorführt. Mit den Figuren aus „Jona" hat der Zuschauer wenig gemein. Sie taugen weder zur Identifikation noch zur Konfrontation. Ihre Linie ausziehen, hieße: Eskar und Asyrte werden sich weiter lieben und hassen, Semiramis wird die Macht behalten und gelegentlich Buße tun oder es lassen, Jona wird an den Hof Jerobeams zurückkehren und geistvolle Erwägungen über dessen Parallelen zum assyrischen Hof anstellen. Der Zuschauer ist bestenfalls erheitert. Ein schwergewichtiger biblischer Stoff wurde auf elegante Weise und über den Umweg durch einen bürgerlichen Salon verspielt. 128 129

Hacks, P., „Jona", a.a.O., S. 1206. Hacks, P„ „Jona", a.a.O., S. 1207.

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Texte der Gegenwartsliteratur

Kam „Adam und Eva" noch mit einem erläuternden Essay aus, so folgen , Jona" deren drei. Das erste handelt von der Geistlosigkeit der Außenpolitik, das zweite von Gespenstern (in Wahrheit eine Attacke gegen Lessing) und das dritte von Walfischen. Weder der Walfisch aber noch das Gespenst des ermordeten Königs spielen im Stück eine Rolle, so daß die Ausfälle gegen die Außenpolitik allein gewichtig bleiben. Der Kommentar von M.W. Schulz in „Sinn und Form" dazu benennt denn auch als kritische Idee, die unausgesprochen den „Jona" durchzieht, die Schmähung der Außenpolitik und setzt Gorbatschows Abrüstungsprogramm gegen die Schwierigkeiten, die der Dichter mit dem neueren Gang der Geschichte habe. 130

4.3. Stefan Hermlin - „Corneliusbrücke" und „Abendlicht" Stefan Heimlins Werk ist neben dem Hacks' ein anderes wesentliches Beispiel für die Ästhetisierung mythischer oder allgemein religiöser Texte. Das hat damit zu tun, daß es Hermlin um die tief zurückreichenden Wurzeln zu tun ist. „In der Tat ist ein kommunistischer Schriftsteller ein Sohn aller nach vorn und nach rückwärts gewandten Utopien, ein Sohn von Ketzern und heiliggesprochenen Märtyrern. Die vor ihm haben die zehn Gebote geschrieben und die Bergpredigt, er stammt von Spartakus ab, aber auch von Franz von Assisi." 131 Der Bezug auf das religiöse Erbe und die unabgegoltenen Utopien der Menschheit ist für Hermlin wichtig, denn in ihnen spiegeln sich die Träume, die die „schutzlose Menschheit seit Jahrtausenden träumt" 132 wider. So sind es denn zwei schutzlose Menschen, die die 130 131 132

Schulz, M.W., „Redaktionelle Bemerkungen" a.a.O., S. 1228. Hermlin, St., „Äußerungen...", a.a.O., S. 386. Hermlin, St., „Äußerungen...", a.a.O., S. 388.

Stefan Hermlin

123

Hoffnung für viele verkörpern, denen die 1968 geschriebene Erzählung „Corneliusbrücke" gewidmet ist: Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. 133 S. Schönstedt zufolge ist es der „Ton leisen Schmerzes und die Ruhe, mit der er ausgehalten wird", die „in ,Comeliusbrücke' der Vergegenwärtigung der Mordtat an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht und der ungeheuerlichen Farce, wie mit den Mördern umgegangen wurde, die bedrängende Wucht" 134 verleiht. In der Erzählung schildert Hermlin diesen Fall, der 1919 in der Nähe seines Elternhauses geschehen ist. Im Nachhinein belastet ihn, daß in unmittelbarer Nachbarschaft des noch nicht vieijährigen Kindes unmerklich etwas geschehen ist, das bis in die Gegenwart wirkt. Hermlins Haltung, die sich in dieser Erzählung als Parteinahme für ausgelöschtes Leben bekundet, „hob sich ab", schreibt S. Sellenstedt," von einer die Widersprüche verflachenden Geschichtsauffassung und von einem sozialistischen Menschenbild, aus dem Schmerz und Trauer um Verluste verdrängt werden sollte." 135 Die in einem,hohen Ton' geschriebene Erzählung wird an mehreren Stellen durch Sätze aus der Passionsgeschichte Jesu (Markus, Johannes) unterbrochen, die durch kursive Schrift hervorgehoben sind und hier eine deutende Funktion haben. Die Geschichte vom Leiden und Sterben der beiden Kommunisten wird so im Sinne der figuralen Methode 136 auf die Leidens- und Sterbensgeschichte Christi zurückbezogen. Das heißt: durch die Geschichte vom Ende dieser beiden Menschen schimmert erinnernd das Schicksal Jesu hindurch, das damit dem Mord an Liebknecht und Luxemburg Tiefe und Perspektive verleiht. So, wie die Erinnerung an Jesus nicht vergangen ist, werden auch Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht er133 134 135 136

Hermlin, St., „Corneliusbrücke", a.a.O.. Schlenstedt, S., „Schriftsteller der Gegenwart - Stefan Hermlin", a.a.O., S. 216. Schlenstedt, S., „Schriftsteller der Gegenwart - Stefan Hermlin", a.a.O., S. 217. Vgl. Auerbach, E., „Mimesis".

124

Texte der Gegenwartsliteratur

innert werden, denen auf diese Weise eine große Würde verliehen wird, die ihnen durch den hinterhältigen Mord im Jahre 1919 gerade abgesprochen werden sollte. „Der Hauptmann Pabst sagte später vor Gericht: ,Ich fragte: Sind Sie Frau Luxemburg? Darauf sagte sie: Entscheiden Sie bitte selber. Da sagte ich: Nach dem Bilde müßten Sie es sein. Darauf entgegnet sie: Wenn Sie es sagen.' Er antwortete ihm und sprach: Du

sagst'5."137

Und wenig später heißt es: „Als der Wagen anfährt, springt jemand auf, schießt die Bewußtlose in die Schläfe, springt wieder ab, geht ins Hotel zurück. Einen Schuh der Frau findet der Soldat Becker auf dem Trottoir und behält ihn als Trophäe. Auf daß erfüllet würde die

Schrift,"138

In der Leidensgeschichte Jesu sieht Hermlin offenbar Züge präfiguriert, die in einer anderen Leidensgeschichte, mehr als 1900 Jahre später, an einem anderen Ort und geschehen an Kommunisten, wieder auffindbar sind und quer durch Zeiten, Räume und Weltanschauungen eine Gemeinschaft herstellen. S. Sellenstedt benennt als Hintergrund „das Bedürfnis, für die Toten ein Monument zu errichten, das ihre Liebe, ihr Äußerungsverlangen, ihre innere Schönheit, ihre Passion im umfassendsten Sinne groß herausstellt."139 Und dabei seien es die Bibelzitate, wie sie bemerkt, die die Überhöhung des Vorganges bewirkten. 140 Seine sehr stilisierte Autobiographie - in der das Ich nicht der Autor ist, sondern von ihm geschaffen wird 141 - und die bei ihrem Erscheinen ein anhaltendes starkes Interesse bei Lesern und Literaturwissenschaftlern auslöste, erinnert an verschiedenen Stellen die Emmausgeschichte. Überhaupt ist es bei Hermlin auffällig,

137 138 139 140 141

Hermlin, St., „Corneliusbrücke", a.a.O., S. 259. Hermlin, St., „Corneliusbrücke", a.a.O., S. 261. Schlenstedt, S., „Schriftsteller der Gegenwart - Stefan Hermlin", a.a.O., S. 217. Vgl. ebenda. Vgl. Schlenstedt, S., „Schriftsteller der Gegenwart - Stefan Hermlin", a.a.O., S. 231.

Stefan Hermlin

125

daß er immer wieder auf Texte des Neuen Testamentes Bezug nimmt, während ihm - im Gegensatz zu den meisten anderen Schriftstellern der DDR - das Alte Testament ferner zu stehen scheint. Der erste der kurzen Prosatexte, der die Funktion einer Einstimmung, aber auch eines Mottos hat und der in einer ungemein verdichteten Sprache geschrieben ist - ein vollkommenes Stück Prosa deutscher Sprache - endet mit den Sätzen: „Die Streicher beschreiben mit g-d-b-fis ein Kreuz. Bleibe bei uns." 142 Diesem ersten Prosastück liegt offensichtlich eine Bachsche Passionskantate, die 6. (.Bleibe bei uns, denn es will Abend werden') zugrunde. Die Geschichte der heimkehrenden Emmausjünger, die Karfreitag und Ostem, Tod und Auferstehung enthält, klingt hier leitmotivisch an. Im vierten Prosatext wird eben diese Geschichte wieder aufgenommen, dort erzählt der Dichter von seiner Kindheit, wie es überhaupt um den „Mythos der Kindheit" 143 geht, um ein „leidenschaftlich-sachliches Verlangen, sich mit dem Vergehen einzulassen, einem Sich-Verflüchtigen des Vergangenen nachzusinnen und zu begegnen." 144 „Der Besuch der Sonntagsschule machte mir das größte Vergnügen. Man lehrte uns die schönen Choräle von Paul Gerhardt, man las uns Erzählungen aus dem Neuen Testament vor, die wir nacherzählen mußten. Wer gut lernte, erhielt kleine Bildchen, auf denen Episoden aus der Heiligen Schrift dargestellt waren. Plötzlich schienen mir die bunten, grellen Bilder das schönste zu sein, was ich je gesehen hatte;... Am Sonntagnachmittag saß ich in meinem kleinen Zimmer unter dem Dach und betrachtete die Bildchen, die mich so sehr entzückten, ich sah die Stadt Emmaus in der Ferne, und im Vordergrund den Kleophas, wie er Christus

142 143 144

Hermlin, St., „Abendlicht", a.a.O., S. 7. Schlenstedt, S., „Schriftsteller der Gegenwart - Stefan Hermlin", a.a.O., S. 214. Schlenstedt, S., „Schriftsteller der Gegenwart - Stefan Hermlin", a.a.O., S. 212.

126

Texte der Gegenwartsliteratur

begegnet. Darunter stand: Bleibe bei uns, denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneiget." 145 Was hier studiert werden kann, ist die Verarbeitung einer biblischen Geschichte zu einer Kunstform. Was aber in dieser Weise im Kunstwerk aufgehoben ist, ist die alle Wirklichkeitserfahrung aufsprengende Botschaft von der Auferstehung, die ja der Inhalt der Emmausgeschichte ist. Geschrieben wurde dieses Buch von einem Dichter, der selbst am Ende seines Lebens steht, ,im Abendlicht', für den die Auseinandersetzung mit dem Tod darum eine neue Dringlichkeit erhält. Die dabei von ihm verwendeten biblischen Bezüge sind allerdings in literaturwissenschaftlichen Untersuchungen bislang kaum zur Kennmis genommen worden. Der Tod erscheint in „Abendlicht" als durch Kunst überwindbar, allerdings durch eine Kunst, die die Überwindung des Todes in der christlichen Auferstehungsbotschaft bewahrt, so wie das in der Emmausgeschichte dargestellt wird. Die Brechung der Auferstehungsbotschaft in einer ästhetischen Form hinterläßt einen eher schwebenden, einen hoch-poetischen Eindruck, der nicht faßbar und festlegbar ist, sondern mit Hilfe von Metaphern und Symbolen andeutet. Die Aufhebung biblischer Mythen ist auch hier eine doppelte: als Bewahren im Aufgeben. Ähnlich formuliert es S. Schlenstedt im Anschluß an H.-G.- Werner: „Die Texte von ,Abendlicht' führen das Ich ... zum durch die Kunst vermitteltem Erlebnis, daß die Sehnsucht nach einem Höchsten, Letzten, Entgrenzenden den Menschen erfüllen und bewahren kann!" 146 In dieser Weise wird des für den Autor wichtigen jüngeren Bruders gedacht, der im 2. Weltkrieg englischer Jagdflieger war und 1943 gefallen ist, „... er wird mich in ein anderes Land holen ohne Haß und Furcht,

145 146

Hermlin, St., „Abendlicht", a.a.O., S. 17f. Schlenstedt, S., „Schriftsteller der Gegenwart - Stefan Hermlin", a.a.O., S. 229f.

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in ein Land, das es nicht gibt, ein Land in der Nähe der Sonne, mein hochgemuter, mein einziger Freund." 147 Das letzte Textstück führt diesen Faden weiter. Hermlin beschreibt hier in einem Traum den vorweggenommenen Tod als Eingehen in ein utopisches Land, in ein Land der Stille. Das Eingehen in die Stille wird als Wanderung dargestellt, die durch berühmte Gemälde vermittelt wird. „Es ist ein Einverständnis hergestellt mit diesem Prozeß", der das Sterben ist, schreibt S. Schlenstedt, „das das Einverständnis mit der Endlichkeit des eigenen individuellen Lebens, mit dem Tod, einschließt: ,Des Baches Wiegenlied', das dieser Textpassage unterlegt ist und darin zitiert wird, ist ein Lied von Tode." 1 4 8 Das Einverständnis aber wird hergestellt durch die Evokation eines größeren Horizontes, der nicht als Ende, sondern als Stille beschrieben wird, der etwas Heiteres und Ewiges anhaftet. „Ich spüre den lauen Wind, ich höre ein Flüstern, eine Stimme wiederholte: Immer, immer, immer ..., vielleicht war es meine eigene, die Stille trat in mich ein, ich war ein Teil von ihr geworden." 149 Diesen abschließenden Sätzen korrespondiert der Satz von Robert Walser, den Hermlin dem Buch vorangesetzt hat: „Man sah es den Wegen am Abendlicht an, daß es Heimwege waren." 1 5 0

147 148 149 150

Hermlin, St., „Abendlicht", a.a.O., S. 78. Schlenstedt, S„ „Schriftsteller der Gegenwart - Stefan Hermlin", a.a.O., S. 242. Hermlin, St., „Abendlicht", a.a.O., S. 140. Hermlin, St., „Abendlicht", a.a.O., Vorsatzblatt.

5. Zentrale biblische Mythenmotive in der Literatur 5.1. Das Paradiesmotiv Zu den Mythenmotiven, die am häufigsten in der gegenwärtigen DDR-Literatur gebraucht werden, gehört das Paradiesmotiv. In vielen erzählenden Texten scheint es auf, wird es evoziert, verarbeitet. Die Palette der Auseinandersetzung reicht von Verweisen am Rande bis dahin, daß dieser Mythos im literarischen Zentrum steht -

„ A d a m und

Eva" von Hacks ist dafür ein bekanntes Beispiel. Das fortwährende

Gespräch mit diesem Motivkreis ist bis in die Titel hinein wahrnehmbar:,.Einzug ins Paradies" heißt ein Roman von Hans Weber 1 und, Auszug aus dem Paradies" ein anderer von Christa Müller. 2 Als weiteres typisches Beispiel der Verwendung des Paradiesbildes sei hier„Der Soldat und die Frau" von Max Walter Schulz 3 angeführt, eine Novelle, die der Autor im Untertitel als „Legende" bezeichnet. H. Kaufmann bemerkt dazu: „Das Wort Legende steht da mit Bedacht, denn nichts Geringeres als das Wunder des Todes und der Wiederauferstehung des Kriegsgefangenen Röder wird erzählt." 4 Röder hatte eine Waffe versteckt; das wird mit dem Tode bestraft, aber da die Frauen dieses sowjetischen Dorfes eine Arbeitskraft brauchen, wird dem Gesetz mit einer Scheinerschießung Genüge getan, und Röder

1 2 3 4

Weber, H., „Einzug ins Paradies", a.a.O.. Müller, Ch., „Vertreibung aus dem Paradies", a.a.O.. Schulz, M.W., „Der Soldat und die Frau", a.a.O.. Kaufmann, H., „Über DDR-Literatur", a.a.O., S. 158.

Das Paradiesmotiv

129

erhält ein neues Leben. Und genau an dieser Grenze zwischen Tod und Leben, die er in einem Keller, einer Grube verbringt, in dieser Situation also, in der er hart am Tod vorbeigekommen ist findet er ein paar alte Kartoffeln, die ihn an das Paradies erinnern, an die Früchte der Erkenntnis, des Lebens, hier Zeichen einer Buße und einer neuen Lebenschance. Bei der hier angeführten Verwendung des Paradiesmotivs fällt auf - und eben das ist typisch, daß Punkte existentieller Gefährdung erzählt werde, in denen es nicht nur um Tod und Leben, sondern eben auch um eine Erkenntnis geht, die das Leben radikal ändert. So spielt die Schlange der Erkenntnis in M.W. Schulz Novelle eine wiederkehrende Rolle. Neben der Erkenntnisfunktion hat die Verarbeitung des Paradiesmotives noch eine andere oft vorkommende Bedeutung, die der Vertreibung aus der Kindheit als Heimat, wie es etwa bei Christa Müller erzählt wird. Hinter dieser Verwendung steht die dialektische Einsicht Blochs, der nach vielen hundert Seiten sein großes Werk über die Hoffnung mit dem Satz zuende bringt: „Hat sich der Mensch erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat." 5 Es ist nun aber keineswegs überraschend, daß es gerade das Paradiesmotiv ist, das in der DDR-Literatur eine große Rolle spielt, wenn man sich vor Augen führt, daß dies einem breiten Traditionsstrom europäischer Literaturgeschichte ebenso wie den Tendenzen gegenwärtiger Weltliteratur entspricht.

5

Bloch, E., „Das Prinzip Hoffnung", a.a.O., S. 489.

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Zentrale biblische Mvthenmotive in der Literatur

5.1.1. Jurij Brezan „Krabat oder die Verwandlung der Welt" In Jurij Brezans Roman „Krabat oder die Verwandlung der Welt" 6 bilden die großen alten Bilder vom Anfang der Menschheit eine zentrale Rolle. Schon der Titel spielt in seiner Entgegensetzung auf die Erschaffung der Welt an. Vermischt mit vielfältigen biblischen und antiken Motiven ist es vor allem das fast zum Gemälde erstarrte Bild von Adam und Eva mit der Schlange (hier: der Neugier) unter dem Baum der Erkenntnis, das die Romanfabel begleitet, deutet und vertieft. Auf der Suche nach dem Glücksland, das er sich und dem Mädchen Smjala versprochen hat, wandert der sorbische Held Krabat durch die Räume und Zeiten, begleitet von seinem Freund Jakub Kuschk mit der Trompete. Bei diesem „Spiel mit Räumen und Zeiten" 7 gilt der Grundsatz: „Was erinnert, geht auch voraus." 8 Die kunstvoll ineinander übergehenden Identitäten, Zeit- und Raumebenen zeitigen ein äußerst kompliziertes und schwer zu lesendes Textgewebe. Komplexheit, Kompliziertheit und das hohe Ziel, eine Deutung der Weltgeschichte vorzulegen, bedingen einander. Viele Helden führt das Buch vor, meist Glieder der Familie Serbin, durch zahlreiche Generationen hindurch bis zum letzten Serbin, einem Biogenetiker und Nobelpreisträger - aber zugleich sind sie immer wieder auch Krabat bzw. Krabat ist sie. Sorbische und christliche Mythen werden als Wirklichkeit erfahren, Grenzen jeder Art sind aufgehoben. Aus Geschichten entsteht Geschichte, die Menschliches wie Menschheitliches in vielfältigen Bezügen darstellt. Diese Bezüge aber sind mythischer Art; der für die Fabel weitaus wichtigste Bezugspunkt ist der Paradiesmythos.

6 7 8

Brezan, J., „Krabat...", a.a.O.. Brezan, J„ „Krabat...", a.a.O., S. 49. Brezan, J., „Krabat...", a.a.O., S. 48.

Das Paradiesmotiv

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Krabat wird wie die Welt und alle Geschöpfe von Gott geschaffen, aber bei der Verteilung der Dinge und Güter meldet er seinen Anspruch immer zu spät an, so daß Wolf Reißenberg, der Herr, das meiste bekommt und auch die Macht. Krabat und Reißenberg sind einander entgegengesetzt, und die Frage, die die Weltgeschichte antreibt, lautet: Wer wird wen überwinden? Bei dieser Frage ist der Autor klar auf der Seite Krabats - trotzdem wird die Macht grundsätzlich problematisiert - von ihr wird gesagt: „Sie ist schrecklicher als die Hölle und dunkler als der Tod." 9 und habe ein „versteinerndes Gesicht." 10 D.h. dem deformierenden Einfluß der Macht entkommt keiner der beiden, auch wenn der Auftrag ebenso bestehen bleibt, „daß einer den anderen an den Baum der Geschichte knüpft" 11 , ein Auftrag, den der HERR bei der Schöpfung selbst erteilt hat. 12 Als Krabat die Früchte des Sieges über Reißenberg vom Baum pflücken will, mischt sich Jakub Kuschk mit unüberhörbarer Warnung ein: „Nicht so hastig!" sagte der Trompeter. „Da hat schon einmal einer schneller zugebissen, als er nachgedacht hat. Damals übrigens hing da eine Schlange im Baum, die versprach: Pflücke die Frucht, und du wirst Gott sein. Heute sitze ich hier und warne: Wenn du sie pflückst, mußt du erwerben, was du schon hast. Gemeint ist freilich das gleiche, der ganze Unterschied besteht darin, daß sie versprach und ich warne. Die Schlange allerdings gibt's hier auch'" 13 Und von irgendwo dahinten hört man „das Gelächter von Scylla und Charybdis: zu Kreuze kriechen oder am Kreuze hängen." 14 Wovor warnt der Trompeter? Ist nicht die Verheißung der Schlange bestehen geblieben: Ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut ist und böse (1. Mose 3,5b)? 9 10 11 12 13 14

Brezan, J., „Krabat...", Brezan, J., „Krabat...", Brezan, J., „Krabat...", Vgl. ebenda. Brezan, J„ „Krabat...", Brezan, J., „Krabat...",

a.a.O., S. 59. a.a.O., S. 148. a.a.O., S. 50. a.a.O., S. 174. a.a.O., S. 177.

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Die Schlange hat nicht gelogen, aber das Versprechen hat unversehens eine andere Farbe bekommen, von der lichten Farbe verheißener Größe und versprochener Fortschritte changiert sie in die düstere Färbung der Warnung: vor der Hybris der Menschen und den Folgen des Fortschritts. Und eben davon handelt das Buch, das diese Warnung an der Gestalt des Biogenetikers Jan Serbin exemplifiziert. Auf dem weiten Weg hin zu Jan Serbin begleitet Krabat ein Ebenholzstock mit schön geschnitztem Elfenbeinknauf, den er vom Schöpfer persönlich bekam. Eingeschnitzt darin sind Adam und Eva, die Schlange der Neugier und der Baum der Erkenntnis. Dieses zum Zauberstock gewordene Bild begleitet Krabat vergleichend, mahnend, warnend, fordernd auf seiner Suche nach dem Glücksland, daß das Land Ohnefurcht, Ohnehunger, Ohnekrieg ist. Und Gott schafft ihm das Mädchen Smjala, das ihn fragt: „'Ist es weit dahin?' ... ,Wenn es das Wort gibt, gibt es auch das Land' sagte er" 15 Auf der Suche nach dem Glücksland, das wiederum ein Aspekt des Paradieses ist, verliert Krabat aber Smjala, die irgendwann nicht mehr Reißenbergs Brandmal auf der Schulter trägt, sondern das Brandmal der Fortschrittsformel Jan Serbins (Krabats).16 Noch ein zweiter Grund wird dafür angegeben, daß Krabat Smjala verliert: „Sie ist wie tausend andere. Und es ist nichts besonderes an ihr, weder daß sie einen dichten, kastanienfarbenen Zopf über die rechte Schulter nach vom trägt, noch daß sie törichte Kinderaugen hat, nichts besonderes, als daß sie die Erste war, und ich sie ändern will: nach meinem Bild." 17 iR So entzieht sie sich mit wachsender Angst vor den Erfindungen des Mannes. „Smjala war das Geschöpf der ersten Sehnsucht Krabats; das Leben erst einen Sonnenuntergang alt und das Paradies noch in Sichtweite. Dann versank das Para15 16 17 18

Brezan, J., „Krabat...", a.a.O., S. 15. Vgl. Brezan, J„ „Krabat...", a.a.O.. S. 157. Brezan, J., „Krabat...", a.a.O., S. 84. Vgl. Brezan, J., „Krabat...", a.a.O., S. 37.

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dies im Niegewesenen, und Krabat verlor Smjala in einem Herbst. Manche sagen: lange vor Erfindung des Rades, andere meinen, es sei in der Zeit der Sintfut gewesen." 19 Hier wird der patriarchalische Anstrich der biblischen Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies mit seiner Kritik an der Verführbarkeit Evas umgedreht zu einer Kritik am patriarchalischen Manne, dem die Welt zum Opfer fällt. Sein Exponent ist Jan Serbin, dessen Forschung „die Menschheit dem Punkt näher bringt, von wo aus sie senkrecht in die Hölle fahren könne." 20 Denn, so sagt Serbin: „Mit meiner Formel vermögen wir uns selbst gegenstandslos zu machen, nie gewesen, nie seiend. Unblutig, lautlos, schmerzlos, ohne Bedauern. Und niemand kann es verhindern." 21 Serbins Formel kennzeichnet neue Entwicklungen in der Biogenetik, vor denen J. Brezan auch anderweitig eindringlich gewarnt hat 22 und von denen im Roman gesagt wird, es sei mit ihnen möglich, „Wesenseigenschaften gezielt zu verändern, ohne das Gehirn selbst zu schädigen"23 „Ich habe die Macht, ich repariere das Gehirn des Chefs, er bemerkt es nicht einmal, aber morgen wird er anfangen, ein vernünftiger Mensch zu sein, und übermorgen ist ein Stück Welt in Ordnung gebracht. Denn dein ist die Macht und die Herrlichkeit, sagt Bukaj, und es ist in der Tat herrlich, ich habe das große DDT gefunden und streue es aus über alles Böse und tilge es." 24 In diesen Sätzen zittert das Entsetzen des Autors über gewisse Möglichkeiten des Fortschritts, die ein radikale Verwandlung der Schöpfung bedeuten, in Wahrheit aber einer Selbstvernichtung gleichkommen. Jedenfalls solange man mit einer 19 20 21 22 23 24

Brezan, J., „Krabat...", a.a.O., S. 28. Brezan, J„ „Krabat...", a.a.O., S. 82. Brezan, J., „Krabat...", a.a.O., S. 98f. Vgl. Diskussion in „Sinn und Form" 6/1984 und 1 -6/1985. Brezan, J., „Krabat...", a.a.O., S. 202. Brezan, J., „Krabat...", a.a.O., S. 287.

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Technik auch das Gegenteil der angestrebten Verbesserung erreichen kann, „solange unsere Welt nicht eine integre ist, wo keine Menschengruppe mehr einer anderen Menschengruppe Schaden zufügen will." 25 Und so weitet sich der Roman zu einer grundsätzlichen Kritik am Fortschrittsglauben, der an der Bestimmung des Menschen, wie sie in den alten Geschichten erzählt wird, vorbeigeht. Zum Vater des Jan Serbin sagt einer: „Die Leute erzählen", sagte Nikolaus Holka, „dein Sohn hat etwas erfunden. Man kann damit die Menschen gut machen." ... „Man kann das Sterben nicht abschaffen", sagte Nikolaus Holka. „Daß sich die Leute totschlagen, muß man abschaffen. Sag das deinem Jungen." 26 Und ein alter Maurer empfindet, wie die Selbstbestimmung über sein Leben weggeronnen ist in einem Computer, und er selbst nun nichts als eine zwölfstellige Zahl geworden ist. 27 Die Gefahr sieht J. Brezan darin, daß Menschen einem vordergründig verstandenen Fortschritt geopfert werden, der ihnen in Wahrheit nicht dient, sondern sie in seinen Dienst nimmt, und daß in dieser perversen Verkehrung die Erde zerstört wird. Gegen diese Möglichkeit ruft Brezan die ältesten und stärksten Bilder, die der Bibel, zu Zeugen und Gefährten auf, denn um nichts weniger als die Zukunft der Menschheit geht es ihm, und eben die steht auf dem Spiel. „'Welche höheren Werte", fragt Jakub Kuschk, ,aber sind höher als ein Menschenleben? Du, Jan Serbin glaubst, daß der Mensch durch die Entwicklung seiner Verstandeskräfte auf die höchste Stufe seiner Menschlichkeit gelangen kann. Hat er sich aber nicht gerade 98 auf diesem Wege zum größten Töter seiner selbst entwickelt?"

Andererseits

verheißt ihm der Biogenetiker Coming, der nur eine Wechselfigur Reißenbergs ist, er, Serbin, würde vermöge seiner Formel der Gott dieser neuen Welt werden. „Ich 25 26 27 28

Brezan, J., „Krabat...", a.a.O., S. 386. Brezan, J., „Krabat...", a.a.O., S. 247. Vgl. Brezan, J., „Krabat...", a.a.O., S. 250. Brezan, J., „Krabat...", a.a.O., S. 341.

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stehe auf dem Gipfel über allen Gipfeln, und ER steht neben mir und zeigt mir die Welt: Dein ist das Reich und die Herrlichkeit. In Ewigkeit Reißenberg, und verdorrt der Baum, an dem er hängen sollte." 29 Nicht zufällig erscheint an dieser Stelle, an der es um die ungeheuerlichste Versuchung für den Menschen geht, mit Hilfe von Wissenschaft und Technik den Lebensraum des Menschen einschließlich seiner selbst zu ändern, die biblische Versuchungsgeschichte. Und ebenso wie Jesus die Versuchung zurückweist, verwirft Jan Serbin nach einem langen Erkenntnisprozeß seine Formel. „Ich begegne dem alten Nikolaus Holka, ich weiß nicht, daß er tot ist. Er sagt: ,Und daß die Menschen einander nicht mehr erschlagen.' Er sieht, daß ich mein Gewissen in der Hand habe und einen Schlüssel. Der Schlüssel schließt den Tresor auf, in dem meine Formel liegt. Ich zerbreche den Schlüssel und gebe eine Hälfte dem toten Nikolaus Holka. Ich begegne dem Kind des Konsum-Fräuleins, ich weiß nicht, daß es noch nicht geboren ist. Es sagt: ,Daß das Geheimnis des Lebens ein Geheimnis bleibt...'... Ich reiche dem ungeborenen Kind die andere Hälfte des zerbrochenen Schlüssels. Es bleibt das Gewissen in meiner Hand. Es ist nicht teilbar." Wie endet das Buch? Jan Serbin vernichtet die Formel. Reißenberg hängt nicht am Baum, denn vielleicht hat Krabat mit ihm doch einiges gemein. Krabat findet Smjala nicht, die andererseits in vielerlei Gestalt bei ihm ist. Das Glücksland ist nicht wiederauffindbar. Das Paradies zu schaffen, gelingt Krabat nicht, denn wenn er die Sonne macht, entstehen zugleich „auch die Finsternisse. Dazu Hurrikane, Taifune, Sandwüsten und die Sintflut." 31 Wenn er sich erschafft, entsteht zugleich mit ihm Reißenberg. 32 ,,Noch einmal sagte Eva: ,Du hast die Wahl: das Paradies zu haben 29 30 31 32

Brezan, J., „Krabat...", a.a.O., S. 247. Brezan, J., „Krabat...", a.a.O., S. 408. Brezan, J., „Krabat...", a.a.O., S. 381. Vgl. ebenda und f.

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oder Mensch zu sein. " i 3 3 Und Krabat entschließt sich, Mensch zu sein, mit den nicht aufhebbaren Antinomien in ihm selbst, mit der immerwährenden Suche nach höherer Form seiner Menschlichkeit, für die Gott nach Brezan ein Bild ist. „Gott ist die höchste Menschlichkeit. Wie sonst sollte verstanden werden:... und erschuf den Menschen nach seinem Bild." 34 Gott dienen bedeute, dem Leben zu dienen. 35 Am Schluß bleiben ein Bach, ein Hügel, eine Mühle, ein Haus und zwei alte Leute, die nach einem erfüllten Leben sterben - bleibt aber auch die Sorge um eine Zukunft, deren mögliche Pervertierung diese Geschichte hervortrieb. 5.1.2. Völker Ebersbach „Adam im Paradies" 1988 veröffentlichte der Verlag Neues Leben einen Band mit Erzählungen von Volker Ebersbach, deren eine dem Buch seinen Titel gab: „Adam im Paradies". 36 Der Umschlag zeigt ein Detail aus dem Gemälde „Geburt der Venus" von Botticelli und weist damit direkt auf die Figur der Lilith hin, die Ebersbach aus der Kabbala entnimmt. „Als der Herr Adam erschaffen hatte, sprach er: Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei. Und er schuf ein Weib aus der Erde, aus der auch Adam gebildet war, und hieß ihren Namen Lilith .. ," 37 So beginnt die Geschichte, in der der Verfasser jüdische (biblische und außerbiblische) Mythenmotive zu einem phantastischen Gebilde verwebt, in dem sich „Realität und Wahn mischen". 38 So beschreibt es Ebersbachs Lektor in der Einführung auf dem Umschlag, um dann fortzufahren: „Menschheitsgeschichte als Kulturgeschichte,

Bewußtseinsge-

schichte, Geschichte des menschlichen Gewissens: In dem teils mit bohrendem 33 34 35 36 37 38

Brezan, J., „Krabat...", a.a.O., S. 382. Brezan, J., „Krabat...". a.a.O., S. 321. Vgl. ebenda. Ebersbach, V., „Adam im Paradies", a.a.O.. Ebersbach, V., „Adam im Paradies", a.a.O., S. 152. Ebersbach, V., „Adam im Paradies", a.a.O., Umschlagtext.

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Ernst, teils mit listiger Ironie ... erzählten Begebenheiten aus zwei Jahrtausenden erkundet der Autor für heute und morgen die Dimension der Humanität." 39 Dimensionen der Humanität - immer erklingt dieser Aspekt leitmotivisch, wenn Mythen in das Gespräch gezogen werden. Anscheinend ist er der einzige Überlebende einer Schiffskatastrophe, „Adam von Keßler, keine dreißig Jahre alt, Weltreisender zur Zeit," 40 dem nordamerikanischen Kontinent entflohen, seinen Bewohnern, „die sich einer langweiligen, alles gleichmachenden Technik hündisch unterwerfen und nichts außer ihren technischen Triumphen groß fanden, unter denen Herkunft nichts, Geld alles bedeutete." 41 Und nun hat dieser Adam in sein tropisches Paradies zurückgefunden, der Garten Eden gehört ihm, er fühlt sich wie neu erschaffen. 42 Vor allem fühlt er sich befreit von seiner Verlobten Eva Maria Bitterlich, die den Verarmten mit Hilfe des Geldes ihres Vaters, eines Fabrikanten, .gekauft' hat, vor der ihm graut. Dafür taucht aber aus dem Meer wie die Venus von Botticelli Lilli auf, eine andere Gerettete, Gattin des hochberühmten Goetheforschers, in dem Gott persönlich sich zu verbergen scheint. Und nun ist das Paradies für Adam vollkommen. Spätestens an dieser Stelle scheint eine ganz andere Möglichkeit auf, mit dem Paradiesmythos umzugehen. Ging es bei Hacks um die Geschichte und die Bestimmung des Gattungswesens Mensch, fragte Brezan besorgt nach der Schicksal eines hybriden Erkenntnis- und Nutzungsdranges, so geht es Ebersbach um das ironisch gebrochene, leichte, funkelnde Spiel zwischen Mann und Frau. Hinter dem scheinbar Nur-Vergnüglichen leuchtet immer wieder die Frage nach den Möglichkeiten des Menschseins in unserer Zeit auf. Aber auch auf dem Höhepunkt der Liebe zwi-

39 40 41 42

Ebenda. Ebersbach, V., „Adam im Paradies", a.a.O., S. 153. Ebersbach, V., „Adam im Paradies", a.a.O., S. 155. Ebersbach, V., „Adam im Paradies", a.a.O., S. 154.

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sehen Adam und Lilith bleibt ein Gedanke an Eva Maria Bitterlich: „'Du hast an sie gedacht!' fauchte Lilith. ,Du hast ihren Namen genannt, ihre beiden Namen, den einstigen und den künftigen, du hast sie beschworen und auch eure Zukunft benannt und gebannt, und so wird alles kommen. Ich kam aus Gott wie du, aber die andere kommt aus dir.'" 43 Da schlägt Adam Lilith aus Verzweiflung, aber deutlich wird auch, daß es Gewalt ist, die das Paradies zerstört. Und zu allem Überfluß entsteigt dem Meer dann auch noch die gleichfalls gerettete Braut, die ihm Gott auf den Hals geschickt hat durch die „schmierige Vermittlung eines Pfaffengeschmeißes" 44 , die Frau, mit der er verflucht ist, eine Familie zu gründen, Sitte und Anstand zu verkörpern und den Staat zu tragen.45 Die Geschichte endet im Wahn: Obwohl er Eva Maria Bitterlich erwürgt, erscheint ihm Lilith nicht, ihm ist, als zerbräche sein Kopf. Zum Schluß erscheinen Eingeborene, Kannibalen, um ihn zu schlachten - und es wird Nacht.

5.2. Das Babelmotiv Daß das Babelmotiv ein in der Literatur häufig gewähltes ist, kann keineswegs verwundern, wenn man sich vor Augen hält, daß Schriftsteller schon von ihrer Arbeit her von den Problemen Sprache, Sprachverwirrung, Nicht-Verstehen, aber auch Sprachlosigkeit und Kommunikationsverlust fasziniert sein müssen. Fühmann hat ja sogar den Versuch gemacht, die Geschichte des Turmbaus zu Babel für Kinder auszulegen und diese Geschichte also als Teil seiner umfänglichen sprachphilosophischen Arbeit einzubeziehen. 43 44 45

Ebersbach, V., „Adam im Paradies", a.a.O., S. 165f. Ebersbach, V., „Adam im Paradies", a.a.O., S. 172. Vgl. ebenda.

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In dem Roman .Jenseits von Babel" 4 6 nutzt Reinhart Heinrich das Turmbaumotiv höchst kunstvoll als Grundmetapher für seinen Erstling, in dem er die unter beeindruckender Eloquenz versteckte zunehmende Sprachunfähgkeit und Verwirrung von Wissenschaftlern vor Augen führt. Aus dieser Erfahrung heraus macht sich der Ich-Erzähler auf die Suche nach seinen Wurzeln. Der Biophysiker R. Heinrich hat damit ein Buch vorgelegt das Aufmerksamkeit hervorgerufen hat. Christa Wolf dagegen verwendet das Babelmotiv in ihrem tagebuchartigen Roman „StörfaH" 47 ganz anders. Hier ist es nicht die indirekte Assoziationsgrundlage für einen umfänglichen Roman, sondern die Verfasserin zieht die Geschichte vom Turmbau zu Babel an einer Stelle direkt in ihre Überlegungen ein, die von den Nachrichten vom Reaktorunglück in der Ukraine und von der Gehirnoperation ihres Bruders bestimmt sind. An diesem Tag ist ihr, als lese sie den sehr alten Text das erstemal, und als eröffne er ihr einen neuen Blick auf die menschliche Hybris. 48 „Wie wichtig der HERR die Sprache nimmt", schreibt sie, und: „Wir hingegen verstehen alle die basic language, mit deren Hilfe wir unsere Türme aufrichten, habe ich denken müssen, aber das nützt uns nichts; und wir kennen alle die technische Stimme, die aus einem Apparat kommt, und wir zählen mit, wenn sie jenen anderen Apparat, den Turm mit Raketenantrieb, in den Himmel schickt, der aber nun nicht mehr Himmel heißt, sondern Kosmos: Five - four - three - two one - ZERO! Nur manchmal stürzen die Türme wieder runter, mit ihrer blutigen Fracht - Das ist aber der Tag gewesen an dem mir alle Zeichen eingefallen sind, die wir schon zu sehen gekriegt haben, ohne sie zu verstehen." 49 Das Turmbaumotiv steht hier für ein altes und sehr ernstes Warnzeichen an unsere Kultur, die mit

46 47 48 49

Heinrich, R., „Jenseits von Babel", a.a.O.. Wolf, Ch„ „Störfall", a.a.O., S. 93. Vgl. Wolf, Ch., „Störfall", a.a.O., S. 92. Wolf, Ch., „Störfall", a.a.O., S. 93.

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dem technischen Fortschritt zugleich die Möglichkeit der Selbstvernichtung heraufbeschworen hat. F. Winter hat in einem Aufsatz unter dem Titel: „Wer erlöst uns von der Schuld?" 50 anhand des Buches „Störfall" über den Zusammenhang unserer Schuld mit dem Zustand der Welt nachgedacht und hat aufgeführt, was er den Reflexionen Christa Wolfs entnommen hat: „1. Welt, Mensch und Sprache sind durcheinander. 2. Viele weichen dieser Wahrheit aus. 3. Wer das jedoch anerkennt, sieht seine Mitschuld am Elend der Welt. 4. Er muß den blinden Fleck, der in ihm ist, angehen und seine Schuld ehrlich aussprechen. 5. Was daraus wird, bleibt offen. So ist es nachzulesen in einem Buch aus dem Jahre 1986."51 5.2.1. Günter de Bruyn:,.Babylon" Mit dem Turmbau-zu-Babel-Mytos befaßt sich G. de Bruyn in der bemerkenswerten Geschichte „Babylon" 52 aus dem Jahr 1978, die dem mehrfach aufgelegten Erzählband seinen Namen gegeben hat. Zunächst scheint es in der Erzählung „Babylon", vom Titel abgesehen, keinerlei Hinweis auf das Babelmotiv zu geben. Vielmehr spielt sie in der Gegenwart, unter jungen Leuten, die der noch nicht etablierten Kunstszene angehören und in Berlin. Der Erzählstil ist verknappt und gibt die Sprechweise, die Selbstdarstellungsart und das Lebensgefühl von Menschen einer bestimmten Subkultur um die 30 herum in diesem Land fast bestürzend genau wieder. Diese Wiedergabe geschieht 50 51 52

Winter, F., „Wer erlöst uns...", a.a.O., S. 25ff. Winter, F., „Wer erlöst uns...", a.a.O., S. 26. Bruyn, G.de, ,3abylon", a.a.O..

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nicht durch Schilderung der Charaktere und der Umstände, sondern indem die Kommunikation einer kleinen Gruppe an einem Abend in einer Wohnung dargestellt, damit analysiert, ja bloßgestellt wird. Es geht ums Sprechen, das macht der Anfang der kurzen Erzählung gleich deutlich: .Peinliche Stille kommt erst gar nicht auf. Jeder weiß gleich was zu sagen. Das ist Betsys Verdienst. Vor Verlegenheit redet sie viel und sehr schnell, ohne Pause. Trotzdem gelingt es ihr, kleine Lacher zwischen die Worte zu schieben oder mit ihnen zu mischen. Das spornt alle an, verpflichtet zum Mitreden, zum Mitlachen, auch dazu (um das Tempo zu halten), den anderen nicht ausreden zu lassen, nicht aus Mißachtung seiner Worte, sondern aus Begeisterung über sie. So können alle fast gleichzeitig reden. Es entsteht ein ziemlicher Lärm. Dabei sind wir erst vier, denn Alexander ist noch nicht da." 53 Das muntere Arrangement, das hier entrollt wird, ist brüchig, man ahnt es von Anfang an. Es wird viel und laut, vor allem flott geredet, aber dies kann den dunklen Untergrund von wachsender Verzweiflung nicht überdecken. Es gehört zu der großen Kunst des Verfassers, diese Atmosphäre zu vermitteln, ohne sie irgendwo direkt zu benennen. Da ist Betsy, die Malerin, um die sich an diesem Abend alles dreht. Aber sie ist innerlich abhängig von Alexander, auf den sie alle warten, aber der nicht erscheint. Wenn die Rede auf ihn kommt, und sie kommt dauernd auf ihn, sagt sie: „Ach der!" und macht „das Gesicht eines Clowns, der zu weinen beginnen will." 54 Da ist Guy, der Amerikaner, der Betsy anhimmelt. „Guy fällt vor Bewunderung in seine Muttersprache zurück. Sonst spricht er Deutsch, nicht gut aber doch besser als wir alle zusammen Englisch. Er ist überhaupt besser als wir, die wir ihn dauernd vergessen und schnell berlinisch reden, so daß er nicht folgen kann. Trotzdem 53 54

Bruyn, G.de,,.Babylon", a.a.O., S. 116. Bruyn, G.de, „Babylon", a.a.O., S. 118.

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strahlt er ständig Glückseligkeit aus, versichert immer mal wieder, wie schön der Abend ist..." 55 Da ist die Kulturfunktionärin Kitty, die forsch tut, aber zuviel trinkt. Da ist der Ich-Erzähler, der eine Kunstzeitschrift herausgibt, Betsy einen Auftrag zukommen lassen will, aber: „Alles, was ich über Kunst weiß, ist, daß ich nie sagen darf, was ich empfinde." 56 Die Anstrengung, die Munteren zu spielen, sich extravagant darzustellen und voreinander aufzubauen, erschöpft die Gesellschaft bis zur völligen Entleerung. Dem Ich-Erzähler und Kunstmanager, der weder seine wahren Empfindungen noch seine Angst zugeben darf, „gelingt es, alles irrsinnig komisch zu finden: Kitty, die vor Würde fast platzt, weil sie keinen hat, an den sie sie verlieren kann. Tanja und Betsy, die sich an einen hängen, der von einer Dritten nicht loskommt, und dazu dieser Amerikaner, der vor Hunger und Übelkeit bald stirbt, dessen Gesicht aber unverdrossen Frohsinn verbreitet. Jetzt beginnt er auch noch, von seinem Psychiater zu reden." 57 Die jungen, ehrgeizigen Leute, die hier zu Wort kommen, sind in einer verzweifelten Lage. Sie haben einen hohen künstlerischen Anspruch, mindestens aber den auf Selbstverwirklichung und Individuation. Dem Lebensstil, den dieses Ziel erfordert, unterwerfen sie sich auch um die Gefahr der Selbstüberforderung. Der Himmel, den sie stürzen wollen, ist eine anerkannte Kunstzeitschrift, hier wollen sie sich einen Namen machen. Aber auf diesem anstrengenden Weg werden die menschlichen Beziehungen immer scheinhafter. Sie werden zelebriert, aber nicht mehr offengelegt und bearbeitet. Niemand sagt noch, was er denkt, fühlt und weiß, jeder spielt die Rolle, die er sich selbst auferlegt hat, deren Gefangener er nun aber

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Ebenda. Ebenda. Bruyn, G.de, „Babylon", a.a.O., S. 121.

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auch ist. So breitet sich hinter den Fassaden Leere, Frustration und Verzweiflung aus. Doch an keiner Stelle werden die Personen der Erzählung denunziert, vielmehr bleiben sie dem Leser nahe, sympathisch, auch wenn ihn Schrecken überfällt angesichts der vorgeführten, zunehmenden Sprachverwirrung, des anwachsenden Nichtverstehens, der Unfähigkeit zu echter Kommunikation. Und so endet die Erzählung: ,3etsy bringt die leeren Gläser und Flaschen. Sie behauptet auf Englisch, Alexander vergessen zu können. Kitty ist eingeschlafen. Betsy wickelt sie in eine Decke, dann setzt sie sich zu uns. Wir trinken viel Tee, rauchen unmäßig und waren auf Alexander, bis der Tag kommt." 58 In diesem Alexander, der nicht kommt, ist der Zusammenbruch, das Ende dieser Gruppe angedeutet. Als Kitty nämlich abends bei den anderen eintrifft, berichtet sie von einem Unfall, der sich unmittelbar vor der Haustür zugetragen habe: Ein junger Mann ist da ganz langsam in ein schnellfahrendes Auto gelaufen und war sofort tot. Noch in der Nacht erfährt der Ich-Erzähler durch einen Telefonanruf, daß Alexander eben zu der Zeit des Unfalls vor der Haustür angelangt sein müsse. An keiner Stelle wird gesagt, daß es Alexander war, der bewußt in seinen Tod lief, aber vieles deutet darauf hin, daß die Zentralfigur, auf die alle anderen hinorientiert, ja von der sie emotional abhängig waren, sich selbst vernichtet hat. Noch am Morgen kann man die Kreidestriche sehen, die die Unglücksstelle markieren. Der Titel ,3abylon" veröffentlicht die geheimen, aber engen Beziehungen, die zwischen der Geschichte vom Turmbau zu Babel und dieser fast privaten Geschichte aus dem Berlin der 70er Jahre bestehen. Arbeitete Fühmann das Verhältnis von Sprache und Arbeit im Turmbaumythos heraus, nahm Christa Wolf eben diesen Mythos als Warnungszeichen vor den er-

58

Bruyn, G.de, „Babylon", a.a.O., S. 122.

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schreckenden Entwicklungen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts angesichts der Katastrophe von Tschernobyl, so enthüllt de Bruyn die selbstzerstörerischen Tendenzen einer typischen, subkulturellen Gruppe junger Künstler anhand ihrer fortschreitenden Sprachverwirrung. 5.2.2. Erich-Günther Sasse: „Der Turm" Auch bei Erich-Günther Sasses,,Der Turm" 59 handelt es sich um eine Erzählung, die schon in der Überschrift ihre innere Beziehung zur Turmbaugeschichte offenbart. Die Erzählung handelt in einem fiktiven DDR-Dorf, allerdings ist sie nur auf den ersten Blick ein Alltagsgeschehen, vielmehr wird von einem phantastischen Projekt berichtet - eben dem Turmbau. Das Dorf hat nichts besonderes vorzuweisen. Und leider fällt den Bewohnern auch nicht ein, was sie an Außergewöhnlichem schaffen könnten, um sich einen Namen zu machen, Öffentlichkeit und Geld zu gewinnen, bis der Bürgermeister auf eine Idee kommt. Eines Tages nämlich hat er eine Vision, „sah er neben dem Kirchturm einen anderen, aus Feldsteinen gebauten Turm, dessen Spitze zwischen den Wolken verschwand. Der Bürgermeister strich sich über seine Augen und dachte: Das ist es, wir brauchen einen Turm, höher als alle Türme, die es bis jetzt auf der Welt gegeben hat." 60 Am Abend vertritt er seinen Plan in der Gemeindeversammlung. , Auf einmal war ihm, als würde er nicht nur den Turm schaffen, sondern eine ganze Welt." 61 Und es gelingt ihm, den zunächst widerstrebenden Gemeinderat zu überreden. Nur zwei kann er nicht gewinnen: die verrückte alte Frau Roth, die

59 60 61

Sasse, E.-G., „Der Turm", a.a.O.. Sasse, E.-G., „Der Turm", a.a.O., S. 37f. Sasse, E.-G., „Der Turm", a.a.O., S. 39.

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schreiend durchs Dorf rennt und Katastrophen ankündigt, und Camilla, die sagt: „Wir blamieren uns ja vor der Welt bis auf die Knochen. Alle konnten hören, wie ffl

sie sagt: Das sind Sünden!"

Der Bürgermeister, der von Herzanfällen geplagt

wird, verspricht allen das Wohlwollen derer da oben und Ströme von Geld „und schrieb mit schwarzer Ausziehtusche auf einen neuen Schnellhefter: Unser Turmbau. In Druckbuchstaben darunter: Arbeitstitel Himmelsstürmer."63 So organisiert er „die Initiativen der werktätigen Massen" 64 und findet auch bald den richtigen Bauplatz: schräg gegenüber der Kirche. In seiner Rede zu Baubeginn redet er über die sozialistische Gemeinschaft, seine Mitbürger klatschen laut und lange Beifall. Hinter der Gardine verfolgt der Pastor das Geschehen am Bauplatz „Weil er keine Beleidigung Gottes, der Kirche und seiner Person entdecken konnte, segnete er den Bau." 65 Wegen des Baus seiner „Mehrzweckeinrichtung" gelobt, wird das Dorf Sieger im Wettbewerb .Schöner unsere Städte und Gemeinden'. Langsam wächst der Turm über die Häuser hinaus. Dafür zerfällt die Ehe des Bürgermeisters. Bald überragt der Turm die Kirche. Aber auch die Angst wächst und die Auseinandersetzungen unter den Dorfbewohnern. Die Steine werden knapp. „Im Herbst gab es für den größten Turmbau der Welt kein Material mehr." 66 Der Bürgermeister wird von Müdigkeit und Furcht gepackt. „Um nicht zu unterliegen, tobte er. Ein Wahnsinniger, flüsterten die paar Maurer, die noch da waren. Zum Bürgermeister sagten sie: Wir denken nicht daran, uns hier kaputtzumachen, für wen denn? Sie gingen weg und ließen sich nicht mehr sehen." 67 62 63 64 65 66 67

Sasse, E.-G., Sasse, E.-G., Ebenda. Sasse, E.-G., Sasse, E.-G., Ebenda.

„Der Turm", a.a.O., S. 42. „Der Turm", a.a.O., S. 45. „Der Turm", a.a.O., S. 46. „Der Turm", a.a.O., S. 51.

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Zentrale biblische Mythenmotive in der Literatur

Eines Tages findet man ihn, an seinem Turm arbeitend, zusammengekrümmt; man überführt ihn in eine geschlossene Anstalt. Der Turm bleibt unvollendet. Vom Kreis kommt einer und ermahnt die Dorfbewohner, nun wieder „mit dem geringsten Aufwand die höchsten Ergebnisse zu erzielen!"68 und: „Der Gegner, betonte der vom Kreis, darf von dieser Sache nichts erfahren." 69 Aber: „Alle Welt lachte über das steinerne Ungetüm..." 70 Bald wird das Gerücht lanciert, bei dem Turm handele es sich um die Reste einer alten Burg. Die Geschichte endet mit der Rede den neuen Bürgermeisters, der sagt: „Wir werden mit noch größerem Elan fortfahren auf unserem Weg und nicht nachlassen in den Anstrengungen, unser nationales Kulturerbe zu sichern, um es nicht in die Hände des Gegners fallen zu lassen. Ich denke, daß jeder einzelne seine Lehren aus den Fehlern der Vergangenheit gezogen hat und die vor uns liegenden höheren Ziele erfüllen hilft." 71 Sehr schnell wird dem Leser bei der Erzählung klar, daß es sich um eine Satire handelt. Zug um Zug wird die Geschichte vom Turmbau zu Babel in ein sozialistisches Dorf versetzt. So werden bestimmte Züge der DDR-Gesellschaft dem Lachen ausgeliefert und der Absurdität überführt. Interessant dabei ist das Verfahren: Ein Mythos wird Zug um Zug in gegenwärtiger Gewandung nachgezeichnet - die dabei entstehende Ironie wird als Gesellschaftskritik produktiv gemacht. Deutlich wird, daß es ganz unterschiedliche Wege gibt, mit einem biblischen Mythos oder Mythenmotiv umzugehen. Die künstlerischen Fähigkeiten des Verfassers und das, was er ausdrücken will, entscheiden, welchen Verfahrens er sich bedient. Immer jedoch wird der Mythos ernst genommen, wird er auf seine innewohnenden Strukturen befragt, wird er als Maßstab angewendet, als Metapher zugrun68 69 70 71

Sasse, E.-G., „Der Turm", a.a.O., S. 52. Sasse, E.-G., „Der Turm", a.a.O., S. 53. Ebenda. Sasse, E.-G., „Der Turm", a.a.O., S. 54.

Das Kreuzmotiv

147

degelegt, als Dialogpartner akzeptiert. Mythenkritik gibt es nicht im Bereich der Literatur. Vielmehr dienen die Mythen dazu, vorfindliche Wirklichkeit offenzulegen, zu benennen, zu deuten und somit veränderbar zu halten.

5.3. Das Kreuzmotiv Auch das Kreuzmotiv gehört zu den besonders häufigen in der Literatur. Das liegt daran, daß Jesus eine der hervorragenden Urbild-Figuren der europäischen Literaturgeschichte ist. Weiterhin ist zu betonen, daß mit dem Kreuz inhaltlich in der Regel das Auferstehungsmotiv verbunden ist. Deutlich wird das auch in einer der wenigen Texte der DDR-Literatur, die, das Kreuz schon im Rücken, sich der Auferstehung unmittelbar zuwenden. Es handelt sich im den kurzen Prosatext „Unbegrabbar" von Günter Kunert 72 , der hier ohne Kürzung wiedergegeben wird.

„Von dem Augenblick an, da er in dem kleinen russischen Dorf, das keine Karte mehr zeigt, gegen die Gruppe lautloser Gestalten als Zwölfter des Pelotons sein Gewehr hob, ist er verschwunden und jede Spur mit ihm: als wäre er gegangen in einer Wolke aus Rauch, aus Nebel, aus Geschichte und Vergessen." Nicht sofort springt ins Auge, daß dies ein Text ist, der die Kreuz und Auferstehungsbotschaft ins 20. Jahrhundert gewendet erzählt, aber bei näherem Hinsehen sind die mannigfaltigen Bezüge unübersehbar. Schon die Zwölfzahl hat Verweischarakter. Dieser Zwölfte schießt nicht auf Partisanen, und eben das überlebt er nicht. Aber er kann auch nicht begraben werden, nicht abgehakt werden, er erweist sich als „unbegrabbar". Vielmehr geht er in einer Wolke, in der er aufgehoben ist im Gegensatz von Geschichte und Vergessen. Assoziiert wird hier Christus, der

72

Kunert, G., „Kramen in Fächern", a.a.O., S. 128.

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Zentrale biblische Mythenmotive in der Literatur

sich auch nicht als begrabbar erwies, weil das Grab ihn nicht festhielt, und der zuvor gekreuzigt worden war, weil er den Willen Gottes erfüllte, wie dieser namenlose Soldat im 2. Weltkrieg den Willen der Menschlichkeit erfüllte. Entstanden ist mit dieser doppelten Ebene ein sehr dichter, fast geheimnisvoller Text, dessen Deutungsmöglichkeiten zwischen Überwindung und Vergeblichkeit schillern. 5.3.1. Christa Wolf: Nachdenken über Christa T." Christa Wolf hat es immer wieder verstanden, mit ihren Büchern eine neue Art von Wirklichkeitssicht zu eröffnen. Immer wieder hat sie Wege gebahnt, denen andere dann gefolgt sind. Das gilt auch für „Nachdenken über Christa T." 73 , das bereits Anfang der siebziger Jahre erschien und als Zentralfigur keinen Helden vorführt, sondern eine Frau, der manche Kritiker ihr Scheitern, ihre Schwäche angelastet haben. Erzählt wird die kurze Lebensgschichte der Christa T., die sich nicht anpassen wollte, sich keiner Schablone anbequemen mochte und zu keiner Herde paßte, die nach einem unbeispielhaften Leben mit fünfunddreißig Jahren an einer Krankheit stirbt. Auf ihrer einzigen großen Reise trifft sie im Restaurant des Rilaklosters einen ihrer ehemaligen Schüler, der nun Arzt ist und ihr freimütig bekennt, die Moralforderungen der Lehrerin seien ihm immer zu steil erschienen. „Die reale Existenz des Menschen hat mir als Arzt zu genügen." 74 Und dann wiederholt er mehrfach seine Erkenntnisse: „Der Kern der Gesundheit ist Anpassung - Anpassung um jeden Preis." 75 Das, was junge Menschen brauchten, sei seelische Robustheit. Und dann als Christa T. mit ihrem Mann unter den Arkaden mit den gemalten Martyrien der Heiligen spazieren geht, sagt sie: Mein schlaues Schülerlein hat nicht zu

73 74 75

Wolf, Ch., „Nachdenken über Christa T.'\ a.a.O.. Wolf, Ch., „Nachdenken über Christa T.", a.a.O., S. 144. Ebenda.

Das Kreuzmotiv

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Ende gedacht, das hab' ich ihm nicht beibringen können. Er war ein bißchen zu freudig erregt von seiner Entdeckung, daß er nicht verantwortlich ist für irgendetwas, was es auch sei.. ." 76 Genau an dieser Stelle endet in Ch. Wolfs Buch die Kette der Leiden, der Martyrien, die sich bis hierher durch das Buch gezogen hat: Der Kater, der an die Stallwand geschleudert wird, der Junge, der im Schnee zurückgelassen wurde und erfror, die Elsterneier, die mutwillig zerschlagen wurden, die Kröte, der der Kopf abgebissen wurde. Dies alles endet hier mit dem Blick auf das Kreuz im Gebirge: „Das hohe hölzerne Kreuz auf dem Westgrat über dem Gebirgstal hebt sich schwarz vom gelben Abendhimmel ab. Wir können wohl nur, sagt Christa T„ in aller Ruhe damit rechnen, daß nicht verloren gehen wird, was noch so dringend gebraucht wird." 77 Es bleibt bei diesen knappen Sätzen, daß etwas noch gebraucht würde, was vielleicht auch verloren gehen könnte; und doch sei in aller Ruhe mit dem Gegenteil zu rechnen. Natürlich verbietet sich jede direkte religiöse Ausdeutung dieser Szene. Und doch ist es nicht zufallig, daß hier ein Kreuz eingeführt ist und nicht ein blühender Baum etwa. Darauf hat der Theologe und Literaturwissenschaftler Peter Sänger hingewiesen, der eine detaillierte Untersuchung zu diesem Abschnitt vorgelegt hat. 78 Mit dem Kreuzsymbol geht die Linie der Leiden zu Ende. Das Kreuz erscheint gerade da, wo es um die Gefährdung der moralischen Existenz des Menschen geht, wo der ehemalige Schüler, der es zu etwas gebracht hat, die Verantwortung des Menschen für alles bestreitet. Peter Sänger faßt seine Beobachtungen folgendermaßen zusammen: „Um das Nachdenken über ein Menschenschicksal ... zum Anstoß einer fördernden, wo-

76 77 78

Wolf, Ch., „Nachdenken über Christa T.", a.a.O., S. 147. Ebenda. Sänger, P., „Christus und sein Kreuz...", a.a.O..

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Zentrale biblische Mythenmotive in der Literatur

möglich wendenden moralischen Bewegung zu machen, ist das Sinnbild des Kreuzes als ein erhöhendes Motiv gut gewählt. Das Gipfelkreuz von Rila läßt sich nur als erhöhend, nicht etwa als erniedrigend verstehen, weil es als Zeichen erlittener Erniedrigung genommen wird. Als solches weist es jedoch darüber hinaus, darauf, daß der, der so geendet ist, zu aller Zeit auch in der größten Niedrigkeit, verherrlicht worden ist (Bach, Johannespassion). So gibt es angesichts immer wiederholter Martyrien die Aussicht auf einen Fortschritt des Menschen auf dem Weg zu sich selbst, so ist die Hoffnung auf ein fortwirkendes Leben der so Denkenden in der Erinnerung berechtigt, in einer Erinnerung, die nicht als Totenklage, vielmehr zur Freisetzung neuen Lebens heraufbeschworen ist. Das Kreuz ist hier ,im tiefsten Leid das Zeichen der größten Hoffnung' (Hans Joachim Iwand). So stimmt es im Gesamtsinn des Erzählten, und so bewährt es ihn." 79 Die Hoffnung freilich, von der hier die Rede ist, nämlich die auf den moralischen Fortschritt der Menschheit, kann von Christa T. selbst nicht mehr erkämpft werden, denn sie ist ja eben todkrank. Trotzdem wird sie nicht verlorengehen, darauf baut Christa Wolf. Und eben dies heißt konkret Auferstehung, mindestens einer ihrer Aspekte.

5.3.2. Günter de Bruyn: „Neue Herrlichkeit" Einer der Handlungsstränge des Romans „Neue Herrlichkeit" von Günter de Bruyn 80 besteht in der Heimeinweisung einer alten Frau, die unbequem geworden ist, da sie unter Altersverwirrtheit leidet und zur Hilfe im Haushalt nicht mehr zu gebrauchen ist. Mit harten Worten kommentiert das die Leiterin eines staatlichen Pflegeheimes: „In unsere Welt der Nützlichkeit paßt eine kranke Alte nicht hinein. Solange sie den Haushalt führen und die Kinder hüten kann, ist sie noch unent79 80

Sänger, P., „Christus und sein Kreuz...", a.a.O., S. 116f. Bruyn, G. de, „Neue Herrlichkeit", a.a.O..

Das Kreuzmotiv

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behrlich, wenn sie dann aber selbst Betreuung braucht, schickt man sie weg ins Heim. Mit anderen Worten: man verurteilt sie. Unfähigkeit zur Arbeit heißt die Schuld, die Strafe dafür ist die Verbannung und Enteignung. Sie muß die Heimat und das lebenslang vertraute Haus verlassen, in fremde Räume und zu fremden Menschen ziehen und dort erleben, wie nun auch die Liebe ihr entzogen wird. Anfangs kommt der Besuch noch jeden Monat, dann nur noch zwei- dreimal im Jahr, dann gar nicht mehr: die arbeitsamen Kinder haben sie vergessen."81 Das Pflegeheim wird hier gezeigt als gespenstische Endstation, wo die Alten mit Hilfe von Medikamenten ruhiggestellt werden. Der Weg in dieses Haus führt über einen Friedhof. Die Heimaufnahme verläuft anonym und völlig entseelt: Karteikarten werden ausgefüllt, Nummern ausgehändigt, Gepäck kontrolliert und numeriert, zum Schluß wird der alte Mensch in seine Baracke förmlich abgeführt. In bemerkenswertem Kontrast dagegen erscheint im Roman ein katholisches Altersheim. Den Besucher empfangen offene Türen, kein Pförtner verwehrt ihm den Eintritt. Möglicherweise gerät er in die Kapelle, in der die Heimbewohner beten, also eine Aufgabe ausüben, die sie ausfüllen können und die sie ausfüllt. In diesem Haus wird unter der Leitung der energischen Oberin Benedikte der tödliche Liebesentzug mit einer Atmosphäre lebendiger Zuwendung zu den alten Menschen bekämpft. Die Quelle der Kraft für diese so andere Atmosphäre kommt in zwei Symbolen zum Ausdruck: Ausgang und Eingang dieses Hauses geschehen unter dem Bild des gekreuzigten Christus, der lebensgroß im Vorraum hängt. Daneben gibt es noch das Bild einer Schutzmantelmadonna, unter deren Kleid sich Könige und Bettler, Junge und Alte, Gesunde und Kranke bergen.82

81 82

Bruyn, G. de, „Neue Herrlichkeit", a.a.O., S. 199. Bruyn, G. de, „Neue Herrlichkeit", a.a.O., S. 155ff.

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Zentrale biblische Mythenmotive in der Literatur

Das Kruzifix, auf das zu Beginn und am Ende des Kapitels hingewiesen wird, deutet hier den Sinn von Leiden und Sterben. Zudem aber steht es auch als Zeichen opferbereiter Liebe, die die Sinnlosigkeit anonymen Sterbens aufhebt. Darüber hinaus steht das Kreuz als Sinnbild und Ausdruck des Kampfes gegen eine mögliche Dehumanisierung des Menschen, indem es die Würde vermeintlich nutzloser Glieder der Gesellschaft wahrt. Das Kreuz weist also auf ein Menschenbild hin hält es so hartnäckig in Erinnerung - das seinen Wert nicht aus der Leistungsfähigkeit herleitet. 5.3.3. Jurij Brezan „Bild des Vaters" Ein literarisches Zeugnis für das würdevolle Abschiednehmen eines alten Mannes inmitten seiner Familie und seines Dorfes gibt mit dem bewegenden und bedeutenden Buch „Bild des Vaters" der sorbische Schriftsteller Jurij Brezan.83 Dieses würdige Sterben gelingt, weil der alte Steinbrucharbeiter ein bewußtes und würdiges Leben geführt hat. Tod heißt hier: bewußtes Gestalten des Abschiedes statt Verdämmern und Verlöschen. Der alte Tobias Hawk schreitet noch einmal die Stationen seines Lebens ab, eines Lebens, das sich in seiner sorbischen Heimat mit den traditionellen katholischen Werten abspielt. Noch einmal besucht Tobias Hawk seine Freunde, darunter den langen Handrij, von dem er aber erfährt, daß er kurz zuvor gestorben ist. Zu seinem Sohn sagt er: . f a h r heim, und dann, schon mitten in der Stadt: Ich werde ihm einen Priem mitnehmen. Er freute sich, daß ihm das eingefallen war. Eigentlich freilich war es eine Selbstverständlichkeit. Denn so gewiß, wie der Tod kommt, kommt nach diesem Leben ein anderes Leben, ein Leben ohne Sorgen, Plackerei, Schmerzen und natürlich ohne Staublungen. Dort

83

Brezan, J., „Bild des Vaters", a.a.O..

Das Kreuzmotiv

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trifft man alle wieder, es gibt eine große Begrüßung, dann sitzt man zusammen in einer milden Sonne, erzählt sich was, der Neuankömmling holt das Priemschächtelchen aus der Tasche, wer will, beißt ab - auch der lange Handrij, denn nun hat er ja seine Zähne wieder - und alles ist eitel Freundlichkeit und Zufriedenheit: der Himmel eben. Florian Hawk wünschte in diesem Augenblick nichts so sehr, als daß seinen Vater, auch nicht für die Länge eines Lidschlags, ein Zweifel an seinem Himmel überfiele." 84 Und in Erwartung einer neuen, festlichen Gemeinschaft nach dem Tode legt der alte Mann seinen Hochzeitsanzug zurecht. Hoffnung auf die Auferstehung kann der Autor J. Brezan, der sich im Buch als Maler Florian Hawk wiederfindet, nicht für sich hegen, zugleich aber wünscht er, daß seinen Vater kein Zweifel daran überkommt; denn sein würdevolles Sterben hat etwas mit dieser Auferstehungshoffnung zu tun. Als er tot ist, ist niemandes Träne „bitter, und keiner, der nicht dem Vater zugelächelt hätte. Ihre Trauer war nicht traurig, feierlich vielleicht oder sogar - in einer besonderen Weise - festlich: Der Vater hatte das letzte, schwerste Stück des Lebens bestanden, wie jeder es wünschte, es bestehen zu können." 85 Eine der erinnernden Fahrten führte den alten Steinbrucharbeiter zu Lebzeiten zu einem „verwitterten granitenen Sühnekreuz" 86 vor der sorbischen Kirche in der nahen Stadt. Hier versammelten sich die Sorben seit alten Zeiten zu ihren Gottesdiensten, zu Predigt und Gesang, aber auch zu Gespräch und gemächlichem Schwatz mit Freunden. Dieses Steinkreuz wird zum Zeichen der Gemeinschaft, die auch in schweren Zeiten und in der Verfolgung des 3. Reiches Bestand hatte, aber eben auch über den Tod hinausreicht.

84 85 86

Brezan, J„ „Bild des Vaters", a.a.O., S. 26. Brezan, J„ „Bild des Vaters", a.a.O., S. 227. Brezan, J., „Bild des Vaters", a.a.O., S. 11.

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Zentrale biblische Mythenmotive in der Literatur

Wenige Tage vor seinem Tod läßt sich Tobias Hawk noch einmal auf den Friedhof fahren und verweilt dort vor dem Grabkreuz seiner Frau Maria. Hier wird er in we87

nigen Tagen auch liegen. Dann geht er zum Pfarrer, um selbst alles zu regeln. Der Roman „Bild des Vaters" fragt nach Werten, die aus menschlichem Zusammenleben erwachsen und in der Gemeinschaft bewährt werden. Er fragt nach Werten, j a er beschwört sie geradezu mit inständigem Ton, die ein Leben und darum auch einen Tod in Würde ermöglichen und die in unserer radikal gewandelten Industriegesellschaft unter die Räder zu geraten drohen. Das Kreuz ist in dieser Geschichte neben anderen Symbolen ein Sinnbild solcher alten Werte, die der Autor bewahrt sehen möchte und die er darum mit einer besonderen Dignität ausstattet.

87

Vgl. Brezan, J., „Bild des Vaters", a.a.O., S. 134.

6. Theologisch-ästhetische Überlegungen „Theologie und Poesie fallen in ihrer ersten Phase zusammen" erinnert Albrecht Grözinger in seinem Buch „Praktische Theologie und Ästhetik"1, in dem er eine Verhältnisbestimmung von Theologie und Ästhetik, von Glauben und Literatur vorlegt. „Ihre Trennung ist eine spätere Erscheinung. Eine theologische Ästhetik wird diesen ursprünglichen Zusammenhang in Erinnerung zu rufen und nach den Konsequenzen der späteren Trennung zu fragen haben." 2 Nachdem Grözinger dieses Verhältnis von Plato über Aristoteles, Augustin, Thomas von Aquin, Leonardo da Vinci, Friedrich Schiller, Baudelaire bis hin zu Nitzsche dargestellt hat, untersucht er moderne Konzepte. So geht es für Heidegger um „das Auseinander- und Gegenübertreten von Subjekt und Objekt. Diese Subjekt-Objekt-Spaltung zieht einen Kampf zwischen Subjekt und Objekt nach sich ... Beide, Objekt und Subjekt, erleiden in diesem Prozeß eine Beschädigung, die sie in ihrem Wesen trifft. Der ,Verdinglichung' des Objekts entspricht die .Entfremdung' des Subjekts" 3 Das Leitmotiv der Ästhetik Adornos sei die Frage, „ob und wie die Kunst überlebe nach dem Sturz der Metaphysik, der sie Dasein und Gestalt verdankt."4 Dieser Sturz ist für Adorno/Horkheimer das Ergebnis der abendländischen Geschichte; so

1 2 3 4

Grözinger, A., „Praktische Theologie...", a.a.O.. Grözinger, A., „Praktische Theologie...", a.a.O., S. 25. Grözinger, A., „Praktische Theologie...", a.a.O., S. 62, G. nimmt Bezug auf Heidegger, M., „Der Ursprung des Kunstwerkes", S. 25. Grözinger, A., „Praktische Theologie...", a.a.O., S. 63, G. nimmt Bezug auf Adorno, Th.W., „Ästhetische Theorie", S. 506.

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Theologisch-ästhetische Überlegungen

haben sie es in der,.Dialektik der Aufklärung" beschrieben. .Aufklärung, die einst auszog, Herrschaft zu überwinden, ist selbst in Herrschaft umgeschlagen. Das neuzeitliche Prinzip .Vernunft' ist zentral bestimmt durch den Gedanken der Herrschaft des Menschen über die Natur und - als Folge daraus - der Herrschaft des Menschen über den Menschen. Dadurch kommt es zu einer folgenschweren .Identität von Herrschaft und Vernunft'... (So) kann im 20. Jahrhundert nur noch festgestellt werden: ,die vollends aufgeklärte Erde erstrahlt im Zeichen triumphalen Unheils.'" 5 Grözinger skizziert Adorno, wenn er schreibt: Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellen." 6 und fährt fort: „Der Ort, an dem diese Spannung von notwendiger und zugleich unmöglicher Perspektive der Erlösung am authentischsten sich darstellt, ist für Adorno die Kunst. Getreuer als Philosophie und Theologie leistet für ihn die Kunst heute das, was deren Aufgabe einmal war... Dabei ist die Kunst nicht ein, herrschaftsfreier Raum', auch sie steht im Bann des .triumphalen Unheils' und entkommt nicht der Dialektik der Aufklärung." 7 Kunst hat nach dieser Bestimmung also darzustellen, was sich der Herrschaft entziehen möge. „Kunst verweist zwar auf Erlösung, kann jedoch diese Erlösung nicht realisieren und weiß dies auch. Darin liegt der Wahrheitsanspruch der Kunst begründet."8 Kunst und Theologie rücken nah zusammen, da sie beide den Menschen nicht auf Bestehendes festlegen, sondern ihn auf noch nicht Abgegoltenes beziehen. 5 6 7 8

Grözinger, A., „Praktische Theologie...", a.a.O., S. 64, G. nimmt Bezug auf Adomo, ThW./Horkheimer, M., „Dialektik der Aufklärung", S. 13. Grözinger, A., „Praktische Theologie...", a.a.O., S. 65, G. nimmt Bezug auf Adomo, Th.W., „Minima Moralia", S. 333. Grözinger, A., „Praktische Theologie...", a.a.O., S. 65f. Grözinger, A., „Praktische Theologie...", a.a.O., S. 66f.

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Die Geschichte des Verhältnisses von Literatur und Theologie läßt sich als Konfrontationsgeschichte, aber auch als Harmonisierungsgeschichte darstellen9, auf jeden Fall aber muß von ihrer Verflochtenheit ausgegangen werden. Eine Konkurrenz zwischen dem biblischen und dem künstlerischen Wahrheitsanspruch kann Grözinger nicht entdecken, weil Kunst Wahrheit nicht schaffe sondern aufdecke. „Der Vorstellung des die Wahrheit aufdeckenden Charakters der Kunst kann sich die Theologie auf keinen Fall von vornherein verschließen."10 Ja, Grözinger sieht sogar ein deutliches .Voraus' der Kunst vor der Theologie, weil jene auf der Tatsache besteht, daß der Kultur- und Naturzusammenhang faktisch ein Gewaltzusammenhang sei. Somit haben die moderne Kunst und Literatur ein tieferes Verständnis von Sünde entwickelt, als es in herkömmlicher Theologie aufzufinden sei. 11 Das „Voraus" der Literatur vor der Theologie sieht Grözinger im Werk von Thomas Mann exemplifiziert. Thomas Mann habe Fragen gestellt, die die Theologen eben auch hätten stellen müssen, er hat Probleme aufgezeigt, die den Theologen gut angestanden hätten. 12 „Thomas Mann ist sich mit Bultmann darin einig, daß es nicht darum gehen kann, den Mythos einfach zu eliminieren. Als ,Ur-Born des Lebens' beanspruche der Mythos über die historische Distanz hinweg eine bleibende Wahrheit und Gültigkeit, der sich der Mensch nicht entziehen könne, ohne dabei Schaden zu nehmen. In der Art und Weise jedoch, wie diese Wahrheit und Gültigkeit des Mythos aktuell artikuliert werden soll, gehen die Wege von Bultmann und Thomas Mann auseinander ... Nicht die barbarische Archaisierung des Mythos in der faschistischen Weltsicht, nicht .Rettung' durch Entmythologisierung wie bei 9 10 11 12

Vgl. Grözinger, A., „Praktische Theologie...", a.a.O., S. 68. Grözinger, A., „Praktische Theologie...", a.a.O., S. 69. Vgl. Grözinger, A., „Praktische Theologie...", a.a.O., S. 70f. Vgl. Grözinger, A., „Praktische Theologie...", a.a.O., S. 24f.

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Bultmann, sondern die Humanisierung des Mythos im nacherzählend-poetischen Vollzug rettet und bewahrt diese Wahrheit." 13 So kommt Grözinger in seinem ästhetisch-theologischen Entwurf auf ein dialogisches Modell, das sowohl der Theologie als auch der Kunst Autonomie zusichert, aber im Miteinander und Gegeneinander der Verflochtenheit wahrgenommen wird. „Erfahrungen, die der Theologie verloren gingen, können in der Ästhetik durchaus bewahrt und weiterentwickelt worden sein. Gerade in einer autonomen Ästhetik können Erfahrungsgehalte aufgehoben sein, auf die die Theologie nicht verzichten kann ... Daraus folgt zwingend, daß die Ästhetik von der Theologie auf keinen Fall nur instrumenten verstanden oder gar so angewendet werden darf, sondern die Ästhetik hat gerade auch für die Theologie einen eminent hermeneutischen Charakter, indem sie neue Horizonte eröffnet und verlorengegangene Erfahrungen in Erinnerung ruft." 14 So wichtig es ist, auf der Autonomie der Kunst zu bestehen und ihr sogar ein .Voraus' zu bescheinigen, wäre es innerhalb einer so breit angelegten Verhältnisbestimmung von Kunst und Theologie doch auch wichtig gewesen, deutlicher herauszuarbeiten, worin der spezielle Beitrag der Theologie liegen könnte. Es ginge darum, auch die Chancen der Theologie zu beschreiben, ihr kritisches Potential gegenüber der Literatur, ihre Funktion für die Literatur, ihr mögliches .Voraus'. Ähnlich fragt in ihrem Buch „Realisation - Studien zum Verhältnis von Theologie und Dichtung nach der Aufklärung" 15 Dorothee Solle, „inwieweit die religiöse Sprache den um sie bereicherten Text inteipretiert."16 Biblische Motive sind interessant für die Kunst, insofern sie ein unabgegoltenes ,Mehr' enthalten. „Die Spra13 14 15 16

Grözinger, A., „Praktische Theologie...", a.a.O., S. 115f. Grözinger, A., „Praktische Theologie...", a.a.O., S. 134. Solle, D., „Realisation", a.a.O.. Solle, D„ „Realisation", a.a.O., S. 82.

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che der Bibel enthält eine Unbedingtheit, die sich auf ein mögliches menschliches Leben aller richtet."17 Und so lautet D. Sölles zentrale These: „Die Funktion religiöser Sprache in der Literatur besteht darin, weltlich zu realisieren, was die überlieferte religiöse Sprache verschlüsselt aussprach. Realisation ist die weltliche Konkretion dessen, was in der Sprache der Religion .gegeben' oder .versprochen' ist." 18 Aus dieser Grundthese ergeben sich mehrere Folgerungen: 1. „Dichterische Sprache ... ist theologieverdächtig; sie verspricht mehr, als sie halten kann. Sie plant Realisation unabhängig vom Sprechenden und möglicherweise ihm kaum bewußt. Was noch nicht gelungen ist, will realisiert werden" 19 2. Realisation - und dieser Begriff scheint D. Solle besser geeignet zu sein als der der Säkularisation, weil mit diesem negative Begriffe wie Kritik und Unrecht assoziiert werden, Verarmung und Verlust, demgegenüber aber ein Gewinn gemeint ist, an Sprache und angeeigneter Welt 20 - „benutzt die Tradition, aber nicht ihrem Buchstaben nach, sondern der in ihr angelegten Tendenz nach, also spiritualiter." 21 3.,Richtung kann weltlich realisieren, was die Theologie begrifflich zu sagen versucht und was in der mythischen Sprache der biblischen Tradition unter Verweis auf eine Überwelt ausgesprochen wurde." 22 D. Solle kennzeichnet damit das Verhältnis von Kunst und Theologie als eine dynamischen Prozeß, in dem beide Partner aufeinander angewiesen sind. Die in der Literatur geleistete Realisation hindert die Religion daran, zu erstarren und zum 17 18 19 20 21 22

Solle, D., „Realisation", a.a.O., S. 93. Solle, D„ „Realisation", a.a.O., S. 9f. Solle, D., „Realisation", a.a.O., S. 12. Vgl. Solle, D., „Realisation", a.a.O., S. 10. Solle, D„ „Realisation", a.a.O., S. 19. Solle, D., „Realisation", a.a.O., S. 25.

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Herrschaftsinstrument zu werden. Andererseits bewahrt die Theologie, besser: die christliche Tradition die Kunst vor dem Absinken in alltägliche Banalität. Diesem Ansatz weiterdenkend, hieße das: Die Mythen sind für die Literatur Figurationen von Ängsten, von Wünschen und Träumen, die noch nicht ans Ende gekommen sind, also noch unabgegolten und unausgeschöpft sind. Von daher bilden sie ein kritisches Potential. Die Mythen erzählen nicht, was war, aber sie erzählen, was wahr ist. Andererseits ist die Literatur und im weiteren Sinn die Kunst eine der wichtigsten Möglichkeiten, das alte Mythenmaterial in aktuellen Kontexten zu wiederholen, im Sölleschen Sinne zu realisieren. Gerade aus dem gegenseitig Fremden, ja Widerständigen entspringen kreative Möglichkeiten, den Menschen in seiner Mitte zu betreffen und auszusagen. Obwohl D. Solle religiöse Sprache als .theologieverdächtig' ansieht, untersucht sie jedoch letztendlich nur deren Funktion innerhalb der Literatur. Es müßte aber darüber hinaus nicht nur die Funktion religiöser Sprache befragt, sondern die Möglichkeiten der Theologie im Verhältnis zum poetische Text untersucht werden. Was also wären die Chancen der Theologie in diesem Dialog? Was kann sie über das Bereitstellen religiöser Metaphern, mythischer Motive und biblischer Sprachbezüge hinaus tun, um mit Dichtung im Kommunikation zu treten? Was hat sie einzubringen, worauf zu beharren und was zu lernen? Dies alles sind vor allem für den Bereich der DDR-Literatur noch offene Fragen. Nun ergeben sich sicher mindestens zwei entgegengesetzte Möglichkeiten für die Literatur, mit christlichen Topoi umzugehen, zu denen noch eine große Zahl von Zwischenstufen kommt. So kann Literatur eine verfremdende Verdeutlichung des Evangeliums sein, aber im anderen Extrem eine Antiauslegung von Evangelium darstellen. Literatur kann sich also sowohl in Anknüpfung als auch im Widerspruch zu Biblisch-Christlichem entfalten, literarische Gestaltung kann sich als

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Doppelgänger erweisen, der überraschend das Eigentliche der christlichen Botschaft beleuchtet kann aber auch als Abstoßung, als satirischer Gegenpart funktionieren. Diese möglichen Positionen der Poesie gegenüber der Religion mit all ihren Vermischungen hat christliche Theologie zu bedenken, um Beurteilungskriterien zu gewinnen und um sich des Christlichen im Spiegel seiner Kontraste neu bewußt zu werden. Dabei hat die Theologie auf alle Fälle zu respektieren, daß Kunst nicht mehr eingebunden ist in ein christlich dominiertes Weltbild, sondern in ihrer Ästhetik autonom geworden ist. Längst nicht mehr „Predigen mit dem Mittel der Poesie, sondern Verwandlung des Einen in zeichensetzende Abbilder" 23 , und zwar vom „Rand her, aus verfremdeter Perspektive, nicht unvermittelt, sondern vielfältig gebrochen, hatte Christliches ins Blickfeld zu rücken." 24 Von daher ist klar, daß das Verhältnis von Dichtung und Religion ein spannungsvolles, vieldeutiges, aber eben auch fruchtbares ist, das W. Jens mit „Zweideutigkeit, Ambivalenz, zwieträchtiger Einheit, wechselseitiger Erhellung, Dialektik" 25 umschreibt und dem er eine „teils fromme, teils provokante, j a gelegentlich schockierende Natur . . . " 2 6 und also produktive Schubkraft bescheinigt. Jedenfalls sofern es sich nicht um .Erbauungspoesie' handelt, „die statt das Vorgegebene ins Bild zu transponieren auf rhythmisierte Verdoppelung abhebt und sich, wo Verwandlung angezeigt wäre, mit nachzeichnenden Wiederholungen begnügt." 27 Nein, vielmehr sind es die remythisierten biblischen Motive, die dort Einzug halten. ,.Durch die Übertragung biblischer Vorgänge auf eine andere - . . . mythische

23 24 25 26 27

Jens, W./Küng, H „ „Dichtung und Religion", a.a.O., S. 146. Ebenda. Jens, W./Küng, H., „Dichtung und Religion", a.a.O., S. 7. Ebenda. Jens, W./Küng, H„ „Dichtung und Religion", a.a.O.. S. 146f.

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oder zeitgeschichtliche - Ebene gewinnt das spezifisch Christliche, statt sich in Unverbindlich-Beliebige zu verlieren,..., eine neue und frische Signifikanz." 28 "Dank eines sehr behutsamen, sich erst genauerem Lesen erschließenden Verweises" auf Biblisches gelingt es, .Jahrtausende voneinander getrennte Vorgänge aneinanderzubinden und, was jetzt geschieht, im Zeichen des schattenwerfenden und bedeutungsmächtigen Vorbilds zu deuten, ohne deshalb ... die Distanz zu vergessen." 29 Was Jens hier anhand von Hölderlinscher Dichtung zu Tage fördert, gilt in seiner Grundsätzlichkeit für das längst begonnene Gespräch zwischen Religion und Poesie in der DDR auch. Und so könnte die „von der Poesie beschworene Religion" im besten Fall zu einem „Element humaner Widersetzlichkeit"30 werden und hätte damit für die Theologie eine unersetzliche Wichtigkeit gewonnen. In die Überlegungen einbezogen werden muß in jedem Fall Erich Auerbachs berühmtes Werk „Mimesis - Dargestellte Wirklichkeit in der abendländschen Literatur." 31 Denn es ist E. Auerbach gewesen, der die beiden wichtigsten Keime europäischer Literatur analysiert hat:

1. Die Metfwde

der

Stilmischimg

Erst durch das Christentum wurde die abendländische Literatur fähig, Wirklichkeit in den Blick zu bekommen, indem sie die antike Stiltrennungsregel durchbrach. Die besagte, daß von hohen Dingen im erhabenen, von niedrigen Dingen im niederen Komödienstil zu reden sei. Aber „der eigentliche Mittelpunkt der christlichen Lehre, Inkarnation und Passion, war mit dem Stiltrennungsprinzip ganz unvereinbar. Christus war nicht ein Held und König, sondern als ein Mensch niedrig28 29 30 31

Jens, W./Küng, H., „Dichtung und Religion", a.a.O., S. 148. Jens, W./Küng, H„ „Dichtung und Religion", a.a.O., S. 150. Jens, W./Küng, H., „Dichtung und Religion", a.a.O., S. 202. Auerbach, E., „Mimesis", a.a.O..

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ster sozialer Stufe erschienen." 32 Seine Umwelt war die kleiner Leute. Daß aber nun „der König der Könige wie ein gemeiner Verbrecher verhöhnt, bespien, gepeitscht und ans Kreuz geschlagen wurde - diese Erzählung vernichtet, sobald sie das Bewußtsein der Menschen beherrschte, die Ästhetik der Stiltrennung vollkommen; sie erzeugt einen neuen hohen Stil, der das Alltägliche, j a Häßliche, Unwürdige, körperlich Niedrige in sich aufnimmt; oder, wenn man es lieber umgekehrt ausdrücken will, es entsteht ein neuer ,sermo homilis', ein niederer Stil, wie er eigentlich nur für Komödie und Satire anwendbar wäre, der aber nun weit über seinen ursprünglichen Bereich ins Tiefste und Höchste, ins Erhabene und Ewige übergreift." 33 Der Realismus der abendländischen Literatur geht demnach aus Inkarnation und Passion Christi hervor, auch wenn das der Literatur nicht bewußt sein sollte.

2. Die figurale Deutung Die figurale Wirklichkeitsauffassung, die für Auerbach nicht nur eine innerliterarische Kategorie, sondern eine geistesgeschichliche ist, entstand aus einer Art der Bibelexegese, in der die Traditionen des AT zur Vorverkündigung und Vorausdeutung des Erscheinens Christi gemacht wurden.„Die Figuraldeutung stellt einen Zusammenhang zwischen zwei Geschehnissen oder Personen her, in dem eines von ihnen nicht nur sich selbst, sondern auch das andere bedeutet, das andere dagegen das eine einschließt oder erfüllt." 34 Das heißt, die Geschichte aus dem AT wird als figura oder typos, also als Vorankündigung und Vorausdeutung des mit Christus zusammenhängenden Geschehens, in dem das kausal und zeitlich nicht

32 33 34

Auerbach, E., „Mimesis", a.a.O., S. 73. Auerbach, E., „Mimesis", a.a.O., S. 74. Auerbach, E., „Mimesis", a.a.O., S. 75.

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Nachbemerkung

zusammenhängende Ereignis erfüllt wird. Die veritas, bzw. der antitypos (Christus) deutet und erfüllt den typos. So wird Jona, der drei Tage im Bauch des Fisches war, eine figura christi, der drei Tage im Grab lag und dann auferstand. Aus dieser figuralen Wirklichkeitsdeutung entwickelte sich allmählich die postfigurale Gestaltung als einer Möglichkeit der Literatur. Das heißt, eine historischen Gestalt läuft der veritas nicht voraus, sondern folgt ihr, wird auf Christus zurückbezogen. So ist es in der Literatur der Gegenwart nicht mehr möglich, ernstlich vom konkreten menschlichen Leiden zu reden, ohne damit die Passion Christi zu assoziieren. Bewußt oder unbewußt wird damit immer auf das Urbild angespielt, das dem historisch konkreten, gegenwärtigen Geschehen seine das Leiden umfassende Wahrheit, damit seine Würde und Bedeutung gibt. Auerbachs Erkenntnisse haben auch für die Literatur der DDR eine überragende Bedeutung. Sie erklären, warum die Literatur ohne die „Urbilder" - gleichgültig wie sie evoziert werden - gar nicht auskommen kann. Alles Urbildliche aber ist Mythos - oder wird von Schriftstellern und Lesern notwendig so verstanden.

Beendet im Sommer 1989

Nachbemerkung Das Mythisch-Narrative hat, wie wir sehen konnten, in der Literatur der DDR eine große Rolle gespielt. Bei Einstellung einer gewissen Tiefenschärfe wird deutlich, daß der Einfluß biblischer Mythen, Stoffe, Figuren und Texte untergründig sogar

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Nachbemerkung

zusammenhängende Ereignis erfüllt wird. Die veritas, bzw. der antitypos (Christus) deutet und erfüllt den typos. So wird Jona, der drei Tage im Bauch des Fisches war, eine figura christi, der drei Tage im Grab lag und dann auferstand. Aus dieser figuralen Wirklichkeitsdeutung entwickelte sich allmählich die postfigurale Gestaltung als einer Möglichkeit der Literatur. Das heißt, eine historischen Gestalt läuft der veritas nicht voraus, sondern folgt ihr, wird auf Christus zurückbezogen. So ist es in der Literatur der Gegenwart nicht mehr möglich, ernstlich vom konkreten menschlichen Leiden zu reden, ohne damit die Passion Christi zu assoziieren. Bewußt oder unbewußt wird damit immer auf das Urbild angespielt, das dem historisch konkreten, gegenwärtigen Geschehen seine das Leiden umfassende Wahrheit, damit seine Würde und Bedeutung gibt. Auerbachs Erkenntnisse haben auch für die Literatur der DDR eine überragende Bedeutung. Sie erklären, warum die Literatur ohne die „Urbilder" - gleichgültig wie sie evoziert werden - gar nicht auskommen kann. Alles Urbildliche aber ist Mythos - oder wird von Schriftstellern und Lesern notwendig so verstanden.

Beendet im Sommer 1989

Nachbemerkung Das Mythisch-Narrative hat, wie wir sehen konnten, in der Literatur der DDR eine große Rolle gespielt. Bei Einstellung einer gewissen Tiefenschärfe wird deutlich, daß der Einfluß biblischer Mythen, Stoffe, Figuren und Texte untergründig sogar

Nachbemerkung

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außerordentlich groß war. Dies überrascht nur bei oberflächlicher Betrachtung dieser sich atheistisch gebärdenden Gesellschaft. In Wirklichkeit hat eben dieser banale Atheismus von Anfang an Widerspruch hervorgerufen, die Lust am Verborgenen und Verbotenen genährt. Aber ein noch gewichtigerer Grund ist zu bedenken, den W. Jens so formuliert hat: „In der DDR ist Literatur per se ein politicum, ihre Grenzen sind eng und die Autoren gehalten, in der Sklavensprache zu sprechen. (Wo man Trotzki und Ulbricht nicht nennen will, ist immer noch ein Philoktet oder Odysseus zur Stelle)." 35 Der Rückgriff auf die „Sklavensprache", die die Kunst der Verschleierung, der Anderssagung, des Gleichnisses hervortreibt, hat in der DDR einen hohen Stand erreicht. Erkauft wurde ihr Rückgriff auf Vergangenes - von den alten Geschichten der Griechen über die Bibel bis hin zu den Gestalten der Frühromantik - auch immer mit der Gefahr einer ahistorischen Mythisierung. Der Gewinn ist andererseits aber auch unübersehbar: Der gelungene Versuch, die erlebte und erlittene gesellschaftliche Wirklichkeit durchschaubar zu machen für die dahinter und darunter wirkenden Strukturen menschheitlicher Grundkonflikte, wie sie in den Schlüsselgeschichten der Überlieferung vorgelegt werden. Bleibt die Frage, was sich in den 70er und 80er Jahren in den zeitgenössischen westlichen deutschsprachigen Literaturen abgespielt hat. Waren die auf die Literatur einwirkenden Kräfte ähnlich oder doch wenigstens vergleichbar? Oder gab es dort eine ganz andere Entwicklung? Nun muß hier einschränkend betont werden, daß es eine ganze Reihe für das vorliegende Thema wichtige und aufschlußreiche Bücher gab, die zwar in der DDR geschrieben, aber nur im Westen veröffentlicht werden konnten. (z.B. Stefan

35

Jens, W., „Statt einer Literaturgeschichte...", a.a.O., S. 379.

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Nachbemerkung

Heym „Ahasver", Hartmut Lange „Die Selbstverbrennung"). Daneben gab es andere Bücher, die nicht in der DDR geschrieben oder gedruckt wurden, aber durch die Herkunft ihrer Verfasser von der DDR-Wirklichkeit geprägt waren (Z.B. Texte von Uwe Johnson, „Das Mißverständnis" von Monika Maron u.a.). Auch diese Bücher wären für die Untersuchung von Wichtigkeit gewesen und hätten eine zusätzliche Erkenntnis versprochen. Noch gravierender aber war, daß westliche Literatur nur schwer oder gar nicht beschafft werden konnte, so daß notwendige Differenzierungen nicht vorgenommen werden können. Erst jetzt - im Nachhinein sind einige neugierige aber notgedrungen zufällige und unsystematische Blicke über den Zaun, der weggeräumt wurde, möglich. Vermutet werden mußte zunächst, daß die literarische Entwicklung im Westen anders verlaufen sein müßte, eben weil es der Sklavensprache nicht bedurfte, um die Wahrheit zu sagen, und weil vor allem die vermittelte Art zu sprechen mit Hilfe von Mythen nicht auffallend, nicht schockierend genug ist, als das sie den Lesern massenhaft Aufmerksamkeit abverlangt hätte. Wollte man einen Vergleich finden: Die DDR war wie die Prinzessin auf der Erbse in Andersens Märchen. Schon ein winziger, widerständiger Brocken, verpackt unter zahllosen Matratzen, konnte dem überaus empfindlichen Staats-Organismus Schlaflosigkeit und blaue Flecke bescheren. Wohingegen die westliche Gesellschaft offenbar über einen guten Magen verfügt - Kulturgüter beliebiger Sperrigkeit können problemlos und ohne sichtbare Folgen verdaut werden. Beim ersten Überblick scheint sich dieser Eindruck zu bestätigen. „Die Welt zerdacht. Und Raum und Zeiten/ und was die Menschheit wob und wog./ Funktion nur von Unendlichkeiten/ die Mythe log." 3 6 Jahrzehnte ist es her, daß Gottfried 36

Erste Strophe aus einem Gedicht Gottfried Benns, zitiert nach: Kuschel, K.-J., „Das Reden von Gott in der Literatur...", a.a.O., S. 8.

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Benn diese Worte der Trauer über eine einst erfüllte Wirklichkeit schrieb, die jetzt zerbrochen, zerfallen, zerdacht ist. K.-J. Kuschel registrierte in jüngster Zeit jedoch eine Rückkehr des Interesses an der literarischen Auseinandersetzung mit biblischem Gut. 37 Er zeigt den Wandel an den Werken von Schriftstellern, die in den 50er Jahren religionskritische Texte schrieben, heute aber auf einem sehr differenzierten ästhetischen Niveau den alten Dialog mit der Bibel neu aufnehmen. Kuschel nennt dabei unter anderen Wolfdietrich Schnurre, dessen Entwicklung von der Geschichte „Das Begräbnis" (Kuschel nennt es „Kahlschlagpoesie") bis hin zu seinen Büchern „Der Schattenfotograf' (1978) und „Ein Unglücksfall" (1981) verläuft. Deutlich ist diese Entwicklungslinie auch bei Martin Walser zu beobachten, dessen Weg von dem Roman „Halbzeit" (1960) bis hin zu seiner Büchnerpreisrede (1981) und dem „Gottesprojekt" geht, an dem der Schriftsteller nach eigener Aussage arbeitet. Hier wird der neugewonnene Zusammenhang von Literatur und Religion deutlich: „Ich bin ja der Meinung, daß Literatur bastardisierte Religion ist. Literatur ist entstanden als Auslegung der Religion. Das heißt: Religion ist sprachliche Reaktion auf unser Dasein, so wie Literatur sprachliche Reaktion darauf ist. Religion und Literatur sind nicht Darstellung, sondern Antwort auf die Lebenssituation."38 Gewiß sind solche Tendenzen der Annäherung und Auseinandersetzung auch bei Peter Handke zu Finden („Langsame Heimkehr" 1979). 1987 sagte Peter Härtling in einem Vortrag: „Zwischen Bibel und Literatur gibt es einen tiefen und engen Kontakt. Den hat es immer gegeben. Es ist wirklich die Schrift".39 37 38

Vgl. Kuschel, K.-J., „Das Reden von Gott...", a.a.O., S. 14. Ebenda S. 17.

168

Nachbemerkung

Auch J. Imbach sieht die Kette der Versuche deutscher Literatur nach 1945, biblische Stoffe aufzunehmen, letztlich nie unterbrochen40. (Günther Grass „Die Blechtrommel" u.a. Romane, Peter Handke „Lebensbeschreibung", Ingeborg Drewitz „Eingeschlossen", Luise Rinser „Wie in einem Spiegel" u.a. Texte). W. Wiesmüller weist auf die Kontinuität in der Auseinandersetzung mit der Bibel bei Christine Lavant hin 41 . Wenn man erst einmal zu suchen beginnt, findet man überraschenderweise mehr und mehr. So fern und so gegenläufig und so ohne innere Verbindung verlief die Entwicklung in Ost und West offenbar doch nicht. Und doch wollen wir graduelle Unterschiede nicht übersehen. Was in der westlichen deutschsprachigen Literatur ein Randphänomen war und sie in die postchristliche Epoche verweist, ist in der östlichen deutschsprachigen Literatur viel deutlicher eines der geheimen Zentren, um die sich die Auseinandersetzung dreht. Für W. Jens (West) ist „der salto mortale in die archaische Vorwelt nur Eingeständnis eigener Ohnmacht" 42 . Für den Generationsgenossen F. Fühmann (Ost) ist der Mythos dagegen das Geheimnis großer Dichtung. Deutlicher läßt sich der Unterschied kaum bezeichnen.

Januar 1993

39 40 41 42

Ebenda S. 41. Imbach, J., „Schriftsteller als Schriftgelehrte...", a.a.O., S. 10. Wiesmüller, W., „Zur Adaptierung der Bibel...", a.a.O., S. 12. Jens, W., „Statt einer Literaturgeschichte...", a.a.O., S. 19.

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