Der Briefwechsel zwischen Adolf von Harnack und Martin Rade: Theologie auf dem öffentlichen Markt [Reprint 2018 ed.] 9783110809688, 9783110151909

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Der Briefwechsel zwischen Adolf von Harnack und Martin Rade: Theologie auf dem öffentlichen Markt [Reprint 2018 ed.]
 9783110809688, 9783110151909

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Editorische Vorbemerkungen
Einleitung
1. Zwei Theologen auf dem öffentlichen Markt
2. Adolf von Harnack
3. Martin Rade
4. Prägende Jahre in Leipzig
5. Von Leipzig nach Gießen und Schönbach
6. Die Gründung der Christlichen Welt
7. Harnacks Berufungen nach Marburg und Berlin
8. Rades Wechsel nach Frankfurt
9. Der Evangelisch-soziale Kongreß
10. Der Apostolikumstreit von 1892 und die „Freunde der Christlichen Welt“
11. Die „Vereinigung der Freunde der Christlichen Welt“
12. Einsatz für die Freiheit der protestantischen Theologie
13. Harnacks Vorlesung über „Das Wesen des Christentums“
14. Harnack als Wissenschaftsorganisator
15. Harnack und Rade im Bemühen um Völkerverständigung
16. Stellung zu theologischen Neuansätzen
17. Der Erste Weltkrieg
18. Politisches Engagement in der Weimarer Republik
Der Briefwechsel
1879
1880
1881
1882
1883
1884
1885
1886
1887
1888
1889
1890
1891
1892
1893
1894
1895
1896
1897
1898
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1908
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1910
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1912
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1922
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1927
1928
1929
1930
Abkürzungsverzeichnis
Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur
Verzeichnis der Fundstellen
Personalregister

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Der Briefwechsel zwischen Adolf von Harnack und Martin Rade

W G DE

Der Briefwechsel zwischen Adolf von Harnack und Martin Rade Theologie auf dem öffentlichen Markt

Herausgegeben und kommentiert von

Johanna Jantsch

Walter de Gruyter • Berlin • New York 1996

Veröffentlichung der Forschungsstelle für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte an der Philipps-Universität M a r b u r g

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme

Harnack, Adolf von: Der Briefwechsel zwischen Adolf von Harnack und Martin Rade : Theologie auf dem öffentlichen Markt / hrsg. und kommentiert von Johanna Jantsch. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1996 ISBN 3-11-015190-1 NE: Rade, Martin:; Jantsch, Johanna [Hrsg.]; Harnack, Adolf von: [Sammlung]; Rade, Martin: [Sammlung]

© Copyright 1996 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Datenkonvertierung und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz 8c Bauer-GmbH, Berlin

Inhaltsverzeichnis Editorische Vorbemerkungen

1

Einleitung

5

1. Zwei Theologen auf dem öffentlichen Markt

5

2. Adolf von Harnack

8

3. Martin Rade

11

4. Prägende Jahre in Leipzig

12

5. Von Leipzig nach Gießen und Schönbach

18

6. Die Gründung der Christlichen Welt

21

7. Harnacks Berufungen nach Marburg und Berlin

26

8. Rades Wechsel nach Frankfurt

30

9. Der 9.1. 9.2. 9.3. 9.4. 9.5. 9.6.

31 31 36 37 38 41 44

Evangelisch-soziale Kongreß Gründung und Programm Die Frauenfrage auf dem Kongreß Der Kongreß vor der Zerreißprobe: die Krise 1895 Der Kongreß und die Sozialdemokratie Im Kampf um sozialpolitische Aktivität Harnack als Kongreß-Präsident

10. Der Apostolikumstreit von 1892 und die „Freunde der Christlichen Welt"

46

11. Die „Vereinigung der Freunde der Christlichen Welt"

55

12. Einsatz für die Freiheit der protestantischen Theologie 12.1. Die Agendenreform von 1894 und die „Fälle" der Jahre 1894-1906 12.2. Das „Irrlehregesetz" und der Fall Jatho 12.3. Der Fall Traub

62 65 66 74

13. Harnacks Vorlesung über „Das Wesen des Christentums"

77

14. Harnack als Wissenschaftsorganisator

79

15. Harnack und Rade im Bemühen um Völkerverständigung 15.1. Rades Einsatz für nationale Minderheiten 15.2. Hilfe für das armenische Volk

83 84 89

VI

Inhaltsverzeichnis

15.3. Deutsch-englische Verständigungsbemühungen vor dem Ersten Weltkrieg 16. Stellung zu theologischen Neuansätzen

92 96

17. Der Erste Weltkrieg 17.1. Stellung zum Kriegsausbruch 17.2. Die Kriegsziel-Problematik 17.3. Haltung zum weiteren Kriegsverlauf und zum Kriegsende . .

105 105 112 116

18. Politisches Engagement in der Weimarer Republik

121

Der Briefwechsel

131

Abkürzungsverzeichnis

845

Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur

847

Verzeichnis der Fundstellen

853

Personalregister

855

Adolf von H a r n a c k als Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft; u m 1915

Martin Rade u m 1907

Editorische Vorbemerkungen Das in diese Edition aufgenommene Material besteht zum überwiegenden Teil aus Briefen, (Post-)Karten, Notizen und Manuskripten, die Adolf von Harnack an Martin Rade sowie Rade an Harnack sandte. Bei einigen Schreiben sind Harnack bzw. Rade Mitunterzeichner oder Mitadressaten; einige wenige Stücke richten sich an ihre Ehefrauen, Dora Rade oder Amalie von Harnack. Einige Briefe anderer Autoren sowie Briefentwürfe, die sich an andere Adressaten richten, wurden aufgrund ihres engen Zusammenhangs mit dem Briefwechsel in die Edition aufgenommen. Der Briefwechsel setzt ein mit einem Brief Rades an Harnack vom 28. April 1879 und endet mit dem Kondolenzschreiben Rades an Amalie von Harnack vom 11. Juni 1930, umfaßt also über 50 Jahre. Da es sich um einen so langjährigen Austausch handelt, werden die über 670 Schriftstücke nicht nur in erläuternden Anmerkungen, die die darin enthaltenen Anspielungen erklären wollen, sondern auch in einer Einleitung kommentiert, die die Zusammenhänge und Hintergründe wichtiger im Briefwechsel angesprochener Themenbereiche erhellen soll. Die Kapitel der Einleitung orientieren sich dementsprechend an wichtigen Etappen im Leben Harnacks und Rades. Diese sind ihrem zeitlichen Beginn gemäß chronologisch angeordnet; um des systematischen Zusammenhangs in den einzelnen Kapiteln willen wurde jedoch auf eine strenge Chronologie verzichtet. Der Briefwechsel zeichnet sich durch eine „relative Vollständigkeit" 1 aus. Rade schenkte der Universitätsbibliothek Marburg 1939 die in seinem Besitz befindliche Korrespondenz mit Harnack. Er erläuterte diese Entscheidung im einem Brief an den Direktor der Universitätsbibliothek Marburg, Fritz Rohde: „Unsre Kinder und Enkel leben in der Schweiz, und ich möchte diesen Nachlaß nicht dem Auslande zuwenden. Marburg ist mir der liebste Ort dafür: Harnack war einst dort Professor, und ich war es auch. Welche Stätte sollte mir aber dort eine willkommenere Zuflucht für diese Blätter sein als Ihre Bibliothek?" 2

Die immer wieder begegnenden Lücken im Briefwechsel — z. B. die besonders empfindlichen aus der Zeit des Ersten Weltkriegs und der zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts — erklärte Rade dadurch, „daß der briefliche Ver1

2

Begleitschreiben Martin Rades zum Briefwechsel Harnack-Rade in der Universitätsbibliothek Marburg v o m 23. März 1939, in: UB Marburg, Nachlaß Rade, Signatur Hs. 684:320. Brief Rades vom 27. März 1939, in: ebd., Signatur Hs. 684:519.

2

Editorische Vorbemerkungen

kehr andauernd durch den mündlichen unterbrochen w u r d e . " 3 Weitere Verluste entstanden durch die Kriegseinwirkungen in Nordhausen, wohin umfangreiche Materialien aus dem Nachlaß (Briefe, Postkarten, Manuskripte) an J o hannes R a t h j e gegeben worden waren, der seit 1943 an der Biographie Martin R a d e s 4 arbeitete. Als R a t h j e aus der damaligen sowjetisch besetzten Z o n e floh und nach Peine übersiedelte, mußte er den größten Teil dieser Materialien in Nordhausen zurücklassen, wo sie seitdem verschollen sind. 5 So sind von einigen Schreiben Harnacks nur die bei R a t h j e gebotenen Zitate erhalten. Ähnliches gilt für ein Schreiben Harnacks an Rade vom 24. M ä r z 1886, das 1980 verlorenging; es wird bei Schwobei zitiert. 6 Das Fehlen der Briefe Rades aus den ersten Jahres des Briefwechsels beruht darauf, daß Harnack bis zum J a h r 1888 die an ihn gerichteten Schreiben nicht systematisch sammelte und nur wenige aufbewahrte. 7 Der Staatsbibliothek zu Berlin, der ehemaligen Königlichen Bibliothek, deren Direktor Harnack von 1905 bis 1921 war, wurde von Harnacks Erben sein wissenschaftlicher Nachlaß übergeben. Einen umfangreichen Teil davon bildet der Briefwechsel mit Rade, der „Persönlichkeit, mit der mein Vater mit am häufigsten korrespondiert hat — gehörte er doch zu seinen ältesten Schülern." 8 Ein Brief Harnacks an Rade schließlich befindet sich in der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt in Halle im Nachlaß Friedrich Loofs. Die Schreiben werden in chronologischer Abfolge aufgeführt. Die Präsentation lehnt sich möglichst nahe an das Original an. Im Kopf jedes Schreibens wird die Art des Schriftstücks vermerkt. Wenn nicht anders erwähnt, sind die Schreiben handschriftlich vom jeweiligen Autor verfaßt. Fehler und Schreibweisen, die von den Rechtschreibregeln der damaligen Zeit abweichen, werden mit „[sie]" kommentiert oder — falls es sich lediglich um fehlende Buchstaben handelt — durch Ergänzungen in eckigen Klammern korrigiert. Abkürzungen, bis auf allgemein geläufige, wurden aufgelöst. Auflösungen und Ergänzungen der Herausgeberin stehen in eckigen Klammern. Sollten eckige Klammern in den Originalen begegnen, ist dies vermerkt. Einen Sonderfall bildet die Schlußendung ,,-ung" in den Schreiben Harnacks. Da er sie fast durchgängig abkürzte, d. h. nur das „g" schrieb, wurde auf ein Kenntlichmachen der Auflösung verzichtet.

3

Begleitschreiben zum Briefwechsel H a r n a c k - R a d e vom 2 3 . M ä r z 1 9 3 9 , in: ebd., Signatur Hs. 6 8 4 : 3 2 0 .

4

Rathje, J . : Die Welt des freien Protestantismus. Ein Beitrag zur deutsch-evangelischen Geistesgeschichte. Dargestellt an Leben und Werk von Martin Rade, Stuttgart 1 9 5 2 . Vgl. Ausstellungskatalog, 2 1 7 , 2 2 6 . Vgl. Schwöbel: Rade, 4 6 .

5 6 7

Vgl. H a r n a c k , A. von: Der handschriftliche Nachlaß Adolf v. Harnacks, in: Zentralblatt für Bibliothekswesen 5 9 ( 1 9 3 9 ) , 61f.

8

Brief Axel von H a r n a c k s vom 6. April 1 9 3 9 an den Direktor der UB M a r b u r g , in: UB Marburg, Nachlaß Rade, Signatur Hs. 6 8 4 : 5 2 1 .

Editorische Vorbemerkungen

3

Für seine privaten Notizen und Aufzeichnungen, auch für Manuskripte von Vorträgen u.ä. benutzte Harnack ein von ihm selbst entwickeltes Abkürzungssystem (z. B. W = Welt, > = gegen, r| = als; s l = sein, e = ist). Soweit möglich, werden diese Abkürzungen wiedergegeben und anschließend aufgelöst. Wo aus editionstechnischen Gründen nur die Auflösung wiedergegeben wurde, ist dies vermerkt. Die meisten der sich auf den Karten und Briefen befindlichen Erläuterungen und Hinweise — meist mit Rotstift ausgeführt — fügte Rade offensichtlich ein, als er den Briefwechsel vor der Übergabe an die Universitätsbibliothek Marburg sichtete. Auch viele der Hervorhebungen und Unterstreichungen, mit denen wichtige Stichworte, auf die im entsprechenden Abschnitt eingegangen wird, markiert sind und die hauptsächlich mit Rot- und Blaustift erfolgten, stammen von Rade. Sie dürften jedoch bereits aus der Zeit des Empfangs des jeweiligen Schreibens stammen. Hervorhebungen bei Zitaten in den erläuternden Anmerkungen der Herausgeberin, die aus Zeitungsartikeln oder anderen Veröffentlichungen stammen und die im Original z. T. gesperrt gedruckt sind, werden durchgängig kursiv wiedergegeben. Eine solche Edition kann nicht ohne Unterstützung von vielen Seiten erstellt werden. Besonderer Dank gebührt Prof. Dr. Peter Krüger, der sie als Leiter der Forschungsstelle für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte an der Philipps-Universität Marburg von Beginn an mit sachkundigem Rat, Hilfe und Anregungen begleitete. Dr. Uwe Bredehorn, Leiter der Abteilung Handschriften, Rara und Bestandserhaltung der Universitätsbibliothek Marburg, bin ich für seine kompetente und freundliche Unterstützung verpflichtet, mit der er auch aufwendige Anfragen von mir beantwortete. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin, Haus 1, danke ich für ihre Hilfestellungen. Klaus Wittrock, Leiter der Fachbereichsbibliothek Evangelische Theologie der Philipps-Universität half kenntnisreich bei der Literaturrecherche. Stellvertretend für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der verschiedenen Archive, die mir mit Auskünften weitergeholfen haben, sei Christiane M o k r o ß , Evangelisches Zentralarchiv in Berlin, Ekkehard Kätsch, Leiter des Zentralarchivs der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Darmstadt, und Oberkirchenrat Dieter Zuber, Evangelisch-Lutherisches Landeskirchenamt Sachsens, Dresden, herzlich gedankt. Meinem Ehemann danke ich für die Geduld, mit der er meine Arbeitsphasen, die sich oft genug bis in die frühen Morgenstunden hinzogen, begleitete.

Einleitung 1. Zwei Theologen auf dem öffentlichen Markt Im Briefwechsel zwischen Adolf von Harnack und Martin Rade begegnen den Leserinnen und Lesern zwei Protestanten, die zu den herausragenden Gestalten des wilhelminischen Deutschlands und der Weimarer Republik zu zählen sind. Beide waren Theologen, doch blieb ihr Wirken nicht auf den theologischen oder kirchlichen Bereich beschränkt. Rade verfügte als Herausgeber der Wochenzeitschrift „Die Christliche Welt", der „bedeutendsten Zeitschrift des Kulturprotestantismus" 9 , über Gehör in den evangelischen Kirchen und übte großen Einfluß auf das protestantische Bildungsbürgertum aus. Er, der „als einer der letzten noch das bildungsbürgerliche Ideal der Einheit von Wissenschaft, Publizistik und Politik" verkörperte, 1 0 meldete sich in seiner Zeitschrift nicht nur zu religiösen, theologischen und kirchlichen, sondern auch zu gesellschaftlichen, kulturellen sowie politischen Themen zu Wort und trat nach der Jahrhundertwende aktiv in die Politik ein. Harnack wurde durch sein vielfältiges Engagement vor allem in der Wissenschaftsorganisation des wilhelminischen Deutschlands einer der einflußreichsten und bekanntesten Gelehrten seiner Zeit. Harnack und Rade gehören in den Kreis der sogenannten liberalen Theologen, wobei diese Bezeichnung hier als Benennung der Theologengruppe um die Jahrhundertwende verstanden wird, die in ihrem Denken und Arbeiten entscheidende Impulse von Albrecht Ritsehl empfangen und umgesetzt hatte. Von ihnen selbst ist der Begriff „liberale Theologen" als Bezeichnung lange abgelehnt worden, da sie darunter die in Aufklärung und deutschem Idealismus wurzelnde, von Schleiermacher ausgehende ältere liberale Theologie verstanden, für die Protestantenverein und Tübinger Schule (F. Chr. Baur, D. F. Strauß, B. Bauer) stehen. 1 1 Diese Richtung wollten sie mit ihrem Ansatz (vgl. Kapitel 4) überwinden, und sie verstanden sich, da sie alle kirchliche Parteibildungen hinter sich lassen wollten, 1 2 gerade auch als Gegnerin des 9

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Ruddies, H.: Liberales Kulturluthertum. Martin Rade, in: Profile des neuzeitlichen Protestantismus, Bd. 2 / 2 , hrsg. von F. W. Graf, Gütersloh 1993, 399. Hübinger, G.: Kulturprotestantismus und Politik. Z u m Verhältnis von Liberalismus und Protestantismus im wilhelminischen Deutschland, Tübingen 1994, 134. Vgl. Rade, M.: Liberalismus, 169ff.; ders.: Religiöser Liberalismus, 250ff.; Nr. 1 8 1 - 1 8 3 und Nr. 413. Dies formulierte Rade programmatisch 1886 in Zusammenhang mit der Gründung der CW, vgl. Rade: Rundschreiben, 12: „Das Blatt will keiner Partei oder Schule dienen, bezweckt auch keine neue Parteibildung."

6

Einleitung

kirchlichen Liberalismus. 1 3 Die Gruppe um Rade und Harnack bezeichnete sich selbst eher als Vertreter der „modernen Theologie" oder des „freien Protestantismus". Das Etikett „liberale Theologie" wurde ihnen im zeitgenössischen Sprachgebrauch vor allem von den Vertretern der frühen dialektischen Theologie gegeben, die sich damit in polemischer Weise von ihnen absetzen wollten. 1 4 Mit der älteren liberalen Theologie verband sie die vom Neuhumanismus übernommene Hochschätzung der autonomen Persönlichkeit, die sich nur ihrem Gewissen verpflichtet weiß, die Überzeugung vom menschlichen Fortschritt in der Geschichte, das Bemühen, theologische Aussagen den Menschen ihrer Zeit verstehbar und akzeptabel zu machen, indem deren Weltsicht und Wirklichkeitsverständnis ernst genommen und in die theologische Reflexion einbezogen wurden, sowie die Bekämpfung der orthodoxen bekenntnisorientierten Theologie. 1 5 Diese Gemeinsamkeiten machten eine Annäherung an den älteren kirchlichen Liberalismus möglich, so daß gemeinsame Aktionen — etwa angesichts von Angriffen auf die Freiheit der wissenschaftlichen theologischen Forschung und Lehre — geplant werden konnten 1 6 und Rade 1905 dem Protestantenverein beitrat. 1 7 Die kontroverse Diskussion um die Beteiligung am Fünften Weltkongreß für freies Christentum und religiösen Fortschritt, der 1910 in Berlin stattfand, zeigt das Bestreben um Klärung der Gemeinsamkeiten und Differenzen gegenüber dieser Richtung und das deutliche Bemühen, sich allein in kirchenpolitischen Fragen, in denen gleiche Ziele verfolgt wurden, unter dem Begriff Liberalismus zusammenfassen zu lassen. 18 In Fortführung dieser Linie war Rade gegen Ende seines Lebens dazu bereit, sich und den Kreis um die CW dem „religiösen Liberalismus" zurechnen und sich unter Umständen als liberal bezeichnen zu lassen, insoweit das gemeinsame Kennzeichen das (wissenschaftliche) Streben nach Wahrheit und Wahrhaftigkeit sei. 19 13

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Rade, M.: (Art.) Liberalismus. III. Kirchlicher Liberalismus, in: RGG, 2. Aufl., Bd. 3, 1929, 1628. Vgl. Birkner, H.-J.: „Liberale Theologie", in: Kirche und Liberalismus im 19. Jahrhundert, hrsg. von M. Schmidt und G. Schwaiger (= Studien zur Theologie und Geistesgeschichte des Neunzehnten Jahrhunderts, Bd. 19), Göttingen 1976, 33f. Vgl. z. B. die prononcierte „Eisenacher Erklärung", in: C W 9 (1892), 949f. (vgl. dazu Kap. 10). Vgl. Nr. 1 8 1 - 1 8 3 . Vgl. Rade: Religiöser Liberalismus, 258, Anm. 2. Vgl. Rade, M.: In Sachen unsrer Vereinigung, in: AdF, Nr. 20 (30. April 1907), 195f.; ders.: Jahresbericht, in: ebd., Nr. 22 (10. November 1907), 2 0 9 - 2 1 1 ; ders.: Zwei Briefe, in: ebd., Nr. 23 (4. April 1907), 2 2 5 - 2 3 0 ; ders.: Eisenach 1908, in: ebd., Nr. 25 (28. Oktober 1908), 243f.; Erklärung, in: ebd., 247; Schian, M.: Z u r Frage des religiös-liberalen Kongresses, in: ebd., Nr. 26 (20. November 1908), 250f.; Rade, M.: Z u dem Beschluß vom 9. November, in: ebd., 251 — 253; ders.: Bitte an unsre Eisenacher Minderheit, in: ebd., 255; ders.: Kongreß, Kirchenpolitik und Vereinigung, in: ebd., Nr. 27 (8. Februar 1909), 2 7 4 - 2 7 6 ; ders.: Jahresbericht 1908/09, in: ebd., Nr. 30 (31. Oktober 1909), 303f.; ders.: Eisenach 1909; in: ebd., 3 0 6 - 3 0 8 ; ders.: Weltkongreß Berlin 1910, in: ebd., 318f. Rade: Religiöser Liberalismus, 260. Rades Stellung zu der Bezeichnung „liberal" analysiert Hübinger, G.: Die liberale Paradoxie. Veralltäglichung liberaler Ideen und Nieder-

Zwei Theologen auf dem öffentlichen Markt

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Harnack, Rade und ihre Gesinnungsgenossinnen und -genossen gehörten soziologisch gesehen dem Bildungsbürgertum an. Sie strebten im Gefolge Ritschis einen Ausgleich zwischen protestantischem Christentum und bürgerlichen Kulturidealen an. Deshalb wird in der Forschung der Begriff „Kulturprotestantismus" im engeren Sinne auf sie angewandt. 2 0 Sie waren davon überzeugt, daß das protestantische Christentum wesentliche Beiträge zur Überwindung der Krisen und Konflikte, die durch die verstärkte Industrialisierung und die dadurch bedingte Umwandlung des deutschen Reiches in eine heterogene Klassengesellschaft mit großen Gegensätzen verursacht worden waren, liefern und zum Ausgleich zwischen den gesellschaftlichen Gruppen beitragen könne. Aus dieser Haltung heraus wurde der Evangelisch-soziale Kongreß unter maßgeblicher Beteiligung Harnacks und Rades gegründet. Die Überzeugung von der „gesamtkulturellen Führungsrolle" 2 1 des protestantischen Christentums, die sie mit vielen ihrer Zeitgenossen teilten, ohne daß sie dabei einer einfachen Harmonisierung von Religion und Kultur gehuldigt hätten, 2 2 spiegelte sich in der starken öffentlichen Anteilnahme an innerkirchlichen und fachtheologischen Auseinandersetzungen. Waren sich alle protestantischen Theologen im Kaiserreich einig in der Hochschätzung der gesellschaftlichen und kulturellen Relevanz ihrer Wissenschaft, so wurden doch die innertheologischen Auseinandersetzungen über die Aufgabe der Theologie, der in ihr anzuwendenden Methoden, die Stellung zu überlieferten Glaubensaussagen und deren Formen sowie über das Verhältnis von Theologie und Landeskirche immer erbitterter geführt. Harnack und Rade kämpften für die Berechtigung der historisch-kritischen Methode, und es ist mit ihr Verdienst, daß sich diese Methode in der universitären Theologie durchsetzen konnte. Von orthodoxer, konservativer, sich dem Bekenntnis der evangelischen Kirche verpflichtet wissender oder — wie man damals oft formulierte — „positiver" Seite wurde ihnen vorgeworfen, damit die Fundamente des Christentums zu untergraben. Die Vertreter der neueren liberalen Theologie dagegen lehnten den „positiven" Standpunkt als Einschränkung der Freiheit der Forschung wie auch des religiösen Gewissens ab und befürchteten, dadurch würden die von der Moderne geprägten Menschen endgültig die Beziehung zum christlichen Glauben verlieren, da die dogmatische Betrachtungsund Ausdrucksweise ihnen unverständlich und unglaubwürdig erschiene. Harnacks wie Rades Theologie zeichnet sich durch einen starken missionarischen Impetus aus. In Fortführung des Ansatzes Albrecht Ritschis, die Er-

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21 22

gang der liberalen Bewegung, in: Liberale Theologie. Eine Ortsbestimmung, hrsg. von F. W. Graf ( = Troeltsch-Studien, Bd. 7), Gütersloh 1993, 5 2 - 6 4 . Graf, F. W.: (Art.) Kulturprotestantismus, in: TRE, Bd. X X , 1990, 231; ders.: Protestantische Theologie, 84. Z u m Begriff Kulturprotestantismus vgl. Grafs Analyse: Kulturprotestantismus. Zur Begriffsgeschichte einer theologiepolitischen Chiffre, in: Archiv für Begriffsgeschichte 28 (1984), 2 1 4 - 2 6 8 . Graf: Protestantische Theologe, 19. Vgl. Graf: Kulturprotestantismus, 233.

8

Einleitung

gebnisse der historischen und exegetischen Forschung für die Theologie fruchtbar zu machen, waren sie davon überzeugt, daß die Theologie in einen Kommunikationsprozeß mit den modernen Wissenschaften sowie den Fragen, Bedürfnissen und Denkstrukturen der Menschen eintreten müsse. Doch Harnack und Rade wollten den Menschen ihrer Zeit nicht nur den christlichen Glauben in einer ihnen verstehbaren Weise nahebringen. Ihre Theologie blieb deshalb nicht auf den kirchlichen Bereich beschränkt; sie war bereits von ihrem Ansatz her auf gesamtgesellschaftliche Wirkung angelegt. „Die Theologie ist in keine Wissenschaft wie die Mathematik, die ihre Arbeit unter Ausschluß der Öffentlichkeit treibt; sie steht auf dem öffentlichen Markt vor dem ganzen Volk, weil die Fragen, die sie behandelt, Lebensfragen sind." 23

So waren Harnack wie Rade, die beide bestrebt waren, ihre Überzeugungen durch konkretes Tun umzusetzen, 2 4 zum Einsatz auch im nicht-kirchlichen Bereich motiviert. Rade, der nach und nach zu der Überzeugung gelangte, daß sich Theologen auch in Gesellschaft und Politik einmischen müßten, engagierte sich im politischen Bereich. Harnack wurde im preußischen Bibliotheksdienst und in der Wissenschaftsorganisation aktiv. Beide arbeiteten im Evangelisch-sozialen Kongreß mit. Der Briefwechsel zwischen Rade und Harnack, der über 50 Jahre umspannt, gibt Einblick in das Denken und Arbeiten zweier bedeutender Theologen, die sie umtreibenden Fragestellungen und Probleme sowie ihr Umfeld. Er erhellt Hintergründe ihres weitgefächerten Engagements in Gesellschaft und Politik, Theologie und Kirche, Wissenschaft und Kultur und kann so auch einen Beitrag zur Erforschung des deutschen Kaiserreichs und der Weimarer Republik leisten.

2. Adolf von Harnack Adolf (von) 25 Harnack wurde am 7. Mai 1851 in Dorpat (heute Tartu in Estland) als Sohn von Marie und Theodosius Harnack geboren. 2 6 Sein Vater lehrte an der Universität in Dorpat Praktische, später Systematische Theologie. Von 1853 bis 1866 hatte er einen Lehrstuhl in Erlangen inne, dann folgte 23

24 25

26

Notizen Harnacks zum Verhältnis von Theologie und Wissenschaft, die sich auf dem Papier von Nr. 505 befinden, in: K 13, Konvolut „Die Bedeutung der Theologie für die Religion". Die von Harnack in diesen Notizen gebrauchten Abkürzungen (vgl. o., S. 3) wurden aufgelöst. Vgl. Nr. 464f. Der erbliche Adel wurde Harnack am 22. März 1914 anläßlich der Einweihung des Neubaus der Königlich Preußischen Staatsbibliothek, deren Direktor er damals war, verliehen. Zum Lebenslauf Harnacks vgl. die Biographie von der Hand seiner Tochter: Zahn-Harnack.

Adolf von H a r n a c k

9

er einem R u f zurück nach Dorpat. Theodosius Harnack war überzeugter Neulutheraner und als solcher scharfer Kritiker der Theologie Ritschis, des von seinem Sohn später hoch verehrten Göttinger Systematikers. Adolf Harnack folgte seinem Vater insoweit, als er in seiner Theologie der Kirche einen hohen Stellenwert einräumte. Er verstand seine Arbeit als Einsatz für die konkrete protestantische Kirche seiner Zeit. Trotz aller Kritik an den Verhältnissen und Strukturen in den evangelischen Landeskirchen wollte er „der Kirche, unseren vielfach kümmerlichen Reformationskirchen, d i e n e n . " 2 7 Adolf Harnack entschied sich sehr bewußt für das Theologiestudium. In seinem letzten Schuljahr schrieb er einem Freund, er habe dieses Studium gewählt — selbst auf das Risiko hin, daß das Christentum ein Irrtum sei —, weil es „von größtem Interesse" sei, „der Geschichte dieses Irrtums nachzugehen und sich zu überzeugen, welche weltbewegenden Ereignisse, Umwälzungen dieser Irrtum hervorgerufen hat, in welche ungewohnten Bahnen er den Geist der Jahrhunderte gelenkt hat, wie er unsere ganze heutige Kultur und Bildung durchzogen hat und untrennbar von ihr ist. [ . . . ] J e länger ich lebe [ . . . ] desto mehr erfahre ich es täglich, wie alle Probleme und Konflikte immer schließlich auf das Gebiet des Religiösen rekurrieren und dort zum Austrag kommen, und wie deshalb ein christlicher Standpunkt niemals ein überwundener sein kann. Und darum bin ich ein begeisterter Theologe; denn ich hoffe, in dieser Wissenschaft den Weg zur Lösung der Hauptprobleme unseres Lebens zu finden. [ . . . ] Nicht eine Fülle fertig gemachter Glaubenssätze begehre ich, sondern jeden einzelnen Satz in dem Gewebe will ich mir selbsttätig produzieren und zu eigen m a c h e n . " 2 8

Hier deutet sich skizzenhaft das Programm an, daß H a r n a c k in seinem Leben verfolgte: Die Theologie soll den Menschen helfen, ihre grundsätzlichen Probleme und Fragen zu lösen. Das Christentum wird als geschichtliches Phänomen verstanden, das große Auswirkungen auf die allgemeinen historischen Entwicklungen hatte und hat und nun eng mit Bildung und Kultur verbunden ist. Dieses Phänomen kann und muß historisch-kritisch untersucht werden. Diese Untersuchung schließt Glaubensaussagen ein, die erst dann akzeptiert werden, wenn sich ihr Wahrheitsgehalt angesichts moderner wissenschaftlicher Forschungsmethoden sowie ihre religiöse Bedeutung erwiesen haben. Harnack begann sein Studium 1899 an der heimatlichen Universität in Dorpat, wo er unter Anleitung des Kirchenhistorikers Moritz von Engelhardt in Text- und Quellenkritik eingeführt wurde. Er eignete sich dort die Grundlagen seines späteren wissenschaftlichen Arbeitens an. In diese Zeit datiert auch seine erste Begegnung mit dem Werk Albrecht Ritschis. 2 9 27

Brief an Rade vom 2 1 . Oktober 1 8 9 9 (Nr. 2 4 9 ) . Vgl. auch Neufeld, 1 1 9 - 1 2 1 , 1 7 9 , und Z a h n - H a r n a c k , 2 9 . — Z u Theodosius' H a r n a c k s Sicht von der Kirche vgl. seine Werke: Die Kirche, ihr A m t , ihr Regiment. Grundlegende Sätze mit durchgehender Bezugnahme auf die symbolischen Bücher der lutherischen Kirche, zur Prüfung und Verständigung hinaus gegeben, Nürnberg 1 8 6 2 ; Die freie lutherische Volkskirche. Der lutherischen Kirche Deutschlands zur Prüfung und Verständigung vorgelegt, Erlangen 1 8 7 0 .

28

Zahn-Harnack, 23. H a r n a c k schrieb im Dezember 1 8 8 5 an Ritsehl: „Mit dem Studium Ihrer ,Entstehung der Altkatholischen Kirche' hat vor 17 Jahren meine theologische Arbeit begonnen, und

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Einleitung

Zum Wintersemester 1872/73 wechselte Harnack an die Universität in Leipzig. Dort schloß er sein Studium im folgenden Jahr mit der Promotion ab. Bereits 1874 folgte die Habilitation für das Fach Kirchengeschichte. War Harnack in der Tradition des Neuluthertums aufgewachsen und hatte sein Wechsel in die ebenfalls vom streng-konfessionellen Neuluthertum in der Tradition der Erlanger Schule bestimmte theologische Fakultät in Leipzig diese Prägung zunächst fortgesetzt, so emanzipierte er sich nach und nach von dieser Richtung und entwickelte eine streng historisch ausgerichtete Theologie, die sich bemühte, die Relevanz des christlichen Glaubens für die Menschen der modernen Zeit aufzuzeigen. Dies bedeutete für Harnack, daß er bestrebt war, mit Hilfe der historisch-kritischen Methode die wesentlichen Elemente des christlichen Glaubens — später faßte er sie kurz und griffig als „Wesen des Christentums" zusammen — herauszuarbeiten. Diese wesentlichen Elemente fand er vor allem in der Anfangszeit des Christentums, in der Lehre Jesu. 3 0 Traditionen, die sich im Laufe der Geschichte gebildet hatten — und zu ihrer Zeit Relevanz besaßen — verdeckten und verfälschten seiner Ansicht nach häufig das Eigentliche. Die Theologie als historisch arbeitende Wissenschaft zeige diese belastenden Traditionen auf und helfe so, den Glauben von ihnen zu befreien. Mit Harnacks tiefer Überzeugung, daß dies dem Wissenschaftler möglich sei, daß er unterscheiden könne, „was ursprünglich ist und was späterer Zusatz oder Übermalung" 31 , korrespondierte seine ebenso tiefgehende Ansicht, daß der christliche Glaube, sei er nur gereinigt von dem Ballast der Tradition, der ihn für gebildete und wissenschaftlich denkende Menschen unglaubwürdig mache, für jeden Menschen bedeutsam sei und daß im Prinzip diese Bedeutsamkeit auch jedem Menschen deutlich werden könne. Dieses missionarische Bemühen, unter das er seine Arbeit stellte, verstand Harnack als Dienst und Einsatz für die evangelischen Kirchen. Wollten sie nicht jede Bedeutung verlieren, mußten sie sich seiner Ansicht nach mit den durch die wissenschaftliche Entwicklung einhergehenden Anfragen und entsprechender Kritik konstruktiv auseinandersetzen und zeitgemäße Formen entwickeln, um die befreiende Kraft des Evangeliums deutlich werden zu lassen. Die „Schwäche der evangelischen Kirchen [...] hat ihren Grund [...] darin, daß die große Mehrzahl der Gebildeten und Ungebildeten dem Glauben, wie ihn die Kirchen officiell bekennen, entwachsen ist." Dies sei „in höchstem Maße" verursacht worden durch „Ehrlichkeit und [...] Wahrheitssinn." Deshalb sei die „Hervorbringung neuer Formen" erforderlich. „Neue Formen erzeugt aber nur ein lebendiger und wahrhaftiger Geist, der sich seiner Kraft bewußt ist, im Evangelium wurzelt und zugleich mit allen Erkenntnissen und Kräften der Gegenwart im Bunde steht. [ . . . ] Die oberste Aufgabe für die evangelischen Kir-

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es ist seitdem schwerlich ein Vierteljahr vergangen, in welchem ich nicht weiter von Ihnen gelernt h ä t t e . " Zitiert nach: Z a h n - H a r n a c k , 9 8 . Vgl. H a r n a c k : Lehrbuch, Bd. 1, 4. Aufl., V; ders.: "Wesen, 17. Vgl. hierzu Jantsch, 15ff. R A 4 , 184.

Martin Rade

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chen ist d a h e r z u r Z e i t [ . . . ] ein s o l c h e s V e r s t ä n d n i ß d e s E v a n g e l i u m s w i e d e r h e r z u s t e l l e n , d a ß es in k e i n e m Sinn als L a s t , s o n d e r n a l s die M a c h t der B e f r e i u n g u n d E r l ö s u n g e m p f u n d e n w i r d . D a s ist die F r a g e d e r F r a g e n und d i e A u f g a b e der A u f g a b e n , v o r d e r alles A n d e r e z u r ü c k t r e t e n m u ß . " D e s h a l b „ d a r f m a n nicht a u f h ö r e n , d i e e v a n g e l i s c h e n K i r c h e n v o r d i e F o r d e r u n g zu stellen, ihr B e k e n n t n i ß , ihre Predigt u n d ihren U n t e r r i c h t [ . . . ] n a c h den sicheren E r k e n n t n i s s e n , die wir g e w o n n e n h a b e n , zu c o r r i g i r e n , d a m i t d e m evangelischen C h r i s t e n im 19. J a h r h u n d e r t d i e K i r c h e w i e d e r u m ein G u t w e r d e u n d er mit Wahrheit u n d E h r l i c h k e i t a n i h r e m L e b e n Antheil zu n e h m e n v e r m a g . " ' 2

Dieser grundlegende Ansatz, den Harnack in seiner Leipziger Zeit ausbildete, wurde erst nach und nach für seine Umgebung deutlich. Er eröffnete seine Lehrtätigkeit als junger Privatdozent im Wintersemester 1874/75 mit einer Vorlesung über sein damaliges Spezialgebiet, den Gnostizismus. 3 3 Im nächsten Semester las er „Altchristliche Literaturgeschichte bis Eusebius"; im Wintersemester 1875/76 behandelte er die Apokalypse. Darüber hinaus begründete er ein „Kirchenhistorisches Seminar", in dem im kleinen Kreis kirchengeschichtliche Probleme diskutiert wurden. 3 4 Unter den jungen Studenten, die zu ihm kamen, befand sich auch Martin Rade.

3. Martin Rade Martin R a d e wurde am 4. April 1857 in Rennersdorf (Oberlausitz) als Sohn von Karoline Thekla und Moritz Leberecht Rade geboren. Der Vater bekleidete in diesem Dorf das Amt des Pfarrers. 1859 wurde er ins benachbarte Berthelsdorf versetzt. Martin Rade wuchs dort gemeinsam mit zwei älteren Schwestern auf. Die streng orthodox-lutherische Ausrichtung des Elternhauses prägte ihn; sie blieb Zeit seines Lebens — bei aller theologischen Weiterentwicklung — der tragende Grund seines theologischen und religiösen Denkens. D a s Vorbild des Vaters war ausschlaggebend für Rades Berufswahl. Er hatte ab Ostern 1869 das Gymnasium Johanneum in Zittau besucht. Z u m Sommersemester 1875 immatrikulierte er sich an der Universität in Leipzig als Theologiestudent. Von seinen theologischen Lehrern — vor allem Gustav Adolf Fricke, Christoph Ernst Luthardt, Franz Delitzsch und Karl Friedrich August Kahnis — zeigte sich R a d e jedoch bald enttäuscht. „Im Kolleg ist's eigentlich im Durchschnitt recht ledern, wenigstens was interessant daran, habe ich nicht den Herren Professoren, sondern der Wissenschaft zu verdan-

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H a r n a c k , A . : D e r E v a n g e l i s c h - s o c i a l e C o n g r e ß zu Berlin, in: P r J 6 5 ( 1 8 9 0 ) , 5 7 5 f . ( A u c h in: R A 2 , 3 2 7 - 3 4 3 . )

33

H a r n a c k s h a t t e seine D i s s e r t a t i o n v e r f a ß t mit d e m T h e m a : Z u r Q u e l l e n k r i t i k d e r G e s c h i c h t e d e s G n o s t i z i s m u s , L e i p z i g 1 8 7 3 . S e i n e H a b i l i t a t i o n s s c h r i f t s c h r i e b er ü b e r : D e Apellis gnosi monarchica, Leipzig 1874.

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Vgl. Z a h n - H a r n a c k , 4 7 .

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Einleitung

ken g e h a b t . " 3 5 Er sah sich in seiner H o f f n u n g enttäuscht, zur lutherischen Frömmigkeit „auch die rechte lutherische Theologie zu gewinnen". 3 6 Die Wende kam im vierten Semester. Rade hatte sich „ahnungslos" bei Adolf Harnack für dessen „Kirchenhistorisches Seminar" angemeldet. 3 7 Begeistert schrieb er nach Hause: „Ein Quell wissenschaftlicher und geselliger Lust ist die Harnacksche kirchenhistorische Gesellschaft für mich geworden. Ich bin überzeugt, daß er eine große Z u k u n f t hat und unserer theologischen Wissenschaft hohe Dienste leisten wird. Von seiner H a n d eingeführt zu werden in die patristischen Studien und gleich eine so nüchterne, Wahrheit erschließende M e t h o d e der Kritik kennenzulernen, ist von hohem Werte, und ich bedauere, daß ich nicht früher auf ihn a u f m e r k s a m geworden b i n . " 3 8

4. Prägende Jahre in Leipzig In dem Kreis, der sich um Harnack sammelte, wurde Rade mit anderen jungen Studenten bekannt, die wie er auf der Suche nach einem sie befriedigenden theologischen Ansatz waren. Viele der hier geschlossenen Freundschaften dauerten ein Leben lang. An erster Stelle sind hier die späteren Mitbegründer der „Christlichen Welt" zu erwähnen: „Zwei Hannoveraner, Wilhelm Bornemann und Friedrich L o o f s , und zwei Sachsen, Paul Drews und ich, fanden sich so in engster Freundschaft." 3 9 Diese jungen Männer, denen nun die „Schönheit der Theologie" aufgegangen w a r , 4 0 „horchten, lernten, diskutierten und orakelten" 4 1 und wurden „täglich und stündlich von den ernstesten theologischen Fragen b e w e g t " . 4 2 Als weitere Mitglieder dieses Freundeskreises sollen hier nur noch C a s p a r René Gregory, Gottlob Haußleiter, William Wrede und Otto Johannes Übigau genannt werden. 4 3 Aus diesem Kreis erwuchs die „Theologische Mittwochsgesellschaft" (gegründet im Wintersemester 1877/78), in der sich ausschließlich Studenten zusammenfanden, um wissenschaftliche Probleme zu diskutieren. D a s intensive Arbeiten und der Austausch zwischen 35 36

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Brief vom 11. Mai 1875 an seine Familie, zitiert nach: Rathje, 12. So R a d e rückblickend in: Luthertum, 132. R a d e schrieb ebd. zusammenfassend: „Wir fanden bei den SoKoCvxei; crtOXoi sivcu [ = die, die Säulen des Lehrens sein sollen] nicht die N a h r u n g , die wir brauchten." Ebd., 140: „Ahnunglos, nur durch das Vorlesungsverzeichnis und den Gegenstand bestimmt, meldete ich mich Oktober 1877 [wahrscheinlich Fehler, richtig ist vermutlich 1876, vgl. Rathje, 12] für mein viertes Semester bei Harnack zu seiner ,Kirchenhistorischen Sozietät' a n . " Zitiert nach Rathje, 15. Vgl. Z a h n - H a r n a c k , 51. Rade: Luthertum, 141. Ebd., 140. Ebd., 141. So R a d e in einem Brief vom 4. Juli 1877, zitiert ebd. Vgl. Rathje, 16; Z a h n - H a r n a c k , 4 9 f f . ; L o o f s , F.: Friedrich L o o f s [Autobiographie], in: Die Religionswissenschaft in Selbstdarstellungen, hrsg. von E. Stange, Bd. II, Leipzig 1926, 6 f f . ; Bornemann: Ursprünge, 5f.

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Prägende Jahre in Leipzig

L e h r e r u n d S t u d e n t e n w u r d e v o n b e i d e n Seiten als f r u c h t b a r u n d b e g l ü c k e n d empfunden. H a r n a c k erinnerte sich rückblickend an die A n f ä n g e seiner wissenschaftlic h e n L e h r t ä t i g k e i t als a n eine Z e i t , die „ g a n z b e s o n d e r s s c h ö n w a r [ . . . ] . D a s k a m in L e i p z i g s o , d a ß es w o h l n o c h n i e m a l s e i n e m j u n g e n M a n n , vielleicht M e l a n c h t h o n a u s g e n o m m e n , s o g l ü c k l i c h g i n g w i e m i r . " D a die d o r t L e h r e n den z w a r „ausgezeichnete L e u t e " waren, jedoch „schlechte Musikanten

für

die S t u d e n t e n " , h a b e e r eine r e i c h e E r n t e e i n f a h r e n k ö n n e n . „ U n d d a n n k a m e n alle d i e s e a u s g e z e i c h n e t e n j u n g e n L e u t e . [ . . . ] A u f e i n m a l w a r es m i r a l s o b e s c h e r t , s o d a ß ich die d e u t l i c h e E m p f i n d u n g h a t t e : d u h a s t w i r k l i c h d i e b e s t e n S t u d e n t e n , d i e d a s i n d . " 4 4 A n R a d e s c h r i e b e r zu d e s s e n 7 0 . G e b u r t s t a g , b e i m D e n k e n a n ihn sei e r „augenblicks nicht der alte Berliner Professor, sondern ein ganz junger Leipziger Dozent, dessen Leben beglückend ausgefüllt war durch seine Arbeit am Schreibtisch und durch den regsten Verkehr mit Dir und Euch, den fast gleichalterigen Studiengenossen. [...] Vor uns lag, wie ein gewaltiger Ozean, das große Gebiet der alten Kirchengeschichte, eng verbunden mit der Reformationsgeschichte. Sonnenbeglänzt war dieser Ozean, und wir wußten, welches Schiff wir zu besteigen und welchen Kurs wir zu nehmen hatten. Die Sonne, welche dieses Meer beglänzte, war die evangelische Botschaft [...]; das Schiff war die strenge geschichtliche Wissenschaft, der wir uns bedingungslos anvertrauten; der Kurs ging aus dem Verworrenen zum Einfachen, aus dem Mystischen zum L o g o s . " 4 5 Durch

Harnack

wurde

Rade

mit

der

Theologie

Albrecht

Ritschis

be-

k a n n t . 4 6 H a r n a c k w a r selbst u n b e f r i e d i g t v o n d e r l u t h e r i s c h e n T h e o l o g i e in Leipzig g e w e s e n . 4 7 E r w a r z w a r bereits früher mit Ritschis G e d a n k e n b e k a n n t g e w o r d e n , 4 8 d o c h f a n d e i n e t i e f e r g e h e n d e A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t d e s s e n sys t e m a t i s c h e m System — und d a m i t eine i m m e r stärker w e r d e n d e A b k e h r v o n d e r o r t h o d o x e n l u t h e r i s c h e n T h e o l o g i e , w i e sie z. B . T h e o d o s i u s H a r n a c k v e r t r a t —, e r s t in L e i p z i g s t a t t . 4 9

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RA 7, lOf. Brief vom April 1927, in: Vierzig Jahre, 1; auch in: RA 7, 258 ( = Nr. 653). Vgl. ZahnHarnack, 49 ff. Zum Folgenden vgl. Schwöbel: Rade, 23ff., dem hier im Wesentlichen gefolgt wird. Der systematische Ansatz Rades kann hier nur knapp angerissen werden. Zur tieferen Auseinandersetzung sei hingewisen auf Schwöbel: Rade, und ders.: Einleitung 1 — 3. Vgl. Zahn-Harnack, 35 und 39. Vgl. S. 9, Zahn-Harnack, 98, und Nr. 65. Harnack beschrieb sein Verhältnis zur Theologie Ritschis in einem Brief an ihn vom 19. Februar 1876: „Und wenn ich im 2. Theile [eines Vortrags] den Gedanken durchzuführen versuche, daß unsre religiösen Bekenntnisse zwar auf die geschichtlichen Vorgänge, welche die christliche Gemeinde begründet haben, zurückzuführen sind, so jedoch, daß kein einzelnes Factum für sich genommen (als metaphysisch-dramatischer Act) für den Eckstein erklärt werden darf, da jedes einzelne Ereignis aus der Begründungsgeschichte religiös für uns nur dann werthvoll ist, wenn wir es als Ausdruck einer bestimmten sittlichen Leistung beurtheilen können, die ja wiederum für sich nicht schlechthin an einen Ausdruck nothwendig gebunden ist — diese Gedankenreihe, die hier sehr kurz und stylistisch entsetzlich schlecht angedeutet ist, habe ich aus Ihrem Werke gebaut oder vielmehr — Sie kamen mir zu Hilfe und zeigten mir einen Weg, auf dessen Wanderung

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Einleitung R a d e und die anderen Studenten, die sich um H a r n a c k scharten, fanden

bei Ritsehl eine „systematische O r d n u n g der Begriffe und richtige Beleuchtung geschichtlicher Z u s a m m e n h ä n g e . " 5 0 H a r n a c k

— und ihm folgend R a d e —

ü b e r n a h m e n von Ritsehl die Ablehnung von M e t a p h y s i k , Philosophie und M y s t i k als Grundlagen der T h e o l o g i e 5 1 sowie die Überzeugung, dadurch die protestantische T h e o l o g i e auf das eigentliche r e f o r m a t o r i s c h e Anliegen Luthers zurückgeführt und ihren Platz in der Reihe der modernen Wissenschaften gesichert zu h a b e n . D i e A b w e n d u n g von aller „natürlichen

Theologie"

und allem spekulativen D e n k e n als G r u n d l a g e der T h e o l o g i e führte bei H a r n a c k zur Ausgestaltung seines historischen Ansatzes, der in seinem „ L e h r b u c h der D o g m e n g e s c h i c h t e " ihren großangelegten Niederschlag fand. Auch R a d e ü b e r n a h m die Verbindung des dogmatischen D e n k e n s mit der G e s c h i c h t e : „ D e n n das D o g m a , das religiöse E r k e n n e n , lebte von der G e s c h i c h t e . D i e G e s c h i c h t e ist die O f f e n b a r u n g . G e s c h i c h t e ist die Bibel, ist L u t h e r und sind die symbolischen B ü c h e r . " 5 2 R a d e und seine Freunde sahen sich durch Ritsehl auf die G e s c h i c h t e und damit vor allem a u f die G e s c h i c h t e des Christentums verwiesen. Sie erlernten bei H a r n a c k die historisch-kritische M e t h o d e und damit die G r u n d l a g e n , das Christentum als eine historische Religion zu erforschen. R a d e hielt später fest, d a ß Ritsehl gerade durch seine „Verbindung des historischen mit dem d o g m a tischen Sinn [ . . . ] für uns b a h n b r e c h e n d " wurde. Ritschis dogmatisches System wurde jedoch vor allem in seiner Konsequenz für die historische B e t r a c h t u n g von C h r i s t e n t u m und christlichem G l a u b e rezipiert. Als " d a s stärkere E l e m e n t erwies sich in der Schule, unter dem Einfluß der Wissenschaft d r a u ß e n , das historische."53 Von Ritschis systematischem Ansatz wurde auch die Zielrichtung a u f die E t h i k ü b e r n o m m e n . D a s d o g m a t i s c h e D e n k e n ist bei ihm — und ihm folgend auch bei R a d e — eng verbunden mit dem ethischen D e n k e n , so d a ß er das Christentum als die „vollendet geistige und absolut sittliche R e l i g i o n " definieren k o n n t e . S 4 Beides — dogmatisches und ethisches D e n k e n — gehören zu-

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ich mich bei jedem Schritte verwundert gefragt habe [...], warum ich diesen Weg denn nicht schon früher klar erkannt habe." Harnack-Nachlaß, K 40. Rade: Luthertum, 132. Vgl. ebd., 133: „Es ging nicht erst durch das Tor einer Philosophie. Die Hegelei hatte Ritsehl von sich abgestoßen. Kant wurde erst allmählich sein Helfershelfer, mehr fast als Christ denn als Philosoph. Man kam durch Ritsehl sofort in rem." Vgl. ebd., 141 f. Vgl. Harnack: Lehrbuch, 1. Aufl., Bd. 1, 24, und Harnacks Postkarte an Rade vom 16. April 1907 (Nr. 409). Rade: Luthertum, 133. Zum Verhältnis von Religion, Theologie und Geschichte bei Rade vgl. Schwöbel: Rade, 73ff., 272ff. Rade: Liberalismus, 173. Ritsehl: Rechtfertigung, 9: „Das Christenthum also ist die monotheistische vollendet geistige und absolut sittliche Religion, sofern sie auf Grund des erlösenden und das Gottesreich gründenden Lebens ihres Stifters in der Freiheit der Gotteskindschaft besteht, und den Antrieb zu dem Handeln aus Liebe in sich schließt, welches auf die sittliche Organisation der Menschheit gerichtet ist." Vgl. ebd., 3 und 6.

Prägende Jahre in Leipzig

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sammen. Doch das ethische Denken ist „Denken vom Menschen aus." 5 5 Ritsehl „lehrte uns die Religion als Willenssache begreifen. Religion, christliche Religion, ist nicht Mystik, Phantastik, Spekulation, ist nicht allerlei Konzession an Welt und Wissenschaft, sondern ein starkes sittliches Leben unter dem Auge Gottes, das zu führen Gott durch Christus uns in den Stand gesetzt hat." S 6

Der Rechtfertigung, der versöhnenden Tat Gottes, entspricht nach Ritsehl die darauf antwortende und von ihr begründete Bewegung des Menschen, die er im Begriff des Reiches Gottes zusammenfaßt. Die „ethische Auffassung des Christenthums unter der Idee des Reiches Gottes" und die Versöhnung durch Jesus Christus bedingen sich gegenseitig; das Reich Gottes ist der Versöhnung nicht nach- oder untergeordnet, sondern beide Merkmale verhalten sich zueinander wie die zwei Brennpunkte einer Ellipse. 57 Das Reich Gottes ist das Ziel der „Berufsaufgabe" Jesu und damit der „eigentliche Endzweck Gottes in der Welt". S8 Zwar versteht Ritsehl das Reich Gottes durchaus als überweltliche Erscheinung, doch er weist ihm einen eminent innerweltlichen Aspekt zu. „Das Reich Gottes ist der allgemeine Zweck der durch Gottes Offenbarung in Christus gestifteten Gemeinde, und ist das gemeinschaftliche Product derselben, indem deren Glieder sich durch eine bestimmte gegenseitige Handlungsweise unter einander verbinden." 5 9 Die Befähigung zur Mitwirkung an der Schaffung des Reiches Gottes ist den Mitgliedern der christlichen Gemeinde durch das Liebeshandeln Gottes geschenkt und erwächst aus der Liebe zu Gott und den Nächsten. 6 0 Die Überzeugung, daß Religion und Ethik sowie der christliche Glaube und das daraus resultierende sittliche Handeln untrennbar miteinander verbunden seien, blieb prägend für Rades weiteres Leben. 61 Viele seiner späteren Aktivitäten — wie z. B. sein Engagement im Evangelisch-sozialen Kongreß — fußten darauf. Während Ritschis Gotteslehre, in der die Vorstellung des zornigen und richtenden Gottes zugunsten der Betonung, daß Gott die Liebe ist, aufgegeben wurde 6 2 , wenig Einfluß auf Rade und seine Freunde hatte, ließen sie sich von 55 56 57 58 59

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Rade: Luthertum, 133. Rade: Liberalismus, 171. Ritsehl: Rechtfertigung, 6. Ritsehl: Unterricht, 19. Ebd., 3. Vgl. ebd., 6, wo Ritsehl konstatierte, das Reich Gottes stelle „die geistige und sittliche Aufgabe der in der christlichen Gemeinde versammelten Menschheit" dar. Hier wird auch die zentrale Bedeutung der Gemeinde im Denken Ritschis deutlich. An anderer Stelle formulierte er, daß ein vollkommenes Verständnis des Christentums nur „vom Standpunkt der christlichen Gemeinde aus" möglich sei. Ebd., 2. Vgl. ebd., 23f. Vgl. Schwöbel: Rade, 25. Harnack folgte Ritsehl in diesem Punkt. Vgl. Ritsehl: Unterricht, 9, sowie Harnack: Mission, 173, und RA 4, 223.

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Einleitung

seiner E k k l e s i o l o g i e b e g e i s t e r n . 6 3 „ W i e gern h ö r t e n w i r d a m a l s d a s E v a n g e lium v o n d e r , K i r c h e als K i r c h e ' ! [ . . . ] S i c h t b a r e u n d u n s i c h t b a r e K i r c h e : es w a r i m m e r h i n ein E r e i g n i s für uns, d a ß er sich für die S i c h t b a r k e i t e n t s c h i e d . [ . . . ] D i e K i r c h e ist die G e m e i n d e d e r G l ä u b i g e n , d e r v o n G o t t Geheiligten; in dieser G e m e i n d e erlebt d e r einzelne C h r i s t sein C h r i s t e n t u m . " 6 4 D i e christlic h e G e m e i n d e blieb v o n nun a n ein z e n t r a l e r B e z u g s p u n k t für R a d e s T h e o l o gie. D i e jugendliche B e g e i s t e r u n g ließ in den S t u d e n t e n ein w a h r e s M i s s i o n s b e w u ß t s e i n w a c h s e n . Sie s a h e n in d e r bei R i t s e h l g e l e r n t e n T h e o l o g i e „ein Evangelium, das jedem Notstande in Kirche und Welt gewachsen sei. Insbesondere war es, neben der Freude an den Ursprüngen des Christentums, wie sie der Kirchenhistoriker Harnack erschloß, das neue Verständnis Luthers und des Luthertums, das man bei Ritsehl fand, was die Seelen mit herzlichem Vertrauen zur Zukunft der Kirche und zur eigenen Mission erfüllte." 65 Dieses M i s s i o n s b e w u ß t s e i n , d a s R a d e d a z u m o t i v i e r t e , seine E r k e n n t n i s s e seelsorgerisch u m s e t z e n zu w o l l e n , s t a n d s o w o h l h i n t e r seinem b e w u ß t e n E n t s c h l u ß , sich als P f a r r e r d e r G e m e i n d e a r b e i t zu w i d m e n als a u c h hinter d e r späteren Gründung der Christlichen Welt.66 „Ritsehl treiben und Luther kennen lernen war ein und dasselbe. [...] Bei Ritsehl atmete man sofort den Geist der Reformation und sah sich mit zwingender Gewalt an das Studium nicht nur Luthers, sondern auch der lutherischen Bekenntnisschriften gewiesen. Nicht um Konfessionalismus handelte es sich dabei, sondern rein um Religion, um die letzte große Offenbarungsepoche der Religion, die wir Deutsche erlebt haben. Dieses Studium packte unsern ganzen Menschen; es begeisterte uns so, daß wir daraus eine Mission empfingen für unsre Gegenwart. Unsre Empfindung gegenüber der unkirchlichen und religiös gleichgültigen Welt, in der wir lebten, wurde keine andre als die: Wenn ihr nur Lutherschen Glauben, Luthersche Frömmigkeit kenntet, wenn ihr wüßtet, was deutsches Christentum nach Lutherscher Art eigentlich ist, ihr würdet alle nichts lieber sein wollen als gut lutherische Christen! - Aus diesem Enthusiasmus heraus wurde die ,Christliche Welt' Anno 1886/87 geboren." 6 7 D i e B e z i e h u n g zu H a r n a c k w u r d e im w e i t e r e n Verlauf v o n R a d e s S t u d i u m i m m e r enger. „ E s p a s s i e r t m i r d a z u m e r s t e n M a l , seit ich studiere, d a ß ich in

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Rade: Luthertum, 133 f. Ebd., 134. Vgl. ebd., 142; Rade, M.: Glaubenslehre. Zweites Buch: „Christus" ( = Bücherei der Christlichen Welt, [6]), Gotha-Stuttgart 1926, 126, wo er vermerkte, die unsichtbare Kirche sei „nur als gelegentliche Hilfsvorstellung in Betracht" zu ziehen. Unter dem Erlebnis des Nationalsozialismus entdeckte Rade jedoch die unsichtbare Kirche als Hoffnungsträgerin neu: Die deutsche evangelische Kirche sei „heute ein Trümmerfeld", doch „unter diesen Trümmern lebt noch die unsichtbare Kirche. [...] Und sie ist doch die, auf die es ankommt." Rade, M.: Besinnung auf die unsichtbare Kirche, in: CW 53 (1939), 552. Rade, M.: (Art.) Christliche Welt und Freunde der Christlichen Welt , in: RGG, 2. Aufl., Bd. 1, 1927, 1589. Vgl. Rade: Luthertum, 144; Schwöbel: Rade, 34. Rade: Liberalismus, 172.

Prägende J a h r e in Leipzig

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Versuchung komme, einem Lehrer und Meister mich zuzuschwören, und wenn ich überhaupt die Anlage hätte, zu dem ,Er hat's gesagt', so würde ich mich dieser Richtung in die Arme stürzen." 6 8 So beschrieb Rade in einem Brief an seine Eltern 1877 das Verhältnis zu seinem Lehrer. R a d e schloß sein Studium mit der Examensnote „Sehr wohl" ab und entschied sich dann — nicht zuletzt aufgrund der guten Bezahlung — für die Übernahme einer Hauslehrertätigkeit bei der reichen Leipziger Familie Czerm a k . 6 9 Diese Stellung, die er bis 1881 bekleidete, ließ ihm genügend Zeit, seine Studien fortzusetzen und zu reisen, doch brachte sie, wie einige Briefe Harnacks an Rade aus dieser Zeit zeigen, 7 0 auch Probleme mit sich. Die Berufung Harnacks als Ordinarius für Kirchengeschichte nach Gießen unterbrach den direkten Kontakt. Rade versuchte, dies zu verhindern. Er sammelte Unterschriften unter den Studenten der Universität für eine Petition an den sächsischen Kultusminister von Gerber, in der dieser gebeten wurde, Harnack der Leipziger Universität zu erhalten. Doch die von 133 Studenten unterzeichnete Eingabe, die R a d e persönlich im Dezember 1887 überreichte, hatte keinen Erfolg. 7 1 Harnack nahm zum Sommersemester 1879 seine Lehrtätigkeit in Gießen auf. Beziehungen und Freundschaften, die Leipzig angeknüpft worden waren — wie zu Rade, C. R. Gregory, F. L o o f s , W. Graf von Baudissin — wurden von ihm weiter gepflegt. D a s Verhältnis zwischen Harnack und Rade spiegelt sich im nun einsetzenden Briefwechsel. Zunächst ist und bleibt Harnack der Lehrer, der rät, empfiehlt, beurteilt und den Rade um Stellungnahmen bittet. Nach und nach entwickelt es sich zu einer Beziehung zwischen zwei Theologen, die in ihrem Leben unterschiedliche berufliche Wege eingeschlagen haben und sich aufgrund dessen oft mit anders gelagerten Problemen auseinandersetzen müssen. Ihre Freundschaft wächst durch gemeinsame Engagements — wie z. B. im Evangelisch-sozialen Kongreß — und gemeinsam durchgefochtene Kämpfe — wie den Apostolikumstreit des Jahres 1892 —, in denen es beiden darum zu tun ist, ihre theologischen Überzeugungen, deren Grundlagen in der Leipziger Zeit gelegt wurden, zu vertreten und zu verteidigen. Differenzen treten zwischen ihnen aufgrund ihrer unterschiedlichen Berufssituation auf. Den von Rade immer wieder angemahnten Einsatz in aktuellen (kirchen)politischen Auseinandersetzungen wie auch für Gesinnungsfreunde leistet Harnack weit weniger, als Rade es erwartet, und erklärt dies mit seinem Eingebundensein in andere Zusammenhänge und mit seiner hohen Arbeitsbelastung. 7 2

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Zitiert nach Rathje, 18. Vgl. ebd., 19ff. Vgl. Nr. 3, 4 und 10. Vgl. Rathje, 22; Z a h n - H a r n a c k , 52. Die Petition befindet sich im Sächsischen Hauptstaatsarchiv in Dresden, Signatur Ministerium für Volksbildung 10281/161, Blatt 24—27 (freundliche Mitteilung von T h o m a s Casper). Vgl. z. B. Nr. 1 5 8 - 1 6 3 , 2 0 9 - 2 1 1 , 213, 241, 2 5 0 - 2 5 5 , 3 5 8 f .

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Einleitung

5. Von Leipzig nach Gießen und Schönbach Vom Briefwechsel zwischen Harnack und Rade, der mit Harnacks Übersiedelung nach Gießen beginnt, sind aus der Anfangszeit nur die Schreiben Harnacks erhalten. Der erste überlieferte Brief Rades an Harnack datiert vom 1. Januar 1886 (Nr. 34) — in diesem Jahr ging Harnacks Lehrtätigkeit in Gießen zu Ende. Die Schreiben Harnacks aus der Gießener Zeit sind im Vergleich zu denen aus späteren Jahren recht lang und ausführlich. Als die zu bewältigende Korrespondenz Harnacks mehr und mehr anwuchs, wurden die Briefe und Postkarten an Rade meist knapper gehalten. In den Schreiben Harnacks finden sich nur wenige Hinweise zu seiner persönlichen Lebensgestaltung und zu seinem Privatleben. Auch hier sind die diesbezüglich ausführlichsten Äußerungen in den frühen Schriftstücken zu finden. Später wurde er zurückhaltender. 7 3 Der Austausch zwischen Harnack und Rade in der ersten Zeit ihres brieflichen Verkehrs drehte sich um neuere Entwicklungen in der Theologie — so wurden beispielsweise Julius Kaftans Werk „Das Evangelium des Apostels Paulus" ausführliche Überlegungen gewidmet. 7 4 Harnack berichtete über seine Situation als Professor in Gießen 7 5 , und es finden sich — hauptsächlich in den ersten Jahren — Bemerkungen zur Entwicklung von Studenten Harnacks sowohl aus der Leipziger Zeit wie auch von der Universität in Gießen. 7 6 Harnack begleitete seinen ehemaligen Schüler bei dessen weiterem Werdegang. Trotz wiederholter Überlegungen, in Göttingen bei Ritsehl 7 7 oder in Gießen bei Harnack weiter zu studieren, 7 8 blieb Rade in Leipzig. Er legte im Oktober 1880 sein zweites Examen ab 7 9 und verfaßte eine Lizentiatenarbeit über Papst Damasus. 8 0 Harnack, der großes Vertrauen in die wissenschaftlichen Fähigkeiten Rades hatte — „Natürlich müssen Sie sehen, daß Sie auch das Dr.-Examen bis z[um] Militärjahr abmachen. Das ist ja eine Kleinigkeit." 8 1 — unterstützte und beriet ihn dabei. 8 2 Dem Wunsch Harnacks, die akademische Laufbahn einzuschlagen, 83 entsprach Rade nicht. Er leistete die einjährige Dienstzeit beim Militär in Berlin 73

74 75 76 77 78 79 80

81 82 83

Zahn-Harnack, 105, führte Harnacks Zurückhaltung, persönliche Entwicklungen, Ideen, Gefühle in Briefen oder Gesprächen zu artikulieren, auf die scharfe Ablehnung seines „Lehrbuchs der Dogmengeschichte" zurück, die das Werk und damit seine theologische Überzeugung durch seinen Vater erfuhr. Vgl. Nr. 2. Vgl. Nr. 1, 3, 5, 16 u. a.m. Vgl. z. B. Nr. 2, 3, 4 und 7. Vgl. Rathje, 18 f. Vgl. Nr. 4 und 15. Vgl. Nr. 12. Damasus, Bischof von Rom. Ein Beitrag zur Geschichte des römischen Primats, Freiburg i. B.-Tübingen 1882. Nr. 7. Vgl. Nr. 8, 12ff. Vgl. Nr. 12 und 13.

Von Leipzig nach Gießen und Schönbach

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a b 8 4 und bemühte sich dann um eine Pfarrstelle, da er seine theologischen Erkenntnisse in der Seelsorge umsetzen wollte. 8 5 Rade wurde am 18. August 1 8 8 2 zum Pfarrer von Schönbach bei Löbau in der Oberlausitz g e w ä h l t . 8 6 Neben seinen seelsorgerischen Aufgaben fand er Zeit, weiterhin wissenschaftlich zu arbeiten. Für die von Emil Schürer und H a r n a c k herausgegebene Theologische Literaturzeitung verfaßte er Rezension e n . 8 7 Er beschäftigte sich intensiv mit L u t h e r 8 8 — eine Tätigkeit, die ihn sein Leben lang begleiten sollte. Ein Vortrag vor der Meißener Konferenz im Lutherjahr 1 8 8 3 suchte die Frage zu beantworten „Bedarf Luther wider Janssen der Verteidigung?" 8 9 , die durch die Thesen des katholischen Historikers Johannes Janssen von der krankhaften Persönlichkeit Luthers und der darauf fußenden zersetzenden Wirkung der Reformation auf die Neuzeit aufgeworfen worden war. Im selben J a h r erschien auch der erste Band seines großen Lutherbuchs, in dem er Luthers Leben und Lehren in allgemeinverständlicher Weise unter Berücksichtigung der Erkenntnisse der Forschung darzustellen sich b e m ü h t e 9 0 — ein Unternehmen, das H a r n a c k mit Bedenken betrachtete. 9 1 Der erste große Konflikt, bei dem Rade seinen ehemaligen Lehrer zu unterstützen suchte, war die Diskussion um den ersten Band von H a r n a c k s „Lehrbuch der Dogmengeschichte", der Ende 1 8 8 5 erschien. Nun wurde der theologischen Öffentlichkeit klar, daß H a r n a c k nicht (mehr) zu den Neulutheranern zu rechnen war. Seine Kernthese, daß das D o g m a „in seiner Conception und seinem Ausbau ein Werk des griechischen Geistes auf dem Boden des Evangeliums"92 sei, stieß auf scharfe Kritik sowohl aus den Kreisen der Universitäts84 85

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Vgl. Rathje, 25ff.; vgl. Nr. 12 und 20. Vgl. Rade: Luthertum, 144: „Unsre neue Theologie führte uns rasch in die Praxis. Sie belebte spürbar unsern Eifer zur Predigt. [...] Wir gingen mit unsrer neuen Weisheit sofort auf die Kanzel. So trieb es uns auch in die Seelsorge." Vgl. auch Schwöbel: Einleitung 1, 11: „Der Abschluß des theologischen Denkweges ist für Rade die Übersetzung in die Lebens- und Glaubenspraxis der Gemeinde. Die gegenwärtige Gemeinde ist Anfangs- und Zielpunkt der Theologie." Vgl. Rathje, 28 ff. Vgl. Nr. 23, 24, 29, 44. Vgl. Rathje, 29 f. Vortrag auf den Konferenz sächsischer Geistlicher zu Meißen am 20. Juni 1883, Leipzig 1883. Vgl. Schwöbel: Rade, 35ff., Nr. 25 und 79. Doktor Martin Luthers Leben, Taten und Meinungen aufgrund reichlicher Mitteilungen aus seinen Briefen und Schriften dem Volke erzählt von Paul Martin [Rade], Neusalza i. S. 1883 ff. Vgl. Nr. 27. Harnack: Lehrbuch, Bd. 1, 1. Aufl., 16. Harnack verstand unter „Dogma" die altkirchlichen Dogmen. Diese seien in Abwehr und Auseinandersetzung mit den religiösen Gedanken der griechisch geprägten Umwelt entstanden. Besonders in Auseinandersetzung mit den Gnostikern seien Elemente und Denkstrukturen aus der griechischen Philosophie mit christlichen Lehraussagen verschmolzen und mit ihnen zum Dogma erhoben worden. (Vgl. ebd., 14.) Dieser Prozeß sei notwendig gewesen, um den christlichen Glauben vor der akuten Hellenisierung, die der Gnostizismus darstellte, zu bewahren (ebd., 162ff.) und um ihn den Menschen der Antike verständlich zu machen. (Vgl. ebd., 11 und 19). In der 4. Auflage, 20, präzisierte Harnack, daß in den Dogmen „die begrifflichen Mittel, durch welche man sich in der antiken Zeit das Evangelium verständlich zu machen

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Einleitung

theologen als auch aus denen der evangelischen Kirchen. Sie wurde als Angriff auf grundlegende Wahrheiten des christlichen Glaubens aufgefaßt, und die Kritik wurde in zum Teil sehr polemischer Form geäußert. 9 3 Rade, der während seiner Studienzeit bei Harnack dessen Vorlesung über Dogmengeschichte gehört h a t t e , 9 4 vermutete sogleich, daß es „etwa einen kleinen Sturm g e b e n " 9 5 werde. Der Sturm wurde heftiger, als Rade es sich gedacht hatte. Er wurde selbst in ihn hineingezogen, als er eine zweigeteilte Rezension dieses Werkes für das Sächsische Kirchen- und Schulblatt verfaßte. Der Redakteur dieser Zeitschrift, Pfarrer Moritz Schenkel, hatte vor Abdruck der Rezension bei Rade nachgefragt, o b Harnack Ritschlianer sei und zugleich erklärt, daß er die theologische Richtung Ritschis a b l e h n e . 9 6 Rade stellte in seiner Antwort Harnack als Historiker vor, der von Ritsehl viel gelernt habe. „Ist man darum Ritschlianer, so bin ich's auch. Aber ich würde ganz entschieden dagegen protestieren, wenn Sie mich als solchen bezeichnen wollten. Denn ich bin nicht Ritschlianer, sondern L u t h e r a n e r . " 9 7 Damit gab sich Schenkel zufrieden, und der erste Teil der Rezension wurde gedruckt. In der folgenden Nummer jedoch wurde ein Protest der Redaktion angekündigt, die sich von Rade „überrumpelt" 9 8 fühlte. Darin wurden einzelne Stellen aus Harnacks Werk kritisch angeführt und das Buch als „im höchsten Grade b e d e n k l i c h " 9 9 beurteilt. D a sich Schenkel weigerte, den zweiten Teil von Rades Rezension zu drucken, veröffentlichte Rade, der Harnack über den Verlauf seiner Auseinandersetzung auf dem laufenden hielt, 1 0 0 diese und seinen Briefwechsel mit Schenkel. 1 0 1 Dabei stand Rade Harnacks Dogmengeschichte nicht unkritisch gegenüber. Z w a r stimmte er ihren Thesen zu und empfand das Werk „als Befreiung; besser als die Bestätig[un]g einer Beversucht hat, [...] mit seinem Inhalt verschmolzen" wurden. Der so geschlossene Bund zwischen Antike und Christentum bildete das Fundament der abendländischen Kultur (Lehrbuch, 1. Aufl., 2 5 3 f . ; vgl R A 1, 2 9 ; R A 2, 114; R A 3, 7 6 f . ) Diese sogenannte Hellenisierungsthese verband H a r n a c k mit der Forderung, daß das dogmatische Christentum als „eine eigenthümliche Stufe in der Entwickelung des menschlichen Geistes" (Lehrbuch, 1. Aufl., 19) zu verstehen sei, der keine Bedeutung für den christlichen Glauben der Gegenwart zukomme. Mit der Erforschung der Dogmengeschichte wollte er die Entstehung der Dogmen aufzeigen und so daran mitarbeiten, das Christentum der Gegenwart von diesen belastenden und das Evangelium im Grunde verfälschenden Elementen zu befreien. Vgl. ebd., 1 9 ; H a r n a c k : Dogmengeschichte, 6. Vgl. Jantsch, 8f., 17, 1 3 4 ff. 93 94 95 96

Vgl. Z a h n - H a r n a c k , 97ff. Vgl. Nr. 3 4 . Ebd. Rade: Buch, 6, 8.

Ebd., 7. Nr. 3 5 . 99 Erklärung zu dem Artikel „Eine neue Dogmengeschichte", in: Sächsisches Kirchen- und Schulblatt 3 6 ( 1 8 8 6 ) , 5 9 . 100 Vgl. Nr. 3 5 ff. 97

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101

Ein wissenschaftliches Buch und ein kirchliches Parteiblatt. Als Manuskript gedruckt, Neusalza i. S. 1 8 8 6 .

Die G r ü n d u n g der Christlichen Welt

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freiung, die ich schon seit lange Ihnen v e r d a n k e " . 1 0 2 Bedenken kamen ihm aufgrund katechetischer und seelsorgerischer Überlegungen. Es erschien ihm fraglich, ob Harnacks Ansatz richtig verstanden würde, und er befürchtete, daß die „Schwachen" an manchen Aussagen Harnacks Anstoß nehmen könnten. 1 0 3 Der Pfarrer und Seelsorger war sich bewußt, daß nicht alle Gläubigen die Fortschritte „in der religiösen Erkenntnis" 1 0 4 ohne weiteres nachvollziehen können.

6. Die G r ü n d u n g der Christlichen Welt D a s Jahr 1886 brachte für Rade eine einschneidende Veränderung durch die Gründung der Zeitschrift, die sein Lebenswerk wurde. Die erste (Probe-) Nummer des „Evangelisch-Lutherischen Gemeindeblatts für die gebildeten Glieder der evangelischen Kirchen" erschien am 21. November 1886. Pläne zur Herausgabe einer Zeitschrift hatte Rade mit gleichgesinnten Freunden seit ihrer gemeinsamen Leipziger Studienzeit geschmiedet. 1885 nahmen diese Pläne konkretere Formen an. Paul Drews, Friedrich Loofs, Wilhelm Bornemann und Rade, die Begründer der Zeitschrift, hatten inzwischen beruflich Fuß gefaßt. Ein längerer Besuch Bornemanns bei Drews und R a d e im Sommer 1885 diente der gründlichen Besprechung des Planes; ein ausführlicher Briefwechsel setzte sie f o r t . 1 0 5 Die vier jungen Theologen — so faßte Bornemann später ihre Gemeinsamkeiten zusammen — gingen „alle von kirchengeschichtlichen Studien aus, waren aber alle auch vollauf systematisch, praktisch und biblisch interessiert. Wir alle hatten uns um Harnack geschart und waren unmittelbar oder mittelbar von Albrecht Ritsehl aufs Stärkste beeinflußt." 1 0 6 Harnack wurde über die Planungsschritte unterrichtet, wie die Briefe Rades aus dem Jahr 1886 zeigen, und unterstützte seine Schüler mit Ratschlägen und kritischen Anmerkungen. 1 0 7 Die Zeitungsgründung entsprang der Überzeugung dieser jungen Theologen, mit ihrer Konzeption und Arbeit einen Fortschritt in den evangelischen Landeskirchen bewirken zu können. Sie wollten ausdrücklich „der Gemeinde 102

103 104 105 106

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Nr. 38. Vgl. Nr. 450, w o R a d e H a r n a c k für d a s Übersenden der ersten Bände der vierten A u f l a g e des „Lehrbuchs der Dogmengeschichte" dankte und rückblickend festhielt, daß dies d a s Buch sei, „ d a s für mein Leben u[nd] meine Entwickelung a m bestimmendsten gewesen ist — schon ehe es erschien und dann durch den ersten B a n d " . Vgl. Nr. 3 4 f . , 3 8 f . Nr. 39. Bornemann: Ursprünge, 9. Ebd., 8. Bornemann fuhr ebd. fort: „Aber bei der G r ü n d u n g der ,Christlichen Welt' war H a r n a c k nur hier und da mit seinem R a t e beteiligt, und Ritsehl wurde gewissermaßen vor die vollendete Tatsache gestellt, war zunächst sogar nicht g a n z ohne Vorbehalt und Bedenken." Vgl. Rade, M . : (Art.) Christliche Welt und Freunde der Christlichen Welt, in: R G G , 1. Aufl., Bd. 1, 1909, 1703 f. Vgl. Nr. 37.

22

Einleitung

dienen und in erster Linie ihren gebildeten Gliedern." 1 0 8 Sie waren zuversichtlich, Gruppen ansprechen zu können, die den Kirchen oft kritisch gegenüberstanden. So drückte der Titel, um den lange gerungen wurde, 1 0 9 die Ausrichtung der neuen Zeitschrift aus: Sie wollte sich gerade nicht an Theologen, sondern an die Gebildeten in den evangelischen Kirchen wenden und deshalb alles behandeln, „was Christen angeht, alles, was in den Kreisen unsrer Gebildeten mit Recht oder Unrecht etwas bedeutet, und beides in seiner Wechselbeziehung". 1 1 0 Wie Harnack waren auch die Gründer des „Evangelisch-lutherischen Gemeindeblattes" davon überzeugt, daß der christliche Glaube und die Kultur ihrer Zeit keine Gegensätze bildeten, sondern daß sie sich gegenseitig befruchten müßten, um so die Weiterentwicklung der Menschheit zu bewirken. Rade präzisierte in der Probenummer diesen Punkt: „Um die Gebildeten in unsern evangelischen Gemeinden werben wir. Für sie wollen wir schreiben, nicht für die Theologen. Alle Fragen, die irgend von kirchlichem, religiösem, moralischem Interesse sind, wollen wir von einem gut evangelischen, Lutherschen Standpunkte aus behandeln. Bildung und Christentum sollen unvereinbare Gegensätze sein? Wir glauben's so lange nicht, als wir selbst noch an uns und in uns ernstlich darauf hinarbeiten, beides zu sein: ein gebildeter Mensch und ein Christ." 111

Von dieser Ausgangsposition konnte sich die neue Zeitschrift „schließlich zum Organ des sogenannten freien Protestantismus entwickeln" 1 1 2 , ein Weg, den sie nach dem Apostolikumstreit von 1892 (vgl. Kapitel 10) immer deutlicher einschlug. Standen die Gebildeten gerade aufgrund der Fortschritte in den Naturwissenschaften und der immer weiter verbreiteten historischen Denkweise, die auch die Betrachtung des Christentums prägte, dem christlichen Glauben und den evangelischen Kirchen oft kritisch gegenüber, so waren Rade und seine Mitstreiter im Gefolge Harnacks fest davon überzeugt, daß historische Erkenntnisse und kirchengeschichtliche Forschungen den christlichen Glauben

los Vertrauliches Rundschreiben vom August 1886, mit dem Rade um Mitarbeit in der neuen Zeitschrift warb. Abgedruckt in: Vierzig Jahre, 12—15, Zitat 12. 109 Vgl. Nr. 43. 110 Rade: Rundschreiben,13. 111 Rade, M.: Die Probenummer, in: CW 1 (1886), 1. Vgl. auch das Rundschreiben, 12, in dem Rade ausführte, die Zeitschrift wolle den Gebildeten „zur Erbauung und zu einem festen, klaren christlichen Urteil helfen. Sie hofft das zu erreichen durch Einführung in die Schrift, Mitteilungen aus der Geschichte der Kirche (besonders der deutschen Reformation) und Besprechung der gesamten Erscheinungen unserer Gegenwart, sofern sie eine religiös-sittliche Beurteilung fordern oder vertragen." W. Nigg, 250, vermerkt dazu zu Recht: „Diese Anstrengung — Christentum und Bildung zu versöhnen — stellt aber nichts anderes dar als die Erneuerung des altliberalen Ideals einer Versöhnung von Christentum und Kultur, für das schon Schleiermacher eingetreten war und dem Rothes Protestanten verein seine Entstehung verdankte." 112 Ortmann, 66.

Die G r ü n d u n g der Christlichen Welt

23

stärken können, da sie helfen, die unverfälschte christliche Botschaft ans Licht zu stellen. 1 1 3 Dieses ihr selbstgesetztes Ziel konnte die Zeitschrift jedoch letztlich nicht erreichen. Z w a r wurde in ihr eine große Bandbreite von Themen angesprochen — z. B. wurde die zeitgenössische deutsche und fremdsprachige Literatur den Leserinnen und Lesern vorgestellt 1 1 4 —, doch die Artikel zu theologischen Fragen und zu aktuellen kirchlichen Problemen bildeten den Schwerpunkt. Deshalb rekrutierte sich die Leser(innen)schaft doch vor allem aus Theologenkreisen. Korrespondierend mit Rades Überzeugung, in der Gemeinde tätig werden zu müssen, sollte sich die neue Zeitschrift an die „Glieder der evangelischen Kirchen", also der konkret existierenden Landeskirchen richten. Sie sollte ein „Gemeindeblatt" werden. Deshalb wollte sie bewußt keine Kirchenzeitung sein, die sich in erster Linie an Pfarrer wendet, aber auch kein Erbauungsblatt. 1 1 5 Der Gemeindebezug sollte das Kriterium für Auswahl und Zielrichtung der Artikel bilden. Z w a r wollte das Blatt eine „grundsätzlich positive H a l t u n g " 1 1 6 vertreten, doch sollte dies nicht bedeuten, daß Traditionen nicht kritisch zu überprüfen seien. Wenn aber Überliefertes aufgegeben werden soll, „gilt es überall und immer den Triumph des Ewigen über das Wechselnde der Gemeinde vor Augen zu führen. [...] Jede neue Erkenntnis hat nur dann und erst dann ein Recht, vor der Gemeinde aufzutreten, wenn sie auch von den ungelehrten Gliedern nicht als Verlust, sondern als Gewinn für ihr religiöses Denken und Leben erkannt werden k a n n . " 1 1 7 Die neue Zeitschrift sollte bewußt keiner theologischen oder kirchlichen Partei dienen, sondern sich gerade von entsprechend geprägten Blättern unterscheiden. „Unser Programm ist d a s Evangelium, wie es Dr. Martin Luther unserm deutschen Volke bekannt und lieb gemacht hat. In diesem Sinne haben wir keinen anderen und besseren Titel für unser Blatt gefunden als den: ,Evangelisch-Lutherisches Gemeindeblatt'. So nen-

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1,5 116 117

Z u H a r n a c k s diesbezüglichen Überzeugungen vgl. Jantsch, 15ff. und 5Off. R a d e äußerte sich hierzu programmatisch in seinem Artikel: Die Unwissenheit und Urteilslosigkeit vieler Gebildeten in kirchlichen Dingen, in: C W 1 (1886) (Probenummer), 3 — 5. Er hob den ,,unschätzbare[n] Dienst" hervor, der der Kirche durch „eine aufrichtige und gewissenhafte Forschung" geleistet werde, (ebd., 4) und zeigte sich überzeugt, d a ß durch den ,,geschichtliche[n] Sinn", der „in unserm Zeitalter mächtig erwacht ist", das „rechte Korrektiv" gegeben sei „gegen die Ueberschätzung der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und Methoden. Wer die Geschichte versteht, wird auch d a s Christentum würdig e n . " E b d . , 5. Vgl. R a d e : Rundschreiben, 14, w o R a d e Mitarbeiter suchte, die „Erzeugnisse der profanen Literatur (Romane und dergleichen), auch der ausländischen (englischen und französischen), auch unsrer klassischen, in allseitiger Kenntnis dieses Gebietes von einem weitherzigen, aber gut evangelisch-lutherischen Standpunkte aus besprechen wollen." Diese Besprechungen sollten sich an den „Feuilletons unsrer guten Zeitungen orientieren." Vgl. ebd., 12. Ebd., 13. Ebd.

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Einleitung nen wir es, nicht im Sinne eines engen Konfessionalismus, sondern in der festen Überzeugung, daß der nächste und sicherste Weg für die Gebildeten in den evangelischen Kirchen deutscher Zunge, zu einem fröhlichen, lebendigen Christentum durchzudringen, das Verständnis der Lutherschen Reformation ist. Indem wir ihnen das bringen wollen, heften wir niemandem zu Lieb oder zu Leid Luthers Namen auf unsre Fahne. Freilich wir schreiben Lutherisch groß und betonen es auf der ersten Silbe. Und wir bleiben, Mitarbeiter wie Leser werbend, nicht stehen an den Grenzpfählen der lutherischen Landeskirchen Deutschlands." 118 Der Bezug auf Luther wurde in der Probenummer von Friedrich Loofs

näher erläutert. Das Wort „Lutherisch" im Titel der Zeitschrift sei nicht kirchenpolitisch zu verstehen. „Im Glauben demütig, stark und treu, in christlicher Freiheit mutig und trutzig, in christlicher Liebe eifernd um unser Volk — so ist Dr. Luther ein Vorbild evangelischen Christenglaubens für jeden evangelischen Christen. — Eine unionistische Parole wird nie das ganze evangelische Deutschland aufrufen können zu gemeinsamer Arbeit an unserm Volk, zu gemeinsamer Abwehr der Feinde des Protestantismus: Luthers Name kann es. Er kann und soll die evangelischen Christen herausrufen aus dem Parteigetriebe der Gegenwart [...] Luthers Name soll die Protestanten nicht trennen, sondern soll sie sammeln." 1 1 9 Das neue Blatt wollte „die Verehrung unsers Volkes für Luther und den Reichtum des Schatzes, der in seinem Werk und seinen Werken der evangelischen Christenheit gegeben ist, nutzbar zu machen versuchen für die Gegenw a r t " und die „Herrlichkeit und Größe und Weite und Tiefe des Evangeliu m s " , wie es Luther gelehrt hat, erkennen und lehren, „unbekümmert um .parteische [sie] N a m e n ' und parteiisches T r e i b e n " . 1 2 0 Die neue Zeitschrift wurde sehr positiv aufgenommen. H a r n a c k beglückwünschte das Erscheinen der Probenummer und fand „Alles sehr g u t " . 1 2 1 Rasch fanden sich Abonnentinnen und Abonnenten: a m 10. J a n u a r 1 8 8 7 waren es bereits 7 0 0 , im M a i 1 8 8 7 1 1 1 1 und Mitte Juni 1 8 8 7 wurden 1 1 4 0 verz e i c h n e t . 1 2 2 Die Abonnementszahl stieg in der Folgezeit weiter an. Im J a h r des Apostolikumstreits, 1 8 9 2 , erreichte sie 4 5 5 5 . 1 2 3 Zwischen 4 4 0 0 und 5 0 0 0 lag die Abonnementszahl in den Jahren bis zum Ersten Weltkrieg, der für das Blatt einen Verlust von fast 9 0 0 Abonnements brachte. In der Nachkriegszeit lag die Abonnementszahl bei rund 3 0 0 0 Bestellerinnen und Bestellern. 1 2 4

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Ebd., 12f. Vgl. Brief Nr. 38, in dem Rade noch schärfer die Abgrenzung gegen die Neulutheraner, die in der Allgemeinen Evangelisch-Lutherischen Kirchenzeitung ihr Publikationsorgan besaßen, formulierte. Die Ablehnung von Parteiarbeit und Parteigeist ist dem Einfluß Ritschis zuzuschreiben, der „schroff alles Parteibilden und Parteitreiben in der Kirche" verworfen hatte. Rade: Liberalismus, 170. Loofs, F.: Lutherisch, in: CW 1 (1886), 2f. Ebd. Nr. 46. Bornemann: Ursprünge, 11. Rathje, 72. Vgl. Ausstellungskatalog, 52f.

Die Gründung der Christlichen Welt

25

Der recht lange und umständliche Titel „Evangelisch-Lutherisches Gemeindeblatt für die gebildeten Glieder der evangelischen Kirchen", der eine Kurzfassung des Programms der Zeitschrift darstellte, wurde bereits mit Beginn des Jahrgangs 1888 geändert. Rade betonte, daß „kein innerer Grund" den Wechsel verursacht habe. 1 2 5 Er sei hauptsächlich dadurch motiviert worden, daß „unser jetziger Titel zu unaufhörlichen Verwechslungen und Unordnungen geführt h a t . " 1 2 6 Die Zeitschrift führte von da an den Titel, unter dem sie berühmt wurde: „Die christliche Welt". Der alte Name wurde als Untertitel „Evangelisch-Lutherisches Gemeindeblatt für die Gebildeten" weitergeführt. Ab 1900 wurde das Adjektiv „christlich" groß geschrieben. Der Untertitel wechselte in der Folgezeit mehrfach. Bedeutsam sind die Änderungen ab Nr. 17 des Jahrgangs 34 (1920): „Wochenschrift für Gegenwartchristentum" (blieb bestehen bis Ende des 1921) und ab Nr. 13 des Jahrgangs 46 (1932) in „Protestantische Halbmonatsschrift für Gebildete aller Stände". Rade erläuterte, die Bezeichnung „christliche Welt" solle ausdrücken, daß „alles, was christlich ist und christlich heißt, in seinem ganzen Umfange, geographisch und geschichtlich genommen [...] den Bereich unsers Interesses" bilde. Der neue Titel bezeichne weiterhin „das Gemüt des Christen", um dessen Verständnis das Blatt bemüht sei. Darüber hinaus beinhalte die „christliche Welt" „das christliche Evangelium, eine Welt von Gottesgedanken und Gottesthaten, von Erkenntnissen, Verheißungen und Aufgaben", in die „das noch fremde Gemüt einzuführen, das schon heimische aber noch heimischer darin zu machen" sei. „Christliche Welt" drücke so Anspruch und Aufgabe des Blattes aus. 1 2 7 Rade und seine Freunde wollten mit ihrer Zeitschrift dazu beitragen, die Welt durch die christliche Botschaft unter Berücksichtigung der Gegebenheiten der Welt und der in ihr lebenden Menschen zu verändern. Rade, der Herausgeber, prägte durch seinen Charakter die „Christliche Welt". Da er über einen flüssigen und lebendigen Schreibstil verfügte, fanden seine Artikel, Andachten und Mitteilungen viele Leserinnen und Leser. Wie er selbst offen war für neue Ideen und Entwicklungen, so ließ er in seiner Zeitschrift — durchaus in Abweichung von der ursprünglichen Absicht, sie „vom blinden Eifer vermeinten Fortschritts, von der bunten Folge der Einfälle und Hypothesen [...] mit allem Fleiße frei" zu halten 1 2 8 — unterschiedliche Meinungen zu Wort kommen und sich der Diskussion stellen. Alle wichtigen theologischen und kirchlichen Entwicklungen wurden in der C W behandelt. Rade öffnete sein Blatt beispielsweise der Religionsgeschichtlichen Schule und ließ die Vertreter der dialektischen Theologie darin zu Wort kommen (s. Kapitel 16). Er verstand es, Kontakt zu Menschen unterschiedlichster Prägung zu halten. So wurde die C W ein „Sprechsaal", ein Diskussionsforum, in dem neue theologische Ansätze zu Wort kommen und sich der Kritik stellen konnten. 125 126 127 128

Rade, M . : „Die christliche Welt", in: C W 1 ( 1 8 8 7 ) , 4 9 7 . Ebd. Ebd. Rade: Rundschreiben, 13.

26

Einleitung

Harnack begleitete die C W und ihren Herausgeber auf ihrem Weg. Er bestärkte Rade in seinem Kurs und unterstützte die Zeitschrift auch finanziell. 1 2 9 Manche seiner Abhandlungen wurden dort veröffentlicht. Seine Mitarbeit war jedoch — bedingt durch seine vielfältigen Engagements in Wissenschaft, Verwaltung des Wissenschaftsbetriebs und öffentlichem Leben — nicht so intensiv, wie Rade es sich wünschte. Immer wieder begegnen im Briefwechsel Bitten und Aufforderungen Rades an den einstigen Lehrer, die C W durch stärkere Mitarbeit zu unterstützen, etwas für sie zu schreiben oder in ihr zu veröffentlichen, immer wieder lehnte Harnack mit Hinweisen auf seine hohe Arbeitsbelastung a b . 1 3 0 Für Entscheidungen Harnacks, Vorträge oder Aufsätze in anderen Zeitschriften zu veröffentlichen, konnte Rade z. T. noch Verständnis aufbringen. 1 3 1 Er zeigte sich aber verärgert, wenn Anregungen und Zusagen Harnacks keine Verwirklichung erfuhren, 1 3 2 und wies ihn darauf hin, daß „ein Stück Inter[esse]" an der C W „ e r l a h m t " , 1 3 3 wenn „die Freunde, auf deren Mitarb[ei]t das Ansehn unsers Blattes beruht, mich je länger je mehr im Stich l a s s e n " . 1 3 4 Rade ließ sich jedoch durch schlechte Erfahrungen dieser Art nicht davon abhalten, Harnack immer wieder um Beiträge für die C W zu bitten. Auch ihre Beziehung hielt diesen Belastungen stand. Sie entwickelte sich zu einer Freundschaft, die ihr Leben begleitete.

7. Harnacks Berufungen nach Marburg und Berlin Harnacks Zeit in Gießen endete 1886. Z w a r zerschlug sich aufgrund der Kritik an seinem „Lehrbuch der Dogmengeschichte" eine Berufung nach Leipzig, 1 3 5 doch das preußische Kultusministerium nahm Mitte 1886 Kontakt zu ihm auf, und er wurde zum Professor an die Philipps-Universität in Marburg berufen. 1 3 6 Im folgenden J a h r wurde in Berlin ein Nachfolger für den Kirchenhistoriker Karl Semisch gesucht. Die theologische Fakultät setzte im Dezember 1887 Harnack an die erste Stelle ihres Berufungsvorschlags. 1 3 7 129

Vgl. Nr. 5 2 und 6 9 .

130

Bereits im J a h r 1 8 8 7 finden sich entsprechende Äußerungen H a r n a c k s ; vgl. Nr. 4 9 f . Vgl. Nr. 7 8 . Vgl. Nr. 7 8 , 175. Nr. 175. Nr. 177. Vgl. Nr. 3 6 , 4 2 und 4 4 .

131 132 133 134 135 136 137

Vgl. Z a h n - H a r n a c k , 1 0 7 f . In der Begründung des Vorschlags wurden besonders die didaktischen Fähigkeiten H a r nacks betont. Seine wissenschaftlichen Fähigkeiten wurden ebenfalls hervorgehoben, doch auch kritisch angemerkt, daß „die für einen Historiker nötige Objektivität des Urteils bei ihm noch vielfach zu vermissen ist, daß die Ergebnisse aus seinen sonst wohlfundierten Prämissen oft vorschnell gezogen, vielleicht auch (wenigstens nach der Ansicht einiger unter uns) durch seinen dogmatischen Standpunkt zu stark beeinflußt sind". Z a h n - H a r n a c k , 115. — Z u m Konflikt um H a r n a c k s Berufung nach Berlin vgl. Wendland; H u b e r / H u b e r , Bd. III, 6 4 5 - 6 5 5 ; Z a h n - H a r n a c k , 115ff.

27

Harnacks Berufungen nach Marburg und Berlin

D a bei B e r u f u n g e n e v a n g e l i s c h e r T h e o l o g i e p r o f e s s o r e n a u f L e h r s t ü h l e an den altpreußischen Fakultäten eine Stellungnahme des Evangelischen Oberkirchenrates einzuholen war, erging am 30. D e z e m b e r 1887 eine entsprechende Anfrage

des

Kultusministeriums.

In der k o n s e r v a t i v e n

kirchlichen

Presse

w u r d e g e g e n e i n e B e r u f u n g H a r n a c k s v e h e m e n t o p p o n i e r t . Vor a l l e m s e i n e S t e l l u n g z u d e n a l t k i r c h l i c h e n D o g m e n b i l d e t e A n l a ß der K r i t i k , 1 3 8 d o c h a u c h C h a r a k t e r f e h l e r w u r d e n i h m v o r g e w o r f e n . 1 3 9 D e r O b e r k i r c h e n r a t l e g t e in seiner A n t w o r t v o m 2 9 . Februar 1 8 8 8 z u m e r s t e n M a l E i n s p r u c h g e g e n

eine

g e p l a n t e B e r u f u n g ein. Z w a r sei n i c h t z u „verkennen, daß die theologische Gesamtanschauung des D. Harnack eine dem positiven Christentum und dem kirchlichen Bekenntnis zugeneigte ist. Andererseits aber enthält seine Dogmengeschichte Ausführungen, welche inbetreffs seiner Stellung zum neutestamentlichen Kanon, zu mehreren grundlegenden Heilstatsachen aus dem Leben Jesu Christi und zu der Einsetzung des Sakraments der Heiligen Taufe durch den Herrn Bedenken hervorgerufen haben, welche in unserer Mitte nicht haben überwunden werden können." 1 4 0 E r b l i c k t e der O b e r k i r c h e n r a t in der T h e o l o g i e H a r n a c k s E l e m e n t e , d i e m i t der L e h r a u f f a s s u n g der p r e u ß i s c h e n L a n d e s k i r c h e n i c h t in E i n k l a n g z u bring e n s e i e n , u n d l e h n t e d e s h a l b s e i n e B e r u f u n g a b , s o f a ß t e n Vertreter d e s p r e u ßischen Kultusministeriums

— v o r a l l e m Friedrich A l t h o f f , der Leiter der

H o c h s c h u l a b t e i l u n g — d i e s e n E i n s p r u c h als V e r s u c h der E i n e n g u n g der Lehrfreiheit v o n T h e o l o g i e p r o f e s s o r e n a u f . 1 4 1 D e s h a l b w u r d e der O b e r k i r c h e n r a t z u e i n e r e i n g e h e n d e n u n d d e t a i l l i e r t e n B e g r ü n d u n g seiner A b l e h n u n g a u f g e f o r d e r t . Im A n t w o r t s c h r e i b e n v o m 2 . M a i 1 8 8 8 w u r d e n als G r ü n d e für d a s 138

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Vgl. z. B. den Artikel: Berlin, den 3. Februar. Eine akademische Berufung, in: Evangelisch-kirchlicher Anzeiger 39 (1888), 44—46. In diesem Artikel wurden wesentliche Thesen aus Harnacks Dogmengeschichte mit sehr ironischem Unterton referiert. Harnacks kühne und originelle Konzeption errichte „ein Gebäude [...], an welchem nicht weniger als alles neu ist" und das bereits „mit zum Theil sehr gewichtigen Gründen angefochten worden ist." (45) Deshalb beständen gegen Harnacks Berufung schwere Bedenken. (46) Eine Woche später wurde in der Fortsetzung dieses Artikels (Berlin, den 10. Februar. Eine akademische Berufung, in: ebd., 54—56) Harnack als Vertreter der „Ritschl'schen Schule" vorgestellt, die über ein „stark ausgeprägtes Selbstbewußtsein" verfüge. (54) Der Berliner theologischen Fakultät drohe bei der Berufung Harnacks, daß sich in ihr „jene selbstherrliche Gerichtsbarkeit" dieser theologischen Schule etabliere, „die anderswo nahezu terrorisierend aufgetreten ist." Ebd. Harnack zeige eine „häufig recht peinlich berührende Ueberschätzung des eignen Urtheils" und zugleich „eine fast durchgängige Unterschätzung der Leistungen und Anschauungen Anderer, eine Neigung zum Absprechen, zum Verketzern und Verdammen". (Ebd., 54) Er lasse einen ,,auffallende[n] Hang zur Pikanterie in der Auffassung und Darstellung des Stoffes" erkennen, wobei er „dem Zeitgeschmack [...] weitgehende Concessionen" mache und der Eindruck entstehe, durch Harnacks Darstellungen „solle der Leser mehr unterhalten, ja gekitzelt, als belehrt werden." Ebd., 54 f. Wendland, 106; Huber/Huber, Bd. III, 649. Propst Benno Bruno Brückner, seit 1877 Vizepräsident der Oberkirchenrates, und Propst Hermann Freiherr von der Goltz, seit 1876 Mitglied dieses Gremiums, erklärten ihre Ablehnung des Votums. Vgl. H u b e r / H u ber, Bd. III, 649, Anm. 19. Vgl. Huber/Huber, Bd. III, 645.

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Einleitung

Votum gegen Harnack seine Thesen der Pseudepigraphie hinsichtlich des Johannesevangeliums, des Epheser- und des ersten Petrusbriefes, seine Stellung zu den Wundern und besonders zur Frage der Geburt Jesu durch eine Jungfrau sowie sein Leugnen der Einsetzung der Taufe auf den dreieinigen Gott durch Jesus angeführt. 1 4 2 Aufgrund dieses Schreibens wurden vom Kultusministerium fünf Theologieprofessoren 1 4 3 um Gutachten gebeten, ob die entsprechenden Thesen Harnacks mit Bekenntnis und Lehre der evangelischen Kirche unvereinbar seien. Alle Gutachter sprachen sich zugunsten Harnacks aus, wie auch Erkundigungen über Harnacks Lehrtätigkeit und persönliches Verhalten ein positives Bild entwarfen. Die von Seiten konservativer Kreise, die sich vor allem um den Hofprediger Adolf Stoecker scharten, an Harnack geübte Kritik war inzwischen nicht verstummt. Auch Vorschläge für die Besetzung des Lehrstuhls kamen aus dieser Richtung: so wurden z. B. Theodor Christlieb oder der Jurist Rudoph Sohm vorgeschlagen. 1 4 4 Martin Rade stellte sich durch einen Artikel in der CW auf die Seite Harnacks und korrespondierte mit ihm über seinen eventuellen Nachfolger in Marburg. 1 4 S Kultusminister Gustav von Goßler griff in die inzwischen zu einem Politikum gewordene Angelegenheit ein und ließ Harnack zu einem Gespräch am 10. Juni nach Naumburg bestellen, wo er sich während einer Dienstreise aufhielt. 1 4 6 Er gewann einen sehr positiven Eindruck von ihm und ließ einen entsprechenden Immediatsbericht vorbereiten. 1 4 7 Bevor dieser dem Kaiser vorgelegt werden konnte, starb Friedrich III. Goßler wandte sich nun an Bismarck. Er betonte die politische Dimension dieser Auseinandersetzung zwischen Staat und Kirchenleitung und bewertete sie so hoch, daß er im Falle der Nichtberufung Harnacks seinen Rücktritt ankündigte. 1 4 8 Bismarck stellte sich 142

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Zahn-Harnack, 119. Freiherr von der Goltz erklärte in einem Separatvotum seine Ablehnung auch dieser Stellungnahme. Vgl. ebd. und Wendland, 107ff. Wilhelm Mangold, Emil Kautzsch, Julius Köstlin, Erich Haupt, Gustav Kawerau. Vgl. Nr. 54 und 61. Rade, M.: Eine akademische Berufung, in: CW 2 (1888), 2 1 9 - 2 2 2 . Vgl. Nr. 54ff. Bedauerlicherweise ist ein Teil der Schreiben Harnacks wie auch Rades aus dieser bewegten Zeit verlorengegangen. Das ensprechende Schreiben Friedrich Althoffs und Bernhard Weiß' vom 6. Juni 1888 befindet sich im Harnack-Nachlaß, K 26. Der positive Ausgang des Gesprächs erfreute Althoff, der sich in dem Berufungsverfahren sehr für Harnack engagierte, so daß er ihm am 11. Juni 1888 schrieb, er befände sich deshalb „eigentlich in der Stimmung, diesen Brief mit einigen Reformationsliedern zu eröffnen." Ebd. Minister von Goßler erklärte, daß aufgrund des vorliegenden Materials „absolute Sicherheit" darüber bestehe, „daß die Bedenken des Oberkirchenrats der Begründung entbehren, und daß die Berufung des unbestritten bedeutendsten Kirchenhistorikers unter den Jüngeren nach Berlin der Theologie, der Heranbildung der akademischen Jugend, der Belebung des kirchlichen Sinnes, mithin der weiteren Entwicklung der evangelischen Kirche selbst zum Segen gereichen wird." (Zahn-Harnack, 123) Er wies darauf hin, daß die Berufungsfrage in der Öffentlichkeit inzwischen als „Zweikampf zwischen dem

Harnacks Berufungen nach Marburg und Berlin

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auf die Seite Goßlers. So wurde am 4. Juli 1888 ein Immediatsbericht an Wilhelm II. gesandt, der sich für die Berufung Harnacks aussprach und anmerkte, daß der Oberkirchenrat wohl „über Person und Wirksamkeit des Professors Harnack unzureichend unterrichtet gewesen ist und an die Prüfung seiner wissenschaftlichen Arbeiten Maßstäbe angelegt hat, welche die Freiheit der theologischen Forschung und damit ihren Lebensnerv unterbinden müßten, wenn sie für die Zulassung zum akademischen Lehramt geltend gemacht würden." 1 4 9

Während Wilhelm II. die Akten der Angelegenheit an den Oberkirchenrat senden und um eine erneute Stellungnahme bitten ließ, verdeutlichte die Marburger Universität ihre Unterstützung Harnacks dadurch, daß sie den 37jährigen zum Rektor wählte. Auch das zweite Votum des Oberkirchenrates, das erst am 6. September 1888 vorgelegt wurde, sprach sich ablehnend gegenüber Harnack aus. Nachdem ein weiterer Immediatsbericht die Berufung Harnacks befürwortet hatte, unterzeichnete Wilhelm II. mit Datum vom 17. September 1888 die Urkunde der Versetzung Harnacks nach Berlin. Rade gratulierte bald darauf. 1 5 0 Die evangelisch-theologische Fakultät der Universität Gießen verlieh Bismarck die Würde eines Ehrendoktors der Theologie und dankte ihm für die „Entschlossenheit, mit welcher er für die Freiheit derselben [= der evangelisch-theologischen Fakultäten] eingetreten ist, ohne welche sie dem Evangelium und der Kirche nicht dienen können." 1 5 1 Die Kirchenleitung der preußischen Landeskirche blieb bei ihrer Ablehnung Harnacks und verweigerte ihm das Recht, Theologiestudenten zu examinieren. 1 5 2 An der Diskussion um die Berufung Harnacks wird die Spannung zwischen evangelischer Landeskirche und preußischer Regierung deutlich. Der Evangelische Oberkirchenrat als leitendes Gremium der Landeskirche, dessen Vertreter mehrheitlich konservative Anschauungen vertraten, war bestrebt, den Einfluß von ihm gefährlich erscheinenden theologischen Richtungen auf kirchliche Angelegenheiten zu minimieren, während die preußische Regierung dies als Angriff auf ihre Kompetenzen und den Versuch, hoheitliche Rechte auszuhöhlen, verstand, der unter allen Umständen abzuwehren sei. Das Bemühen, neben der konservativen auch die „liberale" Richtung der Theologie bei der Lehrstuhlvergabe angemessen zu berücksichtigen, spielte dabei eine eher untergeordnete Rolle.

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Unterrichtsministerium und der Hofpredigerpartei" angesehen werde. Sollte die Entscheidung des neuen Kaisers gegen Harnack ausfallen, „so ist die dienstliche Tätigkeit des Unterrichtsministers beendet". Ebd., 124. Ebd., 125. Nr. 67. Huber/Huber, Bd. III, 655. Zahn-Harnack, 230.

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Einleitung

8. Rades Wechsel nach Frankfurt Die Jahre zwischen dem Kampf um Harnacks Berufung nach Berlin und der Jahrhundertwende brachten für Martin Rade große Veränderungen seiner Lebensgestaltung. Am 16. September 1889 heiratete er Dora Naumann, die Schwester Friedrich Naumanns. 1 5 3 Sie wurde nicht nur die Gefährtin seines Lebens, sondern unterstützte seine Arbeit wesentlich, indem sie die geschäftlichen Angelegenheiten im Zusammenhang mit der CW in die Hand nahm, auch lange Jahre die Kasse der 1903 gegründeten „Vereinigung der Freunde der Christlichen Welt" führte. Bei längerer Abwesenheit Rades und des Redaktionshelfers übernahm sie die Redaktion der CW, und als Rade ab 1. Januar 1899 die CW in einem eigenen Verlag herausgab, ließ sich Dora Rade im Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), in dem die CW seit Herbst 1877 verlegt worden war, ins Verlagsgeschäft einführen. 1 5 4 Vergleichbare Tätigkeiten übernahm Amalie Harnack, geb. Thiersch, die seit dem 27. Dezember 1879 mit Adolf Harnack verheiratet war, nur in begrenztem Umfang. Sie ordnete die Korrespondenz ihres Mannes und fertigte hin und wieder Abschriften wichtiger Briefe an. 1 5 5 Die Erziehung ihrer großen Kinderschar, die zudem durch ernste Krankheiten zweier Söhne erschwert wurde, und die Haushaltsführung lasteten sie aus. 1 5 6 Zur Ergänzung der CW wurde 1890 die „Chronik der Christlichen Welt" als „unparteiisches, zuverlässiges kirchliches Nachrichtenblatt" 1 5 7 gegründet. Die Konkurrenz zur Zeitschrift des konservativen Neuluthertums, der „Allgemeinen Evangelisch-Lutherischen Kirchenzeitung", die von Chr. E. Luthardt gegründet und lange herausgegeben worden war, war beabsichtigt. 1 5 8 Erich Foerster, der 1890 Redaktionshelfer bei Rade gewesen war, ging im April 1891 nach Berlin zurück, um seine theologischen Studien weiterzuführen. Er übernahm ab dem 15. April 1891 die Redaktion der CCW, die er bis 1903 innehatte. Die CCW mußte 1917 ihr Erscheinen aufgrund des wachsenden Verlustes an Abonnements und der kriegsbedingten Papierknappheit einstellen. Stattdessen wurde in der CW eine Rubrik „Kirchliche Nachrichten" eingerichtet. Das ereignisreiche Jahr 1892 begann für Rade mit einer akademischen Ehrung. Die theologische Fakultät der Universität in Gießen promovierte ihn 153 154 155

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Vgl. Rathje, 33 f. Vgl. die entsprechende Erinnerung O. Siebecks, in: Vierzig Jahre, 165. Harnack, A. von: Der handschriftliche Nachlaß Adolf v. Harnacks, in: Zentralblatt für Bibliothekswesen 56 (1939), 60ff. Vgl. Zahn-Harnack, 83ff., 217ff. Rade, M.: Die „Chronik der Christlichen Welt" und die „Christliche Welt", in: CW 4 (1890), 1054. Vgl. Rathje, 57f. Vgl. Nr. 82, bes. Anm. 5. Vgl. Rieske-Braun, U.: Zwei-Bereiche-Lehre und christlicher Staat. Verhältnisbestimmung von Religion und Politik im Erlanger Neuluthertum und in der Allgemeinen Evangelisch-Lutherischen Kirchenzeitung ( = Die lutherische Kirche. Geschichte und Gestalten, Bd. 15), Gütersloh 1993.

Der Evangelisch-soziale Kongreß

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ehrenhalber zum D. theol. 1 5 9 In der gleichen Zeit wurde Rade gefragt, ob er ggf. als Nachfolger Johannes Gottschicks den Lehrstuhl für Praktische Theologie in Gießen übernehmen wolle. 1 6 0 Rade lehnte diese Kandidatur, die ihn durchaus reizte, ab. Er fühlte sich verpflichtet, seine Bewerbung für das Amt des Pfarrers an der Paulskirche in Frankfurt am Main aufrecht zu erhalten, da seine Wahl sichergestellt war. Besonders aufgrund der Tatsache, daß sich alle theologischen Richtungen in Frankfurt auf ihn geeinigt und ihn einstimmig vorgeschlagen hatten, wollte er dieses Amt nicht ausschlagen. 1 6 1 Z u d e m lockte ihn die Erweiterung des Horizonts und die neuen Wirkungsmöglichkeiten in dieser „Stadt der kirchlichen U n o r d n u n g " . 1 6 2 Auch die Aussicht auf engere Zusammenarbeit mit seinem Schwager Friedrich N a u m a n n , der seit 1890 in Frankfurt als Vereinsgeistlicher der Inneren Mission tätig war, m a g zu seiner Entscheidung beigetragen haben. In engem Kontakt mit N a u m a n n beschäftigte er sich mit der Lage der Industriearbeiterschaft und besuchte Versammlungen der in Frankfurt gut organisierten Sozialdemokraten, wobei er sich nicht scheute, seine religiösen und ethischen Überzeugungen in die Diskussion einzubringen. 1 6 3 Mit Veröffentlichungen wie der Schrift „Religion und M o r a l " 1 6 4 wollte er Anregungen zur Ausgestaltung einer zeitgemäßen Ethik geben, die auch die Situation abhängig Beschäftigter berücksichtigte. Auch seine für den ESK erarbeitete Untersuchung über „Die sittlich-religiöse Gedankenwelt unserer Industriearbeit e r " 1 6 5 , eine der ersten religionssoziologischen Studien in Deutschland, erwuchs aus diesem Engagement.

9. Der Evangelisch-soziale Kongreß 9.1. G r ü n d u n g und P r o g r a m m Ausgelöst durch die „Februarerlasse" Kaiser Wilhelms II. 1 6 6 setzte im Jahr 1890 in der evangelischen Kirche eine neue Phase der Auseinandersetzung mit Vgl. Nr. 83 f. '«> Vgl. Nr. 84 und Rathje, 63. 1 6 1 Vgl. Nr. 84. 1 6 2 Ebd. 1 6 3 Vgl. Jaeger, P.: Frankfurt a. M . 1893, in: C W 51 (1937), 3 0 2 - 3 0 5 ; Ruddies, H.: Martin Rade, in: Gott in Frankfurt? Theologische Spuren in der Metropole, hrsg. von M . Benad, Frankfurt a. M . 1987, l l O f f . 1 6 4 Rade, M . : Religion und M o r a l . Streitsätze für Theologen ( = Vorträge der Theologischen Konferenz zu Gießen, 18), Gießen 1898. Vgl. dazu Schwöbel: R a d e , 9 0 f f . 1 6 5 Siehe Anm. 245. 1 6 6 Wilhelm II. erklärte im Erlaß vom 4. Februar 1890 an den Reichskanzler (abgedruckt in: H u b e r / H u b e r , Bd. II, 510—512), er sei entschlossen, „zur Verbesserung der L a g e der deutschen Arbeiter die H a n d zu bieten", (510) und forderte Überlegungen und Verständigungen „über die Möglichkeit, denjenigen Bedürfnissen und Wünschen der Arbeiter entgegenzukommen, welche in den Ausständen der letzten J a h r e und anderweit zu T a g e getreten s i n d . " (511) Im Erlaß an den Minister der öffentlichen Arbeiten und den Mini159

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Einleitung

d e r s o z i a l e n F r a g e ein. Viele j u n g e P f a r r e r w a n d t e n s i c h — in i h r e n e i g e n e n W ü n s c h e n b e s t ä r k t d u r c h d a s V o t u m des O b e r k i r c h e n r a t e s 1 6 7 — s o z i a l e n P r o b l e m f e l d e r n zu. H o f p r e d i g e r S t o e c k e r , d e r sein „ c h r i s t l i c h - s o z i a l e s " E n g a g e m e n t m i t e i n e r s t r e n g k o n s e r v a t i v e n u n d s t a a t s t r e u e n E i n s t e l l u n g v e r b a n d , b e m ü h t e sich u m d i e Z u r ü c k g e w i n n u n g d e r A r b e i t e r s c h a f t f ü r die e v a n g e l i s c h e K i r c h e u n d ein g l e i c h z e i t i g e s B e k ä m p f e n d e r S o z i a l d e m o k r a t i e . N u n , d a die Z e i t f ü r die V e r b r e i t u n g des c h r i s t l i c h - s o z i a l e n A n l i e g e n s g ü n s t i g s c h i e n , r e g t e er g e m e i n s a m mit L u d w i g Weber, dem Vertreter der evangelischen Arbeitervereine, und dem N a t i o n a l ö k o n o m e n A d o l f W a g n e r d i e G r ü n d u n g eines

„Evangelisch-sozialen

K o n g r e s s e s " a n , d e s s e n e r s t e V e r s a m m l u n g v o m 2 7 . bis 2 9 . M a i 1 8 9 0 in B e r l i n stattfand. Stoecker drängte darauf, d a ß nicht nur Vertreter der konservativen „positiven" Richtung, sondern Repräsentanten

aller

kirchlich-theologischen

Richtungen eingeladen w u r d e n . 1 6 8 ster für Handel und Gewerbe mit gleichem Datum verlangte er Überlegungen zu Gesetzen zu bestimmten Bereichen, wie den Sozialversicherungen, der Gewerbeordnung und der Interessenvertretung der Arbeiter gegenüber den Arbeitgebern. (511) In einer Rede vor dem Preußischen Staatsrat am 14. Februar 1890 (auszugsweise abgedruckt in: Huber/Huber, Bd. III, 692—694) forderte Wilhelm II. dieses Gremium auf, Maßnahmen zur „besseren Regelung der Verhältnisse des Arbeiterstandes" vorzuschlagen, (692) durch die der nötige Schutz gegenüber „willkürlicher und schrankenloser Ausbeutung", die Einschränkung der Kinderarbeit und die Rücksichtnahme auf die besondere Stellung verheirateter Frauen gewährleistet werden sollen, ohne dabei jedoch die deutsche Wirtschaft in ihrer Wettbewerbsfähigkeit einzuschränken. Ebd., 693. 167

In einer Ansprache vom 17. April 1890 (abgedruckt in: Huber/Huber, Bd. III, 6 9 4 - 6 9 8 ) wurden unter ausdrücklichem Bezug auf die Februarerlasse Wilhelms II. die protestantischen Geistlichen zu Engagement in der sozialen Frage aufgefordert. Zwar sei die evangelische Kirche „nicht berufen [...], die soziale Frage an sich zu lösen" oder sich für ein bestimmtes wirtschaftliches System zu entscheiden. (694) Die Angriffe auf Christentum und christliche Kirchen seitens der Sozialdemokratie wurden beklagt, und es wurde betont, daß die evangelische Kirche nicht „ruhig zusehen" dürfe, „daß ganze Volksschichten ihr und dem Evangelium, das sie verkündet, entfremdet, ihre Sitten zersetzt und christentumsfeindliche Strömungen zur Herrschaft gebracht werden." (695) Doch müsse die evangelische Kirche „auch dahin wirken, daß den berechtigten Bedürfnissen der Arbeiter Befriedigung geschafft, der Ausbeutung ihrer Kraft und derjenigen der Ihrigen gewehrt, durch tunlichstes Entgegenkommen der Besitzenden jede Erweiterung des Zwiespalts zwischen ihnen und den Besitzlosen verhindert und die Beseitigung der vorhandenen Kluft wenigstens angestrebt werde." (695) Zur Mitarbeit an „diesen schwierigen Aufgaben" rief der Oberkirchenrat die Geistlichen der preußischen Landeskirche ausdrücklich auf. (695 ff., Zitat 695). Auch Leitungsgremien anderer Landeskirchen, wie z. B. das Sächsische und das Hannoveraner Landeskonsistorium sowie die Superintendenten des Konsistorialbezirks Kassel äußerten sich in vergleichbarer Weise. Vgl. ebd., 698 ff. Vgl. auch Pollmann: Kirchenregiment, 81 ff.

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Einladungsschreiben zum ersten ESK, in: Verhandlungen des Ersten Evangelisch-sozialen Kongresses, 3: „Da es Aufgabe des Kongresses sein soll, für das Verhalten der positiv gerichteten Evangelischen aller Richtungen gewisse gemeinsame Grundlinien zu finden, so wenden sich die Unterzeichner an Männer aller politischen und kirchlichen Parteien, welche auf staatserhaltendem und kirchenfreundlichem Boden stehen." Als Motive für die Gründung des Kongresses wurden im Einladungsschreiben die „drohende Gefahr, welche in dem Wachsthum der Sozialdemokratie und ihrer zunehmenden Entfremdung

Der Evangelisch-soziale Kongreß

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Rade äußerte sich in der CW zustimmend zu diesem Plan. 1 6 9 Er reiste zum ersten Kongreß nach Berlin, um ihm „nach Kräften aus den Stöckerschen Bahnen herauszuhelfen." 1 7 0 Die Einladung zum ersten ESK fand ein breites Echo; über 700 Teilnehmer erschienen. Unter den „modernen" Theologen war Harnack einer der bekanntesten. Eine Vorbesprechung bei Hermann von Soden, an der Harnack und Rade teilnahmen, 1 7 1 diente der Abstimmung unter ihnen. Harnack hatte im Vorfeld des Kongresses seine diesbezügliche Position dargelegt. 1 7 2 Die Aufgabe des Kongresses sah er in der Reflexion und Erörterung von Fragen aus dem sozialen Bereich vom christlichen Standpunkt aus. Er betonte, daß die christliche Kirche nach dem Willen Jesu Christi ein Bruderbund sein müsse, dem „die Notleidenden, Schwachen und Verwirrten auf die Seele gebunden" seien. 1 7 3 Die oberste und wichtigste Aufgabe der Kirche sei die Verkündigung des Evangeliums, 1 7 4 doch die Kirche sei zugleich ein „organisierte)^] Institut", das dazu auszugestalten sei, die soziale Not zu bekämpfen. 1 7 5 Notwendig für eine wirksame soziale Arbeit seien sachkundige Informationen. 1 7 6 Hier habe der Kongreß eine Aufgabe ebenso wie bei der Erörterung der prinzipiellen Frage, inwieweit sich die Kirche neben Staat und Gesellschaft im sozialen Bereich engagieren solle. 1 7 7 Die Bekämpfung der sozialen Not wies Harnack dem Kongreß nicht zu. Dies müsse geschehen durch „eine neue, reichere Ausgestaltung der Gemeindeorganisation auf der Basis kleiner, geschlossener Einzelgemeinden". 1 7 8 Für Harnack waren ebenso wie für Ritsehl christlicher Glaube und soziales Engagement unlösbar miteinander verbunden. 1 7 9 Deshalb konnte er betonen,

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von der Kirche" und die „energische P r o p a g a n d a " R o m s auf sozialem Gebiet genannt. (Ebd.) Die bewußte Kampfhaltung gegenüber der katholischen Kirche, die sich aus der zeitlichen N ä h e zum Kulturkampf erklärt, bildete jedoch kein prägendes M e r k m a l des E S K und trat bald in den Hintergrund. Rade, M . : Der Evangelisch-soziale Kongreß, in: C W 4 (1890), 4 7 7 - 4 7 9 . Nr. 78. Zugleich hatte er Bedenken bezüglich der Realisierbarkeit dieses Vorhabens und vermerkte „ E s wird aber schwerlich gelingen." Ebd. Vgl. auch R a d e s kritische Bemerkung über Stoecker in Nr. 80. Vgl. Nr. 80. H. von Soden referierte auf dem Kongreß über „ D i e Kirchengemeinde in ihrer sozialen Bedeutung". Vgl. Verhandlungen des Ersten Evangelisch-sozialen Kongresses, 1 5 - 3 5 . Vgl. auch Rade: Kongreß, 5 5 4 - 5 5 6 . H a r n a c k , A.: Der Evangelisch-soziale Kongreß zu Berlin, in: PrJ 65 (1890), 566—576; auch in: R A 2, 327—343. Im folgenden zitiert nach R A . R A 2, 330. Ebd., 334, 342. E b d . , 334. Ebd., 330. Ebd., 331 f. Ebd., 338. H a r n a c k berief sich hier auf die von Emil Sülze geforderte Neugestaltung der evangelischen Gemeinden in kleine, funktionsfähige Einheiten, in denen die Aufgaben erfüllt werden könnten, die zur Zeit von den verschiedenen Vereinen angegangen würden. (Vgl. Anm. 184.) Er stimmte so mit den Thesen des Kongreßvortrags H . von Sodens überein. Zehn J a h r e später formulierte er, daß „die Religion die Seele der M o r a l und die M o r a l " der „Körper der Religion" sei, da J e s u s die Menschen gelehrt habe, daß aus der Gottes-

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Einleitung

daß wirksames und wahrhaft christliches Engagement kein blinder Aktionismus sei, sondern aus dem christlichen Glauben erwachse. 1 8 0 In Übereinstimmung mit Harnack verstand Rade die Losung „Vereine und Agitation!" in bezug auf soziales kirchliches Handeln als Alternative zu „Gemeinden!" 1 8 1 und favorisierte — wie H. von Soden in seinem Kongreßvortrag — den Ansatz bei der Gemeinde. Der Aufbau wahrhaft christlicher Gemeinden sei nicht ein Mittel neben anderen, womit die Kirche ihren Beitrag zur sozialen Reform zu leisten habe, sondern das Mittel, welches aus dem Evangelium selbst sich unmittelbar ergebe, bei seiner Handhabung über die Grenzen des kirchlichen Gebietes hinausführe und allein dauerhaften Erfolg verheiße. 1 8 2 Christen, die ihr Christsein wirklich ernst nehmen, schließen sich nach Ansicht Rades zu Gemeinden zusammen und werden sich aus ihrem Glauben heraus mit aktuellen ethischen Fragen auseinandersetzen und so zum Engagement in sozialen Problembereichen motiviert. Es sei das Evangelium selbst, aus dem dieses Engagement erwachse. 1 8 3 Harnack wie Rade fußten auf dem sozialethischen Entwurf Emil Sulzes, der als Ideal für die evangelische Kirche die neugestaltete Gemeinde „nach liebe die W e r k e der N ä c h s t e n l i e b e erwachsen. H a r n a c k : Wesen, 5 2 . An anderer Stelle (ebd., 68) faßte er zusammen: „ D a s Evangelium ist eine soziale B o t s c h a f t von heiligem Ernst und erschütternder K r a f t ; es ist die Verkündigung der Solidarität und Brüderlichkeit zugunsten der Armen. Aber diese B o t s c h a f t ist verbunden mit der Anerkennung des unendlichen Wertes der Menschenseele, und sie ist eingebettet in die Predigt v o m R e i c h e G o t t e s . " Vgl. auch H a r n a c k s auf dem fünften E S K gehaltenen Vortrag: Die evangelischsoziale Aufgabe im Lichte der G e s c h i c h t e der Kirche, in: Verhandlungen des Fünften Evangelisch-sozialen Kongresses, 1 3 6 — 1 7 6 ; auch in: R A 2 , 2 3 — 7 5 . Entsprechend seiner generellen B e t o n u n g des Individuellen nannte H a r n a c k dort unter den aufgeführten drei Mitteln zur Behebung der sozialen N o t als das Erste und Entscheidende „die Schärfung des Gewissens der Einzelnen". ( R A 2, 3 2 ) D a s zweite Mittel „ist die Ausgestaltung der einzelnen G e m e i n d e zu einer tatkräftigen, durch Bruderliebe zusammengehaltenen G e m e i n s c h a f t " . (Ebd., 33) D a s dritte Mittel sei das Einwirken auf weltliche, staatliche Institutionen im christlichen Sinne. (Ebd., 3 3 ) Als Aufgabe der Kirche erklärte er nach der Predigt des Evangeliums den „Ausbau der G e m e i n d e [als] die oberste evangelisch soziale A u f g a b e . " (Ebd., 68) In der Predigt Jesu begegne zwar der G e d a n k e der „ N ä c h stenliebe als E x p o n e n t der G o t t e s l i e b e " , doch ist dies kein zentraler Punkt für Jesus. „In seiner Predigt tritt die N ä c h s t e n l i e b e und die Pflicht zur Hilfe schlicht und einfach auch als eine Pflicht auf, die ganz a u f sich selbst beruht und nur ihr Vorbild an dem barmherzigen W i r k e n G o t t e s h a t . " ( R A 4 , 2 6 8 ) Jesus verkündete nicht in erster Linie seine soziale B o t s c h a f t , sondern „predigte die N ä h e des G o t t e s r e i c h e s " . (Ebd., 2 6 6 ) D i e Hilfe dem Nächsten gegenüber ist zwar auch „eine primäre Forderung des E v a n g e l i u m s " (ebd., 2 7 0 ) , doch d a r f sie nicht „nur als eine abgleitete ,soziale A n w e n d u n g ' des E v a n g e l i u m s " betrachtet werden, sondern „als soziologisches Prinzip, welches teils aus der Gottesliebe folgt, teils auch sein eigenes R e c h t besitzt". (Ebd., 2 7 1 ) Ethisches und soziales Handeln entspricht also dem Evangelium, das auch als „ethische B o t s c h a f t dargestellt werden k ö n n e , o h n e es zu e n t w e r t e n . " ( H a r n a c k : Wesen, 5 1 ) Es beruht nach Ansicht H a r n a c k s auf der freien Entscheidung des M e n s c h e n und ist eine selbständige G r ö ß e . 180 181 182 183

Vgl. R A 2 , 3 1 f. R a d e : Kongreß, 5 5 4 . Ebd., 5 5 5 f . Vgl. auch R a d e : K o n g r e ß , 6 0 6 f f . Rade: Kongreß, 556.

Der Evangelisch-soziale Kongreß

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dem Vorbild, das Christus in der Bildung seiner Jüngergemeinde für alle Zeiten der Welt als das untrügliche vor Augen gestellt hat", propagierte. In ihr könne das Individuum den ihm gemäßen Raum für Entfaltung und Wachstum finden, und nur so könne den sozialen Problemen wirksam begegnet werden. 1 8 4 Die dem christlich-sozialen Anliegen Stoeckers verpflichteten Teilnehmer des Kongresses dagegen favorisierten das soziale und politische Aktivwerden der Christen in Vereinen und Parteien sowie durch Agitationen. 1 8 5 Trotz dieser Differenzen konnten sich die Kongreßbesucher in großem Maße verständigen. Es herrschte darüber Übereinstimmung, daß die bestehende Gesellschaftsordnung nicht die einzige für Christen denkbare sei und die evangelische Kirche an der Beseitigung sozialer Mißstände und an der Überwindung der großen Differenzen innerhalb der Gesellschaft mitarbeiten müsse. So wurde der Kongreß keine sich allein dem Kampf gegen die Sozialdemokratie widmende Einrichtung, sondern — im Sinne Rades, Harnacks und ähnlich Denkender — ein Forum, auf dem sozialpolitsche und sozialethische Fragen diskutiert wurden. 1 8 6 Entsprechend formulierten es die auf dem zweiten ESK 1891 verabschiedeten Satzungen als Aufgabe des Kongresses, „die sozialen Zustände unseres Volkes vorurtheilslos zu untersuchen, sie an dem Maßstabe der sittlichen und religiösen Forderungen des Evangeliums zu messen und diese selbst für das heutige Wirthschaftsleben fruchtbarer und wirksamer zu machen als bisher." 1 8 7 Dies sollte auf den Kongressen durch Diskussion von Referaten zu sozialkirchlichen, sozialethischen und sozialpolitischen Themen geschehen. 188 Die nun bis 1941 — mit kurzen Unterbrechungen während des Ersten Weltkriegs und der ersten Zeit der Weimarer Republik — jährlich durchgeführten Kongresse mit den jeweils durch Referate vorbereiteten Debatten über aktuelle soziale Themen 1 8 9 bildeten den Schwerpunkt der Arbeit. Die Treffen fanden in großen Städten — meist in Industrieregionen — statt. Z u m Präsidenten wurde auf dem ersten ESK Landesökonomierat Moritz August Nobbe gewählt, auf den sich die Mitglieder aller im Kongreß vertrete184

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Sülze, E.: Über die Aufgaben der evangelischen Kirche gegenüber den sozialen Fragen der Gegenwart, Dresden, 1884, Zitat 22. Vgl. ders.: Die evangelische Gemeinde, Gotha 1890, wo Sülze seine Gemeindekonzeption ausführlich darlegte. Vgl. dazu Schick, 63 ff. Vgl. Rade: Kongreß, 5 7 9 - 5 8 6 . Vgl. Pollmann, K. E.: (Art.) Evangelisch-sozialer Kongreß, in: TRE, Bd. I, 1982, 647f. Verhandlungen des Zweiten Evangelisch-sozialen Kongresses, 126. Vgl. Das Arbeitsprogramm des Evangelisch-sozialen Kongresses, in: ebd., 128. Im Umfeld der Kongresse wurden öffentliche Versammlungen und Kurse zur vertieften Auseinandersetzung mit Fragen aus denselben Themenbereichen und zur Vermittlung grundlegender Kenntnisse (vor allem aus der Nationalökonomie) organisiert. Vgl. ebd. und Göhre, P.: Unser bevorstehender nationalökonomischer Kurs, in: MESK 2 (1893), Nr. 7, 1-3. Einen Überblick über Themen und Vorträge der Kongresse gibt Kretschmar, G.: Der Evangelisch-Soziale Kongreß. Der deutsche Protestantismus und die soziale Frage, Stuttgart 1972, 118 ff.

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nen Richtungen einlassen konnten und der nach außen hin signalisierte, daß der Kongreß weder ein Organ Stoeckers noch der Kulturprotestanten sein wollte. Stoecker wurde stellvertretender Vorsitzender. Paul Göhre, einst Redaktionshelfer bei der CW, wurde zum hauptamtlichen Generalsekretär gewählt; er hatte dieses Amt bis 1894 inne. Harnack wurde in das Aktionskomitee 1 9 0 gewählt, Rade zu einem der zwei Schriftführer des Kongresses. Z u ersten stärkeren Differenzen innerhalb des ESK kam es auf dem Treffen in Frankfurt am Main 1894. Die von Paul Göhre und M a x Weber gegebene Beschreibung der Mißstände in der Landwirtschaft wurde von rechtsstehenden Teilnehmern kritisiert. 1 9 1 Harnacks Vortrag über „Die evangelisch-soziale Aufgabe im Lichte der Geschichte der K i r c h e " 1 9 2 veranlaßte einen hessischen Pfarrer zu der Forderung, er solle zuerst „Kirchenbuße" tun für die „Zerstörung und Beseitigung der Grundschwellen" des Hauses, an dessen A u f b a u er jetzt mitarbeite. 1 9 3 9.2. Die Frauenfrage auf d e m Kongreß Einen anderen Streitpunkt bildete die Frage, ob Frauen auf dem Kongreß als Rednerinnen auftreten sollten. Der Ausschuß des ESK, der neben dem Vorstand Leitungsfunktionen wahrnahm, hatte einen entsprechenden positiven Beschluß gefaßt und daran die H o f f n u n g geknüpft, dadurch „zu einer ebenso kräftigen wie besonnenen gemeinsamen Aktion in den Frauen selbst wie in der heute immer brennender werdenden F r a u e n f r a g e " 1 9 4 zu gelangen. Dieser Beschluß, für den sich auch Harnack eingesetzt hatte, 1 9 5 führte dazu, daß Martin von Nathusius mit seinem Austritt drohte. Als auf dem Kongreß des folgenden Jahres in Erfurt Elisabeth Gnauck-Kühne über „Die soziale Lage der Frauen" referierte, 1 9 6 trat Nathusius und mit ihm der rechte Flügel aus dem Kongreß a u s . 1 9 7 190

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D a s ständige Aktionskomitee wurde vom Ausschuß auf jeweils zwei J a h r e gewählt. Es bestand aus 15 Mitgliedern. Der Ausschuß wies ihm seine Vollmachten und Geschäfte zu. Vgl. Die Satzungen des E S K , Artikel 8, in: Verhandlungen des Zweiten Evangelischsozialen Kongresses, 127. Vgl. Verhandlungen des Fünften Evangelisch-sozialen Kongresses, 66 ff. Veröffentlicht in: PrJ 76 (1894), 5 0 2 - 5 4 2 ; auch in: R A 2, 2 3 - 7 6 . Vgl. Verhandlungen des Fünften Evangelisch-sozialen Kongresses, 136 ff. Ebd., 174f. Ebd., 9. Der Ausschuß forderte zudem, daß drei Frauen in den erweiterten Ausschuß designiert werden sollten. Ebd. Vgl. Z a h n - H a r n a c k , 167. H a r n a c k hatte d a f ü r plädiert, daß Frauen zu Frauenfragen reden sollten. Stoecker stellte sich in dieser Situation auf die Seite H a r n a c k s . Er faßte die Frauenfrage als Teil der sozialen Probleme auf und lehnte politische Emanzipationsbestrebungen der Frauen ab. Er hielt auf dem E S K 1895 das Korreferat zum Vortrag von Frau Gnauck-Kühne, in dem er seine Einschätzung der Frauenfrage deutlich machte. Vgl. Verhandlungen des Sechsten Evangelisch-sozialen Kongresses, 100—112. Vgl. ebd., 8 2 - 1 0 0 . Vgl. Kötzschke, H . : Der Beschluß betreffend die Mitwirkung der Frauen am Kongreß, in: M E S K 3 (1894), Nr. 7, 5 - 7 ; N o b b e , M . : Herr Professor D. v. Nathusius und der Evangelisch-soziale Kongreß, in: ebd., 4 (1895), Nr. 6, 1 - 3 ; Rathje, 79.

Der Evangelisch-soziale Kongreß

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F r a u e n t h e m e n w u r d e n in der Folgezeit regelmäßig in sogenannten „Spezialk o n f e r e n z e n " mit Referentinnen behandelt. Auf d e m K o n g r e ß in F r a n k f u r t a m M a i n w a r beschlossen w o r d e n , F r a u e n g r u p p e n die Angliederung an den E S K zu gestatten. Bereits 1894 w u r d e unter der Leitung von G n a u c k - K ü h n e eine F r a u e n g r u p p e des E S K g e g r ü n d e t . 1 9 8 Später unterstützte der E S K die G r ü n d u n g des „Deutsch-evangelischen F r a u e n b u n d e s " , der stark g e p r ä g t w u r d e durch den hochkonservativen Vorsitzenden der evangelischen Arbeitervereine und Stoecker-Vertrauten L u d w i g W e b e r . 1 9 9

9.3. Der Kongreß vor der Zerreißprobe: die Krise 1895 Eine schwere Krise erschütterte den Kongreß in Z u s a m m e n h a n g mit der Verö f f e n t l i c h u n g des s o g e n a n n t e n „ S c h e i t e r h a u f e n b r i e f e s " Stoeckers und den Enthüllungen über den ehemaligen C h e f r e d a k t e u r der Kreuzzeitung, Wilhelm von H a m m e r s t e i n . 2 0 0 H a r n a c k erklärte sich außerstande, länger im Kongreß mit Stoecker z u s a m m e n z u a r b e i t e n . Er wollte zunächst austreten, da er sich in seinem „ G e w i s s e n b e s c h w e r t " fühlte, mit Stoecker „in einem evangelischen C o n g r e ß z u s a m m e n z u s i t z e n " , 2 0 1 ließ sich aber d a n n d a z u überreden, von diesem Schritt zunächst a b z u s e h e n . 2 0 2 R a d e erklärte sich mit Stoecker „ p e r s ö n lich f e r t i g " 2 0 3 und setzte sich mit dessen Verhalten in der C W öffentlich ause i n a n d e r . 2 0 4 Als z u d e m von der L e i t u n g der Deutsch-konservativen Partei, der Stoecker angehörte, die von Friedrich N a u m a n n repräsentierte R i c h t u n g junger Geistlicher im E S K , die sich u m eine ernsthafte A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit Problemen und Anliegen der Arbeiterschaft und der S o z i a l d e m o k r a t i e be-

Ihr P r o g r a m m wurde veröffentlicht: D a s Programm der Evangelisch-sozialen Frauengruppen, in: M E S K 4 (1895), Nr. 14, l f . Die G r u p p e löste sich jedoch bereits 1900 auf, als die Begründerin zur katholischen Kirche konvertierte. Vgl. auch Nr. 327—329, w o über die Wiederbelebung der Frauengruppe des Kongresses diskutiert wird. 199 Yg] Deutsch-evangelischer Frauenbund, in: M E S K 8 (1899), Nr. 4, 29. D e m später von dieser Gruppierung geäußerten Wunsch, sich dem ESK anzuschließen, standen H a r n a c k und R a d e zwar nicht grundsätzlich ablehnend, doch aus kirchenpolitischen Gründen abwartend gegenüber, wobei R a d e eher dazu neigte, dem Frauenbund entgegenzukommen. Vgl. Nr. 3 1 4 f . , 324, 327. 200 vgl. Nr. 168. 201 Ebd. 202 yg] Darstellung dieser Diskussionen durch Julius Kaftan, in: Göbell, 121 ff., und Völter, I.: Bericht über die Ausschußsitzung Herbst 1895, in: M E S K 4 (1895), Nr. 7, 8, wo über die a m 4. Oktober 1895 stattgefundene Sitzung berichtet wird. H a r n a c k wie auch sein Schwager H a n s Delbrück hatten erklärt, daß sie den Kongreß nicht verlassen würden, sondern sich „weiterhin an dessen großen und wichtigen Arbeiten beteiligen würden, obwohl ihnen dies schwer falle." Ebd. 2 0 3 Nr. 169. Den „Scheiterhaufenbrief" hatte R a d e als „ s o gravierend nicht" empfunden. (Rade, M . : Z u den Tagesereignissen, in: C W 9 (1895), 1009.) Er entspreche den Überzeugungen Stoeckers. Problematisch sei jedoch, daß er „Mittel der weltlichen Politik zur Erreichung kirchlicher Z i e l e " benutze. E b d . , 1010. 2 0 4 Vgl. die Anmerkungen zu Nr. 168 f. 198

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mühte, scharf kritisiert wurde, 2 0 5 erklärte Rade, dies sei „das Ende des Kongresses in seiner gegenwärtigen Gestalt." 2 0 6 Die Spannung innerhalb des Kongresses, die sich an den Namen Stoecker und Naumann festmachte, war Anlaß intensiver Diskussionen. 2 0 7 Der ehemalige Generalsekretär Paul Göhre schlug als Ausweg aus dieser Krise vor, Naumann und Stoecker sollten dem nächsten Kongreß fernbleiben. 2 0 8 Bei einer Besprechung einiger Mitglieder des Aktionskomitees am 11. April 1896 wurde zur Überwindung der sich um Stoecker drehenden Probleme beschlossen, ihn zu bitten, von seinem Amt als zweiter Vorsitzender zurückzutreten. 2 0 9 Daraufhin erklärte Stoecker seinen Austritt aus dem Kongreß. 2 1 0 Er gründete im folgenden Jahr mit Gleichgesinnten die „Freie Kirchlich-soziale Konferenz", die stärker praktisch ausgerichtet war als der ESK. Der Kongreß hatte also doch gehalten, 2 1 1 und das Treffen in Stuttgart nahm einen guten Verlauf. Es hatte sich gezeigt — so analysierte Rade die Situation — daß Stoecker zwar „ein wichtiges, wesentliches Element" des Kongresses gewesen war, „aber nicht sein Haupt und nicht seine Seele." 212 Der ESK verlor die Mitgliedschaft größerer konservativer Kreise. Damit verringerte sich die von ihm umfaßte Bandbreite kirchlicher Richtungen. Die Gruppe um Friedrich Naumann konnte nun größeren Einfluß gewinnen. 9.4. D e r K o n g r e ß u n d die S o z i a l d e m o k r a t i e Für die damalige Zeit außergewöhnlich aufgeschlossen wurde bei der Gründung des ESK das geplante Verhalten der Sozialdemokratie gegenüber be205

Vgl. Anm. 4 zu Nr. 169. Nr. 169. 207 Vgl. Nr. 171, Nr. 172, Nr. 182 und den Brief J. Kaftans an seinen Bruder vom 24. November 1895, in dem der Diskussionsprozeß nachgezeichnet wurde, in: Göbell, 121 ff. 208 Vgl. Nr. 179. 209 Ygj A n m _ 3 z u Nr. 187. Vgl. auch Kulemann, W.: Politische Erinnerungen. Ein Beitrag zur neueren Zeitgeschichte, Berlin 1911, 174ff. 210 Vgl. Nr. 187, Anm. 6 zu Nr. 188 und Nr. 189. Vgl. auch Rathje, 79ff. Rade hatte vor dieser Entscheidung Stoeckers vorgehabt, den Kongreß in Stuttgart nicht zu besuchen, um dort nicht mit ihm zusammentreffen zu müssen. „Ich mag Stöcker nicht sehen, nicht mit ihm zusammen eine mir heilige Sache treiben [...] Ich kann nicht irgendwo als sein Handlanger auftreten." So schrieb er am 10. April 1896 an J. Kaftan. Zitiert nach Rathje, 82. 211 Vgl. Nr. 187. 212 Rade, M.: Evangelisch-Sozial, in: CW 10 (1896), 755. Rade führte mit Würdigung der Verdienste Stoeckers weiter aus: „Stöckers Austritt aus dem Kongreß und der ruhige Fortbestand des Kongresses trotzdem beweist aber jedenfalls das Eine, daß Stöcker diese seine Schöpfung nicht mehr in der Hand hatte. Das kam zum Teil daher, daß Stöcker an diesem Werke uneigennützig und gern unter Anerkennung des Rechtes andersgerichteter Teilnehmer mitgearbeitet hat. [...] Eine Fülle von geistigen Kräften folgte seinem Ruf, Männer, die sonst weit entfernt waren sich ihm anzuschließen [...] In diesem Kreise galt ein jeder, was er war und was er bot. Stöcker blieb in dieser Mischung ein wichtiges, wesentliches Element." Ebd. 206

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schrieben. Die Auseinandersetzung mit ihr sollte möglichst auch im direkten Kontakt geschehen. Es wurde die Bildung von Gruppen angeregt, die „je einen bestimmten sozialdemokratischen Fachverein regelmäßig" besuchen sollten, „mit dem einzigen Zwecke, im gegenseitigen freundlichen Austausch der Meinungen mit den Gliedern dieser Vereine die persönliche Annäherung zwischen den jetzt getrennten Gesellschaftsklassen auf dem Boden gegenseitiger Achtung und Gleichberechtigung anzubahnen. Politische Proselytenmacherei wird als Ziel ausgeschlossen." 2 1 3 Eine intensive Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie fand auf Kongreßebene allerdings nur in den Anfangsjahren statt. Auf dem ESK 1892 referierte Adolf Wagner über „ D a s neue sozialdemokratische P r o g r a m m " , und Paul Göhre berichtete in den „Mitteilungen des Evangelisch-sozialen Kongresses" über den Parteitag des Jahres 1 8 9 3 . 2 1 4 Sozialpolitische Ansichten bildeten auch nach dem Ausscheiden Stoeckers Anlaß zu Konflikten zwischen den Vertretern konservativerer Überzeugungen und jüngeren „linksstehenden" Mitgliedern wie Naumann und Göhre, die im November 1896 den „National-sozialen Verein" gegründet hatten. Die Position Göhres erschien Präsident N o b b e als zu sehr der Sozialdemokratie nahestehend. Er drohte mit seinem Rücktritt 2 1 5 und setzte es durch, daß der Ausschuß des ESK im Herbst 1897 eine Erklärung verabschiedete, in der sich der Kongreß deutlich von der Sozialdemokratie absetzte. Diese Partei wurde darin als „eine zwar beklagenswerte, aber natürliche Folgeerscheinung schwerer wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und religiöser Entwicklungsschäden" beurteilt. Der ESK bemühe sich um Arbeit an sozialen Reformen, doch lehne er Tendenzen ab, die „den gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß seines christlichen Charakters entkleiden" und Verbesserungen nicht auf „dem gesetzlichen Boden geschichtlich-nationaler Entwicklung und monarchischer Staatsordnung erstreben wollen." Deshalb stehe der Kongreß Mitgliedern der sozialdemokratischen Partei nicht o f f e n . 2 1 6 Dieses Vorgehen stieß auf heftige Kritik R a d e s , 2 1 7 für den christlicher Glaube und Engagement in der sozialdemokratischen Partei keine sich ausschließenden Gegensätze darstellten und der deshalb die Teilnahme von Sozi2.3

2.4

2.5 2.6

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Verhandlungen des Zweiten Evangelisch-sozialen Kongresses, 128. Diese Anregung konnte jedoch k a u m in die Tat umgesetzt werden. Vgl. Verhandlungen des Dritten Evangelisch-sozialen Kongreß, 5 7 f f . ; Göhre, P.: Der diesjährige sozialdemokratische Parteitag, in: M E S K 2 (1893), Nr. 8, 5 — 8. Drei J a h r e später fand ein weiterer Parteitag eine Berichterstattung im Organ des ESK. Vgl. N o b b e , M . : Der sozialdemokratische Parteitag. 11. bis 16. Oktober, in: ebd., 5 (1896), Nr. 7, 3f. — Auch d a s Vorhaben, die Referate zu sozialpolitischen Themen „namentlich auch auf die sozialdemokratische Bewegung" zu beziehen (Verhandlungen des Zweiten Evangelischsozialen Kongresses, 128), wurde nur in geringem U m f a n g verwirklicht. Vgl. Nr. 209 und 211. Erklärung, in: M E S K 6 (1897), Nr. 8, 1. Auch veröffentlicht unter dem Titel: Erklärung des Ausschusses des Evangelisch-sozialen Kongresses, in: C C W 7 (1897), 4 6 3 f . J . Kaftan berichtete, daß H a r n a c k diese Erklärung mitformuliert habe. Vgl. seinen Brief vom 17. Oktober 1897 an seinen Bruder, in: Göbell, 167. Vgl. dazu Nr. 209. Vgl. ebd.

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aldemokraten an den Kongreßtagungen befürwortete. 2 1 8 Rade machte in erster Linie „Nobbes persönliche Ansprüche u[nd] Empfindlichkeit" 2 1 9 für die Kritik an Göhre verantwortlich und empfahl, nach einem anderen Präsidenten für den ESK zu suchen. 2 2 0 Als Göhre 1901 aufgrund seines sozialdemokratischen Engagements aus dem Pfarrerstand ausschied, veranlaßte dies Rade zu prinzipieller Kritik am Umgang der preußischen Landeskirche mit der Sozialdemokratie. 2 2 1 Er handelte sich damit Widerspruch von Harnack ein, der ihm vorwarf, er „überspanne das Seil". 222 Die evangelische Kirche könne nur seelsorgerische Beziehungen zu einzelnen Arbeitern pflegen. 2 2 3 Die Organisation der Arbeiterschaft in der Sozialdemokratischen Partei qualifizierte er als „System des wohlverstandenen Egoismus und Materialismus" 2 2 4 ab, das „alles, was heilig, ehrwürdig etc. heißt, aus den Herzen zu reißen beflissen ist." 2 2 5 Das Bestreben der Arbeiter um wirkungsvollere Vertretung ihrer Interessen auch in der Organisationsform der Sozialdemokratischen Partei erkannte er im Gegensatz zu Rade nicht als legitim an. Rade widersprach ihm entschieden. Er beurteilte Harnacks Einschränkung der Beziehungen zwischen Kirche und Arbeiterschaft auf individuelle Seelsorge als „doktrinär". 2 2 6 Er trat für eine Auseinandersetzung auch mit Institutionen der Arbeiter ein, 2 2 7 da dies in der Konsequenz des Verständnisses der Landeskirche als Volkskirche liege, 228 plädierte dafür, daß Sozialdemokraten Mitglieder des ESK sein sollten, 2 2 9 und stellte

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Vgl. ebd. Rade tat dies öffentlich in seinem Artikel: Die gegenwärtige Aufgabe des Evangelisch-sozialen Kongresses, in: CW 12 (1898), 63 (zitiert in Anm. 1 zu Nr. 219). Nr. 212. Ebd. Vgl. auch Nr. 226, wo Rade scharf die Distanzierung Nobbes von einem Artikel des damaligen Generalsekretärs Immanuel Völter verurteilte. — Wenige Jahre später monierte er das Vorgehen der brandenburgischen Landeskirche gegen Göhre, nachdem dieser der Sozialdemokratischen Partei beigetreten war, und bewertete diesen Vorgang als Symptom des kirchlichen Verhaltens gegenüber der Sozialdemokratie. Diese Einstellung trug ihm Kritik von Seiten Harnacks ein. Vgl. Nr. 287 und 288. Rade, M.: Göhres Ausscheiden aus dem geistlichen Stand, in: CW 15 (1901), 25—28, (zitiert in Anm. 2 und 3 zu Nr. 288). Die Landeskirche habe durch ihr Verhalten Göhre gegenüber dem Vertrauen der Arbeiterschaft in sie „einen tötlichen Stoß" (ebd., 28) versetzt. „Indem nun die Landeskirche diejenigen Pastoren oder Theologen, die zur Sozialdemokratie halten [...], von sich absägt, hebt sie durch eine öffentliche und symbolisch unmißdeutbare Handlung ihre Beziehung zur sozialdemokratische Arbeiterschaft auf." Nr. 289. Harnack, A. (anonym erschienen): Landeskirche und sozialdemokratische Arbeiterschaft. Antwort auf eine vom Herausgeber gestellte Frage, in: CW 15 (1901), 125; zitiert in Anm. 3 zu Nr. 288 und Anm. 2 zu Nr. 290. Ebd., 127. Nr. 468. Rade, M.: Duplik des Herausgebers, in: CW 15 (1901),128. Ebd.; zitiert in Anm. 4 zu Nr. 289. Ebd., 128. Nr. 209 und 463; Rade: Aufgaben, 63 (zitiert in Anm. 1 zu Nr. 219).

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später die Forderung auf, daß auch Pfarrer Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei sein dürften. 2 3 0 Diese nach wenigen Jahren erfolgte Abwendung von einer wirklichen Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie und die verstärkte Abgrenzung von ihr bewirkte, daß Mitglieder des Kongresses, die sich der Sozialdemokratie immer mehr angenähert hatten — wie Paul Göhre, der ehemalige Generalsekretär des ESK, und Max Maurenbrecher, die beide später in diese Partei eintraten (Göhre 1900, Maurenbrecher 1903) —, ihre Mitgliedschaft im Kongreß aufgaben. 9.5. Im K a m p f u m sozialpolitische A k t i v i t ä t Der Kongreß hielt nicht nur unter diesen inneren Kämpfen, sondern auch unter dem äußeren Druck, der durch die zunehmend ablehnende Haltung staatlicher Behörden wie kirchlicher Leitungsgremien ausgeübt wurde. Wilhelm II. hatte mit seinem Telegramm vom 28. Februar 18 9 6 2 3 1 deutlich gemacht, daß die Hoffnungen auf ein soziales Kaisertum, die 1890 erblüht waren, begraben werden konnten. Der Evangelische Oberkirchenrat widerrief in Nachfolge der summepiskopalen Meinungsänderung in einem Erlaß vom 16. Dezember 1896 seine Anregungen vom April 1890. In diesem Erlaß wurde behauptet, daß die Auseinandersetzung mit volkswirtschaftlichen und sozialpolitischen Problemen zur Vernachlässigung der beruflichen Aufgaben der Pfarrer führe. 2 3 2 Solche Aktivitäten gingen über die Aufgaben der Kirche, die „Beteiligung an Werken der christlichen Liebestätigkeit", weit hinaus. 2 3 3 Die Geistlichen sollten sich nicht an sozialpolitischen Versammlungen beteiligen, sondern sich auf das der Kirche von Jesus Christus gesetzte Ziel, die „Schaffung der Seelen Seligkeit" konzentrieren. 2 3 4 Durch die Seelsorgsarbeit könnten sie mittelbar „zur Hebung der sozialen Notstände und zur Wiederherstellung des Vertrauens zwischen Reichen und Armen" 2 3 5 und dadurch zur Verbesserung sozialer Verhältnisse beitragen, indem sie „alle Angehörigen der Kirche ohne Unterschied des Standes so mit dem Geiste christlicher Liebe und Zucht" erfüllten, „daß die Normen des christlichen Sittengesetzes in Fleisch und Blut des Volkes übergehen und damit die christlichen Tugenden erzeugt werden, 230

Nr. 463 und 465. Vgl. dagegen Harnacks Stellungnahme in Nr. 464. Zitiert in Anm. 2 zur Nr. 187. 232 Ygl. Erlaß des Oberkirchenrats der altpreußischen Landeskirche betreffend die Beteiligung der Pfarrer an der sozialpolitischen Bewegung, in: Huber/Huber, Bd. III, 727 f. 231 Ebd., 727. 234 Ebd., 729. 235 Ebd., 730. Konkret wurde von den Geistlichen gefordert, die Wohlhabenden zu ermahnen, daß ihr Reichtum ihnen von Gott zum Besten ihrer Mitmenschen anvertraut sei, und die unteren Klassen zu überzeugen, daß „Wohlfahrt und Zufriedenheit auf gläubiger Einfügung in Gottes Weltordnung und Weltregierung, auf tüchtiger, ehrlicher Arbeit und Sparsamkeit, sowie auf gewissenhafter Fürsorge für das heranwachsende Geschlecht beruhen, daß dagegen Neid und Gelüste nach des Nächsten Gut dem göttlichen Gebot zuwider sind". Ebd. 231

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welche die Grundlagen unseres Gemeinwesens bilden: Gottesfurcht, Königstreue, Nächstenliebe!" 2 3 6 Rade ordnete den Erlaß in das geänderte politische Klima ein und beklagte die Abhängigkeit der Kirchenbehörden von der Regierung. 2 3 7 Er protestierte gegen den Erlaß, da dieser das Gewissen sozial engagierter Pfarrer vergewaltige und die Wirksamkeit der seelsorgerischen Arbeit torpediere. 2 3 8 Rade sah in dieser kirchenregimentlichen Äußerung eine Tendenzaussage, da sie eine „Kriegserklärung gegen die evangelisch-soziale Bewegung überhaupt und eine Parteinahme für deren politische G e g n e r " 2 3 9 darstelle, die letztlich am Bestand der preußischen Landeskirche rüttle. 2 4 0 Mit der konservativen, die herrschende gesellschaftliche Situation im Grunde nicht hinterfragenden, sondern sie als gottgegeben legitimierenden Haltung der Kirchenleitung, die die Intentionen des ESK in Frage stellte, und gleichgerichteten Angriffen, wie etwa denen des Freiherrn von Stumm-Halberg, der das Engagement des ESK wie auch — mit deutlicher Spitze gegen F. Naumann — die soziale Arbeit von Pfarrern kritisiert hatte, 2 4 1 setzten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf dem siebten ESK in Stuttgart am 28. und 29. Mai 1896 auseinander. Anhand der Vorträge von Hermann von Soden und Heinrich Planck diskutierten sie über „Die soziale Wirksamkeit des im Amt stehenden Geistlichen, ihr Recht und ihre Grenzen" und verteidigten die Grundlage ihrer Arbeit, indem sie betonten, daß sich jeder Christ und damit

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Ebd., 7 2 9 . Z u diesem E r l a ß vgl. P o l l m a n n : Kirchenregiment, 1 5 7 — 2 7 3 .

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R a d e , M . : D e r antisoziale E r l a ß des preußischen O b e r k i r c h e n r a t s , in: C W 10 ( 1 8 9 6 ) , 6 — 1 0 . „Wie sehr seit 1 8 9 0 das politische Bild sich verändert hat, ist b e k a n n t . Unserm Kaiser ist die Freude vergangen, ein Arbeiterkaiser zu sein; seine Regierung hat alle Segel der sozialen R e f o r m eingezogen; Unterdrückung der Sozialdemokratie und verwandter Umsturzbestrebungen durch Polizeimaßregeln und Prozesse ist die Losung. Hilft das nicht, so steht für den Notfall die A r m e e bereit. Eine g r o ß e Veränderung in der T h a t in den fünf J a h r e n . Aber wir h a b e n s hier nicht mit der Staatsregierung zu thun, sondern mit dem Kirchenregiment. Und da k ö n n e n wir nur mit g r ö ß t e m Schmerz b e o b a c h t e n , wie abhängig die oberste B e h ö r d e unsrer größten evangelischen K i r c h e in Deutschland von dem Wechsel der S t i m m u n g und Gesinnung in den regierenden Kreisen ist." Ebd., 6.

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Vgl. ebd., 8 f . : „ D e r O b e r k i r c h e n r a t mutet seinen Geistlichen zu, ihre bessere Einsicht zu verleugnen, wider ihr Gewissen zu handeln. [ . . . ] D e r O b e r k i r c h e n r a t mutet den Pastoren zu, sich in diesem Stück Gewissensdrang einfach dem Urtheil ihrer kirchlichen O b e r e n zu unterwerfen. [ . . . ] Indem der O b e r k i r c h e n r a t hier die innere Freiheit des Pastors meistert, erschüttert er geradezu die Glaubwürdigkeit seiner Predigt und den Segen seiner ganzen Amtsführung."

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E b d . , 10. „Wir protestieren aus Liebe zu unsern Landeskirchen. [ . . . ] Wenn die E n t w i c k l u n g innerhalb der führenden Landeskirchen i m m e r m e h r in der Linie des Adventserlasses weitergeht, das Staatskirchentum sich in der Landeskirche i m m e r ungehinderter etabliert, dann wird es Z e i t , sich auf die Freikirche einzurichten, die dann allein eine Gesundung des kirchlichen Lebens bringen k a n n . " E b d . , 10. — Vgl. auch R a d e , M . : Die unfreiwillige Bedeutung des Evangelisch-sozialen Kongresses, in: C W 11 ( 1 8 9 7 ) , 5 2 1 — 5 2 4 .

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Vgl. Heuss, 9 1 ff., bes. 9 3 f f .

Der Evangelisch-soziale Kongreß

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auch jeder Geistliche politisch betätigen dürfe u n d solle. Z w a r vertrage sich die Arbeit in einer politischen Partei nicht mit dem A m t eines Geistlichen, da dieser eine sozialethische, nicht eine sozialpolitische Berufsaufgabe habe, doch soziale Tätigkeiten im weiteren Sinne seien „unzertrennlich verbunden mit den Aufgaben eines Pfarrers, die aus dem Evangelium und dem Geist der Liebe e r w a c h s e n . " 2 4 2 In einer Resolution w u r d e abschließend betont, d a ß die evangelische Kirche „einen sozial versöhnenden Einfluß nur ausüben k a n n , wenn ihre Diener und Zugehörigen die treibenden Kräfte der Zeit verstehen, den G r ü n d e n gesellschaftlicher und sittlicher Schäden nachgehen u n d an deren Ü b e r w i n d u n g [...] m i t w i r k e n " k ö n n t e n . N a c h dieser Verteidigung des sozialpolitischen Engagements „gelobt" der Kongreß, auch weiterhin das „Werk sozialer Reform gew i s s e n h a f t " unterstützen zu wollen u n d bittet die Kirchenbehörden, „den evangelischen Geistlichen die aus diesen G r u n d s ä t z e n sich ergebenden Rechte und Freiheiten um des Gewissens willen zu gewähren und zu s c h ü t z e n . " 2 4 3 Die gravierenden Wandlungen im ESK bewirkten, d a ß sich Rade 1898 sehr unzufrieden mit dessen Entwicklung, sogar ausrief: „Das ist nicht der Kongreß, den wir gegründet h a b e n " . 2 4 4 Nichtsdestotrotz blieb er weiterhin darin aktiv u n d ü b e r n a h m f ü r das selbe J a h r ein Referat über „Die religiös-sittliche G e d a n k e n w e l t unsrer Industriearbeiter". 2 4 5 Auch H a r n a c k , der w ä h r e n d des Konfliktes um G ö h r e u n d N o b b e eine um Vermittlung und R ü c k s i c h t n a h m e auf die konservativeren Mitglieder b e m ü h t e Stellung eingenommen h a t t e , 2 4 6 engagierte sich weiterhin im ESK. Er w a r zuversichtlich, d a ß das Bemühen u m soziale R e f o r m e n , das er als „Christenpflicht" betrachtete, wieder auf größere Resonanz in der öffentlichen M e i n u n g stoßen w ü r d e und äußerte sich optimistisch darüber, d a ß von der Arbeit des Kongresses „belebende K r ä f t e " auf die Gesellschaft ausgingen. 2 4 7 In den folgenden J a h r e n verlief die Arbeit des ESK in ruhigeren Bahnen. Die kurze Zeit der Blüte des sozialen Engagements im deutschen Protestantismus, die vor allem von jüngeren Pfarrern getragen w o r d e n war, und der der Kongreß sein Entstehen verdankte, w a r vorüber. Der ESK blieb ein Diskussionsforum sozialer Fragen f ü r das protestantisch geprägte Bildungsbürgert u m . Seine Teilnehmerschaft rekrutierte sich vorwiegend aus Akademiker242 Ygl. Verhandlungen des Siebenten Evangelisch-sozialen Kongresses, 15 ff. Zitat 40 (erste These zum Vortrag Plancks). Das Aktionskomitee des ESK hatte sich bereits im Februar 1895 in einer Erklärung (veröffentlicht in: MESK 4 (1895), Nr. 2, 1) gegen diese Angriffe gewandt und sich ausdrücklich hinter Naumann gestellt. 243 Verhandlungen des Siebenten Evangelisch-sozialen Kongresses, 70. Vgl. ebd., 17. 244 Nr. 226. Er forderte als aktuelle Aufgabe, daß „der Kongreß der innerkirchlichen Lage eine vermehrte Aufmerksamkeit zuzuwenden hat." Rade: Aufgabe, 63. 245 Veröffentlicht in: Verhandlungen des Neunten Evangelisch-sozialen Kongresses, 66 — 130. Rade hatte sich vorher durch eine Umfrage Material für dieses Referat beschafft. Vgl. Anm. 3 zu Nr. 224. 246 Vgl. Nr. 209 f. 247 Harnack, A.: Ein Halsband, in: MESK 8 (1899), Nr. 4, 26.

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Kreisen, wobei die Theologen den größten Anteil stellten. Die große Anzahl von Professoren und hohen Regierungsbeamten trug maßgeblich zur Hochschätzung des Kongresses in der Öffentlichkeit bei. 2 4 8 Die Anliegen der Arbeiterschaft fanden in den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie eine adäquatere und mit wachsendem Erfolg arbeitende Vertretung, die sich beispielsweise in den Gewinnen der Sozialdemokratischen Partei bei den Reichstagswahlen 1903 spiegelte. Im Bildungsbürgertum und besonders in der Pfarrerschaft fand die Auseinandersetzung mit sozialen Problemen weniger Resonanz. Das Bemühen um direkte Einwirkung auf die Arbeiterschaft wurde bald aufgegeben. Unter dem Einfluß Harnacks, der in seiner theologischen Konzeption — dem kulturprotestantischen Idealbild der autonomen Persönlichkeit verhaftet — das ethisch handelnde Individuum als Gegenüber Gottes ins Zentrum stellte, 249 zog sich der Kongreß „mit seiner sozialethischen Auffassung auf die Betonung des Persönlichkeitsideals" zurück und bemühte sich um die „Erhebung des einzelnen aus der Masse [...], um den sozialen Gemeinschaften Halt zu geben." 2 S 0 Die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs hatten wenig Auswirkungen auf die Konzeption des Kongresses. Nachdem sichergestellt worden war, daß die Kongreßtätigkeit fortgeführt wurde, setzte der Kongreß seine Arbeit in Richtung auf gemäßigte soziale Reformen fort, 2 5 1 ohne jedoch an die frühere Ausstrahlungskraft und Resonanz anknüpfen zu können. 9.6. H a r n a c k als K o n g r e ß - P r ä s i d e n t Als 1902 ernsthaft nach einem Nachfolger für Nobbe gesucht wurde, wählte man — nachdem sich Bemühungen um Johannes Hieber und Albert Hackenberg zerschlagen hatten 2 5 2 — Harnack am 13. Oktober 1902 zum neuen Präsi248 249

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Vgl. Schick, 80. Wesen, 67: „Das Evangelium predigt nicht nur Solidarität und Hilfeleistung — es hat an dieser Predigt seinen wesentlichen Inhalt. In diesem Sinne ist es im tiefsten sozialistisch, wie es im tiefsten individualistisch ist, weil es den unendlichen und selbständigen Wert jeder einzelnen Menschenseele feststellt." In seinem Vortrag „Zur gegenwärtigen Lage des Protestantismus" von 1896 betonte er, daß „die Religion letztlich nichts andres ist als die stetige Stimmung des Herzens in kindlichem Vertrauen auf Gott". Dieses „Kindesvertrauen" sei „untrennbar verbunden [...] mit der schlichten, einfachen Moral". In: RA 2, 151. Ein Jahr früher hatte er seine Überzeugung in einem von ihm gern gebrauchten Diktum formuliert: „die Religion ist ein Verhältnis der Seele zu Gott und nichts anderes." Das Christentum und die Geschichte, in: ebd., 11; vgl. Wesen, 43, 50, 90, 155. Pollmann: Kongreß, 648. Vgl. die Erklärung des Vorstandes des ESK: Z u m neuen Anfang, in: Evangelisch-sozial 28 (1923), 1, wo an das Programm des Kongresses erinnert und betont wurde, „daß unsere Kirche und unser Volk die sozialen Gedanken und Kräfte, die im Evangelischsozialen Kongreß [...] lebendig gewesen sind, in den Wirren und Enttäuschungen der Gegenwart nötiger brauchen als je." Vgl. Herz, J.: Die Wiederaufnahme der Kongreßarbeit, in: ebd., 2 - 4 ; Kouri, 200f. Vgl. Nr. 301 ff.

Der Apostolikumstreit von 1 8 9 2 und die „Freunde der Christlichen Welt"

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denten des E S K . 2 5 3 Der Briefwechsel zwischen Harnack und Rade in den folgenden Jahren spiegelt das Engagement, mit dem Harnack diese Aufgabe wahrnahm. Der Austausch über zu behandelnde T h e m e n , Referenten, Tagungsorte, die Vertretung von Frauen im E S K , 2 5 4 das Verhältnis zu anderen Einrichtungen im kirchlichen sozialen B e r e i c h 2 5 5 oder die Stellungnahme des Kongresses zu aktuellen Ereignissen — wie etwa dem Streik der Textilarbeiter im sächsischen C r i m m i t s c h a u 2 5 6 — begegnen nun im Briefwechsel. Besonders in den ersten Jahren von Harnacks Präsidentschaft finden sich Hinweise auf den ESK häufig. Mit der Zunahme der Lücken im Briefwechsel ab 1906 nehmen auch die Bezüge auf den Kongreß ab. Harnack gelang es, die verschiedenen Strömungen, die den Kongreß mitbegründet hatten — mit Ausnahme der konservativen Kreise, die sich in der Freien kirchlich-sozialen Konferenz zusammenfanden —, trotz ihrer Richtungskämpfe im ESK weiterhin zu gemeinsamer Arbeit zu sammeln. Die Präsidententätigkeit wurde von ihm angesichts vielfältiger Verpflichtungen und hoher Arbeitsbelastung trotz allen Einsatzes für die evangelisch-soziale Sache auch als Belastung empfunden. Bereits nachdem wenig mehr als ein J a h r verstrichen war, bezeichnete er die Übernahme dieses Amtes als „bittre T h o r h e i t " . 2 5 7 Als er 1905 das Amt des Generaldirektors der Königlich Preußischen Staatsbibliothek in Berlin antrat, wurde über das Aufgeben der Präsidentschaft im E S K nachgedacht. 2 5 8 Briefe aus dem J a h r 1 9 1 0 zeigen einen unzufriedenen Präsidenten, der darunter litt, daß er bei einem Angriff auf seine Person nicht die erwartete Unterstützung erhalten h a t t e . 2 5 9 Im selben J a h r begegnen ernsthafte Überlegungen, wer die Nachfolge Harnacks antreten k ö n n t e . 2 6 0 Diese Diskussion zog sich über ein J a h r hin, bis schließlich am 1. Dezember 1911 O t t o Baumgarten zum neuen Präsidenten gewählt wurde. Harnack begründete sein Ausscheiden aus dem Amt damit, daß er aufgrund seiner vielfältigen Pflichten — im J a h r 1911 hatte er noch die Präsidentschaft der neugegründeten Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft übernommen — die „Zeit für eine gewissenhafte Fürsorge der Kongreß-Angelegenheiten [...] nicht mehr aufzubringen" vermöge. 2 6 1

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Vgl. Die Neuwahl des Präsidenten, in: M E S K 11 ( 1 9 0 2 ) , Nr. 9 / 1 0 , 6 7 f . , und H a r n a c k , A.: Begrüßung, in: ebd., 12 ( 1 9 0 3 ) , Nr. 1, l f . , w o H a r n a c k die Aufgaben des Kongresses beschrieb und sie vor allem in der Verbreitung des evangelisch-sozialen Gedankens, im Bemühen um den sozialen Fortschritt auf des Basis des christlichen Glaubens und im Engagement für sozialreformerische Gesetze gegeben sah. Vgl. Nr. 3 2 4 , 3 2 7 - 3 2 9 . Vgl. Nr. 3 5 5 . Vgl. ebd. Nr. 3 5 9 v o m 2 6 . J a n u a r 1 9 0 4 . Vgl. 3 8 9 . Vgl. Nr. 4 5 8 ff. Vgl. Nr. 4 7 2 f., 4 7 6 . H a r n a c k , A.: Erklärung, in: Evangelisch-Sozial 2 0 ( 1 9 1 1 ) , 3 5 3 . Vgl. Anm. 2 zu Nr. 4 9 8 .

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10. Der Apostolikumstreit von 1892 und die „Freunde der Christlichen Welt" Die persönliche Beziehung zwischen Rade und Harnack intensivierte sich in der Zeit seit Rades Umzug nach Frankfurt. Das Lehrer-Schüler-Verhältnis hatte sich lange Zeit in den Briefen widergespiegelt: Rade pflegte seine Schreiben an den „Hochverehrten Herrn Professor" zu richten, während Harnack seinerseits ab 1880 an den „Lieben Freund" schrieb. In der ersten Hälfte des Jahres 1892 erfolgte der Übergang zum freundschaftlichen Du. 2 6 2 Die neu bestärkte Verbindung hatte sich noch im gleichen Jahr im „lebhaftesten kirchlichen Kampf, den das 19. Jahrhundert seit dem Streit um Strauß' Leben Jesu gesehen hatte", 2 6 3 zu bewähren. Im Jahre 1892 wurde der württembergische Pfarrer Christoph Schrempf wegen „Verfehlung wider die übernommene Dienstpflicht" vom evangelischen Konsistorium in Stuttgart seines Amtes enthoben. Schrempf hatte bei einer Taufe den liturgisch vorgeschriebenen Gebrauch des apostolischen Glaubensbekenntnisses unterlassen. Dieser Konflikt weitete sich rasch zu einer grundsätzlichen Diskussion um Stellenwert und Gebrauch des Apostolikums in den evangelischen Kirchen aus, der als der „Apostolikumstreit von 1892" in die Kirchengeschichte eingegangen ist. 2 6 4 Dieser Konflikt fand allgemeine Beachtung, als sich Harnack in die Auseinandersetzung einschaltete. Er wurde im Juli 1892 durch eine Anfrage von Seiten seiner Studenten in sie hineingezogen. Die Studenten fragten Harnack, ob er „ihnen rathen könne, daß der größere Kreis, zu dem sie gehörten, eine Petition wegen Abschaffung des Apostolikums] an den 0[ber-]K[irchen]Rath" richten solle. 265 Harnack arbeitete eine Stellungnahme aus, trug sie in seinem Kolleg vor und sandte die schriftliche Fassung zur Veröffentlichung an Rade. 2 6 6 Harnack sprach sich gegen eine Abschaffung des Apostolikums aus, wenn er auch eine neue Formulierung des evangelischen Glaubens wünschte. 2 6 7 Er betonte, daß die Aussagen des Bekenntnisses nicht als Feststellungen von ge262 263 264

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Vgl. Nr. 85. Schiele, F. M.: (Art.) Apostolikumstreit, in: RGG, 1. Aufl., Bd. 1, 1909, 605. Vgl. dazu Huber/Huber, Bd. III, 666ff; Zahn-Harnack, 144ff.; Rathje, 64ff.; Zahn-Harnack, A. von: Der Apostolikumstreit des Jahres 1892 und seine Bedeutung für die Gegenwart, Marburg 1950; Barth, H.-M.: (Art.) Apostolisches Glaubensbekenntnis II.3. Der Apostolikumstreit, in: T R E , Bd. 3, 1978, 5 6 0 - 5 6 2 . Nr. 86. Unter dem Titel „In Sachen des Apostolikums" veröffentlicht in: CW 6 (1892), 7 6 8 - 7 7 0 . Harnack bejahte das Bestreben, „an die Stelle des Apostolikums oder neben dasselbe ein kurzes Bekenntnis zu setzen, das das in der Reformation und in der ihr folgenden Zeit gewonnene Verständnis des Evangeliums deutlicher und sicherer ausdrückte und zugleich die Anstöße beseitigte, die jenes Symbol in seinem Wortlaut vielen ernsten und aufrichtigen Christen, Laien und Geistlichen, bietet. [...] Bei solchen Bemühungen ist aber nicht die Parole auszugeben: ,Das Apostolikum soll abgeschafft w e r d e n ' " . Ebd., 768.

Der Apostolikumstreit von 1892 und die „Freunde der Christlichen Welt"

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schichtlichen Tatsachen verstanden werden dürften. Er forderte, die einzelnen Aussagen historisch-kritisch zu untersuchen und ggf. als unwahr abzuweisen. Dies empfahl er ausdrücklich für den Satz „Empfangen durch den Heiligen Geist, geboren aus Maria der J u n g f r a u " . Harnack unterschied jedoch zwischen der historischen Richtigkeit eines Bekenntnissatzes und der Glaubensaussage, die dieser umschreibt. 2 6 8 Aufgrund dieser Differenzierung, mit Hinweis auf den hohen religiösen Wert, den großen Wahrheitsgehalt und mit Rücksicht auf das ehrwürdige Alter des Apostolikums konnte er sich gegen die Abschaffung dieses Bekentnisses aussprechen. 2 6 9 War der Apostolikumstreit bisher auf innerkirchliche Kreise und engagierte Theologen beschränkt gewesen, so wurde der Konflikt nun zu einer Angelegenheit, mit der sich weite Kreise der Öffentlichkeit auseinandersetzten. Aus dem doch begrenzten „Fall Schrempf" wurde der große „Fall H a r n a c k " . Aufgrund von Harnacks Bedeutung als bereits weithin bekannter Wissenschaftler wurde der Konflikt nun auch in den Tageszeitungen und damit im ganzen Deutschen Reich diskutiert. Harnacks Veröffentlichung wurde von Seiten konservativer kirchlicher Kreise vehement kritisiert. Hatten sich diese schon 1888 gegen seine Berufung nach Berlin gewehrt, so fanden sie ihre Bedenken gegen Harnack nun bestätigt. Seine relativ zurückhaltende Stellungnahme wurde als Attacke auf den Bestand der evangelischen Kirchen verstanden. Die mit der historischen Betrachtung verbundene Relativierung der untersuchten Phänomene, die Harnack als Möglichkeit des Befreiens von belastenden Traditionen begrüßte, wurde als Erschütterung und Infragestellung nicht von Aussageformen, sondern der Fundamente des christlichen Glaubens verstanden. So sah der „Evangelisch-Kirchliche Anzeiger für Berlin" in Harnacks Votum einen Verrat an der Sache der protestantischen Kirche, der gerade deshalb so beschämend sei, weil sich die Kirche zugleich gegen die Angriffe äußerer Feinde (vor allem Katholizismus und Sozialdemokratie) zu wehren habe. D a bei werfe sich Harnack zu einer „maßgebenden Autorität für die Lebensäußerungen der evangelischen Kirche" auf, die „unfehlbare Machtsprüche" verkünde. Harnack gebe sich in seinen Äußerungen zwar moderat, doch könne dies nicht den „fundamentalen Dissensus" verdecken, in dem er sich zum Apostolikum und damit zu einer der Grundlagen der evangelischen Kirche befinde.270 Die „Allgemeine Evangelisch-Lutherische Kirchenzeitung" interpretierte Harnacks Antwort als eine deutliche Aussage dafür, daß der kirchliche Liberalismus nicht „nur .wissenschaftlich' und mittelbar", sondern auch „praktisch und unmittelbar die Fundamente unseres Glaubens zerstören" w o l l e . 2 7 1 268 269 270

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Ebd., 769. Vgl. ebd., 7 6 8 f . Berlin, den 26. August. D. Harnack und das apostolische Glaubensbekenntnis, in: Evangelisch-Kirchlicher Anzeiger für Berlin 43 (1892), 290f., Zitat 291. Rubrik „Wochenschau", in: Allgemeine Evangelisch-Lutherische Kirchenzeitung 26 (1892), 854. Vgl. Zum Fall Harnack, in: ebd., 891, wo die Sätze des Apostolikums als „Thatsachen" bezeichnet wurden, die als „granitne Säulen" die Grundlagen für den „Bau

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In die gleiche Richtung ging eine Kritik an Harnacks Aussagen über die Jungfrauengeburt, 272 in der betont wurde, dieser Satz bilde „das Fundament des Christentums; es ist der Eckstein, an welchem alle Weisheit dieser Welt zerschellen wird." 273 Die „Kreuzzeitung" unterstellte Harnack, er habe absichtlich „die ganze Bewegung gegen das Apostolikum in Szene gesetzt." Er griffe „plötzlich die Grundlagen des Christentums an" und verkünde seine Ansichten „als den ex cathedra erfolgten Spruch des unfehlbaren Professors." 274 Wie groß der Aufruhr war, wird u. a. dadurch deutlich, daß die Auseinandersetzung nicht auf protestantische Kreise beschränkt blieb. Auch auf katholischer Seite — auf der sonst innerprotestantische Differenzen gern mit einer gewissen Schadenfreude betrachtet wurden — wußte man sich einig mit den Verteidigern des Apostolikums. Die katholische Zeitung „Germania" antwortete auf die Frage „Was geht die katholische Presse der Fall Harnack an?" mit dem Hinweis, daß es sich hier um eine „todernste Angelegenheit der ganzen Christenheit" handle und es deshalb „keinem wahrhaften Christen [...] gleichgültig sein [kann], wenn innerhalb einer der christlichen Kirchen eine Bewe-

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des kirchlichen Glaubens und Bekenntnisses" bildeten: „Und diesen festen und großen Tempel der Kirche Gottes sollen wir verlassen und auf Abbruch verkaufen und mit dem kleinen modernen Hause vertauschen, das man uns anpreist, das aus gebrechlichem Stoffe gebaut und nur mit etlichen Bruchstücken aus dem alten Bau etwas geschmückt und ausgestattet ist?" Vgl. Harnack: Apostolikum, 769 f. Erklärung des Vorstandes der Evangelisch-Lutherischen Konferenz in der preußischen Landeskirche und der Vorsitzenden der lutherischen Provinzialvereine vom 20. September 1892, veröffentlicht in der Rubrik „Kirchliche Nachrichten" unter dem Titel: Positive Zeugnisse gegen D. Harnack, in: Protestantische Kirchenzeitung 39 (1892), 940f., Zitat 941; auch abgedruckt in: Huber/Huber, Bd. III, 673. Harnack protestierte gegen diese Erklärung in einem Brief vom 23. September 1892, der offensichtlich an den Herausgeber der Protestantischen Kirchenzeitung gerichtet war (in: K 21, Konvolut „Apostolikumstreit") und forderte die Veröffentlichung einer Richtigstellung, aus der hervorgehen sollte, daß in diesem Referat „alles das weggelassen" worden sei, was er „für das Apostolikum gesagt habe" und zudem seine Sätze „fahrlässig wiedergegeben und entstellt" seien. Er habe nicht behauptet, „daß es keine brennendere kirchliche Aufgabe gebe, als das Apostolikum für den kirchlichen Gebrauch zu beseitigen", sondern ausgeführt, daß es keine brennendere Aufgabe für die Generalsynode gebe „als die Bekenntnisfrage freimütig zu erwägen." Weiterhin habe er sich lediglich für die Entfernung des Apostolikums aus dem liturgischen Gebrauch ausgesprochen. ,,M[eines] W[issens] ist der liturgische Gebrauch des Apostolikums in den evangelischen] Kirchen z. Z. kein allgemeiner. Den Gedanken einer Abschaffung des Symbols habe ich bestimmt zurückgewiesen." Zudem habe er den Studenten nicht Umdeutungen des Apostolikums nahegelegt, sondern sie darauf aufmerksam gemacht „daß die evangelische Kirche mehrere Sätze des Apostolikums in ihrem ursprünglichen Sinn nicht anerkennt, vielmehr selbst Umdeutungen fordert und vollzieht." Am Schluß seines Schreibens rechtfertigte Harnack noch einmal sein Vorgehen: „Mein evangelisches Recht und meine Amtspflicht, den Studirenden so zu antworten, wie ich ihnen geantwortet habe, brauche ich nicht zu vertheidigen." D. Harnack und das Apostolikum, in: Neue Preußische (Kreuz-)Zeitung, Nr. 481 vom 14. Oktober 1892.

Der Apostolikumstreit von 1892 und die „Freunde der Christlichen Welt"

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gung ausbricht, die mit dem Grunddogma des Christenthums brechen und damit das Christenthum selbst aus weiten Kreisen des deutschen Volks verbannen will." 2 7 5 Bei der Heftigkeit der Auseinandersetzung konnten staatliche und kirchenleitende Stellen nicht untätig bleiben. Der Evangelische Oberkirchenrat der preußischen Landeskirche veröffentlichte am 25. November 1892 einen Erlaß, 2 7 6 um die verunsicherten Gemeinden und Pfarrer zu beruhigen. Harnack wurde darin verhältnismäßig sanft kritisiert. Nicht geduldet würden bei Geistlichen „etwaige agitatorische Versuche, das Apostolikum aus seiner Stellung zu verdrängen". 2 7 7 Jungen Pfarrern, Kandidaten und Studenten gegenüber wurde betont, daß niemand ein verkündendes Amt in der evangelischen Kirche ausüben könne, der einer der Grundwahrheiten des christlichen Glaubens widerspräche, und die Generalsuperintendenten wurden dazu aufgerufen, den Ordinanden „ernste Selbstprüfung in Beziehung zu den Glaubenswahrheiten der evangelischen Kirche zur Gewissenspflicht zu machen". 2 7 8 Gegen diesen Erlaß, an dem ihn vor allem die Forderung nach Gewissensprüfung der Ordinanden als „Inquisitionsverfahren" gegen junge Geistliche empörte, 2 7 9 protestierte Rade in einem scharf formulierten Artikel. 2 8 0 Harnack dagegen, der Rades Artikel als „einseitig" empfand, 2 8 1 bewertete den Erlaß wesentlicher positiver und sah es bereits als Gewinn an, daß darin die Jungfrauengeburt „factisch nicht als Grundwahrheit" bezeichnet, das Apostolikum nicht als solches, sondern der in ihm in symbolhafter Form ausgedrückte Glaube als status

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Was geht die katholische Presse der Fall Harnack an?, in: Germania, Nr. 244 vom 23. Oktober, 3. Blatt. Zirkularerlaß des preußischen Evangelischen Oberkirchenrates, betreffend den Gebrauch und die Wertschätzung des Apostolischen Glaubensbekentnisses, an die unterstellten Generalsuperintendenten, abgedruckt in: C C W 2 (1892), 465f.; auszugsweise in: Huber/ Huber, Bd. III, 6 7 7 - 6 7 9 . Ebd., CCW 2 (1892), 465; Huber/Huber, Bd. III, 678. Ebd., CCW 2 (1892), 465f.; Huber/Huber, Bd. III, 678f. Nr. 115. Rade, M.: Der Erlaß des preußischen Oberkirchenrats, in: CW 6 (1892), 1 1 5 9 - 1 1 6 1 . Vgl. Nr. 115. Vergleichbare Beurteilungen äußerten auch andere der FCW. — Erich Foerster, der Herausgeber der CCW, schrieb Harnack am 30. November 1892 (in: K 21, Konvolut „Apostolikumstreit"): „Der gestern [...] veröffentlichte Zirkularerlaß des Ev[angelischen] 0[ber-)K[irchen-]R[ath]s rückt den Entschluß des Ministers, die Lehrfreiheit unangetastet zu lassen, in eine eigentümliche Beleuchtung. Er ist grausam und perfide zugleich, indem er die ganze Wucht der Krisis zwischen moderner Theologie und kirchlicher Ueberlieferung in das Gewissen des Ordinanden schiebt, die Lehrprozesse gegen schon angestellte Geistliche aber scheut. Er ist falsch und unehrlich, indem er den Schein erweckt, als verlangten wir etwas Neues, während der hier aufgestellte Grundsatz der ganzen bisherigen Praxis des Kirchenregiments von Schleiermacher an bis Nitzsch, Herrmann, v[on] d[er] Goltz ins Gesicht schlägt." Friedrich Loofs bekämpfte die „gesinnungslose Angstpolitik" des Oberkirchenrats. Postkarte an Rade vom 4. Dezember 1892, in: K 21, zitiert in Anm. 2 zu Nr. 121. Nr. 120.

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confessionis bezeichnet sowie betont wurde, daß man aus dem Bekenntnis kein starres Lehrgesetz machen wolle. 2 8 2 Auf staatlicher Seite beschäftigte der „Fall Harnack" höchste Kreise: Aufgrund der heftigen Kritik an Harnack forderte Kaiser Wilhelm II. vom preußischen Kultusminister Bosse einen Immediatsbericht über diese Angelegenheit. Dieser bestellte Harnack zu sich und bat ihn „um eine authentische Darlegung des thatsächlichen Hergangs". 2 8 3 In einem ausführlichen Gespräch und einer nachfolgenden schriftlichen Erklärung kam Harnack dieser Aufforderung nach. 2 8 4 Im auf dieser Grundlage erstatteten Bericht wurde zwar Kritik an Harnacks Äußerungen geübt — vor allem seine Ausführungen zur Jungfrauengeburt wurden beanstandet —, sein Verhalten, besonders gegenüber den Studenten, jedoch gebilligt. So erfolgte außer der Unterredung mit Minister Bosse keine weitere Ermahnung Harnacks 2 8 5 oder etwa gar ein Disziplinarverfahren, das durchaus im Bereich des Möglichen gelegen hatte. Lediglich eine „Strafprofessur" — besetzt mit Adolf Schlatter — wurde eingerichtet, um dem Verlangen der „positiven" Richtung nach angemessener Vertretung ihres Standpunktes an der Berliner Universität entgegenzukommen. Sahen konservative Kreise in der Kritik am Apostolikum einen grundsätzlichen Angriff auf Glauben und Kirche, so interpretierten liberale Theologen das Verhalten der Kirchenleitungen und der sie unterstützenden Gruppen als Versuche, wissenschaftliche Erkenntnisse und ihre Verbreitung zu unterdrükken und die Gewissensfreiheit von Pfarrern wie von Laien zu beschneiden. Sie stellten sich deshalb hinter Harnack. Unterstützung fand er vor allem bei Rade und dem Kreis der „Freunde der Christlichen Welt". Diese Gruppe, die sich aus unterschiedlichsten Vertretern des freien Protestantismus zusammensetzte — genannt seien nur Friedrich Loofs, Ferdinand Kattenbusch, Hermann von Soden, Johannes Gottschick, Wilhelm Herrmann und Julius Kaftan —, bestand schon seit einiger Zeit als lockerer Zusammenschluß von Theologen, die in der CW veröffentlichten. Unter dem Druck der Ereignisse wurde die Verbindung nun wesentlich enger. Harnack und Rade verabredeten, einen Kreis von Gleichgesinnten für den 4./5. Oktober 1892 nach Eisenach einzuladen, um dort über den Fall Schrempf und die Auseinandersetzung um Harnacks Stellungnahme zu beraten. 2 8 6 Schon in der Vorbereitungsphase regte Rade an, sich 282

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Nr. 120. Dies zählte Harnack zu den „schwer in's Gewicht" fallenden positiven Aspekten des Erlasses. Als bedenklich kritisierte er jedoch, daß die Frage nach der kirchlichen Relevanz der kritischen Theologie im Erlaß ausgespart worden war. Ebd. Brief Bosses an Harnack vom 8. Oktober 1892, Nr. 96. Vgl. dazu den Brief Harnacks an seinen Schwiegervater Carl Thiersch, in: Zahn-Harnack, 154f., und den Entwurf der Erklärung Harnacks, datiert auf den 7. Oktober 1892, den Tag des Gespräches mit Bosse (Nr. 95). Vgl. Zahn-Harnack, 155f., und Nr. 153 wo Harnack erwähnte, Bosse habe ihn nur um Zurückhaltung und Vorsicht gebeten. Das Einladungsschreiben vom 12. September 1892 und die Sitzungsprotokolle veröffentlichte Rade später unter dem Titel: Eisenach 1892, in: AdF, Nr. 82 (15. März 1926), 925-932.

Der Apostolikumstreit von 1892 und die „Freunde der Christlichen Welt"

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„über einige Sätze [zu] vereinigen, mit denen wir zu gegebener Zeit an die Oeffentlichkeit treten können [...] Sie müssen unsern durch die moderne Schule gegangnen Pfarrern wirklich ein Halt u[nd] eine Hilfe sein und den Laien beides vor Augen führen: unsre Anerkenn[un]g gewisser historischer] Thatsachen und unsre religiöse P o s i t i o n . " 2 8 7 In E i s e n a c h w u r d e l e b h a f t d a r ü b e r d i s k u t i e r t , o b d i e F C W e i n e ö f f e n t l i c h e E r k l ä r u n g a b g e b e n sollten o d e r nicht u n d o b sie sich d a f ü r a u s s p r e c h e n sollten, B e k e n n t n i s f o r m u l a r e , die d e m derzeitigen S t a n d der

wissenschaftlichen

E r k e n n t n i s s e e n t s p r a c h e n , p a r a l l e l n e b e n d e m A p o s t o l i k u m in d e n s c h e n K i r c h e n e i n z u f ü h r e n . H a r n a c k h a t t e sich ein s o l c h e s n e u e s

evangeli-

Bekenntnis

s c h o n seit l a n g e m g e w ü n s c h t ; 2 8 8 jetzt f o r d e r t e er es i m K r e i s seiner t h e o l o g i s c h e n F r e u n d e . 2 8 9 M i t s e i n e r F o r d e r u n g k o n n t e er j e d o c h n u r w e n i g e ü b e r z e u gen;

konservativer

Eingestellte,

wie

z. B. J . K a f t a n ,

sprachen

sich

dagegen

a u s . 2 9 0 M a n e i n i g t e s i c h j e d o c h a u f e i n e g e m e i n s a m e E r k l ä r u n g , d i e d a n n in

Nr. 90. Vgl. die Postkarte v o m 31. J a n u a r 1889 an R a d e (Nr. 70) und H a r n a c k : Apostolikum, 768. 2 8 9 Vgl. Eisenach 1892, in: AdF, Nr. 82 (15. M ä r z 1926), 926. 290 Vgl. ebd., 927. Kaftan hatte von Anfang an prinzipielle Einwände gegen die Versammlung gehabt. In einem Brief an H a r n a c k v o m 23. September 1892 (in: K 34) bestritt er grundsätzlich die Richtigkeit der Veröffentlichung von H a r n a c k s Ansprache und legte dar, daß er „die Nothwendigkeit der vorgeschlagenen Berathung nicht" einsehe. „ D e r Fall Schrempf ist m. E. nicht geeignet, als Anlaß e i n e r , B e w e g u n g ' zu dienen. Die Lektüre der Akten hat mir gezeigt, daß er zu den Leuten gehört, die jedenfalls mit den bestehenden Verhältnissen von Gewissens wegen in Konflikt k o m m e n müssen — ob als Vertreter einer strengen Rechtgläubigkeit oder als Jünger einer modernen Theologie, das hängt von den Umständen ab. Und wenn ich auch seine Gewissenhaftigkeit u[nd] Opferfähigkeit respektire, so finde ich doch sein Gewissen nicht christlich fein [...]. Mir scheint, ihm fehlt gerade der geschichtliche Sinn, hätte er etwas mehr davon, so wäre er in diesen Konflikt nicht gerathen. Jedenfalls kann ich den Fall Schrempf nicht für eine kirchliche Krisis halten. Es bleibt die Veröffentlichung Deiner Thesen in der C h r i s t l i c h e n ] W[elt]. Diese nun halte ich an meinem Theil für einen Fehler. Es war mir schon befremdend, daß Du die Unterredung [...] zum Anlaß der Auseinandersetzung im Colleg nahmst, ich hätte diese Mittheilung u[nd] Berathung als Vertrauenssache gefaßt, die nicht vor einen größeren Kreis gehörte. Indessen, d a s blieb zwischen Lehrer u[nd] Schülern [...] Aber in die Presse gehörte die ganze Sache nicht. [...] Und welchem Z w e c k die Veröffentlichung dienen sollte, ist mir unerfindlich. [...] Was soll ich mir z. B. dabei denken, daß es nach These 3 nicht sich d a r u m handeln soll, die A b s c h a f f u n g des Apostolikums zu erstreben, wohl aber nach These 4 die Beseitigung desselben aus dem liturgischen Gebrauch? ich [sie] bin nicht im Stande, beides mit einander zu reimen. Der zweite Umstand aber bewirkt, daß die Sätze auf Nicht-einverstandene irritirend wirken u[nd] ihnen Veranlassung bieten, von dem Diktate der unfehlbaren Wissenschaft zu reden. M ü ß t e es also sein, daß etwas zur Sache gesagt würde, dann nicht in dieser Form — nach meinem Empfinden nämlich. Müßte es aber sein? N a c h These 3 u[nd] dem Schlußsatz von These 8: nein. D a s Apostolikum kann nicht beseitigt d. h. fakultativ gemacht werden, wenn nicht eine erdrückende Mehrheit der Gemeinde in dieser Formel einen Brauch erblickt, über den einig zu sein nicht zur Einheit des Glaubens gehört. D a v o n ist aber einstweilen keine Rede. Mithin müssen wir einstweilen mit dem gegebenen auszukommen suchen [...] Den Sturm aber, der nun einmal — ich meine unnöthiger Weise — entfesselt worden, müssen wir in Gelassenheit über uns ergehen lassen. [...] Mit dem sachlichen Inhalt

287 28S

52

Einleitung

der C W veröffentlicht w u r d e . 2 9 1 Die Erklärung wandte sich u. a. explizit gegen das o b e n 2 9 2 zitierte Verständnis der Jungfrauengeburt. Da in der Predigt Jesu und der der Apostel kein Hinweis auf sie zu finden sei, sei es eine „Verkehrung des Glaubens und eine Verwirrung der Gewissen, wenn im Namen von Schrift und Bekenntnis eine Behauptung ausgesprochen wird, die den entgegengesetzten Schein e r w e c k t . " 2 9 3 Die Zusammenkünfte der F C W — meist in Eisenach — wurden in der Folgezeit zu einer regelmäßigen Einrichtung. Jedes Jahr, normalerweise Ende September oder Anfang Oktober, trafen sie sich, um vor allem aktuelle religiöse und theologische Fragen in diesem halböffentlichen Rahmen zu diskutieren. Das Treffen von 1892 brachte noch eine andere ständige Einrichtung hervor: Harnack hatte dafür votiert, ein Organ zu schaffen, das aktuelle theologische Fragen kurz, sachlich und für ein breiteres Publikum verständlich darlegen sollte. Damit wäre eine Plattform vorhanden, bei Krisen die eigene Position aufzeigen und verteidigen zu könnnen. 2 9 4 Dieser Vorschlag wurde aufgegriffen, und schon bald erschien als erstes der „Hefte zur Christlichen Welt" Rades Schrift „Der rechte evangelische Glaube. Ein Wort zum jüngsten Apostolikumstreit" . 2 9 5 Rade hielt es nach dem Erscheinen der ersten Schriften dieser neuen Reihe allerdings für fraglich, „ob die Hefte die Bedeutung gewinnen werden", die

291

292 293

294 295

Deiner Sätze bin ich einverstanden. Ich finde sie auch gemäßigt. Um so mehr beweist der Erfolg, wie wenig auf Verständigung zu rechnen ist." Eisenacher Erklärung, in: C W 6 (1892), 949f. Von den in Eisenach versammelten F C W unterzeichneten sie P. Göhre und E. Foerster, die Protokollanten, nicht. Vgl. AdF, Nr. 82 (15. März 1926), 932, Anm. 12. Kaftan gab seine Unterschrift später aus Solidarität doch noch. „Zunächst hatte ich auch nicht unterschrieben. Ich sagte mir aber dann, es komme nicht darauf an, daß ich fehle, sondern daß überhaupt keine Erklärung erlassen werde, was nun einmal nicht zu erreichen gewesen; daß die Erklärung nichts enthalte, was nicht auch meine Meinung sei, und daß ich einmal anwesend, mich nicht zurückziehen könne. Deshalb habe ich nachträglich meine Unterschrift erklärt." Brief vom 17. Oktober 1892 an Theodor Kaftan, in: Göbell, 54. Kaftan hatte dafür plädiert, erst auf ein offizielles Vorgehen gegen Harnack zu warten und dann eine Erklärung abzugeben, die „scharf und bestimmt als Verwahrung unseres ideellen und faktischen Rechtes in der Kirche zu gestalten [wäre]. Ich forderte eine andere Situation und eine dieser event[uel]l[en] Situation entsprechende andere Erklärung mit Hörnern und Zähnen, oder aber, träte die Situation nicht ein, Geduld und Schweigen." Ebd., 55. Neben Kaftan, der seine Unterschrift später bedauerte, hatte in Eisenach Th. Häring die Unterschrift verweigert. Vgl. Rathje, 70. Erklärung der Evangelisch-Lutherischen Konferenz u. a. Siehe Anm. 273. Erklärung, in: CW 6 (1892), 949. Im Entwurf der Erklärung hatte es noch schärfer geheißen: „[...] die weder in der Heiligen Schrift, noch in den Bekenntnisschriften der evangelischen Kirche enthalten ist." In: AdF, Nr. 82 (15. März 1926), 931. Ebd., 926. Leipzig 1892. — Im Jahre 1892 erschienen noch drei, 1893 neun Schriften als „Hefte zur Christlichen Welt", die sich mit den durch den Apostolikumstreit aufgeworfenen Fragen auseinandersetzten.

Der Apostolikumstreit von 1892 und die „Freunde der Christlichen Welt"

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H a r n a c k „in Eisenach ihnen zuzusprechen" schien. 2 9 6 Er w a r sich unsicher, welche Tendenz die Hefte haben sollten und befürchtete zudem Differenzen im Kreise der F C W : „Und unsere ,linken' Freunde, samt den von ihnen gemeinten Laien, werden wir da einerseits nicht befriedigen, andrerseits nicht zur Mitarbeit heranziehen d ü r f e n . " 2 9 7 D o c h sah er in der Mannigfaltigkeit der möglichen Autoren und ihrer Ansätze gerade die Stärke der Hefte und der durch sie repräsentierten F C W . Er plädierte deshalb für eine rasche Behandlung zentraler theologischer Fragen in durchaus unterschiedlicher Weise. „Es liegt viel daran, daß in schneller Folge einige recht eingreifende Fragen baldigst besprochen werden. Meine Schrift, die die Reihe eröffnet, rechnet darauf, daß sie in allen den von ihr berührten Punkten durch Einzelausführungen ergänzt wird. Auf eine systematische Ordnung kommt es nicht an: jeder schreibe, was ihm besonders am Herzen liegt, und recht aus dem Herzen heraus. Das ist die Hauptsache: es muß jeder Leser merken, daß es uns Gewissenssache ist, zu reden und so zu reden. [...] Es thut auch meines Erachtens gar nichts, wenn wir alle wieder dasselbe sagen, es sagts doch jeder anders, und nur durch solche hundertfache Wiederholung machen wir uns der Gemeinde verständlich. [...] Es gilt [...] vor allem um den Begriff des Glaubens und damit zugleich um den rechten Brauch der Schrift und das rechte Verständnis der Kirche zu ringen. [...) Endlich gilt es die neueste Kirchengeschichte besonders in Preußen nach ihren verhängnisvollen Wendepunkten sowohl als nach vergeßnen glückverheißenden Ansätzen zur Darstellung zu bringen. [...] Die Art der Behandlung muß jedem freistehn. Unsre Stärke ist die Mannichfaltigkeit unsrer Individualitäten; bringen wir die zur Geltung. Mag der eine mehr für die Gebildeten, der andre mehr fürs Volk schreiben. [...] Möge das neue Unternehmen in seiner Weise dazu dienen, unsern Beruf zu Zeugen des lautern Evangeliums vor der Gemeinde zu bewähren, und etlichen Wahrheit suchenden Seelen Gewinn bringen!" 2 9 8

Die „Hefte zur Christlichen Welt" entwickelten sich in der folgenden Zeit zu einer Institution, in der in Form von Broschüren aktuelle theologische Fragen behandelt wurden, wenn auch auf einem Niveau, das eher andere Theologen als „gebildete Laien" ansprach. So wurde z. B. die Auseinandersetzung mit H e r m a n n Cremers Angriff auf H a r n a c k hier g e f ü h r t . 2 9 9 Durch den Apostolikumstreit wurden die F C W zu einer nun enger verbundenen Gemeinschaft, die sich einig wußte im Kampf gegen die „positiven", d. h. konservativen kirchlichen Kreise. H a r n a c k wurde dabei als die führende Persönlichkeit angesehen. 3 0 0 Er selbst hatte eine solche Position nicht angestrebt; diese Rolle wuchs ihm aufgrund seiner wissenschaftlich-theologischen Bedeutung zu. Im J a h r 1 8 9 2 sind die Anfänge dieser Entwicklung festzustellen. Rade drängte ihn damals, den ihn verteidigenden Freunden zu Hilfe zu Nr. 103. Ebd. 2 9 8 Rade, M.: Vertrauliches Rundschreiben an die Unterzeichner der Eisenacher Erklärung vom 10. November 1892, in: K 21 (Konvolut „Apostolikumstreit"). 2 9 9 Vgl. Nr. 108 und 112. — Im Jahr 1907 stellte Rade aufgrund des geringen buchhändlerischen Erfolgs die Herausgabe der „Hefte zur Christlichen Welt" ein. Vgl. Rade, M.: Jahresbericht, in: AdF, Nr. 22 (10. November 1907), 213. 300 Vgl. Nr. 113 f., 144, 161. 296 297

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Einleitung

kommen, indem er seine religiösen Überzeugungen der Öffentlichkeit darlegte: „Denn daß Du jetzt einmal Deine ganze religiöse Position entwickelst, wird unerläßlich sein. Mit aller Negation, aber ohne Rückhalt des Eigenbesitzes, von dem Du als Christ lebst. Deine Freunde kennen Dich u[nd] Dein Christentum [...] Aber nun mußt Du mit Deinem Innersten an die Oeffentlichkeit. Du hast uns in diesen Handel hineingeführt, Du siehst, wie wir freudig entschlossen sind, an Deiner Seite zu kämpfen. Aber Ein Wort mußt Du noch reden, das die Legendenbildung um Deinen Artikel u[nd] Deine Person zerstört."301

Entsprechend übte Rade auch Kritik an Harnack, als dieser seine besondere Rolle nicht bedachte und beispielsweise am Tag der Eisenacher Zusammenkunft eine Schrift über das Apostolikum veröffentlichte 3 0 2 , ohne dies vorher mit den Freunden abzustimmen bzw. die Schrift als Diskussionsgrundlage in die Verhandlungen einzubringen: „Aber in diesem Streit bist Du wohl oder übel in die Führerrolle hineingeraten. Du hast Dir das, glaub ich, nicht genug gesagt, als Du in Eisenach uns mit Deiner Broschüre überraschtest, die Du geschrieben hast, wie wenn die Sache damals noch Dein gewesen wäre: das w a r sie aber nicht mehr, sie w a r unsre gemeinsame g e w o r d e n . " 3 0 3

So führte der Apostolikumstreit von 1892 dazu, daß sich die F C W enger zusammenschlössen und ihre Position unter dem Druck der Kritik von konservativer Seite pointierter herausarbeiteten. Hatte diese Gruppe bislang Theologen eines breiten Meinungsspektrums eingeschlossen, so erfolgte nun die Ausrichtung immer stärker hin zur liberalen Theologie bzw. zu deren progressiver Tendenz. Dieser Kreis, der in Harnack die Autorität eines führenden Denkers besaß, wurde von Rade — nicht zuletzt aufgrund seiner G a b e , Freundschaften zu schließen und zu pflegen — zusammengehalten. Er besaß in der C W ein Artikulationsorgan, das nun auf eindeutig „liberalen" Kurs schwenkte und so die ursprüngliche Konzeption des „Evangelisch-Lutherischen Gemeindeblattes für die gebildeten Glieder der evangelischen Kirchen" verließ, alle theologischen Richtungen zu Wort kommen zu lassen und gerade kein Parteiblatt zu sein. 3 0 4 Der Apostolikumstreit war eine Folge des sich im späten 19. Jahrhundert bei vielen — und vor allem bei einflußreichen — protestantischen Theologen durchsetzenden historischen Denkens und der damit einhergehenden Relativierung bzw. Infragestellung auch von Glaubensaussagen sowie der damit zusammenhängenden immer stärkeren Verbreitung der historisch-kritischen Methode und der mit ihrer Hilfe erarbeiteten Erkenntnisse. So ist es kein Zufall,

301 302

303 304

Nr. 112. Das apostolische Glaubensbekenntnis. Ein geschichtlicher Bericht nebst einem N a c h wort, Berlin 1 8 9 2 . Nr. 113. Trotz dieser Kursänderung blieb die C W aber offen für viele theologische Strömungen.

Die „Vereinigung der Freunde der Christlichen Welt"

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daß Harnack, der dieser Methode zum endgültigen Durchbruch innerhalb der evangelischen Theologie verhalf, in diesen Konflikt hineingezogen wurde — zog doch die historische Auseinandersetzung mit den biblischen Texten die Kritik an den Sätzen des Apostolikums, die sich auf biblische Aussagen rückbezogen, notwendig nach sich. Harnack konnte seine Vorstellungen bezüglich des Apostolikums nicht durchsetzen. Weder wurde es modifiziert, noch durch ein weiteres Bekenntnis ergänzt oder gar abgeschafft. Der andauernde Gebrauch im Gemeindegottesdienst sicherte seinen Bestand. So blieb der Konflikt von 1892 in bezug auf seine ursprüngliche Frage — in welcher Form hat der christliche Glaube seinen zeitgemäßen, angemessenen Ausdruck — ohne eigentliches Ergebnis. Die historisch-kritische Methode jedoch — von den Vertretern des freien Protestantismus gegen konservative „bibeltreue" Kreise verfochten — setzte sich in der evangelischen Theologie durch.

11. Die „Vereinigung der Freunde der Christlichen Welt" Der lockere Kreis der FCW, der in seiner Zusammensetzung stets von akademisch gebildeten Theologen dominiert wurde, gab sich eine festere Organisationsform, indem er sich auf dem Treffen im September 1903 in Eisenach zur „Vereinigung der Freunde der Christlichen Welt" (VFCW) zusammenschloß. Ausschlaggebend dafür war das Bestreben, sich „nicht auf die Dauer durch den Verzicht auf Organisation selbst matt [zu] setzen" und durch eine Institutionalisierung die Position der FCW „öffentlich und am gebenenen Orte zum rechtmäßigen Ausdruck zu bringen." 3 0 5 Damit war ein stärkeres kirchenpolitisches Engagement angestrebt. 3 0 6 Die VFCW wollte jedoch ausdrücklich keine „Partei" sein, sondern verstand sich als „Gesinnungsgemeinschaft", 3 0 7 305

Rade, M.: An die Freunde und Freundinnen! [die Herausgeberin nimmt erfreut diesen Ansatz einer Frauen mit einschließenden Sprache zur Kenntnis], in: C W 17 (1903), 9 8 5 f . (datiert auf den 1. Oktober 1903). — Die konstituierende Sitzung der VFCW fand am 28. September 1904 in Eisenach statt. Vgl. Anm. 7 zu Nr. 339. 306 Vgl R a d e : An die Freunde und Freundinnen!, 985f.: Angestrebt sei eine „größere Aktionsfähigkeit unserer Freunde und Gesinnungsverwandten zu allerlei guten Werken und zu kirchlicher Geltendmachung." Vgl. Rade: Bund, 4. — Den Wunsch nach kirchenpolitischem Engagement der FCW hatte Rade bereits 1894 geäußert; vgl. Nr. 142. 307 Rade: An die Freunde und Freundinnen!, 9 8 7 f . Vgl. ebd., 985f., und Rade: Bund, 4: „Sind wir also keine Partei, was sind wir denn? Ein Bund, eine Gemeinschaft. Dieser letztere Begriff deckt für mein Empfinden am meisten, w a s sie Freunde und Freundinnen immer gewollt haben und was die Organisation erst recht will. Eine gemeinsame Frömmigkeit verbindet uns. Eine Stimmung meinetwegen, aber mehr noch: eine Gesinnung." Vgl. ebd., 5, w o Rade sein Verständnis der VFCW zusammenfaßte: „Mir ist das Wesen unserer Zusammengehörigkeit Gemeinschaft im spezifisch religiösen und ethischen Sinne. Mir gibt die Organisation mehr Mittel an die Hand, sie zu pflegen, darum begrüßte ich den Beschluß. Es gilt dabei vornehmlich nach innen gewandte Arbeit der Mitglieder an einander [...] Dabei ist von selbst mit gegeben, daß dieser bessere Zusam-

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Einleitung

in d e r M e n s c h e n m i t u n t e r s c h i e d l i c h e n A n s i c h t e n v e r t r e t e n sein k o n n t e n . G e m e i n s a m w a r e n i h n e n die k u l t u r p r o t e s t a n t i s c h e n Ü b e r z e u g u n g e n v o m P r i m a t d e s I n d i v i d u u m s in d e r G e s c h i c h t e , d e r B e d e u t u n g c h r i s t l i c h b e g r ü n d e t e n e t h i schen H a n d e l n s , der R e l e v a n z von Bildung für die Persönlichkeit und grundsätzlichen

Vereinbarkeit von moderner

Gesellschaft

G l a u b e n , d e n sie — v o r a l l e m m i t H i l f e d e r T h e o l o g i e

der

und

christlichem

— in

zeitgemäßen

F o r m e n a u s z u s a g e n sich b e m ü h t e n . A u f d i e s e r G r u n d l a g e t r a t e n sie für die Freiheit der wissenschaftlichen T h e o l o g i e ein. Dies g e s c h a h z u m ersten M a l i m A p o s t o l i k u m s t r e i t , s p ä t e r in a n d e r e n „ F ä l l e n " , v o n d e n e n die s p e k t a k u l ä r sten die A u s e i n a n d e r s e t z u n g e n

u m J a t h o u n d T r a u b (s. K a p i t e l

12.2.

und

12.3.) waren. Die theologische und kirchenpolitische

Orientierung der Mitglieder

der

V F C W w a r j e d o c h s e h r h e t e r o g e n . R a d e v e r s t a n d dies g e r n als V o r z u g . „Wenn auch die ,Freunde der Christlichen Welt' sich ,organisiert' haben, so ist das Beste an dieser Organisation, daß sie so schwach ist. Sie bezweckt und erreicht im Grunde nichts anderes als die Erleichterung einer gelegentlichen Fühlungnahme zwischen den vereinigten Personen. Bescheideneres kann eine Organisation nicht wohl leisten. Und doch ist diese Schwäche eine Stärke. Niemand wird vergewaltigt. Und keinerlei Mittel kommen zur Anwendung, die nur der Zweck heiligt. Das sind zwei große Vorzüge, wenngleich scheinbar nur negativer A r t . " 3 0 8 G e m e i n s a m e n A k t i o n e n w a r es a b e r h ö c h s t a b t r ä g l i c h , d a ß e i n e g e m e i n s a m e Linie k a u m gefunden w e r d e n k o n n t e und auch beim Eintreten für T h e o l o g e n , die in K o n f l i k t m i t d e r K i r c h e n l e i t u n g g e r a t e n w a r e n , i m m e r

wieder

D i f f e r e n z e n i n n e r h a l b des K r e i s e s o f f e n z u t a g e t r a t e n . S o ist es n i c h t v e r w u n d e r l i c h , d a ß es d e n F C W n i c h t g e l a n g , sich a u f ein g e m e i n s a m e s

Programm

zu e i n i g e n , 3 0 9 u n d sich v o n A n f a n g a n B e d e n k e n g e g e n g e m e i n s a m e s k i r c h e n -

308

309

menhang gelegentlich und im Bedarfsfall der großen Oeffentlichkeit zu gute kommt: wir haben beim rechten Anlaß hell und deutlich zu zeigen, daß wir auch da sind." Rade: Liberalismus, 176. Vgl. Rades Statement, daß ein Bestreben nach großer Einmütigkeit weder notwendig noch fruchtbar sei: „Wer darin nicht den Reichtum unsrer Vereinigung sieht, daß von Jatho bis Harnack, von Traub bis Scholz, von Bonus bis Schian Ein Band uns umschließt, einen sonst nirgends vorhandnen Austausch uns ermöglichend und gewährleistend, der ist kein vollbürtiges Mitglied unsers Kreises. [...] wir müssen lernen, auch gelegentlich in der Minderheit zu bleiben und uns von der Mehrheit überstimmen zu lassen." Rade, M.: Jahresbericht 1910/11, in: AdF, Nr. 37 (20. September 1911), 4 0 8 f . Vgl. auch ders.: Freundschaftlichem Verständnis empfohlen, in: ebd., Nr. 75 (8. April 1923), 812: „Ich bin stolz darauf, daß wir in unsrer Vereinigung auch sonst ein ganz buntes Gemisch politischer Ansichten und Einsichten darstellen. Politischer nur? Nicht auch theologischer, kirchlicher, religiöser? Das ist mir der Hauptvorzug unsers Kreises vor jedem andern. Trotz allem die Gemeinschaft des Geistes! Und in dieser ein freies Walten und Aussprechen unsrer Eigenheiten! J a gerade dies." Vgl. Rade: An die Freunde und Freundinnen!, 987f.: „Es besteht nicht die Absicht, uns auf ein Programm festzulegen. Immerhin werden wir uns Mühe geben, für die Gesinnungsgemeinschaft, deren wir uns bewußt sind, auch den Ausdruck eines knappen Zeugnisses in Worten zu finden. Es eilt damit nicht." Vgl. ders.: Das Verlangen nach einem Programm, in: AdF, Nr. 2 (14. Januar 1904), 9—11; Soden, H. von: Unsre Eigenart und die daraus sich ergebenden Richtlinien für unsere Bestrebungen in der Oeffentlichkeit, in: ebd., Nr. 3 (15. März 1904), 18—22; Eintrachtsformeln und Programme, in: ebd.,

Die „Vereinigung der Freunde der Christlichen Welt"

57

politisches Handeln regten. 3 1 0 Die „Pflege der Geistesgemeinschaft"3n blieb das Proprium dieses Kreises; die von Rade erwartete Schwenkung von rein wissenschaftlich-theologischem Interesse zu mehr praktischem T u n 3 1 2 unterblieb. Als kleinster gemeinsamer Nenner wurde ein Beschluß verabschiedet, in dem entsprechend der liberal-theologischen Ausrichtung der Gruppe die „unbedingte Freiheit der theologischen Wissenschaft [...] als unumgängliche Bedingung für die gesunde Entwicklung evangelischer Frömmigkeit in unserm Volke" sowie die „Freiheit der Ueberzeugungsbildung" der Geistlichen gefordert, das Streben nach Uniformität in Lehre und Liturgie der Landeskirchen abgelehnt und als Aufgabe die „ehrliche Befriedigung des in weiten Kreisen erwachten Bedürfnisses nach Klärung und Vertiefung der religiösen Erkenntnis" formuliert wurde, „weil nur dadurch die Abwendung großer Massen vom evangelischen Christentum verhütet werden k a n n . " 3 1 3 So konnte Rade die

„Doppelnatur"314 der FCW als „Freunde einer ernsten und freien wissenschaftlichen Theologie" und als „Gemeinschaft an sich" charakterisieren.315 Auch die Mitgliedszahlen der V F C W ließen keine großen, einflußreichen Aktivitäten erwarten: Im Jahre 1904 verzeichnete der Kreis 871 Mitglieder, 3 1 6 1907 1224 Mitglieder 3 1 7 ; die Zahl von 1500 Mitgliedern wurde nur knapp überschritten. 3 1 8 Den weitaus größten Teil der F C W bildeten die Geistlichen. 1913 stellten sie rund 5 6 % der Mitglieder. Hochschullehrer hatten einen Anteil von 7 , 3 % , Lehrer 1 1 , 2 % , Lehrerinnen 5 % , höhere und hohe Beamte 1 , 2 % , ökonomisch Selbständige rund 1 % . 3 1 9 Die Mitglieder stammten, wie auch die sonstigen Berufsbezeichnungen deutlich machen, aus dem Bildungsbürgertum. Der Prozentsatz gesellschaftlich einflußreicher Personen — wie hoher Beamter — war gering. Auch unter den Geistlichen finden sich nur

Nr. 4 (10. Mai 1 9 0 4 ) , 2 9 — 3 1 . In der Satzung wurde dann sehr allgemein und wenig aussagekräftig in § 1 als Z w e c k der V F C W die „gemeinsame Förderung der religiösen und kirchlichen Interessen ihrer Mitglieder" festgelegt. Vgl. Die Satzungen der Vereinigung der Freunde der Christlichen Welt beschlossen in der ersten Generalversammlung am 2 8 . September 1 9 0 4 , in: ebd., Nr. 9 (15. J a n u a r 1 9 0 5 ) , 7 4 . 310

Vgl. Fuchs, E.: Was wollen wir? Eine Gewissensfrage, in: AdF, Nr. 5 (15. Juni 1 9 0 4 ) , 3 3 - 5 8 ; Herzog, G.: Kirchenpolitik?, in: ebd., Nr. 6 (28. September 1 9 0 4 ) , 4 3 - 4 6 .

3,1

Rade, M . : Jahresbericht. Fortsetzung und Schluß, in: AdF, Nr. 7 (1. Oktober 1 9 0 4 ) , 4 9 . Ebd., 5 3 .

312 313

Beschluß der konstituierenden Generalversammlung der Vereinigung der Freunde der Christlichen Welt, in: ebd., 5 5 .

3,4

Rade: Doppelnatur, 6 3 4 . Ebd., 6 3 7 . Rade, M . : Bericht über Bestand, Entwickelung und Tätigkeit der Vereinigung der Freunde der Christlichen Welt, erstattet in deren erster Generalversammlung a m 2 8 . September 1 9 0 4 , in: AdF, Nr. 6 (28. September 1 9 0 4 ) , 4 8 . Rade, M . : Jahresbericht, in: AdF, Nr. 2 2 (10. November 1 9 0 7 ) , 2 1 2 . Das Verzeichnis der F C W vom September 1 9 1 3 verzeichnet 1 5 0 3 Mitglieder; in: AdF, Nr. 4 5 (12. September 1 9 1 3 ) , 5 0 1 - 5 1 2 . Vgl. ebd.

315 316

3,7 318

3,9

58

Einleitung

wenige Vertreter, die eine Superintendentur oder einen noch höheren Posten bekleideten. Erstaunlich hoch ist mit insgesamt fast 1 8 % der Frauenanteil. Organisatorisch waren die F C W in regionalen Gruppen mit sehr unterschiedlichem Institutionalisierungsgrad zusammengefaßt, für die Vertrauensmänner gewählt wurden. Ein eigenes Kommunikationsorgan für die V F C W schuf Rade durch die Herausgabe von „An die Freunde. Vertrauliche d. i. nicht für die Oeffentlichkeit bestimmte Mitteilungen". 3 2 0 Hatten sich konservativer ausgerichtete Theologen wie Friedrich Loofs, Paul Drews und Julius Kaftan von den F C W abgewandt, als ihr Kurs „liberaler" wurde, 3 2 1 so ließen die großen Auseinandersetzungen der kommenden Zeit — wie z. B. der Fall Jatho — die Differenzen innerhalb des Kreises deutlicher zutage treten. Hier soll nur noch beispielhaft auf die erregten Auseinandersetzungen um die 1905 erschienene Christusdichtung von Gustav Frenssen 3 2 2 mit ihren Anfragen an die Sexual- und Ehemoral hingewiesen werden. 3 2 3 Die Diskussionen innerhalb des V F C W beschränkten sich nicht auf theologische und religiöse Fragestellungen. Beispielsweise initiierten die vor allem von Erich Foerster angestellten Überlegungen zum verfassungsrechtlichen Verhältnis von Kirche und Staat intensive Auseinandersetzungen mit dieser Thematik, ohne daß daraus jedoch ein gemeinsames praktisches Handeln erwuchs. 3 2 4 Rade war 1907 einer Einladung zum vierten Kongreß des „International Council of Unitarian and Other Liberal Religious Thinkers and Workers" nach Boston gefolgt, das sich um Beziehungen zum Protestantenverein und

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Erschienen von Nr. 1 (10. November 1903) bis Nr. 111 (10. Januar 1934). Inzwischen mit einer Einleitung von Chr. Schwöbel nachgedruckt, Berlin-New York 1993. Vgl. Rathje, 118ff., 126; Rade: Doppelnatur, 636 und 638: „Wir haben die Freunde und Gönner von rechts im Laufe der Zeit verloren. Unser kirchenpolitisches Auftreten hat das verursacht." Frenssen, G.: Hilligenlei. Roman, Berlin 1905. Vgl. Schian, M.: Frenssens Hilligenlei, in: C W 19 (1905), 1 1 5 9 - 1 1 6 4 ; ders.: Schriften über und zu Hilligenlei, in: C W 20 (1906), 658 — 662; ders.: Noch mehr Schriften zu und über Hilligenlei, in: ebd., 811 — 814; Beckmann, H.: Die sinnliche Liebe in Frenssens Hilligenlei, in: ebd., 196—200. Rade beurteilte Frenssens Buch recht positiv. Vgl. Rade, M . : Vorläufige Schlußbemerkungen zu Hilligenlei, in: C W 20 (1906), 260: „Alles in Allem: Hilligenlei ist ein Buch, über das man sich nicht entsetzen, sondern das man recht gebrauchen soll." Doch er konstatierte die Tiefe der dadurch offenbar gewordenen Gegensätze: „Und nun haben wir bis ins Innerste unsrer Gemeinschaft hinein endlich noch einen Fall Frenssen gehabt. J a man kann sagen, vielleicht hat Nichts unsern Freundeskreis so erschüttert, wie .Hilligenlei'. Ich habe aus unsrer Mitte wahrhaft ergreifende Proteste bekommen wider die Stellungnahme der Christlichen Welt zu diesem Roman. [...] Aber die Kluft zwischen den Freunden wird groß, wenn den einen als Produkt ekler Fleischesemanzipation erscheint, was den andern als Evangelium einer besseren Ethik." Rade, M . : Mitgliederversammlung in Potsdam, in: AdF, Nr. 18 (22. Oktober 1906), 165. Vgl. ders.: Zwei Briefe Frenssens, in: C W 20 (1906), 281. Vgl. Nr. 3 3 9 und Nr. 493.

59

Die „Vereinigung der Freunde der Christlichen Welt"

den F C W b e m ü h t e . 3 2 5 Als dessen G e n e r a l s e k r e t ä r , C h a r l e s W e n d t e , im gleic h e n J a h r den Plan u n t e r b r e i t e t e , den n ä c h s t e n K o n g r e ß in D e u t s c h l a n d u n t e r M i t w i r k u n g d e r V F C W zu v e r a n s t a l t e n , n a h m R a d e dies z u m A n l a ß , die R o l l e dieses Kreises im p r o t e s t a n t i s c h e n D e u t s c h l a n d kritisch zu b e l e u c h t e n

und

zu g r ö ß e r e m u n d besser k o o r d i n i e r t e m E n g a g e m e n t z u g u n s t e n einer freieren G e s t a l t u n g der k i r c h l i c h e n Verhältnisse a u f z u r u f e n : „Wir haben aber bei dieser Gelegenheit ferner neuen Anlaß erhalten, unsre eigne Stellung und Leistung zu prüfen. [...] Ich sehe die Aufgabe unsers Kreises so an. Wir haben mit einer vertieften Auffassung unsers kirchlichen Christentums den Kampf für größere Freiheit zu verbinden. [...] Aber [...] die Quellen unsrer Kraft" kommen „uns aus der Vergangenheit. Gott hat zu uns gesprochen durch Jesus und durch die Propheten, durch Luther und Schleiermacher, durch eine ganze große Christenheit, die ihren Glauben lebte. Kinder dieser Geschichte wollen wir sein und bleiben [...] Aber indem wir diese Treue und dieses fromme Verständnis unsrer religiösen Vergangenheit wirklich bewähren [...] müssen wir gleichzeit tapferer als bisher befreiende Arbeit tun. [...] Der Bann, der auf unsern Pfarrern liegt, muß gebrochen werden. Der Schein, daß sie nicht predigen dürfen, was sie glauben, der doch nicht nur ein Schein ist, muß verschwinden. Nicht nur um der Theologen, ebenso um der Laien, der Gemeinden willen. Die Art, wie wir heute von Fall zu Fall Stellung nehmen, ist unser und ist des deutschen Protestantismus unwürdig. Wenn wir so fortfahren, werden wir trotz unsrer Universitätswissenschaft und trotz aller persönlichen Treue der Einzelnen in ihrer Praxis die geistige Führung der evangelischen Christenheit verlieren. Wir werden einfach der Stunde, die Gott uns schickt, nicht gerecht." 3 2 6 H a r n a c k w u r d e d u r c h R a d e s A u s f ü h r u n g e n zu e i n e m l ä n g e r e n Schreiben m o t i v i e r t , in d e m er sich kritisch m i t d e m g e p l a n t e n K o n g r e ß

auseinander-

setzte und a u f die U n t e r s c h i e d e d e r k i r c h l i c h e n L a n d s c h a f t in D e u t s c h l a n d u n d den U S A a b h o b . D a in D e u t s c h l a n d eine „ P a s t o r e n - u n d T h e o l o g e n k i r c h e " b e s t e h e , die er als „ v e r b e s s e r t e k a t h o l i s c h e K i r c h e " b e w e r t e t e , d e s h a l b a l s o nicht die Freiheit d e r L a i e n , s o n d e r n die d e r Geistlichen zu e r k ä m p f e n sei, hielt er einen „ K o n g r e ß des freien C h r i s t e n t u m s " für „ n i c h t n ö t i g ! " 3 2 7

325

326 327

Vgl. Freedom and Fellowship in Religion. Proceedings and Papers of the Fourth International Congreß of Religious Liberals. Held at Boston, U.S.A., September 22—27, 1907, hrsg. von C. Wendte, Boston (Mass.) o. J . [1907], Rades Kongreßvortrag „The Religious Situation in Germany and the Friends of the Christliche Welt" in: ebd., 100—114; unter dem Titel: Die kirchliche Lage in Deutschland und die Freunde der Christlichen Welt, in: CW 21 (1907), 9 5 9 - 9 6 8 . Vgl. Rades Bericht: Kongreß in Boston, in: ebd., 1 0 1 8 - 1 0 2 2 , und ders.: Zum Bostoner Kongreß, in: ebd., 1049f. Rade, M.: Jahresbericht, in: AdF, Nr. 22 (10. November 1907), 210f. Nr. 413. — Bedenken gegen den Kongreß wurden auch von einigen konservativeren Mitgliedern der FCW geäußert. Vgl. ihre „Erklärung" in: AdF, Nr. 25 (28. Oktober 1908) 247, und Rade, M.: Zu dem Beschluß vom 9. Oktober, in: ebd., Nr. 26 (20 Oktober 1908), 251. Für Martin Schian, einen der Unterzeichner der Erklärung, zeigte die Diskussion über die Beteiligung der FCW am Kongreß, daß die VFCW „zu verschiedene Elemente [umschließt], als daß sie irgend in größerem Umfang auf praktisches Handeln sich einlassen könnte." Schian, M.: Zur Frage des religiös-liberalen Kongresses, in: AdF, Nr. 26 (20. November 1908), 251. Rade ließ diese Opposition eine Bloßstellung vor den amerikanischen Vertretern des Kongresses befürchten. Vgl. Nr. 429.

60

Einleitung

Die VFCW beschlossen auf ihrer Generalversammlung am 9. Oktober 1908 fast einstimmig die Beteiligung am Kongreß. Harnack erklärte sich solidarisch dazu bereit, ihn mitzutragen und dort zu referieren, 328 lehnte es aber ab, sich als Vertrauensmann aufstellen zu lassen, da er eine zu hohe Arbeitsbelastung befürchtete. 329 Um mehr „Fühlung" zwischen den FCW zu ermöglichen, wurde noch während des Ersten Weltkriegs der Plan gefaßt, ein „Heim für die Freunde" zu schaffen, das — entsprechend der Differenziertheit des Kreises — die Möglichkeit bieten sollte, sich „gegenseitig [zu] tragen und innerlich eins [zu] wissen in noch so großer Meinungsverschiedenenheit auf theologischem wie kirchlichem und politischem Gebiete." 3 3 0 Nachdem zunächst das „Wald-Heim" in Tambach (Thüringen) gemietet worden war, wurde ein Haus in Friedrichroda (Thüringen) gekauft und am 25. April 1919 mit einem Festakt eröffnet. 3 3 1 Auf dem ersten Treffen nach dem Krieg am 1. und 2. Oktober 1919 wurde darüber beraten, welchen Kurs die FCW nun einschlagen sollten. In einem vorbereitenden Vortrag vertrat Ewald Stier, der seit 1916 Generalsekretär der VFCW war, die These, dieser Kreis solle „ein rein religiöser Verein sein" und als Vereinigung keine Kirchenpolitik treiben — und sah sich dabei in Fortführung der Tradition der FCW. 3 3 2 Seine Thesen fanden allerdings wenig Akzeptanz, ohne daß in der Diskussion eine tragfähige Gegenposition aufgebaut worden wäre. 3 3 3 Das Bemühen um größere kirchenpolitische Einflußmöglichkeiten gerade angesichts der Erkenntnis, daß Anstrengungen um Einfluß in den protestantischen Landeskirchen in der jungen Republik bisher wenig Erfolg gehabt hatten, da die konservativen Kräfte in den evangelischen Kirchen die Übermacht besaßen, ließ den Vorschlag von Johannes Resch, sich mit ähnlich gesinnten Gruppen zusammenzuschließen, auf breite Zustimmung stoßen. 3 3 4 Auch die Infragestellung der eigenen Positionen durch die Religiösen Sozialisten und die Vertreter der dialektischen Theologie trug zu diesem Streben nach Schulterschluß mit ähnlich Gesinnten bei. Nach einer Vorbesprechung im April 328

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Vgl. H a r n a c k , A.: D a s doppelte Evangelium im Neuen T e s t a m e n t , in: Fünfter Weltkongreß, 1 5 1 - 1 5 9 . Vgl. Nr. 4 4 6 und Nr. 4 2 6 , 4 3 0 ff. Stier, E.: Ein H e i m für die Freunde, in: AdF, Nr. 5 8 (10. N o v e m b e r 1 9 1 7 ) . Vgl. R a d e , M . : T a m b a c h , in: AdF, Nr. 61 (20. J u n i 1 9 1 8 ) , 6 6 6 f . ; Stier, E.: D a s H e i m der Freunde, in: ebd., Nr. 6 2 (15. N o v e m b e r 1 9 1 8 ) , 6 6 9 f . ; ders.: „Eingetragener Verein", in: ebd., Nr. 63 (26. Februar 1 9 1 9 ) , 6 7 7 f . ; ders.: D i e Einweihung unseres H e i m s , in: ebd., Nr. 6 4 (21. M a i 1 9 1 9 ) , 6 8 5 f . Vgl. auch R a t h j e , 2 4 3 , 2 7 2 . Stier, E.: W i e gewinnen die F C W Einfluß auf die Kirche?, in: AdF, Nr. 6 5 (4. September 1 9 1 9 ) , 6 9 4 - 7 0 0 , Z i t a t 6 9 7 . Vgl. bes. 6 9 4 f . Vgl. Stier, E.: Ordentliche Mitgliederversammlung in Eisenach, Fürstenhof, 1. O k t o b e r mittags 1 Uhr, in: AdF, Nr. 6 6 (1. N o v e m b e r 1 9 1 9 ) , 7 1 2 f . Vgl. R e s c h , J . : Unser Verhältnis zur Christlichen Welt, in: AdF, Nr. 6 7 (26. Februar 1 9 2 0 ) , 7 2 1 — 7 2 6 . Vgl. die zustimmenden Voten von Mulert, H . : Z u s a m m e n l e g u n g der Betriebe, in: ebd., Nr. 6 8 (10. Juli 1 9 2 0 ) , 7 3 5 f . , und Stier, E.: D e r Z u s a m m e n s c h l u ß des freien Protestantismus, in: ebd., 7 3 6 — 7 4 0 .

Die „Vereinigung der Freunde der Christlichen Welt"

61

1920, auf der das Ziel formuliert wurde, „alle auf dem Boden des freien Protestantismus stehenden Organisationen in ganz Deutschland" zusammenzufassen, 3 3 5 wurde auf der Mitgliederversammlung am 1. Oktober 1920 der Zusammenschluß der FCW, der Freunde der Freien Volkskirche in Thüringen, des Bundes Freie Volkskirche in der Provinz Sachsen, des Bundes für Gegenwartchristentum in Sachsen, den Freunden von Christentum und Gegenwart in Bayern und den Freunden der evangelischen Freiheit in Anhalt zum „Bund für Gegenwartchristentum" (BGC) beschlossen, in dem die VFCW als eigenständige Gruppe weiterexistierte. 336 Dieser Zusammenschluß wurde vor allem von denen favorisiert, die sich ein stärkeres kirchenpolitisches Engagement wünschten. 3 3 7 Rade, der zum Vorsitzenden des BGC gewählt wurde, begrüßte den Zusammenschluß als „ein Stück Zersplitterung weniger" und verstand ihn als „Tat unserer Frömmigkeit". 3 3 8 Ihn lediglich als Tat „kirchenpolitischer Klugheit" anzusehen, lehnte er — sich auf die Tradition der FCW als eines von religiöser Gemeinschaft bestimmten Verbandes berufend — ab. 3 3 9 Der neugebildete BGC wuchs nicht zu einer homogenen Organisation zusammen. Zu groß waren die Differenzen zwischen den in ihm verbundenen Gruppen. Aus den Reihen der FCW wurde bald Kritik laut, die das Zurücktreten der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen „gegenüber ästhetischen, liturgischen, literarischen Tendenzen" angriffen. 3 4 0 Die Auseinandersetzungen über die Form der Zusammenarbeit im BGC und die Art der Zusammenkünfte riß nicht ab. Schließlich legte Rade 1930 den Vorsitz des BGC nieder. Er wurde einstimmig wieder zum Vorsitzenden der VFCW gewählt, und die Verbindung von VFCW und BGC löste sich ohne Streitigkeiten auf. 3 4 1

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Stier, E.: Protokoll. Friedrichroda, Heim der Freunde der Christlichen Welt, 13. und 14. April 1920, in: AdF, Nr. 68 (10. Juli 1920), 741. Stier, E.: Unsere Wartburgtagung, in: AdF, Nr. 69 (4. November 1920), 759. Vgl. die Hinweise auf die Pro- und Contra-Diskussion über die kirchenpolitische Beteiligung der FCW in: ebd., 754. Rade: Zersplitterung, 673, 675. Vgl. ders.: Der Bund für Gegenwart-Christentum, in: ebd., 35 (1921), 1 9 6 - 1 9 8 . Rade: Zersplitterung, 675. So Foerster in seinem Vortrag v o m 2. Oktober 1922: Der jetzige Kurs der Christlichen Welt, in: Ordentliche Mitgliederversammlung der FCW, in: AdF, Nr. 7 4 (10. Dezember 1922), 802. Vgl. Baumgarten, O.: Bedenken über die Weimarer Tagung von einem alten Freund, in: ebd., Nr. 76 (20. November 1923), 832; Rade, M.: Zur Programmbildung für unsre BGC-Tage, in: ebd., 829; Stier, E.: Augustusburg, in: ebd., Nr. 77 (15. Juli 1924), 845; Rathje, 275, 311 ff., 3 6 7 f . Vgl. auch Nr. 598. Vgl. Ordentliche Hauptversammlung der Freunde der Christlichen Welt, in: AdF, Nr. 9 4 (5. November 1929), 1078; Rade, M.: Zur Orientierung für die nächste Vorstandssitzung des B G C , in: ebd., 1099; Ordentliche Hauptversammlung der Freunde der Christlichen Welt, in: AdF, Nr. 96 (27. Mai 1930), 1016; Rade, M.: Unsre Zukunft, in: ebd., Nr. 97 (20. August 1930), 1024; Stier, E.: Bund für Gegenwartchristentum und Protestantenbund, in: ebd., Nr. 98 (25. Dezember 1930), 1 0 3 4 - 1 0 3 6 ; Rade, M.: Unmaßgebliches für den Freundeskreis zur jetzigen Stunde, in: ebd., 1036; Rathje, 3 6 9 f f .

62

Einleitung Die

Treffen

der

FCW

verliefen

nun

im

Stil d e r

früheren

Zusammen-

k ü n f t e . 3 4 2 Sie k o n n t e n j e d o c h n u r n o c h k u r z e Z e i t f o r t g e s e t z t w e r d e n .

1934

m u ß t e die V F C W a u f A n o r d n u n g d e r G e h e i m e n S t a a t s p o l i z e i a u f g e l ö s t w e r den.343

12. Einsatz für die Freiheit der protestantischen Theologie D e r A p o s t o l i k u m s t r e i t bildete n u r e i n e n — w e n n a u c h d e n

spektakulärsten

u n d b e d e u t e n d s t e n — d e r „ F ä l l e " , in d e n e n R a d e u n d H a r n a c k s o w i e d i e sich m i t ihnen v e r b u n d e n w i s s e n d e n V e r t r e t e r d e r l i b e r a l e n T h e o l o g i e f ü r d i e F r e i heit u n d U n a b h ä n g i g k e i t v o n t h e o l o g i s c h e r F o r s c h u n g u n d p e r s ö n l i c h e r G e wissensentscheidung e i n t r a t e n . 3 4 4 Diese Auseinandersetzungen lebhafter Beteiligung der C W d e n freien P r o t e s t a n t i s m u s " 3 4 5

fanden

unter

s t a t t , die d a m i t „die F ü h r u n g i m K a m p f e f ü r übernommen

h a t t e . Sie b e g a n n e n

1891

mit

d e m Fall des s c h l e s i s c h e n P f a r r e r s E r n s t K l e i n , d u r c h d e n d e r K r e i s u m die C W aus ihrer „ H a r m l o s i g k e i t " aufgeschreckt w o r d e n w a r . 3 4 6 H a r n a c k n a h m in d i e s e n K ä m p f e n h ä u f i g eine u m A u s g l e i c h b e m ü h t e H a l t u n g ein u n d z e i g t e — w i e z. B . im Fall J a t h o — g r ö ß e r e s V e r s t ä n d n i s f ü r d i e P o s i t i o n d e r K i r c h e n l e i t u n g e n als R a d e . T r o t z aller K r i t i k a n d e n e x i s t i e r e n d e n

protestantischen

Landeskirchen,

t r o t z aller A b l e h n u n g , d i e e r v o n d i e s e r Seite e r f u h r , w o l l t e H a r n a c k d e r K i r c h e d u r c h seine A r b e i t d i e n e n . 342 Yg] R a c Je, M . : Unsre Herbstzusammenkunft Friedrichroda 5 . - 7 . Oktober, in: AdF, Nr. 101 (6. Juli 1931), 1044; Basel und Friedrichroda, in: ebd., Nr. 103 (4. Dezember 1931), 1051; Freunde der Christlichen Welt in Friedrichroda, in: ebd., 1056. Vgl. auch Rath je, 430 ff. 343 344 345 346

Vgl. Rathje, 451 ff. Vgl. Rades Zusammenstellung: Vierzig Jahre Fälle, in: CW 40 (1926), 1 1 0 0 - 1 1 0 3 . Nr. 384. Rade schrieb rückblickend: „Der Fall Klein schreckte uns aus unsrer Harmlosigkeit auf. Ich erinnere mich wohl: es war ein richtiges Erschrecken. [...] Für uns, die wir in den Anfängen des Evangelisch-sozialen Kongresses lebten, war diese ,Lahmlegung der sozialen Liebestätigkeit eines evangelischen Geistlichen' ein ,schweres kirchliches Ärgernis'. [...] Am Fall Klein gingen uns die Augen auf." Rade: Religiöser Liberalismus, 257. — Pfarrer Klein hatte angesichts der Notlage schlesischer Heimweber im Kreis Glatz begonnen, diese durch eine Volksküche und Spenden zu unterstützen. Als er in diesem Zusammenhang in Konflikt (vor allem bezüglich der Zuständigkeit bei der Verwendung gespendeter Gelder) mit staatlichen Behörden kam und eine Beschwerde an das schlesische Konsistorium gerichtet wurde, erhielt er von dieser kirchlichen Behörde keine Unterstützung, sondern ihm wurde vorgehalten, er habe die eigentlich zuständigen Institutionen übergangen. Der Fall schlug in der Öffentlichkeit so hohe Wellen, das sich sogar die Preußische Generalsynode damit befaßte. Er endete mit der Rehabilitierung Kleins durch Barkhausen, den Präsident des Oberkirchenrats, der Klein am 6. Januar 1892 öffentlich seine Anerkennung für sein tatkräftiges caritatives Wirken aussprach. Vgl. Rade, M.: Das Verfahren des Schlesischen Konsistoriums gegen Pfarrer Klein, in: C W 5 (1891), 1 0 6 8 - 1 0 7 7 ; Beilage zu Nr. 47 der Christlichen Welt von 1891: Aktenstücke zum „Fall Klein"; Rade, M.: Das Ende des Falles Klein, in: C W 6 (1892), 2 9 2 - 2 9 8 .

Einsatz für die Freiheit der protestantischen T h e o l o g i e

63

„Ich h a b e durch H e r k u n f t , Bildungsgang und Neigung den D o p p e l b e r u f , wenn Sie so wollen, empfangen, der Kirchenhistorie zu dienen und der evangelischen Kirche. Ich liebe die Priester nicht, weder die beeidigten noch die unbeeidigten, ich liebe auch die Landeskirchen nicht, weder die königlichen noch die synodalen, aber ich h a b e eine mir selbst oft unerklärliche Liebe und Sorge für die evangelische Kirche — meinethalben die Kirche in a b s t r a c t o , u[nd] ich k a n n nicht davon lassen, darüber nachzudenken, was ihr f r o m m t , sowohl für eine spätere Z u k u n f t als von heute auf m o r g e n . " 3 4 7

Im Jahr 1896 erklärte er deshalb auf dem Treffen der F C W in Eisenach programmatisch: „Nein — wir bleiben auch in diesen kritischen Zeitläufen treu bei seiner Fahne [ = der des Protestantismus]; wir bleiben in unsern Landeskirchen und kämpfen in unsrer Kirche, die ihr Erbgut nicht verloren hat, für die Kirche, damit sie ihre K r o n e behalte, damit sie innerhalb der Konsolidierung, Verbreiterung und Politisierung, die sie in unsrer E p o c h e erlebt, nicht ein heilig-weltliches Institut werde, damit sie eine Kirche des G l a u b e n s , der Freiheit und der Geduld bleibe. W i r sind nicht in der Lage, sie zu leiten; aber wir können ein Gegengewicht ausüben, und weil wir es k ö n n e n , ist es unsre heilige Pflicht, der wir nicht entsagen d ü r f e n . " 3 4 8

Sein Bemühen um die protestantische Kirche schloß die Anerkennung und Würdigung der Formen ihrer konkreten Ausgestaltung mit ein. Diesen Formen komme kein sakraler Charakter zu, doch sie seien nötig, um das Evangelium, die christliche Botschaft weitergeben zu können, um die christliche Kirche zu schützen und zu erhalten, „denn Religion wächst wie alles Lebendige nur in Rinden".349 So war Harnack weit eher als Rade bereit, Erscheinungsformen der evangelischen Landeskirchen und Entscheidungen ihrer Gremien zu akzeptieren. Dies zeigte schon ihre unterschiedliche Bewertung des oberkirchenrätlichen Zirkularerlasses vom 25. November 1 8 9 2 . 3 5 0 Es gehörte zudem zu den methodischen Grundüberzeugungen von Harnacks gesamtem Wirken, sich am Realisierbaren zu orientieren, nicht Utopien zu verfolgen, sondern auf dem Gegebenen aufzubauen und es allmählich weiterzuentwickeln. Das als richtig Erkannte wollte er unter aktivem Einsatz verwirklichen. Rückblickend beschrieb er diese Haltung in einem Brief gegen Ende seines Lebens: „ D e r M e n s c h ist zum Handeln und Schaffen da; alles Ideologische ist nur Hilfsmittel u[nd], wenn es sich auf sich selbst b e s c h r ä n k t , schädlich. H a n d e l n , Helfen und Schaffen kann man aber nur, wenn man stets den nächsten Schritt aus den gegebenen Zuständen heraus erwählt und sich nicht für zu v o r n e h m und zu e r h a b e n , nicht zu rein u[nd] unantastbar hält, dort anzusetzen, w o es bei der Arbeit S t a u b und Schmutz giebt. Ich h a b e stets den nächsten Schritt erwählt, Ein fernes Ziel hat mich dabei beseelt.

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Brief v o m 11. September 1 8 9 6 an G . Krüger, in: K 3 5 . H a r n a c k , A.: Z u r gegenwärtigen Lage des Protestantismus, in: R A 2 , 1 5 2 f . (Der Aufsatz erschien ursprünglich in: C W 10 ( 1 8 9 6 ) , 1 0 3 4 - 1 0 4 6 . ) H a r n a c k , A.: Die M i s s i o n und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei J a h r h u n derten, 4 . Aufl. Leipzig 1 9 2 4 , 2 5 3 . Vgl. o. S. 4 9 f.

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Einleitung Ich habe nicht den Ehrgeiz — schon weil ich nicht die Kraft habe — die Welt oder mein Vaterland oder meinen Kreis in das Ideal umzubilden, das vor mir steht. Ich begnüge mich, u[nd] es ist mir eine heilige Pflicht, und es ist mir ein köstlicher Gewinn, an die Zustände und das Leben heranzukommen, wie es ist und es um einen Schritt vorwärts zu bringen. Auf den Boden seiner Armseligkeit stelle ich mich und suche es um eine Linie vorwärts zu schieben. Das allein ist praktische u[nd] zugleich schlechthin notwendige und zugleich die einzige Politik, die die Verheissung hat, dass sie etwas schafft. Damit hast Du eigentlich meine ganze Lebensphilosophie und magst sie mit Deiner vergleichen. Gute Ideen sind so billig wie Brombeeren, u[nd] nichts ist verlockender, als sich einfach von dieser Kost zu nähren u[nd] hie u[nd] her als Lobredner dieser Speise oder als Prophet aufzutreten; aber geschafft wird dadurch gar nichts. Umgekehrt nehme ich den Vorwurf mit Heiterkeit auf mich, dass ich ein verabscheuungswürdiger Verräter meiner eigenen Ideale u[nd] Ziele bin, weil ich mich mit der Arbeit begnüge, an das Gegebene anzuknüpfen und es langsam zu fördern. Dass ich mich in meinen stillen Stunden an der Anschauung der Welt meiner Ziele, als wären sie erreicht, erquicke, brauche ich nicht erst zu sagen. Diese Welt ist Deine ufnd] meine! Von ihr beziehe ich meine Kräfte, aber ich bin kein Rechts-Bolschewist mit der Parole ,Alles u[nd] zwar heute, wenn nicht, mag der Teufel das Ganze holen'." 3 5 1

Harnack scheute sich nicht, das Wohlwollen „allerhöchster Kreise" ihm gegenüber aufs Spiel zu setzen, wenn er wissenschaftliche Erkenntnisse in der Öffentlichkeit verfälscht sah. Wilhelm II., der das Gespräch mit Harnack schätzen gelernt hatte, 3 5 2 machte im Zuge der Auseinandersetzungen um Friedrich Delitzschs Vortrag über „Bibel und Babel" im Jahr 1903 seine persönlichen Überzeugungen bezüglich der Offenbarung Gottes und der Person Jesu Christi publik 3 5 3 — ein Zeichen auch für die große Bedeutung, die religiös-theologische Fragen in der Öffentlichkeit des wilhelminischen Deutschlands fanden. Harnack sah sich daraufhin genötigt, als Theologe daran Kritik zu üben. 3 5 4 Diese Kritik, die den Kaiser zu einer eigenhändigen Antwort motivierte, 355 bedeutete zwar nicht das Ende des Kontaktes zwischen Harnack und seinem „wohlaffektionierten König", 3 5 6 doch klammerte dieser religiöse und theologische Themen aus dem Gespräch mit Harnack von nun an aus. 3 5 7 Rade, der sich über das Engagement Harnacks in dieser Angelegenheit überrascht und erfreut zeigte, erblickte in der Kaiser-Äußerung eine Belastung

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Brief am 1. Oktober 1922 an R. von Engelhardt (maschinenschriftliche Abschrift), in: K 30. Z u r Beziehung Harnacks zum Hof vgl. Zahn-Harnack, 261 ff. Dort wird berichtet, daß Wilhelm II., der aufgrund des Apostolikumstreits große Reserven gegenüber Harnack gehegt hatte, ihn zu sich einzuladen begann, nachdem er seine Rede über „Die Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften" (veröffentlicht in: SB, 1900, 218—235; auch in: RA 2, 1 8 6 - 2 1 5 ) gehört hatte. Vgl. Nr. 325 und 333. Vgl. Anm. 6 zu Nr. 334. In diesem Brief vom 27. Februar 1903 legte Harnack seine Motive dar, die ihn zur Abfassung seines Artikel bewegt hatten. Vgl. ebd. So unterzeichnete Wilhelm II. sein Schreiben vom 2. März 1903 an Harnack, in: K 45 (zitiert in Anm. 6 zu Nr. 334). Zahn-Harnack, 266 f.

Einsatz für die Freiheit der protestantischen Theologie

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der theologisch-kirchlichen E n t w i c k l u n g . 3 5 8 Die durch das Eingreifen Wilhelms II. und H a r n a c k s noch verstärkte Diskussion in der Öffentlichkeit über die historisch-kritische M e t h o d e u n d ihre Ergebnisse bewertete er jedoch als Chance der historisch ausgerichteten Theologie, sich größere Akzeptanz zu erarbeiten. 3 5 9 12.1. D i e A g e n d e n r e f o r m v o n 1894 u n d die „Fälle" der Jahre

1894-1906

Die Frage des liturgischen G e b r a u c h s des Apostolikums stand im M i t t e l p u n k t der Diskussion um die Revision der Agende der preußischen Landeskirche, die am 10. N o v e m b e r 1894 von der altpreußischen Generalsynode verabschiedet wurde. Auch hier vertrat H a r n a c k eine optimistischere und affirmativere Einschätzung des R e f o r m w e r k s als R a d e . 3 6 0 Einig waren sich die beiden Freunde in der Ablehnung konservativer Bestrebungen, das A p o s t o l i k u m — verstanden als eine Z u s a m m e n f a s s u n g von „ G l a u b e n s t a t s a c h e n " — als verpflichtendes Bekenntnis f ü r Pfarrer u n d Gemeinde festzuschreiben. 3 6 1 Überlegungen im Kreis der FCW, in einer Denkschrift Stellung zur Agendenrevision zu nehmen, konkretisierten sich: H a r n a c k verfaßte einen E n t w u r f , in dem er die neue Agende als „unerfreuliches, reactionäres W e r k " 3 6 2 charakterisierte. N a c h d e m die Agende verabschiedet w o r d e n war, n a h m er in einer Vorlesung dazu jedoch weit positiver Stellung. Trotz Kritik an einigen Punkten stellte er zusammenfassend fest, d a ß die Revision im Vergleich zur alten Agende keinen Rückschritt bedeute; ja ein „leiser Fortschritt" sei im nur liturgischen G e b r a u c h des Apostolikums bei der O r d i n a t i o n zu sehen. 3 6 3 Den dara u f h i n einsetzenden Angriffen der konservativen Kirchenpresse, die mit Attakken auf andere liberale Theologen einhergingen, 3 6 4 n a h m H a r n a c k durch die nicht erfolgende Veröffentlichung seiner Ansprache an die Studenten den Wind aus den Segeln. 3 6 5 Einen „ S c h l u ß k n o t e n " 3 6 6 zog Rade mit einem Artikel über die „jüngste Professorenhetze". 3 6 7 Waren sich Rade und H a r n a c k in ihrer Stellung zur neuen Agende in vielem einig, so traten bei der Verteidigung der Bonner Professoren J o h a n n e s Meinhold u n d E d u a r d G r ä f e 1894/95 größere Differenzen a u f . 3 6 8 G r ä f e und Mein358 359 560 361 362

363 364 365 366 367 368

Vgl. Nr. 333. Vgl. ebd. Vgl. Nr. 134. Vgl. ebd. Manuskript der Denkschrift von November 1893, in: K 13, S. 4 (zitiert in Anm. 3 zu Nr. 135). Unveröffentlichtes Manuskript, in: K 13 (zitiert in Anm. 4 zu Nr. 146). Vgl. Nr. 1 4 6 - 1 4 9 . Vgl. Nr. 149f. und 152. Nr. 151. Rade, M.: Z u r jüngsten Professorenhetze, in: CW 8 (1894), 1 1 6 9 - 1 1 7 4 . Z u m Konflikt über die Ausführungen der beiden Professoren vgl. Anm. 2 zu Nr. 153, Nr. 154, 158 f., 161, 163.

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Einleitung

hold waren aufgrund ungenauer Wiedergabe ihrer Vorträge auf einem wissenschaftlichen Ferienkurs für Geistliche, in denen sie Ergebnisse der historischkritischen Forschung vorgestellt hatten, ins Schußfeld der Kritik geraten. Die Bonner theologische Fakultät stellte sich hinter ihre Mitglieder und bemühte sich um Unterstützung durch die anderen preußischen theologischen Fakultäten. Die Ablehnung einer gemeinsamer Erklärung durch die Berliner Fakultät 3 6 9 wurde von Rade als Zeichen mangelnder Solidarität verurteilt 3 7 0 — ein Vorwurf, der Harnack zu ausführlichen Erläuterungen motivierte. 3 7 1 Viele der „Fälle" der folgenden Jahre spiegeln sich im Briefwechsel wieder. Rades Eintreten für Max Fischer fand die Zustimmung Harnacks. 3 7 2 Er wie Rade maßen diesem Fall zwar keine grundsätzliche Bedeutung bei, 3 7 3 doch fühlte sich Rade als Herausgeber der CW verpflichtet, im Namen des freien Protestantismus in diesem wie in ähnlich gelagerten Angriffen auf die Freiheit von Theologie und (Glaubens)überzeugung von Geistlichen Stellung zu beziehen. 3 7 4 Im Fall Römer waren die Abweichungen Heinrich Römers von den eigenen Überzeugungen so stark, daß sich die beiden Freude außerstande sahen, den jungen Theologen zu verteidigen. 375 Harnack ergriff diese Gelegenheit, prinzipielle Überlegungen über die Grenzen von freier Theologie und Verkündigung anzustellen. 376 Der Fall Korell, 377 in dem das politische Verhalten eines Geistlichen Anlaß zur Rüge durch das Oberkonsistorium geworden war, beleuchtete nach Ansicht Harnacks „die Rückständigkeit" kirchlicher Behörden, 3 7 8 während der Fall César, den er als „schlimmer als die früheren" betrachtete, 3 7 9 Kritik am Verfahren von Konsistorium und Oberkirchenrat hervorrief. 3 8 0 12.2. D a s „ I r r l e h r e g e s e t z " u n d d e r Fall J a t h o Weitaus größere Resonanz — auch in der Öffentlichkeit — fanden die sich um das sogenannte „Irrlehregesetz" und den Fall Jatho entzündenden Diskussionen. Die bislang herrschende Praxis, Lehrverstöße mit Hilfe des kirchlichen Disziplinarrechts zu verfolgen, wurde von vielen Theologen und Kirchenführern — besonders nach den Erfahrungen mit dem Apostolikumstreit, den Auseinandersetzungen um Arthur Drews, der die Existenz Jesu bestritt, sowie 369

Vgl. Anm. 1 zu Nr. 158. Vgl. Nr. 158. Nr. 159 und 163. 372 Vgl. Nr. 379 und 385. 373 Vgl. Nr. 383 und 384, wo beide übereinstimmend erklären, daß es „Besseres" zu tun gäbe. 374 Vgl. Nr. 384. 375 Vgl. Nr. 400, 401 und 402. 376 Vgl. Nr. 401. 377 Vgl. Nr. 404 und 405. 378 Nr. 405. 379 Nr. 406. 380 Vgl. Anm. 4 zu Nr. 406. 370 371

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Vertretern des Monistenbundes — als unangemessen empfunden. 3 8 1 Am 11. November 1909 wurde das „Kirchengesetz, betreffend das Verfahren bei Beanstandung der Lehre von Geistlichen" 3 8 2 verabschiedet, das greifen sollte, falls „ein Geistlicher in seiner amtlichen oder außeramtlichen Lehrtätigkeit mit dem Bekenntnis seiner Kirche dergestalt in Widerspruch getreten ist, daß seine fernere Wirksamkeit innerhalb der Landeskirche mit der für die Lehrverkündigung allein maßgebenden Bedeutung des in der heiligen Schrift verfaßten und in den Bekentnissen bezeugten Worten unvereinbar ist." 3 8 3

Zur Überprüfung der „Irrlehre" 384 eines Geistlichen wurde ein „Spruchkollegium" mit 13 Mitgliedern eingerichtet. 3 8 5 Unter den Kritikern des Gesetzes trat der Jurist Rudolph Sohm besonders hervor, der „entschiedenen Widerspruch" einlegte, da seiner Ansicht nach das Gesetz „die Zahl der Lehrprozesse vermehren, d. h. die Handhabung des Lehrzwanges steigern" würde. 3 8 6 Dies erschien Sohm theologisch bedenklich, da das Bekenntnis der Landeskirche, das durch das Gesetz geschützt werden sollte, „keinerlei selbständigen Wert" darstelle und stets dem Evangelium als norma normans zu- und untergeordnet sei. Deshalb sei es „religiös und rechtlich gleichgültig", wenn ein Geistlicher in seinen Predigten nicht dem Bekenntnis entspräche. Seine Lehre müsse allein dem Evangelium entsprechen. 3 8 7 Aufgrund seines Kirchenverständnisses, das die Kirche Jesu Christi in der Gemeinde verkörpert sah und das ihn auch zur Ablehnung eines „göttlichen Kirchenrechtes" führte, 3 8 8 war Sohm der Überzeugung, daß die protestantischen Landeskirchen als Institutionen nicht in der Lage seien, die Lehre eines Geistlichen zu überprüfen. Er schlußfolgerte, daß deshalb dieses Gesetz un-

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Deshalb wurde bei den Beratungen über das Irrlehregesetz ausdrücklich betont, es handle sich dabei „nicht um eine materielle Regelung der Lehrfreiheit, sondern lediglich darum, für den der Landeskirche unentbehrlichen und ihr schon jetzt rechtlich zustehenden Schutz gegen Irrungen in der Lehre das Verfahren und die Zuständigkeit in einer dem gegenwärtigen Rechtsbewußtsein entsprechenden Weise umzugestalten." Begründung des Evangelischen Oberkirchenrats zum Entwurf des Lehrbeanstandungsgesetzes, vorgetragen auf der Sechsten ordentlichen Generalsynode der evangelischen Landeskirche Preußens 1909, zitiert nach Huber/Huber, Bd. III, 739. Der Gesetztext ist abgedruckt in: Huber/Huber, Bd. III, 7 4 6 - 7 5 5 . Ebd., 746 ($ 1 des Gesetzes). Ebd. Das Spruchkollegium setzte sich zusammen aus: vier Mitgliedern des Oberkirchenrats, drei von der Generalsynode und drei von der zuständigen Provinzialsynode gewählten Mitgliedern, dem zuständigen Generalsuperintendenten und zwei auf Vorschlag des Oberkirchenrats vom preußischen König ernannten Theologieprofessoren. Vgl. ebd., 753 (§ 29 des Gesetzes). Sohm, R.: Der Lehrgerichtshof, in: Der Tag, 25. November 1909; abgedruckt in: Huber/ Huber, Bd. III, 742f., hier 742. Ebd. Vgl. Sohm, R.: Kirchenrecht, 2 Bde., Leipzig 1892 und 1922.

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Einleitung

evangelisch sei, da es sich „höchste Lehrgewalt" und damit „Macht über das Evangelium" anmaße. 3 8 9 Harnack, der sich mit Sohms kirchenhistorischen Arbeiten bereits kritisch auseinandergesetzt hatte, 3 9 0 betonte dagegen das Recht und die Pflicht der evangelischen Kirchen, ihre fundamentalen Lehren zu schützen, ohne daß dabei die Form des Bekenntnisses unabänderlich festgelegt wäre. 3 9 1 Er begrüßte es, daß Lehrbeanstandungen nicht mehr einem Disziplinarverfahren, sondern einem „Feststellungsverfahren" 392 unterliegen sollten, denn dies bedeute keine Aufstellung eines neuen Maßstabes. 3 9 3 Darin sah er ein epochemachendes Ereignis. „Der Tag [der Annahme des Gesetzes] wird in der Kirchengeschichte unvergessen bleiben, [...] denn er bezeichnet einen eminenten Fortschritt,"394 In einem „Nachwort" setzte sich Harnack speziell mit Sohms Artikel vom 25. November 1909 auseinander, ohne dabei allerdings auf dessen ekklesiologischen Voraussetzungen einzugehen. Er warf ihm Inkonsequenz vor, wenn er einerseits von „Lehrzwang" und „Macht über das Evangelium" spreche, zugleich aber der Gemeinde das Recht der eventuellen Absetzung eines Pfarrers zugestehe. 39S Die Alternative „Gemeinde oder Landeskirche" sei unhaltbar, da sie die tatsächlichen Verhältnisse verkenne: die einzelnen Gemeinden seien zu unterschiedlich und ohne die Unterstützung durch die Landeskirche zu sehr zufälligen Tendenzen ausgeliefert. 396 Rade zeigte sich über Harnacks Beurteilung des Spruchkollegiums als eines Schiedsgerichts erfreut, wenn er auch den damit erzielten Fortschritt nicht als eminent bezeichnen konnte. 3 9 7 Er meldete Bedenken gegen das Gesetz aufgrund seines Zustandekommens an, doch bewertete er es zunächst vorsichtig 389

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Sohm: Lehrgerichtshof, 743. Vgl. Sohm, R.: Noch einmal der Lehrgerichtshof, in: Der Tag, 19./21. Dezember 1909; abgedruckt in: Huber/Huber, Bd. III, 745f., wo Sohm die Kompetenz der kirchenleitenden Gremien sowie des Spruchkollegiums in dieser Frage bestritt, indem er betonte, daß allein die Gemeinde über die Lehre eines Geistlichen befinden könne. Vgl. Harnack: Entstehung, 121 ff.; Harnacks Rezension von Sohm, R.: Kirchengeschichte im Grundriß, Leipzig 1888, in: T h L Z 13 (1888), 5 2 - 5 5 . Harnack: Spruchkollegium, in: PrJ 138 (1909), 389f. Ebd., 391 und 392. Ebd., 393. Ebd., 391. Vgl. ebd., 393. — Diese prinzipielle Bewertung hinderte Harnack nicht, Kritik an einzelnen Aspekten des Gesetzes zu üben. Er benannte die fehlende Einbeziehung der Gemeinde, die Zusammensetzung des Spruchkollegiums, die fehlende Differenzierung zwischen amtlicher und außeramtlicher Tätigkeit des Geistlichen und die Ausblendung der Problematik des Verstoßes gegen agendarische Vorschriften. Ebd., 394ff. Harnack, A.: Nachwort zu dem Artikel „Das neue kirchliche Spruchkollegium", in: ebd., 565f., Zitat 566. Ebd., 567. Nr. 452. Vgl. Rade, M.: Das preußische Gesetz wider Irrlehre, in: CW 23 (1909), 1158f., und ders.: Jahresbericht 1909/10, in: AdF, Nr. 33 (20. September 1910), 369, wo Rade erfreut konstatierte: „Wer aber dabei an 1892 gedenkt, [...] dem bewegt die Tatsache das Herz. Es geht doch trotz allen retardierenden Elementen voran auch in der Landeskirche."

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optimistisch. 3 9 8 Nach den Erfahrungen mit dem Fall Jatho äußerte sich Rade allerdings zurückhaltender 3 9 9 und sah dessen Charakter als Schiedsgericht nur noch als zu verwirklichende Hoffnung an. 4 0 0 Harnack blieb bei seiner Meinung und erblickte u. a. darin einen „gewaltigen Fortschritt", daß er zum stellvertretenden Mitglied dieses Gremiums gewählt worden war. 4 0 1 Im Jahr 1911 flammten im Zuge des „Falles Jatho" die Auseinandersetzungen um die Berechtigung des Irrlehregesetzes und die Diskussion darüber, ob die Grenzen der Lehrfreiheit auf juristischem Wege markiert werden könnten, erneut auf. Auch diesmal standen Sohm und Harnack auf verschiedenen Seiten. Carl Jatho, Pfarrer in Köln, der sich als Seelsorger großer Resonanz erfreute, war bereits seit dem Jahr 1905 mehrmals wegen seiner eigenwilligen, undogmatischen, mystisch gefärbten, panentheistischen, Autoritäten und Dogmen geringschätzenden und auf Selbsterlösung der Menschen zielenden Lehren angegriffen worden. Der zuständige Generalsuperintendent Philipp von Umbeck hatte ihn zu Gesprächen gebeten und ihm 1906 eine ernste „Mahnung" erteilt. 4 0 2 Als 1909 Kritik an Jathos Konfirmationspraxis laut wurde — er verwandte dabei nicht das Apostolikum, sondern ein von ihm selbst verfaßtes Bekenntnis 4 0 3 — und er auch nach entsprechender Ermahnung erklärte, dieses Verfahren beibehalten zu wollen, 4 0 4 trug ihm dies am 26. April 1910 eine Verwarnung des Koblenzer Konsistoriums wegen Verstoßes gegen die kirchliche Ordnung ein. Nach erneuten Beschwerden über eine von Jatho Ostern 1910 in Barmen abgehaltende Osterfeier wurde aufgrund des neuen Irrlehregesetzes zunächst ein Ermittlungsverfahren gegen ihn eröffnet. Nachdem Jatho sich auf die Anfrage des Oberkirchenrats hin ausführlich zu seinen Überzeugungen geäußert hatte, 4 0 5 kam es zu vielfältigen Protesten. Dazu gehörte auch eine Erklärung des Vorstandes der VFCW vom 9. Februar 1911,

198

Rade, M.: Das preußische Gesetz wider Irrlehre, in: CW 23 (1909), 1155ff. Rade sah es als Vorteil an, daß in diesem Gesetz „das ,Bekenntnis' .materiell' nicht festgelegt ist", da auf diese Weise „das Schiedsgericht immer von Rechts wegen abhängig sein [wird] von dem Geiste, der tatsächlich in der Kirche herrscht." (Ebd., 1158) Dies verstand er als Chance und Ansporn, die Vorstellungen des freien Protestantismus verstärkt in die Kirche einzubringen. „Und es ist also die Aufgabe aller freier gerichteten Kirchenglieder, vornehmlich der Laien, daß sie sich und ihre Denkweise, ihre Frömmigkeit, ihren festen Willen in der Kirche zur Geltung bringen." Ebd., 1158f. 399 Vgl. Jatho und Harnack. Ihr Briefwechsel. Mit einem Geleitwort von Martin Rade, Tübingen 1911, 34: „Ich empfinde mit Anderen diesen Fortschritt kaum." 400 Ebd., 39f. 401 Nr. 471. 402 Jacobs, W.: (Art.) Carl Wilhelm Jatho, in: TRE, Bd. 16, 1987, 545. Vgl. Keller, D.: Carl Jatho. Prediger der Liebe und der Lebensfreude, in: Monatshefte für evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 28 (1979), 217ff.; Bassi, 90ff. 403 Abgedruckt in: Huber/Huber, Bd. III, 761 f. 404 Ygi Jen e b d . , 762, abgedruckten Aktenvermerk Umbecks. 405 Die Anfrage des Oberkirchenrats vom 7. Januar 1911 und die Antwort Jathos vom 26. Januar 1911 sind abgedruckt in: ebd., 763—771.

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Einleitung

in der dringend vor der Eröffnung eines Lehrzuchtverfahrens vor dem Spruchkollegium gewarnt wurde. 4 0 6 Viele der FCW billigten diese Erklärung, doch mußte sich Rade auch mit heftiger Kritik daran auseinandersetzen. 4 0 7 Rade selbst beurteilte die Überzeugungen Jathos als zwar sehr kritikwürdig, jedoch gab er zu bedenken, daß sie die „Geheimreligion der Modernen sind, soweit sie noch eine Stellung zum Christentum haben". 4 0 8 Diese Menschen wolle er nicht nur nicht bekämpfen oder ausgrenzen, sondern für den Protestantismus gewinnen. Deshalb forderte er, ihnen müsse Einfluß in der Kirche eingeräumt werden. Dieses Problem könne das Spruchkollegium nicht lösen. „So wird es sich vermutlich auf die Aufgabe zurückziehen, nach bestem Wissen und Gewissen Recht zu sprechen [...] Aber irgend einen wirklichen Gewinn daraus, einen Segen davon kann man sich schwer vorstellen". Die wirklichen Aufgaben einer solchen Institution sah Rade in der Schaffung von Artikulationsmöglichkeiten für den „frommen Willen in der Gemeinschaft". Doch dies „ist keine juristische Aufgabe. Das kann nur — Heiliger Geist." 4 0 9 Während Rade die religiös-kirchliche Relevanz des Spruchkollegiums gering veranschlagte, bestritt Rudoph Sohm prinzipiell die Existenzberechtigung dieser Institution. Gemeinsam mit dem Historiker Max Lenz und dem Philosophen Paul Natorp verfaßte er eine Erklärung, in der Lehrzuchtverfahren als Gefahr für den ganzen Protestantismus abgelehnt wurden, da sie dessen eigener Grundüberzeugung sowie den modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen widersprächen. 4 1 0 Diese Erklärung, die rasch weit über 400 Unterschriften fand, 4 1 1 rief eine Gegenerklärung Harnacks hervor, in der er noch einmal das Recht der Landeskirche hervorhob, ihr Bekennntis zu schützen. 4 1 2 An diesem Bekenntnis, das er nicht als schriftlich fixierten Text, sondern als „lebendiges Zeugnis 406 407 408

409 410

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Erklärung, in: CW 25 (1911), 121. Vgl. Rathje, 180. Rade, M.: Z u m Fall Jatho, in: CW 25 (1911), 212. Rade fuhr fort, daß trotz aller Kritik an Jatho „die Religion in ihm" erkannt werde und vielen Theologen bewußt sei, „daß dies recht eigentlich die Religion Vieler ist, die als Glieder unsrer Gemeinden mit uns leben und die wir in ihr nicht entbehren wollen." Ebd. Ebd. Gegen das Spruchkollegium!, in: CW 25 (1911), 286. In dieser Erklärung wurde betont, daß die Unterzeichnenden Lehrzuchtverfahren in der Gegenwart in der protestantischen Kirche „für unmöglich" ansähen „und jeden Versuch ihrer Anwendung für eine Erschütterung der kirchlichen Organisation des Protestantismus" hielten. „Die altprotestantische Zeit hat die Lehrzucht des Kirchenregimentes gehabt. Aber das 19. Jahrhundert hat die Grundlage dieser Lehrzucht zerstört [...] Die geistige Macht der protestantischen Kirche ist bedroht, wenn das geistliche Amt durch richterliche Sprüche' gebunden [...] wird. Um des deutschen Protestantismus willen protestieren wir darum gegen jede zwangsweise Lehrentscheidung durch Kirchenregiment und Spruchkollegium." Rade teilte in den „Kleinen Mitteilungen", in: Nr. 14 vom 6. April der CW 25 (1911), 223, mit, die Erklärung habe bis zum 31. März — also innerhalb einer Woche nach ihrer Veröffentlichung — ca. 430 Unterschriften erhalten. Harnack, A.: Für das Spruchkollegium, in: ebd., 324—326, hier 325. (Auch abgedruckt in: RA 4, 123-126.)

Einsatz für die Freiheit der protestantischen Theologie

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evangelischer Gesinnung" 4 1 3 verstanden wissen wollte — ohne daß er dabei auf das Problem der Überprüfung der Übereinstimmung mit einem nicht genau umschriebenen Gesinnungszeugnis einging — müsse sich das „Werk eines Mannes in seiner Totalität, nicht seine Theologie" messen lassen. Und dies dürfe nicht allein durch das Kirchenregiment, sondern müsse durch einen kirchlichen Ausschuß geschehen — das „Spruchkollegium ist ein solcher Ausschuß". Trotz berechtigter Kritik an bestimmten Punkten des Irrlehregesetzes betonte Harnack, daß Proteste „gegen die Grundgedanken des Spruchkollegiums" von falschen Voraussetzungen ausgingen und „schädlich" seien. 4 1 4 Mit Harnacks Ausführungen setzte sich Rade in einem ursprünglich für die C W gedachten Artikel auseinander. 4 1 5 Er zeigte sich in bezug auf das Spruchkollegium weit weniger optimistisch als H a r n a c k . 4 1 6 Zwar anerkannte er das Recht der Landeskirche, das Bekenntnis zu schützen, doch sei dies „nur erträglich in starker Verbindung mit persönlicher Freiheit". 4 1 7 Ein landeskirchliches Organ, durch das „der Geist selber spräche und aus schwierigen Fällen den Ausweg zeigte", sei zwar sehr wünschenswert, doch dazu fehle die nötige Unterstützung der Gemeinden. So wirke diese Institution „wie ein Gespenst." Rade erkannte Harnacks Intention an, Vertrauen für das Spruchkollegium einzufordern, das „Gutes schaffen" könne. Doch dem stünden zu viele Schwierigkeiten entgegen, die Rade in der verfassungsrechtlichen Seite der preußischen Landeskirche begründet sah. „Dem Spruchkollegium fehlt das Mandat, das ihm eignen müßte, wenn es der ,gewählte kirchliche Ausschuß' sein sollte, den Harnack uns beschreibt." 4 1 8 Nachdem der Fall J a t h o im Juni 1911 vor dem Spruchkollegium verhandelt worden war, stellte das Urteil fest, daß Jathos „weitere Wirksamkeit [...] mit der Stellung, die er in seiner Lehre zum Bekenntnis der Kirche einnimmt, 413 414

4,5

416 417 418

Ebd., 3 2 5 . Ebd. — N o c h deutlicher äußerte sich H a r n a c k auf einer Postkarte an seine ehemalige Schülerin Else Zurhellen-Pfleiderer vom 11. April 1 9 1 1 (in: K 32, Konvolut „Adolf von H a r n a c k " ) : „Die Stellungnahme der Majorität der Gesinnungsgenossen in der schwebenden Frage bedaure ich deßhalb lebhaft, weil sie wieder ein Beweis dafür ist, daß der Liberalismus stets den 3. u[nd] 4 . Schritt vor dem 1. tun will u[nd] für das Werden einer ruhigen Entwicklung weder Sensorium noch Geduld besitzt. [ . . . ] daß aber das Spruchkollegium ein gewaltiger Fortschritt ist, darüber bedarf es doch keiner Worte! Also soll man sich zunächst auf seinen Boden stellen, es verbessern, etc. Nicht um die Disziplinirung eines ,Vergehens' handelt es sich, wie früher, sondern d a r u m , ob eine gegebene Landeskirche das Wirken eines bestimmten Geistlichen in ihrer Mitte noch für ersprießlich d. h. mit ihren Grundsätzen für vereinbar hält oder nicht. Bevor wir nicht ein Haufe independentistischer Gemeinden sind oder eine farblose Religionsgemeinschaft, die auch Atheisten umfassen kann, müssen wir unseren Charakter doch schützen können. Ich rede dabei gar nicht vom Fall J a t h o , der m. E. bei der prinzipiellen Erörterung ganz auszuscheiden h a t . " Rade, M . : Z u H a r n a c k s Sätzen über das Spruchkollegium, in: AdF, Nr. 3 7 (10. September 1 9 1 1 ) , 4 1 3 - 4 1 5 . Vgl. Nr. 4 7 8 . Vgl. Nr. 4 7 8 . Rade: Z u H a r n a c k s Sätzen, 4 1 4 . Ebd.

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Einleitung

unvereinbar i s t . " 4 1 9 Die Vertrauensmänner der FCW, unter ihnen Rade, berieten den Urteilsspruch, gegen den sich vielfältige Proteste erhoben hatten, auf einer Zusammenkunft in Kassel-Wilhelmshöhe am 2. und 3. Juli 1911. In der dort für die Mitgliederversammlung am 4. Oktober 1911 in Goslar vorbereiteten Erklärung wurde die „Unhaltbarkeit unsrer religionspolitischen Lage" beklagt, für die der Fall Jatho ein Symptom sei. Zur „Herbeiführung erträglicher Zustände" verlangte sie die „Entstaatlichung der Kirchen, die volle Zurückziehung der Staatsgewalt und der landesherrlichen Gewalt aus den religiösen Kämpfen der Gegenwart". Neben dieser Entkopplung von Kirche und Staat wurde binnenkirchlich „eine grundsätzliche Reform der Verfassung der evangelischen Landeskirchen" in Richtung auf Stärkung der Rechte von Einzelgemeinden und Minderheiten sowie die Einführung freier Wahlen zu kirchlichen Vertretungen gefordert. 4 2 0 Harnack beurteilte diese Erklärung als weder notwendig noch heilsam 4 2 1 und sah in den Reformforderungen einen prinzipiellen Angriff auf die Landeskirche 4 2 2 — ein Verhalten, das er als unhistorisch ablehnte und das für ihn im Widerspruch zu seinen ekklesiologischen Überzeugungen stand. 4 2 3 Seine Sorge um das Bestehen der Landeskirche und sein Bemühen um schrittweise Verbesserungen ließen ihn — seiner eigenen Einschätzung nach — lediglich konservativer erscheinen als viele andere. „Ich nehme die leges latae und die consuetudines als gegeben und suche von ihnen aus einige Schritte weiter zu kommen; Sie stellen sich auf den Boden dessen, was latent bereits vorhanden ist, nehmen es als gegeben und suchen von dort aus zu operiren. Das kann glücken, wenn die Zeit wirklich reif ist, kann aber auch umgekehrt viel schaden, weil es den organischen Fortschritt auf dem Boden des Gegebenen stört. Den Schein, konservativer zu sein als die Freunde, muß ich auf mich nehmen; wer mich kennt, erkennt auch den Schein". 4 2 4

Harnack befürchtete, daß Aktivitäten wie die Erklärung von Kassel-Wilhelmshöhe oder Erich Foersters Gesetzesvorschlag 4 2 5 „die Auflösung der Landeskirche bedeuten" 4 2 6 — eine Aussicht, gegen die er opponieren mußte, da

Das Urteil des Spruchkollegiums ist mit Begründung abgedruckt in: Huber/Huber, Bd. III, 7 7 1 - 7 7 4 , Zitat 772. 4 2 0 Die Vereinigung der Freunde der Christlichen Welt zum Fall Jatho, in: C W 25 (1911), 660. Vgl. Rade, M.: Wilhelmshöhe 2. und 3. Juli, in: AdF, Nr. 37 (20. September 1911), 409—412; ders.: Die ordentliche Mitgliederversammlung der Vereinigung der Freunde der Christlichen Welt am 4. Oktober 1911 in Goslar, in: AdF, Nr. 38 (25. Oktober 1911), 425. « i Nr. 482. 4 2 2 Nr. 483. 4 2 3 Vgl. ebd. 4 2 4 Postkarte vom 25. April 1911 an E. Foerster, in: K 39; zitiert in Anm. 3 zu Nr. 478. 4 2 5 Vgl. Foerster, E.: Entwurf eines Gesetzes betreffend die Religionsfreiheit im Preußischen Staat, mit Einleitung und Begründung vorgelegt, Tübingen 1911. 4 2 6 Nr. 483. 419

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Einsatz für die Freiheit der protestantischen T h e o l o g i e

n a c h seiner Überzeugung Institutionen wie die L a n d e s k i r c h e u n a b d i n g b a r notw e n d i g w a r e n . E r b e t r a c h t e t e die Institutionen als T r ä g e r g e s c h i c h t l i c h e r

Ent-

w i c k l u n g e n , die allein g a r a n t i e r t e n , d a ß h i s t o r i s c h e E r r u n g e n s c h a f t e n , die sich in i h n e n n i e d e r g e s c h l a g e n h a t t e n , B e s t a n d b e s i t z e n . 4 2 7 S o k o n n t e e r n i c h t u m hin, eine w a c h s e n d e a u c h zu R a d e zu

Differenz zu den Ü b e r z e u g u n g e n

vieler der F C W

und

konstatieren.428

D a s U r t e i l ü b e r J a t h o k o n n t e er, o b w o h l e r d e s s e n T h e o l o g i e s c h a r f l e h n t e , j e d o c h n i c h t g u t h e i ß e n . E r ä u ß e r t e s i c h ö f f e n t l i c h in e i n e r

ab-

Vorlesung

d a r ü b e r , w o b e i er d a s S p r u c h k o l l e g i u m — g a n z a u f der Linie seiner bisherigen Äußerungen — verteidigte.429

427 Vg] r a 6 , 183. Vgl. ebd., 175, w o H a r n a c k ausführte, daß die Institutionen „die eigentlichen Früchte der geschichtlichen E n t w i c k l u n g " seien. Er wies ihnen also eine doppelte Bedeutung zu: In ihnen schlügen sich die Resultate der geschichtlichen Entwicklungen nieder, und sie stellten zugleich entscheidende Faktoren im Verlauf der G e s c h i c h t e dar, wobei sich beide Aspekte gegenseitig bedingten. Vgl. R A 1, 2 3 , w o er die Institutionen als „ R ü c k g r a t der G e s c h i c h t e " bezeichnete, und R A 6, 1 6 f f . , 1 7 5 f . 428

Vgl. Nr. 4 8 3 , 4 8 6 , 4 8 8 .

429

Eine korrigierte Mitschrift wurde veröffentlicht in: J a t h o und H a r n a c k , 1 — 10. Vgl. das Z i t a t in A n m . 3 zu Nr. 4 9 0 . — In einem Brief an E. Zurhellen-Pfleiderer vom 17. Juli 1 9 1 1 (in: K 3 2 , Konvolut „Adolf von H a r n a c k " ) betonte er: „ D a s Spruchkollegium halte ich nach wie vor für einen Fortschritt und als Etappe unsrer Entwicklung für notwendig (ohne mich gegen seine Verbessrungsfähigkeit und die M ä n g e l seiner ersten H a n d h a b u n g zu verschließen), und eine T h e o l o g i e , wie sie J a t h o hat, halte ich sowohl in H i n b l i c k auf seine Gotteslehre wie in H i n b l i c k auf seine Stellung zu allem Geschichtlichen für eine unchristliche T h e o l o g i e . [ . . . ] Und ich beklage es tief, d a ß die M e h r z a h l der Freunde wider die Überlieferungen, aus denen sie s t a m m e n , lediglich aus dem Gesichtspunkt ,Freiheit' kurzer H a n d sich auf einen Standpunkt gestellt haben, welcher der ,der freien Gemeinden* ist, auf den zur Z e i t die Landeskirchen unmöglich treten k ö n n e n und von dem es fraglich ist, o b er jemals für Kirchen der rechte u[nd] heilsame sein wird. Soll ich, alter Kämpfer, erst sagen, daß es auch mir schmerzlich ist, wenn ich nicht jedesmal dorthin treten k a n n , w o das Wort .Freiheit' erschallt? Aber es giebt eben im Konfliktsfall noch etwas H ö h e r e s als Freiheit — eine heilige Sache nicht zu verletzen und G ü t e r nicht ohne Weiteres preiszugeben. Für mich ist der christliche Gottersbegriff, wie Jesus ihn verkündigt h a t , eine heilige Sache, ein rocher de bronze in der Kirche, und ich will alle Nachrede a u f mich n e h m e n , um ihn zu halten, weil ich meiner Fahne untreu würde, wenn ich anders handeln würde. In der Stellung zum Fall J a t h o [ . . . ] s t i m m e ich [ . . . ] ganz mit Baumgarten überein. W ä r e J a t h o ein junger Prediger von 3 0 J a h r e n , so wäre mir nicht zweifelhaft, wie ich zu urteilen hätte. Aber er ist 6 0 J a h r e alt; er hat 3 0 J a h r e im Dienst der G e m e i n d e gestanden; er hat die P r o b e abgelegt, d a ß auch die schlechteste T h e o l o g i e im R a h m e n der christlichen Überliefrung Leben entzünden kann [ . . . ] wie soll ich ihn absetzen? Die Kirche hätte ihn nicht anklagen und auch nach der Anklage ertragen sollen! Weil a b e r ertragen hier das rechte Wort ist, so schmerzt es mich wohl, daß dies nicht geschehen ist, aber ich kann Niemanden aus dem Nicht-Ertragen einen Strick drehen und nun ausrufen, d a ß der Protestantismus sich verleugnet h a b e , d a ß wir u l t r a m o n t a n werden, u[nd] wie alle die exorbitanten Urteile lauten, die zornige Ungeduld und Unverständniß der Gegner sich erlaubt haben! M i t der Verurteilung eines liberalen Protestantismus hat die Absetzung J a t h o s m. E. nichts zu tun; denn J a t h o ist kein liberaler Protestant, sondern als T h e o l o g e ein im Zeitlichen festgebannter M o n i s t . "

74

Einleitung

Rade war besorgt über die Differenzen zwischen Harnack und anderen Mitgliedern der FCW, die durch den Fall J a t h o offenbar geworden waren. Er konstatierte eine „innere K r i s i s " 4 3 0 im Kreis der F C W aufgrund der verschiedenen Bewertungen der Landeskirche und ihrer Institutionen sowie unterschiedlicher religiöser Befindlichkeiten. 4 3 1 Die Forderungen nach mehr Freiheit innerhalb der protestantischen Kirchen, die im Kreis der „jungen" Mitglieder der F C W immer lauter wurde, unterstützte er. Trotz dieser Differenzen forderte Rade Harnacks Engagement für die FCW ein. Als Mensch, der sich darum bemühte, mit anderen trotz differierender Überzeugungen im Gespräch zu bleiben, gemeinsam um die Wahrheit zu ringen, schlug er ihm ein klärendes Gespräch v o r 4 3 2 — ein Angebot, auf das Harnack, der unter diesen Meinungsverschiedenheiten litt, enthusiastisch einging. 4 3 3 Dieser Austausch förderte das Verständnis zwischen Harnack und Rade, wie sich an der positiven Reaktion Harnacks auf Rades Zusammenstellung und Interpretation seiner Auseinandersetzung mit J a t h o zeigte. 4 3 4 Wenn aber Rade rückblickend befriedigt konstatierte, daß der Kreis der F C W „trotz aller Gegensätze durch eine nicht geringe Gemeinsamkeit der Gesinnung zusammengehalten" 4 3 5 werde, so unterschätzte er die Spannungen innerhalb des Kreises. Sie sollten sich bald darauf deutlich zeigen. Obwohl er Dialogbereitschaft in Richtung auf alle Mitglieder der V F C W angebot, 4 3 6 veranlaßte das von ihm und anderen gezeigte Engagement im Fall J a t h o sowie die von R a d e mitgetragene Unterstützung der „religiös-kirchlichen Radikal e n " 4 3 7 unter den „jungen" F C W mehrere der sogenannten Mittelpartei angehörende Mitglieder zum Austritt. 4 3 8 12.3. D e r Fall T r a u b Kaum war die Erregung über den Fall J a t h o etwas abgeklungen, erfüllte der Fall Traub die Gemüter im protestantischen Deutschland mit Unruhe. 4 3 9 Gottfried Traub, Pfarrer in Dortmund, hatte J a t h o bei dessen Verfahren verteidigt. Nach Abschluß der Verhandlungen äußerte er scharfe Kritik am Spruchkollegium und faßte seine eigene Position in der Schrift „Staatschri-

430 431 432 433 434 435 436 437

438

439

Nr. 485. Vgl. ebd. und Nr. 484. Nr. 484. Nr. 486. Vgl. auch Nr. 4 8 9 f . Vgl. Nr. 492. Rade, M . : Jahresbericht 1910/11, in: AdF, Nr. 37 (20.September 1911), 408. Vgl. ebd., 4 0 8 f . Rade, M . : Unsere Stellung zu anderen Tagungen, Vereinen und Parteien, in: AdF, Nr. 38 (25. Oktober 1912), 432. Vgl. ebd., 4 3 3 f . Austrittserklärung, in: AdF, Nr. 39 (10. Februar 1912), 438. Vgl. R a d e , M . : Jahresbericht 1911/12, in: AdF, Nr. 41 (19. September 1912), 454; Nr. 495 und Nr. 505. Vgl. Rathje, 201 ff.; Z a h n - H a r n a c k , 3 1 2 f f . ; Bassi, 9 8 f f .

Einsatz für die Freiheit der protestantischen Theologie

75

stentum oder V o l k s k i r c h e " 4 4 0 z u s a m m e n . Er trat für die Trennung von Kirche und S t a a t e i n 4 4 1 und forderte eine Umgestaltung der protestantischen Kirche zu einem „großen Z w e c k v e r b a n d in Verwaltung, Unterstützung und Anreg u n g " 4 4 2 , von dem keine H e r r s c h a f t ausgeübt werden sollte, während sich christliches Leben und Lehre a u f die G e m e i n d e konzentrieren s o l l t e n . 4 4 3 Diese Streitschrift bildete den A n l a ß , gegen T r a u b , der bereits 1 9 1 0 eine Rüge aufgrund seiner K o n f i r m a t i o n s p r a x i s ohne den G e b r a u c h des A p o s t o l i k u m s erhalten hatte, ein Disziplinarverfahren

— kein

Lehrbeanstandungsverfahren

wie bei J a t h o — zu e r ö f f n e n . 4 4 4 T r a u b wurde neben kleineren dienstlichen Vergehen — wie z. B . eine ohne G e n e h m i g u n g vollzogene Trauung eines nicht aus seiner G e m e i n d e s t a m m e n den Brautpaares — Beleidigung und H e r a b w ü r d i g u n g verschiedener kirchlicher Einrichtungen (darunter des Spruchkollegiums), des Pfarrerstandes sowie der Kirche und ihres Bekenntnisses v o r g e w o r f e n . 4 4 5 D a s am 10. O k t o b e r 1 9 1 1 vom Westfälischen Konsistorium eröffnete Verfahren wurde nach Einspruch T r a u b s , der ihm Befangenheit vorwarf, an das Breslauer Konsistorium überwiesen. Dieses erkannte die Vorwürfe als zu R e c h t erhoben an und verurteilte T r a u b zur Versetzung in ein anderes P f a r r a m t . 4 4 6 Gegen das Urteil legten sowohl T r a u b als auch der Vertreter der Anklage Berufung ein. D e r Evangelische O b e r k i r c h e n r a t , der nun zuständig war, verschärfte das Urteil a u f Dienstentlassung.447 R a d e , der sich vor dem Urteilsspruch des O b e r k i r c h e n r a t s vom korrekten Verlauf des Disziplinarverfahrens überzeugt gezeigt h a t t e , 4 4 8 forderte zugleich „zum äußersten W i d e r s t a n d e " auf, falls T r a u b aus dem Dienst

entlassen

w ü r d e . 4 4 9 N a c h dem Urteilsspruch kritisierte er ihn als im Gegensatz zu den

Traub, G.: Staatschristentum oder Volkskirche. Ein protestantisches Bekenntnis, Jena 1911. 4 4 ' Vgl. ebd., 50ff. 4 4 2 Ebd., 55. 4 4 3 Ebd., 48ff. 4 4 4 Vgl. Bassi, 99. 4 4 5 Vgl. Traub, G.: Erinnerungen. I. Aus der sozialen Bewegung. II. Aus meinen kirchlichen Kämpfen, München o. J. [1949], 75. 4 4 6 Das Urteil vom 15. März 1912 ist auszugsweise abgedruckt in: Huber/Huber, Bd. III, 784-790. 447 Das Urteil des Oberkirchenrats vom 5. Juli 1912 ist mit Begründung auszugsweise abgedruckt in: ebd., 790—797. Neben der fehlenden „rücksichtsvollen Achtung gegen die Kirche" (791) wurde das „Schwergewicht der Verfehlungen" Traubs in dessen „Angriffen gegen das Lehrbeanstandungsgesetz und das Spruchkollegium [...] aus Anlaß des Verfahrens gegen den Pfarrer Jatho, sowie in der Art seiner allgemeinen Polemik gegen die Landeskirche, ihre Behörden und Einrichtungen" gesehen. (792) 4 4 8 Vgl. Rade: Fall Traub, 449. Vgl. Nr. 500. 4 4 9 Rade: Fall Traub, 450. Er fuhr ebd. fort: „Es ist für mich kein Zweifel, daß eine Enthebung Traubs von seinem Amt [...] von unserm Kreise einmütig als ein Unrecht empfunden werden würde, gegen das man aufs schärfste protestieren müßte." 440

76

Einleitung

reformatorischen Grundsätzen stehend. 4 5 0 Die VFCW folgte Rade in seiner Haltung und protestierte gegen das Urteil. 451 Harnack, der Traubs polemischen Äußerungen und Angriffen auf die Kirche — nicht zuletzt aufgrund seines Bemühens um die real existierende Landeskirche — kritisch gegenüberstand, 4 5 2 verfaßte eine Broschüre, in der er erstaunlich scharfe Worte zu dieser „Katastrophe" fand. 4 5 3 Z w a r verteidigte er immer noch das Spruchkollegium als solches, 454 doch das Verfahren gegen Traub zeige, daß „der Sitz des Übels" in den Ordnungen der Kirche zu suchen sei, in denen sich der „Wirklichkeits- und Wahrheitssinn [...] nicht frei entfalten kann". 4 5 5 Diese Stellungnahme erwuchs aus seinem theologischen Bemühen, den christlichen Glauben und dessen Ausdrucksformen vom Ballast überkommener, unverständlicher Dogmen und unzeitgemäßer Strukturen zu befreien und sich für die Anerkennung der dazu nötigen Methoden einzusetzen. Den Fall Traub beurteilte er als Symptom des Kampfes zwischen modernen Denkstrukturen und traditionellen Glaubensüberzeugungen: Die Kirche stelle den neuen Denk- und Erkenntnisweisen ihre alten Dogmen und Anschauungen gegenüber. Diesen „Zusammenprall" verdeutliche der Fall Traub. 4 5 6 In diesem konkreten Falle habe der Oberkirchenrat zudem „den schwärzesten Schein [...] des Rechtsbruchs auf sich" geladen. 4 5 7 Harnack forderte als unbedingte Notwendigkeit für die protestantischen Kirchen — um ihrer Glaubwürdigkeit und Akzeptanz willen — die Gewaltenteilung. Es sei „unerträglich", „daß die höchste Instanz in dieser Angelegenheit der Beleidigte, der Ankläger und der Richter zugleich ist." 4 5 8 Auf diese Weise habe der Oberkirchenrat seiner Kirche schweren Schaden zugefügt, weil nun viele Menschen kein Vertrauen mehr zu ihr hätten. 4 5 9 450

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Rade hatte in einem Vorschlag für eine Erklärung der FCW ausgeführt, daß für Pfarrer der protestantischen Kirchen „freimütige Kritik an der Kirche, ihren Institutionen und ihrer Leitung [...] Amtspflicht und geschichtliches Recht" sei. Z w a r hätten sie im Ausdruck die Form zu wahren, doch entscheidend sei „der im Konfliktsfall ausschlaggebende Gehorsam gegen den Willen Gottes und die Wahrheit. Wo diese Motive offenbar sind, muß in der Form viel ertragen werden [...] Unter diese Grundsätze gestellt, ist das Gericht des Evangelischen Oberkirchenrats der preußischen Landeskirche über Pfarrer Traub dem Geist der Reformationskirchen zuwider." Rade, M.: Traub, in: AdF, Nr. 41 (19. September 1912), 460. Rade, M.: Die Freunde der Christlichen Welt in Eisenach, in: CW 26 (1912), 986f. Vgl. Ordentliche Mitgliederversammlung der Vereinigung der Freunde der Christlichen Welt am 3. u. 4. Oktober, in: AdF, Nr. 42 (11. Oktober 1912), 4 6 1 - 4 6 5 , die Resolution der VFCW dort ebd., 464f. Vgl. Nr. 496. Harnack charakterisierte Traub als engagierten „Agitator" und „Mann einseitigster Subjektivität"; Harnack: Dienstentlassung, 8. Harnack, A.: Die Dienstentlassung des Pfarrers Lic. G. Traub, Leipzig 1912, Zitat 30. Vgl. Anm. 2 zu Nr. 511. Harnack: Dienstentlassung , 28. Ebd., 20f., Zitat 21. Ebd., 10. Ebd., 12f. Ebd., 17.

Harnacks Vorlesung über „ D a s Wesen des Christentums"

77

In Beurteilung des Falles wie Einsicht in die Reformbedürftigkeit der evangelischen Kirchen diesmal weitgehend einer Meinung, stimmten Harnack und Rade auch darin überein, daß Traub trotz seiner Dienstentlassung „keinen Schimpf davongetragen" h a b e , 4 6 0 und beteiligten sich an seiner finanziellen Unterstützung. 4 6 1

13. Harnacks Vorlesung über „Das Wesen des Christentums" Im Wintersemester 1899/1900 hielt Harnack seine berühmte Vorlesung über „ D a s Wesen des Christentums", die „ s o etwas wie eine Grundschrift des religiösen L i b e r a l i s m u s " 4 6 2 wurde. Sie stellte keine im strengen Sinn wissenschaftliche Abhandlung dar — für eine solche Ausarbeitung blieb Harnack damals keine Z e i t 4 6 3 — sondern sie ist mehr von der pädagogischen und katechetischen Absicht geprägt, „fragenden Menschen seiner Gegenwart eine Antwort darauf zu geben, was das Christentum für sie bedeuten k ö n n e . " 4 6 4 Er schöpfte dabei aus der Fülle seiner langjährigen Beschäftigung mit dem (frühen) Christentum und wagte es, die Vorlesung ohne Manuskript zu halten. 4 6 5 Sie wurde von 600—700 Zuhörerinnen und Zuhörern besucht. Dieser große Zulauf und der Erfolg des späteren D r u c k s 4 6 6 zeigten, daß Harnack auszudrücken verstand, was der Überzeugung vieler seiner Zeitgenossen entsprach. Zugleich löste er damit eine breite öffentliche Diskussion aus und mußte sich wiederum Angriffe aus konservativen Kreisen gefallen lassen. 4 6 7 Harnack versuchte nicht, den Begriff des „Wesens" zu analysieren, sondern verstand darunter den „Kern" des christlichen Glaubens, den er meinte mit Hilfe der historisch-kritischen Methode bestimmen zu können. 4 6 8 Doch ist R a d e , M . : Z u unserer inneren Lage, in: AdF, Nr. 43 (14. J a n u a r 1913), 470. Vgl. Nr. 514. 4 6 2 Trillhaas, W.: Geleitwort zu Harnack: Wesen, 6. 4 6 3 Vgl. Nr. 251. 4 6 4 Döbertin, 47. 4 6 5 Die spätere Veröffentlichung basierte auf der stenographischen Mitschrift eines Zuhörers. 466 Vgl. Z a h n - H a r n a c k , 183. Bis 1927 erschienen 14 Auflagen und 15 Übersetzungen in andere Sprachen; vgl. Adolf von H a r n a c k . Verzeichnis seiner Schriften. Unter Benutzung der Harnack-Bibliographie von M a x Christlieb bearbeitet von F. Smend, Leipzig 1927, 137 f. 4 6 7 Vgl. die Zusammenstellung gegnerischer Stimmen bei Rolffs; Neufeld, 147ff.; Zahn-Harnack, 185 ff. 4 6 8 H a r n a c k : Wesen, 19f. Vgl. ebd., 16: „Was ist Christentum? — lediglich im historischen Sinn wollen wir diese Frage hier zu beantworten versuchen, d. i. mit den Mitteln der geschichtlichen Wissenschaft und mit der Lebenserfahrung, die aus erlebter Geschichte erworben ist." Vgl. dazu Trillhaas: Geleitwort zu H a r n a c k : Wesen, 8: „Wenn H a r n a c k vom ,Wesen' des Christentums spricht, so meint er also keinen zeitlosen philosophischen Begriff, sondern so etwas wie eine in dem Wirken Jesu hervorbrechende göttliche Wahrheit, einen durch seine Verkündigung geweckten Glauben, der durch die ganze seitherige Geschichte hindurch lebendig geblieben ist und auch heute — und das heißt für Harnack das bürgerliche Zeitalter — gegenwärtig und nachvollziehbar sein k a n n . " 460 461

78

Einleitung

Ernst Troeltsch zuzustimmen, der anmerkte, daß bei aller exakten historischen Arbeit „die jeweilige Wesensbestimmung [...] die jeweilige historische Neugestaltung des Christentums" ist, 4 6 9 bei der die Weltanschauung, der Glaube des Forschenden die Stellung zum untersuchten Gegenstand mitbedingt. 4 7 0 So enthält sein „Wesen des Christentums" Harnacks „persönliches christliches Glaubensbekenntnis." 4 7 1 Er verdeutlichte in diesem Werk seinen historischen und theologischen Ansatz. Durch Erforschung der Geschichte der christlichen Religion — da seiner Meinung nach ein wirkliches Verständnis „nur auf Grund einer vollständigen Induktion, die sich über ihre gesamte Geschichte erstrecken m u ß " 4 7 2 möglich sei — sowie durch Rückgriff auf die Ursprungszeit des christlichen Glaubens war er bestrebt, den Kern des Christentums, den Harnack als etwas ganz „Einfaches und kraftvoll zu uns Sprechendes" beurteilte, 4 7 3 herauszuarbeiten. „Das Christentum ist wie jede andere Religion eine positive und historische geworden; will man also ermitteln, was christlich sei, so kann man das nicht anders gewinnen als durch ein Zurückgehen auf die Geschichte des Eintritts des Christentums und auf sein ursprüngliches Wesen. — Dies ist eine Forderung der Wissenschaft, aber nicht minder auch des evangelischen Schriftprincips und es sind demnach alle Versuche, Wesen und Geschichte zu trennen, abzuweisen." 4 7 4

Harnack legte im „Wesen des Christentums" seine grundlegenden Überzeugungen in einer Form dar, die für ein breiteres Publikum verständlich war. Er drückte damit seine Ansicht aus, daß die Einfachheit des christlichen Glau469

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Troeltsch, E.: Was heißt „Wesen des Christentums"?, in: ders.: Gesammelte Schriften, 2. Bd.: Z u r religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Tübingen 1913, 421. Ebd., 425. Vgl. ebd., 427, und die zusammenfassende Beurteilung ebd., 448: Der Wesensbegriff „ist seiner Natur nach kein rein historisch-empirischer Begriff, sondern die höchste Leistung historischer Abstraktion oder die Bildung historischer Allgemein begriffe. Die Bildung dieses Allgemeinbegriffes ist auch bei strengster historischer Sachlichkeit nicht möglich, ohne ihm einem Teil der historischen Tatsachen als kritischen und verurteilenden Maßstab entgegenzusetzen und ohne die verschiedenen Bildungen durch einen der Wandelungs- und Anpassungsfähigkeit Rechnung tragenden Entwickelungsbegriff zu verbinden. Das eigentliche Interesse am Wesensbegriff tritt aber erst zutage, wo das historisch als wesentlich Empfundene zugleich als der maßgebende Entwickelungstrieb der Z u k u n f t hervortritt und der systematisch-religionsphilosophischen Bearbeitung zur Darstellung des gegenwärtigen christlichen Glaubens übergeben wird. Harnacks Buch versucht all diesen Interessen zugleich zu genügen und gerade von der Historie her damit dem Glauben die Unterlage und den Gegenstand zu geben. Es ist schon um deswillen selbstverständlich nicht rein historisch, aber es entwickelt die Z u k u n f t aus der reinen Historie. Harnacks ganze historische Arbeit [...] steht auf diesem Hintergrunde. [...] Es ist eine historische Arbeit, die mit der Historie die Erarbeitung der normativ religiösen Position verbindet und gerade darin ihre führende Bedeutung hat." Vgl. dazu Neufeld, 47. Döbertin, 107. Vgl. Neufeld, 47. Harnack: Wesen, 18. Ebd., 20. Notiz „Orientierende Vorbemerkungen", beigefügt dem Manuskript der mehrmals gehaltenen Vorlesung „Einleitung in das Neue Testament", in: K 19. Vgl. Harnack: Wesen, 17f.; RA 2, 112; ders.: Lehrbuch, Bd. 1, V; ders.: Dogmengeschichte, 11.

Harnack als Wissenschaftsorganisator

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bens mit Hilfe der historischen Forschung aufgedeckt und so den Menschen der Neuzeit verständlich und — von überkommenen unverständlichen Formen befreit — wieder glaubbar gemacht werden könne. Geprägt von diesem missionarischen Impetus stellte das „Wesen des Christentums" Harnacks „zentrale theologische Aussage d a r . " 4 7 5

14. H a r n a c k als Wissenschaftsorganisator Seit Harnacks Berufung nach Berlin wuchsen seine Kontakte und weiteten sich seine Arbeitsfelder aus. Immer größere Aufgaben im Bereich der Wissenschaftsorganisation fielen ihm zu, der er große Bedeutung zumaß. Er erkannte früh, daß der einzelne Forscher nicht nur auf die Zusammenarbeit mit Kollegen und Kolleginnen, sondern auch auf Unterstützung von universitärer, staatlicher oder anderweitiger Seite angewiesen ist. Z w a r sei Wissenschaft „im Grunde und letztlich immer Sache des Einzelnen", 4 7 6 doch existierten Aufgaben, die der einzelne Forscher aufgrund ihres Umfangs oder ihrer Komplexität nicht allein bewältigen könne. 4 7 7 In diesem „Großbetrieb der Wissenschaft" hatte sich Harnack schon früh engagiert. Bereits in seiner Gießener Zeit arbeitete er an einer Ausgabe der apostolischen Kirchenväter mit. 4 7 8 Als er 1890 Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften wurde, erfolgte diese Wahl auch unter dem Gesichtspunkt, einen Gelehrten zu gewinnen, der es verstand, „jüngere Genossen zu fruchtbarer Arbeitsgemeinschaft zu gewinnen und bei derjenigen Organisation, welche die heutige Wissenschaft vor allem bedarf, als Führer aufzutret e n . " 4 7 9 Harnack erfüllte die in ihn gesetzten Erwartungen; die von der Akademie der Wissenschaften durchgeführte Ausgabe der griechischen Kirchenväter erfolgte unter seiner Leitung und maßgeblichen Mitarbeit. 4 8 0 Waren diese Aktivitäten noch Harnacks eigentlichem Arbeitsgebiet, der Kirchengeschichte, zuzuordnen, so zeigte seine „Geschichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften", 4 8 1 die er aus Anlaß des 200jähri475 476 477 478

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Döbertin, 47. Harnack, A.: Vom Großbetrieb der Wissenschaft, in: R A 3, 10. Ebd., lOf. Patrum apostolicorum opera. T e x t u m ad fidem codicum et graecorum et latinorum adhibitis praestantissimis editionibus recensuerunt, commentario exegetico et historico illustraverunt, apparatu critico, versione latine passim correcta, prolegomenis, indicibus illustraverunt. Ed. post Dresselinam alteram 3., hrsg. von A. H a r n a c k , O . von Gebhardt und T h . Z a h n , Leipzig 1875 ff. M o m m s e n , Th.: Erwiderung auf H a r n a c k s Antrittsrede in der Preußischen Akademie der Wissenschaften, in: SB, 1890, 792; auch in: R A 7, 214. Die griechischen christlichen Schriftsteller der ersten drei Jahrhunderte, hrsg. von der Kirchenväter-Commission der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Leipzig 1897 ff. Vgl. Z a h n - H a r n a c k , 193 ff. Bd. 1/1 und Bd. 1/2, Berlin 1900.

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Einleitung

gen Jubliäums dieser Institution verfaßte, wie rasch er sich fremde Gebiete erarbeiten konnte — wenn er auch unter der damit verbundenen außerordentlichen Arbeitsbelastung litt. 482 Neben seiner Einsicht, daß Wissenschaft als „Großbetrieb" besonderer Organisationsformen bedürfe, ist als weiteres wichtiges Motiv für Harnacks Engagement auf diesem Gebiet sein Wunsch nach konkreter Anwendung der erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten zu nennen. Harnack, der in seiner Person selbst die „Einheit von wissenschaftlichem Denken und Handeln" verkörperte, 483 war davon überzeugt, daß in der Geschichte „alles unwirksam ist, was nicht zur Tat kommt" 4 8 4 und stellte seine wissenschaftliche Arbeit — wie die Aufgabe der Wissenschaft überhaupt — unter die Prämisse, daß sie „die Erkenntnis des Wirklichen zu zweckvollem Handeln" sei. 4 8 5 Seine Fähigkeiten wollte er in erster Linie der evangelischen Kirche zugute kommen lassen, doch erfuhr er von Seiten der Kirchenleitungen Ablehnung. Seine Liebe zur Kirche und sein Wunsch nach konkreter Tätigkeit wurden immer wieder zurückgewiesen.486 So engagierte er sich auf anderen Betätigungsfeldern, wie der Königlich Preußischen Staatsbibliothek, deren Generaldirektor er von 1905 bis 1921 war. 487 „ M e i n e neue Stellung wird mich weniger zum . B i b l i o t h e k a r ' machen als zum Organisator. [ . . . ] Ich h a b e in meinem Leben Weniges gethan, u[nd] ich m ö c h t e meine Arbeit in Reden u[ndj Schreiben durch ein T h u n , welches der G e s a m t h e i t zu gut k o m m t , in bescheidener Weise ergänzen. Die Kirche hat mir dazu keine Gelegenheit gegeben, u[nd] jetzt k ä m e auch eine solche T h ä t i g k e i t zu spät für m i c h . " 4 8 8

482 Yg] 2 3 4 und 2 4 5 . - Z u H a r n a c k s Arbeit an der „ G e s c h i c h t e der Königlich Preußischen A k a d e m i e der W i s s e n s c h a f t e n " vgl. Z a h n - H a r n a c k , 2 0 1 ff. 483 Vierhaus, R . : A d o l f von H a r n a c k , in: Forschung, 4 7 7 . 484

R A 4 , 1 0 3 . Vgl. H a r n a c k : Entstehung, 1 2 0 : „ A u f Taten k o m m t es in der G e s c h i c h t e an oder vielmehr auf G e d a n k e n , die zu Taten werden und neue Formen s c h a f f e n . " Vgl. auch o. S. 63 f.

R A 5 , 1 7 8 ; vgl. R A 7 , 2 0 2 . Vgl. auch das Vorlesungsmanuskript „Kirchengeschichte I " , in: K 18, Blatt 1, in dem H a r n a c k formulierte, daß die Wissenschaft „ihren Z w e c k [ . . . ] nicht in sich selber" trage, sondern d a r a u f angewiesen sei, „praktisch die Welt zu beherrschen. In dieser Aufgabe fassen sich alle Thätigkeiten der M e n s c h h e i t zunächst zusammen und alle müssen ihr dienen. [ . . . ] W i r definiren also die Wissenschaft als das reine genaue und vollständige Wissen vom Wirklichen zum Z w e c k der Weltbeherrschung." 486 Vgl. die in Nr. 3 0 4 geschilderte s y m p t o m a t i s c h e Ablehnung seines Versuchs, sich in die Brandenburgische Provinzialsynode wählen zu lassen.

485

487

Vgl. Z a h n - H a r n a c k , 2 4 8 f f . ; J a c o b s , E.: Adolf von H a r n a c k , in: Z e n t r a l b l a t t für Bibliothekswesen 4 7 ( 1 9 3 0 ) , 3 6 5 — 3 7 6 ; Vesper, E . : H a r n a c k als Bibliothekar, in: J a h r b u c h der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Bd. 17, 1 9 8 1 , 3 7 - 4 9 . Vgl. auch Nr. 4 6 4 , w o H a r n a c k erklärte, er habe schließlich die Leitung der Preußischen Staatsbibliothek ü b e r n o m m e n , „um etwas zu fördern u[nd] zu t u n . "

488

Nr. 3 9 2 . R a d e schrieb später in einem N a c h r u f auf H a r n a c k , in: C W 4 4 ( 1 9 3 0 ) , 6 1 2 (zitiert in A n m . 3 zu Nr. 6 7 7 ) , daß H a r n a c k „seine T a t k r a f t , sein Organisationstalent, sein umfassendes Interesse" h a b e „profanen Aufgaben z u w e n d e n " müssen, da die Kirche ihn abgelehnt habe. Vgl. Neufeld, 119, 1 2 0 f .

H a r n a c k als W i s s e n s c h a f t s o r g a n i s a t o r

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Mehr und mehr w u r d e H a r n a c k , der sich trotz aller „ Z e r s p l i t t e r u n g e n " 4 8 9 immer in erster Linie als Theologe und Kirchenhistoriker v e r s t a n d , 4 9 0 aufgrund seines umfangreichen Wissens u n d seiner organisatorischen Fähigkeiten vom preußischen Kultusministerium in Fragen der Wissenschaftsorganisation, der Unterrichtsverwaltung wie auch in Personalfragen herangezogen. 4 9 1 Diese Aufgaben beanspruchten ihn stark, so d a ß er sich hin und wieder d a r ü b e r beklagte wie er auch sein a b n e h m e n d e s Engagement f ü r die CW, das Rade von Fall zu Fall a n m a h n t e , d a m i t rechtfertigte. 4 9 2 Sein größtes wissenschaftsorganisatorisches Engagement galt der KaiserWilhelm-Gesellschaft. Er w u r d e ihr erster Präsident und hatte d a m i t „den endgültigen Schritt hin zur Wissenschaftsorganisation vollzogen." 4 9 3 Im preußischen Kultusministerium waren — zum Teil unter Beteiligung H a r n a c k s — bereits mehrere J a h r e vor dem G r ü n d u n g s a k t Pläne zur Einrichtung naturwissenschaftlicher Forschungsinstitute ausgearbeitet w o r d e n . 4 9 4 H a r n a c k w u r d e 1909 aufgefordert, diese Pläne zusammenzufassen. In einer Denkschrift vom 21. N o v e m b e r 190 9 4 9 5 legte er dar, d a ß die Naturwissenschaften in Deutschland „auf wichtigen Linien der Naturforschung hinter der anderer Länder zurückgeblieben und in ihrer Konkurrenzfähigkeit aufs stärkste b e d r o h t " seien. 4 9 6 H a r n a c k argumentierte damit, d a ß die „ W e h r k r a f t und die Wissenschaft", die „die beiden starken Pfeiler der Größe Deutschlands" bildeten, 4 9 7 vom Staat erhalten werden m ü ß t e n . Er sprach d a m i t zielsicher das die A u f r ü stung f ö r d e r n d e deutsche Streben nach größerer M a c h t und stärkerem politischen Gewicht in E u r o p a und weltweit an, das er hier für ein wissenschaftliches F ö r d e r u n g s p r o g r a m m einzusetzen suchte. Die Konkurrenz mit anderen 4S9 490

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N r . 261. Vgl. Nr. 471, 533, 674 u n d Nr. 653, w o H a r n a c k , auf seine Lebensarbeit r ü c k b l i c k e n d , konstatierte: „ w a s mir an u n g e a h n t e n neuen A u f g a b e n zugewachsen ist, h a b e ich stets der g r o ß g e f a ß t e n A u f g a b e des Kirchenhistorikers einzugliedern v e r m o c h t , die im G r u n d meine einzige geblieben ist." Vgl. Z a h n - H a r n a c k , 2 3 3 f . ; Nr. 359 u n d 447. H a r n a c k g e h ö r t e zu den Vertrauensleuten u n d R a t g e b e r n F. Althoffs, die ihn in universitären Fragen berieten. Vgl. Brocke, B. v o m : H o c h s c h u l - und Wissenschaftspolitik in Preußen u n d im D e u t s c h e n Kaiserreich 1882—1907: das „System A l t h o f f " , in: Bildungspolitik in Preußen zur Z e i t des Kaiserreichs ( = Preußen in der Geschichte, Bd. 1), hrsg. von P. B a u m g a r t , Stuttgart 1980, 6 9 f . Vgl. N r . 176, 245, 252 u n d 359. B u r c h a r d t , 227. Vgl. Z a h n - H a r n a c k , 3 2 7 f f . ; Brocke, 6 3 f f . , 120ff.; G e r w i n , 3 f f . ; Wendel, 7 5 f f . ; Vierhaus, 104 ff. A b g e d r u c k t in: 25 J a h r e Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur F ö r d e r u n g der W i s s e n s c h a f t e n , 1. Bd.: H a n d b u c h , Berlin 1936, 3 0 - 4 4 ; in: 50 J a h r e Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft u n d M a x - P l a n c k - G e s e l l s c h a f t zur F ö r d e r u n g der Wissenschaften 1911 — 1961. Beiträge u n d D o k u m e n t e , hrsg. von der G e n e r a l v e r w a l t u n g der M a x - P l a n c k - G e s e l l s c h a f t zur Förder u n g der W i s s e n s c h a f t e n , G ö t t i n g e n 1961, 80—94, u n d in: J a h r b u c h 1951 der M a x Planck-Gesellschaft zur F ö r d e r u n g der Wissenschaften e. V. 120—138; wenig gekürzt in: RA 3, 4 1 - 6 4 . RA 3, 43. Ebd., 57.

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Einleitung

Staaten, die „ungeheuere Aufwendungen für die Förderung der naturwissenschaftlichen Forschung" machten, 4 9 8 führte er als Motivationsgrund für verstärkte Anstrengungen in Deutschland auf diesem Sektor an. Er argumentierte, daß Deutschland die Führung auf diesem Gebiet „in wichtigsten Teilen bereits an das Ausland [hat] abgeben müssen." 4 9 9 Um die deutsche Wissenschaft zu stärken, müßten naturwissenschaftliche Forschungsinstitute gegründet und als „Kaiser-Wilhelm-Institut für naturwissenschaftliche Forschung" zusammengefaßt werden. 5 0 0 Deren Finanzierung sollte von staatlicher und privater Seite übernommen werden. 501 Harnack plädierte entschieden gegen eine rein privatwirtschaftliche Finanzierung der Institute, da er die Gefahr der Abhängigkeit von den Geldgebern realistisch einschätzte. 502 Bei der 100-JahrFeier der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin trug Wilhelm II. in einer von Harnack verfaßten Rede 5 0 3 den Plan der Gründung der Kaiser-WilhelmGesellschaft vor. 5 0 4 Der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft widmete Harnack fortan einen großen Teil seiner Arbeitskraft, ein Einsatz, der ihm — vor allem in der Zeit der Weimarer Republik — „große Opfer" auferlegte. 505 Hinter diesem Engagement traten — durchaus in Konsequenz seiner Lebensgeschichte — andere berufliche Aktivitäten zurück. 5 0 6 Nach dem Ersten Weltkrieg, als staatliche Finanzmittel in weit größerem Maße als zuvor erforderlich waren, kämpfte er dafür, daß trotz größerer staatlicher Unterstützung die Eigenständigkeit der Forschungsinstitute gewahrt und größere Einflußnahmen von Seiten des Staates verhindert wurden. Der 1928 akut werdende Konflikt mit dem Kultusministerium wurde „gefährlich" 5 0 7 , als in seinem Gefolge 1929/30 Kritik am Umgang der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft mit Etatmitteln sowie an ihrer Geschäftsführung laut und damit die Integrität der Gesellschaft in Frage gestellt wurde. 5 0 8 Harnacks Arbeit in seinen letzten Lebensjahre für die Gesellschaft, „die eigentlich mehr als einen Präsidenten verlangte]", 5 0 9 war von Erfolg gekrönt. 5 1 0 Die Statuten der Gesellschaft wurden nicht grundsätzlich geändert; die Finanzgebaren wurden als den Statuten entsprechend anerkannt. 5 1 1 Diese Auseinandersetzungen belasteten Harnacks ohnehin geschwächten Ge498 499 500 501 502 503 504

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5,0 511

Ebd., 47. Ebd., 44. Ebd., 53. Ebd., 58ff. Vgl. Nr. 496 und Vierhaus, 104f. Vgl. Brocke, 27, 30. Ansprache Wilhelms II., in: Jahrhundertfeier, 3 6 - 3 8 . - Zur Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft vgl. Forschung. Nr. 674. Vgl. Nr. 579. Brocke, 341. Vgl. ebd., 339ff.; Zahn-Harnack, 439; Gebhard, 140f. Nr. 632. Vgl. Brocke, 336ff.; Gerhard, 123ff. Vgl. Brocke, 342ff.; Zahn-Harnack, 440; Gebhard, 140f.

Harnack und R a d e im Bemühen um Völkerverständigung

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sundheitszustand. 5 1 2 Er starb am 10. Juni 1930 in Heidelberg, wohin er gereist war, um ein Institut der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft für medizinische Forschung zu eröffnen.

15. Harnack und Rade im Bemühen um Völkerverständigung Die Doppelbelastung durch das Pfarramt in Frankfurt und die Herausgabe der CW veranlaßte Martin Rade zu Überlegungen, sein Pfarramt aufzugeben, um sich stärker seiner Zeitschrift widmen zu können. 5 1 3 Um die Jahrhundertwende wurden diese Pläne konkreter. 5 1 4 Rade zog — entgegen dem Rat Harnacks, der für Berlin plädiert hatte 5 1 5 — nach Marburg, wo er sich im Fach Systematische Theologie habilitierte. 5 1 6 Er begann schon vor der Übersiedelung, mehr Arbeit der CW zu widmen, 5 1 7 die nun auch den größten Teils seines Unterhalts und den seiner Familie gewährleisten sollte. 5 1 8 Marburg bot Rade die Gelegenheit, seine theologischen Überzeugungen im wissenschaftlichen Diskurs zu systematisieren. Fast programmatisch hielt er seine erste Vorlesung im Sommersemester 1900 über „ E t h i k " . 5 1 9 In der alten Universitätsstadt trat Rade in näheren Austausch mit Wilhelm Herrmann, einem Schüler Ritschis, der seit ihrer Gründung an der CW mitarbeitete, den neukantianischen Philosophen Hermann Cohen und Paul Natorp, die Rade zu einer vertieften Auseinandersetzung mit Immanuel Kant anregten, 5 2 0 und dem pazifistischen Juristen Walter Schücking. 5 2 1 Schücking war es, der Rade zu seinem Engagement in der Politik motivierte. Z w a r war Rade 1896 dem „Nationalsozialen Verein" seines Schwagers Friedrich Naumann beigetreten, doch hatte er darin nicht aktiv mitgearbeitet. Ebenso hatte er N a u m a n n s Entwicklung nicht mitgemacht, der — beeinflußt von M a x Weber und Rudolph Sohm — der Religion ihren Platz im privaten Leben zuwies. Die auf dem christlichen Glauben beruhenden ethischen Nor-

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513 5,4 S15 5,6 517 5,8 sl9

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Vgl. Z a h n - H a r n a c k , 439: „In all den Verhandlungen, die sich hieraus ergaben, stand Harnack in Person für die Gesellschaft; von Sitzung zu Sitzung, von Besprechung zu Besprechung, oft ohne Mittagspause, ging der Tageslauf und forderte dem müden Körper die letzten Kraft a b . " Vgl. die bereits im J a h r e 1895 angestellten Überlegungen in Nr. 156. Vgl. Nr. 2 2 2 und 224. Nr. 223; vgl. Nr. 225. Vgl. Nr. 244 und Ausstellungskatalog, 104f. Vgl. Nr. 239 und 244. Vgl. Nr. 222 und 244. Vgl. den Brief Rades vom 28. April 1900 (Nr. 267), in dem er von seiner ersten Vorlesung berichtete. Im Wintersemester 1905/06 hielt R a d e eine Vorlesung über Kants Religionsphilosophie. D a s Manuskript der Vorlesung befindet sich im Rade-Nachlaß der UB M a r b u r g , Signatur M s . 920. Vgl. Schwöbel: R a d e , 120. Vgl. Nagel, 199.

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Einleitung

men könnten für Politik, staatliches Handeln wie auch Geschäfts- und Berufsleben, wo er vor allem den Kampf um Macht und Einfluß herrschen sah, keine Gültigkeit beanspruchen. 5 2 2 Dagegen hielt Rade fest: „Es gibt für den Staat, das Volksganze, keine andere Moral als für den Einzelmenschen." 5 2 3 Rade schrieb rückblickend, daß er und Naumann sich zwar gut verstanden hätten, aber „in ganz verschiedenen Gleisen" gelaufen seien, so daß Naumann „nur in begrenztem Maße" Einfluß auf Rades „Beteiligung an irgendwelchen öffentlichen Sachen" gehabt habe. „Ich bin nie auf einem national-sozialen Parteitag gewesen u[nd] ließ mich durch ihn nicht in die aktive Politik hineinziehn: das ist bei mir erst in Marburg seit 1907 unter Schückings Einfluß anders geworden." 5 2 4 15.1. R a d e s Einsatz f ü r n a t i o n a l e M i n d e r h e i t e n Rades ethische Ansichten entwickelten sich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zu der Überzeugung fort, daß christlicher Glaube nicht nur Relevanz für das Handeln der einzelnen und das Verhältnis zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen besitze, sondern daß „das Christentum in erster Linie" mit dazu da sei, „die Beziehungen zwischen Staaten und Völkern zu gestalten". 5 2 5 Aus dieser Überzeugung resultierte Rades politisches Eintreten für nationale Minderheiten im deutschen Reich. Ihre Behandlung bildete für ihn den Anlaß, seine bisherige Abstinenz in politischen Fragen aufzugeben. 5 2 6 Rade bezog bei den Auseinandersetzungen um die Einführung der deutschen Sprache im Religionsunterricht in Posen und Westpreußen Stellung und setzte sich nach einer längeren Reise durch diese Provinzen im Jahre 1902 kritisch mit der Politik gegenüber der polnischen Minderheit auseinander. 5 2 7 Die in diesem Zusammenhang gemachten Erfahrungen weckten in ihm „alle politischen Instinkte." 5 2 8 522 523

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Vgl. Schwöbel: Einleitung 2, 18ff.; Heuss, lOOff., 143ff. Rade: Religion und Moral, 85. Dieser Position blieb er treu, wenn sich auch später seine ethische Überzeugung dahingehend wandelte, daß er — unter dem Einfluß Wilhelm Herrmanns, der hier auf Kant fußte — eine religiös fundierte Wertethik ablehnte und eine rein formale Ethik vertrat sowie dementsprechend die moralische Lehre Jesu als Gesinnungsethik verstand. Entwurf eines Briefes Rades an Th. Heuss vom 11. März 1937, in: Rade-Nachlaß, UB Marburg, Signatur Hs. 839. Vgl. auch Rades Offenen Brief an J. Kübel, unter dem Titel: Z u r Antwort, in: CW 43 (1929), 1093f. Im Jahr 1907 setzte sich Rade bei der Reichstagswahl für den linksliberalen Kandidaten Hellmut von Gerlach ein. — Z u Rades politischem Engagement vgl. Nagel, A.: Martin Rade — Theologe und Politiker des Sozialen Liberalismus. Eine politische Biographie (= Religiöse Kulturen der Moderne, Bd. 4), Gütersloh 1996. Rade: Beitrag, 14. Rade berief sich dabei auf die Seligpreisung der Friedensstiftenden in der Bergpredigt (Mt 5,9). Ebd. Vgl. Rade: Nordmarkenpolitik, 42. Vgl. Rade, M.: Die deutsche Schule im preußischen Polen, in: CW 16 (1902), 1 0 6 8 - 1 0 7 4 ; ders. (unter dem Pseudonym Dr. Martin Strahl): Die Polenfrage in Preußen, in: Die Zeit (Wien), Nr. 414 vom 6. September 1902; Nr. 416 vom 20. September 1902. Rade: Nordmarkenpolitik, 51.

Harnack und Rade im Bemühen um Völkerverständigung

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Einige Jahre später plante er, nach Posen zu übersiedeln. Rade verstand dieses Unternehmen als einen „Kolonisationsversuch". 5 2 9 Indem er in eigener Person deutsche Kultur in diese Provinz zu bringen beabsichtige, wollte er „im Osten stärkend und verbindend wirken", 5 3 0 und sich zugleich in preußischer Landeskirche und preußischem Staat stärker engagieren. 5 3 1 Dieser Plan, zu dem sich H a r n a c k wie viele der F C W ablehnend äußerte, 5 3 2 zerschlug sich schließlich, weil sich das H a u s von Familie Rade in M a r b u r g nicht verkaufen ließ. 5 3 3 Rades Engagement für die dänische Minderheit in Nordschleswig entsprang ähnlichen Motiven. Auch dort wehrte sich dieser Bevölkerungsteil dagegen, d a ß in der Schule und vor allem im Religionsunterricht der Gebrauch der dänischen Sprache untersagt worden war. Die deutschen Behörden, um ein Zurückdrängen der dänischen Bestrebungen nach größerer Autonomie mit oft recht rüden Methoden bemüht, reagierten mit Ausweisungen. Rade hatte die Verhältnisse in Nordschleswig schon längere Zeit aufmerksam verfolgt und beispielsweise dem jungen schleswigschen Theologen Johannes Tiedje die C W für eine kritische Auseinandersetzung mit der dortigen deutschen Politik geöffnet. 5 3 4 Die Ausweisung des Lehrers und Historikers H a n s Viktor Clausen am 9. August 1910 n a h m Rade zum Anlaß, persönlich Stellung zu beziehen. War ihm kurz zuvor auf dem „Weltkongreß für freies Christentum und religiösen Fortschritt" in Berlin das Bemühen religiöser Gruppierungen um Frieden und internationale Verständigung als Konsequenz aus dem Evangelium deutlich vor Augen getreten, so daß er die Forderung an seine Glaubensgenossen aufstellte, d a ß Evangelium könne nun „gar nicht mehr anders" verstanden werden „als religiös-sozial, d. h. aber international",535 so erlebte er nun ein diesen Bestrebungen entgegengesetztes Vorgehen deutschen Behörden. 5 3 6 Auf einer Titelseite der C W veröffentlichte er einen flammenden Aufruf an patriotisch gesinnte Deutsche, sich gegen die „selbstmörderische Praxis" in Nordschleswig zusammenzuschließen. Die dortige Politik verstoße nicht nur 529 530 531 532 533

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535 536

Rade: Verlegung, 271. Vgl. auch ders.: Uebersiedelung, 299f. Rade: Verlegung, 271. Vgl. Rathje, 172 f. Vgl. Nr. 436. In der Notiz: In eigener Sache, in: AdF, Nr. 31 (12. April 1910), 340, teilte Rade kurz mit, daß sich der Plan, nach Posen zu gehen, zerschlagen habe. Er hatte bereits in den Notizen: Die Verlegung, 270, und Uebersiedelung, 299, darauf hingewiesen, daß der Umzug vom Verkauf des Hauses in Marburg abhänge. Da sich herausstellte, daß das Haus nicht zu verkaufen war, scheiterte dieser Plan. Vgl. auch Rathje, 172 f. Tiedje, J. (zunächst anonym erschienen): Die Zustände in Nordschleswig, in: CW 23 (1909), 5 7 8 - 5 8 8 , 6 0 3 - 6 1 4 , 6 9 7 - 7 1 4 . Vgl. Ammundsen, W./Rade, M.: Deutsche und Dänen, in: ebd., 4 3 7 - 4 4 2 ; Rade: Nordmarkenpolitik, 43ff., 54ff. Rade: Beitrag, 15. Den Zusammenhang zwischen Weltkongreß und Ausweisung Clausens hob Rade selbst hervor. Vgl. Rade: Nordmarkenpolitik, 58f.; ders.: Quousque tandem! Wie lange noch!, in: CW 24 (1910), 817.

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Einleitung

gegen die „Gebote der Klugheit", sondern ebenso gegen die „Forderungen der M o r a l " und bedrohe durch ihre fortwährende Kränkung der Dänen „auf die Dauer das Deutschtum mit schwerem Schaden". Deshalb sollte ein „Verein zum Schutze der deutschen Ehre in der deutschen N o r d m a r k " gegründet werden, um diese Politik einer der „dunkelsten Episoden der neudeutschen Reichsgeschichte" energisch zu bekämpfen. 5 3 7 Argumentierte Rade hier mit dem Ansehen Deutschlands und seiner Glaubwürdigkeit als eines Staates, der das Christentum zu seinen Grundlagen rechnete, so unterstützte er auf der anderen Seite die Bestrebungen der Dänen in Nordschleswig um Erhalt ihrer kulturellen Eigenart, weil er diese als Bereicherung für das deutsche kulturelle Leben verstand. „Um ein ,Eindeutschen' der Dänen kann und soll es sich nicht handeln. Man lasse ihnen ihre Sonderkultur und begreife endlich, daß ein solches Element im Staate, recht verstanden und verarbeitet, uns nur bereichert. Das große deutsche Reich soll seine Fremdvölker vertragen l e r n e n . " 5 3 8 Rade verstand sich als vaterlandsliebenden Deutschen; doch aufgrund seiner ethischen Grundlagen lehnte er jeden überzogenen Nationalismus a b . 5 3 9 Wie der einzelne Christ sich für seine Mitmenschen einsetzen solle und deutsche Staatsbürger sich gegenüber den Aufgaben des Staates verantwortlich fühlen und entsprechend handeln sollten, 5 4 0 so forderte Rade von Deutschland als Nation, die sich großer kultureller Reichtümer rühme, verantwortungsbewußtes Verhalten gegenüber der Menschheit. Dieser Nationalismus, der sich vom herrschenden „Pseudonationalismus" 5 4 1 durch seine humanitäre, vom deutschen Idealismus geprägte Ausrichtung unterscheide, besitze eine doppelte Stoßrichtung: Er bemühe sich innenpolitisch um Ausgleichung der sozialen Gegensätze und um gerechtes Verhalten gegenüber nationalen Minderheiten. 5 4 2 Außenpolitisch sei er universalistisch orientiert, da „das Nationale nur sittlichen Wert hat im innigsten Zusammenhang mit dem Internationalen".543 537

Ebd. Vgl. den Satzungsentwurf, in: Rade: Verein, 8 5 7 , in dem als Ziel des Vereins genannt wurde, er wolle „die deutsche Ehre schützen gegen alle Gefahren, mit denen der gegenwärtige Z u g unserer inneren Politik sie bedroht." Dies sollte vor allem durch Öffentlichkeitsarbeit bezüglich der Situation in Nordschleswig geschehen. Vgl. Rade, M . : Kleine Mitteilungen, in: C W 2 5 ( 1 9 1 1 ) , 3 8 2 , w o Rade Ausweisungen — ähnlich wie die Todesstrafe — nur als ultima ratio staatlichen Handelns billigen wollte und jeden anderweitigen Einsatz dieses Mittels als unsittlich ablehnte. „Wo ein Staat Ausweisungen zur Regel m a c h t und deren Anwendung seinen untergeordneten Organen anheim stellt, gibt er etwas von seiner moralischen Würde preis. Er gefährdet seine Ehre! Gastfreundschaft ist uraltes Gut der gesitteten Menschheit; im heutigen Völkerverkehr wirkt ihre leichtfertige Verletzung als Zeichen der Schwäche oder als R o h e i t . "

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Rade, M . : Nordschleswig und Christliche Welt, in: C W 2 4 ( 1 9 1 0 ) , 1 1 5 9 . Vgl. Rade: Nationale Gesinnung, 4ff., bes. 6. Vgl. Rade: Nordmarkenpolitik, 4 2 . Rade: Nationale Gesinnung, 18. Ebd. Ebd., 16. Konkret forderte R a d e unter diesem Aspekt das Bemühen um „ein anständiges Verhältnis" zu Frankreich und Großbritannien, ein Bemühen, das er als „heilige Pflicht" apostrophierte, und um vertrauenschaffendes Verhalten besonders gegenüber kleineren

539 540 541 542 543

Harnack und Rade im Bemühen um Völkerverständigung

87

D e n F C W g e g e n ü b e r v e r t e i d i g t e R a d e sein N o r d s c h l e s w i g - E n g a g e m e n t als e i n e n Teil seiner B e m ü h u n g e n u m d e n F r i e d e n . O h n e Pazifist sein zu w o l l e n , e r b l i c k t e e r i m e w i g e n F r i e d e n eine Idee, „die in d e r A n n ä h e r u n g sich v e r w i r k l i c h t . " 5 4 4 E r s a h es als seine P f l i c h t a n , sich als D e u t s c h e r für „eine u n v e r k e n n b a r e F r i e d e n s g e s i n n u n g zu b e t ä t i g e n . " 5 4 5 Z w a r g e b e d e r c h r i s t l i c h e keine k o n k r e t e n H a n d l u n g s a n w e i s u n g e n

für P o l i t i k u n d s o z i a l e s

Glaube

Verhalten,

d o c h in e i n e r Z e i t , in d e r d e m S t a a t e i n e s o h o h e B e d e u t u n g z u k o m m e u n d d e r „ K a m p f u m d e n S t a a t [ . . . ] d i e L e b e n s f r a g e d e r N a t i o n " d a r s t e l l e , sei d i e „ r e c h t e u n d w ü r d i g e " G e s t a l t u n g d e r V e r h ä l t n i s s e zu d e n

Nachbarvölkern

eine „ e i n f a c h e [ . . . ] K o n s e q u e n z des G e b o t e s d e r N ä c h s t e n l i e b e " . 5 4 6 D i e G r ü n d u n g des „Vereins z u m S c h u t z e d e r d e u t s c h e n E h r e in d e r N o r d m a r k " s c h e i t e r t e a n m a n g e l n d e r R e s o n a n z . D a r a u f h i n t r a t R a d e d e m „Verein für d e u t s c h e F r i e d e n s a r b e i t in d e r N o r d m a r k "

bei, o h n e d a ß e r sich

j e d o c h i n t e n s i v e r e n g a g i e r t h ä t t e . 5 4 7 U m die „ d e u t s c h e O e f f e n t l i c h k e i t

darin über

e i n s c h l ä g i g e F ä l l e in N o r d s c h l e s w i g s o u n p a r t e i i s c h , r ü c k s i c h t s l o s u n d r e s t l o s als m ö g l i c h " a u f z u k l ä r e n , 5 4 8 g r ü n d e t e er einen

„Grenzmarkenkorrespondenz"

g e n a n n t e n P r e s s e d i e n s t als „ K a m p f o r g a n " , d e r a m 1 2 . S e p t e m b e r 1 9 1 0

zum

e r s t e n M a l e r s c h i e n . 5 4 9 R a d e e r h i e l t bei d i e s e m E n g a g e m e n t t a t k r ä f t i g e U n t e r s t ü t z u n g d u r c h H a n s D e l b r ü c k , 5 5 0 stieß bei H a r n a c k u n d d e m g r ö ß t e n Teil Nachbarstaaten sowie Mitwirkung an Bestrebungen um bessere internationale Verständigung. Ebd., 19. 5 4 4 Rade: Verständigung, 371. Zu Rades ambivalenter Haltung zum Pazifismus vgl. Nagel, 193 ff. 5 4 5 Rade: Verständigung, 371. 5 4 6 Ebd., 371 f. 5 4 7 Rade: Nordmarkenpolitik, 61 ff. Rade schrieb rückblickend — wobei er wohl durch den tatsächlichen Gang der Ereignisse beeinflußt wurde — es sei ihm nie Ernst mit dieser Vereinsgründung gewesen. Er habe nur „durch solche konkreten Vorschläge" seinen „Willen recht nachdrücklich und unmißverständlich offenbaren" wollen. Ebd., 60. Vgl. Leppin, 43 ff. 5 4 8 Rade: Verein, 857. 549 Vgl. Rade: Nordmarkenpolitik, 72, wo Rade die „Grenzmarkenkorrespondenz" als „Kampforgan" charakterisierte, das das Ziel habe, „den Bann einer einseitigen Berichterstattung, wie sie die deutsche Öffentlichkeit beherrscht, zu brechen". Vgl. ders.: Zur Verantwortung, in: Stimmen aus Nordschleswig, Heft 2, 1910/11, 12, wo Rade erläuterte, die Grenzmarkenkorrespondenz nehme „den Kampf auf" gegen die „einseitige und [...] irreführende Berichterstattung" über die Situation in Nordschleswig. Vgl. auch den Aufruf zur finanziellen Unterstützung der Grenzmarkenkorrespondenz, abgedruckt in: Grenzmarkenkorrespondenz, Nr. 4, und in: PrJ 142 (1910), 5 7 9 f . , der u. a. von Arthur Bonus, Hans Delbrück, Eugen Diederichs, Edmund Husserl, Friedrich Naumann und Walter Schücking, nicht jedoch von Harnack unterzeichnet wurde. 5 5 0 Delbrück, der laut Leppin, 52, den Aufruf zur Unterstützung der Grenzmarkenkorrespondenz verfaßt hatte, war Mitglied des Komitees, das die dadurch gesammelten Gelder verwaltete. Vgl. Delbrück, H.: Weiteres vom Hakatismus, in: PrJ 143 (1911), 3 7 3 - 3 7 6 . Delbrück verteidigte Rade gegen Kritik, wie z. B. die der „Hamburger Erklärung" vom Januar 1911, die von Mitgliedern des „Deutschen Vereins", der für ein Zurückdrängen der dänischen Interessen in Nordschleswig arbeitete, initiiert worden war. In ihr wurde Rade vorgehalten, er sei in Bezug auf den Charakter der dänischen Bestrebungen in Nordschleswig „irregeführt" worden. Diese wären keineswegs „lediglich .kultureller'

Einleitung

88

der F C W j e d o c h auf A b l e h n u n g . Kritik e r h o b sich v o r a l l e m a u s d e m Kreis der F C W in P o s e n , der b e a n t r a g t e , d i e G r e n z m a r k e n k o r r e s p o n d e n z der C W nicht weiter beizulegen.551 Für R a d e g a b d i e s e Kritik A n l a ß zu ü b e r l e g e n , o b er s e i n p o l i t i s c h e s E n g a g e m e n t s t ä r k e r v o m Kreis d e r F C W t r e n n e n u n d d e n V o r s i t z d i e s e r Vereinig u n g n i e d e r l e g e n s o l l t e . 5 5 2 Er k ü n d i g t e a n , s i c h v o n s e i n e n „ p o l i t i s c h e n E x t r a v a g a n z e n " , 5 5 3 d i e n u r a l s z e i t w e i l i g e g e p l a n t g e w e s e n w ä r e n , 5 5 4 z u g u n s t e n der F C W z u r ü c k z u z i e h e n . D a es R a d e z u d e m n i c h t g e l a n g , M i t a r b e i t e r in S c h l e s w i g zu finden, die die G r e n z m a r k e n k o r r e s p o n d e n z mit zuverlässigen Informat i o n e n v e r s o r g t h ä t t e n , 5 5 5 s t e l l t e er n a c h der A u s g a b e v o n N u m m e r 15 v o m 2 6 . O k t o b e r 1 9 1 1 ihr E r s c h e i n e n ein.

551

552 553 554

555

Art", sondern zielten „auf nichts anderes als eine Losreißung Nordschleswigs von unserem deutschen Vaterlande!" (Zitiert nach Leppin, 111) Delbrück hatte sich bereits früher engagiert gegen die deutsche Nationalitätenpolitik in Nordschleswig (wie auch gegenüber den Polen) gewandt und namentlich die Ausweisungspraxis scharf kritisiert. Diese Haltung hatte ihm ein Disziplinarverfahren eingetragen. Vgl. Thimme, A.: H a n s Delbrück als Kritiker der wilhelminischen Epoche ( = Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Heft 6), Düsseldorf 1955, 77ff., bes. 96f. Delbrück plante 1911 sogar, Rade für den Friedensnobelpreis vorzuschlagen. Vgl. den Brief Delbrücks an Rade vom 1. Juli 1911, in: Rade-Nachlaß, UB Marburg, Signatur Hs. 839. Kessler, K.: Christliche Welt und Nordmarkenpolitik. Eine Stimme aus der Ostmark, in: CW 25 (1911), 63ff. Kessler, der Sprecher der opponierenden FCW, begründete die Ablehnung der Grenzmarkenkorrespondenz einerseits mit Bedenken gegen die Haltung Rades in der Nordschleswig-Problematik (64), die aus einem einseitigen Verständnis der Grundsätze ,,christlich-sittliche[r] Politik" (65) resultierten. Dabei werde der Gedanke der Menschenrechte überbetont bei gleichzeitiger Vernachlässigung von Vaterlandsliebe, Nationalismus und Autorität. Andererseits lehnte Kessler das Einbeziehen der CW als einer ,,religiös-theologische[n] Zeitschrift" in die Politik ab. „Das aber schadet der Religion. Die Religion ist ein Reich reiner Innerlichkeit, in das man sich flüchten will, wenn man in der Unrast des Parteitreibens müde geworden ist. Greift man zur Christlichen Welt, so will man eine reinere Luft atmen als in den politischen Tageszeitungen. Wer die Religion ins Parteitreiben hinein zieht, wird auch ihrer wahren Aufgabe nicht gerecht. Die Religion will neue Menschen schaffen, sie ist etwas Innerlich-Persönliches. [...] Die Religion kann die Politik nur mittelbar beeinflußen dadurch, daß sie Menschen bekehrt [...] Bekehrte Christen werden auch christliche Politik treiben." (65) Vgl. Rade: Ost- und Nordmark, 384. Besonders Kesslers quietistisches Verständnis von Religion stieß auf vehementen Widerspruch Rades. Er verstehe Religion als „Sammlung in Gott [...] gewiß um Ruhe zu finden für unsre Seele, aber wiederum zur Tat hervorzubrechen in Kraft. Beschreibe du die Religion als die reine Ruhe und Innerlichkeit, ich will sie mit gleichem Recht beschreiben als reine Unruhe und Aeußerung." Rade, M.: Z u r Verantwortung, in: C W 25 (1911), 68. Aufgrund seiner Ansicht, daß religiöse und ethische Überzeugungen zu aktivem Handeln führen müßten, habe die CW Stellung bezogen in den sozialen und kirchlichen Kämpfen der Zeit. Ein Stillhalten gegenüber einem „System der Menschenausbeutung" könne nur „Sünde" sein. Ebd. Rade: Ost- und Nordmark, 384. Ebd., 386. Vgl. den Bericht von Engelhardt, E.: Die ordentliche Mitgliederversammlung der Vereinigung der Freunde der Christlichen Welt. Nürnberg, 27. September 1910, in: AdF, Nr. 34 (25. Oktober 1910), 378. Vgl. Leppin, 66.

H a r n a c k und R a d e im Bemühen um Völkerverständigung 15.2. Hilfe für das armenische

89

Volk

D a s M i s s i o n s b e w u ß t s e i n , mit d e m R a d e die C W g e g r ü n d e t hatte, äußerte sich a u c h d a r i n , d a ß er — u n d m i t i h m v i e l e d e r F C W

— direkte

Missionsarbeit

unterstützte. R a d e und H a r n a c k waren Mitglieder des Allgemeinen lisch-Protestantischen

Evange-

Missionsvereins.556

D a s größte missionarische E n g a g e m e n t der F C W , das charakteristisch R a d e und die C W war, galt den armenischen Christinnen und Christen.

für

Rade

h a t t e b e r e i t s 1 8 9 4 in d e r C W e i n e n A r t i k e l ü b e r d i e S i t u a t i o n d e r a r m e n i s c h e n K i r c h e v e r ö f f e n t l i c h t . 5 5 7 In d e n J a h r e n 1 8 9 6 u n d 1 8 9 7 w u r d e a u f d i e M a s s a k e r u n t e r d e n A r m e n i e r n in d e r T ü r k e i a u f m e r k s a m g e m a c h t . 5 5 8 I m f o l g e n d e n J a h r brachte die C W ausführliche Berichte über die Situation der christlichen A r m e n i e r u n d rief zu ihrer U n t e r s t ü t z u n g a u f . 5 5 9 R a d e u n d d i e ihn u n t e r s t ü t zenden Mitglieder

der F C W

fühlten sich für die „ H a n d l u n g s w e i s e

unserer

n a t i o n a l e n P o l i t i k m i t v e r a n t w o r t l i c h " 5 6 0 u n d b e m ü h t e n s i c h , in d e r Ö f f e n t lichkeit f ü r ein e n t p r e c h e n d e s V e r h a l t e n d e r d e u t s c h e n R e g i e r u n g

besonders

gegenüber der Türkei zu w e r b e n . 5 6 1

556

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558

559

560 561

R a d e und H a r n a c k waren seit 1898 zudem Mitglieder des Zentralverbandes dieses Vereins. R a d e legte dieses Amt 1908 nieder. Vgl. Rade, M . : Wir und der Allgemeine Evangelisch-Protestantische Missionsverein, in: AdF, Nr. 26 (20. November 1908), 249f. Der Verein wurde von der V F C W unterstützt; vgl. Rade, M . : Ostasiatischer Missionsverein, in: AdF, Nr. 14 (20. N o v e m b e r 1905), 123. Vgl. auch Nr. 208 und 4 2 3 f . Von einem Armenier: Die armenische Kirche unter türkischer Herrschaft, in: C W 8 (1894), 9 5 6 - 9 5 9 , 9 8 1 - 9 8 3 , 1 0 0 5 - 1 0 0 8 . Vgl. (anonym): Die Gräuel in Armenien, in: C W 10 (1896), 8 0 - 8 7 ; R a d e , M . : D a s armenische Hilfswerk, in: C W 11 (1897), 23; ders.: T h o u m a j a n , in: ebd., 1156—1158; vgl. ders.: Eine halbe Million Schweizer für die Armenier, in: ebd., 303 — 306, wo R a d e feststellte, daß die türkische Regierung „selbst diese entsetzlichen G r e u e l " gegen die Armenier „organisiert h a t " (303) und d a s mangelnde Eingreifen der Großmächte beklagte. (304) — Vgl. auch Lepsius, J . : Die vierte Konferenz des deutschen Hilfsbundes zur Linderung des Notstandes in Armenien a m 13. und 14. J a n u a r in Barmen, in: ebd., 87—89. Vgl. die anonym erschienenen, wahrscheinlich von P. Rohrbach verfaßten Artikel: Was der armenischen Kirche not thut, in: C W 12 (1898), 33 — 37; Innere Schwierigkeiten in der armenischen Kirche, in: ebd., 85 — 88; Äußere Schwierigkeiten für die armenischen Reformbestrebungen, in: ebd., 105 — 111. In einer Vorbemerkung zum ersten Artikel wies R a d e darauf hin, daß ihr Inhalt „Frucht eines in Armenien selbst mit gebildeten armenischen Klerikern und Laien gepflogenen G e d a n k e n a u s t a u s c h e s " sei. Ebd., 33. — Vgl. Naumann, F.: Z u r Armenierfrage, in: ebd., 1185—1188; R a d e , M . : Bessere Versorgung unsrer D i a s p o r a , in: C W 12 (1898), 1070: „ [ . . . ] aus dem innersten Armenien haben wir neue zuverlässige schreckliche Nachrichten. Wir bitten die Freunde und Leser herzlich, in der Teilnahme für d a s g r a u s a m zertretende, von allen Mächtigen verlassene Volk nicht müde zu werden." Rohrbach, P.: Armenien und Deutschland, in: C W 17 (1903), 206. Vgl. R a d e , M . : Lug und Trug in Konstantinopel, in: C W 11 (1897), 4 6 f . ; ders.: Die jüngsten Ereignisse im Orient, in: ebd., 198; Rohrbach, P.: Ein dringendes Wort für die Armenier, in: C W 12 (1898), 1 1 8 8 - 1 1 9 8 ; ders.: Unsre Türkenfreundschaft, in: ebd., 1160—1163; ders.: Weiteres zur Armenierfrage. 1. Die deutsche Politik und die Thatsachen, in: ebd., 1237—1239; N a u m a n n , F.: Z u r Armenierfrage, in: ebd., 1185 — 1188; ders.: Weiteres zur Armenierfrage. 2. D a s moralische Urteil in Deutschland und die That-

90

Einleitung

Durch Stefan Karapet Ter-Mkrttschjan entwickelte sich eine persönlichere Beziehung zu Armenien. Er w a r als junger Geistlicher von seiner Kirche, die sich bemühte, den Ausbildungsstand ihrer Geistlichen und Lehrer zu verbessern, zum Studium nach Deutschland gesandt worden und hatte ab 1 8 8 9 in Leipzig (vor allem bei F. Loofs), Berlin (u. a. bei H a r n a c k ) , Marburg und Tübingen studiert. 1 8 9 6 fragte er bei seinem einstigen Lehrer Loofs um Unterstützung weiterer zum Studium nach Deutschland gereister Armenier n a c h . 5 6 2 Er bat aber eindringlich d a r u m , diese Unterstützung möglichst geheim zu halten, da er andernfalls Repressalien von Seiten der russischen Regierung befürchtete. 5 6 3 Das gleiche Anliegen legte er Paul R o h r b a c h vor, der ihn auf seiner Armenienreise 1 8 9 7 besuchte. R o h r b a c h sprach auf dem Treffen der F C W in Eisenach am 12. O k t o b e r 1 8 9 7 über die Lage der armenischen Kirche und die dort existierenden Reformansätze. Er plädierte dafür, Stipendien einzurichten, um armenischen Theologen ein Studium in Deutschland zu ermöglichen. 5 6 4 Das daraufhin gegründete „Notwendige L i e b e s w e r k " , 5 6 5 das als Förderung der kulturellen Entwicklung des armenischen Volkes und damit der ganzen Kaukasusregion mit Ausstrahlungen weit darüber hinaus verstanden w u r d e , 5 6 6 sollte „für mehrere junge Theologen, die Theologen ihrer Kirche bleiben sollen und wollen, die Möglichkeit akademischen Studiums in Deutschland [ . . . ] schaffen, und zwar so, daß ihnen weder äußere politische Schwierigkeiten daraus erwachsen, noch ihre persönliche Empfindlichkeit wachgerufen w i r d . " 5 6 7 sachen, in: ebd., 1 2 3 9 - 1 2 4 2 ; Rade, M.: Schlußwort, in: ebd., 1242f.; Marti, K.: Zur Frage nach der Zukunft der Orients, in: ebd., 586—589. 5 6 2 Brief an F. Loofs vom 6./17. Oktober 1896, veröffentlicht in: Stephan, 68f. 5 6 3 Brief an F. Loofs vom 20. Dezember 1895/1. Januar 1896, in: ebd., 70 f. 564 Ygj Stier: Armenien, 188; ders.: Armenische Theologen in Deutschland, in: Der christliche Orient 25 (1925), 1 1 5 - 1 1 8 . 5 6 5 Vgl. Stier: Armenien, 188; ders.: Das notwendige Liebeswerk, in: AdF, Nr. 3 (15. März 1904), 17f. Am 7. Oktober 1908 konstituierte sich das Notwendige Liebeswerk als selbständiger Verein, dessen Geschäfte wie bisher von Ewald Stier geführt wurden. — Der unbestimmte und wenig aussagekräftige Name „Notwendiges Liebeswerk" war gewählt worden, um die von Karapet erbetene Geheimhaltung dieser Hilfsaktion zu gewährleisten. Vgl. Stier, E.: Martin Rade f , in: Mitteilungsblatt der Deutsch-Armenischen Gesellschaft, Nr. 7 - 8 (Mai 1940), 19. 5 6 6 Vgl. Rade, M.: Verschiedenes, in: CW 29 (1915), 610: „[...] nein wir sind als Bundesgenossen der Türken doppelt verpflichtet, den Armeniern in ihrem berechtigten Schutzund Fortschritts-Bedürfnis zu Hilfe zu kommen. [...] Verdoppeln wir unseren Eifer dafür, in der schlichten Überzeugung, daß die Armenier ein Volk sind und bleiben, das berufen ist in seiner Heimat eine Kultur zu entfalten, die auch für seine Nachbarn und für die herrschenden Staaten von Segen sein wird." 5 6 7 Stier: Armenische Theologen, 116. Vgl. Rohrbach, P.: Armenien und Deutschland, in: CW 17 (1903), 206f., wo — motiviert durch das Gefühl der Mitverantwortlichkeit für die deutsche Politik den Armeniern gegenüber — dazu aufgerufen wurde, „nach Kräften den Armeniern [zu] helfen, sich geistig und sittlich für die Zeit vorzubereiten, da Gott den Druck, unter dem sie jetzt erliegen, von ihnen nehmen wird. Das Beste, was wir haben und was, wir wir glauben, uns als Freunden der Christlichen Welt seinem Werte nach besonders am Herzen liegt, ist die aufrichtige religiöse und sittliche Bildung des Empfindens und des Verstands. Dem Zweck, diese Bildung begabten und tüchtigen Söh-

Harnack und Rade im Bemühen um Völkerverständigung

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D a d a s A r m e n i e n - E n g a g e m e n t nicht bei allen F C W Z u s t i m m u n g f a n d , 5 6 8 h a t t e m a n oft mit P r o b l e m e n zu k ä m p f e n , die angezielten 3 0 0 0 M a r k an j ä h r lichen Stipendiengeldern a u f z u b r i n g e n . 5 6 9 So k o n n t e n nur i n s g e s a m t fünf Studenten unterstützt w e r d e n . 5 7 0 D a s „ N o t w e n d i g e L i e b e s w e r k " sollte „ein W e r k d e r M i s s i o n " s e i n , 5 7 1 d a s d e r V e r b r e i t u n g des C h r i s t e n t u m s im Z u g e einer v o m P r o t e s t a n t i s m u s

be-

f r u c h t e t e n R e f o r m im O r i e n t dienen s o l l t e . 5 7 2 D a ß dieses V o r h a b e n in dieser F o r m fast u n m ö g l i c h zu v e r w i r k l i c h e n w a r , zeigte sich bald. D i e a r m e n i s c h e n S t u d e n t e n h a t t e n g r o ß e S c h w i e r i g k e i t e n , sich m i t d e r d e u t s c h e n w i s s e n s c h a f t lichen T h e o l o g i e a u s e i n a n d e r z u s e t z e n . 5 7 3 Sie — w i e a u c h K a r a p e t — stießen n a c h ihrer R ü c k k e h r in A r m e n i e n a u f g r o ß e W i d e r s t ä n d e , die in D e u t s c h l a n d erhaltenen Impulse u m z u s e t z e n . 5 7 4 U m ein eigenes Bild v o n den k i r c h l i c h e n Verhältnissen u n d den i n n e r k i r c h lichen Differenzen zu g e w i n n e n , p l a n t e n R a d e und H a r n a c k für d a s J a h r 1 9 0 5 eine R e i s e n a c h A r m e n i e n . 5 7 5 A u f g r u n d d e r u n s i c h e r e n politischen L a g e in

nen des armenischen Volkes erreichbar zu machen, ihnen die Möglichkeit zu geben, sie bei uns sich anzueignen, dann in ihrer Heimat sie anzupflanzen und Früchte tragen zu lassen, dem dient das notwendige Liebeswerk. Wir bitten herzlich, seiner ohne Ermüden zu gedenken!" 568 Ygi Stier: Armenien, 186; ders.: Liebeswerk, 236. 5 6 9 Vgl. Stier, E.: Das notwendige Liebeswerk, in: AdF, Nr. 21 (5. September 1907), 198; Rade, M.: Eine schwere Sorge, in: ebd., Nr. 4 (10. Mai 1904), 27f.; ders.: Halbjahresbericht, in: ebd., Nr. 12 (24. Juni 1905), 99f. 5 7 0 Stier: Armenien, 189. 5 7 1 Stier: Liebeswerk, 236. 5 7 2 Ebd.: „[...] wir sind es uns und unsrer Auffassung vom Christentum schuldig, daß wir die Gelegenheit, diese unsere Auffassung unter einem strebsamen, tüchtigen, besonders dafür vorbereiteten Volke zu verbreiten, uns nicht entgehen lassen. [...] Es handelt sich darum, der armenischen Kirche die Elemente einer besseren theologischen Bildung und einer tieferen religiösen Auffassung zuzuführen, damit sie fähig werde, sich von innen heraus nach den ihr eigentümlichen Bedingungen zu erneuern." Mit ähnlichen Argumenten hatte sich bereits Paul Rohrbach für das armenische Volk eingesetzt. Er hatte aus christlicher Solidarität wie auch aufgrund von aussichtsreichem Missionsbemühen Hilfe für diese Menschen eingefordert. Er flehte darum, sich „der furchtbaren Not in Armenien [zu] erbarmen. [...] Die Armenier sind das Einzige unter den nach Christus sich nennenden Völkern des Orients, aus dem unter der helfenden, erziehenden Mitarbeit des christlichen Abendlands in absehbarer Zeit ein wirkliches Kulturvolk, eine selbständige, lebenskräftige Nation werden kann. [...] Den Armeniern ein geistiges Kapital sammeln, sparen helfen, mit dem sie in jener bessern Zukunft sich auch innerlich emporarbeiten können", legte er den deutschen protestantischen Christinnen und Christen nahe. Rohrbach, P.: Ein dringendes Wort für die Armenier, in: CW 12 (1898), 1191f. 573 Vgl. Stier, E.: Das notwendige Liebeswerk, in: AdF, Nr. 21 (5. September 1907), 198ff. 5 7 4 Vgl. ebd., 199; ders.: Zum Gedächtnis von Bischof Karapet, in: CW 30 (1915), 1 5 2 - 1 5 4 , 2 0 7 - 2 1 0 ; Stephan, 12ff. 5 7 5 Nr. 377 und Nr. 388. Auch an F. Naumann und E. Stier als Mitreisende war gedacht. Vgl. Nr. 377 und Stier, E.: Das notwendige Liebeswerk, in: AdF, Nr. 21 (5. September 1907), 200 f.

92

Einleitung

Rußland und der Unruhen in Armenien 5 7 6 wurde dieser Plan jedoch aufgegeben. Dafür reiste 1908 Ewald Stier, der Geschäftsführer des Notwendigen Liebeswerks, dorthin und setzte sich anschließend für eine Fortsetzung der Arbeit des Hilfswerks ein. 5 7 7 Im Ersten Weltkrieg rief die CW angesichts der Deportationen der Armenier in der Türkei zu Hilfeleistungen für das armenische Volk auf. 5 7 8 Stier kritisierte scharf das Verhalten der mit Deutschland verbündeten Türkei und erklärte es für „Christenpflicht" der Deutschen, sich für die Armenier einzusetzen. 579 Der Tod Karapets 1915 ließ die direkte Verbindung nach Armenien abreißen. Die 1914 gegründete Deutsch-Armenische Gesellschaft übernahm einen Teil der Aufgaben des Notwendigen Liebeswerks. So beendete die Auflösung des Vereins, dem aufgrund der Inflation zudem die Geldmittel zur Fortführung seiner Arbeit fehlten, am 30. September 1920 dieses Engagement der FCW. 5 8 0

15.3. Deutsch-englische Verständigungsbemühungen vor dem Ersten Weltkrieg Die sich in den Jahren vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs zuspitzenden internationalen Krisen führten zu verstärkten Bemühungen um Frieden und Verständigung in kirchlichen Kreisen, an denen sich Rade und Harnack aktiv beteiligten. Das Verhältnis zwischen Deutschland und England wollte das 1908 gegründete „Vereinigte Kirchliche Komitee zur Pflege freundschaftlicher Beziehungen zwischen Großbritannien und Deutschland" verbessern. Rade, der sich seit längerem für die Friedensarbeit einsetzte, 581 erhoffte die Überwindung der Antagonismen zwischen den Staaten durch ihr Zusammenwachsen zu einer „Staatenfamilie". 5 8 2 In seiner programmatischen Charakter tragenden Rede „Machtstaat, Rechtsstaat, Kulturstaat" beschrieb er Macht als konstitutives Element des Staates. 5 8 3 Der Machtstaat, der sich notwendig auf ein „starkes Heer" stütze, entwickle sich im idealen Falle über den Recht setzenden und Recht schaffenden Staat zum Kulturstaat. S 8 4 Diese Entwicklung, die in der Staatenfamilie endete, werde durch die Ausbildung von Natio576

Vgl. Stephan, 22 ff. 577 Yg] N r _ 422; Stier: Liebeswerk, 236—238; ders.: Die Reformbewegung der armenischen Kirche, in: C W 22 (1908), 9 4 0 - 9 4 9 . 578 Eine außerordentliche einmalige Bitte für unbeschreibliches Elend, in: CW 30 (1916), 514. 579 Stier, E.: Armenien, in: AdF, Nr. 56 (8. Juli 1916), 649f. 580 Ders.: Armenische Theologen, 116f.; ders.: Armenien, 190. 581 Vgl. Rade, M.: Ein Schlußwort über Krieg und Frieden, in: C W 13 (1899), 973f.: „Der Krieg ist unter keinen Umständen ein Gut. Folglich soll man mit allen Mitteln den Frieden fördern und allerlei Tugenden im Frieden entwickeln. [...] Aller Kriegsenthusiasmus, alle Idealisierung des Krieges ist unmoralisch. [...] Er ist unter allen Umständen vom Uebel. Man soll sich auf ihn rüsten, wie auf ein andres Uebel, daß man bereit ist zur Abwehr." — Rade war 1908 Mitglied der „Deutschen Friedensgesellschaft" geworden. 582 Rade, Machtstaat, 511. 583 Ebd., 506; vgl. ebd., 512. 584 Ebd., 507f.

Harnack und Rade im Bemühen um Völkerverständigung

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nalstaaten behindert. 5 8 5 Z w a r sprach Rade dem Nationalstaat durchaus positive Aspekte z u , 5 8 6 wie er sich auch zu seiner nationalen Gesinnung bek a n n t e , 5 8 7 doch er warnte vor den „Phantasien eines politischen Nationalism u s " . 5 8 8 Aufgrund dieses Staatsverständnisses verteidigte er das Recht des Staates, seine Interessen notfalls auch in Form eines Krieges zu v e r t r e t e n . 5 8 9 Auf der Basis dieser Überzeugung plädierte Rade für Verständigung besonders mit Großbritannien. Angesichts der gewaltigen Interessengegensätze und des zwischen beiden Völkern herrschenden Mißtrauens seien Bemühungen um besseres Kennenlernen und vor allem um einen vom christlichen Glauben geprägten Umgang mit anderen Völkern von N ö t e n , der im Falle Großbritanniens durch die gemeinsamen christlich-kulturellen Grundlagen erleichtert würde.590 Ähnlich prinzipielle Äußerungen über seine politischen Ansichten legte H a r n a c k nicht vor. Unter dem Eindruck der soeben mit Hilfe deutscher Intervention beigelegten Krise um die Annexion Bosniens und der Herzegowina durch Österreich-Ungarn, die mit der Zusage auf Öffnung der Dardanellen für russische Kriegsschiffe verbunden gewesen war, wogegen Großbritannien protestiert hatte, äußerte er sich 1 9 0 9 zum künftigen Verhältnis zwischen Deutschland und England. Er betonte die enge Beziehung zwischen beiden Völkern, forderte eine „neue politische Ethik" und plädierte für eine Umwandlung des „nationalen Widerstreit[es] der Interessen in einen edlen Wetteif e r " . 5 9 1 Wie Rade forderte er Anstrengungen um besseres gegenseitiges Kennenlernen und um Bekämpfung des C h a u v i n i s m u s . 5 9 2 Dabei erkannte er der

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Ebd., 508. — Nach dem Erlebnis des Ersten Weltkriegs stand Rade dem Machtgedanken kritischer gegenüber und hob weit mehr auf den Staat als Recht-setzende und -schaffende Institution ab. .„Staat ist Macht.' Wie oft haben wir das hören müssen! Und das muß aus unserm sittlichen Besitz mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden. Denn Staat ist nicht Macht, sondern Recht. Und die Macht ist nur ein Mittel des Staates zum Dienst des Rechts. [...] Ohne Macht ist gewiß kein Staat möglich. Aber es muß für einen Staat möglich sein, auch mit geringer Macht sich nach innen und außen zu behaupten." Rade, M.: Nachwort des Herausgebers zu R. Schwemer: Noch einmal „Zur Schuldfrage", in: CW 34 (1920), 343. Rade: Machtstaat, 508. Ebd., 510: „Ich mag aber Niemandem an nationaler Gesinnung nachstehn. Ich liebe mein Volk wie der Apostel Paulus das seine." Rade fuhr — die zeitgenössische Politik Deutschland vor Augen — fort: „Ich glaube an mein Volk und bin überzeugt, daß es gesund genug ist, den Wahn eines falschen und fremden Patriotismus, in den es jetzt geraten ist, über kurz oder lang abzutun." Ebd. Ebd., 511. Vgl. Nagel, 201, die auf die Präzisierung Rades (ebd.) aufmerksam macht, daß er als Patriot nicht danach frage, ob dieser Krieg ein Verteidigungs- oder Angriffskrieg sei. Rade legte seine diesbezüglichen Ansichten dar in seinen Artikeln: Briten und Deutsche, in: CW 22 (1908), 1134—1139; Im Zeichen der Dreadnoughts oder im Zeichen des Kreuzes?, in: ebd. 23 (1909), 6 2 9 - 6 3 2 . Harnack, A.: Deutschland und England, in: CW 23 (1909), 5 5 6 - 5 5 9 ; auch in: RA 3, 1 9 6 - 2 0 6 . Zitat RA 3, 199f. (danach im Folgenden zitiert). Vgl. Nr. 441. Harnack: Deutschland und England, in: RA 3, 200 f.

94

Einleitung

Wissenschaft und hier in erster Linie der Geschichtswissenschaft, die wie die Religion „in ihren letzten Zielen stets die ganze Menschheit im Auge h a t " , eine besondere Aufgabe z u . 5 9 3 Ausgehend von seiner Hochschätzung der historischen Erkenntnis, der er eine eminent praktische Bedeutung zusprach, da ihr Z w e c k darin bestehe, Hilfen zur Bewältigung des Lebens in der Gegenwart zu g e b e n , 5 9 4 müßten die Wissenschaft und ihre Vertreter erziehend und führend auf das jeweilige Volk einwirken. So würden sie „für den Weltfrieden das Größte l e i s t e n . " 5 9 5 Diese optimistische Einschätzung der politischen und gesellschaftlichen Wirksamkeit von wissenschaftlicher Arbeit und ihren Protagonisten, die sich mit dem Prestige und der Eigenwahrnehmung der Professorenschaft im wilhelminischen Deutschland als geistiger Elite wie auch ihrem Ansehen in der Öffentlichkeit d e c k t e , 5 9 6 verkannte allerdings die realen politischen Verhältnisse und überschätzte die Einflußmöglichkeiten der Wissenschaftler. Im Zuge der Verständigungsbemühungen im kirchlichen Umfeld nahm Rade am Besuch von 98 deutschen Vertretern aus protestantischen, katholischen und freikirchlichen Kreisen Mitte 1908 in England und Schottland t e i l . 5 9 7 Er berichtete anschließend über diese R e i s e 5 9 8 und ordnete sie in die Bemühungen um Abbau des Mißtrauens auf beiden Seiten ein. Diese „Gesinnungsarbeit" sei „ein Beitrag zur Politik unsers Volkes und zur Politik der Völker" und diene dem Ziel des Weltfriedens. 5 9 9 Beim Gegenbesuch britischer Kirchenvertreter in Deutschland im folgenden J a h r 6 0 0 hielt Harnack eine Rede über „Internationale und nationale christliche Literatur", in der er über den gemeinsamen geistigen Besitz sowie gegenseiti-

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595

Ebd., 2 0 1 . Die Geschichtswissenschaft „untersucht die Vergangenheit, um über die Gegenwart zu orientiren und damit auch über die Zukunft zu belehren." Manuskript „Kirchengeschichte I " , Bl. 3, in: K 18. Z u H a r n a c k s Ansichten von den Aufgaben der (Geschichts-) Wissenschaft vgl. o. S. 8 0 und Jantsch, 3 2 ff. H a r n a c k : Deutschland und England, in: R A 3, 2 0 1 .

Vgl. Schwabe, 11 f. 597 Vgl. Nr. 4 2 2 ; Bornemann, W.: Die Friedensfahrt deutscher Kirchenmänner nach England. Skizzen zum Andenken und Nachdenken, Gießen 1 9 0 8 , und den Bericht: Der Frieden und die Kirchen. Z u r Erinnerung an den Besuch in England, abgestattet von Vertretern der Deutschen Christlichen Kirchen v o m 2 6 . Mai bis 3. Juni 1 9 0 8 . Einschließlich des Besuchs in Schottland, v o m 3. bis 7. Juni 1 9 0 8 . Peace and the Churches. Souvenir volume of the Visit t o England o f Respresentatives of the German Christian Churches M a y 2 6 t h to June 3rd, 1 9 0 8 . Including the Visit to Scotland, June 3rd t o 7th, 1 9 0 8 , L o n d o n - N e w York-Toronto-Melbourne o. J . [ 1 9 0 8 ] , 596

598

599 600

Rade, M . : Deutsche Kirchenmänner in Großbritannien. 2 5 . Mai bis 7 . Juni, in: C W 2 2 (1908), 6 1 1 - 6 1 5 , 6 3 0 - 6 3 3 . Ebd., 6 1 4 f . Die Reise wurde dokumentiert in: Friendly relations between Great Britain and Germany. Souvenir volume of the visit to Germany of representatives of the British Christian Churches June 7th to 20th 1 9 0 9 . Edited on behalf of the Kirchliches Komitee zur Pflege freundschaftlicher Beziehungen zwischen Großbritannien und Deutschland von F. Siegmund-Schultze, Berlin o. J . [1909],

Harnack und Rade im Bemühen um Völkerverständigung

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gen religiösen und theologischen Austausch reflektierte und — gemäß seiner Überzeugung von der politischen Relevanz wissenschaftlicher Tätigkeit — für gemeinsame wissenschaftlich-theologische Arbeit als „eine der sichersten Grundlagen für die Gemeinsamkeit und für die Freundschaft der Nationen" plädierte. 6 0 1 Die Verständigungsbemühungen zwischen deutschen und englischen Kirchenmännern wurden gemäß der am 15. Juni 1909 verabschiedeten Resolution fortgesetzt in der institutionalisierten Form zweier Komitees. 602 Harnack hielt auf der Eröffnungsversammlung des britischen Komitees die Hauptrede. Er beschwor die „Blutsverwandtschaft" zwischen dem deutschen und englischen Volk und die „bei aller Verschiedenheit doch gleichartige Kultur". 6 0 3 Er versicherte seine britischen Zuhörer des Geistes „der Achtung und Bewunderung, der Freundschaft und des Friedens" gegenüber England, der ihn persönlich wie auch das deutsche Volk durchwalte. Er wies aber auch darauf hin, daß der Friede eine Frucht sei, um die man sich bemühen müsse. 6 0 4 Entsprechende Anstrengungen mit dem Ziel, „daß wir unsere geistigen Güter immer lebendiger austauschen, daß wir einander besser kennen lernen, daß wir in der brüderlichen Gesinnung immer wärmer werden", 6 0 5 seien erforderlich. Wie gefährdet die deutsch-englischen Friedensbemühungen trotz guten Willens auf beiden Seiten durch die politischen Ereignisse waren, zeigte die Marokkokrise. Rade mußte sich mit Pressemitteilungen auseinandersetzen, die die Friedensarbeit der beiden Kirchenkomitees für gescheitert erklärten. 6 0 6 Harnack äußerte sich auf Anfrage in einem Offenen Brief vom 17. Januar 1912 zur aktuellen Lage, in dem er zwar sein unerschüttertes Vertrauen zu den englischen Gesinnungsfreunden hervorhob, zugleich aber Englands Haltung während der Krise als Deutschland gegenüber „feindselig" verurteilte und der britischen Regierung einseitig die Hauptverantwortung für die Krise zuschrieb. 6 0 7 601

Internationale und nationale christliche Literatur. Rede beim Empfang der englischen Geistlichen in der Universität Berlin am 5. Juni, in: Internationale Wochenschrift 3 (1909), 1 3 - 2 3 ; auch in: RA 4, 2 4 - 4 0 , Zitat 23 bzw. 40. 602 Yg[ Friendly relations, 139 ff. In dieser Resolution wurde „die alte Stimme der Blutsverwandtschaft" ebenso beschworen wie „die ewige Stimme des Evangeliums der Liebe" und „eine dauernde Verkehrseinrichtung zwischen den christlichen Verbänden von England und Deutschland" gefordert, die „das gute Verhältnis zwischen den beiden Nationen" fördern solle. (Ebd., 141) Auf englischer Seite übernahm diese Aufgabe das 1910 gegründete „Associated Council of Churches in the British and German Empires for Fostering Friendly Relations between the two Peoples (British Council)", auf deutscher Seite das „Freie kirchliche Komitee zur Pflege freundschaftlicher Beziehungen zwischen Großbritannien und Deutschland". — Vgl. Wiegand, 188ff. 603 Harnack, A.: Der Friede die Frucht des Geistes, ursprünglich in: CW 25 (1911), 7 5 7 - 7 5 9 ; überarbeitet in: RA 3, 2 0 3 - 2 0 9 . Zitat 758 bzw. 207. 604 Ebd., 757, bzw. 203. 605 Ebd., 759, bzw. 209. 606 Vgl. Rade, M.: Kleine Mitteilungen, in: CW 26 (1912), 44f. 607 Harnack, A.: Offener Brief an Herrn Pastor Lie. Siegmund-Schultze, in: RA 5, 279—283; ursprünglich abgedruckt in: CW 26 (1912), 209f. Zitat RA 5, 281; vgl. ebd., 279, bzw. CW 26 (1912), 209. Harnack führte weiter aus, daß die englische Regierung „einen

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Einleitung

Die außenpolitischen Ereignisse, die Rüstungsanstrengungen Großbritanniens wie Deutschlands, besonders der Ausbau der deutschen Flotte, belasteten die kirchlichen Friedensbemühungen. Letztere sprachen im wesentlichen Pfarrer, kirchliche und weltliche Beamte, also nur einen kleinen Teil der Bevölkerung an und litten unter scharfer Kritik und Ablehnung durch weit größere Bevölkerungsteile. So war ihr Erfolg nur gering. 6 0 8

16. Stellung zu theologischen Neuansätzen Harnack und R a d e hatten ihr theologisches Wirken in dem Bewußtsein unternommen, den für ihre Zeit richtigen theologischen Ansatz gefunden zu haben und den christlichen Glauben in einer für die protestantischen Kirchen förderlichen und für die evangelischen Christinnen und Christen verständlichen Weise aussagen zu können. Neuansätzen in der protestantischen Theologie stand Rade trotzdem stets aufgeschlossen gegenüber. Er ließ sie in der CW zu Wort kommen, auch wenn er ihre Ansichten nicht teilte, und verstand es geradezu als Probe auf die Tragkräftigkeit der eigenen Position, inwieweit sie zur produktiven Auseinandersetzung mit neuentwickelten Ansätzen in der Lage w a r . 6 0 9 Als in den 90er Jahren die Vertreter der Religionsgeschichtlichen Schule, die die rein historische Betrachtung des Christentums weitergeführt hatten, ihre Thesen im Kreis der F C W präsentierten, 6 1 0 stellte er diesen „ J u n g e n " die CW als Diskussionsforum zur Verfügung. Er forderte „mehr persönliche Fühlung zwischen beiden ,Generationen'", um die „geistige Kraft, die in den Jüngern vorhanden ist, [...] für unser Blatt u[nd] die Gemeinde mehr in Thätigkeit zu bringen." 6 1 1 Auf der Jahresversammlung 1893 hatte sich Harnack, der dieser Richtung zunächst noch aufgeschlossen gegenüberstand, 6 1 2 vermittelnd und die Diskussion vorantreibend eingebracht. 6 1 3 Bald trat er den Thesen der Religionsgeschichtlichen Schule, die seinen eigenen Ansatz konsequent weitergeführt hatte, 6 1 4 jedoch vehement ablehnend gegenüber, ohne dabei die Bedeutung schweren Fehler" gemacht habe, falls sie den Frieden wirklich wollte, während Deutschland sich „von jeder Provokation und unfreundlichen Gesinnung frei" wisse und „viel Mäßigung bewiesen" habe. R A 5, 281, bzw. C W 26 (1912), 209. 608 vgl. Wiegand, 193. 6 0 9 Vgl. Nr. 128. 6 1 0 Auf dem Treffen der F C W a m 26. und 27. September 1893 hielt Wilhelm Bousset einen Vortrag zum T h e m a „Der geschichtliche Christus"; Johannes Weiß sprach über „ D i e gegenwärtige kirchliche L a g e " . Vgl. die Diskussion um mögliche Referenten für dieses Treffen in Nr. 126 ff. 6 1 1 Nr. 128. 6 1 2 Vgl. Nr. 127. 6 1 3 Vgl. Nr. 134 und Rathje, 85. 6 1 4 Vgl. Nr. 409 und Rade, M . : (Art.) Religionsgeschichte und Religionsgeschichtliche Schule, in: R G G , 1. Aufl., Bd. 4, 1913, 2191, w o Harnack als der „unfreiwillige Schöpf e r " der Religionsgeschichtlichen Schule charakterisiert wird.

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Stellung zu theologischen Neuansätzen

d e s S t u d i u m s a n d e r e r R e l i g i o n e n für d a s V e r s t ä n d n i s d e s C h r i s t e n t u m s prinzipiell z u l e u g n e n . 6 1 S D i e s e R i c h t u n g s c h i e n i h m d e n A b s o l u t h e i t s a n s p r u c h d e s C h r i s t e n t u m s , d a s für ihn „ n i c h t e i n e R e l i g i o n n e b e n a n d e r e n [ . . . ] , s o n d e r n d i e R e l i g i o n " s c h l e c h t h i n d a r s t e l l t e , 6 1 6 d u r c h d e s s e n E i n o r d n u n g in d i e R e l i g i o n s g e s c h i c h t e z u g e f ä h r d e n . Er w a r f ihr vor, in d e n R e l i g i o n e n

begegnende

A u s d r u c k s - u n d E r s c h e i n u n g s f o r m e n u n k r i t i s c h m i t d e r e n u r s p r ü n g l i c h e n Inhalten gleichzusetzen. Indem so Wandel und Fortschritt religiöser Lehren unb e r ü c k s i c h t i g t g e l a s s e n w ü r d e n , v e r w e c h s e l e sie S c h a l e u n d K e r n . 6 1 7 D e s h a l b hielt er a u c h d i e E r r i c h t u n g r e l i g i o n s g e s c h i c h t l i c h e r L e h r s t ü h l e für f a l s c h . 6 1 8 D a m i t e r r e g t e er d e n W i d e r s p r u c h R a d e s , d e r d a s S t u d i u m d e r R e l i g i o n s g e s c h i c h t e als u n v e r z i c h t b a r e n Teil d e r t h e o l o g i s c h e n A u s b i l d u n g b e u r t e i l t e u n d d a r u m d e n „ E i n l a ß d e r v e r g l e i c h e n d e n R e l i g i o n s g e s c h i c h t e in d e n O r g a n i s m u s der t h e o l o g i s c h e n F a k u l t ä t e n " f o r d e r t e . 6 1 9 S o w a r es nur k o n s e q u e n t ,

daß

R a d e bei s e i n e r B e r u f u n g z u m a u ß e r o r d e n t l i c h e n P r o f e s s o r d e n L e h r a u f t r a g erhielt, „ k l e i n e r e V o r l e s u n g e n a u s d e m G e b i e t e der s y s t e m a t i s c h e n T h e o l o g i e , speziell A p o l o g e t i k u n d R e l i g i o n s g e s c h i c h t e " z u h a l t e n . 6 2 0

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6.6 617

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RA 4, 53. Allerdings maß er dem keine allzu große Relevanz zu, da das Studium des Christentums „das Studium der übrigen Religionen nahezu ersetzt". RA 2, 172. RA 2, 172; vgl. ebd., 170; Harnack: Wesen, 47; ders.: Dogmengeschichte, 16. „Der Unfug, der auch sonst in der modernsten Geschichtsschreibung mit dem ,Milieu' getrieben wird [...], dringt auch in die Kirchengeschichte ein und wird uns dort als die ,religionsgeschichtliche Betrachtung' empfohlen. In dem ,Milieu' werden dann noch die barocken Züge mit besonderm Eifer aufgesucht und so erklärt, als hätte in ihnen das eigentliche Leben pulsiert. Wie wäre es, wenn heute einer in unsre Kirchen träte und daselbst dekorative Fruchtguirlanden, spielende Engel u[nd] dergl. ins Auge faßte, pünktlich nachwiese, woher diese Dinge kommen, und nun behauptete, die Gemeinde huldige noch einem heimlichen Naturdienst? Oder wenn er die religiösen Bilder, die wir brauchen, mit vieler Gelehrsamkeit auf ihre Ursprünge zurückführte, um dann zu erklären, die babylonisch-assyrische Religion sei unter uns noch nicht ausgestorben? Nicht wesentlich anders mutet uns manches an, was wir heute über Religionsgeschichte und näher über das Urchristentum zu lesen bekommen [...] Wer sich dagegen einen Sinn für das Produktive und Fortwirkende in der Geschichte bewahrt hat, der wird bei allem Interesse für die Formen Schale und Kern nie verwechseln können." RA 2, 313; vgl. RA 4, 191, und Harnack: Dogmengeschichte, 7. Vgl. hierzu Jantsch, 144ff.; Colpe, C.: Bemerkungen zu Adolf von Harnacks Einschätzung der Disziplin „Allgemeine Religionsgeschichte", in: Neue Zeitschrift für systematische Theologie und Religionsphilosophie 6 (1964), 51 — 69. Harnack, A.: Die Aufgabe der theologischen Fakultäten und die allgemeine Religionsgeschichte, in: RA 2, 164ff. Rade, M.: Religionsgeschichte, in: CW 15 (1901), 922. Vgl. Nr. 294. - Vgl. auch Nr. 250, wo Rade Harnack Vorhaltungen aufgrund seines Verhaltens auf der Eisenacher Tagung 1899 machte, die er auf Harnacks mangelnde Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit den „Jüngeren" zurückführte. Schreiben des Königlichen Kurators der Philipps-Universität an die dortige theologische Fakultät vom 5. Dezember 1904, in: Hessisches Staatsarchiv Marburg, Signatur 307a, Acc. 1950/1 A 14. Im Wintersemester 1904/05 hielt Rade eine Vorlesung über „Einleitung in die allgemeine Religionsgeschichte"; im Wintersemester 1905/06 hielt er sie in erweiterter Fassung unter dem Titel „Religion und Religionen". Vgl. Ausstellungskatalog, 81 f.

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Einleitung

Eine tiefergehende Differenz zum Bemühen der liberalen Theologen offenbarte die Diskussion um die dialektische Theologie, die ursprünglich von dieser ausgegangen war. Karl Barth hatte u. a. in Berlin bei Harnack, J. Kaftan und H. Gunkel, später in Marburg bei W. Herrmann studiert und nach seinem Examen bei Rade als Redaktionshelfer der CW gearbeitet. Unter dem Einfluß seiner Beschäftigung mit der Theologie Calvins und der Auseinandersetzung mit der sozialen Frage, die sich ihm durch die Situation der Arbeiter und Arbeiterinnen in Safenwil, wo er ab 1911 Pfarrer war, aufdrängte, entwickelte er eigene Positionen — zunächst in Richtung des religiösen Sozialismus. 621 Zur ersten größeren Auseinandersetzung mit seinen liberalen Lehrern kam es zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Sie richtete sich zunächst ausgerechnet gegen Rade, dessen im Vergleich zu anderen deutschen Theologen so maßvolle Haltung (s. u.) von Barth scharf angegriffen wurde. Barth empfand sie als „eine Enttäuschung, religiös geredet ein ,Ärgernis'", da sie von der „Voraussetzung" ausgehe, „daß Deutschland Recht hat in diesem Krieg" und „Vaterlandsliebe, Kriegslust und christlicher Glaube in ein hoffnungsloses Durcheinander geraten" seien. 622 Statt, wie es vom christlichen Standpunkt aus erforderlich wäre, unbedingt gegen den Krieg zu protestieren oder zumindest zu ihm zu schweigen, werde auch in der CW Gott für die deutsche Sache vereinnahmt. So habe die CW „in diesem entscheidenden Augenblick aufgehört christlich zu sein, sondern sich einfach dieser Welt gleichgestellt." 623 Während Barth prinzipiell abstritt, daß dem Krieg religiöse Bedeutung zugesprochen werden könne, betonte Rade, daß im „Erlebnis" des Krieges Gott für die Menschen erfahrbar werde. 6 2 4 Sein Bemühen, auch und gerade im Krieg Gottes Handeln zu erkennen und ihm nachzuspüren, lehnte Barth als unchristlich ab. Er beendete schließlich diese Auseinandersetzung mit der Begründung, daß der Rückzug von sachlichen Erörterungen auf ein subjektives Erlebnis eine weitere Diskussion unmöglich mache. 6 2 5 Nachdem Barth seine Auslegungen des Römerbriefs veröffentlicht hatte, 6 2 6 intensivierte sich die kritische Beschäftigung mit der dialektischen Theologie, der Rade — getreu seinen herausgeberischen Maximen — die CW zur Verfügung stellte. 627 Die Treffen der FCW 1920 und 1921 wurden von dieser Dis621 622 623 624

625 626 627

Vgl. Schwöbel, Chr.: Einleitung, in: Barth-Rade, 21 ff. Brief vom 31. August 1914 an Rade, in: Barth-Rade, 95 f. Ebd., 96. Brief an K. Barth vom 5. September [Oktober] 1914, in: ebd., 109. Vgl. ebd., 110: „Gewiß, unser Volk hat den Krieg damals schon nicht anders empfunden, denn als ein Unglück, Aber eben als ein so großes ungeheures, daß ihm alles andere Denken und Fühlen verging über dem Einen: Gott." Brief an Rade vom 14. November 1914, in: ebd., 117ff. Barth, K.: Der Römerbrief, Bern 1919, 2. Aufl. 1922. Vgl. z. B. Gogarten, F.: Zwischen den Zeiten, in: CW 34 (1920), 3 7 4 - 3 7 8 ; Bultmann, R.: Religion und Kultur, in: ebd., 417 - 421, 435 - 439, 450 - 453; Jülicher, A.: [Rez. zu Barth, K.: Römerbrief] Ein moderner Paulus-Ausleger, in: ebd., 453—457, 466—469; Gogarten, F.: Vom heiligen Egoismus des Christen, in: ebd., 546—550; Loew, W.: Noch einmal Barths Römerbrief, in: ebd., 586—587; Hartmann, H.: Zur inneren Lage des Christentums, in: CW 35 (1921), 8 4 - 8 8 , 1 0 5 - 1 0 7 , 1 2 0 - 1 2 5 ; Gogarten, F.: Die Not der

Stellung zu theologischen Neuansätzen

99

kussion beherrscht. 6 2 8 Die Gegensätze zwischen Barth und Harnack traten zum ersten Mal 1920 auf der Aarauer Studentenkonferenz, bei der beide referierten, deutlich zutage. Harnack zeigte sich erschüttert von der Theologie Barths, die er nicht nachvollziehen konnte. 6 2 9 Auf dem Herbsttreffen der FCW 1921 wehrte er sich entsprechend heftig, als E. Foerster die These aufstellte, sein Buch über Marcion 6 3 0 unterstütze Barths Theologie. 6 3 1 Rade lud Barth ein, 1922 vor den FCW zu sprechen. Barth ergriff die Gelegenheit, dabei seine Position zugespitzt zu umschreiben:

628

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631

Absolutheit, in: ebd., 142—145; Troeltsch, E.: Ein Apfel vom Baume Kierkegaards, in: ebd., 1 8 6 - 1 9 0 ; Albers, A.: Johannes Müller und Karl Barth. Was sie uns heute sind, in: ebd., 498—501; Haering, Th.: Zu dem Wort über Johannes Müller und Karl Barth, in: ebd., 575f.; Hartmann, H.: Die religiöse Krisis, in: ebd., 7 5 4 - 7 5 8 , 7 8 9 - 7 9 4 ; Bonus, A.: Gogarten, in: CW 36 (1922), 58 — 61; Heumann, H.: Göttliches und Menschliches. Weiteres zu Gogarten, in: ebd., 9 0 - 9 4 ; Bultmann, R.: Karl Barths „Römerbrief" in zweiter Auflage, in: ebd., 3 2 0 - 3 2 3 , 3 3 0 - 3 3 4 , 3 5 8 - 3 6 1 , 3 6 9 - 3 7 3 ; Gogarten, F.: Wider die romantische Theologie, in: ebd., 498—502. Vgl. Unsere Wartburgtagung, in: AdF, Nr. 69 (4. November 1920), 757f.; Rade, G.: Eisenach 1920, in: CW 34 (1920), 670f., und den Abdruck der auf dem Treffen 1920 gehaltenen Vorträge: Gogarten, F.: Die Krisis unserer Kultur, in: CW 34 (1920), 7 7 0 - 7 7 7 , 786—791; Bultmann, R.: Ethische und mystische Religion im Urchristentum, in: ebd., 725—731, 738—743; Mensing, C.: Frömmigkeit als Heiligung der Gefühle, in: ebd., 705—710. Vgl. weiter: Sonderversammlung der FCW, in: AdF, Nr. 71 (10. November 1921), 777—779; Bund für Gegenwartchristentum, in: ebd., 782—786, sowie die auf dem Treffen 1921 gehaltenen Vorträge: Foerster, E.: Marcionitisches Christentum. Der Glaube an den Schöpfergott und der Glaube an den Erlösergott, in: CW 35 (1921), 809—827; Liebe, R.: Der Gott des heutigen Geschlechts und wir, in: ebd., 850—853, 866 — 868, 883-889. Harnack äußerte sich in einem Brief an Eberhard Vischer darüber, daß Barths Vortrag in der Rückschau „nichts von seinen schweren Anstößen [verliert] — im Gegenteil: er erscheint mir immer bedenklicher, ja in mancher Hinsicht empörender. Die Erwägung, daß sich diese Art Religion überhaupt nicht ins wirkliche Leben umsetzen läßt, sondern nur als Meteor, und zwar als ein zerplatzender, über ihm erscheinen kann, mildert den Eindruck wenig, da man sich immer wieder fragen muß, wie kann ein Pfarrer, der doch Seelsorger sein soll, so urteilen?" Zahn-Harnack, 415. Barth schrieb später über diese Begegnung: „Ich erinnere mich deutlich des Entsetzens, mit dem er sich in der Diskussion nach meinem Vortrag äusserte: seit Kierkegaard (ich höre noch den baltischen Klang des Namens in seinem Munde) sei die Sache nicht mehr so schlimm gemacht worden wie jetzt eben! — aber auch die grosse Vornehmheit, in der er dem so viel Jüngern und unbekannten Landpfarrer gegenüber Stellung nahm." Brief vom 23. Dezember 1935 (maschinenschriftlich) an Agnes Zahn-Harnack, in: K 26. Vgl. auch Barths Brief vom 20. April 1920 an seinen Freund Eduard Thurneysen, in dem er spöttisch über die Begegnung mit Harnack berichtete, in: Barth-Thurneysen 1, 379 f. Harnack, A.: Marcion. Das Evangelium vom fremden Gott. Eine Monographie zur Geschichte der Grundlegung der katholischen Kirche ( = Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur, Bd. 45), Leipzig 1921. Rade berichtete Barth, Harnack habe gesagt, er finde Barths „Ansichten ,übermütig, widerspruchsvoll, veraltet und unreif — da sie das nicht sind, werde ich das bei Seite schieben'." Brief an Barth vom 13. Oktober 1921, in: Barth-Rade, 161. Vgl. Barths Reaktion darauf in seinem Brief an Rade vom 29. Oktober 1921, in: ebd., 164f., und den Bericht über die Diskussion: Sonderversammlung der FCW, in: AdF, Nr. 71 (10. November 1921), 777.

100

Einleitung

„Wir sollen als Theologen von Gott reden. Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden. Wir sollen Beides, unser Sollen und unser Nicht-Können, wissen und eben damit Gott die Ehre geben. Das ist unsre Bedrängnis. Alles Andre ist daneben Kinderspiel." 632

Der Theologie stellte Barth die gleiche Aufgabe wie der Predigt. Sie habe „das Wort des Christus aufzunehmen und weiterzugeben" und so Glauben zu erwecken. 633 Diese Aufgabe könnten Menschen nicht erfüllen. Gott allein erwecke den Glauben. Da „von Gott nur Gott selber reden kann", die Theologie, da sie von Menschen betrieben werde, ihren Auftrag, von Gott zu reden, nicht erfüllen könne, bedeute dies „die sichere Niederlage aller Theologie und aller Theologen." 634 Sie unterscheide sich grundsätzlich von anderen Wissenschaften, 635 denn sie lasse sich nicht an den für diese gültigen Maßstäben messen, weil ihr Erkenntnisgegenstand, das Wort Gottes, gerade nicht — wie es bei anderen Wissenschaften der Fall sei — jedem Menschen, der die dazu nötigen geistigen Fähigkeiten besitzt, zugänglich und verständlich sei. 636 Die Theologie sei eine „Maßnahme der Kirche" 637 und diene der „Selbstprüfung" der Kirche. Sie gehe der Wahrheitsfrage nach, der „Frage der Übereinstimmung der der Kirche eigentümlichen Rede von Gott mit dem Sein der Kirche. Das Kriterium der christlichen Rede von der Vergangenheit und von der Zukunft her und mitten in der Gegenwart ist also das Sein der Kirche, d. h. aber Jesus Christus: Gott in seiner gnädigen offenbarenden und versöhnenden Zuwendung zum Menschen. Kommt die christliche Rede von ihm her? Führt sie zu ihm hin? Ist sie ihm gemäß? [...] So ist Theologie als biblische Theologie die Frage nach der Begründung, als praktische Theologie die Frage nach dem Ziel, als dogmatische Theologie die Frage nach dem Inhalt der der Kirche eigentümlichen Rede. [...] Indem sich die Kirche die Wahrheitsfrage in diesem dreifachen Sinn [...] sachgemäß stellt, bekommt diese ihre Selbstprüfung den Charakter eines wissenschaftlichen Unternehmens, das als solches selbständig neben andere menschliche Unternehmungen gleicher oder ähnlicher Art tritt: als diese besondere, die theologische ,Wissenschaft'." 6 3 8

Mit dieser Position unterschied sich Barth deutlich von Rade, Harnack und anderen liberalen Theologen, die Theologie gerade als gleichberechtigte Wissenschaft im Kanon aller anderen Wissenschaften verstanden. „Die Aufgabe der Theologie ist eins mit den Aufgaben der Wissenschaft überhaupt" 639 betonte Harnack gegen Barth. Die Berechtigung der so verstandenen, mit

632 633 634 635

636 637 638 639

Barth: Wort Gottes, 859f.; auch in: Anfänge, 199. Barth: Sechzehn Antworten, 89. Ders.: Wort Gottes, in: CW 26 (1922), 872, bzw. in: Anfänge, 217. Gerade „als Wissenschaft im Sinn der andern Wissenschaften hat die Theologie auf der Universität kein Daseinsrecht". Die theologische Fakultät stehe „genau jenseits des Randes der wissenschaftlichen Möglichkeiten". Ebd., 863, bzw. 204. Barth: Dogmatik, 8. Ebd., 2. Ebd., 2f. Harnack: Offener Brief, 142. Vgl. RA 2, 136. Vgl. dazu Schwöbel, Chr.: Einleitung, in: Barth-Rade, 41 ff.

Stellung zu theologischen Neuansätzen

101

Hilfe der historisch-kritischen Methode arbeitenden Theologie zu verteidigen, war das Anliegen seiner „Fünfzehn Fragen an die Verächter der wissenschaftlichen Theologie unter den Theologen", 6 4 0 mit der seine große öffentliche Auseinandersetzung mit Barth einsetzte. „Ist die Religion der Bibel, bzw. sind die Offenbarungen in der Bibel etwas so Einstimmiges, daß man in Hinsicht auf Glauben, Anbetung und Leben einfach von der ,Bibel' sprechen darf? Wenn sie es aber nicht sind, darf man die Feststellung des Inhalts des Evangeliums allein der subjektiven ,Erfahrung' bzw. dem ,Erlebnis' des Einzelnen überlassen, oder sind hier nicht geschichtliches Wissen und kritisches Nachdenken nötig?" 6 4 1

Barths Antwort auf diese Frage erhellt die Differenz bezüglich des Verhältnisses von Geschichte und Theologie: „Jenseits der ,Religion' und der ,Offenbarungen' der Bibel dürfte als Thema der Theologie auch die eine Offenbarung Gottes in Betracht kommen, geschichtliches Wissen' könnte uns dann freilich sagen, daß die Mitteilung des ,Inhalts des Evangeliums' jedenfalls nach dessen eigener Aussage nur durch eine Handlung dieses ,Inhalts' selbst sich vollziehen kann. Aber ,kritisches Nachdenken' könnte ja zu dem Ergebnis führen, daß diese Aussage des Evangeliums im Wesen der Sache (der Beziehung zwischen Gott und Mensch) begründet und also ernstlich zu respektieren ist. Die ,Wissenschaftlichkeit' der Theologie wäre dann ihre Gebundenheit an die Erinnerung, daß ihr Objekt zuvor Subjekt gewesen ist und immer wieder werden muß — was mit ,Erfahrung' und ,Erlebnis' an sich gar nichts zu tun h a t . " 6 4 2

Diese Argumentation beruhte auf Barths Überzeugung, daß die Offenbarung, das Wort Gottes an die Menschen, die mit Jesus Christus identisch sei, 643 ein „geschichtliches Ereignis" und damit unwiederholbar und einmalig, d. h. an einen bestimmten Ort und bestimmte Menschen gebunden sei. 644 Das Offenbarungsereignis sei aber gerade nicht „historisch", denn es sei für einen 640

641

642 643 644

In: C W 37 (1923), 6 - 8 ; auch in: RA 7, 5 1 - 5 4 , und Anfänge, 3 2 3 - 3 2 5 . Vgl. Nr. 589. Harnack hatte die Fragen — so schrieb er auf die Anfrage Barths, ob sie gegen ihn gerichtet seien (Postkarte vom 14. Januar 1923 an Harnack, in: K 26) — „niedergeschrieben auf Grund eines Gesamtkomplexes von Eindrücken, den ich im letzten Jahr [...] gewonnen habe und die mich mit Sorge für die Zukunft unserer wissenschaftlichen Theologie erfüllten. Von Ihnen habe ich im vergangenen Jahr [...] nur einen Artikel gelesen, der mich gleichzeitig zur Zustimmung und zu starkem Widerspruch nötigte. Aber gewiß dürfen Sie annehmen, daß sich meine Fragen nicht in letzter Linie auch an Sie richten [...] Ich kann mich daher nur freuen um der Sache willen, wenn Sie meine Fragen öffentlich beantworten wollen." Postkarte vom 16. Januar 1923, veröffentlicht in: Barth-Thurneysen 2, 135. Harnack: Fünfzehn Fragen, 6f. Dies war die erste von Harnacks Fragen. Die fünfzehnte und abschließende, in der er seine Position zusammenfaßte, lautete: „Gibt es [...] noch eine andere Theologie als jene, die in fester Verbindung und Blutsverwandtschaft steht mit der "Wissenschaft überhaupt? Und wenn es eine solche etwa gibt, welche Überzeugungskraft und welcher Wert kommt ihr zu?" Ebd., 8. — Die Diskussion zwischen Harnack und Barth von 1923 ist auch abgedruckt in: Anfänge, 323 — 347. Barth: Sechzehn Antworten, 89. Vgl. Barth: Dogmatik, 119f., 142. Ebd., 343; vgl. ebd., 347ff.

102

Einleitung

außenstehenden, nichtglaubenden Beobachter nicht als solches erkennbar. 645 Die Offenbarung habe sich, wie Barth betonte, mitten „in der menschlichen Geschichte und als Teilstück dieser Geschichte" ereignet. 646 Sie unterscheide sich aber grundsätzlich von der übrigen menschlichen Geschichte, indem sie „das abgeschlossene Geschehen, die erfüllte Zeit" darstelle. 647 Diese Zeit unterscheide sich „durch die verschiedene Stellung Gottes zu den Menschen" prinzipiell von aller anderen Zeit. 6 4 8 Sie sei in dieser Qualität einem neutralen Beobachter nicht zugänglich und verstehbar. Die Frage nach der historischen Gewißheit sei deshalb dem Offenbarungsgeschehen „gänzlich unangemessen". 6 4 9 Das Absehen von der grundsätzlichen Differenz zwischen den Zeiten und eine bloß immanente „Würdigung der Verschiedenheit der Zeiträume und der menschlichen Zeitinhalte" und damit ein Fallenlassen der Begriffes des Wortes Gottes warf Barth Harnack vor. 6 5 0 So konnte Barth der kirchengeschichtlichen Forschung nur den Rang einer „Hilfswissenschaft" zusprechen. Sie antworte „auf keine selbständig zu stellende Frage hinsichtlich der christlichen Rede von Gott und ist darum nicht als selbständige theologische Disziplin aufzufassen." 651 Zwar anerkannte Barth das Recht der historisch-kritischen Erforschung der Bibel, doch die „Unterschiede von einst und jetzt, dort und hier" hätten „im Wesen der Dinge keine Bedeutung". 6 5 2 Nicht die Geschichte, sondern die Gegenwart stellte Barth ins Zentrum seiner theologischen Arbeit. In einer „hermeneutischen Grundsatzerklärung" 653 betonte er, seine Aufmerksamkeit sei „darauf gerichtet, durch das Historische hindurch zu sehen in den Geist der Bibel, der der ewige Geist ist. Was einmal ernst gewesen ist, das ist es auch heute noch, und was heute ernst ist [...], das steht auch in unmittelbarem Zusammenhang mit dem, was einst ernst gewesen ist. [...] Geschichtsverständnis ist ein fortgesetztes, immer aufrichtigeres und eindringenderes Gespräch zwischen der Weisheit von gestern und der Weisheit von morgen, die eine und dieselbe ist." 6 5 4

Harnack dagegen maß der historischen Forschung grundsätzliche Bedeutung für dasVerständnis von Christentum und christlichem Glauben bei. Die

645 646 647 648 649 650 651 652 653

654

Ebd., 343. Ebd., 119. Ebd. Ebd., 150. Ebd., 343. Ebd., 150ff., Zitat 151 f. Barth: Dogmatik, 3. Ders.: Römerbrief, 3. Jüngel, E.: Die theologischen Anfänge. Beobachtungen, in: ders.: Barth-Studien ( = Ökumenische Theologie, Bd. 3), Göttingen 1982, 85. Barth: Römerbrief, 3. — Vgl. hierzu Graf, F. W.: Die „antihistorische Revolution" in der protestantischen Theologie der zwanziger Jahre, in: Vernunft des Glaubens. Wissenschaftliche Theologie und kirchliche Lehre. Festschrift zum 60. Geburtstag von W. Pannenberg, hrsg. von J. Röhls und G. Wenz, Göttingen 1988, 388ff.

Stellung zu theologischen Neuansätzen

103

Kirchengeschichte sei „Teil der allgemeinen Geschichte" 6 5 5 und diene dazu, „das Wesen der christlichen Religion aufzuhellen." 6 5 6 Nur die historische Forschung „schützt unsre Kirche davor, daß ihr Glaube nicht von Schlinggewächsen überwuchert w i r d " . 6 5 7 Sie befasse sich mit den Grundlagen des christlichen Glaubens, indem sie beispielsweise untersuche, „ o b das, was die ältesten Christen unter dem Begriff ,Messias und H e r r ' verstanden h a b e n , geschichtlich möglich i s t . " Falls diese Fragen „nicht im positiven Sinn gelöst werden, so ist zwar nicht der G o t t e s g l a u b e im Allgemeinen, wohl aber der spezifisch christliche Gottesglaube, der von Jesus als dem Christ nicht getrennt werden k a n n , als Illusion b e z i e h u n g s w e i s e ] als zeitgeschichtliche Schale erwiesen. A b e r die Lösung im positiven Sinn ist möglich, sei es auch nur im Sinn des Nachweises eines Wegs, der sicher in der R i c h t u n g a u f die Lösung f ü h r t . " 6 5 8

An der Stellung zur Person Jesu Christi wird die Differenz zwischen Harnack und Barth besonders deutlich. Harnack hielt für die „zuverlässige und gemeinschaftliche Erkenntnis dieser Person" ein „kritisch-geschichtliches Studium" für unverzichtbar, „damit man nicht einen erträumten Christus für den wirklichen" eintausche. 6 5 9 Barth hingegen betonte, daß die „Erkenntnis der Person Jesu Christi als Mittelpunkt des Evangeliums" allein mit Hilfe „des von Gott erweckten Glaubens" möglich sei. 6 6 0 Andernfalls werde mit der Person Jesus Christus völlig unangemessen wie mit einem Genossen der eigenen Zeit umgegangen. 6 6 1 Barth hob auf die nur dem Glaubenden zugängliche religiöse Bedeutung Jesu Christi ab, während Harnack, bevor er die Frage nach der Relevanz der Person Jesu Christi für den persönlichen Glauben stellte, zunächst die historischen Fakten sichern wollte — und das sei auch einem ungläubigen Forscher möglich. Diese Fakten bieten dem Gläubigen ein seiner Ansicht nach unverzichtbares Wissen über Jesus Christus. Barth und Harnack gingen also von völlig verschiedenen Gesichtspunkten die Frage nach der Person Jesu Christi an. Eine Verständigung war nicht möglich. Harnack blieb die Antwort Barths — besonders auf seine erste Frage — „total unverständlich". 6 6 2 655 656 657 658

659 660 661 662

RA 4, 45. Ebd., 6 1 . R A 1, 2 9 3 . H a r n a c k , A . : Skizze „Die Bedeutung der T h e o l o g i e für die R e l i g i o n " , in: K 13. Vgl. R A 2, 1 5 5 , w o H a r n a c k p r o g r a m m a t i s c h ausführte: „Die T h e o l o g i e m u ß eine Führerin der Kirche bleiben: denn ihre H a u p t a u f g a b e — wenn sie auch eine geschichtliche Wissenschaft geworden ist — kann doch nur die sein, das Bild der Persönlichkeit J e s u Christi, des H e r r n und Heilandes, sicherer zu erfassen und darzustellen." H a r n a c k : Fünfzehn Fragen, 8. Barth: Sechzehn A n t w o r t e n , 9 1 . Ders.: D o g m a t i k , 1 5 1 . H a r n a c k : O f f e n e r Brief, 142. Er schloß diesen Brief, aus dem neben Unverständnis eine g r o ß e Verletztheit spricht, weil sein Ansatz, für den er sein Leben lang gekämpft hatte, von seinem Schüler grundsätzlich in Frage gestellt wurde, mit dem D i k t u m : „Ich bedaure aufrichtig, daß Ihre A n t w o r t e n auf meine Fragen nur die G r ö ß e der Kluft zeigen, die uns trennt [ . . . ] Wenn Ihre Weise zur H e r r s c h a f t gelangen sollte, wird es [das Evangelium] aber überhaupt nicht mehr gelehrt, sondern ausschließlich in die H a n d der Erweckungs-

104

Einleitung

H a r n a c k a n e r k a n n t e z w a r den Ernst des Ansatzes der dialektischen T h e o logie, u n d w u r d e d u r c h ihn g e z w u n g e n , seine e i g e n e n Ü b e r z e u g u n g e n z u ü b e r d e n k e n , k o n n t e ihr a b e r k e i n e r l e i p o s i t i v e A s p e k t e a b g e w i n n e n : „Die neueste Entwicklung beurteile ich aber auch als einen Versuch in der langen Reihe anderer, die alte Orthodoxie wiederherzustellen; es wird auch noch nicht der letzte sein! Er und Marcion haben mich übrigens veranlaßt, in den letzten Jahren meinen systematisch-theologischen Besitz zu kontrolliren, u[nd] ich muß gestehen, daß er sehr bescheiden geworden ist: ,Unser Wissen ist Stückwerk' ist mir auch an solchen Punkten aufgegangen, an denen ich früher dies Wort nicht anzuwenden brauchte". 6 6 3 E r s a h sich j e d o c h n i c h t zu e i n e r g r u n d s ä t z l i c h e n R e v i s i o n s e i n e r zeugungen v e r a n l a ß t . 6 6 4 Die „unverantwortliche Abkehr von der

Über-

Geschich-

t e " 6 6 5 k o n n t e e r n i c h t t o l e r i e r e n , d o c h h o f f t e er, d a ß diese T h e o l o g i e ein „Verpuppungsstadium

b e d e u t e t , u [ n d ] ein w i r k l i c h e v a n g e l i s c h e r

Schmetterling

einst d i e s e n H ü l l e n e n t s t e i g e n w i r d . " 6 6 6 L e t z t l i c h b l i e b i h m n u r d a s r e s i g n i e rende Eingeständnis,

d a ß er für diesen

B a r t h w i e d e r u m u r t e i l t e , „ d a ß diese l i s m u s moribund

Ansatz „keine A n t e n n e "

G e s c h i c h t e aus,

besaß.667

der theologische Libera-

ist."668

D a s U n v e r s t ä n d n i s für d i e d i a l e k t i s c h e T h e o l o g i e u n d a n d e r e , in d e n 2 0 e r u n d 3 0 e r J a h r e n d i s k u t i e r t e t h e o l o g i s c h e A n s ä t z e — z. B . die d e r r e l i g i ö s e n S o z i a l i s t e n — ließen H a r n a c k e i n s a m w e r d e n , 6 6 9 s o d a ß W ü n s c h e n a c h h ä u f i -

663

664

665

666 667 668 669

prediger gegeben, die ihr Bibelverständnis frei schaffen und ihre eigene Herrschaft aufrichten." Ebd., 144. Vgl. Nr. 668, wo er die dialektische Theologie als „eng u[nd] sektirerisch" beurteilte. Brief vom 26. Oktober 1928 an E. Zurhellen-Pfleiderer, in: K 32, Konvolut „Adolf von Harnack". Das Zitat stammt aus 1 Kor 13,9. Er fuhr ebd. fort, daß ihn „der Agnostizismus in Bezug auf alle Dogmatik wissenschaftlicher Art [...] weder pessimistisch noch verarmt" mache. „Ich habe an den geschichtlichen Erscheinungen in ihrer Fülle u[nd] Kraft und an den Lebenserfahrungen genug und lasse die Vielzahl von Lebenskreisen und Umwelten ruhig nebeneinander bestehen — wir stehen nicht nur in einer Welt —, lasse diese Kreise unerschüttert sich schneiden und bin in Ehrfurcht gewiß, daß die über u[nd] neben einander liegenden Ebenen Stockwerke sind des Hauses Gottes. Marcion's Gedanken und der Psalmisten und Luthers u[nd] Paulus' Gedanken sind von Ihm u[nd] auch Pia tos usw. und das Aristokratische und das Demokratische und die Autorität u[nd] die Freiheit, und Jeder muß zusehen, was er für sich dort findet, muß selbst um gute Erlebnisse u[nd] Gedanken bitten und sich sein eigenes Innere durch Zustimmung und Ablehnung als Einheit schützen, um nicht in einem Vielerlei sich aufzulösen. Doch — daß man eine Tages- und eine Nachtansicht nebeneinander hat, darüber kommt man nicht hinweg und über den heißen Wunsch, daß der Tag für die Seele immer länger und die Nacht immer kürzer werde." Ebd. Harnack fuhr fort, daß sie „diese Abkehr [ersetzten] durch Devotion vor ein paar Männern, Paulus, Luther, nachdem sie diese nach ihrem Gutfinden ausgelegt haben." Nr. 668. Nr. 669. Rundbrief vom 7. Juni 1925, in: Barth-Thurneysen 2, 330. Vgl. Zahn-Harnack, 4 1 8 f . , 604, 624. Vgl. auch Nr. 5 9 2 und 634, wo er den Tod ihm nahestehender Forscher beklagte, sowie Nr. 620, wo er konstatierte, daß er „zu wenig Fühlung mit dem ,Aktuellen'" habe.

Der Erste Weltkrieg

105

gerem Wiedersehen mit Rade laut wurden. 6 7 0 Die in der Regel recht knapp gehaltenen Briefe und Karten aus seinen letzten Lebensjahren geben Hinweise auf seinen nachlassenden Gesundheitszustand, der ihn zur Reduktion seiner Engagements zwingt. 6 7 1 Die Schreiben des sechs Jahre jüngeren Rade lassen dagegen nichts von altersbedingter Einschränkung der Aktivitäten spüren.

17. Der Erste Weltkrieg 1 7 . 1 . Stellung z u m K r i e g s a u s b r u c h Die Vergeblichkeit der Friedensbemühungen machte der Ausbruch des Ersten Weltkriegs offenkundig. Harnack zeigte sich tief enttäuscht von der Kriegserklärung Großbritanniens. Er sah darin einen Verrat an der wenige Jahre vorher noch so vehement beschworenen gemeinsamen Kultur. 672 Harnack unterstellte — wie viele seiner Kollegen — England das Bestreben, Deutschland vernichten zu wollen, 6 7 3 da es neidisch auf Deutschlands wirtschaftliche und politische Erfolge sei, während Deutschland sich allein mit friedlichen Mitteln um die Ausweitung seiner Interessensphäre bemüht hätte: „Entsprechend der Entwicklung unserer Kraft konnten wir mehr beanspruchen, als was wir in der Welt an Land besitzen. Wir haben niemals daran gedacht, diese Ansprüche mit Gewaltmitteln durchzusetzen. Die Kraft unseres Volkes sollte sich in seinem Fleiße bewähren und in den friedlichen Früchten dieses Fleißes. Selbst das hat uns Großbritannien nicht gegönnt; es war neidisch auf unsere Kräfte, neidisch auf unsere Flotte, neidisch auf unsere Industrie und unsern Handel, und der Neid ist die Wurzel alles Übels. Er hat Großbritannien in diesen furchtbarsten Krieg, den die Weltgeschichte kennt, getrieben, dessen Ende unabsehbar ist." 6 7 4

England habe aus niederen Motiven das Bemühen um die friedliche Weiterentwicklung der Menschheit auf der Grundlage der abendländischen Kultur aufgegeben und damit die gemeinsame Kultur verraten, deren Hauptträger Deutschland, Großbritannien und die USA seien (von Frankreich ist auffälli-

670 671 672

673 674

Vgl. Nr. 575, 600, 669. Vgl. Nr. 612, 656, 660, 668f., 674. In einem Brief vom 10. September 1914, in dem er auf ein Schreiben von elf britischen Theologen an ihn antwortete, führte er aus — bezugnehmend auf seine „Rede zur ,Deutsch-amerikanischen Sympathiekundgebung' (11. August 1914 im Berliner Rathaus), in: RA 5, 283 — 290: „Die Worte: ,Das Verhalten Großbritanniens ist das eines Verräters an der Zivilisation* habe ich nicht gebraucht, aber sie geben mein Urteil über dieses Verhalten richtig wieder." RA 5, 293. Ebd., 297 f. Ebd., 298. Die gleiche Position vertrat auch der von Harnack mitunterzeichnete „Aufruf deutscher Kirchenmänner und Professoren: An die evangelischen Christen im Ausland" vom 4. September 1914, abgedruckt in: Besier, 40 — 45. Zu ähnlichen Einstellungen anderer deutscher Hochschullehrer vgl. Schwabe, 26 f.

106

Einleitung

gerweise nicht die Rede). 6 7 5 Harnack unterscheidet sich hier von vielen seiner Kollegen, die unter dem Eindruck der Kriegserklärung Großbritanniens einen grundsätzlichen Unterschied zwischen deutscher und englischer Kultur konstruierten und die Überlegenheit der deutschen Kultur behaupteten. 676 Nach Ansicht Harnacks stand Deutschland nun allein vor der Aufgabe, „Westeuropa und seine Kultur vor dem Wüstensande der asiatischen Unkultur Rußlands und des Panslawismus" zu schützen. 677 Er übertrug seine Lehre vom Fortschritt in der Geschichte, der sich in unterschiedlichen Kulturstufen niederschlage — wobei er die westeuropäischprotestantischen Kultur als Höhepunkt der historischen Entwicklung betrachtete — auf die politischen Ereignisse. Die russische Kultur betrachtete er als geprägt von nicht näher beschriebenen asiatischen Einflüssen sowie von der orthodoxen Kirche, die er als das „in kultureller, philosophischer und religiöser Hinsicht [...} versteinerte 3. Jahrhundert" 67S bewertete. Er sah sie als der protestantisch-deutschen Kultur deutlich untergeordnet an. Den Krieg mit Rußland konnte er so als einen von der historischen Entwicklung gerechtfertigten Verteidigungskrieg zugunsten der deutschen Kultur verstehen. Das Verständnis des Krieges als eines Verteidigungskrieges zugunsten der deutschen Kultur war in den ersten Kriegsjahren das bestimmende Moment von Harnacks Interpretation des Krieges. Er betonte wiederholt, Deutschland habe einen Feldzug zu führen gegen erstens „die weltweite und organisierte M a c h t der Verleumdung und Lüge gegen uns", zweitens, „um unsre deutsche Kultur, die zertrümmert und durch eine andere ersetzt werden soll, in ihrer Eigenart zu verteidigen" und drittens, „um das große Erbe der Vergangenheit, Gesittung, H u m a n i t ä t und Völkerrecht, das System der christlichen Völker und ihr Gleichgewicht uns und der ganzen Welt zu e r h a l t e n . " 6 7 9

Die These des Kulturkriegs versuchte Harnack durch die Behauptung einer prinzipiellen Differenz zwischen deutscher Kultur und der bei Franzosen, Briten, Russen und anderen europäischen Völkern (mit Ausnahme der Skandina675

H a r n a c k , A.: Rede zur „Deutsch-amerikanischen Sympathiekundgebung" (11. August 1 9 1 4 im Berliner Rathaus), in: R A 5, 2 8 8 .

676

Vgl. Schwabe, 2 8 f. R A 5, 2 9 5 . — Die Ablehnung der russischen Kultur — vielleicht ein Erbe seiner baltischen Herkunft — behielt H a r n a c k auch nach dem Krieg bei. „In Bezug auf die Beurteilung der indischen (Tagore) u[nd] slawischen (Tolstoi) Influenza ganz einverstanden. Sie sind für uns Deutsche u[nd] uns Protestanten Gift [ . . . ] Mannhafte innere Geschlossenheit u[nd] Tat u[nd] Schöpfund [sie] müssen alles Verhalten nach Aussen regieren u[nd] sind auch die Voraussetzung für jedes Dienen u[nd] für alles Wirken in hingebender Liebe." Brief v o m 8. Oktober 1 9 2 2 an R . von Engelhardt (maschinenschriftliche Abschrift), in: K 30.

677

678

679

H a r n a c k , A.: Der Geist der morgenländischen Kirche im Unterschied von der abendländischen, in: R A 5, 1 2 9 f . ; vgl. ebd., 1 2 8 ; ders.: Wesen 1 4 1 , 143. Manuskript des 1 9 1 6 und Anfang 1 9 1 7 mehrmals gehaltenen Vortrags „Der Kulturkrieg im Weltkrieg", in: K 13. Die in diesem Manuskript von H a r n a c k gebrauchten Abkürzungen (vgl. o. S. 3) wurden aufgelöst.

107

D e r Erste Weltkrieg

vier) herrschenden „culture" zu untermauern. Diese „culture" unterscheide sich von der deutschen Kultur vor allem durch das Streben nach „Aufrechterhaltung eines ufndl desselben gesellschaftlichen, intellektuellen, ästhetischen u[nd] politischen Scheins." 6 8 0 Harnack hatte sich bei diesen Ausführungen vom allgemeinen H a ß gegen Großbritannien in der Anfangsphase des Krieges mitreißen lassen, so daß er nun plötzlich die oft beschworene Verwandtschaft zwischen britischer und deutscher Kultur leugnete. Dies war jedoch nur eine punktuelle Äußerung, die er nicht veröffentlichte. In seiner Korrespondenz mit dem „Corriere della Sera" Anfang 1915 betonte er seine Wertschätzung der romanischen Kultur und wiederholte seine Vorkriegsthese von der kulturellen Gemeinschaft von Deutschen, Briten, Amerikanern, Skandinaviern und Niederländern. 6 8 1 Die von Harnack wiederholt vorgetragene und zum Teil in sich widersprüchliche These des Kulturkrieges diente ihm dazu, den Kriegsausbruch ver680 M a n u s k r i p t „Unterschied von Kultur und c u l t u r e " , in: K 13. — H a r n a c k führte in dieser Skizze aus, daß die „ c u l t u r e " der Franzosen, Engländer und Russen „unbeschadet der großen wurzelhaften Verschiedenheiten" von einer Reihe „einheitlicher M o m e n t e " geprägt sei. „Sie sind sämtlich Rationalismus

des

beschlossen

soziologischen

Denkens

in dem altrömischen und

in

der

u[nd]

heilsamen

romanischen

Genügsamkeit,

nicht weiter u[nd] tiefer zu denken als die Aufrechterhaltung der Gesellschaft es verlangt [ . . . ] England hat einen beträchtlichen Einfluß der französischen romanischen

Kultur

erhalten u[nd] sie ausgezeichnet mit dem praktisch-realistischen Sinn zu verbinden gewußt. Die englische ,culture' ist zu einem großen Teil calvinisch-romanisch-puritanisch. R u ß l a n d glaubt, wenn es die H a n d aufs H e r z legt, selbst nicht aufrichtig an seine eigene Kultur; die ,culture', an die R u ß l a n d glaubt — sofern es nicht ganz skeptisch oder anarchistisch ist, ist die französische [ . . . ] Die höheren Schichten Frankreichs (auch Italiens), Englands u[nd] R u ß l a n d s sind also in der Tat durch eine ,culture'

zusammengehal-

t e n " , die vor allem die Aufrechterhaltung des Scheins fordere. „Jeder ist ungebildet, ist ein B a r b a r , der diesen Schein

nicht aufrechterhält.

[...]

Alle Halbzivilisirten

oder

eine eigene Civilisation entbehrenden Völker haben die romanische ,culture' u[nd] nicht die Kultur; G r i e c h e n , R u m ä n e n , Serben, Spanier usw. — selbst die H o l l ä n d e r gehören größtenteils hierher, aber nicht die Schweden, D ä n e n u[nd] N o r w e g e r . " 681

E n t w u r f eines A n t w o r t b r i e f e s an den C o r r i e r e della Sera v o m 13. J a n u a r 1 9 1 5 , in: K 13, in dem H a r n a c k sich auf seine a m 11. August 1 9 1 4 gehaltene „ R e d e zur .Deutschamerikanischen S y m p a t h i e k u n d g e b u n g ' "

( R A 5, 2 8 3 — 2 9 0 ) bezog: „In Wahrheit a b e r

h a b e ich von der Kultur gesprochen, die sich seit einer Reihe von J a h r h u n d e r t e n , nämlich seit der R e f o r m a t i o n s z e i t , entwickelt hat und uns Deutschen mit den Engländern, den Amerikanern und einigen kleineren transalpinen Völkern [gemeint seien: S c h w e d e n , N o r weger, D ä n e n und Holländer, so H a r n a c k in einem erläuternden Brief vom 2 9 . J a n u a r 1 9 1 5 , der sich vermutlich an den Herausgeber des Corriere richtete, ebd.] zugewiesen ist. Ich schätze diesen Z w e i g der Kultur (Luther, Shakespeare, K a n t , G o e t h e , Hegel, Carlyle usw.) besonders h o c h ; aber ich lehne es zugleich a b , mich gegen den unsinnigen V o r w u r f ausführlich zu verteidigen, daß ich die r o m a n i s c h e Kultur nicht gelten lasse. Ich weiß, w a s wir D e u t s c h e und was die Welt ihr verdanken. Die Kulturgeschichte ist eine Fuge, in welcher die Stimmen verschiedener Völker m ä c h t i g zum Ausdruck gekommen sind und noch i m m e r ertönen. Die Stimmen der romanischen Völker haben nicht nur früher eingesetzt als die germanischen, sondern sie sind dem G a n z e n der Kultur auch heute unentbehrlich." D i e von H a r n a c k in diesem Briefentwurf gebrauchten Abkürzungen (vgl. o. S. 3) wurden aufgelöst.

108

Einleitung

s t ä n d l i c h zu m a c h e n u n d — a n g e s i c h t s d e r L e u g n u n g e i n e r d e u t s c h e n S c h u l d a m K r i e g — in sein W e l t b i l d zu i n t e g r i e r e n . H a r n a c k s p r a c h G r o ß b r i t a n n i e n die H a u p t s c h u l d a m K r i e g s a u s b r u c h

zu;

d a n e b e n h a b e die „krankhafte und blinde Revanchelust frivoler französischer Führer, die ihr armes Volk verführt haben, und der unerträgliche Anspruch Rußlands, die Vorherrschaft über alle Slaven zu führen, Österreich zu zerstören und den wilden Geist des mongolischen Moskowismus über Westeuropa zu bringen [...] unter Englands heimlicher Führung den Krieg gewollt und herbeigeführt." 6 1 , 2 Die Kriegserklärung Frankreichs w a r H a r n a c k ursprünglich

verständlich

a u f g r u n d d e r N i e d e r l a g e F r a n k r e i c h s i m K r i e g 1 8 7 0 / 7 1 . A u f f ä l l i g ist j e d o c h , d a ß er die „ R e v a n c h e l u s t " nur den französischen Politikern zuschrieb,

also

d e m „ v e r f ü h r t e n " Volk z u m i n d e s t implizit e i n e n g r u n d s ä t z l i c h e n F r i e d e n s w i l len z u s p r a c h . Später wies er die H a u p t s c h u l d a m K r i e g s a u s b r u c h den

machtpolitischen

I n t e r e s s e n F r a n k r e i c h s u n d R u ß l a n d s u n d e r s t in z w e i t e r L i n i e G r o ß b r i t a n n i e n zu: „Was die Ursachen des großen Weltkriegs betrifft, so hat mich nichts in der Überzeugung erschüttern können, daß sie in den Revanche-Absichten Frankreichs (Wiedergewinnung von Elsaß-Lothringen) und im Imperialismus Russlands zu suchen sind. Die Verbindung dieser beiden Mächte war keine Defensiv- sondern eine Offensiv-Verbindung. England hatte keine Offensiv-Absichten gegen uns [...]; doch es ist deßhalb am Kriege mit Schuld, weil Frankreich mit Zuversicht darauf rechnen konnte, England bei einem Kriege gegen uns unter allen Umständen als Bundesgenossen zu haben. In dem Verhalten Deutschlands von 1891 — 1914 kann ich keine Ursache zum Kriege finden: Sein fester Entschluß, Österreich nicht zertrümmern und die Türkei nicht beseitigen zu lassen, hatte nichts Offensives; seine Orientpolitik ging nicht auf Eroberungen aus und seine Kolonialpolitik wollte es im Einvernehmen mit England machen. Mißtrauen bei England erregte seine Flottenpolitik, und hier kann man von einer Schuld Deutschlands insofern sprechen, als es der ungeschickten Diplomatie Deutschlands nicht gelungen ist, England davon zu überzeugen, daß dem Flottenbau keine Offensiv-Absichten zu Grunde liegen." 6 8 3 682

683

Brief Harnacks vom 22. September 1914 an Fridtjof Nansen, maschinenschriftliche Abschrift, in: K 38. An anderer Stelle beklagte Harnack eine „europäische Verschwörung" gegen Deutschland, die zum Krieg geführt habe. Harnack, A.: Was wir schon gewonnen haben und was wir noch gewinnen müssen. Rede am 29. September 1914 in Berlin gehalten, in: RA 5, 314. Die Erregung der ersten Kriegstage spiegelt sich auch in dem Entwurf, den Harnack auf Anforderung des Staatssekretärs des Innern, Clemens von Delbrück, für den Aufruf Kaiser Wilhelms II. vom 6. August 1914 verfaßte. Dieser Entwurf, der zugleich ein Beleg für die herausragende Stellung Harnacks ist, spricht von dem Deutschland „mitten im Frieden" aufgezwungenen Krieg, in den es sich „bis zum letzten Blutstropfen gegen asiatische Halbkultur und gegen welsches Wesen" verteidigen müsse. Harnack, Axel von: Der Aufruf Kaiser Wilhelms II., in: Die neue Rundschau 64 (1953), 6 1 2 - 6 2 0 , Zitate 614f. Beim Schreiben des Aufrufs kannte Harnack die Kriegserklärung Englands noch nicht. So Axel von Harnack, 618, gegen Zahn-Harnack, 3 4 5 f . Konvolut „Aufzeichnung über die Schuld am Weltkriege. Antwort auf eine Anfrage der Associated Press vom 4. Januar o. J . [1915 oder 1916]", in: K 13. Die von Harnack gebrauchten Abkürzungen (vgl. o. S. 3) wurden aufgelöst.

Der Erste Weltkrieg

109

Harnack teilte die Überzeugung fast aller deutscher Professoren und des größten Teils der Öffentlichkeit, daß Deutschland einen ihm von den Feinden aufgezwungenen Verteidigungskrieg führte. Diese Ansicht spricht aus dem von ihm mitunterzeichneten „Aufruf der 93 an die Kulturwelt" 6 8 4 , in dem u. a. der Vorwurf der Verletzung der Neutralität Belgiens vehement zurückgewiesen w u r d e . 6 8 5 In einer Ansprache an seine Studenten am 1. August 1914 apostrophierte er den Weltkrieg als „gerechten Krieg", dessen Führung Deutschland von Gott auferlegt sei. „,Der Gott, der Eisen wachsen liess, der wollte keine Knechte, darum gab er Säbel, Schwert und Spiess dem Mann in seine Rechte!' Das ist die höchste Rechtfertigung des Krieges. Er wollte keine Knechte! Wenn dieser Zustand bedroht ist, nur dann, dann aber mit aller Freude und allem Triumphe soll und muss man in den Krieg ziehen, wenn man sich klar machen muss, ob wir die Aufgabe, die wir als Volk als eine Schöpfung Gottes auszuführen verpflichtet sind, durchführen können oder nicht. Wenn wir daran gehindert werden, dann gilt das Wort, dass der Gott, der uns geschaffen hat, keine Knechte wollte, sondern in freier Ausgestaltung die Güter und Kraft, die er der Nation gegeben hat, bewahren und schützen wollte." 6 8 6

Harnack stimmte in die allgemeine Kriegsbegeisterung ein, die sich im Abwenden von Einzelinteressen zugunsten des Bewußtseins der „Einheit und Kraft der Nation, die alles für ihre Ehre einsetzt", zeige. Den Kriegsdienst stellte er seinen Studenten als „Vergünstigung" dar und äußerte sich zuversichtlich, daß sie bereit wären, „fröhlich" zu sterben. „Kein schönerer Tod ist auf der Welt als vor dem Feind gefallen." Diese Haltung legitimierte er mit Hinweis auf Luthers Schrift „Ob Kriegsleute auch im seligen Stande sein können" sowie mit dem Spruch Jesu aus den johanneischen Abschiedsreden Joh 15,13: „Wir dürfen dazu sagen: Niemand hat grössere Liebe, denn dass er sein Leben lässet für seine Brüder. Das ist die starke objective Liebe, stärker als der T o d ! 6 8 7 Jeder ist als Glied des Vaterlandes ein kleiner Teil; das Vaterland aber soll grünen, blühen und gedeihen." 6 8 8

6g4 685

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Abgedruckt in: Besier, 7 8 - 8 3 . Die feste Überzeugung, daß Deutschland Belgiens Neutralität nicht gebrochen habe, da Belgien sich bereits einseitig mit den Entente-Mächten abgesprochen habe und deshalb die britischen Erklärungen, zur Verteidigung Belgiens in den Krieg einzutreten, lediglich als Vorwand zu betrachten wären, entsprach der damaligen allgemeinen Ansicht, die sich auf entsprechende offiziöse Äußerungen stütze. So betrachtete Harnack den deutschen Einmarsch noch „nicht einmal [als] ein formelles Unrecht". RA 5, 296. Später änderte er seine diesbezügliche Meinung und bedauerte die Verletzung der belgischen Neutralität, „da mir die Entschuldigung, an die ich einst auf Grund falscher Berichte geglaubt habe, nicht mehr genügt." Offener Brief an Herrn Clemenceau vom 6. November 1919, in: RA 6, 303 f. Ansprache in der Vorlesung „Dogmengeschichte" am 1. August 1914. Maschinenschriftliche Mitschrift von W. Heilmann, in: K 13. — Harnack zitierte hier Ernst Moritz Arndts „Vaterlandslied"; vgl. ders.: Lieder für Teutsche. Im Jahr der Freiheit, Leipzig 1813, 81. Anspielung auf Hld 8,6. Ansprache in der Vorlesung „Dogmengeschichte" am 1. August 1914.

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Einleitung

Z u vergleichbaren erschreckenden Äußerungen wie diese religiös überhöhte und in pathetische Worte gekleidete L e g i t i m i e r u n g der Krieges ließ sich H a r nack im weiteren Verlauf des Krieges nicht mehr hinreißen. Er zeigte später eine weitaus nüchternere Beurteilung des Kriegsverlaufs, die sich an den politischen Gegebenheiten orientierte und d a s Vereinnahmen G o t t e s für die deutsche Sache beiseite ließ. R a d e teilte die allgemeine Ansicht, d a ß der Kriegseintritt G r o ß b r i t a n n i e n s nicht durch die Verletzung der belgischen N e u t r a l i t ä t — die keine echte gewesen sei — verursacht w o r d e n s e i . 6 8 9 A u c h er beklagte die Kriegserklär u n g G r o ß b r i t a n n i e n s als Verrat an den g e m e i n s a m e n F r i e d e n s b e m ü h u n g e n . A u s seinen Worten spricht aber nicht die große Verbitterung und haßerfüllte Polemik, zu der sich andere Gelehrte und auch H a r n a c k hinreißen ließen. 6 9 0 Er war einer der wenigen, die 1914 b e s o n n e n e Worten f a n d e n . E s finden sich jedoch gleichzeitig Äußerungen, die ein Mitgerissensein von der nationalen Begeisterung des K r i e g s a n f a n g s verraten: Warnte er angesichts des M o r d e s von S a r a j e v o vor der „ L e i d e n s c h a f t und H o h l h e i t " , mit der „ h e u t e die nationale P h r a s e " g e h a n d h a b t w e r d e , 6 9 1 stellte er kritische Fragen an die Balkan-Politik Ö s t e r r e i c h - U n g a r n s 6 9 2 und befürchtete klarsichtig ein Ausweiten des K o n f l i k t s a u f g r u n d der B ü n d n i s v e r p f l i c h t u n g e n , 6 9 3 so betonte er gleichzeitig, d a ß es gerechte Kriege g e b e . 6 9 4 Den Kriegsbeginn e m p f a n d er als einendes und erhebendes E r l e b n i s 6 9 5 und begeisterte sich für die 689

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Rade: An die 42, 1003; ders.: Verschiedenes. 20. 8. 14, in: ebd., 814; ders.: Dieser Krieg, 26. Während er die Haltung des Reichskanzlers 1914 noch kritisiert hatte (Verschiedenes. 20. 8. 14, in: C W 28 (1914), 814), bekannte R a d e sich eineinhalb J a h r e später zu Bethmann Hollwegs Zugeständnis, daß Deutschland mit seinem Einmarsch in Belgien d a s Völkerrecht verletzt habe. Vgl. Nr. 552. Vgl. R a d e : An die 42, 1001: „Jener deutsche ,Aufruf' ist und bleibt ein D o k u m e n t dafür, wie wir deutsche Christen insbesondre den englischen Christen gegenüber a m Anfang des Krieges empfunden haben. Einmütig fühlten wir uns in unsrer Friedfertigkeit, in unserm Vertrauen getäuscht, und insbesondre die seit Edinburg bei uns gehegte H o f f nung weitgehender Gemeinschaft unsrer Missionsarbeit wie durch Verrat zusammengebrochen. Wir begriffen, daß Frankreich noch einmal die Gelegenheit suchte, Elsaß-Lothringen zurückzuerobern; wir begriffen, daß Rußlands panslawistische Expansionspolitik ihrer unbequemen deutsch-österreichisch-ungarischen N a c h b a r s c h a f t einmal ledig werden wollte; wir sahen so in dem sonderbaren Bündnis der französischen Republik mit dem russischen Z a r e n s t a a t schließlich doch etwas Natürliches. Aber ein Krieg zwischen Großbritannien und uns schien uns naturwidrig." R a d e , M . : Auch eine Betrachtung zur E r m o r d u n g des österreichischen Thronfolgers, in: C W 28 (1914), 658. R a d e , M . : Glossen zum Balkankriege. 28. 7. 14, in: ebd., 7 6 4 f . Zugleich hielt er aber die „Strafexpedition" Österreich-Ungarns gegen Serbien für gerechtfertigt. Ebd., 764. Ebd., 765: „Balkankrieg. Der wievielte? [...] Serbien zu Hilfe Rußland. Oestreich-Ungam zu Hilfe Deutschland. Rußland zu Hilfe Frankreich. Deutschland zu Hilfe Italien. Frankreich zu Hilfe England. Ist nun die Bruder-Kette geschlossen? Was folgt?" Ebd., 764. „ D a s Beste am Kriege ist sein Anfang. Dies Durchzucktsein und Durchglühtsein des ganzen Volkes von einer Empfindung! Dieser Kurssturz alles sonst so Wichtigen!" R a d e , M . : N a c h der M o b i l m a c h u n g . 2. 8. 14, in: C W 28 (1914), 765. Den „Burgfrieden" des Kriegsanfangs bewertete R a d e noch 1916 als Zusammenschweißen des ganzen deutschen

Der Erste Weltkrieg

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gute Organisation der Mobilmachung, der er eine fast religiöse Qualität beimaß. 6 9 6 Scheint Rade in diesen Äußerungen vom Gefühlsüberschwang der ersten Augusttage mitgerissen geworden zu sein, zeigte er andererseits eine nüchterne Analyse der realen Verhältnisse, in der er der weitgehend akzeptierten These von dem Deutschland aufgezwungenen Verteidigungskrieg nicht beipflichtete: „Des reellen Gewinns winkt uns wenig aus diesem Krieg, und sehr von ferne. Und doch können wir von keinem reinen Verteidigungskrieg reden. Wir waren auch mitschuldig an dem bisherigen Zustande, der nur einen Nicht-Krieg bedeutete, aber keinen Frieden." 6 9 7 Er geriet nicht in Versuchung, seinen Glauben und seine ethischen Überzeugungen für die Dauer des Krieges zu suspendieren oder gar eine christliche Rechtfertigung des Krieges und der deutschen Position zu versuchen. Rade wollte während des Krieges „unter allen Umständen und vor allem ein Christ bleiben" 6 9 8 und bemühte sich deshalb, das Kriegsgeschehen aus der Perspektive seines Glaubens zu interpretieren und ihm „mit der Frage nach dem Anspruch Gottes an den Menschen gegenüberzutreten." 6 9 9 Harnack dagegen unterschied zwischen einer Ethik in Friedenszeiten und einer Ethik im Kriege. 700 Rade verurteilte auf der Grundlage seiner Haltung die Hetze gegen Ausländer und bekämpfte ungerechtfertigte Vorwürfe und Ausschreitungen gegenüber angeblichen Spionen und Saboteuren. 7 0 1 Er rief seinen Zeitgenossinnen und -genossen ins Gedächtnis, daß Gott keinem Volk näher als einem anderen stehe, sondern immer ein „Gott der Völker" sei. 7 0 2 Das Theodizeeproblem ließ ihn gerade nicht an Gott verzweifeln, wohl aber einen „Bankerott der

Volkes zu einer wahren Gemeinschaft, die ein tragfähiges Fundament für die Gestaltung der deutschen Gesellschaft nach dem Kriege darstellte. Vgl. Rade: Protestantismus und Katholizismus, 131 f. Vgl. auch Rade: Kirche nach dem Kriege, 23 ff., 31. 696 „Es ist wundervoll, mit welcher Ruhe, Ordnung und Sicherheit sich unsre Mobilmachung vollzieht. Daran müssen doch auch die Engel im Himmel ihre Freude haben." Rade, M.: Z u m Kriege. 5. 8. 14, in: C W 28 (1914), 781. 697 Rade: Mobilmachung, 765. 698 So schrieb er im Pfingsten 1915 verfaßten Vorwort seiner Zusammenstellung von Andachten aus der Kriegszeit: Christenglaube in Krieg und Frieden. 1. Im Krieg, Marburg 1915, V. Auch in den ersten Augusttagen stellte er die Ereignisse unter das Wort Gottes, indem er „ein tiefes sich Hineindenken und Hineinbeten in die Gedanken Gottes über uns!" forderte. Rade: Mobilmachung, 765. 699 Schwöbel: Rade, 177. Vgl. Rade, M.: Kein Moratorium des Christenglaubens, in: C W 29 (1915) (Nr. 2 4 vom 17. Juni), 4 7 3 - 4 7 5 . Diese Andacht, in der Rade bestritt, daß der Krieg eine qualitative Veränderung des Lebens aus christlicher Perspektive bedeute, schloß mit der Aufforderung: „Darum kein Moratorium des Christentums. Nur jetzt nicht. Jetzt erst recht nicht." Ebd., 475. 700 Vgl. Harnack, A.: Der Abschied von der weißen Weste, in: RA 5, 302. Vgl. dazu Anm. 2 zu Nr. 551. 701 Vgl. Rade, M.: Z u m Kriege. 5. 8. 14, in: C W 28 (1914), 781; ders.: Kleine Mitteilungen, in: ebd., 798. 702 Rade, M.: Der Gott der Völker, in: ebd. (Nr. 39 vom 24. September), 8 6 9 - 8 7 1 .

112

Einleitung

C h r i s t e n h e i t " k o n s t a t i e r e n 7 0 3 — eine Ü b e r z e u g u n g , die Wenige teilten und auch H a r n a c k a b l e h n t e . 7 0 4 Während H a r n a c k einen Verrat E n g l a n d s an der g e m e i n s a m e n christlich geprägten Kultur beklagte, stellte R a d e ein allgemeines Versagen des christlich fundierten ethischen H a n d e l n s fest. Diese deutlich a u s g e s p r o c h e n e Ü b e r z e u g u n g trug ihm w a r m e Z u s t i m m u n g , vor allem aber heftige Kritik e i n . 7 0 5 D i e C W verlor bis M ä r z 1915 über 6 0 0 A b o n n e n ten; auch die V F C W büßte Mitglieder e i n . 7 0 6 Die unterschiedliche H a l t u n g z u m K r i e g s a u s b r u c h beeinträchtigte d a s Verhältnis zwischen H a r n a c k und R a d e nicht erkennbar. Leider weist ihr Briefwechsel g e r a d e a u s der Zeit der ersten K r i e g s m o n a t e eine große L ü c k e auf. Er setzt wieder im D e z e m b e r 1914 ein mit d e m A u s t a u s c h über den G e s u n d heitszustand Ernst von H a r n a c k s , der sich nach einem gesundheitlichen Z u s a m m e n b r u c h in M a r b u r g e r h o l t e . 7 0 7 Auch d a s Kriegsende und die A n f a n g s zeit der Weimarer Republik spiegeln sich nicht im Briefwechsel. N a c h einer K a r t e H a r n a c k v o m 8. A u g u s t 1916 (Nr. 575) k l a f f t eine offensichtlich durch Verluste verursachte L ü c k e bis M ä r z 1920. 17.2. Die Kriegsziel-Problematik R a d e und H a r n a c k stimmten darin überein, daß der Krieg eine völlige U m g e staltung D e u t s c h l a n d s und E u r o p a s mit sich bringen w ü r d e . 7 0 8 In welcher R i c h t u n g aber sollte diese U m g e s t a l t u n g erfolgen? Beide bewerteten die „ f e u rige [...] B e r e i t s c h a f t " aller sozialen G r u p p e n , „nichts als D e u t s c h e [zu] sein und d e m Vaterlande jedes O p f e r [zu] b r i n g e n " , 7 0 9 als Ü b e r w i n d u n g der ParRade, M . : Der Bankerott der Christenheit, in: ebd. (Nr. 38 v o m 17. September), 849f. R a d e führte in dieser Andacht aus: „Wenn ich die Furchtbarkeit dieses Krieges auf mich wirken lasse — dann zweifle ich nicht an Gott: im Gegenteil, ich spüre ihn. (...] Aber ich zweifle und will verzweifeln an dem, w a s man in der Weltgeschichte die Christenheit nennt [...] Wenn ich an die denke, diese Christenheit der europäisch-amerikanischen Kulturwelt, d a kann ich diesen Krieg nicht anders verstehen denn als ihren offenkundigen B a n k e r o t t . " (849) 7 0 4 H a r n a c k , A.: Die Religion im Weltkriege, in: R A 6, 307. 7 0 5 Vgl. seine Zusammenstellung von Reaktionen unter dem Titel: Auch ein Stück Zeitgeschichte, in: AdF, Beilage zu Nr. 49 (22. Oktober 1914), 5 6 1 - 5 7 5 , und Rade: Dieser Krieg, 6. 7 0 6 Rathje, 242. 7 0 7 Vgl. Nr. 536 ff. 708 Vg] ]\jr. 540; Rade: Kirche nach dem Kriege, 4; H a r n a c k , A.: An der Schwelle des dritten Kriegsjahrs. Rede am 1. August 1916 in Berlin gehalten, in: R A 5, 339. 7 0 9 R A 5, 317. Vgl. ebd., 338; R A 6, 291. Vgl. Rade: Dieser Krieg, 24, 31, 33, und ders.: Vaterlandsliebe und Christentum, in: C W 26 (1914), 7 8 7 f . : „ M i t Einem Mal wahrhaftig und wirklich Ein Volk von Brüdern: träumen wir? Kaiser, Kanzler und Konservative mit den Sozialdemokraten H a n d in H a n d : geschehen noch Wunder? Und nicht in flüchtigem Rausch, nein mit klarem Verstände und zu großem hartem Handeln. [...] D a schweigen die persönlichen Interessen, da schweigt die Furcht vor N o t und Tod [...] Wundervoll diese innere Hingabe, diese Einmütigkeit im Empfinden und Tun, diese Opferfreudigkeit." — Diese Ansicht war bei vielen „gemäßigten" Professoren festzustellen. Vgl. Schwabe, 41. 703

Der Erste Weltkrieg

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teiengegensätze und des Antagonismus zwischen Arbeiterschaft und deutscher Staatsführung. H a r n a c k forderte, d a ß diese Entwicklung zu einem wirklichen „ V a t e r l a n d " 7 1 0 durch B e k ä m p f u n g des Kastengeistes und A n e r k e n n u n g des Koalitionsrechtes der Arbeiter gewürdigt und vertieft werden m ü s s e . 7 1 1 R a d e , der bis zum Ende des Krieges der Überzeugung treu blieb, d a ß die Kluft zwischen Arbeiterschaft und Staat überwunden s e i , 7 1 2 lenkte den Blick vor allem auf die Situation der evangelischen Landeskirchen. Er erhoffte sich von der durch den Krieg bewirkten wunderbaren „ E i n m ü t i g k e i t " 7 1 3 des deutschen Volkes, das jetzt „eins" mit dem Staat s e i , 7 1 4 die Umgestaltung der evangelischen K i r c h e in eine „ S t a a t s k i r c h e " , 7 1 5 eine „Kirche des ganzen Volk e s " , 7 1 6 die aufgrund der Identität von Staats- und Kirchenvolk nicht vom Staat getrennt werden k ö n n e 7 1 7 und die in ihrer inneren Ausgestaltung sich stärker an ethischen Fragestellungen o r i e n t i e r e . 7 1 8 Rades Einstellung in diesem Punkt wandelte sich im Verlauf des Krieges. In der im gleichen J a h r erschienenen Schrift „Dieser Krieg und das C h r i s t e n t u m " rechnete er — wesentlich realistischer — mit dem Fortdauern der konfessionellen Gegensätze und der R i c h t u n g s k ä m p f e innerhalb der evangelischen Kirc h e n . 7 1 9 In vergleichbarer Weise w ü n s c h t e er zwar, d a ß der Krieg die „soziale Einigung unsers V o l k s " 7 2 0 bringe, zeigte sich aber skeptisch, o b sich der „Krieg wirklich in der innersten Seele unsers Volkes als Erzieher zur Ueberwindung der Klassengegensätze" b e w ä h r e , denn „daß große Parteien, die sich sonst bis aufs Blut befehden, in reifer politischer Einsicht unter dem D r u c k

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RA 5, 317f. Ebd., 290 f., 328 und 347. Vgl. Rade, M.: 1917, in: CW 31 (1917), 3: „Der handgreifliche Gewinn, den uns im Innern dieser Krieg gebracht hat und noch immer bringt, ist das Erlebnis, das wir mit unsrer Sozialdemokratie gehabt haben. [...] Wer daran verzweifeln wollte, daß diesen verhängnisvollen Riß, der durch unser Volk ging, je etwas zu heilen vermöchte, der ist eines Besseren belehrt worden: der Riß ist heilbar." Vgl. auch ders.: Nach Schluß des Blattes, in: CW 32 (1918) (Nr. 42/43 vom 17. Oktober), 405: „Eins bleibt uns als deutlicher Gewinn: der Zusammenschluß mit unsrer organisierten Arbeiterschaft. Da hat die neue Zeit auf eine gesegnete Entwicklung ihr Siegel gedrückt. [...] Hier haftet auch die Hoffnung, daß unser Volk eine Einigkeit und Größe aus dieser Krisis davontragen wird, die es oben hält im Wettstreit der Völker." Rade: Dieser Krieg, 31. Rade: Kirche nach dem Kriege, 31. Ebd., 27. Ebd., 34. Ebd., 28. Vgl. Rade, M.: Die unveränderte Lage, in: AdF, Nr. 50 (4. Februar 1915), 580; ders.: Die jüngste Phase des Falles Traub, in: ebd., 582. Rade: Kirche nach dem Kriege, 38ff. Später erläuterte er seine Forderung nach „Ethisierung der Kirche" (ebd., 27, 38) dahingehend, daß die Kirche „die moralische Stärke der Religion anders zur Geltung bringen [soll], als sie bisher getan hat." Auf diese Weise solle sie „das sittliche Gewissen des Staates" sein. Rade, M.: Die Kirche nach dem Kriege, in: CW 30 (1916), 686. Rade: Dieser Krieg, 31 f. Ebd., 34.

114

Einleitung

einer g r o ß e n N o t g e m e i n s c h a f t g e m e i n s a m e S a c h e m a c h t e n , das bedeutet d o c h n o c h k e i n e n b l e i b e n d e n Z u s t a n d ! " 7 2 1 G e g e n E n d e d e s K r i e g e s n a h m e r seine 1 9 1 5 g e ä u ß e r t e T h e s e a u s d r ü c k l i c h z u r ü c k 7 2 2 u n d s u c h t e A n s ä t z e zu e i n e r N e u g e s t a l t u n g d e r e v a n g e l i s c h e n K i r c h e n in e i n e r a u f d e r L e h r e v o m

allge-

m e i n e r P r i e s t e r t u m aller G l ä u b i g e n a u f b a u e n d e n s t ä r k e r e n E i n b e z i e h u n g d e r L a i e n ins k i r c h l i c h e L e b e n u n d H a n d e l n 7 2 3 — eine T h e s e , d i e H a r n a c k s begeisterte Z u s t i m m u n g Außenpolitisch

fand.724 forderte H a r n a c k ,

d a ß d e r K r i e g für D e u t s c h l a n d

einen

F r i e d e n b r i n g e n m ü s s e , d e r n o c h d e n E n k e l n d e r n u n L e b e n d e n ein r u h i g e s A r b e i t e n u n d S c h a f f e n e r m ö g l i c h e . 7 2 5 D i e s e r F r i e d e n m ü s s e D e u t s c h l a n d in erster Linie Sicherheit vor weiteren „Überfällen" Englands g e b e n . 7 2 6

Befand

sich H a r n a c k m i t d i e s e r F o r d e r u n g in E i n k l a n g m i t d e n m e i s t e n seiner M i t b ü r ger

und

Mitbürgerinnen,

Deutschland

so

gingen

die

Ansichten,

welche

zur Sicherung seiner Weltgeltung benötigte, weit

Einflußsphäre auseinander.

H a r n a c k g e h ö r t e zu d e n U n t e r s t ü t z e r n des R e i c h s k a n z l e r s B e t h m a n n

Holl-

w e g 7 2 7 u n d d i s t a n z i e r t e sich b a l d v o n d e n i m m e r w e i t e r a u s u f e r n d e r e n A n n e xionsforderungen e t w a des Alldeutschen Verbandes, w ä h r e n d

beispielsweise

d i e in d e r s o g e n a n n t e n I n t e l l e k t u e l l e n - E i n g a b e v o m 2 0 . J u n i 1 9 1 5 f o r m u l i e r t e n Z i e l e Z u s t i m m u n g bei vielen p r o t e s t a n t i s c h e n T h e o l o g e n f a n d e n . 7 2 8 Ä h n -

721

Rade, M.: Unsre Zukunft, in: C W 29 (1915) (Nr. 4 vom 28. Januar), 66. Vgl. ders.: Der nächste Nächste, in: ebd. (Nr. 5 vom 4. Februar), 85f., wo Rade zwar eine „große neue Gemeinschaft des Empfindens, Erfahrens, Erhebung des Sollens und Wollens" konstatierte, aber zugleich anfragte, ob sich die Menschen in Deutschland „auf Grund dieser gemeinsamen, Jedermann angehenden, Mark und Bein erschütternden Geschichte auch wirklich innerlich näher gekommen" seien und die Frage sogleich mit dem Hinweis beantwortete, daß man gerade zum Teil „auch dadurch auseinander gekommen" sei und bestehende Unterschiede sich zu „unüberwindlichen Anstößen" entwickelt hätten. So erwartete er „ein furchtbares Aufeinanderprallen materieller Interessengruppen" nach Kriegsende. Rade: Kirche nach dem Kriege, 39; vgl. ders.: Dieser Krieg, 3 3 f .

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Im auf den 23. Juni 1918 datierten Vorwort zu seiner Schrift: Das königliche Priestertum der Gläubigen und seine Forderung an die evangelische Kirche unserer Zeit ( = Sammlung gemeinverständlicher Vorträge und Schriften aus dem Gebiet der Theologie und Religionsgeschichte, 85), Tübingen 1918, 3, erklärte er, daß seine Antwort auf die Frage nach der Situation der Kirche nach Beendigung des Krieges, die er in „Kirche nach dem Kriege" gegeben hatte, „durch die bisherige Entwicklung völlig überholt" worden sei. „Die Annäherung von Kirche und Staat habe „alsbald einer gegenläufigen Bewegung weichen müssen, deren Stärke erst nach Friedensschluß offenbar werden wird." Ebd., 3. Ebd., 7ff. Vgl. Anm. 1 und 4 zu Nr. 573. Vgl. Nr. 573. RA 5, 3 2 5 f . ; vgl. ebd., 344. Ebd., 344. Vgl. Nr. 551. Der Text der Eingabe ist veröffentlicht in: Grumbach, S.: Das annexionistische Deutschland. Eine Sammlung von Dokumenten, die seit dem 4. April 1914 in Deutschland öffentlich oder geheim verbreitet wurden. Mit einem Anhang: Antiannexionistische Kundgebungen, Lausanne 1917, 132—140. In dieser Eingabe wurde die Beherrschung Belgiens, große Gebietsabtretungen Frankreichs, Annexion des Baltikums und großer westlicher Teile Rußlands sowie eine Vergrößerung des deutschen Kolonialgebiets in Afrika gefor-

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115

Der Erste Weltkrieg

l i e h w i e a n d e r e g e m ä ß i g t e H o c h s c h u l l e h r e r — z. B . E r n s t T r o e l t s c h , F r i e d r i c h Meinecke,

Max

Weber

und der ihm

nahestehende

Hans

Delbrück

— hielt

H a r n a c k weitgehende Annexionen Deutschlands für unrealistisch. Er sympat h i s i e r t e m i t D e l b r ü c k s K o n z e p t i o n , e i n G l e i c h g e w i c h t in E u r o p a u n t e r w e i t g e h e n d e m Verzicht auf dortige territoriale E r w e r b u n g e n durch d e s d e u t s c h e n K o l o n i a l g e b i e t s v o r a l l e m in A f r i k a u n d e i n e r

Vergrößerung

entsprechenden

S e e s t r e i t k r a f t D e u t s c h l a n d s zu e r r e i c h e n . 7 2 9 H a r n a c k lehnte A n n e x i o n e n größerer Teile Polens wie a u c h die des Baltikums ab.

730

In a u f f a l l e n d e m G e g e n s a t z z u a n d e r e n a u s d e m B a l t i k u m

stam-

m e n d e n G e l e h r t e n , d i e s i c h in d i e s e r F r a g e m e h r v o n i h r e r H e i m a t l i e b e a l s v o n r e a l i t ä t s g e b u n d e n e n Ü b e r l e g u n g e n l e i t e n l i e ß e n , e m p f a n d er z w a r d e n W u n s c h , d a s B a l t i k u m zu annektieren oder z u m i n d e s t politisch D e u t s c h l a n d

zuzuord-

n e n , 7 3 1 d o c h h i e l t er e i n e s o l c h e A u s w e i t u n g d e s d e u t s c h e n E i n f l u ß g e b i e t e s f ü r

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dert. Die Eingabe wurde u. a. von A. Deißmann, N . Bonwetsch, J . Haußleiter, K. Holl (einem Schüler Harnacks) und R. Seeberg unterzeichnet. Vgl. Delbrück, H.: Die Kriegsereignisse von Ende August bis gegen Ende September. Der zukünftige Friede, in: PrJ 158 (1914), 191f. Vgl. Schwabe, 5 9 f f . , 71 f.; Pachaly, E.: Adolf von H a r n a c k als Politiker und Wissenschaftsorganisator des deutschen Imperialismus in der Zeit von 1914 bis 1920, Diss. (maschinenschriftlich) Berlin (Ost) 1964, 66f. H a r n a c k , A.: Brief an den Chef des Zivilkabinetts, R. von Valentini vom 23. M a i 1915, in: Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Signatur Rep. 92 Valentini, Nr. 7 (M): Polen sollte unangetastet und bei Rußland bleiben. (Ebd.) Zwei J a h r e später forderte er im Interesse des Friedensschlusses den Verzicht auf Gebietsabtretungen Polens. Ders.: Gebot, 302; vgl. ders.: Ostseeprovinzen, 130. In einem Brief an L. von Vietinghoff-Scheel, den Hauptgeschäftsführer des Alldeutschen Verbandes v o m 26. August 1915 (in: K 44) erläuterte H a r n a c k seine Überzeugung bezüglich eventueller Annexionen, die er mit anderen in einer Eingabe an den Reichskanzler vom 27. Juli 1915 dargelegt hatte, (vgl. Z a h n - H a r n a c k , 361) und auf die sich auch sein Brief an Valentini bezog, dahingehend, daß er sich „nur gegen die Einverleibung Belgiens + N o r d f r a n k r e i c h s " ausgespochen hätte. Dagegen wäre „die Frage d[er] Annexion v[on] Balten + auch v[on] Letten, Littauern + Polen überhaupt nicht berührt" worden; er habe also „nicht gegen diese Annexionen Stellung" genommen. H a r n a c k , A.: Die Leistungen und die Z u k u n f t der baltischen Deutschen, in: R A 5, 361. Vgl. seinen Brief an Bethmann Hollweg v o m 2. M a i 1915, in: Z a h n - H a r n a c k , 362, und sein Schreiben vom 26. August 1915 an Vietinghoff-Scheel (in: K 44), in dem er „die Vereinigung der H e i m a t mit dem deutschen Reich" als sein höchstes Lebensziel bezeichnete. Die Begeisterung über den Einmarsch deutscher Truppen im Baltikum ließ ihn im Februar 1918 den Obersten Heerführern seinen „ w ä r m s t e n D a n k " aussprechen und den Wunsch äußern, daß sich die Z u k u n f t der Balten unter preußischer Führung gestalten möge, ohne daß er dabei allerdings direkte Annexionen anzielte. Entwurf eines Briefes v o m 25./26. Februar 1918 an Wilhelm II., in: K 45: „Wie auch d a s zukünftige Geschick der Provinzen sich gestalten wird — a m liebsten sähe ich mit vielen anderen sie preußisch — , sie werden den Faden ihrer Geschichte dort wieder aufnehmen dürfen, wo er vor 200 Jahren gelassen werden mußte. Und d a s Gute wird die schreckliche N o t gehabt haben, daß auch die besonnenen Elemente unter den Esten, und namentlich unter diesen, und vielleicht auch unter den Letten, einmütig erkennen und erklären werden, wir wollen mit den Deutschen zusammen unser H a u s neu a u f b a u e n . " Die von H a r n a c k in diesem Briefentwurf gebrauchten Abkürzungen (vgl. o. S. 3) wurden aufgelöst. Die Problematik der adäquaten Form des deutschen Einflusses im Baltikum sprach er in einem Schreiben vom 7 . / 5 . Februar 1918 an R. von Engelhardt an (maschinenschriftliche

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Einleitung

unrealistisch. 7 3 2 Er w a n d t e sich prinzipiell dagegen, weil eine „Einverleibung oder Angliederung politisch selbständiger und an Selbständigkeit gewöhnter Völker" moralisch nicht zu rechtfertigen s e i . 7 3 3 Im Interesse eines Verständigungsfriedens war er nicht nur zum Verzicht auf eine dauernde D o m i n a n z über Belgien, sondern s o g a r zu einem Gebietsverzicht in Elsaß-Lothringen b e r e i t . 7 3 4

17.3. H a l t u n g zum weiteren Kriegsverlauf und z u m Kriegsende Als im L a u f e des J a h r e s 1916 die Siegeszuversicht in D e u t s c h l a n d i m m e r stärker erschüttert w u r d e , traten Äußerungen der Sehnsucht nach Frieden i m m e r öfter a u f . 7 3 5 R a d e wie H a r n a c k riefen nach wie vor zum Vertrauen zu Regierung und militärischer F ü h r u n g auf. Dies v e r b a n d R a d e jedoch stets mit der F o r d e r u n g nach Vertrauen auf G o t t . 7 3 6 Die a n g e s p a n n t e militärische L a g e ließ H a r n a c k d a s Streben nach einem Verständigungsfrieden b e t o n e n . 7 3 7 Er bes c h w o r erneut die durch christlichen G l a u b e n und g e m e i n s a m e kulturelle Traditionen g e p r ä g t e „ e u r o p ä i s c h e V ö l k e r f a m i l i e " , in der D e u t s c h l a n d — s o d a s anzustrebende Ziel des Krieges — neben und mit anderen friedlichen Völkern leben und arbeiten k ö n n e . 7 3 8 Gleichzeitig w a r n t e er vor den gefährlichen und unrealistischen F o r d e r u n g e n der A l l d e u t s c h e n . 7 3 9 D a n e b e n plädierte er d a f ü r , die im A u g u s t 1914 im Z u s a m m e n s c h m e l z e n zu d e m einen Vaterland deutlich g e w o r d e n e Ü b e r w i n d u n g der sozialen und politischen G e g e n s ä t z e weiterz u e n t w i c k e l n . 7 4 0 Der „ G e i s t von 1 9 1 4 " , 7 4 1 der sich in der „ E r h e b u n g über

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Abschrift, in: K 30): „ D a s Problem für unsere Politik ist ja ungeheuer gross: in Littauen sollen wir die 10% Polen, denen das Land alle Kultur, soviel es hat, verdankt, für nichts achten, und in den baltischen Provinzen sollen wir den nicht stärkeren deutschen Faktor als den entscheidenden zur Herrschaft bringen! D a s ist wie eine Q u a d r a t u r des Zirkels, u[nd] doch zweifle ich nicht, d a s s jeder deutsche Politiker heute, der nicht von vornherein, wie die Sozialdemokraten, die Provinzen aufgiebt, darüber nachsinnt u[nd] tätig ist, wie er jenes Problem einigermaßen lösen k a n n . " Vgl. Z a h n - H a r n a c k , 361 f. Ebd., 361. Vgl. Harnack: Ostseeprovinzen, 131 ff., w o H a r n a c k eine selbstbestimmte Politik der Balten forderte, die auf einen Ausgleich zwischen allen ethnischen Gruppen abziele, wobei Deutschland lediglich Hilfestellung leisten solle. H a r n a c k : Gebot, 302; vgl. ders.: Friedensaufgaben und Friedensarbeit, in: R A 6, 280, Anm. 1. Vgl. R a d e , M . : Meine Pfingstbitte, in: C W 30 (1916), 438; R A 6, 689; Nr. 555 und Nr. 556. R a d e rechnete im Gegensatz zu H a r n a c k nicht mit einem raschen Kriegsende, vgl. Rade, M . : Kleine Mitteilungen, in: C W 30 (1916), 319. R a d e , M . : Kleine Mitteilungen, in: ebd. (Nr. 31 vom 3. August), 614; ders.: Vertrauen, in: ebd. (Nr. 40 vom 9. Oktober), 778. Vgl. R A 5, 3 3 5 f f . Angesichts des Konflikts mit den USA um den U-Boot-Krieg erklärte H a r n a c k noch einmal sein Vertrauen zu Reichskanzler und militärischer Führung (Nr. 551), dem R a d e ausdrücklich beipflichtete (Nr. 552). R A 5, 345. Ebd., 346. Nr. 556. R A 5, 3 3 9 f f . Vgl. R A 6, 2 7 9 f f . R A 6, 279.

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Der Erste Weltkrieg

den gemeinen E g o i s m u s " und im festen „Willen, alle Kräfte, Leib und Seele dem G a n z e n , dem Vaterlande, zu w i d m e n " manifestiert h a b e , h a b e den „inneren Wert und die Eigenart des deutschen G e i s t e s " deutlich hervortreten lassen.

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Innenpolitisch müsse nun die unbedingt notwendige „Fortentwicke-

l u n g " 7 4 3 des Staates durch tiefgreifende R e f o r m e n in Angriff g e n o m m e n werden. Neben Verbesserungen im sozialen Bereich, im Bildungs- und Gesundheitssektor forderte H a r n a c k vor allem das allgemeine und geheime Wahlrecht für Preußen, volle Religionsfreiheit sowie die Anerkennung des Koalitionsrechtes der A r b e i t e r . 7 4 4 D a s mündige deutsche Volk k ö n n t e sich mit Hilfe dieser

Freiheiten

zum

Ideal

der

„brüderlichen

sozialen

Arbeitsgemein-

s c h a f t " 7 4 5 entwickeln. M i t diesen R e f o r m e n hoffte H a r n a c k der langsam einbrechenden D e m o r a lisierung entgegenzuwirken. Sollten sie einerseits der Motivierung der Bevölkerung zu weiterem Kriegseinsatz d i e n e n , 7 4 6 so erhielten sie zugleich mehr und mehr den C h a r a k t e r der K o m p e n s a t i o n für die ausbleibenden außenpolitischen S i e g e . 7 4 7 Deutlicher trat dieser C h a r a k t e r in der ein J a h r später von H a r n a c k verfaßten Denkschrift hervor, in der er in drängenden Worten innere R e f o r m e n einklagte, die „ j e t z t " , in der „letztefn] S t u n d e " umgesetzt werden m ü ß t e n . N u r dadurch k ö n n e der „tote P u n k t " , a u f dem Deutschland „ ü b e r a l l " a n g e k o m m e n sei, überwunden w e r d e n . 7 4 8 D i e R e f o r m f o r d e r u n g e n waren zu einem „ P r o g r a m m von eigenem G e w i c h t " 7 4 9 geworden, dessen Umsetzung unaufschiebbar zur A b w e h r der „schwersten K r i s i s " 7 5 0 erschien. Einen M o n a t später beteiligte er sich an einer öffentlichen Erklärung, in der mit Hinweis auf die O s t e r b o t s c h a f t des Kaisers die Wahlrechtsreform erneut eingefordert wurde. N a c h dem Rücktritt B e t h m a n n Hollwegs wiederholte H a r n a c k die

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Ebd., 280. Ebd., 282. Ebd., 288 ff. Vgl. Harnack, A.: An der Schwelle des dritten Kriegsjahrs. Rede am 1. August 1916 in Berlin gehalten, in: RA 5, 339ff., wo Harnack dieselben Reformforderungen im Bereich der Sozialfürsorge, Bildungspolitik und Gesundheitswesen stellte, die weiteren Forderungen jedoch ausklammerte. RA 6, 280. RA 6, 297; vgl. Nr. 556, wo Harnack die besorgniserregenden Wirkungen des langen Krieges beklagte. Vgl. RA 6, 280ff. Vgl. Schwabe, 130. Harnack: Gebot, 298f. Harnack erneuerte, nachdem Wilhelm II. in seiner Osterbotschaft vom 7. April 1917 eine Reform des Wahlrechts in Aussicht gestellt hatte (abgedruckt in: Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 3: Deutsche Verfassungsdokumente 1 9 0 0 - 1 9 1 8 , hrsg. von E. R. Huber, 3. Aufl., Stuttgart-Berlin-Köln 1990, 153f.), in dieser Denkschrift die Forderungen nach einer Wahlrechtsreform. Er verlangte nun auch das „gleiche" Wahlrecht und beschwor die Regierungsverantwortlichen, „jetzt mit dem Gedankens des sozialen Kaiser- und Königtums" vollen und praktischen Ernst zu machen. RA 6, 299. Schwabe, 151. RA 6, 298.

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Einleitung

Forderung nach Reformen, die ihm unaufschiebbar erschienen — hatte doch der Krieg „auch im Innern [...] alle tiefen Probleme a u f g e r e g t " . 7 5 1 R a d e beteiligte sich nach einer Zeit der Zurückhaltung in öffentlichen politischen Äußerungen im Jahr 1916 ab 1917 wieder stärker an der allgemeinen Diskussion. Angesichts der Vielzahl der Feinde Deutschlands interpretierte er den im Januar 1917 erreichten Stand als Sieg Deutschlands, der nun in einen Frieden, verbunden mit „einer neuen besseren Ordnung der Dinge" münden müßte, 7 5 2 ohne daß er sich auf eine konkrete Formulierung von Kriegszielen festlegen wollte. 7 5 3 Er begrüßte die verschiedenen Bemühungen um Fried e n , 7 5 4 wobei er in realistischer Einschätzung der Möglichkeiten Deutschlands ebenso wie in Verantwortung gegenüber Gottes Gebot für einen Verständigungsfrieden plädierte. 7 5 5 Von dieser Haltung rückte er konsequenterweise auch unter dem Eindruck der Anfangserfolge der Frühjahrsoffensive 1918 nicht a b . 7 5 6 Die Ablehnung des deutschen Friedensangebots vom Dezember 1916 enttäuschte ihn schwer. 7 5 7 Er fand jedoch in der durch den uneingeschränkten U-Boot-Krieg bewirkten neuen „Epoche einmütiger Entschlossenh e i t " 7 5 8 Entschädigung dafür. Die Freude daran war indes nur kurz, da die innenpolitischen Spannungen alsbald wieder deutlich zutage traten. Harnack war bestürzt über diese Kriegsverschärfung, da er sich — wie andere Mitglieder des „Mittwochabend-Kreises" seines Schwagers H a n s Delbrück — darüber klar war, daß dies die Kriegserklärung der USA verursachen w ü r d e . 7 5 9 Rade erteilte den maßlosen Annexionsforderungen der Alldeutschen eine deutliche Absage, in denen er — wie auch Harnack — klarsichtig eine Gefahr für das deutsche Volk erblickte, da sie keinen R a u m für Alternativen offen ließen. R a d e wagte dabei, die Möglichkeit einer Niederlage Deutschlands auszusprechen, und forderte, sich auch auf diesen Fall einzustellen. „Aber indem man leidenschaftlich begehrt, auch die M a s s e n unsers Volkes mit solchen Gedanken zu erfüllen, und unter der erreichbaren Schicht die hingehendste P r o p a g a n d a

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Schreiben vom 30. Oktober 1917 an R. von Valentini, in: Z a h n - H a r n a c k , 355. H a r n a c k befürchtete, daß ohne die Verwirklichung der in Aussicht gestellten Reformen ein nicht abzusehendes Unglück über Deutschland hereinbrechen würde. Ebd., 356. Rade:, 61. Vgl. ders.: Krieg ohne Ende, in: C W 32 (1918), 258. Rade: Antwort, 715. Vgl. ebd.; ders.: 1917, in: C W 31 (1917), 2; ders.: Klage, 61. Rade: Antwort, 716. Vgl. Nr. 572. Rade, M . : Die einmütige Entschlossenheit des deutschen Volkes, in: C W 31 (1917), 141. Ebd. Erst Mitte 1917 bekannte er Skepsis in Bezug auf die Wirkung des uneingeschränkten U-Boot-Krieges. Nr. 565. Vgl. H a m m e r , 94; Rohrbach, P.: U m des Teufels Handschrift. Zwei Menschenalter erlebter Weltgeschichte, H a m b u r g 1953, 205; Rühlmann, P.: Delbrücks „ M i t t w o c h a b e n d " , in: Am Webstuhl der Zeit. Eine Erinnerungsgabe. H a n s Delbrück dem Achtzigjährigen von Freunden und Schülern dargebracht, hrsg. von E. Daniels und P. Rühlmann, Berlin 1928, 76 ff.; Baden, M . Prinz von: Erinnerungen und Dokumente, Stuttgart-Berlin-Leipzig 1927, 76.

Der Erste Weltkrieg

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treibt, gefährdet man die Ruhe, die Besonnenheit, das Vertrauen und die Tatkraft unsers Volkes. Denn — wenn es nun nicht möglich ist, diese Voraussetzungen des einzig rechten deutschen Dauerfriedens herzustellen? Welche Aussicht auf Verelendung unsres Staates eröffnen uns dann diese Patrioten! Wo doch alles daran liegt, unser Volk unter allen Umständen gesund und schaffensfroh zu erhalten und auch für den ungünstigen Fall es mit stärkstem Glauben an sich und seine Zukunft zu erfüllen." 760 Rade teilte H a r n a c k s Beobachtung der abnehmenden

Widerstandskraft

Deutschlands. 7 6 1 Sein Vertrauen in die Regierung, das er noch im Z u s a m m e n hang des drohenden Kriegseintritts der USA 1 9 1 6 betont h a t t e , 7 6 2 wich einer kritischeren Betrachtung ihrer Politik, die mit Bedenken gegenüber der militärischen Führung und sogar einer Infragestellung der Person Wilhelms II. einherging. 7 6 3 Angesichts dieser Situation sah er sich mit H a r n a c k einig in der Forderung nach inneren Reformen als das „Einzige, was Sinn, Mut und Kraft beleben k a n n " . 7 6 4 Das letzte Kriegsjahr begleitete Rade mit immer intensiveren Bemühungen, die politischen und militärischen Ereignisse unter das Wort Gottes zu stellen. J e mehr sich die militärische Lage Deutschlands verschlechterte, desto deutlicher plädierte er dafür, sich Gottes Willen zu unterstellen und auf ihn zu v e r t r a u e n . 7 6 5 Den Krieg, für dessen Ende „keine Verheißung von G o t t " existiere, 7 6 6 interpretierte er nun als Schule, in der das deutsche Volk von G o t t erzogen w e r d e . 7 6 7 Die Zuversicht auf Gottes gutes Handeln ließ Rade dann Rade, M.: Politische Extravaganzen. 2. Von den Alldeutschen, in: CW 31 (1917) (Nr. 22 vom 31. Mai), 428. Den Gedanken der Niederlage äußerte er auch Harnack gegenüber in einem Brief vom 6. Juli 1917 (Nr. 565). — Vgl. Nr. 556, wo Harnack die wachsende Gefahr durch die alldeutschen „Patrioten" beklagte. 761 Nr. 560. 7 « Nr. 552. 7 6 3 Nr. 565. Nach der Kanzlerschaft Georg Michaelis' beklagte er dessen „Versagen" und bemängelte, daß er nicht in der Lage gewesen sei, das unbedingt notwendige Vertrauen in die Regierung zu befestigen. Rade, M.: Politische Extravaganzen. 7. Zur äußeren und inneren Lage - Mitte November, in: CW 31 (1917), 842. 7 6 4 Nr. 565. Vgl. Rade, M.: Zu den Ereignissen im Reich. 16. 7. 17, in: CW 31 (1917), 554, wo er sich für das deutsche Volk wünschte, „daß ihm endlich der volle Anteil an seiner Verwaltung und Regierung werde, der ihm gebührt." Rade lehnte jedoch eine ^Demokratisierung' nach dem Muster der Weststaaten" ab. Ebd. Ähnlich äußerte sich Harnack in seinem Brief vom 30. Oktober 1917 an Valentini; vgl. Zahn-Harnack, 356. 7 6 5 So programmatisch in der ersten Andacht des Jahres 1918: Vom Warten-können. Zum neuen Jahr 1918, in: CW 32 (1918), l f . 7 6 6 Ebd., 1. Rade spielte sogar mit dem Gedanken, daß es zu überhaupt keinem Frieden komme, sondern lediglich zu einem teilweisen allmählichen Abbauen des Krieges. Vgl. ebd.; ders.: Krieg ohne Ende, in: CW 32 (1918) (Nr. 27/28 vom 5. Juli), 258. 7 6 7 Rade, M.: Offener Brief an einen neutralen Freund, in: ebd., 358; ders.: Bußtag, in: ebd., 435; vgl. ders.: Strenge Zukunft, in: ebd., 305, und Rades Andacht zum 31. Oktober 1918: Unbedingtes Vertrauen, in: CW 32 (1918), 409: „Nun macht Gott die große Probe mit unserm Volk, wie tief das Vergessen und Versäumen in ihm gewurzelt hat. Er fragt uns, ob wir uns endlich darauf besinnen wollen, wie wir eigentlich zu ihm stehen und er zu uns. Und wohl uns, wenn wir es jetzt begreifen. Es ist dafür niemals zu spät." Dabei blieb Rade der festen Überzeugung, daß auch in dieser Lage Gott „alles Gute" 760

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Einleitung

auch die Niederlage, deren Schwere er nicht beschönigte oder gar verklärte, gelassen ertragen und gerade in dieser Situation „unbedingtes Gottvertrauen" einklagen. Gerade diese Lage erblickte er als Zeit, „wo der Glaube triumphiert, der nicht am Erfolg hängt und nicht am sichtbaren Segen, sondern mitten unter den Feinden, mitten in der Unterdrückung Gottes Willen atmet. Laßt uns tief atmen, meine Brüder, meine Schwestern. Ganz tief." 7 6 8 Rief er dazu auf, „zum Leben" „betrübt" zu sein, 7 6 9 so plädierte er ebenso dafür, die Niederlage als Lern- und Läuterungsprozeß zu akzeptieren. 7 7 0 Von diesem Standpunkt aus wandte er sich ohne ein „Gefühl der Niedergeschlagenheit" entschlossen der Zukunft zu, um im Vertrauen auf Gott und im Glauben an die Kräfte des eigenen Volkes 771 in „unbedingter Wahrhaftigkeit" 7 7 2 am Wiederaufbau mitzuarbeiten. Harnack, der seit längerem mit der Niederlage gerechnet und sich darauf eingestellt hatte, 7 7 3 forderte — in Fortführung seiner Bemühungen um staatliche Reformen — nun den Wandel vom Obrigkeits- zum Freiheits- und Volksstaat. Dabei sei bei 1849 anzuknüpfen. 7 7 4 Die neue politische Ordnung müsse mit einer grundsätzlichen geistigen und ideellen Neuorientierung verbunden sein. „Die neuen demokratischen Formen allein tun es nicht, wenn nicht eine tiefe rechtschaffene Abkehr von dem nationalistischen Hochmut, dem Mammonismus u[nd] der Ideenu[nd] Gottlosigkeit erfolgt. Wird es an diesem Punkt nicht besser u[nd] anders, so werden wir nicht vermögen, in der furchtbar schweren Zeit der Demobilmachung u[nd] der Restauration das Ganze zusammenzuhalten u[nd] gegen die Gefahr des Bolschewismus zu sichern. Wir sind dann nicht am Ende unserer Prüfungen, sondern am Anf[a]ng." 7 7 5

Harnack griff hier die vor dem Krieg in theologischen Kreisen weit verbreitete Klage über „Materialismus", „Egoismus" und schwindene Religiosität als bestimmendes Merkmal der wilhelminischen Zeit auf. Hatten viele Theologen den Krieg als Aufbruch aus diesem Verhaftetsein im Materiellen zu einer neuen idealeren deutschen Kultur begrüßt, 7 7 6 charakterisierte Harnack den Krieg als Resultat dieser egoistischen Grundhaltung und klagte das Abwenden von ihr als Voraussetzung für eine glückende Zukunftsgestaltung ein. 7 7 7 In Konsequenz

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zugetraut werden müsse. Rade, M.: Siegeswille, in: ebd. (Nr. 40/41 vom 3. Oktober), 372. Rade: Unbedingtes Vertrauen, in: ebd., 409. Ebd. Rade, M.: Glaube an Gott, und glaube an dein Volk!, in: ebd. (Nr. 48/49 vom 28. November), 462. Ebd., 462f. Rade: Bußtag, 436. Vgl. Zahn-Harnack, 373 f. Vgl. Hammer, 95. Postkarte vom 31. Oktober 1918 an E. Zurhellen-Pfleiderer, in: K 32 (Konvolut „Adolf von Harnack"). Ebd. Vgl. Zahn-Harnack, 374 f. Vgl. Huber, 142f., 166f. Vgl. Harnack, A.: Auf Dein Wort hin will ich das Netz auswerfen. Predigt im Akademischen Gottesdienst gehalten am 2. Februar 1919, in: RA 6, 404ff.

Politisches Engagement in der Weimarer Republik

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dieser Überzeugung weigerte er sich, die Schuld am Kriegsende einer bestimmten Gruppe zuzusprechen, sondern vertrat den Standpunkt, daß „alle schuldig oder doch mitschuldig" seien. 7 7 8 Die Dolchstoßlegende wurde von ihm deshalb als Ausrede, die jedes realen Hintergrundes entbehrte, abgelehnt. 7 7 9

18. Politisches Engagement in der Weimarer Republik Der Kriegsausgang bedeutete für Harnack nicht den Zusammenbruch seiner gesamten Weltanschauung. Wie Rade besaß er Halt in seinem Glauben. Er hatte den Krieg nie als Offenbarung Gottes verstanden, wie so mancher dem Kulturprotestantismus zuzurechnender T h e o l o g e 7 8 0 und ihm nur ganz zu Anfang eine religiöse Qualität beigemessen. Deshalb mußte er sich nun nicht mit dem Scheitern dieser Überzeugung auseinandersetzen. Er glaubte fest daran, daß G o t t in allen historischen Entwicklungen bei den Menschen sei. Deshalb mahnte er angesichts der Niederlage zu Vertrauen auf Gottes gütige Führung und rief zur Mitarbeit am Wiederaufbau auf, der im Geist des Evangeliums geschehen solle. 7 8 1 Dieser Wiederaufbau müsse ein echter Neuanfang sein, der die sozialen Differenzen der wilhelminischen Zeit überwinden solle. „Glaubt nur nicht, daß ihr die Alten bleiben und die alte Weise noch fortsetzen könnt. Der große R i ß und die vielen Risse und Spalten, die Mensch von Mensch und Klasse von Klasse unter uns trennen, müssen beseitigt werden und verschwinden." 7 8 2 Die These, daß nur auf der Grundlage des christlichen Glaubens eine Überwindung der Antagonismen der Gesellschaft im wilhelminischen Deutschland möglich sei, wurde angesichts der veränderten politischen Situation aufgegriffen. Harnack schwebte als Ideal der neuen gesellschaftlichen Ordnung „eine Verbindung" vor, „so umfassend, wie das menschliche Leben und so tief wie die menschliche N o t . " 7 8 3 Diese Umschreibung hatte er stets für die vom Evangelium angezielte menschliche Gemeinschaft (und deshalb auch oft für sein Ideal der Kirche) g e b r a u c h t . 7 8 4 Wie am Ende der Antike Evangelium und Kirche die neue Zeit erbauten, so könne auch nun, nach dem Sturz der Moderne, nur ein Wirken in einem neuen Geist, der ein Geist des Evangeliums sein müsse, verhindern, daß das Chaos zurückkehre und „die wirklichen Kräfte und die unveräußerlichen Ordnungen des Alten Postkarte vom 31. Oktober 1918 an E. Zurhellen-Pfleiderer, in: K 32 (Konvolut „Adolf von Harnack"). Vgl. RA 6, 406f. 7 7 9 „Aber auch die Ausrede gilt nicht, das Ganze, das Volk, sei gesund gewesen, aber bestimmte Personen, diese oder jene, oder eine bestimmte Klasse, diese oder jene, trage die Schuld an dem Fall und Verderben". Ebd., 406; vgl. ebd., 405. 780 Vgl. Huber, 152f. — Auch bei anderen Theologen begegnete dieses Verständnis; vgl. Hammer, K.: Deutsche Kriegstheologie ( 1 8 7 0 - 1 9 1 8 ) , München 1971, 96ff. 7 8 1 RA 6, 408 ff. 7 8 2 Ebd., 409. 7 8 3 Ebd. 7 8 4 Vgl. Harnack: Wesen, 67. 778

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Einleitung

erhalten bleiben und sich an d e m Neuen aufs neue das W o r t erfülle: ,Es werde Licht, und es w a r d L i c h t . ' " 7 8 5 Diese H a l t u n g bestimmte H a r n a c k s Verhalten in der W e i m a r e r Republik. E r trauerte der M o n a r c h i e nicht nach, sondern begrüßte die Demokratisier u n g , 7 8 6 wenn sie auch nicht die von ihm frei gewählte S t a a t s f o r m bildete. E r stellte sich „ a u f den Boden der Verfassung", u m zu „ w i r k e n " und dahingehend zu arbeiten, „soviel Güter der Vergangenheit auf den neuen Boden zu verpflanzen als irgend m ö g l i c h . " 7 8 7 Entsprechend dieser Einstellung erklärte er es für falsch, der Vergangenheit n a c h z u t r ä u m e n , sondern rief dazu auf, die politischen Realitäten anzuerkennen und die junge Republik tatkräftig zu unterstützen: „Denjenigen, die die Parole ausgeben, wir Deutsche dürften und könnten nichts anderes tun, als uns auf das Zeitalter Bismarcks besinnen und es zurückführen, sage ich: Diese Parole ist falsch. Dieses Zeitalter ist unwiederbringlich dahin (...) Vor uns liegt [...] das Zeitalter der Demokratie und des Sozialismus [...] Daß wir zur Republik geworden sind, wäre vielleicht zu vermeiden gewesen; unvermeidlich aber war, daß, nachdem es geschehen, wir unter allen Völkern der Demokratie und der sozialen Orientierung den breitesten Spielraum geben mußten. [...] wir haben die Republik, und wir müssen alles tun, um sie auf den gegebnen Grundlagen zu festigen." 788 Diese Überzeugung setzte H a r n a c k in die Tat um, indem er als R e i c h s k o m missar für Schul- und Kirchenfragen beratend an den Vorbereitungsarbeiten für die Artikel der W e i m a r e r Verfassung über Kirche, Schule und Universität mitarbeitete. H i e r traf er mit R a d e z u s a m m e n , der ebenfalls zu dieser Arbeit berufen w o r d e n w a r . 7 8 9 H a r n a c k setzte sich für den E r h a l t der theologischen Fakultäten an den H o c h s c h u l e n ein und verteidigte den Religionsunterricht an den nicht bekenntnisgebundenen S c h u l e n . 7 9 0 785 786 787

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RA 6, 410. Vgl. Zahn-Harnack, 374. Ebd., 376. In einem Grußwort zum 27. ESK, der Mitte Oktober 1918 stattfand, hatte Harnack noch den Neubau Deutschlands „auf dem Grunde der Monarchie und Volksfreiheit" gefordert. Vgl. Die Verhandlungen des 27. und 28. Evangelisch-sozialen Kongresses abgehalten in Leipzig, am 15. und 16. Oktober 1918 und in Berlin, am 23. und 24. Juni 1920, Göttingen 1921, 2. Harnack, A.: Politische Maximen für das neue Deutschland. Der akademischen Jugend gewidmet, in: RA 6, 321. Vgl. Rathje, 266. Harnack wirkte im 8. Ausschuß über den Entwurf einer Verfassung des Deutschen Reiches an der 19.—22. Sitzung (1. —4. April 1919) in Weimar mit. Vgl. Verhandlungen der verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 336, Berlin 1920, 192f., 196, 200f., 203. Zahn-Harnack, 387 f. Vgl. Harnack, A.: Die Bedeutung der theologischen Fakultäten, in: PrJ 175 (1919), 3 6 2 - 3 7 4 ; auch in: RA 6, 1 9 9 - 2 4 2 . Vgl. auch die von Harnack mitunterzeichnete „Erklärung Berliner Universitätsprofessoren", in der für Erhalt und kraftvollen Neubau des Religionsunterrichts, den „Eckstein unseres ganzen Erziehungsunterrichts" als des ,,erste[n] und wichtigste[n] Gebot[es] für die Neubelebung unseres deutschen Erziehungswesens" plädiert wurde. Abgedruckt in: Greschat, M.: Der deutsche Protestantismus im Revolutionsjahr 1918/19 (= Politik und Kirche. Studienbücher zur kirchlichen Zeitgeschichte, Bd. 2), Witten 1974, 131 f.

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Im Verhältnis gegenüber anderen Völkern forderte Harnack dazu auf, aus der „Katastrophe des Weltkriegs und der folgenden Jahre" zu lernen, „daß die Beziehungen der Völker auf eine neue Grundlage gestellt werden müssen." 791 Dazu hielt er — wie zur Neugestaltung Deutschlands — einen Wandel der Überzeugungen für unverzichtbar. „Die Mittel der alten Politik, die ein Jahrhundert hindurch mühsam und mit großen Unterbrechungen das Gleichgewicht der Staaten in Europa und auf der Erde aufrecht erhalten haben, reichen nicht mehr aus [...] Mit den Nachbarn kann man nur als Freund oder im beständigen Krieg leben — also ist eine Umwandlung in der sozialen Gesinnung der Völker nötig und ihr aufrichtiger Entschluß, überpersönliche und übernationale Kräfte im Leben der Völker anzuerkennen. Anders kann der Welt Friede und Freiheit nicht gewährleistet werden!" 7 9 2

Ohne ein friedliches, verbessertes Verhältnis zu anderen Staaten war nach Meinung Harnacks eine positive Entwicklung Deutschlands, das auf zumindest erträgliche Beziehungen zu seinen Nachbarstaaten angewiesen sei, nicht möglich. Die Gestaltung dieses Verhältnisses und der Ausgleich zwischen den jeweiligen Interessen sollte durch internationale Anstrengungen geschehen. Deshalb begrüßte er den Völkerbund. .„Völkerbund' — Du nennst ihn eine ,Spottgeburt'; in der Tat ist er durch die noch in Kraft erhaltene Verquickung mit dem abscheulichen u[nd] unerträglichen Versailler Frieden ein schwer rachitisches Kind; aber nicht nur ist die Idee richtig u[nd] gross, sondern er hat auch schon auf einer Reihe von Gebieten — namentlich durch die Ausgestaltung des Haager Gerichtshofes u[nd] die Schiedsgerichte — Erhebliches geleistet. [...] Jedenfalls bietet er uns den einzigen Weg, unsre Weltstellung u[nd] -geltung wiederzuerlangen. Sich einzuspinnen (was wir übrigens gar nicht können; denn ohne Handelsverträge u[nd] Export müssen wir verhungern) und auf Katastrophen zu warten, ist desparado- u[nd] Emigrantenpolitik, die noch nie in der Geschichte zum Siege geführt hat." 7 9 3

Rade bemühte sich, die Ereignisse des Kriegsendes und des revolutionären Umsturzes ebenso wie die des Krieges aus der Perspektive des christlichen Glaubens zu betrachten und in ihnen Gottes Handeln zu erkennen. Dies half ihm, das Kriegsende nicht als alles zerstörende Katastrophe zu betrachten. Er verzweifelte nicht an Gott, sondern sah dessen Wirken gerade in dieser Zeit. Er erkannte klar die Größe des Umsturzes, den der Krieg bewirkt hatte, und verstand ihn als Chance, sich nun auf das Wesentliche zu besinnen. „Auch der Zusammenbruch der alten Welt, in der wir lebten, geschieht, da die Zeit erfüllet ist. Laßt stürzen, was stürzen will. Wenn ihr nur euern nackten Glauben hinüberrettet in eine neue Zeit." 7 9 4 Rade mahnte zur Besinnung auf die 791

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Ansprache Harnacks in: Das Friedenswerk von Paris und Die Not der Völker. Vorträge, gehalten bei der internationalen Kundgebung in der Aula der Berliner Universität am 16. Februar 1924, Berlin o. J . [1924], 66. Ebd. Brief vom 16. Februar 1927 an R. von Engelhardt (maschinenschriftliche Abschrift), in: K 30. Rade: Bußtag, 435.

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Einleitung

Fehler der Vergangenheit und zum Eingestehen der Niederlage. Daraus könne im Vertrauen auf Gott ein echter Neubeginn erfolgen. „Es ist der Herr, der zerbrochen hat in seinem Zorn, was morsch und faul war, und der in seiner Langmut und Güte einen neuen Anfang mit uns machen will. [...] Voraussetzung, unerläßliche Bedingung ist mir dabei, daß wir die Tiefe unsers Falls, unsers Unglücks, unsrer Schmach ganz empfinden. [...] Fragen wir heute nicht, was wir verloren haben. [...] Es liegt mehr an der Z u k u n f t als an der Vergangenheit. Die neue Zeit, in die wir über Nacht eingetreten sind, ist ein neuer Tag. Eine neue Sonne mit neuem Licht. [...] Jetzt erst zeige, was du kannst und was du bist, deutsches Volk!" 7 9 5

Rade traute dem deutschen Volk die Kraft zu einem wirklichen Neuanfang zu, so daß er gerade in der Zeit der Niederlage ein Wort gebrauchte, daß er während des Krieges bewußt nicht ausgesprochen hatte: „Ich glaube an dich, mein Volk." 7 9 6 Er akzeptierte die veränderten Verhältnisse und verlangte, sie als Chance zu tiefgreifenden Reformen zu nutzen. Hatte er bislang die konstitutionelle Monarchie als beste Regierungsform unterstützt, da der König und Kaiser als neutrale Instanz den Ausgleich zwischen den Interessengruppen im Reich schaffe, 7 9 7 so stellte er sich nun energisch auf den Boden der Demokratie, in der er gute Voraussetzungen für die Umsetzung christlicher Überzeugungen gegeben sah. 7 9 8 Er begrüßte, daß das „Staatsvolk durch die innere Katastrophe bis in den Grund politisiert wird", während es sich bislang in „tiefgewurzelte[r] Vertrauensseligkeit" blind auf die Regierungsverantwortlichen verlassen hätte. 7 9 9 Dieser Zug zu politischer Mitverantwortung und aktivem Engagement stimmte ihn zuversichtlich, daß die Entwicklung in Deutschland einen positiven Verlauf nehmen würde. 8 0 0 Er selbst trat — wie F. Naumann und O. Baumgarten — in die DDP ein, da sie „noch keine entschiedene Kirchenpolitik" habe und „in dieser Hinsicht 795

Rade, M.: Glaube an Gott, und glaube an dein Volk!, in: CW 32 (1918) (Nr. 48/49 vom 28. November), 462. 736 Ebd. 797 Vgl. Rade, M.: Zu den Ereignissen im Reich. 16. 7. 17, in: CW 31 (1917), 555. 798 „Dies aber, die vollkommene Aneignung demokratischer Grundsätze, drängt sich meiner Einsicht und Gewissenhaftigkeit immer mehr auf. Sie wird mir immer mehr zur Existenzbedingung eines starken und umfassenden Christentums in unserm Volk." Rade: Kriegspfaden, 76. 799 Rade, M.: Z u r Abrechnung, in: CW 33 (1919), 8. Rade fuhr ebd. fort: „Es fiel uns im Grunde gar nicht ein, diese Verantwortlichen zur Verantwortung zu ziehen, ja daß wir die waren, die an jedem Teil sie mit zur Verantwortung zu ziehen hatten. Es ruhte sich so gut aus auf dem Kissen des beschränkten Untertanenverstands. Man sorgte sich wohl einmal, und schalt höchstens, im übrigen: ,Es ist mein Amt nicht.' [...] Das muß nun ganz anders werden. Wir müssen uns ganz anders um die Dinge kümmern." soo D i e s e Zuversicht Rades gründete er vor allem auf sein Erlebnis des Wahlkampfs zur Nationalversammlung: „Ich hatte den Eindruck, daß der ganze Wahlkampf diesmal viel anständiger und sachlicher verlaufe als früher. [...] Die Leser müssen wissen, daß die Zuversicht, mit der ich in den neuen Zustand hineingehe, durch meine persönlichen Erlebnisse während dieser Zeit stark befestigt worden ist." Rade: Kriegspfaden, 75.

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vielleicht den Ausschlag geben" werde sowie „kirchliche Mitglieder wie mich auf ihre Stellungnahme einwirken lassen [wird], wenn wir nur ernstlich und ehrlich selber Demokraten s i n d . " 8 0 1 Rade sah in der D D P die Möglichkeit, als Christ und Demokrat besonders an der Kirchenpolitik der jungen Demokratie mitzuwirken und auf diese Weise seine ethischen wie politischen Überzeugungen in die Gestaltung der Republik mit einzubringen. Er wurde in die verfassungsgebende preußische Landesversammlung gewählt und war einer der drei Fraktionsvorsitzenden der DDP. In seiner dortigen Tätigkeit bis zur Auflösung der Landesversammlung im J a n u a r 1921 engagierte er sich vor allem in kirchenpolitischen F r a g e n . 8 0 2 In der Diskussion um die rechtliche Gestaltung der evangelischen Landeskirchen ging die Regelung, die Befugnisse des preußischen Königs als Summepiskopos zunächst auf drei evangelische Minister zu übertragen, mit auf Rades Engagement z u r ü c k . 8 0 3 In der heißdiskutierten Frage der Trennung von Kirche und Staat verstand Rade die Trennung, die er zunächst abgelehnt, 8 0 4 ab Mitte 1917 als M ö g l i c h k e i t 8 0 5 und Mitte 1918 als Gewißheit betrachtet h a t t e , 8 0 6 als eine Chance zur Reform der evangelischen Kirchen. Angesichts eines demokratischen Staates sah er es als „das Lebensinteresse der Kirche s e l b s t " 8 0 7 an, sich gleichfalls zu demokratisieren, d. h. das Kirchenvolk an der Verwaltung der Kirche zu beteiligen. „Wie schön wird das sein, wenn unser kirchliches Gemeinwesen sich aus rein religiösen und sachlichen Motiven heraus rein entfalten und verwalten w i r d ! " 8 0 8 Dazu wollte Rade als Parteipolitiker Hilfestellung leisten. „Die evangelische Kirche [...] muß erst mit Hilfe des Staates frei und selbständig w e r d e n . " 8 0 9 Die Trennung sei positiv für beide Seiten. „Die Kirche wird als Volkskirche gerade dem Staatsvolke dienen, nicht nur dem K i r c h e n v o l k e . " 8 1 0 Kritikern gegenüber vermiede sie so „den üblen Schein, als sei sie selbst eine Anstalt des Staats, von ihm zu eigennützigen Zwecken unterhalten." 8 1 1 Zudem könne nur eine Kir-

Ebd., 7 6 . Z u m Verhältnis zwischen DDP und freiem Protestantismus zu Beginn der Weimarer Republik vgl. Mehnert, 151 ff. 803 Vg] Rade, M . : Ein kirchenpolitisches Zwischenspiel in der Preußischen Landesversammlung, in: C W 3 3 ( 1 9 1 9 ) , 2 5 0 f f . ; Rathje, 2 6 6 f . Vgl. auch Rade, M . : Z u r Reichsverfassung, in: C W 3 3 ( 1 9 1 9 ) , 1 7 0 f .

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Rade: Kirche nach dem Kriege, 2 8 ; s. o. S. 113. Vgl. Rade: Was sollen, 4 9 9 . Im Z u s a m menhang mit dem Fall J a t h o hatte Rade sich bereits für eine stärkere Trennung von Kirche und Staat ausgesprochen; vgl. o. S. 7 2 .

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Rade: M . : Nach Jahresfrist, in: AdF, Nr. 5 7 (31. Juli 1 9 1 7 ) , 6 5 1 , w o er ausdrücklich seine 1 9 1 5 vertretene Ansicht revidierte.

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Vgl. Anm. 7 2 2 . Rade: Demokratisierung, 5 2 2 . Ebd. Rade, M . : Der heutige Staat und die evangelische Kirche in Preußen, in: Magdeburgische Zeitung, Nr. 6 6 vom 2 7 . J a n u a r 1 9 2 0 . Die DDP müsse bei der Regelung des Verhältnisses von Kirche und Staat die „Führung" übernehmen, da nur sie „grundsätzlich entschlossen an die Aufgabe der Entstaatlichung der Kirche" herangehe. Ebd. Ebd. Ebd.

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che mit demokratischen Formen dem Staat gegenüber glaubhaft machen, daß sie nicht „ein Hort des politischen Konservatismus, der Reaktion" sei. 8 1 2 Aus diesem Grund plädierte Rade für Urwahlen zu einem deutschen Kirchentag, der eine demokratische Verfassung der Kirche erarbeiten sollte. 813 Die Chance zu einer durchgreifenden Reform der evangelischen Kirche erkannte und ergriff Rade sehr früh. Bereits am 14. November 1918 rief er gemeinsam mit dem Chemnitzer Pfarrer Gay zur Bildung von VolkskirchenRäten auf. 8 1 4 Die Vorschläge, die Rade als „Grundlinien", „Richtlinien" und „Ziellinien" der neu zu gestaltenden Kirche entwickelte, 815 zielten auf eine Neugestaltung der Kirche auf der Basis des allgemeinen Priestertums aller Gläubigen. 816 Die kirchlichen Organe bis hin zu den Pfarrern sollten in freier Wahl bestellt werden. Eine aus allgemeiner, direkter und geheimer Wahl durch alle weiblichen und männlichen Gemeindemitglieder über 20 Jahren hervorgegangene Reichssynode sollte eine für ganz Deutschland einheitliche Verfassung der Kirche erarbeiten. 817 Auf diese Weise sollte die „alte Staats- oder Landeskirche" überwunden und eine „Freie Evangelische Volkskirche" geschaffen werden, 818 in der auch die Freikirchen integriert sein sollten 819 — eine Umwandlung, die Rade als Fortführung der Reformation verstand. 820 Rades Vorschläge fanden nur bei Wenigen Anklang. Die „vis inertiae" 821 erwies sich als weit stärker als Bestrebungen zu einem wirklichen Neubeginn. Der größte Teil der Kirchenmitglieder blieb überkommenen Vorstellungen verhaftet. Die konservativen Kräfte, die möglichst viel des alten Bestandes der Landeskirche bewahren wollten, um auf diese Weise die weitere finanzielle Unterstützung des Staates zu sichern, kamen immer stärker zu Geltung. 822 Der erste Deutsche Evangelische Kirchentag vom 1. bis 5. September 1919 in Dresden beendete die „innerkirchliche Revolution". 823 Der Gedanke der 8,2 813 814 815

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Rade: Demokratisierung, 5 2 4 . Ebd., 5 2 5 . Aufruf: An unsre protestantischen Volksgenossen!, in: C W 3 2 ( 1 9 1 8 ) , 4 6 0 . Rade, M . : Grundlinien für die Volkskirchen-Räte, in: ebd., 4 6 6 ; Richtlinien für die Volkskirchen-Räte, in: ebd., 4 9 2 ; Vorschläge für die Volkskirchen-Räte, in: ebd., 5 0 0 f . Vgl. Grundlinien, in: ebd., 4 6 6 . Ebd. Rade: Was sollen, 4 9 9 . „Jetzt oder nie mag die Pastorenkirche der Laienkirche, die Konsistorialkirche der Gemeindekirche weichen." Ebd. Ebd. und Rade: Richtlinien, 4 9 2 . Rade, M . : Die deutsche Revolution, in: C W 3 3 ( 1 9 1 9 ) , 6 9 7 - 6 9 9 . - Parallel zu seinen Bemühungen um eine wirkliche Volkskirche trat er gesamtgesellschaftlich für die Beseitigung des „Ständeunwesens" des wilhelminischen Deutschlands zugunsten eines „Volksstaates" ein. Rade, M . : Die Stände und der Volksstaat, in: Der Geist der neuen Volksgemeinschaft. Eine Denkschrift für das deutsche Volk, hrsg. von der Zentrale für Heimatdienst, Berlin o. J . [ 1 9 1 9 ] , 1 4 8 f . Rade: Richtlinien, 4 9 2 . Mehnert, 2 1 7 . Die konservative Grundstimmung der Kirchenmitglieder zeigte auch die Wahl zur Württemberger Landessynode, für die eine der wenigen Urwahlen veranstaltet wurde. Die konservative Liste errang dort 5 0 % der Sitze, die linke Liste lediglich 1 5 % . Ebd., 2 1 3 .

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Volkskirche hatte sich nicht durchsetzen können. Die Landeskirchen blieben bestehen und schlössen sich 1921 endgültig zum — von Rade durchaus begrüßten — „Deutschen Evangelischen Kirchenbund" zusammen. 8 2 4 Rade und Harnack blieben ihren demokratischen Überzeugungen, nachdem sie sich zu ihnen durchgerungen hatten, treu. Beide verurteilten den Kapp-Putsch. 8 2 5 Die Ermordung Walther Rathenaus, die von Rade scharf als „unchristlich und undeutsch" verurteilt w u r d e , 8 2 6 nahm er zum Anlaß, zur Einigkeit besonders im Inneren und zur Ablehnung von ,,blöde[m] Rassenund Klassenhaß", von „Standes- und Cliquendünkel" sowie zu aktivem politischen Engagement aufzurufen. 8 2 7 Er erkannte deutlich, daß politische Abstinenz die Position der rechtsradikalen Kräfte stärkte. „Wer sich brüstet, daß er keiner Partei angehört und kein Politiker sei, der räumt der Mordpolitik das Feld."828 Als im Jahre 1925 Friedrich Ebert starb, widmete Rade ihm einen wohlwollenden N a c h r u f . 8 2 9 Er beklagte die ablehnende Haltung großer Teile der evangelischen Kirche Ebert gegenüber, die sich im Fernstehen bei den Trauerbekundungen gezeigt hatte. Dies war ihm Anlaß zu den kritischen Fragen „Steht denn unsre evangelische Kirche so ganz rettunglos im Schatten der Reaktion? Ist sie nicht mehr für das ganze Volk da, sondern nur für gewisse Kreise? Weiß sie nicht mehr, was sie dem Staat als solchem schuldig i s t ? " 8 3 0 Stand Rade mit dieser Haltung in Opposition zur großen Mehrheit seiner Kirche, so zeigte sich dies noch deutlicher, als er in der Diskussion um die Nachfolge Eberts ebenso wie Harnack und O. Baumgarten für den Katholiken Wilhelm M a r x plädierte 8 3 1 und dafür eintrat, „die Wahl von konfessionellen Gesichtspunkten 824

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Vgl. Rade, M.: Der Deutsche Evangelische Kirchentag, in: C W 33 (1919), 602. Vgl. dazu Mehnert, 213 ff. So mußte Rade bald konstatieren, daß die Staatskirche zwar durch die Weimarer Verfassung abgeschafft worden sei, die starke und lebendige Volkskirche aber immer noch eine Forderung sei, zu deren Verwirklichung große Widerstände in Volk und Kirchenleitung zu überwinden seien. Rade, M.: Werden wir eine Volkskirche haben?, in: C W 34 (1920), 6 5 8 - 6 6 0 . Vgl. ebd., 6 9 9 - 6 0 1 , 6 1 7 - 6 1 9 . Vgl. Nr. 575. Harnack sah die Ereignisse 1921 als so erschreckend an, daß er das Bild der apokalyptischen Reiter aufgriff. Sie seien „wieder über die Erde gekommen und haben sie mit ihrem Schrecken erfüllt. Was seit langen Jahren nur noch im Bilde gelebt hat, ist wieder leibhaftig geworden, und zur Stunde noch reiten die Todbringenden über das Land." Harnack, A.: Die apokalyptischen Reiter, in: Festschrift der Kaiser-WilhelmGesellschaft zur Förderung der Wissenschaften zu ihrem 10jährigen Jubliäum, Berlin 1921, 253; auch in: RA 6, 53. Kundgebung der Theologischen Fakultät Marburg zur Ermordung Rathenaus, abgedruckt in: C W 36 (1922), 505. Rade, M.: Rede bei der Marburger Trauerfeier für den ermordeten Reichsminister Rathenau, in: ebd., 522 f., Zitat 522. Ebd., 523. Rade, M . : Reichspräsident Ebert, in: C W 39 (1925), 237f. Rade, M . : Zum Tode unseres Reichspräsidenten, in: ebd., 280. Vgl. Nr. 609, 611, 617 und 618. Vgl. auch Rade, M . : Das konfessionelle Motiv bei der Reichspräsidentenwahl, in: C W 39 (1925), 5 0 4 - 5 1 1 . Rade kritisierte, daß die Freiheit der politischen Entscheidung bei der Reichspräsidentenwahl „dem evangelischen Deutschen [...] durch die kirchlichen Autoritäten" bestritten würde. (507) Gegen diese Hai-

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zu entschlacken und die politischen Sachanliegen zur Geltung zu bringen". 832 Dafür mußte er nicht nur heftige Angriffe von rechts, sondern auch hohe Verluste an Abonnements der CW sowie eine Reihe von Austritten aus der VFCW hinnehmen. 833 Harnack hatte Ebert 1924 angesichts der gegen ihn im Zusammenhang mit dem Magdeburger Beleidigungsprozeß erhobenen Vorwürfe öffentlich verteidigt 834 und dafür scharfe Kritik von rechts einstecken müssen. 835 Er erkannte die Schwächen der Weimarer Republik, doch er war optimistisch genug, nichtdestotrotz ein neues Zeitalter des Geistes heraufziehen zu sehen. 836 Sein Glaube an die Kraft der Ideen hatte ihn nicht verlassen. Er erwartete von einem mit dem Christentum eng verwandten Idealismus das Überwinden der herrschenden Krise, die seiner Meinung nach nicht nur eine wirtschaftliche Dimension besitze, sondern vor allem eine die Menschen vergiftende „moralische Misere" sei. 837 Er plädierte für ein tatkräftiges Mitwirken an einer Neugestaltung der Gesellschaft. Dabei müsse der Blick in die Zukunft gerichtet sein. Er erteilte allen eine deutliche Absage, die sich „träumen lassen, daß sie durch eine einfache Zurückführung des Alten und durch Paraden, Hakenkreuze und Stahlhelme die Schäden der Zeit heilen können."838 In diese Ablehnung des aufkommenden Nationalsozialismus stimmte Rade ein. In seiner Rezension zu Hitlers „Mein Kampf" verurteilte er mit scharfen Worten die „Brutalität eines hirnverbrannten Rassenfanatismus", der nur „eine heilige Pflicht: Ausrottung der Juden und der Novemberverbrecher" kenne. 839 In diesem vor dem Wahlerfolg der NSDAP bei der Reichstagswahl vom 31. Juli 1932 geschriebenen Artikel finden sich die prophetischen Worte: „Der dies schrieb, wäre vor etlichen Wochen beinahe unser Reichspräsident geworden. [...] Und was damals nicht wurde, kann noch werden." 8 4 0 tung, die „verhängnisvolle Vermischung von Religion und Politik", die in weiten evangelisch-kirchlichen Kreisen herrsche, sahen sich Rade wie auch gleichgesinnte Theologieprofessoren gezwungen zu protestieren. (509) H a r n a c k hatte in dem Artikel: An die evangelischen Deutschen. Für M a r x als Reichspräsident, in: Frankfurter Zeitung, Nr. 2 9 8 vom 2 3 . April 1 9 2 5 , sich u. a. deshalb für M a r x ausgesprochen, weil er ein „erprobter S t a a t s m a n n " sei, der „mit voller innerer Zustimmung und Zuversicht auf dem Boden der Reichsverfassung" stehe. 832

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N o w a k , K.: Evangelische Kirche und Weimarer Republik. Z u m politischen Weg des deutschen Protestantismus zwischen 1 9 1 8 und 1 9 3 2 , 2. Aufl., Göttingen 1 9 8 8 , 1 6 3 . Vgl. Rathje, 3 3 5 ff.

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H a r n a c k , A.: Brief an Friedrich Ebert, in: Berliner Tageblatt, Nr. 6 1 3 v o m 2 7 . Dezember 1 9 2 4 . Vgl. Z a h n - H a r n a c k , 4 1 1 f.

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Zahn-Harnack, 411. H a r n a c k , A.: Das k o m m e n d e Zeitalter des Geistes und der Geist unserer Zeit, in: Neue Freie Presse, Nr. 2 1 4 6 0 vom 8. Juni 1 9 2 4 ; auch in: R A 7 , 1 6 7 f .

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R A 7, 169 ff. Ebd., 169. k a d e , M . : Hitlers „Mein K a m p f " , in: C W 4 6 ( 1 9 3 2 ) , 6 5 1 . Ebd., 6 5 2 . Vgl. auch Rades Votum in: Die Kirche und das dritte Reich. Fragen und Forderungen deutscher Theologen, hrsg. von L. Klotz, 2 Bde., Gotha 1 9 3 2 , in dem er eine Ablehnung des Führers der N S D A P durch den Protestantismus forderte (95) und

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Während Harnack 1930 starb, 8 4 1 erlebte Rade die Machtübernahme des Nationalsozialismus 1933, dem er kritisch, aber mit einer gewissen Hilflosigkeit gegenüberstand. 8 4 2 Rade, der zum Jahresende 1931 die Redaktion der CW an Hermann Mulert übergeben hatte und bereits 1924 emeritiert worden war, bekam die Auswirkungen des „Dritten Reiches" persönlich zu spüren. Er wurde am 24. November 1933 aufgrund des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" aus dem Staatsdienst entlassen. 8 4 3 Den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs erlebte er in Frankfurt am Main, wohin er mit seiner Frau im Sommer 1939 umgezogen war. Die Zeitereignisse betrachtete er nun mit großer Sorge und vom hohen Alter geprägter Ratlosigkeit, aber ungebrochenem Gottvertrauen: „Die Zeiten sind sehr ernst. Daß man das noch erleben muß! Interessant schon, aber man hätte sie gern uninteressanter in Schule und Welt. Gott weiß, was er mit unserem Volke und seinen Menschenkindern auf Erden vorhat." 8 4 4 Am 9. April 1940 starb Martin Rade an den Folgen eines Treppensturzes. 8 4 5

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das nationalsozialistische Rassedenken als unüberwindliches Hindernis für das Zusammenarbeiten zwischen evangelischer Kirche und Nationalsozialismus benannte. (96) Vgl. Nr. 677. Vgl. Ausstellungskatalog, 205 f. Vgl. Rade, M.: Brief an meinen Nachfolger. Von dem früheren Herausgeber der Christlichen Welt, in: CW 47 (1933), 302f., und Kantzenbach, F. W.: Kirchlich-theologischer Liberalismus und Kirchenkampf. Erwägungen zu einer Forschungsaufgabe, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 87 (1976), 306ff. Z u r Haltung der CW zum Nationalsozialismus vgl. auch Graf, F. W.: „Wir konnten dem Rad nicht in die Speichen fallen". Liberaler Protestantismus und „Judenfrage" nach 1933, in: Der Holocaust und die Protestanten. Analysen einer Verstrickung (= Konfession und Gesellschaft. Beiträge zur kirchlichen Zeitgeschichte, Bd. 1), hrsg. von J.-Chr. Kaiser und M . Greschat, Frankfurt/Main 1988, 1 5 1 - 1 8 8 . Graf analysiert ebd., 168ff., Rades widersprüchliche Haltung zum Umgang mit jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern nach den Nürnberger Gesetzen. Rade, M.: Meine Entlassung, in: AdF, Nr. 111 (10. Januar 1934), 1 0 1 3 - 1 0 1 6 ; vgl. Rath je, 449 ff. Brief vom 14. Oktober 1939 an Pfarrer Rechenbach, zitiert nach Rathje, 520. Vgl. Rathje, 520.

Der Briefwechsel

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Nr. 1 Postkarte Harnacks an Rade Gießen, 28/IV/[18]79. Mein lieber Herr Rade, Eben komme ich aus meinen beiden ersten Vorlesungen, 1 die ich vor 7 resp[ektive] 6 Zuhörern gehalten habe. Meine Hoffnung ist noch auf einen mehr gerichtet; aber sie ist unsicher. Doch bin ich auch so ganz zufrieden. Die Zahl der Theol[ogie] Studirenden läßt sich noch nicht übersehen; kühne Collegen träumen, daß ein Dutzend und mehr sich versammeln werden. Ich bin jetzt völlig eingerichtet; meine Wohnung ist sehr gemüthlich u[nd] angenehm u[nd] die Umgebung der Stadt gefällt mir ausnehmend. Weiteres läßt sich noch z. Z. nicht sagen. Für Dembowski's Brief besten Dank; er wirkte erleichternd; aber der arme Mensch! 2 An Ritsehl schreibe ich sogleich. Daß [ = Fricke] soviel Zuhörer hat, hat mich sehr gefreut; aber wieviel hat tp-inffl1? [ = Luthardt] im Römerbrief? 3 Daß der G[ustav-]A[dolf-]V[erein] 4 in Leipzig zum Confessor werden muß, ist sehr drollig. Aus der Recension des Herrn N[itzsch] über L[ipsius] hat Schürer noch ein Invectivenconglomerat gegen Hferrmann] herausgestrichen. 5 Hoffentlich ist die Zeit nun vorüber, wo jeder sich glaubt an H[errmann] 6 reiben zu dürfen. Heute im Colleg habe ich Ihrer u[nd] Ihrer sowie meiner Leipziger Freunde so oft gedacht, daß ich Mühe hatte, nicht zerstreut zu werden. Erhalten Sie mir Ihr freundliches Andenken, wie Sie alle des meinen gewiß sein dürfen. Ich bitte die Freunde z[u] grüßen. Treulich Ihr A H.

Nr. 1 1 H a r n a c k , der zum Sommersemester 1879 als ordentlicher Professor für Kirchengeschichte an die Universität in Gießen berufen worden war, las im Sommersemester 1879 „Kirchengeschichte, 1. Teil", sechsstündig und „Dogmengeschichte", ebenfalls sechsstündig. 2 Ein Brief von Hermann D e m b o w s k i aus dem J a h r e 1879 befindet sich weder im H a r nack- noch im Rade-Nachlaß. 3 G u s t a v Adolf Fricke las im Sommersemester 1879 „Fundamental-Theologie", „Einleitung in die D o g m a t i k " und hielt ein exegetisches Seminar über Neues und Altes Testament. Christoph Ernst Luthardt las „Erklärung des Römerbriefes". 4 Der Gustav-Adolf-Verein war 1842 gegründet worden zur Unterstützung protestantischer Christen in und außerhalb Deutschlands, die in einer Diaspora-Situation lebten. 5 Nitzsch, F.: (Rez.) Lipsius, R. A.: Dogmatische Beiträge zur V e r t e i d i g u n g und Erläuterung meines Lehrbuchs [aus: Jahrbücher für protestantische Theologie], Leipzig 1879 und ders.: Lehrbuch der evangelisch-protestantischen D o g m a t i k , 2. Aufl., Braunschweig 1879, in: T h L Z 4 (1879), 2 0 7 - 2 1 2 . - Im Original befinden sich hinter den Namenskürzeln „ N " , „ L " und „ H " Auslassungspunkte. 6 Wilhelm Herrmann lehrte als Privatdozent systematische Theologie in Halle.

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Nr. 2 Brief Harnacks an Rade Gießen, d[en] 28. Mai 1879. Mein lieber Herr Rade, Ihr Brief vom 21. 1 ist schon seit einigen Tagen in meinen Händen u[nd] es ist Zeit, daß ich ihn beantworte. Zunächst — die theologischen Bemerkungen u[nd] Ausführungen in demselben haben mich sehr interessirt und erfreut. Sie hatten keinen Grund, für dieselben Nachsicht in Anspruch zu nehmen. Was Sie über Kaftan bemerkten, ist durchaus zutreffend u[nd] stimmt mit dem überein, was ich selbst an dem Buche lobe u[nd] tadle. 2 Richtig haben Sie herausgelesen, daß seine Behandlung der paul[inischen] Satisfactionstheorie keine zufriedenstellende ist, daß er für den Titel eintritt, ohne doch die Sache entschieden u[nd] deutlich klar zu stellen. Dies ist überhaupt eine Gefahr bei Kaftan. In dem Bestreben, die überlieferten Formen zu halten, geht er entschieden zu weit; sie hindern ihn das Richtige deutlich zum Ausdruck zu bringen und so ist Gefahr vorhanden, daß er zwischen dem „nicht mehr" und dem „noch nicht" in der Mitte hängen bleibt u[nd] Niemanden befriedigt. Übrigens muß ich es schon für eine verfehlte Aufgabe halten, in Predigten die Theologie des Paulus zu entwickeln. Wer über die Aufgaben der Predigt der Gegenwart schreibt, sollte es sich zuerst klar machen, daß es unzweckmäßig ist, das Ganze des paulinischen Lehrbegriffs zum Gegenstand der Erbauung machen zu wollen. Sie haben dies sehr richtig ebenfalls gefühlt. Man kann nicht das ganze Evangelium richtig zum Ausdruck bringen, wenn man es lediglich im Rahmen des Paulus halten will. In diesem Sinn ist also Kaftan nicht vorbildlich und Ihre helle Klage, daß er einem die Originalität vorwegnehme, ist von Ihnen selbst durchkreuzt worden. 3 Auch das Bestreben Kaftans, möglichst seine Abhängigkeit von den Ritschl'schen Impulsen zu verdekken, kann ich nicht billigen. Er hat doch Alles, was er richtiges bringt, direct oder indirect von dort her. Ritsehl selbst hat auch (ohne Ärger) doch das Unstatthafte der Kaftan'schen Weise empfunden. Er schrieb mir „Kaftan's Buch habe ich gelesen. Wenn Einer in unserem Namen Teufel austreiben will, ohne sich zu uns zu halten, so will ich's ihm nicht wehren, sondern mich dessen freuen." 4 Nr. 2 1 Dieser Brief ist weder im Harnack- noch im Rade-Nachlaß enthalten. Harnack hatte die Schreiben Rades an ihn aus den ersten Jahres ihres Briefwechsels nicht aufbewahrt. Der erste erhaltene Brief Rades an ihn (Nr. 34) datiert vom 1. Januar 1886. 2 Kaftan, J.: Das Evangelium des Apostels Paulus in Predigten der Gemeinde dargelegt, Basel 1879. 3 Der Satz ist ab „Ihre helle Klage [...]" mit Blaustift unterstrichen; dazu befindet sich — mit demselben Stift geschrieben — eine Bemerkung Rades über dem Briefkopf: „auf einen Scherz meinerseits bezüglich". 4 Der entsprechende Brief Ritschis an Harnack vom 30. April 1879 befindet sich im Harnack-Nachlaß, K 40. Ritsehl schrieb darin: „Neben Herrmanns großem Buche werden Sie Ihre Aufmerksamkeit auch der kleinen Schrift Ihres Freundes Kaftan widmen dürfen,

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Ritsehl sollte das Buch bei Schürer 5 recensiren, hat es aber abgelehnt. Wer es nun erhält, weiß ich nicht. 6 Das Herrmann'sche B u c h 7 wird von Weizsäcker bei Schürer beurtheilt werden. 8 Die 2. Aufl[age] d[er] N[eu-]T[estament]lichen Zeitgeschichte 9 wird wohl noch lange auf sich warten lassen. — Herrmann habe ich einen ausführlichen Brief über sein Buch geschrieben u[nd] er hat mir vor 3 Tagen sehr ausführlich geantwortet. 1 0 M i r ist an dem Buche doch Vieles sehr bedenklich; vor allem die philosophischen] Operationen und das „Sittengesetz". Nach seinem Briefe aber ist unsre Differenz eine viel geringere. Um so mehr bedauere ich, daß sein Buch zu Mißverständnissen Anlaß geben wird, vor allem zu diesem, als brauche die Theologie doch die Philosophie, z. B. die Kant'sche Erkenntnißtheorie, um bestehen zu können. Herrmann ist mir noch immer zu dialectisch-absolutistisch und zu wenig „geschichtlich". Aber alle rein theologischen Parthieen sind meisterhaft u[nd] wir Alle können ihm nur den besten Dank für diese T h a t wissen. Mit seiner Professur scheint es noch nicht vorwärts zu gehen; doch hat die Halle'sche Facultät — zum Ruhme sei's gesagt — ihn einstimmig vorgeschlagen. 1 1 Ich lebe hier noch nicht eben sehr behaglich; aber ich habe keinen Grund zur Klage. Meine Studenten sind freilich andere, als die meiner Leipziger Gesellschaft. Noch finde ich keine rechte Resonanz und Sie wissen, wie sehr ich derselben zur Förderung meiner eigenen Studien bedarf. Das docendo discimus gilt für mich im vollsten Sinne; aber unter Bedingung, daß ich nicht „lapides et trunci" vor mir habe. Nun — so brauche ich G o t t sei Dank auch meine hiesigen Zuhörer nicht zu bezeichnen; aber ich muß eben noch das Gröbste an ihnen selbst thun u[nd] kann mich nicht darauf verlassen, daß sie von geförderteren Studiengenossen das erörtert hören, was ich Ihnen [sie] oft nur kurz u[nd] knapp u[nd] darum oft nicht eindringlich genug sagen kann. Das war das Beneidenswerthe meiner Leipziger Lage, daß ich immer eine ältere Generation hatte, die mit mir zusammen an Jüngeren arbeitete. Ich

welcher Vieles sagt, was H[errmann] auch aufgestellt hat. Wahrscheinlich wird die Schrift mit dem Titel Die Predigt des Evangeliums etc. unter Leute kommen, welche darin etwas anderes suchen als sie finden. Und das ist ja ganz nützlich. Ich bin auch ganz einverstanden, daß ein Anderer Teufel austreibt, obgleich er nicht zu uns gehört, und nicht mit uns geht. Er wird doch nicht wieder gleich lästern." 5

D. h. in der von Emil Schürer herausgegebenen Theologischen Literaturzeitung.

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Die Rezension dieses Buches in: T h L Z 4 ( 1 8 7 9 ) , 5 7 5 — 5 7 8 , erfolgte durch Ernst Julius Meier. H e r r m a n n , W.: Die Religion im Verhältnis zum Welterkennen und zur Sittlichkeit. Eine Grundlegung der systematischen Theologie, Halle 1 8 7 9 .

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T h L Z 4 (1879), 5 9 0 - 5 9 8 . Weizsäcker, C.: Untersuchungen über die evangelische Geschichte, ihre Quellen und den Gang ihrer Entwicklung, G o t h a 1 8 6 4 ; die 2 . Aufl. erschien 1 9 0 1 , hrsg. von A. Bilfingen Der entsprechende Brief H e r r m a n n s befindet sich nicht im H a r n a c k - N a c h l a ß . H e r r m a n n war seit 1 8 7 5 Privatdozent für systematische Theologie in Halle; er wurde 1 8 7 9 als Ordinarius für systematische Theologie nach M a r b u r g berufen. Als Nachfolger von Julius Müller wurde 1 8 7 9 Martin Kähler ordentlicher Professor für systematische Theologie in Halle.

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hatte das Bewußtsein, daß schon eine Tradition unter meinen Zuhörern selbst da sei, der ich vieles ruhig vertrauen konnte. Sie umspülte fortgesetzt die strebsamen Neulinge und brachte ihnen stetig nahe, was ich nur compendiarisch übermitteln konnte. Doch - es muß auch hier gehen und ich bin kein Freund von Überstürzungen. Die Dinge müssen ihren ruhigen Gang nehmen und Werthvolles kann sich auch nur langsam entwickeln. Mag eine Generation auch vorbeigehen: mit Gottes Hülfe wird sich die Sache schon formiren. Ihnen aber allen, die mich durch Ihre persönliche Zuneigung und Ihren freudigen Eifer unterstützt u[nd] gehoben haben, sage ich den besten Dank. Ich sage ihn Ihnen eigentlich täglich. Denn täglich blicke ich auf meine Leipziger Zeit zurück, die mir Gott der Herr zu einer Zeit der Freude all' die Jahre hindurch gestaltet hat. In mancher guten Stunde blicke ich aus dem Rahmen des festen und bleibenden Verhältnisses, welches sich zwischen uns geknüpft hat, auf eine zukünftige schöne Zeit hinaus, wo unsere evangelische Kirche vielleicht nach schweren Stürmen das Evangelium ohne die Trübungen der Parteien bekennt und wo die Kämpfe schweigen, die als das Erbtheil einer jahrhundertelangen Entwicklung unsre Zustände jetzt so heillos verwirren. Vielleicht gibt es dann auch wieder eine evangelische Christenheit in unserem Volke und nicht nur Pastoren sammt ihrem treuen Anhang. Vielleicht begreift man dann nicht mehr, wie es solange hat dauern können, bis sich das reine Evangelium aus den Umarmungen einer bösen Philosophie und einer berechnenden Politik wieder entwunden hat. Warum sollen wir nicht denken u[nd] hoffen, daß solche Zeiten kommen können? in [sie] allen Dingen ist es besser zu hoffen als zu verzweifeln. Und kommen sie mit neuen Irrthümern, die wir jetzt vielleicht nur ahnen, nun, so wird auch dann die Hülfe nicht ferne sein. Unterdessen — mag die Sonne aufgehen oder am Untergange scheinen — in der einfachen Regel, daß wir unsere Pflicht zu erfüllen haben unbekümmert um den Erfolg, liegt der Schutz wider alle Anläufe beschlossen. Wir sitzen nicht im Regimente, sondern stehen im Solde unseres Gottes: das ist mir immer einer der tröstlichsten Gedanken. — Ich habe hier bereits 60 Vorlesungen gehalten, bin also einigermassen im Zuge. Herr Bornemann 1 2 gefällt mir recht gut; doch ist er nicht so geweckt wie sein behender Bruder. Ich werde zu Pfingsten wahrscheinlich hier bleiben. Doch ist es noch nicht sicher. Mittwoch kommt Ritsehl auf 2 Tage zu uns. Sie können sich denken, wie wir uns freuen. Ein Herr Erbes hat meinen „Ignatius" 1 3 in den Jahrb[üchern] f[ür] protestantische] Theol[ogie] einer Kritik unterzogen. 1 4 Auch dieser einfältige Mensch wittert natürlich bei mir allerlei reactionäre Tendenzen und bekundet 12 13

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Johannes Bornemann, der Bruder Wilhelm Bornemanns. Die Zeit des Ignatius und die Chronologie der Antiochenischen Bischöfe bis Tyrannus nach Julius Africanus und den späteren Historikern. Nebst einer Untersuchung über die Verbreitung der Passio S. Polycarpi im Abendlande, Leipzig 1878. Erbes, C.: Die Chronologie der antiochenischen und der alexandrinischen Bischöfe nach den Quellen Eusebs, in: Jahrbücher für protestantische Theologie 5 (1879), 464—485.

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die Armseligkeit seiner Wissenschaft durch die albernsten Unterschiebungen, die er mir macht. Dahinter aber, glaube ich, steckt niemand anders als der große Jenaer Prophet 5 selbst, dem ich immer mehr ein Dorn im Auge werde. Wenn ich Zeit finde, werde ich über die ältesten Bischofscataloge noch einmal schreiben u[nd] Herrn Erbes bedenken; aber die Sachen liegen mir zur Zeit fern u[nd] ich liebe es nicht, Dinge deßhalb noch einmal zu sagen, weil ein xbeliebiger sie mißverstanden hat. — Nun leben Sie wohl u[nd] genießen Sie die Feiertage in Ihrer Familie bestens. Ihr Adolf Harnack.

Nr. 3 Brief Harnacks an Rade Gießen, d[en] 14. Juli [18)79. Mein lieber Herr Rade, Ihr letzter Brief ist zum Theil aus einer trüben und unbefriedigten Stimmung heraus geschrieben. Was Sie mir im Eingang von Ihrer Berufswirksamkeit erzählen, rechtfertigt ja freilich eine solche zeitweise Stimmung u[nd] ich bin Ihnen dankbar, daß Sie mir so geschrieben haben, wie's Ihnen um's Herz war. 1 Soweit ich die Verhältnisse, in denen Sie stehen, zu beurtheilen vermag, darf ich Ihnen nicht zureden, sie zu verlassen; aber freilich drängt sich mir mehr u[nd] mehr die Einsicht auf, es müsse nothwendig der energische Versuch gemacht werden, den Sohn aus dem Mutterhause zu entfernen. Denn Sie haben ganz recht — unter diesen häuslichen Verhältnissen wirkt jede Erziehung zur Willenskraft u[nd] Arbeit wie ein Tropfen auf einen heißen Stein — er verdampft sofort. Sollte es wirklich unmöglich sein, wenn Sie u[nd] Schubart 2 sich vereinen, die Mutter zur Einsicht u[nd] dem für sie allerdi[n]gs schweren Schritt zu bringen? Ich meine, eine directe u[nd] nachdrückliche Anstrengung müßte hier jedenfalls noch gemacht werden. Je weniger Sie aus dem Resultate derselben eine Kabinettfrage machen dürfen, und machen werden, um so überzeugter muß die Mutter werden, daß Sie wirklich nur das Heil ihres Kindes im Auge haben. Indessen — so oder so — ich verstehe Ihren Brief dahin, daß Sie jedenfalls bis Ostern zu bleiben gedenken u[nd] das ist recht. Eine Frucht wird es doch geben, dessen können sie [sie] sicher sein,

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Karl von H a s e .

Nr. 3 1 R a d e arbeitete seit 1878 als Hauslehrer bei Marie C z e r m a k in Leipzig. Zwischen ihr und R a d e bestanden Differenzen hinsichtlich der Erziehung ihres Sohnes Leo, die R a d e anvertraut worden war. Vgl. Rathje, 19 ff. 2 Der Lehrer Friedrich Martin Schubart, der Schwiegersohn Marie C z e r m a k s .

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wenn sie sich auch jetzt nicht u[nd] Ihnen nicht zeigen will. Es ist unmöglich, daß Ihre Einwirkung auf das jugendliche Gemüth spurlos sich je verwischen sollte — darauf dürfen Sie bauen, u[nd] wenn es nachmals auch viel weniger ist, als Sie erreichen wollten u[nd] als der Junge anfangs selbst versprach — wir müssen uns bescheiden lernen, muß es G o t t selbst an uns ja auch. Deßhalb wollen wir aber unsere Ziele nicht herabsetzen; denn sonst wird noch weniger erreicht. Die letztre Reflexion ligt mir zur Zeit sehr nahe u[nd] ich muß sie mir täglich vorhalten. Ich habe jetzt c[irca] 120 Collegien in Gießen gelesen u[nd] finde nur wenig Resonanz. Es geht langsam, sehr langsam u[nd] oft bin ich kleinmüthig. Es ligt ja zum Theile gewiß auch an mir. Aber manches kommt doch zu einer Entfaltung u[nd] man muß sich an dem kleinen Wachsthum zu erfreuen wissen. Wir haben auch noch Krankheitsnoth mit unseren Studenten. Herr Schmidt aus Bremen, ein guter, aber noch völlig desorientirter Mensch, ist die erste Hälfte des Semesters krank gewesen u[nd] nun liegt seit 14 Tagen Bornemann an einem Typhus sehr bedenklich darnieder. Es ist zwar eben keine acute Gefahr, aber ist doch sehr ernst. Er war der geweckteste u[nd] fleißigste, auch i[n] d[er] Dogm[en]geschichte, wenn gleich er an Fähigkeiten seinem Bruder nicht gleichkommt u[nd] etwas schwerfällig ist. Im nächsten Semester lese ich K[irchen-]Gesch[ichte] II Thfeil] 6st[ündig], C h r i s t l i c h e ] Alterthümer der 4 ersten Jahrhfunderte] lst[ündig] u[nd] halte eine G e s e l l s c h a f t ] über d[ie] Zeit d[es] Iren[äus] u[nd] Tertullian. Kattenbusch liest [?] D[o]gm[a]tik II u[nd] Symbolik, Schürer Matthläusevangelium] u[nd] Bibl[ische] Theol[ogie] d[es] Njeuen] T e s t a m e n t s ] , Stade E i n l e i t u n g ] i[n] d[as] A[lte] T[estament] u[nd] kl[eine] Propheten. Als Preisaufgabe f[ür] 1 8 8 0 habe ich gestellt „Die Dogmatische Bedeutung der Taufe Christi durch Johannes bei d[en] christlichen] Theol[o]gen der 4 ersten Jahrhunderte." Nächstens erscheint meine Abhandlung über die Entstehung des N[eu-]T[estament]lichen Kanons i[n] Anlehung an d[as] Murat[orische] Fragment. 3 Ich bin gespannt, wie sie Ihnen gefallen wird. Ich habe i[n] den letzten Wochen viele Recensionen geschrieben; so werden Sie wieder mehr von mir hören. Sonst geht hier Alles seinen ruhigen Gang. Seit 8 T[a]gen habe ich die Freude meine Eltern bei mir zu haben: sie wohnen bei mir. Ich muß eilends auf den Bahnhof, um z[um] Jahresfest der innern Mission nach Nauheim zu fahren. Entschuldigen Sie die Flüchtigkeit d[er] Zeilen. Schreiben Sie bald wieder u[nd] recht ausführlich. Jeder Brief von Ihnen ist mir eine Freude. Das nächste Mal über Ihre Bemerkungen zu Ritsehl u[nd] Kaftan. Grüßen Sie die Freunde! Immer Ihr AHarnack

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Harnack, A.: Das Muratorische Fragment und die Entstehung einer Sammlung apostolisch-katholischer Schriften, in: Z K G 3 (1878/79), 3 5 8 - 4 0 8 .

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Nr. 4 Brief Harnacks an Rade Gießen, d[en] 17. Juli 1879. Mein lieber Herr Rade, Ihr Brief, den ich soeben empfing, hat mich sehr bewegt. Aber seien Sie versichert, daß ich Ihre Entschließungen im Voraus billige; denn ich weiß, daß Sie dieselben nicht eigensüchtig werden getroffen haben. Im Interesse von Czermak's bedauere ich es sehr, wenn es sich so ergeben sollte, daß Sie dieselben verlassen. Daß Sie für Ihre Arbeiten u[nd] Ihre weitere Ausbildung wesentlich u[nd] lediglich gewinnen, wenn Sie jetzt diese Thätigkeit verlassen, glaube ich, so wenig ich annehme, daß Ihnen das letzte J a h r keine Vortheile gebracht habe. Im Gegentheil — ich bin davon überzeugt, daß diese Schule nach den verschiedensten Seiten für Sie eine heilsame gewesen ist. Sie werden den Segen davon unzweifelhaft selbst noch empfinden. Sollten Sie sich nun entschließen, doch noch zu bleiben, so würde die jetzige Krisis jedenfalls Ihre Stellung wesentlich zum Besseren verändern. 1 Über die Aussicht, Sie eventuell in Gießen auf mehrere Monate zu haben, darf ich gar nicht denken; denn mir wäre die Hoffnung darauf so werthvoll, daß die Enttäuschung mir schmerzlich wäre. Also betrachte ich den Plan noch als nicht existirend. Was Ihre Absicht betrifft, sich im Herbst an eine Doctorschrift zu machen, so wissen Sie, daß ich Ihnen nur zureden kann. Das Thema „Socrates — Sozomenos" ist übrigens neulich v[on] Ifland u[nd] Güldenpennig in ihrer Monographie über d[en] Kaiser Theodosius I 2 zwar nicht erschöpfend, aber doch ausreichend u[nd] richtig behandelt worden. Es käme also jetzt mehr auf die Quellen des Theodoret an in seiner K[irchen-]Geschichte. Ist Ihnen dieses Thema zu öde, nun Themata giebt es genug. Mit Interesse habe ich von Ihrer Mittwochsgesellschaft 3 gehört. Grüßen Sie bitte die Herren bestens. Daß Guthe anfängt verdächtig zu werden, ist ja eigentlich nicht wunderbar. Mir ist es immer ein Unbegreifliches, daß die Herren im Ganzen gegen mich so freundlich gesinnt waren u[nd] blieben. Ich kann ihnen natürlich dafür nur besten Dank wissen. Wenn Herr Lic. V[iktor]

Nr. 4 1 Rade verließ seine Hauslehrerstelle bei Familie Czermak Ende März 1881. Vgl. auch Anm. 1 zu Nr. 3. 2 Güldenpennig, A./Ifland, I.: Der Kaiser Theodosius der Große. Ein Beitrag zur römischen Kaisergeschichte, Halle 1879. 3 Die Theologische Mittwochsgesellschaft wurde im Wintersemester 1877/78 als ein Kreis junger Theologen in Leipzig gegründet. Zu den Gründungsmitgliedern gehörten u. a. Martin Rade wie auch die späteren Mitbegründer der „Christlichen Welt", Wilhelm Bornemann, Friedrich Loofs und Paul Drews. Man hörte theologische Vorträge, die von den Mitgliedern der Gesellschaft gehalten wurden, und diskutierte sie. Vgl. dazu Rathje, 16; Loofs, F.: Friedrich Loofs [Autobiographie], in: Die Religionswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, hrsg. von E.Stange, Bd. 2, Leipzig 1926, 125 f., und Rade, M.: Luthertum, 141.

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Schultze 4 deßhalb liebes Kind wird, weil er theologisch dieses schon 5 ist, so gereicht das beiden, Herrn Schultze u[nd] der Facultät, zu geringem Ruhme. Übrigens ist es unmöglich, daß Schultze um die theoljogischen] Probleme herumkommt. Wenn er Kirchen- u[nd] Dogmengeschichte lesen und aufhören wird, sich auf die Monumente zu beschränken, so wird er genöthigt sein, entweder selbständig Theologie zu treiben oder sich einem Führer anzuschließen. Wählt er letzteres, so wird sich auch dann offenbaren, zu welchem Ziele er steuert. Gegen seine archäologischen Kenntnisse bin ich offengestanden durch seine Habilit[ations]-schrift 6 etwas mißtrauisch geworden. Im besten Falle zeugt dieselbe von einer ziemlich kräftigen Mißachtung der Leipziger Theol[ogischen] Facultät, so flüchtig ist dieselbe gearbeitet. Ein Urtheil über ihn sonst steht mir nicht zu; ich würde mich nur sehr freuen, wenn wir an ihm auf kirchenhist[orischem] Gebiet einen tüchtigen Mitarbeiter mehr erhielten. 7 Ritsehl druckt an der Geschfichte] des Pietismus B[an]d I (auf reformirtem Gebiet) 8 . Er hat mir seit 3 Wochen nicht mehr geschrieben. Was Sie auf Grund von Berichten namentlich von Loofs über die Art seiner Wirksamkeit in Göttingen gehört haben, ist ganz zutreffend. Auch ich bedauere es, daß er manchesmal den Studenten gegenüber einen Ton anschlägt, den sie nothwendig mißverstehen oder mißdeuten müssen. Wir wollen uns auch darüber nicht täuschen, daß auch in ihm, wie in uns allen, nach manchen Seiten ein zu viel u[nd] zu weit und nach anderen ein zu wenig und zu eng besteht und weiter, daß er für seine Person sich energischer um das Erkennen u[nd] Aussprechen des Wahren und Richtigen als um eine pädagogische Verbreitung desselben bemüht zeigt. Aber der Eine leistet auf der Welt nicht Alles und noch ist keine Person in der Christenheit wieder da gewesen, die nicht durch ihren Character, ihre persönliche Weise u[nd] Art ihren eigenen Gedanken und der Verbreitung ihrer Ansichten selbst gefährlich u[nd] hinderlich geworden wäre. Denken Sie an Luther, an Calvin u[nd] an so viele andere. Wir haben aber dann ein Recht uns an die guten und herrlichen Seiten einer Person ausschließlich zu halten, wenn wir uns bemühen, in unserer Thätigkeit die Lücken, die er läßt, zu ergänzen und die Fehler, die wir erkennen, soweit möglich, zu verbessern. Doch das wissen Sie alles selbst u[nd] wollen es auch so halten. Wir müssen doch Gott dankbar sein, daß er uns in eine Zeit seiner Kirche hineingestellt hat, in der sich vor uns einer redlich bemüht hat, das Evangelium von den Menschensatzungen, den speculativen und mystischen, zu befreien. Und bei ihm selbst schlägt der Glaube an die Kraft und Herrlichkeit des Evangeli-

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Viktor Schultze wurde 1879 Privatdozent für Kirchengeschichte in Leipzig. Er lehrte ab 1884 als ordentlicher Professor mit dem Schwerpunkt christliche Archäologie in Greifswald. Die Worte „dieses schon" sind mit Bleistift unterschlängelt; darüber befindet sich ein mit Bleistift geschriebenes Fragezeichen. Schultze, V.: Archäologische Studien über altchristliche Monumente, Wien 1880. Unter diesem Absatz befindet sich eine mit Bleistift gezogene Linie. Ritsehl, A.: Geschichte des Pietismus in der reformierten Kirche , Bd. I, Bonn 1880.

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ums doch mächtig durch — da wollen wir die Hautkrankheiten zwar nicht für Gesundheit halten, aber gerne ertragen. Daß Herr Loofs sich so vortrefflich entwickelt, ist mir eine große Freude. Der Umgang mit ihm wird auch für Bornemann heilsam sein. Sein Bruder befindet sich, Gott sei Dank, in der Besserung. Doch ich muß schließen; denn ich muß nach Marburg. Gott befohlen! 9 Immer Ihr AHarnack

Nr. 5 Brief Harnacks an R a d e 1 Gießen, den 13. Nov[ember] 1879. 10 Uhr Abends Mein lieber Herr Rade, Zu Ihren Zeilen, 2 die mich sehr erfreut haben, möchte ich nicht schweigen, obschon des Schreibens für mich jetzt fast allzuviel ist. Es ist aber eben auch die rechte Zeit, Ihrer und der Leipziger Freunde zu gedenken. Vor 10 Minuten habe ich mein Seminar (7 Mann) entlassen: wir haben jetzt wieder wie in Leipzig auf meiner Stube zusammengeseßen und uns in die Anschauungen der alten Kirche (Tertull[ian] De praescr[iptione] haer[eticorum]) vertieft. Freilich neben der Parallele zu Leipzig, wie viel giebt es zu vermissen. Die Herren sind ja sehr bei der Sache u[nd] fleißig; aber — wofür sie nichts können, sie wissen noch blutwenig. Nebel und Benz (aus dem vorigen Semester) sind die besten; Bornemann wird sich auch schon machen. Er hat ja erst 1 V2 Semester studirt, während jene im 7. sind. Die übrigen sind noch rüdes et impoliti. Aber Tertullian übt doch wieder seinen alten Zauber aus. Im Bunde mit diesem Getreuen stehe ich am liebsten, wenn es gilt zunächst einmal zu interessiren. Als Schriftsteller steckt er einfach alle seine Kirchenväter-Brüder in den Sack, selbst den Augustin. Wenn ich mit ihm zusammen mein Netz ausgeworfen habe, um für die Geschichte der alten Kirche Jünger zu sammeln, ist es noch nie leer gewesen. So darf ich auch dieses Mal die besten Hoffnungen hegen. Denken Sie sich, gestern in der Vorlesung über die alten Symbole waren „ 2 1 " . Ich war ganz überrascht, als ich eintrat. So viele sind seit 5 Jahren nicht mehr in einem Gießen'er theologischen Colleg zusammen gewesen. In der 9

Der letzte Absatz dieses Briefes ist mit Bleistift durchgestrichen. Oben auf der ersten Seite des Briefes befindet sich — ebenfalls mit Bleistift geschrieben — eine Bemerkung von der H a n d Rades: „ D e n Schluß bitte ich Dich nicht zu lesen, weil er Deine Bescheidenheit verletzen w i r d . " R a d e hatte diesen Brief offensichtlich an L o o f s zur Kenntnisnahme geschickt.

Nr. 5 1 Auf dem zweiten Blatt des Briefs wurde mit Bleistift die J a h r e s a n g a b e ,,[18]79 ?" vermerkt. 2 Dieses Schreiben Rades ist nicht mehr vorhanden.

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K[irchen-]Geschichte II. Th[eil] habe ich „12": das ist doch auch sehr erfreulich. So ist denn seit dem vorigen Semester ein tüchtiger Ruck vorwärts zu constatiren. Wir haben mindestens 24 Theologen. Mit Kattenbusch arbeiten wir uns in die Hände; 3 die Studenten sind nicht bockig und widerhaarig. Kurz, Gott gebe einen fröhlichen Fortgang! In dieser erfreuten Stimmung hat mich Ihr Brief getroffen und seine nur allzu richtigen Beobachtungen und Erwägungen haben meine Zuversicht nicht zu lähmen vermocht. Ich weiß es sehr wohl, welche Hemmnisse man einer Sache bereitet, die, das dürfen wir Alle sagen, von uns nie als eine Schul- und Partheisache aufgefaßt und getrieben worden ist. Daß man gerade in Leipzig jetzt in steigendem Maße agitirt, ist freilich sehr betrüblich; aber es war nicht anders zu erwarten. Solange man meine persönliche Wirksamkeit in ihren Mitteln u[nd] in ihrer Weise nicht verunehrt, soll es mich auch nicht grämen, wenn man sie sachlich verdächtigt und anathematisirt. Das kann schwer anders sein, so wie die Menschen einmal sind. Die „Linke" in Leipzig verletzt man schon dadurch, daß man überhaupt mit Entschiedenheit für die Zuverlässigkeit einer Gedankenreihe eintritt; denn es ist die eigentliche Signatur der Vermittelungstheologie, daß sie eine „Schwebe"theologie ist. Das Wort wird nur meistens falsch gedeutet. Sie schwebt nicht zwischen links u[nd] rechts — wenigstens ist das nicht das Characteristische, sondern sie will nirgends entschiedenes „Posto" fassen. Mit dem einen Bein steht sie auf dem, was man Tradition nennt und mit dem andern beschreibt sie Kreise in der Luft. Wer dagegen erklärt, er wolle sich auf seine beiden Beine stellen, der gilt schon deßwegen für anmaßend. Man erklärt ihm außerdem, in der Dogmatik sei nur für ein Bein Raum; wo er das andere unterbringt, das sei seine Sache. Liberal sei es, es in die Luft zu strecken; versteckt man das stehende Bein so, daß der Beschauer nur das schwebende sieht, so heißt man es speculativ. Dreht man sich um, so daß nur das Stehbein sichtbar ist, so sieht's aus wie eine orthodoxe Säule. Aber es darf immer nur ein Bein sein. Wer das zweite auch aufsetzen will, tritt nothwendig statt auf den Erdboden in ein „Schema". Nun, lieber Freund, es ist die alte Geschichte: der Zweiäugige wird aus dem Lande der Einäugigen geworfen. Sie behaupten, sein zweites Auge sei eitel Renomage. Übrigens ist im Ganzen hier nichts zu fürchten. Die Schwebetheologen machen es keinem heiß, der auf zwei Füßen steht. Anders ist es mit dem sog. confessionellen Lager. Man hat hier mit der Einsicht zu rechnen, daß sie die felices possessores sind, daß Freund und Feind, Tagesmeinung und sog. Wissenschaft, aber vor allem auch evangelischer Gemeinglaube ihnen im Ganzen den Besitztitel auf die Vergangenheit seit 1517 belassen hat. Das ist eine Thatsache nicht minder wie diese, daß unser religiöses Volksleben im Ganzen in den Formen dieser Richtung lebt. Ich lasse mir daher jeden Widerspruch, der von dort kommt, sehr angelegen sein. Wo sie sich auf wirkliche Auseinan-

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Ferdinand Kattenbusch wirkte ab 1878 als ordentlicher Professor für systematische Theologie in Gießen.

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dersetzungen einlassen wollen, da soll man ihnen mit der Pietät entgegen gehen, die man einem Alten und Erfahrenen schuldig ist, wenn ihm auch die eigenen Erfahrungen wieder dunkel geworden sind. Aber wenn er mit den kirchenpolitischen Spießen und mit den Stangen der theologischen Barbarei kommt — nun, im Stande der Nothwehr kann die Pietät nicht mehr gelten und die Regel vom Vermeiden des Ärgernisses erlischt dann. Ich finde übrigens — vielleicht weil ich in einem Tusculum lebe — daß Alles noch sehr zahm ist, was bisher — ich meine im Öffentlichen — gegen uns geschehen ist. Seien Sie versichert — es wird noch ganz anders kommen, und an demselbigen Tage wird der Herodes und der Pilatus Freundschaft schließen, 4 wenigstens ad hoc. Aber solche Sachen und Aussichten sollen einen grundsätzlich nicht anfechten. Man sorgt für den kommenden Tag am besten, wenn man im Kleinen am gegenwärtigen seine Pflicht thut. Sind wir's nicht, die's machen, sondern bleiben unser Leben lang Kärrner, so sind es andere. Es wird schon seine Früchte tragen. Unsere evangelische Kirche wird doch gewiß nicht weder den Berliner Byzantinern noch den Flacianern zum Opfer werden. Richten wir nur unsere Sorge auf uns selbst, da ist noch vieles zu bessern; im Großen dürfen wir uns trösten, daß Gott selbst im Regimente sitzt und sich nicht spotten läßt. „Unsere Sorge auf uns selbst": Sie haben das gethan, indem Sie richtig sagten, das Bedenklichste sei, daß Niemand bei lauter Befangenheit unbefangen bleiben könne und daß die Gefahr daher lauere, zur Schulsecte zu verschrumpfen. J a das ist eine große Gefahr. Es wird bei aller Pietät gegen den, dem wir so vieles verdanken, 5 daher unsere Pflicht sein, die Augen offen zu halten gegenüber den Fehlern dort und das Verständniß sowie den Sinn für die Gedanken der Gegner nicht zu verlieren. Aber vor allem: die Sache selbst immer von neuem in ihrem Centrum erfassen, in Gedanken und Leben, und sich nicht an Worte zu gewöhnen. Man muß unerbittlich werden gegenüber den Ansätzen zur Schulsprache, im Detail vorurtheilslos weiter wirklich arbeiten und nicht historische Fragen durch Analogie-Urtheile lösen wollen. Hier steckt's: jede einigermassen geschlossene Theorie hat die Tendenz, das Interesse für Detailarbeit abzustumpfen u[nd] eine rasche Deduction an die Stelle der Induction zu setzen. Mit Recht aber geht der wissenschaftliche Credit einer Anschauung verloren, deren Jünger alles wissen, weil sie alles deduciren. Und — hätten sie auch recht und wäre der Schlüssel gefunden, der in einer Drehung alle Thüren öffnet, wir dürften ihn doch nicht brauchen. Aber er ist nicht gefunden, wird's auch nie; denn die Erscheinungen sind immer dort complicirter, wo wir sie einfach wähnen und dort einfach, sehr oft wenigstens, wo uns vor der elementaren Einfachheit graut und wir sie verschleiert sehen wollen. Doch genug — es ist mir so aus der Feder gegangen. Es mag stehen bleiben, ob's gleich zu viel und zu wenig zugleich ist. Steht's aber, dann noch das Eine:

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Anspielung auf Lk 23,12. Albrecht Ritschi.

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Bleiben wir vor allem bescheiden und demüthig, wir haben allen Grund dazu — damit nicht das Leben die bessere Wahrheit verunziere. Übermuth, — wer empfände ihn nicht gegenüber den 1000 Thorheiten und dem heiligen Aberglauben, und Spott — man braucht nur zu referiren, dann ist er da. Aber es ist keine würdige Beschäftigung, sich dem Anschauen des Gewöhnlichen hinzugeben; in dem Aufsuchen des Guten und der Anerkennung des Werthvollen allein bewährt der Mensch Wahrheitssinn und Wahrheitsliebe. Was Sie über „Religion und Geschichte" und wiederum „Evangelium und Renaissance" geschrieben haben, war sehr zutreffend. In letzterer Beziehung habe ich neulich einen kleinen Vers gelesen von Goethe, der mir sehr gefallen hat. Er stammt aus der allerletzten Zeit u[nd] ist überschrieben: „Für junge Dichter." „Jüngling, merke Dir bei Zeiten, Wo sich Geist u[nd] Sinn erhöht, Daß die Muse zu begleiten Doch zu leiten nicht versteht." 6 Da ist das ganze Geheimniß gesagt. Und man soll auch nicht die tiefe Composition in Faust's 1. Theil vergessen, jene Stelle meine ich, wo Faust erst sein ästhetisch-religiöses Bekenntniß in dichterischem Schwünge recitirt („Wer darf ihn nennen" — „Gefühl ist Alles" u[nd] s[o] w[eiter]) und am selben Tage noch Gretchen verführt. 7 Da hat man die Illustration zum Evangelium der Renaissance. Also „begleiten" wollen wir uns lassen, aber nicht „leiten." Doch zuviel habe ich schon geplaudert. Es ist genug. Zu speciellen Arbeiten komme ich jetzt nicht, zumal da ich zugleich fremde Arbeiten durchzusehen habe. Herr Neumann hat mir seinen „Julian" geschickt, eine tüchtige u[nd] fördernde Untersuchung: sie wird wohl im Febr[uar] oder März erscheinen. 8 Machen Sie nur, daß Sie auch bald kommen! Falls Sie Herrn Rost jun[ior] sehen, so sagen Sie ihm, er solle sich mit seinem Diocletian beeilen. 9 Ein altenburgischer Pastor hat eine Monographie über Lactantius geschrieben 10 , Ryssel über Gregorius Thaumaturgus 1 1 , ein schweizerischer Pastor über die Wiedertäufer in Zürich 1 2 . Das soll ich Alles durchsehen. Ich bin fröhlich gestimmt u[nd] habe nur Grund, Gott zu danken. Möge auch Ihnen in Ihrer nicht leichten Tagesarbeit Muth u[nd] Freudigkeit wach6 7 8

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Vgl. Goethe, J. W.: Werke, Berliner Ausgabe, Bd. 17, 2. Aufl., Berlin-Weimar 1984, 714. Vgl. ebd., Bd. 8, 3. Aufl., 1978, 260f. Neumann, K. J.: Prolegomena in Iuliani imperatoris libros quibos impugnavit Christianos, Leipzig 1880. Ein Werk von W. Rost über Diocletian ist nicht nachzuweisen. Eventuell handelt es sich um eine ungedruckte Lizentiatsschrift. Es ist unklar, auf welches Werk Harnack anspielt. Ryssel, V.: Gregorius Thaumaturgus. Sein Leben und seine Schriften. Nebst Übersetzung zweier bisher unbekannter Schriften Gregors aus dem Syrischen, Leipzig 1880. Egli, E. (Hrsg.): Actensammlung zur Geschichte der Zürcher Reformation in den Jahren 1 5 1 9 - 1 5 3 3 , Zürich 1879.

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sen. Grüßen Sie die Freunde alle u[nd] erzählen Sie mir wieder einmal von sich u[nd] Ihren gemeinsamen Arbeiten. Mit gutem Gruß Ihr A. Harnack

Nr. 6 Brief Harnacks an Rade 1 Gießen, d[en] 20. Nov[ember] [18]79. Mein lieber Herr Rade, Schon lange wollte ich Ihnen schreiben — habe es aber bisher verschleppt — daß es mir eine Freude sein würde, wenn Sie meine Braut 2 kennen lernten u[nd] vice versa. Ist es Ihnen recht, was ich voraussetze, so machen Sie doch, bitte ich, einen Besuch bei meinen Schwiegereltern: wenn Sie wollen, so können Sie sich dabei durch einen Gruß von mir an sie legitimiren. Freilich ist es jetzt die höchste Zeit u[nd] ich komme etwas spät; aber noch ist es ja Zeit. Es wäre mir erfreulich bei dem nahen Verhältniß, welches zwischen Ihnen u[nd] mir besteht, daß Sie auch meine Braut kennen, die zu mir gehört. Hier steht Alles gut, nachdem Kattenbusch einen Diphtheritis-Anfall glücklich überstanden hat. Denken Sie sich, Übigau hat mich zweimal besucht, beide Male verfehlt. Das ist doch ärgerlich. Herzlich grüßend Ihr Ad. Harnack

Nr. 7 Brief Harnacks an Rade Gießen 22/II/[18]80. Mein lieber Herr Rade, Ihr zweiter Brief ist soeben zu mir gelangt; gerne hätte ich schon längst den ersten beantwortet, — es liegt auch ein kurzer Anfang bereits seit 14 Tagen fertig — aber ich mußte mich im Schreiben auf das äußerste beschränken. Auch heute nur das Nothwendigste; wie sehr ich Ihnen für Ihre Teilnahme danke u[nd] mit welchem Interesse ich alle Ihre Nachrichten lese, wisNr.6 1 Auf der Rückseite des Briefes befinden sich mit Bleistift geschriebene griechische Vokabeln, eventuell von der H a n d Rades. 2 H a r n a c k hatte sich a m 2. August mit Amalie Thiersch, der Tochter des Leipziger Chirurgen Carl Thiersch und seiner Frau J o h a n n a , geb. von Liebig, verlobt. Sie heirateten am 27. Dezember 1879. Vgl. Z a h n - H a r n a c k , 83.

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sen Sie. Mir geht es ja viel besser; aber ich bin noch nicht gesund. Kleine Rückfälle verschiedener Art erinnern mich noch wöchentlich daran. Eine Schule der Geduld! 1 „Renaissance u[nd] Reformation": ich habe Burckhard[t] 2 zusammen mit meiner Frau gelesen u[nd] da ist mir dies Thema auch brennend geworden. Aber Sie wissen: ich vermag keine Anleitung zu geben, ein kleines Thema aus diesem Bereiche fruchtbar zu behandeln. Kattenbusch trug sich einm[a]l mit dem Plane, genau festzustellen, welche Bücher Luther nachweisbar gelesen u[nd] benutzt hat. In dieser Beziehung ist noch viel zu thun, für ihn u[nd] andere. Aber, wie gesagt, ich bin zu wenig bewandert, um hier rathen zu können. Ich schlage Ihnen folgende Themata 3 vor: 1) Die Entstehung des Primates des Bischofs von Rom bis auf Leo I (excljusiv]). Darüber giebt es noch nichts wirklich Erschöpfendes. Auf die Chronologie d[er] römischen] Bischöfe brauchten Sie nicht weiter einzugehen. 2) Die Geschichtsbetrachtung des Eusebius auf Grund der K[irchen-]Geschichte, der Vita Constantini u[nd] der D e m o n s t r a t i o evangelica] u[nd] Praeparatio evangelica. 3) Eine Monographie über Lucifer v[on] Cagliari. Entscheiden Sie sich für eines dieser Themata, so würden wir natürlich weiter darüber correspondiren. Hückstädt ist allerdings mein Schüler; er hat in Leipzig eine D o k t o r d i s s e r t a t i o n ] über das „Carmen adv[ersus] Marcionem" geschrieben 4 . Daß er jetzt den Licentfiaten] machen will, weiß ich. Daß er sich habilitiren will, hat er mir nicht geschrieben. Schlau verheirathet sich in diesen Tagen. Daß es Fr[au]-Dr. Schubart wieder besser geht, hat uns sehr gefreut. 5 Loof's Kommen ist mir für Sie u[nd] den ganzen Leipziger Kreis eine gute Nachricht. 6 Ritsehl hat ihn mir sehr gerühmt. Sie erlauben, daß ich schließe. Erfreuen Sie mich bald wieder. Mit einem guten Gruß — auch von meiner Frau Ihr AdHarnack Nr. 7 1 Harnack erkrankte kurz nach seiner Hochzeit und litt an zunächst unerklärlichen Schmerzen. Später stellte sich heraus, daß sich eine Nadel in seinem Körper befunden hatte; vgl. Zahn-Harnack, 86. — Die Briefe Rades, auf die Harnack anspielt, sind nicht mehr vorhanden. 2 Burckhardt, J.: Die Kultur der Renaissance in Italien, Basel 1860, 3. Aufl. in 3 Bde., Leipzig 1 8 7 7 - 1 8 7 8 . 3 Für die Promotion zum Lizentiaten der Theologie. 4 Hückstädt, E.: Über das pseudo-tertullianische Gedicht adversus Marcionem. Ein Beitrag zur christlich-archäologischen Literaturgeschichte des 4. Jahrhunderts, Leipzig 1875. 5 Marie Schubart, geb. Czermak, Ehefrau des in Nr. 3 erwähnten Friedrich Schubart. 6 Loofs bekleidete nach dem Ablegen des ersten theologischen Examens am 15. März 1880 in Göttingen ab April 1880 eine Hauslehrerstelle in Leipzig.

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N[ota-]B[ene]: Natürlich müssen Sie sehen, daß Sie auch das Dr. Examen bis z[um] Militärjahr abmachen. Das ist ja eine Kleinigkeit. Bitte grüßen Sie alle Leipziger Freunde Ihres u[nd] meines Kreises bestens. Nr. 8 Brief Harnacks an Rade Gießen, d[en] 26. Febr[uar] [18]80. Mein lieber Herr Rade, Ich hätte Ihnen selbst fast „Papst D a m a s u s " vorgeschlagen 1 , wenn ich nicht befürchtet hätte, daß Sie dadurch in die noch so schwankende Katakombenforschung hineingezogen würden. Indessen — Sie können ja dies so weit hineinziehen als es Ihnen gut scheint. „ D a m a s u s " verdient eine Biographie, freilich wird sie nicht sehr erquicklich, aber um so lehrreicher. Zur Orientirung lesen sie [sie] einmal Jaffe's Regesten 2 u[nd] Richter, Das Weströmische] Reich 3 usw. Ich schlage also vor: „Papst D a m a s u s " nebst einer Uebersicht über die Entwickelung des römischen Primates bis auf ihn als Einleitung. Sie werden gewiß ihre Freude an der Arbeit haben u[nd] V[iktor] Schultze kann Sie ja in manchem dabei berathen. Ich freilich bitte, daß Sie in alter Weise mich an Ihren Arbeiten Antheil nehmen lassen. Nur eben in den „Katakomben" bin ich zu unsicher. Ich schließe; unbeantwortete Briefe v[on] Ritsehl, Bornemann, Bonsack, Hückstädt, Engelhardt u[nd] Oettingen liegen vor mir. Mit Gruß von Herzen Ihr AHarnack Nr. 9 Brief Harnacks an Rade Wiesbaden, Schwarzer Bär 1 . 19. März 1880. Mein lieber Herr Rade, Für Ihren Brief besten Dank. Für heute nur ein paar Worte wegen Hückstädt's, von dem ich heute einen Brief erhielt. 2 Mir ist die Sache recht unangeNr. 8 1 Als T h e m a der Lizentiatenarbeit. 2 Regesta Pontificium R o m a n o r u m ab condita ecclesia ad annum post Christum natum M C X V I I I , hrsg. von P. J a f f e , Berlin 1851. 3 Richter, H.: D a s weströmische Reich besonders unter den Kaisern Gratian, Valentinian II. und M a x i m u s ( 3 7 5 - 3 8 8 ) , Berlin 1865. Nr. 9 1 H a r n a c k hielt sich wahrscheinlich zu einem Kur- und Erholungsurlaub in Wiesbaden auf. Vgl. dazu Anm. 1 zu Nr. 7. 2 Dieser Brief befindet sich nicht im Harnack-Nachlaß. Vgl. Nr. 7.

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nehm. Vor % Jahr schickte mir H[ückstädt] eine Arbeit (deutsch) über die Christologie d[es] Hermas u[nd] bat mich um ein Urtheil, er wolle darauf den Licentiaten machen. Die Arbeit war inhaltlich recht gut, in der Form hie u[nd] da ungeschickt, als Lic[entiaten-]Arbeit meiner Meinung nach brauchbar. Daß H[ückstädt] daraufhin sich habilitiren wollte, habe ich nicht gewußt. Für die Habilitation war die Schrift zu unbedeutend. Dazu kommt, daß ich sie lateinisch überhaupt nicht gesehen habe. Die lateinische Form scheint auch sehr mangelhaft geworden zu sein. Mir ist es drückend, daß Jemand, der sich auf mich berufen hat, durchgefallen, resp[ektive] abgewiesen ist, drückend für ihn und für mich. Aber Herr H[ückstädt] hat diesen Repuls sich selbst zugezogen und mich außerdem dabei compromittirt. Doch genug davon. 3 Hier ist herrliches Frühlingswetter u[nd] ich fühle mich täglich gesunder, mache bereits größere Spaziergänge. Über Alles, was sie [sie] mir betreffs Ihrer Arbeit schreiben werden, werde ich mich sehr freuen. Von Neumanns's Julian sind 7 Lagen Proleg[omena] bereits gedruckt. 4 Fröhliche Ferien! Meine Frau grüßt. Gott befohlen! Ihr treuer AHarnack

Nr. 10 Brief Harnacks an Rade Gießen, d[en] 29. April 1880. Mein lieber Herr Rade, Allem zuvor herzliche Glückwünsche, daß Ihr Schüler 1 nun glücklich unter Ihrer Leitung in den Hafen der Tertia eingelaufen ist, besten Dank für Ihren Brief und gute Wünsche zur Arbeit in diesem Semester. Ich bin überzeugt, daß die Damasus-Studien Sie doch hinreichend interessiren werden. Epoche machend ist freilich Damasus im eigentlichen Sinne nicht. Aber doch ist er bedeutsamer, als dies herkömmlich erkannt wird. Auch ich beschäftige mich in diesem Semester im Seminar mit Papstgeschichte 2 ; bin freilich etwas bange, ob die nicht ganz leichten Themata, welche ich zu stellen willens bin, Abnehmer finden. Heute um 5 U[hr] ist die Vorbesprechung. Da wird sich zeigen,

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Diese als Habilitationsschrift abgelehnte Arbeit wurde nicht veröffentlicht. Einige J a h r e später veröffentlichte Hückstädt jedoch: Der Lehrbegriff des Hirten. Ein Beitrag zur Dogmengeschichte des zweiten Jahrhunderts, Anklam 1889. Vgl. Anm. 8 zu Nr. 5.

Nr. 10 1 2

Leo Czermak. H a r n a c k bot im SS 1880 ein zweistündiges kirchengeschichtliches Seminar zum T h e m a „Untersuchungen zur Papstgeschichte bis auf Gregor VII." an.

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ob ich den Gegenstand überhaupt vornehmen kann oder zu etwas Leichterem greifen muß. Z u unserer großen Freude haben wir in diesem Semester hier mindestens 32 Theologen. Ich lese K[irchen-]Geschichte 3. Th[eil] vor 24, Symbolik vor 15. 3 D a s ist doch ein großer Fortschritt, der mich auch erhebt. Die zwei Herrn aus Göttingen (Holtzmann u[nd] Köster) waren mir schon durch Ritsehl, der mich vor 14 Tagen hier besucht hat, u[nd] Bornemann angekündigt. Hoffentlich läßt sich mit ihnen tüchtig arbeiten. Bornemann min[or] schrieb mir neulich. Es war mir sehr lieb aus seinem Briefe zu lesen, wie gerne er an Gießen zurückdenkt, obgleich er u[nd] ich doch durch Krankheit gehindert worden sind. 4 Nun erwarte ich morgen seine Preisarbeit — dies aber nur unter uns. Die Proleg[omena] zu Julian's Schrift > [ = gegen] die Christen des Herrn Dr. N e u m a n n 5 sind bis S. 144 gedruckt. Die Tafeln zur Publication unseres Cod[ex] Rossan[ensis] 6 sind endlich fertig gestochen, so daß nun hoffentlich in nächster Zeit das Ding ans Tageslicht treten kann. — Mir geht es, Gott sei Dank, so gut, daß ich die Vorlesungen ohne Beschwerden in alter Frische halten kann. Unter unsern Theologen hier waltet ein guter Geist u[nd] ich habe die besten Hoffnungen für dieses Semester. Der Theo[ogische] Verein wird etwa 10 Mitglieder stark sein. Im WingolP sind auch mindestens 10—12 Theologen. Die Aussicht, Sie hier zu sehen, hat mich sehr erfreut. Bitte, führen Sie diesen Plan ja aus. Sie sollen es hier gut haben u[nd] einsehen, daß Gießen mit nichten die kleinste unter den Städten i[n] J u d a ist. 8 Der Umgang mit Freund Loofs wird Ihnen eine werthvolle Bereicherung Ihres Lebens in Leipzig sein. 9 Ich bitte, ihn bestens von mir zu grüßen; ebenso die anderen alten Freunde und — vergessen Sie auch Ihren Zögling u[nd] dessen Bruder nicht. Nach schönen Frühlingstagen ist die Luft wieder rauh u[nd] stürmisch bei uns geworden. Aber es ist doch Frühling! Mit herzlichem Gruß in treuer Verbindung Ihr Ad. Harnack 3

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H a r n a c k hielt eine dreistündige Vorlesung „Kirchengeschichte, 3 t c r Theil (Reformationsgeschichte von 1517—1648)" sowie eine fünfstündige Vorlesung „ S y m b o l i k " . Dieses Schreiben befindet sich nicht im Harnack-Nachlaß. — Z u Bornemanns und Harnacks Erkrankungen vgl. Nr. 3 und 7. Juliani imperatoris librorum contra Christianos quae supersunt, hrsg. von K. J . Neumann, Leipzig 1880. Evangeliorum codex graecus purpureus Rossanensis (2) litteris argenteis sexto ut videtur saeculo scriptus picturisque ornatus. Seine Entdeckung, sein wissenschaftlicher und künstlerischer Wert, hrsg. von A. H a r n a c k und O . von Gebhardt, Leipzig 1880. Eine nichtschlagende, christliche Studentenverbindung. Anspielung auf Mt 2,6. — R a d e hatte offensichtlich überlegt, von Leipzig nach Gießen zu wechseln, führte diesen Plan jedoch nicht aus. Vgl. Nr. 12. f. 15. Vgl. Anm. 6 zu Nr. 7.

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Nr. 11 Brief Harnacks an Rade Gießen, d[en] 1. Juli 1880. Mein lieber Herr Rade, Schon lange bin ich in Ihrer Schuld: ich bin wirklich bis heute zum Briefschreiben nicht gekommen u[nd] hole nun vieles nach. 1) Habe ich herzlichen Antheil genommen an dem schweren Unglück, welches Ihre engere Heimath betroffen hat. 1 Wie nah' muß Ihnen das gegangen sein. Hoffentlich ist Ihr Vaterhaus nicht beschädigt worden. 2) Daß Ihre Arbeit, wenn auch langsam, vorwärts geht, hat mich sehr gefreut. Ist auch in älterer Zeit viel für „Damasus" geschehen; es bleibt doch genug übrig. Gespannt bin ich, ob Sie etwas über das Verhältniß von Damasus zu Ambrosius zu sagen vermögen, sowie über den Umfang des römischen Patriarchatssprengel z. Z. des Damasus. 3) Daß Herr Loofs an seinem Karl I. 2 sitzt, ist ja sehr erfreulich. Vor allen Dingen kommt es darauf an, die neuern Arbeiten der Profanhistoriker zu studiren u[nd] sich ein eingehendes Bild von der Thätigkeit des Bonifacius für das Frankenreich zu machen. Waitz' Verfassungsgeschichte 3 ist auch zu berücksichtigen, sowie die neuern Arbeiten von Ficker 4 u[nd] Sybel (Historische] Z[ei]tschr[ift]: über die Schenkungen) 5 . Aus der Dissertat i o n ] meines Bruders (Die Beziehungen der Karolinger zum byzantinischen] Reich) 6 wird nicht viel zu holen sein. Sehr werthvoll ist mir immer die Notiz bei Einhard gewesen, daß Karl so viel in Augustin's De civitate Dei gelesen hat. 7 4) Meine Übungen über ältere Papstgeschichte gehen gut von Statten, namentlich haben Holtzmann u[nd] Köster tüchtig gearbeitet. Überhaupt ist unter den Studenten ein frischer Zug. 5) Von dem kleinen Fest des Theologischen] Vereins haben Sie wohl ausführlichen Bericht empfangen. Wir hatten die Freude Bornemann hier zu sehen. Heute ist nun unser Festactus u[nd] Bornemann erhält seinen wohl ver-

Nr. 11 1 Mitte Juni 1880 war es in der Oberlausitz zu mehrtägigen, z. T. wolkenbruchartigen Niederschlägen gekommen, die zu großen Überschwemmungen geführt hatten. 2 Loofs, F.: Zur Chronologie der auf die fränkischen Synoden des heiligen Bonifatius bezüglichen Briefe der bonifazischen Briefsammlung, Leipzig 1881. 3 Waitz, G.: Deutsche Verfassungsgeschichte, 8 Bde., Kiel 1 8 4 4 - 1 8 7 8 ; 2. neubearbeitete Aufl. 1865 ff. 4 Ficker, J.: Forschungen zur Reichs- und Rechtsgeschichte Italiens, 4 Bde., Innsbruck 1868-1874. 5 Sybel, H.: Die Schenkungen der Karolinger an die Päpste, in: H Z 44 (1880), 47—85. 6 Harnack, O.: Die Beziehungen des fränkisch-italischen zu dem byzantinischen Reiche unter der Regierung Karls des Großen und der späteren Kaiser Karolingischen Stammes, Diss. Göttingen 1880. 7 Einhard: Vita Karoli Magni, 24.

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dienten Preis. Seine Arbeit ist namentlich in der ersten Hälfte sehr gut u[nd] hat mich gradezu frappirt. Er muß sie in den nächsten Semestern umarbeiten u[nd] dann drucken lassen. Sie wird einen werthvollen Beitrag zur Dogm[en]gesch[ichte] geben. 8 Unser neues Thema lautet: „Die Auslegung des V[ater-]Unsers in den verschiedenen Confessionen unter Berücksichtigung der wichtigeren theologischen Privatschriften". Sie merken gewiß gleich, worauf das abzielt. Die Arbeit soll sich zur Darstellung des consensus Christianorum trotz der Confessionen gestalten. 6) Leipziger Zöllner-Klatsch habe ich nicht gelesen, will es auch nicht. Es ist traurig, wohin ein so edler Mensch gerathen ist. 9 7) In der Theologischen] Lit[eratur]zeitung kommen demnächst einige Recensionen von mir; mein „Julian" bei Herzog 1 0 ist gedruckt. — Und Sie bekommen wir also leider nicht zu Gesicht. Das bedauere ich sehr. Unsere Ferienpläne sind noch dunkel. Grüßen Sie alle die Freunde. In treuer Verbundenheit Ihr A. Harnack

Nr. 12 Postkarte Harnacks an Rade Gießen, d[en] 13. Nov[ember] 1880. Lieber Herr Rade, Entschuldigen Sie mein langes Zögern u[nd] auch diesen kurzen Zettel. Ich bin im Augenblick mit Arbeiten u[nd] Briefen sehr im Gedränge. Herzlichen Dank für Ihren Doppelbrief, 1 der mir ein so gutes Bild von Ihrem Leben u[nd] Ihren Gedanken gab, u[nd] herzliche Glückwünsche zum überstandnen Examen u[nd] zur rechtverdienten I. Note. 2 So mußte es kommen. Was Ihre 8

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Johannes Bornemann erhielt für seine Arbeit „Über die dogmatische Beurtheilung der Taufe Christi durch Johannes bei den christlichen Theologen der vier ersten Jahrhunderte" am 1. Juli 1 8 8 0 von der theologischen Fakultät in Gießen den Preis verliehen. Die Arbeit wurde veröffentlicht unter dem Titel: Die Taufe Christi durch Johannes in der dogmatischen Beurteilung der christlichen Theologen der vier ersten Jahrhunderte, Leipzig 1 8 9 6 . Vgl. auch Nr. 3. J o h a n n Carl Friedrich Zöllner war in Leipzig ordentlicher Professor für physikalische Astronomie. H a r n a c k spielt hier wahrscheinlich auf Zöllners Neigung zum Spiritismus an. Vgl. Allgemeine deutsche Biographie, Bd. 4 5 , Berlin 1 9 0 0 , 4 2 8 . H a r n a c k , A.: (Art.) Julian der Kaiser, in: Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, 2. Aufl., Bd. 7 , 1 8 8 0 , 2 8 5 - 2 9 6 . J o h a n n J a k o b Herzog hatte die Realenzyklopädie 1 8 5 4 begründet.

Nr. 12 1 2

Dieser Brief ist nicht mehr vorhanden. Rade bestand im O k t o b e r 1 8 8 0 das zweite theologische E x a m e n mit „sehr w o h l " ; vgl. Schwöbel: Rade, 3 3 .

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Dr.-Arbeit betrifft, so habe ich den Eindruck, daß Sie über dem Berge sind. Machen Sie nur frischweg ein Ende. Ich selbst bin in den letzten 7 Wochen recht fleißig gewesen, habe 14 Recensionen, darunter sehr lange, für Schürer 3 geschrieben u[nd] Aufsätze für Herzog 4 zu Ende gebracht. Darunter ist ein 16 Seiten langer über das C[onstantino-]Politanische Symbol 5 . Auch habe ich einen Vortrag in Darmstadt über das Mönchthum gehalten, den ich in etwas erweiterter Gestalt nun drucken lassen werde (separat) 6 . Das Semester hat sich gut angelassen: i[n] d[er] K[irchen-]Gesch[ichte] I. Th[eil] habe ich 23, in der Gesch[ichte] d[er] Diakonie 28, im Seminar 13. Es sind strebsame Leute dabei, wie es im Seminar gehen wird, kann ich aber noch nicht sagen. Ich fühle mich frisch u[nd] arbeitseifrig. In der nächsten Woche gehe ich vielleicht nach Göttingen auf 2 Tage. Wie gerne würde ich Sie endlich einmal wieder sprechen. Können Sie nicht zu uns kommen? Ich komme Weihnachten nicht nach Leipzig. Wie steht es mit Ihren Plänen, wenn Sie Czermak's verlassen? 7 Denken Sie noch immer nicht an die akademische] Laufbahn? Wir könnten hier ein[en] Pr[ivat-]Docenten gut brauchen. Hoffentlich geht es Herrn Loofs gut. Bitte grüßen Sie ihn bestens; ebenso die anderen Freunde, soviele ihrer noch da sind. Daß es mit d[er] Mittwochs Gesellschaft] 8 nicht so gut geht, wie Sie wünschen, ist schade, aber erklärlich. Solche Vereinigungen hängen eben ganz u[nd] gar v[on] den wechselnden Personen ab. Sie vergehen; aber dann tritt anderes wieder an d[ie] Stelle. Es grüßt Sie von Herzen Ihr ergebener A. H.

Nr. 13 Brief Harnacks an Rade Gießen, d[en] 12. Decfember] [18]80. Mein lieber Herr Rade, Herzlichen Dank f[ür] Brief u[nd] Bild, letzteres ist meiner Erinnerung nach nicht ganz wohl getroffen. 1 Ich gehe gleich zu Ihren Fragen über, bemerke 3 4 5

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D. h. für die Theologische Literaturzeitung. D. h. für die 2. Auflage der Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche. Harnack, A.: (Art.) Konstantinopolitanisches Symbol, in: Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, 2. Aufl., Bd. 8, 1881, 2 1 2 - 2 3 0 . Harnack, A.: Das Mönchtum, seine Ideale und seine Geschichte. Eine kirchenhistorische Vorlesung, Gießen 1881; auch in RA 1, 8 1 - 1 4 0 . Nachdem Rade Ende März 1881 die Hauslehrerstelle bei Familie Czermak aufgegeben hatte, leistete er seinen Militärdienst ab. Vgl. Anm. 3 zu Nr. 4.

Nr. 13 ' Der Brief, auf den Harnack anspielt, ist verlorengegangen. Bei dem Bild handelte es sich vermutlich um eine Photographie Rades.

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aber nur noch, daß was Sie über Ihre Zukunft schreiben von mir nicht gekreuzt werden soll. Es muß schließlich jeder selbst beurtheilen, wo er zupakken soll; ein Anderer kann das nicht; denn das Urtheil eines Anderen über Begabung u[nd] Befähigung etc. entscheidet noch nicht für den zu wählenden Beruf. So gewiß ich überzeugt bin, daß Sie das Zeug hätten, theologische Studenten zu bilden, so sehr erkenne ich es an, wenn Sie sich einer andern Aufgabe zuwenden zu müssen meinen. — 1) Über den angeblichen Kanon 5 der Synode v[on] 3 8 1 2 habe ich mir ein abschließendes Urtheil überhaupt nicht gebildet, da ich es in meinem Artikel 3 nur mit dem Symb[olum] C[onstantino-]Politan[um] zu thun hatte. 2) Ein Brief von Mailand nach C[on]s[tantino]pel mit der Staatspost wird etwa 12 (13) Tage gebraucht haben. Man rechnet nämlich 5 Millien = 1 geographische] Meile mit der Staatspost auf die Stunde. Die Entfernung von Mailand nach C[on]s[tantino]pel betrug aber c[irca] 250 M[eilen], Möglich ist es, daß der Brief schon am 11. Tage eintraf; aber das ist sehr unwahrscheinlich, da Gebirge zu passiren waren. 12—13 Tage halte ich für das minimum, s[iehe] Friedländer II. Bd. 3. Auflfage] S. 1 6 f . 4 3) Ein Joh[annes] v[on] Antiochien am Schluß d[es] 4. Jahrh[underts], der itepi ieptOCTüVTiq [ = Über das Priestertum] geschrieben, kann nur Johlannes] Chrysostomus sein. 5 4) Meinen Aufsatz in der Schäfer'schen Z[ei]tschr[ift] 6 werde ich Gregory, der morgen nach Leipzig zurückkehrt, mitgeben. Daß Sie nicht nach Gießen kommen, bedauere ich sehr; ich habe es aber eigentlich nie zu hoffen gewagt. Ihrer Arbeit sehe ich mit Spannung entgegen, schicken Sie sie jedenfalls, sobald Sie können; belasten Sie sich jetzt möglichst wenig mit anderem, sondern suchen Sie abzuschließen. Herrn Loofs bitte ich bestens zu grüßen, auch Ihren Zögling u[nd] -Bruder vergessen Sie nicht. Gestern hörte ich, daß Kolde nach Erlangen kommen soll an Plitt's Stelle u[nd] habe mich sehr darüber gefreut. 7 Ich fürchtete, die Erlanger nahmen sich am Ende Schultze, der ja die nöthige a K p i ß e i a [ = Sorgfalt] sich angeeignet zu haben scheint und, wie ich höre, außer Ritsehl auch mich zu verdächtigen bestrebt ist. Das m a g er thun; ich werde mich dadurch nicht stören lassen, von ihm zu lernen, wenn er etwas Gutes zu sagen hat. Seine archäologischen] Studien bringen manches Richtige u[nd] Neue, sind aber von Overbeck i[n] 2 3 4

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D. h. des Konzils von N i z ä a . Vgl. Anm. 5 zu Nr. 12. Friedländer, F.: Darstellungen aus der Sittengeschichte R o m s in der Zeit von Augustus bis zum Ausgang der Antonine, 2. Theil, 3. Aufl., Leipzig 1874. J o h a n n e s Chrysostomus: Sur le Sacerdoce. Dialogue et homélie, hrsg. von A.-M. Malingrey ( = Sources Chrétiennes, N o 272) Paris 1980. H a r n a c k , A.: Die Sorge für arme und gefährdete Gemeinden während der drei ersten Jahrhunderte, in: Monatsschrift für Diakonie und innere Mission 4 (1879/80), 97—108, 157-167. Der Kirchenhistoriker T h e o d o r (von) Kolde, der 1879 zum außerordentlicher Professor in M a r b u r g berufen worden war, lehrte ab 1881 als ordentlicher Professor in Erlangen.

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seiner Anzeige 8 überschätzt worden. Es stehen doch auch sehr wunderliche Behauptungen drin. Mein Vortrag über das Mönchthum ist gedruckt u[nd] wird morgen ausgegeben. 9 Ich bin gespannt, was Sie dazu sagen. Mir geht es gut; ein fröhliches Fest wünscht Ihnen mit herzlichem Gruß Ihr A. Harnack

Nr. 14 Brief Harnacks an Rade Gießen, 3. I. [18]81. Lieber Freund, Ihr Mlanu-JSfkript] 1 habe ich gelesen u[nd] finde es sehr gut. Hinzuzufügen weiß ich leider nichts, wie Sie sehen werden. Sie können es so einreichen u[nd] drucken. Mit den besten Wünschen z[um] neuen J a h r u[nd] vor allem zum Fortgang der Arbeit Ihr treu ergebner A. Harnack.

Nr. 15 Postkarte Harnacks an Rade 1 [Poststempel: Gießen, 15. 3 . 1 8 8 1 ] Lieber Freund, Ich wüßte nicht, daß ein bescheidener Schriftsteller Arbeiten gegenüber, wie wir solche durchschnittlich machen müssen, anders empfunden hätte als Sie der Ihrigen gegenüber. Seien Sie also ohne Sorge i[n] Bezug auf d[ie] Veröffentlichung. Wenn Sie wollen, so schreiben Sie Perthes 2 , er möge bei mir anfragen. Zwar kenne ich Ihre Arbeit nur bruchstückweise, aber ich kann den-

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Overbeck, F.: (Rez.) Schultze, V.: Archäologische Studien über altchristliche Monumente, Wien 1 8 8 0 , in: T h L Z 5 ( 1 8 8 0 ) , 3 5 0 - 3 5 2 .

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Vgl. Anm. 6 zu Nr. 12.

Nr. 14 1

Rades Lizentiatsarbeit; veröffentlicht unter dem Titel: Damasus, Bischof von R o m . Ein Beitrag zur Geschichte des römischen Primats, Freiburg i. B.-Tübingen 1 8 8 2 .

Nr. 15 1 2

Auf der Vorderseite der Postkarte wurde mit Bleistift „ 1 5 . 3 . " vermerkt. Der Verleger bzw. der Verlag Perthes in Leipzig. Es handelt sich hier um den Druck von Rades Lizentiatenschrift.

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noch beurtheilen, wie das Ganze ist. Sehr gespannt bin ich freilich auf dieses Ganze. Zum Licjentiaten] die besten Wünsche 3 : ich muß d[ie] Gründe billigen, die Sie bestimmt haben, in Leipzig zu promoviren. Könnte ich Sie doch einmal wieder sehen: wie vieles hätte ich Ihnen nicht zu erzählen u[nd] Sie mir! Ich kann Ihnen sagen, ich sehne mich oft nach meinen alten Leipziger Freunden. So gut wird es mir in einer Hinsicht wahrscheinlich nicht mehr werden. Das Semester ist geschlossen; das letzte Examen hat uns belehrt, daß unsere Arbeit z[um] Thjeil] eine Danaidenarbeit ist. Aber sie ist es eben doch nur zum Theil u[nd] darum müssen wir zufrieden sein. — Von Ihrer bisherigen Stellung zur Muskete — es ist freilich ein großer Schritt! 4 aber es wird für Sie auch nicht ohne Nutzen sein. Wir können aus jeder Lage Gewinn ziehen, wenn auch nicht immer den größten! — In der nächsten Nr. d[er] Theologischen] Lit[eratur]ze[i]tung werden Sie eine Recens[ion] von mir über Bestmann lesen 5 : ich habe gesagt, was ich auf dem Herzen hatte u[nd] es ist etwas ernsthaft geworden, so daß ich gespannt bin, was ich darauf hören werde. — Jetzt stecke ich in der „Überliefrung d[er] griechischen] Apologeten" 6 darin u[nd] mache sehr langweilige, aber nützliche T[e]xtvergleichungen. Ich grüße Sie von Herzen, ebenso meine Frau. Immer Ihr treu ergebner A. Harnack

Nr. 16 Postkarte Harnacks an R a d e 1 [Poststempel: Gießen, 12. 5 . 1 8 8 1 ] Lieber Freund, Vor wenig Stunden traf gleichzeitig Ihr Brief und Ihr M[anu-]S[kript] (von H[errn] Loofs) ein: 2 herzliche Glückwünsche vor allem zum erreichten Ziele! Es ist mir eine Freude, als hätte ich es selbst noch einmal erreicht. (Auch Ihr Diplom habe ich erhalten: auch das meinige ist T [ = unter] Baur's Decanat,

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R a d e w u r d e im M a i 1881 mit der N o t e „ r i t e " zum Lizentiaten der Theologie promoviert. R a d e diente ab dem 1. April 1881 als Einjährig-Freiwilliger beim 3. Garderegiment zu Fuß in Berlin. Vgl. dazu Rathje, 25 ff. H a r n a c k , A.: (Rez.) Bestmann, H . J . : Geschichte der christlichen Sitte, Bd. 1, 1881, in: T h L Z 6 (1881), 1 4 8 - 1 5 3 . H a r n a c k , A.: Die Überlieferung der griechischen Apologeten des 2. Jahrhunderts in der alten Kirche und im Mittelalter ( = Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur 1, 1.2), Leipzig 1882.

Nr. 16 1 Auf der Vorderseite der Postkarte wurde mit Bleistift „12. 5 . " vermerkt. 2 Dieser Brief ist nicht mehr vorhanden. Bei dem erwähnten Manuskript handelt es sich um R a d e s Lizentiatenschrift: D a m a s u s , Bischof von R o m . Ein Beitrag zur Geschichte des römischen Primats, Freiburg i. B.-Tübingen 1882.

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Hofmann's ProcanceIl[ariat] ausgestellt vor 7 Jahren). Ihre Arbeit will ich nun in den nächsten 14 Tagen lesen, sie dann an Sie schicken u[nd] gleichzeitig Perthes schreiben. Lechler's Gutachten brauche ich nicht, freue mich aber sehr, daß es so gut ausgefallen ist. Eine Einleitung über die Entwicklung d[es] römischen Bisthum[s] bis Damasus wäre allerdings sehr erwünscht, wenn auch nur — was selbstverständlich — in großen Zügen. Mir fuhr es eben durch den Kopf, Ihnen den Vorschlag zu machen, daß ich sie voransetzen könnte, aber 1) würde das auf Ihre Arbeit ein Licht werfen, welches falsch wäre, 2) glaube ich, daß Sie solche Einleitung doch ganz gut selbst machen könnten. Es brauchten ja höchstens 8 Druckseiten zu sein. Indessen — für unumgänglich nöthig halte ich eine Einleitung nicht. Sie könnten sich ja in der Vorrede auf den Standpunkt stellen, daß Sie sagen, Sie hätten deßwegen auf eine Einleitung verzichtet, weil Ihnen die Geschichte des römischen Episcopats v[on] Victor bis Julius u[nd] Liberius noch nicht soweit zuverlässig im Detail bearbeitet scheint, daß eine summarische Recapitulation erlaubt sei. 3 — — Abschreiben würde ich an Ihrer Stelle das M[anu-]S[kript] nicht lassen. Schicken Sie es i[n] die Druckerei u[nd] geben Sie es dann mit einem Druckexemplar d[er] Facultät zurück, es darauf ankommen lassend, was sie dann thut. Es bleibt dann noch immer nöthigen Falls Zeit zur Abschrift. — Von meiner Lic[entiaten]schrift besitzt die Facultät das geschriebene Exemplar überhaupt nicht. Ich habe es noch in Gewahrsam. Uns geht es sehr gut. Das Semester hat mit c[irca] 41 Studenten angefangen: ich habe 25 i[n] der K[irchen-]Geschichte II, 22 in der Dogmengeschichte. Sievers ist angetreten 4 ; er gefällt mir gut. Von Bestmann habe ich nichts gehört; der wohlgewogene Recensent war Delitzsch 5 . Ich selbst habe i[n] den Ferien scharf an einem „Handbuch der altchristlichen Literaturgeschichte" 6 weitergearbeitet u[nd] c[irca] 5 Bogen druckfertig. Aber bis zur Veröffentlichung des 1. Bandes wird wohl noch mindestens 1 Jahr hingehen. Lassen Sie sich die Berliner Zeit nur nicht zu sauer werden. Aber ich sehe schon aus Ihrem Briefe, daß Sie ihr auch Gutes abzugewinnen wissen. Meine Frau u[nd] Schwiegermutter grüßen bestens. Immer Ihr ergebener A. H. 3

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6

Rade verzichtete mit einer entsprechenden Begründung auf eine ausführliche Einleitung; vgl. ebd., Vorwort, VII. Ferdinand Sievers aus Lübeck studierte im Sommersemester 1858 Theologie in Gießen. Vgl. Anm. 5 zu Nr. 15. Harnack hatte Bestmanns Werk einer vernichtenden Kritik unterzogen. Er warf ihm unhistorischen Umgang mit den neutestamentlichen Schriften, anmaßende, ungerechtfertigte Kritik anderer Forscher sowie Ungezogenheit in der Form seiner Kritik vor. Zum Schluß (S. 153) erwähnte er, daß das Werk von einem Teil der Fachwissenschaftler gelobt worden sei, „selbst ein Mann, dem sonst Gerechtigkeitsliebe und wissenschaftlicher Sinn nicht abgeht, hat es ein geist- und kenntnisreiches Buch genannt." Der erste Band von Harnacks Werk: Die Geschichte der altchristlichen Litteratur bis Eusebius, 1. Theil: Die Überlieferung und der Bestand, erschien erst 1893 in Leipzig.

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Nr. 17 Brief H a r n a c k s an R a d e [Gießen,] 28/V. [18]81. Lieber Freund, Entschuldigen Sie, d a ß ich Ihnen die Arbeit bisher noch nicht zugeschickt h a b e . 1 Ich h a b e soviel zu leben, seit ich eine Tochter besitze, 2 die, glücklich a n g e k o m m e n , ihre M u t t e r hat gesund u[nd] frisch bleiben lassen. Am 20. Mai w u r d e sie geboren. D a m a l s hatte ich Ihre Arbeit schon durchgelesen, aber ich fand zur Briefstellerei keine Zeit. Ich habe Ihre Arbeit genau gelesen mit A u s n a h m e der auf den Orient bezüglichen Partieen, die ich schon kannte, und finde sie des Druckes i[n] hohem M a ß e würdig. In diesem Sinn habe ich auch an Perthes geschrieben. H o f f e n t lich erfreuen Sie uns einmal mit einer Geschichte der römischen Bischöfe von Victor bis Gregor II. oder um bescheidner zu sein, bis Leo I. Z u bemerken h a b e ich wenig gefunden, w a s ja auch selbstverständlich ist, da ich i[n] dem Stoff nicht so zu H a u s e bin wie Sie. Sie werden mir das gerne glauben, n a c h d e m Sie eine so große Specialarbeit gemacht. 1) Z u m Titel w ü r d e ich hinzusetzen: „Ein Beitrag z[ur] Geschichte der Anfänge des römischen Primats." 2) Die Wirren unter den Päpsten M a r c u s u[nd] Eusebius w ü r d e ich S. 12 oder dort, w o die Gedichte besprochen werden, etwas mehr beleuchten. D a ß der H e r a k l e o n des lib[er] Praedestin[atus] 3 hierher gehört, ist auch mir sicher. 3) S. 29 ist das Edict wirklich nur so zu verstehen? 4) S. 31 oben. Soll es nicht heißen: „Weil sich auf ihn eine solche Befugniß des römischen Bischofs keinesfalls bezogen hat"? 5) S. 51 Anmerk[ung] 1. Die Correctur „sedem" scheint mir doch nicht sicher. 6) S. 73 A n m e r k j u n g ] 1. Ist mir bedenklich. 7) S. 165 oben Zjeile] 1—4 w ü r d e ich streichen oder ändern. 8) S. 165. Wenn Sie davon überzeugt sind, d a ß der Brief von Smyrna noch i[m] Todesjahr Polykarps geschrieben ist, so müssen Sie doch sagen, d a ß das nicht mehr die allgemeine M e i n u n g ist. S. 166 (das Angestrichene)!.1 Soweit meine Kenntniß reicht, ist das falsch. Im 4. J a h r h [ u n d e r t ] ist gerade die Bestattung in den K a t a k o m b e n sehr häufig.

Nr. 17 1 Rades Lizentiatenschrift über Papst Damasus; vgl. Anm. 2 zu Nr. 16. 2 Harnacks älteste Tochter Anna; vgl. Zahn-Harnack, 87. 3 Beim „Liber Praedestiantus" handelt es sich um ein krypto-pelagianisch inspiriertes, anonym verfaßtes Werk aus dem 5. Jahrhundert, dessen erstes Buch ein in Anlehnung an Augustin „De haeresibus" geschriebener Katalog von Ketzereien bildet. Kapitel 16 befaßt sich mit dem Hauptvertreter der valentinianischen Gnosis in der 2. Hälfte des 2. Jahrhunderts, Herakleon. Vgl. PL 53, 592.

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1880/1881

Schließlich empfehle ich Ihnen, da Sie so lange Cap[itel] haben, entweder ein detaillirtes Inhaltsverzeichniß zu geben oder Marginalien, die den Inhalt kurz angeben, an den Rand zu setzen. Ich hoffe, daß Perthes Ihre Arbeit rasch drucken wird u[nd] Sie dieselbe im August fertig haben. Herzliche Glückwünsche nochmals! Uns geht es sehr gut. Wie haben 43 Studenten, darunter tüchtige! Lassen Sie sich das Soldatenleben nur nicht zu sauer werden! Immer erfreut, von Ihnen zu hören, von Herzen Ihr A. Harnack

Nr. 18 Brief Harnacks an Rade Gießen, d[en] 13. Juni [18]81. Lieber Herr Rade, Ihr Brief, den ich eben empfing, resp[ektive] das Perthes'sche Schreiben, hat mich in eine höchst ärgerliche Stimmung versetzt u[nd] zwar betrifft der Ärger z[um] Th[eil] Herrn Perthes, z[um] Th[eil] mich selber. Wie muß ich vor Ihnen dastehen? Es ist sehr freundlich, daß Sie in Ihrem Briefe Ihrer Verwunderung keinen Ausdruck gegeben haben. Es verhält sich so. Ich habe Perthes ausführlich über Ihre Monographie geschrieben und bin noch eben des guten Glaubens, daß ich ihm so geschrieben habe, daß jeder verständige Buchhändler aus meinen Worten nicht nur im Allgemeinen ein Lob, sondern die Empfehlung u[nd] den dringenden Wunsch zum Drucke hat ersehen müssen. Die Worte: „daß die Arbeit eigentlich Neues nicht brächte" kann ich so nackt, wie sie da stehen, nicht geschrieben haben. Wohl habe ich im Zusammenhang einer Characterisirung Ihrer Arbeit gesagt — ich weiß natürlich meine Worte jetzt nicht mehr genau wiederzugeben —, daß Ihre Untersuchungen nicht besonders neue, überraschende Ergebnisse enthalten oder etwas dergleichen, aber es war das keinesfalls so gemeint und so ausgedrückt, daß es zu einer Herabsetzung Ihrer Arbeit gereichen sollte. Diese Herrn verstehen aber nicht eine schlichte Characterisirung, die eben so viel sagt, als nöthig ist, und das werde ich mir für die Zukunft zur Warnung u[nd] Nachachtung gereichen lassen. Man muß, scheint es, posaunen u[nd] alle Register ziehen, damit sie den Eindruck erhalten, der der zutreffende ist. Sachlich steht es nach wie vor so, daß ich die Veröffentlichung Ihrer Arbeit für geboten und Ihrerseits für eine Pflicht gegen sich selbst u[nd] uns Anderen [sie] halte. Wir wissen es zu schätzen — und Alle, die diese Fragen kennen, daß eine sorgfältige Nachprüfung u[nd] Revision der bisherigen Urtheile, respective eine Ergänzung einer factischen Lücke in dem, was eben gewußt wird, nothwendig u[nd] dankenswerth ist.

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Ich kann Sie daher nur dringend bitten, sich von Ihrem Vorhaben nicht abschrecken zu lassen, u[nd] verbinde damit die Bitte, — Ihre Freundschaft, weiß ich, wird sie nicht nöthig haben, — daß Sie wie an meine Loyalität so an meine Aufrichtigkeit Ihnen gegenüber glauben. Wessen ich mich anzuklagen habe, ist vielleicht — doch brauchte ich den Wortlaut meines Briefs an Perthes —, daß ich nicht überlegt genug an Perthes geschrieben habe. Ich schrieb am Tage nach der Geburt meiner Tochter, wenn ich nicht irre, u[nd] war furchtbar damals in Anspruch genommen. Gerne bin ich bereit, wenn Sie es wünschen, noch einmal an Perthes zu schreiben. Bitte lassen Sie mir darüber eine Notiz zukommen. Will er jetzt zur Deckung der Kosten nichts beitragen, so wagen Sie es doch, trotz der scheinbar hohen Summe. Dieselbe ist jedenfalls zu 160 Th[a]l[e]r sehr hoch veranschlagt. Aber Ihr Thema hat für weitere Kreise Interesse, u[nd] ich glaube Ihnen nach meiner Erfahrung dafür stehen zu können, daß Sie höchstens 80 Th[a]l[e]r riskiren, denn 150 Exempl[are] werden gewiß verkauft. Sie brauchten diese 80 Th[a]l[e]r dann erst nach Verlauf des ersten Jahres zu zahlen. Ist Ihnen aber Perthes jetzt verleidet, so bin ich gern bereit, mit Herrn Rost (Hinrichs) zu verhandeln. Bitte schreiben Sie mir auch hierüber. 1 Mit bestem Gruß immer Ihr A. Harnack

Nr. 19 Postkarte Harnacks an R a d e 1 [Poststempel: Gießen, 20. 8.1881] Lieber Freund, Ihr „ D a m a s u s " 2 ist nun in meinen Händen u[nd] freut mich in dieser Gestalt aufs neue. Er wird seine Nachfolger erhalten, und wenns auch nicht die Innocentius' u[nd] Leo's sind, so werden Sie ihm vielleicht noch ehrwürdigere Brüder zugesellen. Indem ich das Buch in Händen hielt, stiegen schöne gemeinsam verbrachte Jahre in meiner Erinnerung auf. Ich bin mit Ihnen in die Schule gegangen, u[nd] solche Jahre vergißt man nicht! Gebe Gott, daß sich das Alles erfülle und in schöne That umsetze, was wir in Herz und Gedanken mit froher Klarheit festhalten! In treuer Verbundenheit von Herzen Ihr A. Harnack Nr. 18 1 Rades Arbeit, bezüglich deren Veröffentlichung zunächst an den Verlag Perthes gedacht worden war (vgl. Nr. 15), erschien schließlich im Verlag J . C. B. M o h r (Paul Siebeck). Nr. 19 1 Auf der Vorderseite der Postkarte wurde mit Bleistift „20. 11 (?)" vermerkt. 2 Vgl. Anm. 2 zu Nr. 16.

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Nr. 20 Brief Harnacks an Rade Gießen, den 3. IV. [18]82. Lieber Freund, Zunächst einen doppelten Glückwunsch: zur Niederlegung der Muskete und zur Recension von Weizsäcker. 1 In Bezug auf diese, respjektive] auf Ihre Arbeit kann ich Ihre Stimmung nicht theilen, auch Ihr Urtheil nicht billigen. „Was mir gelingt, ist Gottes Gunst:" Mit diesem Grundgedanken hält man sich alle Selbstgefälligkeit viel entschiedener vom Leibe als durch die Methode, gute eigene Leistungen vor sich selber zu depotenziren. Sie haben gethan an Ihrer Arbeit, was Sie konnten, sie auch so gut gemacht wie Sie konnten: das Ding ist gelungen — auch nach dem Maßstabe von „Profanhistorikern", wie ich Sie versichern kann — also warum wollen Sie sich nicht rein freuen? Daß Sie mehr Mängel sehen als Andere, ist ja selbstverständlich. Dennoch dürfen Sie sich freuen. Die Reflexion auf das „traurige Zeugniß für unsere theol[ogische] Wissenschaft" hat mir offen gestanden nicht gefallen. Verzeihen Sie, wenn ich behaupte, daß dahinter ein kleines Stück Unbescheidenheit steckt. Oder ist dem nicht so? Doch nehmen Sie mir auf jeden Fall diese Expectoration, die sich an eine vielleicht sehr harmlose Äußerung in Ihrem Briefe heftet, nicht übel. 2 Also nach Italien! Sie können sich kaum denken, mit welcher Theilnahme ich Sie auf dieser Romfahrt begleiten werde! 3 Jeder Denkende, der in Rom gewesen ist, tritt in eine Art von Privatverhältniß zu dieser Stadt und sieht Andere dorthin ziehen wie in eine Heimath. In Rom habe ich Niemanden, dem ich Sie empfehlen könnte; dagegen in Florenz werden Sie viel haben, wenn Sie den alten Baron von Liphart (Via Romana 40) besuchen, meinen Gönner. Bringen Sie ihm einen Gruß; er wird Sie freundlich aufnehmen. Er kennt Florenz besser als Alle. Nun aber — ich hoffe, Sie machen nun Ernst u[nd] kommen i[m] Sommer wirklich zu uns. Ich würde mich von Herzen freuen, einige Tage mit Ihnen nach alter Weise zu verkehren. Sie wissen nicht, wie sehr ich darnach verlange, Freunde aus dem alten Leipziger Kreis wiederzusehen u[nd] zumal Sie. Wie viel haben wir uns zu erzählen! Ich bin eben mit einem „Buche" fertig geworden: „Die griechischen Apologeten des 2. Jahrh[undert]'s i[n] der Überlief[er]ung der alten Kirche u[nd] i[m] Mittelalter" 4 . Es geht sehr in's Specielle u[nd] wird nicht Viele interessiren. Aber ich bin sehr froh, daß ich mir diesen Stoff vom Halse geschrieben. Nr. 20 1 Weizsäcker, C.: (Rez.) Rade, M.: Damasus, Bischof von Rom. Ein Beitrag zur Geschichte des römischen Primats, Freiburg i. B. 1882, in: T h L Z 7 (1882), 1 0 9 - 1 1 2 . 2 Der Brief Rades, auf dem Harnack anspielt, ist nicht erhalten. 3 Nach Ableisten des Militärdienstes reiste Rade im Frühjahr 1882 nach Italien und Tunesien (Karthago). Vgl. dazu Rathje, 28. 4 Vgl. Anm. 6 zu Nr. 15.

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Uns geht es gut. Meine Frau grüßt sehr. Ich schreibe nicht mehr, denn ich hoffe bestimmt auf baldigen p e r s ö n l i c h e n ] Austausch. Zwei Monate gehen schnell vorüber. Stets von Herzen Ihr A. Harnack.

Nr. 21 Postkarte Harnacks an Rade 1 [Poststempel: Gießen,] 10. 7. [18]82. Sehr erfreut über Ihr Kommen; aber kommen Sie ja Donnerstag früh; denn Sonnabend Abend kommen meine Eltern. Unsere Zeit ist sonst zu kurz! Leider kann ich Sie nicht bitten, bei mir zu wohnen; denn meine beiden Töchter 2 füllen das Haus. Ich lese am Donnerst[a]g von 8 — 9 Uhr 3 , sonst würde ich Sie an der Bahn abholen. Meine Wohnung: Frankfurter Straße 37. Herzlich sich freuend Ihr AHarnack.

Nr. 2 2 Postkarte Harnacks an Rade 1 [Poststempel: Gießen,] 10. XI. [18]82. Mein lieber Freund, Einen kurzen, aber warmen Gruß sende ich Ihnen als Antwort auf Ihren Brief, der mir die größte Freude gemacht hat. 2 Ps[alm] 8 4 , 7 b . 8 3 : Darin fasse ich alle meine Wünsche für Sie zusammen. Schreiben Sie mir nur aus dem Mikrokosmos, dessen Centrum Sie sind — es ist eine ganze Welt, wenn man ihn liebevoll verstehen lernt. 4 Uns geht es gut. Wir haben 60 Studenten, dar-

Nr. 2 1 1 2 3

Die Postkarte wurde an R a d e postlagernd nach Freiburg im Breisgau gesandt. 1 8 8 2 wurde H a r n a c k s zweite Tochter, M a r g a r e t e , geboren. G e s c h i c h t e der alten Kirche (Kirchengeschichte 1. T h e i l ) , sechsstündig.

Nr. 2 2 1 A u f der Vorderseite der Postkarte befinden sich auf den H a u s h a l t bezügliche Notizen von der H a n d Rades. 2 3

4

Dieser Brief ist nicht mehr vorhanden. Psalm 8 4 , 7 b . 8 : (7a: „Ziehen sie durch das trostlose Tal, wird es für sie zum Quellg r u n d . " ) 7 b . 8 : „Und Frühregen hüllt es in Segen. Sie schreiten dahin mit wachsender Kraft; dann schauen sie G o t t auf dem Z i o n . " R a d e wurde am 18. August 1 8 8 2 zum Pfarrer von S c h ö n b a c h bei L ö b a u (Oberlausitz) gewählt. Die Amtseinführung erfolgte am 15. O k t o b e r 1 8 8 2 . Vgl. dazu R a t h j e , 2 8 f f .

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1882/1883

unter mehrere Göttinger (Ritschl's Sohn cand[idatus] theol[ogiae] 5 , der alte K[irchen-]Geschichte u[nd] Dogm[en]gesch[ichte] treiben will). Ich lese K[irchen-]Gesch[ichte] II. Th[eil] 5st[ündig], Dogm[en]gesch[ichte] 6st[ündig], Die letztere nun zum 4. mal, u[nd] ich arbeite sie völlig um, hoffend, daß daraus sich einmal ein „Grundriß der D[ogmen-]G[eschichte]" 6 entwickeln wird. Die Arbeit nimmt mich ganz in Anspruch oder doch fast ganz, aber macht mir die größte Freude. Wie schade, daß ich mit Ihnen nicht darüber sprechen kann. Im Seminar habe ich es mir leicht gemacht u[nd] treibe Apologeticum. Unser neuer College yorccrxiK [= Gottschick] 7 ctuvÖSö) f]|j.Tv [= ist mit uns]. Wir sind sehr froh, ihn zu besitzen. Unsre Studenten müssen nun auch in die Philosophie. Überhaupt: sie müssen ordentlich in's Zeug. Und doch wünschte ich manches noch anders u[nd] empfinde die Verantwortung des Amtes oft drückend. Meine Frau grüßt bestens. Kinder sind gesund. Von Herzen Ihr AHarnack.

Nr. 23 Postkarte Harnacks an Rade 10. 2. [18]83. Gießen. Lieber Freund, Vielen Dank f[ür] Ihre Recensionen 1 , namentlich aber für den Brief u[nd] auch für die „Nachrichten" (o 8e apiönöi; tcöv ¿ktö«; toO yd(aoo ysvVT|08VTCOV 0aunaatcbtax6g e a n v ) [= die Zahl aber der außerhalb der Ehe erzeugten Kinder ist äußerst beachtlich]. Uns geht es auch gut, und daß Sie noch immer in so dankbarer Stimmung sind, ist mir eine große Freude. Nur schonen Sie Ihre Gesundheit! Sie dürfen noch nicht nervös werden! Facultas nostra bene se habet; studia florent; commilitones pro viribus studiis incumbunt; Zukunftsgötter haben wir nicht; aber die überwiegende Mehrzahl ist wirklich fleißig. p^CDiJ [= Gottschick] arbeitet sich gut ein. Ich habe eben das 5 6

7

Otto Rischl. Harnack, A.: Grundriß der Dogmengeschichte, 2 Bde., Freiburg i. B. 1889 und 1891. Dieses Werk erschien ab der 2. Aufl. 1893 in einem Band unter dem Titel „Dogmengeschichte". Johannes Gottschick lehrte ab dem Wintersemester 1882 als ordentlicher Professor praktische Theologie in Gießen.

Nr. 23 ' Rade: (Rez.) Frommel, E.: Gesammelte Schriften. Erzählungen für das Volk. Aufsätze und Vorträge mannigfachen Inhalts in einer fortlaufenden Reihe von Bändchen, Bd. VIII, Berlin 1883, in: T h L Z 8 (1883), 136f.; ders.: (Rez.) Raschig, Ed.: Selbsterkenntnis nach wissenschaftlichen Prinzipien, nebst einer offenen Frage an die Gebildeten unserer Zeit, Leipzig 1882, in: ebd., 1 5 9 - 1 6 1 .

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3. Heft der „Texte u[nd] U n t e r s u c h u n g e n " im D r u c k beendet. Es enthält unter Anderem

Untersuchungen

z u r a n t i j ü d i s c h e n P o l e m i k in d e r a l t e n

Auch meine Übersetzung von Hatsch

Kirche.2

[sie], „ T h e O r g a n i z a t i o n o f t h e e a r l y

c h u r c h e s " ist b e e n d e t , d e r D r u c k bis B o g e n 4 g e d i e h e n . 3 F ü r die E n c y c l o p j a e d i a ] B r i t t a n i c a h a b e ich i m L a u f e d e r l e t z t e n 1 0 M o n a t e g r ö ß e r e A r t i k e l „ M a n i c h ä i s m u s , M o n t a n i s m u s , M a r c i o n , M i l l e n n i u m " fertig g e m a c h t . Sie e r s c h e i n e n a b e r n u r in e n g l i s c h e r S p r a c h e . 4 In d i e s e m J a h r e will ich „ M a r c i o n ' s A n t i t h e s e n " fertig m a c h e n , 5 m u ß eine L u t h e r r e d e in d e r A u l a z u m 1 0 . N o v j e m b e r ] ausarbeiten6

— k e i n e l e i c h t e S a c h e , a b e r ein Z i e l , des S c h w e i ß e s w e r t h

u [ n d ] h a b e für H e r z o g ' s E n c y k l o p [ ä d i e ]

die A r t i k e l „ S o c r a t e s ,



Sozomenos,

S u l p i c i u s . " 7 Ich h a b e b i s h e r m e i n D o g m e n g e s c h i c h t s h e f t g ä n z l i c h u m a r b e i t e n k ö n n e n ; a b e r ich g l a u b e , jetzt v e r l ä ß t m i c h d i e K r a f t , u [ n d ] d e r S c h l u ß ( S c h o lastik, M y s t i k ) w i r d w o h l d i e s m a l u n v e r ä n d e r t b l e i b e n . W i e g e r n e s p r ä c h e ich m i t I h n e n ü b e r diese D i n g e . S c h u l t z e h a t es n i c h t a n d e r s g e w o l l t ; e r ist ü b r i g e n s n i c h t X a u t e p ; seine letzte E n t g e g n u n g g e g e n m i c h in d e r L u t h a r d t ' s c h e n ist ein G e w e b e v o n u n v e r . . . e n E n t s t e l l u n g e n . I c h s c h w e i g e n u n 2

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natürlich.8

Harnack, A.: Die Altercatio Simonis Judaei et Theophili Christiani nebst Untersuchungen über die antijüdische Polemik in der alten Kirche. — Die Acta Archelai und das Diatesseron Tatians ( = Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur 1,3), Leipzig 1883. Hatch, E.: Die Gesellschaftsverfassung der christlichen Kirchen im Altertum. Vom Verfasser autorisierte Übersetzung der 2. durchgesehenen Auflage, Gießen 1883. Harnack, A.: (Art.) Manicheism, in: Encyclopaedia Britanica, 9. Aufl., Bd. 15, 1883, 481-487; ders.: (Art.) Montanism, in: ebd., Bd. 16, 1883, 7 7 4 - 7 7 7 ; ders.: (Art.) Marcion and the Marcionite Church, in: ebd., Bd. 15, 1883, 533 — 535; ders.: (Art.) Millennium, in: ebd., Bd. 16, 1883, 3 1 4 - 3 1 8 . Ein solches Werk erschien nicht. Harnack behandelte die Antithesen Marcions ausführlich in seiner fast vierzig Jahre später veröffentlichten Monographie: Marcion. Das Evangelium vom fremden Gott. Eine Monographie zur Geschichte der Grundlegung der Katholischen Kirche ( = Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur, Bd. 45), Leipzig 1921, 7 4 - 9 2 , 2 5 6 - 3 1 3 . Harnack, A.: Martin Luther in seiner Bedeutung für die Geschichte der Wissenschaft und der Bildung. Festrede, gehalten am 10. November 1883 in der großen Aula der Ludewigs-Universität, Gießen 1883; auch in: RA 1, 1 4 1 - 1 6 9 . Harnack, A.: (Art.) Sokrates und Sozomenos, in: Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, 2. Aufl., Bd. 14, 1883, 4 0 3 - 4 2 0 ; ders.: (Art.) Sulpicius Severus, in: ebd., Bd. 15, 1883, 62—67. Harnack hatte Viktor Schultzes Werk: Die Katakomben. Die altchristlichen Grabstätten. Ihre Geschichte und ihre Monumente, Leipzig 1882, rezensiert in: T h L Z 7 (1882), 368—374. In dieser Rezension lobte Harnack das Werk zunächst als ein zweckmäßiges, gründlich gearbeitetes Kompendium. (368 f.) Anschließend kritisierte er jedoch, daß Schultze die Bedeutung der Katakombenforschung für den (kirchen)historischen Erkenntnisfortschritt weit überschätze. Er widersprach weiterhin Schultzes Behauptung, die Verhältnisse in der kirchlichen Altertumswissenschaft seien dieselben wie in der klassischen Altertumswissenschaft, die ihre hohe Blüte und ihre sicheren Erkenntnisse zu einem großen Teil dem monumentalen Quellenmaterial verdanke. (369—372) Im folgenden kritisierte Harnack einzelne Thesen Schultzes, wobei er ihm häufig das Fehlen überzeugender Nachweise und das Vertreten falscher Allgemeinheiten vorwarf. ( 3 7 2 - 3 7 4 ) Als Entgegnung auf diese Rezension schrieb Schultze: Der theologische Ertrag der Kata-

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1883

Wenn ich ihn deutlicher angefaßt hätte, so wäre er wohl bescheidner gewesen. Diese Herrn zwingen einen geradezu, unhöflich zu werden. — Also Gott sei Dank — wir sind Alle wohlauf u[nd] da Sie es im Ganzen doch auch sind, schließe ich diese Karte mit Freude u[nd] Dank. Stets Ihr treu ergebner AHarnack.

Nr. 24 Postkarte Harnacks an Rade [Poststempel: Gießen, den 11. 3. 1883] Die Th[eologische] L[iteratur-]Z[eitung] bedarf Stoff: ich bitte Sie, mir Ihre freundlichst übernommenen Recensionen bald möglichst schicken zu wollen. 1 Stets Ihr A. Harnack. kombenforschung, Leipzig 1882, das Harnack wiederum rezensierte in: T h L Z 7 (1882), 607—612. Harnack wehrte sich dagegen, daß er in diesem Werk als Ignorant dargestellt worden sei, der über Dinge schreibe, die er nicht kenne. Er warf Schultze vor, seine Ausführungen zuerst entstellt und dann bekämpft zu haben. Harnack ging anschließend auf unsicher bleibende Aspekte der Schrift Schultzes ein, um aufzuzeigen, daß dieser seine kritischen Anmerkungen nicht habe entkräften können. Er beendete seine Rezension mit dem abschließenden Urteil, daß er die Katakombenforschung nicht abqualifizieren wolle, auch wenn sie bisher hauptsächlich Bestätigungen bereits aus literarischen Untersuchungen gewonnener Erkenntnisse gebracht habe. Theologische Schlüsse aufgrund von Ergebnissen der Katakombenforschung sollten jedoch nicht ohne die nötigen Kenntnisse der altchristlichen Literatur gezogen werden. (612) Schultze schrieb daraufhin in der Rubrik „Anzeigen" der von Chr. E. Luthardt herausgegebenen Allgemeinen Evangelisch-Lutherischen Kirchenzeitung 16 (1883), 24, Harnack habe sein früheres Urteil, das er im ersten Teil der Rezension geäußert hatte, in deren zweiten Teil „bedeutend ermäßigt" und „durch Form wie Inhalt seiner Polemik mich in der Ueberzeugung meines Rechtes nur bestärkt". Harnack habe in seiner Rezension vieles verschwiegen bzw. abgeschwächt. Er habe zudem ungerechte Kritik an Schultzes Aussagen über den (insgesamt bescheidenen) Gesamtertrag der Katakombenforschung geübt, die ihm nun allerdings — wie Schultze erfreut w a h r n a h m — „inzwischen unbequem geworden" sei.

Nr. 24 1

Ab Jahrgang 6 (1881) wurde die Theologische Literaturzeitung gemeinsam von E. Schürer und A. Harnack herausgegeben. Harnack war bis zum Jahrgang 35 (1910) als Herausgeber dieser Zeitschrift tätig. Rade rezensierte nach den in Anm. 1 zu Nr. 23 genannten Werken im Jahrgang 8 (1883) der T h L Z folgende Werke: Kübel, R.: Über den christlichen Wunderglauben. Vortrag, Stuttgart 1883, in: ebd., 279—281; H o f f m a n n , Chr.: Mein Weg nach Jerusalem. Erinnerungen aus meinem Leben, 1. Theil: Erinnerungen aus meiner Kindheit, Jerusalem 1881, in: ebd., 327—329; H o f f m a n n , Chr.: Bibelforschungen, 1. Bd.: Erklärung der elf ersten Kapitel des Römerbriefs, Jerusalem 1882, in: ebd., 363—365; Liddon, H. P.: Die Gottheit unseres Herrn und Heilandes Jesus Christi. Acht Vorlesungen. Autorisierte Übersetzung der 7. Auflage. Mit einem Vorwort von Ph. F. Mader, Basel 1883, in: ebd.: 491—494; Wegener, W.: Was können wir thun, um diejenigen, welche bei religiös-sittlichem Ernst

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Nr. 25 Postkarte Harnacks an Rade 1 [Poststempel: Gießen, 26. 7.1883] Vielen Dank, lieber Freund, für Ihren „Janssen". 2 Ich habe ihn mit dem größten Intresse u[nd] Freude gelesen. Das ist Ihnen gut gelungen. Herzlich grüßend Ihr A. Harnack.

Nr. 26 Postkarte Harnacks an Rade [Poststempel: Gießen, 7. 11. 1883] 1 „Baumgarten" 2 habe ich leider — schon i[m] Juli — an Kawerau zur Recension vergeben, eine solche aber bisher nicht erhalten. Sehr erfreut, -ß- [= daß] Sie über „Cochleus" schreiben wollen. 3 O b meine Lutherrede 4 gedruckt werden wird, ist mir selbst noch zweifelhaft; ich werde sie Ihnen schicken, falls es geschieht. Viele Grüße. Stets Ihr AHarnack. N[ota-]B[ene]: Wir haben 72 Studenten d[er] Theologie. Ich habe i[n] der alten Kirchengeschichte u[nd] in der „Neuesten Geschichte der katholischen Kirche" je über 30. doch den kirchlichen Aufgaben der Gegenwart fern bleiben, für dieselben zu gewinnen? Vortrag, gehalten in Berlin am 22. Mai 1883, Halle 1883, in: ebd., 497f. Nr. 25 1 Auf der Vorderseite der Postkarte wurde mit Bleistift „26. 7." vermerkt. 2 Rade, M.: Bedarf Luther wider Janssen der Verteidigung? Vortrag auf der Konferenz sächsischer Geistlicher zu Meißen am 20. Juni 1883, Leipzig 1883. Vgl. dazu Schwöbel: Rade, 35 ff. und Rathje, 30. Nr. 26 1 Die Jahreszahl 1883, die auf dem Poststempel nicht zu lesen ist, ist aus dem Inhalt der Karte rückgeschlossen. - Auf der Vorderseite der Postkarte wurde mit Bleistift „7. 7. 11" vermerkt; die letzten beiden Zahlen wurden mit Blaustift korrigiert zu „11? 86?". 2 Baumgarten, M.: Doctor Martin Luther. Volksbuch zum Lutherfest am 10. November 1883, Rostock und Ludwigslust 1883. Die Rezension erfolgte durch L. Enders in: T h L Z 9 (1884), 36f. 3 Eine Rezension Rades, die sich auf Johannes Cochläus bezieht, erschien nicht. 4 Harnack, A.: Martin Luther in seiner Bedeutung für die Geschichte der Wissenschaft und der Bildung. Festrede, gehalten am 10. November 1883 in der großen Aula der Ludewigs-Universität, Gießen 1883; auch in: RA 1, 141 — 169.

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Nr. 27 Brief Harnacks an Rade Gießen, d[en] 9. XII. [18]83. Lieber Freund, Mit einer Bitte um Entschuldigung komme ich zu Ihnen u[nd] ersuche Sie freundlichst mir Pardon zu gewähren u[nd] mir meine Unbedachtsamkeit nicht zu verübeln. Herr Decan Strack schickt mir unermüdlich unaufgefordert Recensionen für die Th[eologische] L[iteratur-]Zeitung zu u[nd] läßt sich dadurch nicht stören, daß ich ihm 9/10 zurückschicke u[nd] ihm unumwunden erklärt habe, ich dankte für seine freien Beiträge. Vor 14 Tagen schickte er mir unter anderem auch eine Anzeige über Keferstein 1 zu. Obgleich mein Gedächtniß sonst in solchen Fällen nicht schlecht ist, so versagte es diesmal. Ich nahm die Recension an u[nd] leidiger Weise ist sie bereits gesetzt. Ich hätte lieber die Ihrige, die ich mir von Ihnen erbeten. Aber da die Anzeige von Strack einmal gesetzt ist u[nd] da die Sache nicht so wichtig ist, um 2 Recensionen zu vertragen, so bitte ich Sie freundlichst, Ihre Recension zurückzuziehen u[nd] mir die Angelegenheit nicht zu verübeln. Ich kann nur versprechen, mich zu bemühen, daß ähnliches sich nicht wiederholt. Bei den 100—150 Recensionen, die stets zur Zeit ausstehen, muß man namentlich gegenüber unbestellt-eingeschickten Anzeigen sehr auf seiner Hut sein, u[nd] doch passirt ab u[nd] zu etwas. Also — freundliche Entschuldigung! Ich hoffe, daß Ihnen der Keferstein nicht allzu viel Zeit u[nd] Mühe gekostet hat. Immerhin — ich weiß, wie ärgerlich so etwas ist. Wenn Sie wirklich die Heer'sche Schrift nicht anzeigen wollen — ich glaube, Sie sind zu scrupulös —, so schicken Sie dieselbe, bitte ich, an mich. 2 Ihr literarisches Unternehmen 3 — es macht mir doch Sorge! 140 Bogen — das ist exorbitant! Gerne erführe ich, wie Sie die Sache anlegen. Sie geben Nr. 27 1 Strack, K.: (Rez.) Keferstein, H.: Die Confessionsschule und ihre Consequenzen, Wien 1883, in: T h L Z 9 (1884), 1 7 2 - 1 7 4 . 2 Heer, J. J.: Der Religionsbegriff Albrecht Ritschl's dargestellt und beurteilt, Zürich 1884. Die Rezension erfolgte durch W. Herrmann in: T h L Z 9 (1884), 1 9 9 - 2 0 3 . 3 Doktor Martin Luthers Leben, Thaten und Meinungen aufgrund reichlicher Mitteilungen aus seinen Briefen und Schriften dem Volke erzählt von Paul Martin [Rade], 3 Bde., Neusalza i. S. 1 8 8 3 - 1 8 8 7 . Vgl. dazu Schwöbel: Rade, 38f.; Rathje, 30f., und Rade, M.: Erinnerung an Luther, in: CW 58 (1933), 975, wo Rade über den Anlaß zu diesem Werk berichtete: „Ende November 1883 besuchte mich ein im Nachbarstädtchen wohnhafter Häuptling der weltlichen Kolportage [= H. Oeser]. Unter dem Eindruck der Volksfeier, die der 10. November bei seiner 400. Wiederkehr wirklich brachte, begehrte er von mir ein Lutherleben für sein Geschäft: 100 Hefte = 140 Bogen binnen Jahresfrist. Die abenteuerliche Idee, auf diesem Wege die Gestalt Luthers in Menschenkreise zu bringen, die ihr sonst ferner blieben, mit denkbar größter Ausführlichkeit, packte mich, und ich schlug ein. So habe ich jede Woche ein Heft geliefert, aber es wurden doch 3 V* Jahre daraus. Am 31. März 1887 erst, abends 11 Uhr, war die letzte Zeile geschrieben."

1883/1884

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doch wohl umfangreiche Auszüge aus Luthers Werken. Ich kann nicht leugnen: gerne wüßte ich Sie bei einer anderen Arbeit. Das Argument von der italienischen] Reise scheint mir nicht stichhaltig zu sein; das andere ist ja allerdings in's Gewicht fallend. Indessen — Alles kommt darauf an, daß Sie es mit Freuden ufnd] gerne thun. Auch hier gilt das Wort positiv u[nd] negativ: „Was nicht aus dem Glauben kommt, ist Sünde". Wenn Sie fröhlich dabei sind, so haben Sie Recht. An Jülicher werde ich denken. 4 Herzliche Grüße. Stets Ihr treu ergebner AHarnack.

Nr. 28 Postkarte Harnacks an Rade 1 [Poststempel: Leipzig, 29. 3. 1884] Lieber Freund! Ich habe eben etwas Ebbe u[nd] bin für jede Anzeige daher besonders dankbar. Ich kann mir denken, wie sehr Sie der Erholung bedürfen, u[nd] bitte Sie dringend, sich zu schonen. 23 Bogen in einem Semester: das ist eine zu große Arbeit. Daß das Werk so gut geht, ist sehr erfreulich. Ich freue mich sehr auf den I. Band, u[nd] es versteht sich ganz von selbst, daß er in der Thjeologischen] L[iteratur-]Z[eitung] angezeigt werden wird. 2 Sehr ärgerlich ist es mir, daß Sie meinen Luther-Vortrag 3 nicht erhalten haben, zumal da ich nicht bestimmt weiß, ob ich die Schuld auf meinen Verleger 4 schieben darf. Bitte entschuldigen Sie freundlichst: er soll doch noch kommen, und dann: glauben Sie mir, daß ich zum „Lesen" keine Zeit habe. Jede Mittheilung von Ihnen ist stets für mich eine Freude. Von Herzen Ihr A. Harnack.

4

Adolf Jülicher war d a m a l s Prediger an der Waisenhauskirche in R u m m e l s b u r g . Der aktuelle Anlaß des Hinweises auf Jülicher ist unklar, da Rades diesbezügliches Schreiben fehlt.

Nr. 28 1 Auf der Vorderseite der Postkarte wurde mit Bleistift „29. 1. 8 4 " vermerkt. 2 Rades Werk über Luther (vgl. Anm. 3 zu Nr. 27) erschien zunächst in Form von einzelnen Heften. Die S a m m l u n g derselben in einem ersten Band wurde von G . Kawerau rezensiert in: T h L Z 10 (1885), 187f. Kawerau rezensierte auch Bd. 2 (vgl. Anm. 6 zu Nr. 34) und Bd. 3 in: T h L Z 13 (1888), 3 6 0 - 3 6 3 . 3 H a r n a c k , A.: Martin Luther in seiner Bedeutung für die Geschichte der Wissenschaft und der Bildung. Festrede, gehalten am 10. November 1883 in der großen Aula der Ludewigs-Universität, Gießen 1883; auch in: R A 1, 1 4 1 - 1 6 9 . 4 J o s e f Ricker.

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1884

Nr. 29 Postkarte Harnacks an Rade Leipzig, Windmühlenstr. 27. 8. April [18]84. Lieber Freund! Besten Dank für die beiden Anzeigen 1 : ich lese immer besonders gern was von Ihnen kommt; denn Sie haben einen individuellen Stil, der sehr erfreulich ist. Mit dem Widerspruch der Ermahnung z[ur] Erholung und der fortgesetzten Bitte zur Mitarbeit steht es doch nicht so schlimm, da Sie Ihre Anzeigen in glücklichen Stunden zu schreiben pflegen. Sie sollen Ihnen auch fernerhin keine Last sein, sondern eine Abwechselung bereiten; Sie mögen sie eintreten lassen, wann Sie es für gut befinden. Morgen reise ich nach Gießen zurück, u[nd] Sie müssen es schon ertragen, dann meinen Luthervortrag 2 in einem zweiten Exemplar zu dem Übrigen zu legen. — Die beiden von Ihnen genannten Schriften sind bisher bei der Redaction, soviel ich mich erinnere — meine Papiere sind bereits gepackt —, nicht eingelaufen: gerne werde ich die Anzeige derselben bei Ihnen wissen. 3 Ich sitze über der AiSa^il u[nd] hoffe bald fertig zu sein. 4 Die Arbeit an dieser Schrift hat mir die reiche Zeit wieder aufs lebhafteste in Erinnerung gerufen, in welcher ich an den Patr[um] Ap[ostolicorum opera] 5 arbeitete und von der Begeisterung des Kreises Ihrer Freunde für die alte K[irchen-]Geschichte wie auf Flügeln getragen wurde. So gut ist es mir seitdem nicht mehr geworden! Von Herzen stets Ihr A. Harnack. Nr. 29 1 Rade, M.: (Rez.) Dr. Martin Luther's Evangelien-Predigten, aus der Haus- und Kirchenpostille auf alle Sonn- und Festtage im Kirchenjahr ausgewählt von Pfarrer Gustav Schlosser. Eine Gabe zum 400jährigen Jubiläum der Geburt Luthers, 3. Aufl., Frankfurt 1884, in: T h L Z 9 (1884), 245f.; ders.: (Rez.) Peter van Cornelius. Ein Maler von Gottes Gnaden, Hamburg, 1884, in: ebd., 246. 2 Vgl. Anm. 3 zu Nr. 28. 3 Harnack bezieht sich wahrscheinlich auf Rade, M.: (Rez.) Funke, W.: Das Werk der lutherischen Gotteskasten und verwandten Unterstützungsvereine. Gesammelte Beiträge über die Notwendigkeit, Geschichte und Arbeitsgebiete der Gotteskasten, nebst einem Anhang über den Gustav-Adolf-Verein, Hannover 1883 und Nöltingk, G. C.: Der Gustav-Adolf-Verein und die lutherischen Gotteskasten, Berneburg 1884, in: T h L Z 9 (1884), 5 1 2 - 5 1 6 . 4 Harnack, A.: Die Lehre der zwölf Apostel nebst Untersuchungen zur ältesten Geschichte der Kirchenverfassung und des Kirchenrechtes (= Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur 2,1.2), Leipzig 1884. 5 Patrum apostolicorum opera. Textum ad fidem codicum et graecorum et latinorum adhibitis praestantissimis editionibus recensuerunt, commentario exegetico et historico illustraverunt, apparatu critico, versione latine passim correcta, prolegomenis, indicibus illustraverunt, hrsg. von A. Harnack, O. von Gebhardt und Th. Zahn, 3 Bde., Leipzig 1875-1877.

1884/1885

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Nr. 30 Schreiben Harnacks an R a d e 1 [Gießen, 1884] Ich hoffe, daß er — Gott — mit Ihnen noch etwas Besonderes vorhat.

Nr. 31 Postkarte Harnacks an R a d e [Poststempel: Cannstatt, 21. 3. 1885] Besten Dank, lieber Freund, für die Briefe: ich werde sie seiner Zeit zurücksenden. Ich bin hier in Cannstatt, um mich von Semester-Arbeit zu erholen: es geht mir sehr gut. Vom 1. Bande der D[ogmen-]Geschichte (Entsteh[ung] d[es] katholischen D o g m a ' s ) 1 habe ich nur noch 7 Bogen zu schreiben, c[irca] 23 sind geschrieben. Herzlich Ihr A. Harnack.

Nr. 32 Brief Harnacks an R a d e Gießen, den 17. 4. [18]85. Lieber Freund, Besten Dank für das Bugenhagen-Lied. 1 Nun aber noch eine Bitte: es sind merkwürdiger Weise hier bei einem Collegen Zweifel darüber aufgetaucht, ob Springer wirklich formell zum Protestantismus übergetreten ist. D a diese Zweifel einmal bestehen, können sie nur durch ein unzweideutiges Zeugniß beseitigt werden. Können Sie ein solches beschaffen? Die Angabe, wo Springer übergetreten ist, respfektive] bei welchem Geistlichen würde genügen. Oder

Nr. 30 1 D a s Schreiben, aus dem Rathje, 31, entnommen, Luthers Leben, Thaten merkte: „ D i e ehrendste Adolf H a r n a c k " . Ebd.

dieses Fragment stammt, ist verlorengegangen. D a s Zitat ist aus der diese Äußerung H a r n a c k s auf Rades Werk „ D o k t o r Martin und Meinungen" (vgl. Anm. 3 zu Nr. 27) bezog und dazu beAnerkennung findet d a s Buch von keinem Geringeren als von

Nr. 31 ' H a r n a c k , A.: Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. 1, Leipzig 1886. Nr. 32 ' Bezug unklar.

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ein Zeugniß der Frau Springer oder seines Schwiegersohns Engelmann, kurz irgend eine Aussage, die keine Bedenken mehr gestattet. 2 Ich ersuche Sie freundlichst um möglichst rasche u[nd] discrete Erledigung dieser Frage. Immer herzlich Ihr A. Harnack.

Nr. 33 Schreiben Harnacks an Rade 1 [Gießen,] 1 4 . 1 2 . 1 8 8 5 In diesen Tagen [...] wird Ihnen meine Dogmengeschichte 2 zugehen. Es ist mir eine besondere Freude, sie in Ihre, Bornemanns und Loofs' Hände zu legen und gern gäbe ich sie allen meinen alten Leipziger Freunden. Aber das geht leider nicht! Wenn Sie irgendwo Gelegenheit finden, sie anzuzeigen, z. B. im Sächsischen Kirchen- und Schulblatt oder wo sonst, werde ich Ihnen dankbar sein [...]

Nr. 3 4 Brief Rades an Harnack Schönbach (Sachsen), 1. Janjuar] 1886. Hochverehrter Herr Professor, Am ersten Weihnachtsfeiertage abends gegen 7 Uhr brachte mir der Postbote Ihr Buch. 1 Wir bescherten uns gerade — denn am h[eiligen] Abend waren meine Schwester u[nd] unser Pflegetöchterchen bei den Eltern. 2 Mitten in die 2

Rade hatte während seiner Studienzeit in Leipzig auch bei Anton Springer Kunstgeschichte studiert und war mehrere Semester sein Amanuensis. Anton Springer berichtete in seiner Autobiographie: Aus meinem Leben, Berlin 1892, 241, daß er bei seiner Übersiedlung nach Straßburg (1872) den formellen Übertritt zum Protestantismus vollzogen habe. Über dem Text der Karte wurde von Rade mit Rotstift „zu Springers D . " vermerkt.

Nr. 33 1 Auch dieses Schreiben ist verlorengegangen. Das Fragment ist zitiert nach Rathje, 37. 2 Harnack, A.: Lehrbuch, Bd. 1, 1886. Nr. 34 1 Harnack, A.: Lehrbuch, Bd. 1, 1886. 2 Elise Rade, die ihrem Bruder den Haushalt führte, und Martin Rade hatten die Tochter einer gemeinsamen, verstorbenen Freundin zu sich genommen. Ihre Eltern waren nach der Emeritierung Moritz Rades ebenfalls nach Schönbach gezogen. Vgl. Rathje, 62; Göhre, P.: Die Geburtsstätte der „Christlichen Welt", in: Vierzig Jahre, 16.

1886

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Weihnachtsfreude hinein kam also Ihre freundliche Gabe, u[nd] ich kann ehrlich sagen: sie war mir von allem das Liebste. Ich habe viel darin gelesen — trotz der strammen Feiertagsarbeit. Aber Ihnen zu danken, dazu kam ich bis heute nicht — wegen der vielen Feiertagsarbeit. Vom 24. abends bis 27. früh 5 ordentliche Predigten, abgesehn von Kasualien, dann wieder Sylvester u[nd] Neujahr 3 ordentliche Predigten, u[nd] die eine davon Mitternachts, so daß man gerade um die Jahreswende auf der Kanzel steht — dazwischen große Wochenkommunion, viel Geschäftliches, Revision der Kirchenbücher — da vergeht einem alles Briefschreiben; aber ein Buch nimmt man um so lieber zur Erquickung in die Hand. Nun werden Sie kein L o b u[nd] überhaupt kein Urteil von mir erwarten. Aber ganz ungeheuer habe ich mich doch gefreut, Ihre Dogmengeschichte nun in so ausgereifter Gestalt wiederzusehen. 3 Ueberall kam mir das alte Heft in den Sinn u[nd] ich verglich im Geist. Freilich gedachte ich auch derer, die solche einzigartige Vorschule zum Studium Ihres Buches nicht durchgemacht haben. Sie werden nicht so schnell sich überwunden geben, u[nd] ich fürchte, die Leute, welche gewohnt sind, immer nur die Ergebnisse zu beurteilen statt die Arbeit, werden noch ein Aergernis an dieser neuen Art Dogmengeschichte nehmen — nicht sogleich, denn zunächst werden sie die Tragweite des Vorgetragenen nicht ermessen, aber wenn ihnen einer von ihren Gelehrten das rechte Licht wird aufgesteckt haben, dann mag's etwa einen kleinen Sturm geben. Habeant sibi. D a s Buch wird seine Wirkung thun. Ich werde in meiner Weise seine Erkenntnisse mit fruchtbar zu machen suchen. Zunächst im Sächsischen] K[irchen-] u[nd] Sch[ul-]Bl[att], 4 welches zwar nicht wert ist, daß man einen Federstrich dafür thut (obwohl die Unzulänglichkeit vom Redakteur selbst ganz überraschend günstig angezeigt ist). Heute lassen Sie mich Ihnen nur sagen, daß ich Ihr Geschenk gründlich zu schätzen weiß u[nd] meine Herzensfreude dran habe. Dank auch für den Rat, Herzog betreffend. Ich habe R i g g e n b a c h ] demgemäß beschieden. 5 Kawerau's Anzeige meines 2. Bandes freute mich sehr. 6 Die Versehen 7 (besonders die in dem Kap[itel] von den vorlutherischen Bibelübersetzungen]) machen sich schlimmer als sie sind. Ich habe da mit ganz sekundären Hilfsmitteln arbeiten müssen, wie ich's leider nur zu oft muß. Ich spüre das am

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H a r n a c k las im Sommersemester 1877 in Leipzig zum ersten Mal Dogmengeschichte. R a d e zeigte H a r n a c k s Buch in dieser Zeitschrift an: Eine neue Dogmengeschichte, in: Sächsisches Kirchen- und Schulblatt 36 (1886), 3 7 - 4 2 . Gemeint ist die „Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche", begonnen von J . J . H e r z o g und G . L. Plitt. Riggenbach war Mitarbeiter an der 2. Auflage (1877 — 1888). Er hatte R a d e wahrscheinlich um Mitarbeit gebeten. K a w e r a u , G.: (Rez.) Martin, Paul [d.i. Martin Rade]: D o k t o r Martin Luthers Leben, Thaten und Meinungen, auf Grund reichlicher Mitteilungen aus seinen Briefen und Schriften dem Volke erzählt, 2. Bd., Neusalza i. S. 1885, in: T h L Z 10 (1885), 6 2 7 - 6 2 9 . Auf sie weist Kawerau ebd., 627 und 629, hin.

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1885/1886

meisten beim 3. Bande, denn das Material wird immer größer u[nd] immer schwerer herbeizuschaffen. Gelegentlich eine Frage. Geheimrat Böhmert, Dresden, dedizierte mir seines Vaters Biographie „Der Pfarrer von Roßwein" mit der Bitte, es irgendwo anzuzeigen. Haben Sie das Buch noch nicht vergeben, so würde ich bescheidentlich darum bitten. Wenn aber, so bin ich's auch zufrieden. 8 Habe dieser Tage das Programm unsres Gemeindeblatts entworfen. Wenn es durch die Hände der Freunde gegangen, werde ich es Ihnen mitteilen. 9 Hoffentlich führt Ostern Sie nach Leipzig, damit ich mit Ihnen persönlich darüber verhandeln kann. Wie haben große Ideen im Kopf. Neujahr möge Ihnen viel Segen bringen in Haus u[nd] Amt. Und bitte, bewahren Sie Ihre gütige Gesinnung Ihrem von Herzen dankbaren Martin Rade.

Nr. 35 Postkarte Rades an Harnack [Poststempel: Schönbach (Sachsen), 10. 2. 1886] H[och]v[erehrter] H[err] Prozessor,] Erstens herzlichen] Glückwunsch zum Erstgebornen, 1 von dessen Existenz ich mit Freude in Leipzig hörte. Zweitens, was den Artikel anlangt, so kommt das „Aber" noch hintennach, denn ich kann Ihnen nicht verhehlen, daß ich im einzelnen manches anders wünschte u[nd] vor allem etwas mehr Rücksicht auf die Kinder, die Studenten, denen mit gewissen Erkenntnissen gleich alles fällt (mehr „Pädagogik" würde die Unzulänglichkeit sagen). Also sorgen Sie nicht, daß ich die Posaune zu sehr anstrenge. O b ich das freilich werde in einem 2. Artikel sagen dürfen oder einmal brieflich, ist sehr fraglich. Denn der Krieg fängt schon an (wird freilich ein Sturm im Glas Wasser bleiben). Herr Dr. Schenkel in Cainsdorf 2 fühlt sich überrumpelt u[nd] weiß nun nicht, wie er mich strafen soll. Dabei ist jede seiner Karten eine Waffe für mich. Details würden Sie höchlich amüsieren. Nun, wir werden ja sehen. Widerrufen wird nichts. 3 Ihr R. 8

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Rade zeigte das Buch in der von Harnack herausgegebenen „Theologischen Literaturzeitung" an: Rade, M.: (Rez.) Böhmert, Viktor: Der Pfarrer von Rossweis. Ein Lebensbild, Gotha 1886, in: T h L Z 11 (1886), 1 1 5 - 1 1 7 . An der Gründung des „Evangelisch-Lutherischen Gemeindeblattes für die gebildeten Glieder der evangelischen Kirchen" waren neben Rade Friedrich Loofs, Paul Drews und Wilhelm Bornemann beteiligt. Vgl. Einleitung, Kapitel 6.

Nr. 35 1 Karl Theodosius Harnack, geboren im Januar 1886. 2 Herausgeber und Redakteur des Sächsischen Kirchen- und Schulblattes. 3 Rades Rezension des ersten Bandes von Harnacks Dogmengeschichte (vgl. Anm. 4 zu Nr. 34) wurde von der Redaktion des Sächsischen Kirchen- und Schulblattes scharf kriti-

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Nr. 3 6 Brief Rades an Harnack Schönbach (Sachsen), 19. März [18]86. Hochverehrter Herr Professor, Schon wieder bringen Sie mich in die Lage Ihnen zu danken. Ich thu's aber gern. Ihren Luthervortrag 1 hoffe ich noch zu verwerten. Es freut mich sehr, daß er seine Lebenskraft noch erweist. Allgemeine Erkenntnis der Bedeutung Luthers auf diesem Gebiet haben wir sehr nötig. Also herzlichen Dank. Ich schicke Ihnen heute einiges Manuskript zum Lesen und Beurteilen. Nämlich A. den Entwurf eines vertraulichen Rundschreibens, welches in ca. 5 0 0 Exemplaren gedruckt u[nd] an die zu gewinnenden Freunde und Mitarbeiter unsres Ev[angelisch]-Luth[erischen] G[e]m[ein]deblatts versandt werden soll. 2 Es ist schon mehrfach geprüft und für gut befunden worden; neulich aber hat Freund Loofs einen Gegenentwurf geliefert und den meinigen als zu rhetorisch, reklamenhaft und unbestimmt verworfen. Die 3 Gutachten, welche ich hierauf einforderte, fielen indessen sämtlich zu meinen Gunsten aus (Drews, Bornemann u[nd] ein cand. Mirbt in Göttingen). Loofs ist ausführlicher, sachlicher, deutlicher, wissenschaftlicher; ich erkenne vieles an seinem Entwurf für sehr gut u[nd] richtig, muß aber doch selbst auf dem meinigen beharren. Auch die Fehler und Schwächen meines Entwurfs sind zum Teil Absicht. Ich wollte gern viel dran verbessern, aber er ist aus Einem Guß, frisch und rasch hingeschrieben. Traf ich's nicht, so werde ich's mit der ganzen Redaktion nicht

siert. Sie protestierte in der „Erklärung zu dem Artikel 'Eine neue D o g m e n g e s c h i c h t e ' " , in: Sächsisches Kirchen- und Schulblatt 3 6 (1886), 5 8 f . , gegen sie. Z u r Begründung wurden einige Stellen aus H a r n a c k s Werk angeführt (z. B. daß H a r n a c k auf S. 51 eine sichere Deutung der A b e n d m a h l s w o r t e ausschließe; d a ß er auf S. 6 1 die Auferstehung nicht als objektive T a t s a c h e darstelle; daß er S. 6 7 f . ausführe, durch die allegorische Auslegung des Alten Testaments erhielten viele Stellen einen ihnen ursprünglich fremden Sinn sowie daß das Leben Jesu auf diese Weise mit neuen T a t s a c h e n bereichert werde; ebd. 5 8 ) . Die R e d a k t i o n , die sich verpflichtet fühlte, für das evangelisch-lutherische Bekenntnis einzutreten, erklärte deshalb, „daß diese D o g m e n g e s c h i c h t e bei aller sonstigen Gelehrsamkeit derselben ein im höchsten G r a d e bedenkliches Buch und seine T h e o l o g i e eine u n a n n e h m b a r e ist." (59) — D e r sich aus dieser Kontroverse entwickelnde Konflikt zwischen R a d e , der ursprünglich geplant hatte, noch eine zweite Rezension zu H a r n a c k s D o g m e n g e s c h i c h t e im Sächsischen Kirchen- und Schulblatt zu veröffentlichen (vgl. Nr. 3 6 ) , und R e d a k t e u r Schenkel wurde später von R a d e der Öffentlichkeit vorgelegt: Rade, M . : Ein wissenschaftliches Buch und ein kirchliches Parteiblatt. Als M a n u s k r i p t gedruckt, Neusalza i. S. 1 8 8 6 . Nr. 3 6 1 Vgl. A n m . 6 zu Nr. 2 3 . 2 Dieses erste Rundschreiben blieb unveröffentlicht. Es befindet sich nicht im R a d e - N a c h laß der U B M a r b u r g . R a d e zitierte daraus in seinem Aufsatz: Religiöser Liberalismus. Glosse zu W. Nigg's „ G e s c h i c h t e des religiösen L i b e r i i s m u s " , in: Z T h K N . F. 19 ( 1 9 3 8 ) , 251.

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treffen. Doch bitte ich Sie, hochverehrter] Herr Prozessor], um Ihre genaue Meinung. Es handelt sich hier um eine große Sache. Der Entwurf will als der erste, einleitende Schritt betrachtet sein. M a n hat zu gewärtigen, daß er auch in unrechte Hände kommt. D a er ein Parteiprogramm nicht aufstellen will u[nd] soll, muß sein Charakter vornehmlich im ganzen Tone ruhn. Wer ihn nicht versteht, der kommt vielleicht durch die Probenummer dahinter oder durch den ersten Jahrgang. Unverständlich werden wir übrigens so manchem sein und bleiben. Sie werden uns verstehn. Ein Anfang muß nun gemacht werden. Ich warte nur auf Ihr Urteil, dann schicke ich das M[anu-]S[kript] an L o o f s , u[nd] er m a g mit Guthe weiter nach einem Verleger suchen. Leider ist es sehr die Frage, ob wir einen finden. Mit Joh[annes] Lehmann zerschlug sich's, weil's ihm an Kapital fehlt. In Leipzig ist wenig Aussicht. Können Sie da raten und helfen? 3 Um dem Verleger doch außer jenem Rundschreiben noch einigen Anhalt zu bieten, schrieb ich soeben einige Sätze für ihn nieder, die ich unter B. ebenfalls mitschicke. 4 Ich darf damit Ihres Beifalls gewiß sein. Gedruckt werden sie nicht, zum [sie] mindesten zeigen sie, daß mir das Bild des Blattes ganz klar vor der Seele steht. Von Bescheidenheitsfloskeln bin ich kein Freund; ohne das Vertrauen auf Gott und unsere Getreuen müßte mir ja freilich vor dem Unternehmen bangen. In wie weit dürfen wir auf Sie rechnen? Wir verlangen keine wirkliche Mitarbeit, Sie haben Besseres zu thun, aber ganz werden Sie uns Ihre Unterstützung nicht entziehn. So bitten wir vor allem um Vorschläge von Mitarbeitern aus Ihrem Kreise, soweit uns derselbe unbekannt ist (zuverlässiger Berichterstatter in den Ostseeprovinzen!!). Ist in Hessen, in den Ostseeprov[inzen] überhaupt auf rege Teilnahme zu hoffen? Aber die Beantwort[un]g dieser Fragen, die Nennung von Mitarb[ei]tern und Freunden hat Zeit; zunächst bitte ich um Ihr Gutachten zu den 2 beifolgenden Schriftstücken. Nächste Woche k o m m e ich endlich wieder zu Ihrer Dogmengeschichte u[nd] schreibe meinen 2. Art[ikel] ins Sächs[ische] K[irchen-] u[nd] Sch[ul]bl[att]. Wenn dieser nicht aufgenommen wird, beabsichtige ich, Briefwechsel mit Schenkel, beide Artikel u[nd] a[nderes] zu einer Broschüre zusammenzufassen (vielleicht als M[anu-]S[kript] gedruckt). 5 Vorher würde ich Ihnen natürlich alles vorlegen. Aber noch hoffe ich von Schenkel das Beste. Dann beantworte ich bei Uebersendung meines 2. A r t i k e l s ] noch einige Kleinigkeiten, die von unserem letzten Kartenwechsel im Rückstände sind. Heute bin ich unfähig dazu. Was gäbe ich um einen mündlichen Austausch. — Von den letzten Vorgängen in Dresdjen] u[nd] Leipz[ig] weiß ich nichts; vor 5 Wochen 3

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D a s „Evangelisch-Lutherische Gemeindeblatt für die gebildeten Glieder der evangelischen Kirchen", die spätere „Christliche Welt", wurde schließlich beim Verlag G r u n o w in Leipzig verlegt. Dieser Entwurf befindet sich im Rade-Nachlaß im Konvolut „Christliche Welt", Signatur H s . 839. Dies tat R a d e dann auch. Vgl. Anm. 3 zu Nr. 35.

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w a r ich besser im Bilde. Efrnst] L[uthardt] brüllt Ihnen nun im T h e o l o g i schen] Lit[eratur]bl[att] noch n a c h ! 6 Was wußten diese Leute denn früher v o m „ G e m e i n d e g l a u b e n " . 7 Sie sind auf ihre Art äußerst gelehrig. Uebrigens g l a u b e ich nicht, d a ß Sie in Leipzig viel Freude würden erlebt haben. Außer ein großes Kolleg. Aber d a s k o m m t schon n o c h . 8 Immer Ihr d a n k b a r e r Rade Bitte getrost mit Bleistift in den E n t w u r f A hineinzukorrigieren. B b e d a r f der K o r r e k t u r weniger. 9 Ihrer Fr[au] G e m a h l i n besondern ergebnen G r u ß u[nd] D a n k für ihre freundliche Karte, die mir sehr lieb w a r . 1 0 6

Im Theologischen Literaturblatt war eine anonyme Besprechung von H a r n a c k s D o g m e n geschichte erschienen: e: (Rez.) A. H a r n a c k ' s Dogmengeschichte, in: Theologisches Literaturblatt 7 (1886), 41 — 43. Diese veranlaßte H a r n a c k zu einer „Berichtigung" (ebd., 71 f.), in der er ausführte, der Rezensent habe den Grundgedanken seines Werkes grob mißverstanden, wenn er seine, H a r n a c k s , Charakterisierung des altkirchlichen D o g m a s „ a l s den Ausdruck der völligen Verweltlichung des Evangeliums Jesu Christi" darstelle (71, d a s Zitat s t a m m t aus ebd., 41). Dieser „Berichtigung" folgte eine wiederum mit „ e " unterzeichnete „ E n t g e g n u n g " (ebd., 72), die dazu Stellung nahm. Zwei Wochen später erschien im Theologischen Literaturblatt eine nachträgliche Besprechung durch den Herausgebers der Zeitschrift: E[rnst] L[uthardt]: (Rez.) Tatian's Rede an die Griechen übersetzt und eingeleitet von Adolf H a r n a c k . Festschrift Seiner Königlichen Hoheit dem Großherzoge von Hessen und bei Rhein Ludewig IV. zum 25. August 1884 gewidmet von Rector und Senat der Landesuniversität, Gießen 1884, in: ebd., 96f., zu der sich Luthardt durch die Auseinandersetzung um H a r n a c k s Dogmengeschichte im Theologischen Literaturblatt veranlaßt sah (vgl. ebd., 96).

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Luthardt schrieb ebd., 97, als abschließendes Urteil seiner Rezension: „Was unseres Erachtens von der neuen Schule über Gebühr vernachlässigt wurde, ist die Berücksichtigung und die Feststellung des kirchlichen Gemeinglaubens, welches an der H a n d der G e b o t e und der regula fidei nicht allzu schwer zu sein scheint, und die Resultate, welche man auf jenem Wege erlangt zu haben scheint, wesentlich modificieren w ü r d e . " H a r n a c k wehrte sich gegen Luthardts Kritik in: Abgenöthigte Verwahrung wider D. Luthardt, in: T h L Z 11 (1886), 165 — 167. D a r a u f erwiderte Luthardt mit: Z u r „abgenöthigten Verwahr u n g " D . Ad. H a r n a c k s , in: Theologisches Literaturblatt 7 (1886), 141 f. Im Dezember 1885 war H a r n a c k von der Mehrheit der Leipziger theologischen Fakultät als einziger Kandidat für die in der Nachfolge Kahnis' neu zu besetzende kirchenhistorische Professur genannt worden. N a c h Erscheinen des ersten Bandes seines „Lehrbuchs der Dogmengeschichte" um Weihnachten 1885 beriet die Fakultät erneut. Luthardt und Delitzsch sprachen sich dabei gegen H a r n a c k aus, da er in seinem „ L e h r b u c h " wesentliche Lehren der evangelischen Kirchen bestritte, so daß seine Berufung „Krieg innerhalb der Facultät, Zwiespalt unter unseren Studenten, Beunruhigung der Landesgeistlichkeit" bewirken würde. (Schreiben der theologischen Fakultät der Universität Leipzig an d a s sächsische Kultusministerium vom 4. J a n u a r 1886, in: Universitätsarchiv Leipzig, Signatur Theol. Fakultät 68, Blatt 5. Diese Begründung stammte aus der Feder Luthardts. — Den Hinweis auf dieses Schreiben verdanke ich U w e Rieske-Braun.) N a c h d e m ein von Kultusminister Gerber angefordertes Gutachten des sächsischen Oberkonsistoriums sich ebenfalls gegen H a r n a c k ausgesprochen hatte, wurde nicht er, sondern schließlich T h . Brieger berufen. Vgl. Z a h n - H a r n a c k , 107, Nr. 42 und Nr. 44. Dieser Satz wurde an den Rand der letzten Seite des Briefes geschrieben. Dieser Satz wurde an den Rand der ersten Seite des Briefes geschrieben. — Die erwähnte Karte ist nicht vorhanden.

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Nr. 37 Brief H a r n a c k s an R a d e 1 Gießen, 2 4 . 3 . 1 8 8 6 D a n n — Sie w i s s e n , d a ß ich L u t h e r n i c h t s c h l e c h t m a c h e n will — ist m i r d e r L u t h e r S . 2 a n zu v o r n e h m e r S t e l l e , r e p [ e k t i v e ] zu s t a r k b e t o n t . D a s P a u l i n i s c h e , „ w a s ist P e t r u s , w a s ist A p o l l o " 2 u s w . k a n n m a n f r e i l i c h in e i n e m

Ge-

meindeblatt nicht zum M o t t o machen, aber etwas davon m u ß doch durchklingen, w e n n wir wirklich S ö h n e Pauli und Luthers ( „ M a d e n s a c k " — Sie w i s s e n ) 3 s e i n w o l l e n . I c h m e i n e , S i e m ü ß t e n , b e v o r S i e v o n L u t h e r s p r e c h e n , ein k r ä f t i g e s W o r t v o m E v a n g e l i u m s a g e n , v o n d e r A u t o r i t ä t , zu d e r es u n s v e r p f l i c h t e t , u n d v o n d e r F r e i h e i t , d i e es u n s g i b t [ . . . ] S o n s t , w i e g e s a g t , b i n i c h e i n v e r s t a n den und mit g a n z e m H e r z e n dabei. G o t t gebe seinen Segen!

Nr. 3 8 Brief R a d e s an H a r n a c k 1 Schönbach (Sachs[en]), 2 8 . 3. [18]86. Hochverehrter Herr Professor, Herzlichen D a n k für Ihre freundliche T e i l n a h m e an unserm P l a n e . 2 H e r v o r k e h r u n g des L u t h e r t u m s hat allerdings ihre guten G r ü n d e .

Die

Zunächst

g e s c h i c h t l i c h e , s o f e r n es u n s e r e r s t e r G e d a n k e w a r , ein B l a t t n u r f ü r S a c h s e n ,

Nr. 37 1 Dieser Brief, in dem sich Harnack zum Entwurf des ersten Rundschreibens, in dem um Mitarbeit in der späteren „Christlichen Welt" geworben wurde, (vgl. Nr. 36) äußerte, fehlt im Rade-Nachlaß; er ging 1980 verloren. Der hier gebrachte Auszug ist entnommen aus Schwöbel: Rade, 46, Anm. 5. 2 Anspielung auf 1 Kor 1, 12. 3 Anspielung auf eine Äußerung Luthers aus dem Jahr 1522, die von Friedrich Loofs in der Probenummer der C W vom 21. November 1886 zitiert wird. Luther wehrte sich dagegen, daß sich seine Anhänger nach ihm, dem armen, stinkenden „Madensack" „Lutherisch" nannten. Vgl. Loofs, F.: Lutherisch, in: C W 1 (1886), 2, und WA 8 , 6 8 5 , 4 - 1 1 ; als „Madensack" bezeichnete sich Luther ebd., 685,9. Nr. 38 1 Auf der ersten Seite des Briefes wurde von Rade mit Rotstift vermerkt: „Hierzu gehört die undatierte Briefkarte [ = Nr. 39] von mir, die also frühstens 2. oder 3. April geschrieben sein mag. Rade." 2 Diese Ausführungen beziehen sich auf die geplante Gründung des „Evangelisch-Lutherischen Gemeindeblattes". Die Einwände Harnacks, auf die Rade hier eingeht, beziehen sich auf die Betonung der lutherischen Prägung in einem ersten, nicht veröffentlichten Rundschreiben von 1886. Darin hieß es u. a., daß die neue Zeitschrift sich an evangelische Christen wenden wolle, „welche in dem Evangelium von Christo Heil, Frieden und Freiheit haben oder suchen, insbesondere für alle, die mit uns der Meinung sind, daß Dr. Martin Luther dieses Evangelium erst wieder recht ans Licht gebracht hat". Zitiert nach Rade, M . : Religiöser Liberalismus, 251.

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dann für Sachsen u[nd] Hannover zu schaffen. 3 Weiter aber ideale, die noch gelten, sofern wir eine neue Auffassung von Luther u[nd] Luthertum durchsetzen wollen. Wenn wir überhaupt eine Mission haben, dann kann es nur die sein, den pseudoluth[erischen] Konfessionalismus der Allgemeinen] E[vangelisch-]L[utherischen] K[irchen]z[eitung] 4 zu brechen, indem wir den wahren Sinn des Lutherischen Evangeliums u[nd] die daraus sich ergebende noch unerfüllte Aufgabe der Lutherischen Kirche für das deutsche Volk auch in unsern Tagen nachweisen. Jede Betonung des Luthertums unsererseits ist ein Protest gegen die Anmaßung der heutigen sog. Lutheraner. Hier werden unser scharfe Kämpfe warten, aber wir werden sie in Gottes Namen durchfechten. M a g nun durch unser Progr[amm] mancher Weitherzige sich befremdet fühlen — ihn wird die Zukunft eines Besseren belehren, u[nd] er bedarf unserer Arbeit ja auch weniger. Jetzt gilt es für uns das Vertrauen der den crtC^oi [ = Säulen] s des Luthertums folgenden Herde zu gewinnen. Wenn unser Blatt in ihrem Bereiche von vornherein abgelehnt würde, müßte unsere Arbeit auf eins der kirchlich wichtigsten Ziele verzichten. Trotzdem hoffe ich durch eine geringe Aenderung Ihrem Bedenken über diesen Punkt einigermaßen begegnet zu sein. Dagegen den „ Z o r n " habe ich bis jetzt noch nicht beseitigen können. Mir ist das ein heiliges Wort, wogegen alle andern mir so abgegriffen u[nd] leer erscheinen; sollte ich wirklich nicht versprechen können, daß bei aller friedlichen Haltung des Blattes dieser Gewissensaffekt in seiner ganzen verzehrenden Gewalt sich auf das Schlechte u[nd] Gemeine stürzen wird, um es zu vernichten oder selber darüber zu Grunde zu gehn? Aber Sie lächeln vielleicht darüber, daß ich so große Worte in den Mund nehme u[nd] haben Recht daran; ich will mir's noch überlegen. 6 Die Schriften sind nun nach Leipzig. 7 Wenn uns Gott nun einen rechten Verleger beschert, der beides hat, Herz u[nd] Geld, so kann die Sache schnell in den G a n g kommen. Ihr freundlicher Vorschlag einer Zusammenk[un]ft — ich würde entschieden für Eisenach stimmen — kommt nur meinen Wünschen entgegen: Sie wissen, wie sehr mir seit lange darum zu thun war. Obwohl ich denn weder Zeit noch Geld übrig habe, mache ich's jedenfalls möglich. Es wird jetzt wohl an L o o f s hängen, also wird's vor Pfingsten nicht werden. D a s genaue Studium Ihrer Dogmengesch[ichte] 8 gewährt mir einen immer größern Genuß. Ich bin glücklich Ihnen schreiben zu können, daß ich mir im 3

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D. h. für die lutherischen Landeskirchen, aus denen auch die Gründer der Christlichen Welt stammten. Die von Chr. E. Luthardt herausgegebene „Allgemeine evangelisch-lutherische Kirchenzeitung" vertrat einen (neu) lutherisch-konfessionellen Standpunkt. Anspielung auf G a l 2,9. Von „ Z o r n " ist weder in R a d e s Zitaten aus dem Rundschreiben noch in dem späteren Rundschreiben vom August 1886 (vgl. Nr. 44) die Rede. D a s in Nr. 36 erwähnte Rundschreiben und das dort ebenfalls erwähnte Schreiben über die Konzeption der Zeitschrift an den Verleger. Vgl. Anm. 1 zu Nr. 31.

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Grunde alles aneignen kann u[nd] in keiner Weise mich irgendwie durch Ihre Untersuchungen u[nd] Ergebnisse in Gefahr sehe, meinen Verpflichtungen gegen die Gemeinde in dem mir anvertrauten Amt zu nahe zu treten. Freilich, so wie unsereiner sind gewiß wenige praktische Geistliche auf Ihr Buch vorbereitet. Ihr Buch ist gut, aber das Publikum fehlt. Einen Satz wie den auf Seite 56: „denn Matth. 28,19 ist kein Herrenwort" würden Sie so nicht geschrieben haben, wenn Sie einigermaßen auf Schonung der Schwachen bedacht gewesen wären. Ohne der Wahrheit etwas zu vergeben, würden Sie Ihre Ansicht minder apodiktisch haben hinstellen können. Dem Pfarrer, dem Sie meilenweit voraus sind, vergeht da gleich auf den ersten Seiten der Athem: wo bleibt da das „Sakrament"? (c[on]f[er] unsre geläufige Disposition] „von X p [= Christus] selbst eingesetzt.") Wo bleibt der Lutherische Kirchenbegriff? (sichtb[ar] an Wort u[nd] Sakr[ament]) 9 usw. Kurz, Widerspruch ist so begreiflich von allen, die am liebsten ungestört auf der Bärenhaut der Tradition liegen. Wenn dagegen „die Wissenden" so widersprechen, wie sie es thun, dann darf man sich wohl des heutigen Textes getrösten: „er stellte es aber dem heim, der da recht richtet." 1 0 Es ist mir übrigens so, als hätten Sie Ihre Ansicht über Matth[äus] 28,19 in einer kleineren Arbeit gelegentlich niedergelegt. 11 Wenn das so ist, so bitte ich um deren fr[eun]dl[iche] Angabe; sonst aber bitte ich Sie auf meine Aeuß[e]r[un]gen zur D[ogmen-]G[eschichte] nicht zu antworten, sondern mich erst meinen 2. Artikel schreiben zu lassen. Ihr treu ergebner Rade. 1 2 P[ost-]S[kriptum] den 29. 1 3 Was ich oben pag[ina] 3 1 4 unten geschrieben, das klingt fast, als ob ich's anders erwartet hätte. Nein, aber es konnte doch kommen, daß sich aus Ihrer Arbeit Folgerungen ergaben, welche zu einem Gewissenskonflikt führten. Je mehr auch lautere Naturen hier u[nd] da den Eindruck religiöser oder kirchlicher Gefährdung von einigen Stellen Ihres Buches mitnehmen werden, desto mehr lag mir daran Ihnen zu bezeugen, daß ich vielmehr eine Befestigung in u[nd] eine wachsende Freudigkeit zu meinen christlich kirchlichen Ueberzeugungen erfahren habe, je mehr ich in das Innere Ihrer Beweisführ[un]g u[nd]

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Vgl. Confessio Augustana, Artikel VII. Abgedruckt in: Die Kirche im Zeitalter der Reformation, ausgewählt und kommentiert von H. O. Obermann (= Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen, Bd. III), Neukirchen-Vluyn 1981, 168. 1 Petr 2,23. Eine solche Schrift Harnacks existiert nicht. Am Rand der letzten Seite des Briefs merkte Rade mit Rotstift an: „Hierzu fehlt Harnacks Antwort. Man schließt auf ihren Inhalt aus meiner undatierten Karte an H[arna]ck [= Nr. 39], die also nach dem 28. bez. 30. 3. 86 geschrieben sein muß. R." Das Postskriptum befindet sich auf einem beigelegten Blatt. Die ersten zwei Sätze, die sich auf Harnacks „Dogmengeschichte" beziehen.

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Beurteil[un]g eindrang. Ich empfinde vieles geradezu als Befreiung; besser: als die Bestätig[un]g einer Befreiung, die ich schon seit lange Ihnen verdanke. Ich kann darum freudiger noch zustimmen als Loofs, der indessen besser als Sie zu kennen scheint oder doch im Auge behält, wieviel man unsern wackern Lutheranern bieten darf ohne sie des überdrüssig zu machen von uns zu lernen u[nd] uns zu vertrauen. Ich habe übrigens Loofs' Aufsatz 1 5 , seit er gedruckt ist, nicht wieder gelesen, will's auch jetzt nicht. Als meine Aufgabe betrachte ich, zu beweisen, daß diese Art das Problem der Entsteh[un]g des Dogmas anzufassen, direkt die Fortsetz[un]g der Arbeit Luthers ist. In hoc signo vincemus. Die Feststell[un]g des Rendezvous überlasse ich ganz Ihnen u[nd] Loofs, bitte nur die Sonn- u[nd] Feiertage, wie auch die Sonnab[en]de aus dem Spiele zu lassen. Doch wäre mir event[uell] der 30. Apr[il] u[nd] 1. Mai recht, da ich dann an der Versamml[un]g der Goethe Gesellschaft] in Weimar (am 1. u[nd] 2.) teilnehmen würde. Eine Nacht müßte, denk' ich, die Zusjammen]k[un]ft umschließen, denn abends verhandelt sich's am besten. d[er] Ofbige]

Nr. 39 Briefkarte Rades an Harnack 1 [Anfang April 1886] Hochv[erehrter] Hjerr] Prozessor,] Sie haben meinen Bemerk[un]gen zu viel Ehre angethan. Ich bin auch außer Stande, in diesen Tagen sie näher auszuführen. Ihre Unterscheid[un]g von Buch und Kolleg machte auch ich mir schon, aber die VT|JUOi, die VT)Jtioi [ = Schwachen]! Schließlich ist dies das Verhängnisvolle alles Fortschritts auch in der religiösen Erkenntnis, daß etliche nicht mit fortkönnen. Aber Sie werden sich gern gedulden, meine Bemerkungen sei's öffentlich, sei's privatim zu hören. Schließlich werde ich doch einer Ihrer Getreusten bleiben und, wills Gott, trotz aller andern Gesichtspunkte, die das Amt einem giebt, mit Ihnen Hand in Hand gehen. Habe ich einen Bender noch in Schutz genommen, 2 so 1S

L o o f s , F.: Christlicher G l a u b e und kirchliche D o g m e n . Z u r Orientierung über A. H a r nacks Dogmengeschichte, in: Deutsch-evangelische Blätter 11 (1886), 177—200.

Nr. 39 ' Mit Rotstift vermerkte R a d e auf der ersten Seite der Karte: „Bezieht sich auf meinen Brief v o m 28. 3. 8 6 " . Auf einem beigehefteten Zettel steht von der H a n d Rades: „ G e schrieben Anfang April 1886. R " 1 Der ursprünglich stark von Ritsehl beeinflußte Wilhelm Bender vollzog in seiner Theologie eine Wendung zur Anthropologie, wobei er Religion als Erzeugnis des menschlichen Lebenstriebes ansah und unter O f f e n b a r u n g d a s verstand, w a s in Geschichte und N a t u r diesem Trieb des Menschen befreiend entgegenkomme. Vgl. Bender, W.: D a s Wesen der Religion und die Grundgesetze des Kirchenbildes, Bonn 1886.

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werde ich wohl Ihre Fahne noch hochhalten können, selbst wenn die Forschung auch in Kernfragen weitergetrieben hätte, als damals, wo wir zu Ihren Füßen saßen. Kahnis' Nachfolger betreffend, so könnte ich darüber Bogen lang schreiben da ich sowohl in Dresdfen] als in Leipz[ig] mehrfach Kenntnis von intimen Verhandl[un]gen erhielt, aber alles unter strengster Diskretion. 3 Vielleicht darf ich später Ihnen davon erzählen. Nur so viel: wenn Ihre D[ogmen]gesch[ichte] nicht eben jetzt erschienen wäre, so würden Sie heute schon zu Kahnis' Nachfolger designiert sein. Es ist gar kein Zweifel dran. Was sie nun machen sollen, werden sie selber am wenigsten wissen. Gleichwohl kann ich nicht beklagen, daß Ihre D[ogmen-]G[eschichte] dazwischen gekommen ist. Ihnen selbst würde es nicht lieb sein, wenn man Sie berufen hätte, weil man eine falsche Meinung von Ihnen hatte. In Dresd[en] 4 verstehen u[nd] wissen sie gar nichts. Die Majorität der L[ei]pz[i]g[e]r Fakultät hat sich sehr freundschaftlich gegen Sie benommen. Trotzdem. Der Rest ist Schweigen. Mein Streit mit Schenkel fängt an, die Oberfläche zu gewinnen. Ich werde eine Zeit lang ihn toben lassen. Zu eingehender Polemik wie zu so manchem fehlt mir Zeit, Zeit, Zeit. Haben Sie etwa welche für mich übrig? Immer Ihr R.

Nr. 40 Brief Rades an Harnack Schönbach (Sachsfen]) 5. 5. [18]86. Hochverehrter Herr Professor, Soeben hat Schenkel mir meinen Artikel zurückgeschickt. Ich befördere ihn sofort an Sie u[nd] lege Schenkels Brief 1 bei. Es zeigt sich darin recht die Unzulänglichkeit des theologischen] Studiums. Man muß Mitleid haben mit so blöden Leuten. Gleichwohl lasse ich die Sache nicht so hingehn. Mein Plan, zu dem ich Ihre Aeußerung erbitte ist der. Unter dem Titel „Ein wissenschaftliches Buch und ein Kirchliches Parteiblatt" 2 gebe ich als Manuskript gedruckt heraus: 1. meine ganze Korrespondenz mit Schenkel, 2. die beiden Artikel über Ihre D[ogmen-]G[eschichte].

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Vgl. Nr. 36. Dresden war der Sitz der Leitung der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens und der sächsischen Regierung.

Nr. 40 1

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Veröffentlicht in: Rade, M.: Ein wissenschaftliches Buch und ein kirchliches Parteiblatt. Als Manuskript gedruckt, Neusalza i. S. 1886, 14. Vgl. Anm. 3 zu Nr. 35 und Nr. 39.

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Leider kann ich Ihnen den früheren Notenwechsel zwischen Sch[enkel] u[nd] mir nicht aus dieser Entfernung vorlegen, wenigstens nicht, ehe ich ihn für den Drucker gesichtet u[nd] abgeschrieben habe. Er ist im Stile des beiliegenden Briefes, nur zuweilen noch toller — das genügt. Wie eine gewisse Winkelpresse sich zur Arbeit unserer theol[ogischen] Wissenschaft stellt, davon ist die ganze Geschichte ein leuchtendes Exempel. Daß ich das Ganze als Manuskript drucken lassen will, scheint mir das Aeußerste von Rücksicht, was ich noch gegen Schenkel nehmen kann, es scheint mir zugleich eine Pflicht des Anstands, da ich seine Briefe in extenso veröffentliche. Ich verschicke die Hefte dann an meinen Freudeskreis u[nd] an sämtliche maßgebende Leute in der sächsischen] Landeskirche. Bitte schreiben Sie, auf wie viel Exemplare Sie reflektieren. Doch das hat Zeit, wenn ich Ihnen die Druckbogen zuschicke. Denn das werden Sie mir zu thun erlauben. Ich lasse die Geschichte hier in Neusalza bei H[ermann] Oeser drucken; der macht mir's am billigsten u[nd] so gut ich's haben will. Leid thut mir der Streit wegen unsers Blattes 3 ; aber er wird zur Klarheit helfen. Mittwoch d[en] 12. halte ich in Bautzen meinen Vortrag: Jesus Christus der einzige Gottesbeweis. 4 Ich will den Herrn Amtsbrüdern die ganze Breitseite meines positiven Luthertums ins Gesicht spielen lassen. Gott segne unsre Sache. Ich habe das deutliche Bewußtsein, es ist die Sache des Glaubens gegen den Kleinglauben. Bitte die Rücksend[un]g wenn möglich einschreiben zu lassen. M[anu-] S[kript] u[ndl Schenkel's Brfief] wären für mich ein unersetzlicher Verlust!! Viel Freude zum neuen Semester! Immer Ihr Rade Nr. 41 Postkarte Harnacks an Rade 1 [Poststempel: Gießen, 11. 5. 1886] Lieber Freund, Besten Dank für die Anzeigen. 2 3

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Gemeint ist das „Evangelisch-Lutherische Gemeindeblatt für die gebildeten Glieder der evangelischen Kirchen", die spätere „Christliche Welt". R a d e , M . : Jesus Christus, der einzige Gottesbeweis, in: C W 7 (1893), 243—246, 267-268, 291-293, 315-318.

Nr. 41 1 Auf der Vorderseite der Karte befindet sich ein mit Tinte geschriebener Vermerk von Rade: „Es fehlt ein Brief H[arna]cks vom Anfang April 86. Siehe meinen Brief vom 28/ 29. 3. 86 R " . Dort wurde weiterhin mit Bleistift „11. 5. 88 ?" vermerkt; die J a h r e s a n g a b e wurde mit Blaustift in „[18]86 ?" korrigiert. — Ein Stück vom unteren R a n d der Karte, auf dem vermutlich mindestens das D a t u m vermerkt war, wurde weggeschnitten. 2 R a d e besprach neben den in Anm. 1 zu Nr. 44 genannten Werken noch: Zahn, F. M . : Der überseeische Branntweinhandel. Seine verderblichen Wirkungen und Vorschläge zur

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Wir haben 67 Theologen: in der Reform[ations]gesch[ichte] habe ich 31, in der Symbolik 22 Zuhörer; außerdem habe ich 2 Gesellschaften, eine für die große Menge (12) u[nd] eine für die Gefördeteren (6). Uns geht es gut; meine Frau assistirt z. Z. in Leipzig bei den Hochzeitsfeierlichkeiten. 3 Von Herzen Ihr A. Harnack.

Nr. 42 Brief Rades an Harnack Schönbach (Sachs[en]), 17. 5. [18]86. Hochverehrter Herr Professor, Da bin ich schon wieder. Aber das letzte Mal in dieser Angelegenheit. Meine kleine Schrift contra Schenkel 1 ist im Manuskript fertig. Ehe ich sie in die Druckerei schicke, lege ich Ihnen noch das Stück vor, das Sie noch nicht kennen, welches unsere Korrespondenz enthält. Sie sehen daraus, daß ich es nicht drucken lassen kann ohne Ihre Erlaubnis. Sie haben die Entscheidung daher ganz in der Hand. Was mich zur Veröffentlichung drängt (sei's auch nur als M[anu-]S[kript]), ist die Rücksicht auf unser Landeskonsistorium. Den Herren die Sache wohl zubereitet in die Hand zu legen, darnach gelüstet mich. Sie werden das höchste Interesse dafür haben, 1. weil es Ihre Dogmengeschichte betrifft. Das ist ja in jüngster Zeit ihr Schmerzenskind gewesen. Eine Belehrung über das Buch wird ihnen sehr gelegen kommen. Die Lust, Sie zu berufen, ist bei den meisten sehr groß gewesen; nur zuletzt sind einige ins Schwanken gekommen, u[nd] leider zeigte sich auch der Herr Minister, wenn ich recht berichtet bin, sehr schwach und furchtsam. 2 2. Die Herren werden von Seiten der Chemnitzer

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Beschränkung desselben. Referat auf der Conferenz deutscher evangelischer MissionsGesellschaften zu Bremen vom 27.-29. Oktober 1885, Gütersloh 1886, in: T h L Z 11 (1886), 400. Wahrscheinlich ist die Hochzeit von Amalie H a r n a c k s Schwester Agnes Thiersch mit Friedrich H e s s e gemeint.

Nr. 42 1 Vgl. Anm. 3 zu Nr. 35. — Z u dieser Schrift g a b die Redaktion des Sächsischen Kirchenund Schulblattes eine „ E r k l ä r u n g " ab (in: ebd., 36 (1886), 223f.), in der sie ihr Abweisen des zweiten Artikels Rades rechtfertigte: a) Dies sei das Recht jeder Zeitschrift, b) Angesichts des Standpunkts der Zeitschrift sei dies notwendig gewesen, da der Artikel „lobend ein alles positives Christenthum niederreißendes Buch" bespreche. (224) Die Redaktion kritisierte zudem den Abdruck des Briefwechsels zwischen R a d e und Schenkel, da die Karten und Briefe hastig und nicht zum Z w e c k einer Veröffentlichung geschrieben worden seien. Flüchtigkeitsfehler hätte R a d e lieber verbessern sollen als auf sie hinzuweisen. (223) 2 Z u r Frage einer Berufung H a r n a c k s nach Leipzig vgl. Nr. 36 und 39.

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Konferenz 3 fortwährend belästigt und mit dem Popanz der Separation bedroht. Das einzige landeskirchliche Blatt, eben unser S[ächsisches] K[irchenund] S[chul-]Bl[att] bläst dieses Horn laut u[nd] vernehmlich. Die große Mehrheit der Vernünftigen schweigt. Man muß ihnen ab u[nd] zu zeigen, daß wir auch noch da sind. 3. Es existiert eine alte Konsistorialverordnung, wonach das S[ächsische] K[irchen- und] S[chul-]Bl[att] aus der Kirchkasse gehalten werden darf für das Pfarrarchiv. Sie ist nur in den Erblanden publiziert worden, aber daher eine große Zahl fester Abonnements. Diese Verordn[un]g muß fallen. Sie wird, wenn der vielfach vorhandene Unwille gegen das Blatt auch sich zu Zeiten bemerklich macht. Diese Verordnung gedenke ich Seite 14 des beifolgenden M[anu-]S[kriptes] miteinzuschalten; daher die Lücke: ich habe sie jetzt nicht zur Verfügung. 4 Meine Absichten dem Konsistorium] gegenüber erreiche ich mit dem Druck des M[anu-]S[kriptes] ebenso, als mit einer öffentlichen Streitschrift. Nun meinen Sie aber nicht, hochv[erehrter] H[err] Prozessor], daß es mich persönlich Ueberwind[un]g kostet, die ganze Geschichte ruhen zu lassen. Wenn Sie doch der Meinung sind — sei's. Ich erspare dabei wenigstens etwas. Und die Eitelkeit, mich gedruckt zu sehen, habe ich, Gott sei Dank! nicht mehr. Also noch einmal bitte ich um Ihre Mein[un]g. So kurz als möglich, denn die Sache ist's nicht wert, daß Sie lange Briefe deshalb schreiben. Nur aus Rücksicht auf mich raten Sie mir nicht ab; ich habe wenig dabei zu riskieren. Hoffe Ihnen nun nächstens auch wieder ein paar Anzeigen zu schicken. Ihr dankbar ergebener Rade

Nr. 43 Brief Rades an Harnack Schönbach (Sachs[en]), 15. Juli [18]86. Hochverehrter Herr Professor, Mein erstes Geschäft nach glücklich erfolgter Heimkehr ist dieser Br[ief] an Sie. Ich fand weder in Berlin, noch Halle, noch Leipzig das nötige Viertelstündchen Muße. 3

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Die „Chemnitzer Konferenz" repräsentierte die bekenntnisorientierten konservativen Kreise der sächsischen Landeskirche. Vgl. dazu den Bericht „Cemnitzer Konferenz" über die Tagung v o m 1./2. M ä r z 1886, in: Sächsisches Kirchen- und Schulblatt 36 (1886), 92 — 94, 97 — 100. Auf dieser T a g u n g wurde die Abgrenzung der evangelisch-lutherischen Landeskirche von der Preußischen Union betont und festgehalten, d a ß es keine Abendmahlsgemeinschaft geben könne, da diese die Kirchengemeinschaft voraussetze. Eine lutherische Kirche bestehe dort, w o die lutherische Lehre herrsche; dies sei in den unierten Kirchen nicht der Fall, deshalb sei Abendmahlsgemeinschaft ausgeschlossen. E b d . , 97 ff. Die Verordnung wurde in der Schrift „Ein wissenschaftliches B u c h " nicht abgedruckt. R a d e erwähnte lediglich, daß d a s Sächsische Kirchen- und Schulblatt „ a n vielen Orten aus den Mitteln der Kirchkasse für d a s Pfarrarchiv gehalten wird". Ebd., 9.

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Zuerst was Karl Müller betrifft, so muß ich Ihnen mitteilen, daß demselben weder bei seiner Versetzung nach Halle noch jetzt angesichts des bestimmten Gerüchts seiner Beruf[un]g nach Giessen weder vom p r e u ß i s c h e n ] Kultusministerium noch von der t h e o l o g i s c h e n ] Fak[ultät] Halle oder auch nur ihren einflußreicheren Mitgliedern irgendwelche Versprechungen hinsichtlich seiner Zukunft gemacht worden sind. Man spricht zwar davon, daß man ihm in Halle ein Ordinariat schaffen wolle, aber das sind meist Leute, die nichts dabei zu sagen haben; den andern ist's kaum Ernst. Müller wird also — wenn nicht Unvorhergesehnes dazwischentritt — keinen Augenblick zögern, den Ruf nach G[ießen] anzunehmen. Dabei wird ihm, wenn ich recht sehe, nur 2erlei fatal sein: 1. daß er Ihr Nachfolger werden soll (denn daß er Sie nicht ersetzen kann, sieht er ein), 2. daß Loofs überhaupt ernstlich neben ihm in Frage gekommen ist (denn diesem meint er doch wie an Jahren, so an Verdiensten um die Wissenschaft etliche Pferdelängen vorauszusein). Uebrigens hegt M[üller] den begreiflichen Wunsch nach baldigster Entscheid[un]g, da er in 14 Tagen zu Reserveübungen nach Stuttgart geht. — Die a k a d e m i s c h e ] Wirks a m k e i t ] Müller's, das werden Sie gern hören, gestaltet sich neuerdings recht erfreulich; er hat in diesem Sem[ester] mehr Zulauf als je. — Loofs ist von M[üller]'[s] Stimmung über seine Konkurrenz unterrichtet, u[nd] ist das ein neuer Grund für ihn, ernstlich zu wünschen, daß er M[üller] nicht vorgezogen wird. Freilich fürchte ich — u[nd] das weiß L[oofs] auch — daß der Wechsel in Halle Loofs nicht zu Gute kommen wird, da Benrath vermutlich sehr gern von Bonn nach Hfalle] geht u[nd] man ihm hier sehr wohlwill. 1 Meine Reise war äußerst interessant. Die Unterred[un]gen über unsere Zeit[un]gsgründ[un]g, so mannichfaltig u[nd] belehr[en]d als möglich, b e s o n d e r s ] in Halle. Vielfe] Kämpfe bestand ich für unser Luthertum, überall siegreicher als in Hessen. Selbst Köstlin u[nd] Beyschlag befreundeten sich mit dem Ev[angelisch-]Luth|erischen] G[e]m[ein]deblatt. In der T h a t wird aus vielen Gründen dieser Titel doch wohl noch den Vorzug erhalten. Darüber erhalten Sie bald Gedrucktes. 2 Begeisterte Zustimm[un]g haben wir bei Kawerau u[nd] Haupt gefunden; sie sind beding[un]gslos die Unsern. In Berlin machte ich eine Haupterrungensch faft] an dem Prediger Scholz, Müllensiefen's Nachfolger. Von Jülicher sänge ich Ihnen gern ein Loblied. Haben Sie keine Professur für ihn? Er verdiente sie. M u ß nun noch eine Arbeit machen, ehe er sich in

Nr. 43 1

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Karl Müller, seit 1884 außerordentlicher nacks 1886 als ordentlicher Professor für wurde Ende 1886 als außerordentlicher Halle berufen. Anspielung auf den Aufruf zur Mitarbeit (vgl. Nr. 44).

Professor in Halle, wurde als Nachfolger HarKirchengeschichte nach Gießen berufen. Loofs Professor nach Leipzig, im März 1887 nach am „Evangelisch-Lutherischen Gemeindeblatt"

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Berlin habilitieren kann!! 3 Zöpfe über Zöpfe. Bitte fragen Sie doch einmal Wellhausen nach ihm, der kennt ihn. Tausend Dank für die schönen Tage in Giessen; Ihrer besten hochverehrten] Fr[au] Gem[ahlin] besondern Dank für Br[ief] u[nd] Gastfr[eun]dsch[aft]; viel[e] gute Wünsche für die nächste unruhige Zeit. In Elberfeld] erschreckten mich noch die weichenden Schatten der Krankh[eit] des Kindchens. G[ott] s[ei] D[ank]! war die Gefahr vorüber. 4 Schicke hoffentlich] in w[eni]g[en] Tagen 2 Anzeigen. 5 Immer Ihr dankb[arer] Rade

Nr. 44 Brief Rades an Harnack Schönbach (Sachsfen]), 31. 7. [18]86. Hochverehrter Herr Professor, Anbei 2 Anzeigen, beide unbestellt. Wenn Sie Spitta anderwärts vergeben haben, bitte ich um freundliche] Rücksend[un]g meiner Besprech[un]g; sonst vertraue ich, daß Sie sie gern aufnehmen werden. 1 Interessieren wird Sie, was mir Rüling schreibt aus Anlaß meines AntiSchenkel. 2 „Ich bedaure auch meinerseits, daß infolge dieses dogmengeschichtlichen Werkes H[arnack] um die Professur in Leipzig, oder vielmehr Leipzig um Harnack gekommen ist! Sie kennen meinen theologischen Standpunkt, aber trotzdem habe ich — doch dies nur ganz im Vertrauen — bei der Beratung im Konsistorium] über die Zulassung H[arnack]'s mein Votum dahin abgegeben, daß derselbe, wenn er den für die theologischen Professoren vorgeschriebenen Eid leisten könne, was seinem eignen Gewissen zu überlas3

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Adolf Jülicher hatte 1886 an der Berliner theologischen Fakultät mit einer Arbeit über die „Gleichnisreden J e s u " den G r a d eines Lizentiaten erworben. An der damit verbundenen Disputation hatte Martin R a d e teilgenommen. Die anschließend geplante Habilitation erfolgte nicht im Fach Neues Testament, sondern im Fach Kirchengeschichte. D a f ü r legte Jülicher eine Arbeit über Ambrosiaster vor. Vgl. Jülicher, A.: Adolf Jülicher [Autobiographie], in: Die Religionswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, hrsg. von E. Stange, Bd. 4, Leipzig 1928, 177f. R a d e bezieht sich hier wahrscheinlich auf eine Krankheit von Karl T h e o d o s i u s H a r n a c k , von der er wohl durch den Brief Amalie H a r n a c k s erfuhr. Vgl. Nr. 44. Vgl. Anm. 1 zu Nr. 44.

Nr. 44 1 R a d e , M . : (Rez.) Spitta, Fr.: Festpredigten, Bonn 1886, in: T h L Z 11 (1886), 4 7 3 - 4 7 5 ; ders.: (Rez.) Gegen den Strom. Flugschriften einer literarisch-künstlerischen Gesellschaft. I X : Die Leetüre des Volks, von A d a m Müller-Guttenbrunn, Wien 1886, in: ebd., 446-447. 2 Gemeint ist Rades Werk: Ein wissenschaftliches Buch und ein kirchliches Parteiblatt. Als M a n u s k r i p t gedruckt, Neusalza i. S. 1886. Vgl. Anm. 3 zu Nr. 35.

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sen war, jedenfalls zu berufen sei, und berief mich dabei auf Kahnis selbst und auf H o f f m a n n 3 [sie] in Erlangen — aber ich blieb damit ziemlich allein. Eine große Lehrkraft ist uns damit entgangen; H[arnack] aber hat sehr ehrlich gehandelt damit, daß er, obwohl er wußte, d[a]ß er für Leipz[ig] in Aussicht genommen war, doch die Herausgabe seiner D[ogmen-]G[eschichte] beeilte. Ich bin überzeugt, daß H[arnack] persönlich positiver steht, als gewisse Stellen seiner D[ogmen-]G[eschichte] ahnen lassen. Uebrigens können wir nichts wider die Wahrheit!" 4 Ist das nicht hübsch? Einlad[un]g zur Mitarbeit am G[e]m[ein]d[e]blatt in etwa 8 Tagen. 5 Gott gebe, daß Sie wieder außer Sorgen sind um Ihr Söhnlein. Dank für Ihre l[iebe] Karte neulich. Mit herzlichem Gruß ganz der Ihre R

Nr. 45 Postkarte Rades an Harnack [Poststempel: Schönbach (Sachsen), 19. 8 . 1 8 8 6 ] Bitte um fr[eun]dl[iche] Angabe der Adresse Ihres H[errn] Bruders 0 [ t t o ] u[nd] des H[errn] Menegoz [sie]. Beiden empfehlen Sie vielleicht persönlich noch unser Unternehmen. 1 Auch sonst unterstützen Sie uns vielleicht] noch durch Adressen: in Frankreich] u[nd] Engl[an]d haben wir noch niemand! Von Ostseeprovinzlern erhielten Zuschriften: Oettingen, Lüttkens [sie], Bonwetsch, Seeberg, Schlau. Wir sind sehr guten Muts. — Haben Sie die Nipp[old]-Beyschl[ag]'sche Denkschrift erhalten? Ich gedenke am 5. Okt[ober] nach Erf[urt] zu kommen; die beiderseitigen Pläne berühren sich teilweise 3 4

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Gemeint ist J o h a n n von H o f m a n n , seit 1845 Theologieprofessor in Erlangen. Z u H a r n a c k s gescheiterter Berufung nach Leipzig vgl. Anm. 8 zu Nr. 36. L. B. Rüling war das einzige Mitglied des sächsischen Landeskonsistoriums, das sich für die Berufung H a r n a c k s ausgesprochen hatte. Vgl. das entsprechende, an das sächsische Kultusministerium gerichtete Gutachten des Landeskonsistoriums vom 19. Februar 1886, in: Universitätsarchiv Leipzig, Signatur Theol. Fakultät 68, Blatt 20: „ [ . . . ] mit A u s n a h m e des Dr. Rüling, welcher die Berufung H a r n a c k s um seiner wissenschaftlichen Tüchtigkeit und des anregenden Einflusses willen, den er voraussichtlich auf die Theologie Studirenden ausüben würde, wünscht, aber freilich diesem seinem Votum die Spitze durch den Z u s a t z sogleich wieder abgebrochen haben dürfte, daß er allerdings nicht verstehe, wie Dr. H a r n a c k d a s von ihm zu erfordernde Religionsgelöbniß sollte leisten können und wollen." D a s vertrauliche Rundschreiben, in dem R a d e im August 1886 um Mitarbeit in der zu gründenden Zeitschrift w a r b , liegt im Rade-Nachlaß als Beilage zu Nr. 45 bei. Es ist abgedruckt in: Vierzig Jahre, 12—15.

Nr. 45 1 Die G r ü n d u n g des „Evangelisch-Lutherischen Gemeindeblattes".

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s t a r k , d ü r f e n aber n a t ü r l i c h n i c h t v e r m e n g t w e r d e n ; jedenfalls m ü s s e n w i r in E r f u r t v e r t r e t e n s e i n . 2 — E s w e r d e n u n r u h i g e Ferien für Sie. M ö c h t e d o c h d e r U m z u g Ihnen u [ n d ] I h r e r w e r t e n F r a u zu e i n e m neuen befriedigten

Dasein

h e l f e n . 3 — J ü l i c h e r ist a u f 1 4 T a g e bei mir. I m m e r der Ihre R

Nr. 46 Brief Harnacks an Rade Marburg 2 3 . 1 1 . [18]86 Lieber F r e u n d , G e s t e r n b e k a m ich sie!! M e i n e F r a u u[nd] ich h a b e n sie gleich s t u d i r t . 1 A l l e m v o r a n herzlichen G l ü c k w u n s c h ! Sie b r i n g t sehr viel, u [ n d ] es ist g u t . Ich finde w i r k l i c h Alles sehr g u t . D i e R e i c h h a l t i g k e i t dieser N r . k a n n u [ n d ] w i r d in den f o l g e n d e n n i c h t f o r t g e s e t z t w e r d e n . A m s c h w ä c h s t e n ist: „ E i n W o r t L e s s i n g s " 2 — ich m e i n e , dieses W o r t h ä t t e eine e i n d r i n g e n d e r e B e h a n d lung verdient, w e n n m a n es e i n m a l a n p a c k t e . Ich finde es n i c h t

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kindlich

Diese Denkschrift betraf die Gründung des „Evangelischen Bundes", der sich zum Ziel gesetzt hatte, den nach Ende des Kulturkampfes wieder erstarkenden politischen Katholizismus dadurch zu bekämpfen, daß man sich um eine Erneuerung des Glaubens und des Lebens der evangelischen Christen auf reformatorischer Grundlage bemühte. Die Denkschrift ist auszugsweise veröffentlicht in: Beyschlag, W.: Aus meinem Leben, Zweiter Theil, Halle 1899, 6 1 1 - 6 1 3 . Die Gründungsversammlung des „Evangelischen Bundes", an der Rade teilnahm, fand am 5. Oktober 1886 in Erfurt statt. Vgl. Rathje, 49ff.; Beyschlag, W.: Zur Entstehungsgeschichte des Evangelischen Bundes. Persönliches und Urkundliches, Berlin 1926. Harnack wurde am 2. Juli 1886 als ordentlicher Professor für Kirchengeschichte nach Marburg und damit in den preußischen Staatsdienst berufen. Vgl. dazu Zahn-Hamack, 107 f.

Nr. 46 1 Die am 21. November 1886 erschienene Probenummer des „Evangelisch-Lutherischen Gemeindeblattes". Eine entsprechende — mit Rotstift geschriebene — Bemerkung Rades („die Probenummer der ChrW") befindet sich über der ersten Zeile des Briefes. — Dieser Brief wurde von Rade veröffentlicht in: AdF, Nr. 24 (10. September 1908), 239. 2 „Ein Wort Lessings", anonym erschienener, von Rathje, 46, Rade zugeschriebener Artikel in der Probenummer der CW 1 (1886), 5. Der Artikel behandelt den Ausspruch „Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit der Zusage, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: Wähle! — ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: Vater, gieb! Die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!" Vgl. Lessing, G. E.: Eine Duplik, in: Gotthold Ephraim Lessing. Werke und Briefe, hrsg. von W. Barner u. a., Bd. 8, Frankfurt/Main 1989 ( = Bibliothek deutscher Klassiker, 45), 5 1 0 , 1 1 - 1 6 . - Harnack veröffentlichte in der zweiten Nummer der „Christlichen Welt" zur Auseinandersetzung mit diesem Artikel anonym: Goethe gegen Lessing, in: CW 1 (1887), 22f. Darin vergleicht er den Ausspruch Lessings mit dem in Anm. 3 zitierten Wort Goethes.

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fromm, u[nd] die Stimmung, aus der es geschrieben, ist die des noch jugendlichen Faust: „Der Trieb nach Wahrheit u[nd] die Lust am Trug." 3 Der Artikelschreiber hat ja in der 2. Hälfte ganz recht u[nd] hat es schön gesagt; aber es wäre wohl mehr zu sagen gewesen. Es wäre vor allem zu zeigen, daß das Wort, auch abgesehen von seiner Einkleidung, eine Unmöglichkeit voraussetzt. Doch das ist eine Kleinigkeit. Ich bin sehr befriedigt, erlaube mir nur den Rath, daß der Ton der Zeitschrift nicht onkelhaft wird. Wir Jungen haben Alle dazu die Gefahr, wenn wir nicht salbungsvoll u[nd] doch nicht trocken sein wollen. Herzliches Glückauf! Ihr tr[euer] A. Harnack

Nr. 47 Zettel Harnacks an R a d e 1 [Marburg,] 8. 12. [18]86 Lfieber] F[reund], Anbei ein Drittes. Es hat mich gefreut, daß Sie meine Beiträge 2 brauchen können. Ob dieser nicht „zu stark" ist, entscheiden Sie. Er steht in jedem Sinn zu Ihrer Verfügung. Herzlich Ihr A. Harnack.

Nr. 48 Brief Harnacks an Rade [Marburg,] 4 . 1 . [18]87. Lieber Freund, Holländische Adressen weiß ich leider nicht; Sie müßten denn „Völter" nehmen. Anbei „Augustin" III (resp[ektive] II). 1 Cassiren Sie, wenn Sie meinen, daß man die Sache anders behandeln müßte. Ich bin meiner Sache nicht sicher. 3

Richtig: „Der Drang nach Wahrheit und die Lust a m T r u g " . D a s Zitat stammt aus dem „Vorspiel auf dem T h e a t e r " zu Goethes Faust; vgl. Goethe, J. W.: Werke, Berliner Ausgabe, Bd. 8, 3. Auf., Berlin-Weimar 1978, 153.

Nr. 47 ' Wohl Beilage zu einem verlorengegangenen Brief. Auf der Rückseite wurde mit Blaustift „ G H J " und „bis 4. 4. 8 8 " vermerkt. 2 H a r n a c k , A.: Goethe gegen Lessing, in: C W 1 (1887), 2 2 f . ; ders.: Lesefrüchte aus Augustin. 1 - 3 , in: ebd., 2 4 - 2 5 , 6 7 - 6 8 , 1 1 6 - 1 1 7 ; 4., in: ebd. 2 (1888), 58. Nr. 48 1 Vgl. Anm. 2 zu Nr. 47.

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Ihre Neujahrswünsche herzlich erwiedernd Ihr ergebner A. Harnack

Nr. 49 Postkarte Harnacks an Rade 1 [Poststempel: Marburg, 14. 2. 1887] L[ieber] F[reund], Leider bin ich z. Z. völlig außer Stande, irgend welche Excurse bei meinen Arbeiten mir zu gestatten, da ich überhäuft bin. Andererseits wünsche ich dringend, daß das Ev[angelisch-Lutherische] G[emeinde-]Blatt mit solchen Artikeln, wie Sie mir einen vorschlagen, vorgehe. Unsere Gebildeten stehen vor allem unter dem Druck der Tradition, zu der sie nicht recht Stellung zu nehmen wissen, u[nd] sie erwarten — wenigstens ist mir das hier mehrfach entgegengebracht worden —, daß das Ev[angelisch-Lutherische] G[emeinde-]Blatt darüber zu belehren anfange. Ich kann ihnen nur Recht geben u[nd] meine, daß man da nicht zu zaghaft sein soll, wenn nicht der Anschein erregt werden soll, als handle es sich nur um allgemeine Beruhigung u[nd] Vertuschung der Gegensätze. Wir müssen in den Kampf hinaus, und wenn selbst das Blatt darüber fällt, fällt es in Ehren. Aber es wird nicht fallen. Ob Sie nicht z. B. doch meinen Artikel über Augustin bringen sollen? 2 wenn [sie] ich es recht überlege, so finde ich nichts darin, was man als evangelischer] Christ nicht schreiben dürfte. Und wenn es einen Widerspruch i[m] Blatt selbst erregt, Debatten sich daran knüpfen — um so besser. Doch an diesem Artfikel] ligt es mir nicht, sondern daran, daß man den Stier bei den Hörnern packe. Herzlich stets Ihr A. Harnack

Nr. 50 Brief Harnacks an Rade Marburg, den 2 0 . 1 0 . [18]87. L[ieber] F[reund], Herzlichen Dank f[ür] Ihre ausführlichen, im Ganzen so befriedigenden Mittheilungen. Ihnen allein verdankt die Zeitung diesen Erfolg. In der Titel-

Nr. 49 1 Auf der Vorderseite der Postkarte wurde mit Grünstift „ H " und unter der Unterschrift H a r n a c k s — von gleicher H a n d wie d a s „ H " auf der Vorderseite — ebenfalls „ H " vermerkt. 2 Außer den in Anm. 2 zu Nr. 47 genannten Werken enthält der J a h r g a n g 1887 der C W keinen Artikel H a r n a c k s über Augustin.

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frage 1 bin ich ganz mit Ihnen einverstanden, d. h. ich glaube, daß Sie allein hier competent sind. Ich mache mir Gewissensbisse, daß ich Ihnen so wenig geliefert habe; aber theils bin ich nicht sehr geschickt dazu, theils bedarf es, bei dem Vielen, was ich zu schreiben habe, eines directen Auftrages. Befehlen Sie mir, wenn Sie es für nöthig halten, über dies oder jenes z[u] schreiben, so werde ich es Ihnen liefern, vorausgesetzt, daß es irgend i[n] meinen Kräften u[nd] Vermögen steht. Das Semester steht vor der Thür; ich freue mich auf dasselbe. Herzliche Grüße von Ihrem AHarnack.

Nr. 51 Brief Rades an Harnack 1 Schönbach (Sachsen) 2 1 . 1 1 . [18]87. Hochverehrter Herr Professor, Ihre D[ogmen-]G[eschichte] habe ich erhalten u[nd] danke herzlich dafür. 2 Leider bin ich nicht mehr in der Lage, sie im Sächsischen] Kfirchen-] u[nd] Sch[ul-]Bl[att] zu empfehlen. 3 Noch mehr beklage ich, d[a]ß ich auch noch nicht einen Blick hineinthun konnte, woran allerdings vornehmlich der säumige Buchbinder schuld ist. Wenn aber der diesmal besonders ernste Jahrgangswechsel für unser Blatt überwunden ist, 4 soll mir Ihr Buch, zu dessen schnellem Erscheinen ich gratuliere, ein erster Gegenstand gründlichen Studiums sein. O b Sie meinen jüngsten Wanderbrief schon erhalten haben? Ich mußte den Herren Garanten unsre Geschäftslage einmal in Ihrer [sie] ganzen Bedenklichkeit schildern. Ich bin aber gerührt, wie opferfreudig die Antworten bisher lauteten. Und in Wahrheit bin ich der besten Hoffn[un]g. Die Abonnente[n]zahl wächst langsam aber stetig. 1247 z. Z., das sind 75 mehr in 6 Wochen.

Nr. 50 1 Ab J a h r g a n g 2 (1888) lautete der Titel der von R a d e herausgegebenen Zeitschrift: „Die christliche Welt. Evangelisch-Lutherisches Gemeindeblatt für die Gebildeten". Vgl. Einleitung, S. 25. Nr. 51 1 D a s Briefpapier trägt den gedruckten Briefkopf: „Redaktion des Evangelisch-Lutherischen Gemeindeblattes Pfarrer Lic. R a d e in Schönbach (Sachsen)." 2 H a r n a c k , A.: Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. 2: Die Entwickelung des kirchlichen D o g m a s , Freiburg i. B. 1887. 3 Aufgrund des Konflikts um R a d e s Rezensionen zum ersten Band von H a r n a c k s Werk. Vgl. dazu Nr. 35f., 3 9 f . , 42. 4 Anspielung auf die Änderung des Titels, vgl. Anm. 1 zu Nr. 50.

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Jetzt wird alles drauf ankommen, d[a]ß die Freunde überall, besonders auch in den Lokal- u[nd] Provinzialzeitungen, kräftig Reklame machen helfen. Mein Redaktionsgeschäft leidet vor allen Dingen unter Einem Uebelstande, über den ich doch nicht klagen will: unter der nicht zu bewältigenden Menge von M[anu-]S[kripten]. Es türmen sich förmliche Stöße vor mir auf. Ich habe erst nur die kleinere Hälfte von dem lesen können, was mir zugegangen ist. Aber es ist doch ein gutes Zeichen. Man hat Vertrauen zu uns. Freilich dürfen die nächsten Freunde darum die Hände nicht in den Schoß legen. Sonst wäre Gefahr, daß das Blatt seinen Charakter verliert. Sie fragen, was Sie uns helfen können? Warum haben Sie Ihre kleinen Augustinbeiträge nicht fortgesetzt? 5 Oder fiel Ihnen sonst nichts für uns ein? Gerade kurze Sachen, interessante Notizen u[nd] d[er]gl[eichen] wären mir sehr willk[ommen]. Auch brauche ich mehr Auseinandersetzungen mit der profanen Literatur. Goethe liegt Ihnen ja so nahe! Ihr H[err] Bruder hat gegen 0 [ t t o ] Baumgarten (Herder-Goethe) geschrieben; Sie werden es lesen mit B[aumgarten]'s Erwiderung. 6 Daß ich so lange nicht schrieb? Ich wollte Ihnen für die Theollogische] Lit[eratur]z[eitung] etwas mitschicken. Zu meinem Schmerz ist mir das nun doch noch nicht möglich — Ihren Pariser Brief hörte ich z[u] m[einer] gr[oßen] Freude am Thierschschen Tische in Leipzig. 7 Möchte es Ihrer besten Fr[au] Gemahlin und Ihren l[ieben] Kindern wohlgehn. Meine Eltern, die nun in Sch[önbach] wohnen, u[nd] m[eine] Schw[ester] lassen sich empfehlen]. Immer ihr getreuer Rade.

Nr. 52 Brief Harnacks an Rade 1 Marburg, den 16. Dec[ember] [18]87. Lieber Freund, Ihren zweiten Brief habe ich erhalten: es versteht sich von selbst, daß ich mich Ihnen anschließe, sobald Sie sagen: „ich kann es nur so machen". Übri5 6

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Vgl. Anm. 2 zu Nr. 4 7 . Baumgarten, O . : Herders Bruch mit Goethe, eine Abrechnung zwischen klassischästhetischer und christlich-moralistischer Weltanschauung, in: C W 1 ( 1 8 8 7 ) , 3 5 3 — 3 5 4 , 3 6 3 — 3 6 5 , 3 7 3 — 3 7 5 , 3 8 3 — 3 8 5 . O t t o H a r n a c k nahm zu Baumgartens Ausführungen Stellung in dem Artikel: Christliche-moralistische und klassisch-ästhetische Weltanschauung, in: ebd., 5 0 2 — 5 0 3 . Baumgarten erwiderte mit: Nochmals christliche und klassische Weltanschauung, in: ebd., 5 0 3 — 5 0 5 . H a r n a c k s Schwiegereltern, der Chirurg Carl Thiersch und seine Ehefrau J o h a n n a , führten in Leipzig ein offenes Haus, in dem H a r n a c k während seiner Zeit in Leipzig verkehrt hatte. Später verkehrten dort auch Rade, Loofs und Gregory. Vgl. Thiersch, J . : Carl Thiersch. Sein Leben, Leipzig 1 9 2 2 , 143.

Nr. 5 2 1 Diesen Brief veröffentlichte Rade später in: AdF, Nr. 2 4 (10. September 1 9 0 8 ) , 2 3 9 f .

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gens haben Sie, wenn ich recht sehe, mich schlimmer gemacht, als ich war. Sie sprechen von „Verschlechterung", die ich vorgeschlagen habe, u[nd] spinnen daraus allerlei heraus, während Sie selbst jeden einzelnen Punkt dieser „Verschlechterungen" für discutabel, ja bis zu einem gewissen Grade für acceptabel halten u[nd] nur über den Zeitpunkt anderer Meinung sind. Den Vorschlag wegen Erhöhung des Abonnements habe ich, soviel ich mich erinnere, selbst nur als einen hypothetischen hingestellt, um zu zeigen, unter welchen Bedingungen es auch bei dem jetzigen Zustande eine glatte Heilung geben würde. Ich glaubte, der Rundbrief sei dazu da, um die Möglichkeiten wirklich zu erwägen und sich auf eine financiell haltbare Position zu besinnen. Ich bin in diesen Dingen kein Neuling, habe mit der Theol[ogischen] Lit[eratur]-Z[eitung] Ähnliches durchgemacht, und weiß, daß man in diesen Dingen Beides braucht, gottvertrauende Kühnheit und kühle Vorsicht. Ich wußte sehr wohl, daß das, was ich vorgeschlagen, keine Aufmunterung sei, aber andrerseits auch, daß es eben nur eine Componente sei, die dazu beitragen werde, den richtigen Curs festzustellen. 2 H a b ' den neuen Brief bekommen Und zu Herzen ihn genommen, In Gehorsam nun erbötig, Z u bewilligen, was nöthig. Ich hier, dieser Versedichter, War der böse Eugen Richter, Der — man wollte nicht' mal steigern — Jüngst das Budget thät verweigern. Wo die Feinde aufmarschiren, Spricht er muthlos: „Reduciren", Will uns die Armee „verschlechtern" Sie verrathen den Verächtern! Doch schon naht ihm die Bekehrung, Die tiefinn're Herzbeschwerung, Schuldbewußt ob der Negierung, Stimmt er gern mit der Regierung. 3 D a haben Sie's! 2

3

In dem Brief Rades, auf den H a r n a c k hier antwortet, ging es um die finanziellen Probleme der CW. Vgl. Rades Bemerkung bei der Veröffentlichung dieses Schreibens sowie des Briefes Nr. 46 in: AdF, Nr. 24 (10. September 1908), 240: „Die beiden Briefe [...] erzählen von der A u f n a h m e der Probenummer und von dem Stande der Finanzen ein J a h r später." Eugen Richter, der Führer der Freisinnigen Partei, hatte sich am 16. Dezember 1887 im wesentlichen für die Vorlage bezüglich des neuen Wehrpflichtgesetzes ausgesprochen. Vgl. Wippermann, K.: Deutscher Geschichtskalender für 1887, II. Bd., Leipzig 1888, 264-266.

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Aber ohne Scherz: ich bin in der Sache unseres Blattes Angehöriger der Partei „Rade sans phrase", und solange es mir „meine Mittel erlauben", gehe ich mit Ihnen muthig durch Wasser und Feuer. A propos: wieviel habe ich eigentlich garantirt? ich [sie] weiß es wirklich nicht mehr, ob es 300 oder 500 oder mehr war, u[nd] auf wie viele Jahre? Sie können mir das bei Gelegenheit einmal mittheilen. Alles kommt darauf an, daß Sie den fröhlichen Muth behalten; denn Ihnen sind wir Alle verpflichtet; aber wir müssen doch darauf sehen, daß das Deficit abnimmt, sonst nehmen wir ein Ende mit Eclat, während sich das durch Vorsicht u[nd] Sparsamkeit vermeiden ließe. Gewiß ist es doch auch nach Ihrer Meinung besser, wir bestehen mit 13 — 1500 Abonnenten fort, als wir spielen zwischen 3000 und 0 Vabanque.Wir haben nun einmal groß angefangen; sich auf langsames Wachsthum einzurichten, ist aber doch kein Verrath an der Sache! Herzliche Grüße von Ihrem alten Adolf Harnack.

Nr. 53 Postkarte Rades an Harnack [Poststempel: Schönbach (Sachsen), 16. 2.1888] Hochverehrter] H[err] Prozessor,] Herzl[iche]n Dank für Ihren schönen Vortrag, 1 den ich sofort gelesen. Ich beklage ein wenig, d[a]ß Sie ihn mir nicht für m[ein] Bl[att] gegeben h[aben]; Sie hätten ihn dann immer noch separat h[e]r[au]sg[eben] können. Aber es ist günstig, d[a]ß das Büchlein eben jetzt erscheint. — In Berlin treiben sie's toll, aber das wird ihnen den Hals brechen. Gleichviel wie die Entscheid[un]g fällt: sie werden nicht siegen. 2 Aber eins möchte ich gern: Sie sollten nun einmal irg[en]d eine kleine Schrift schreiben, worin Sie Ihren ganzen Begriff von Evangelium positiv klarlegen, mit all der Wärme u[nd] Kraft der Ueberzeugung, die Sie haben. Das wäre eine That. Ihr R.

Nr. 53 ' Harnack, A.: Augustins Konfessionen. Ein Vortrag, Gießen 1888; auch in: RA 1, 4 9 - 8 0 . 2 Harnacks Berufung nach Berlin wurde von konservativen „positiven" protestantischen Kreisen stark bekämpft. Vgl. Einleitung, Kapitel 7.

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Nr. 54 Postkarte Rades an Harnack [Poststempel: Schönbach (Sachsen), 21. 5. 1888] 1 H[och]v[erehrter] H[err] Prozessor,] Danke; werde das sehr gern abdrucken. 2 Ihr Br[ief] kam eben, als ich heute — mitten in der Festarbeit — einen Artikel zu Ihrer Berliner] Angelegenheit geschrieben hatte. 3 Sie machens zu toll. Entschieden ist noch gar nichts. Nicht um Ihretwillen, aber um der Sache willen wünschte ich, Christl[lieb] käme hin statt Ihrer. 4 Es wäre zu spukhaft u[nd] würde sich an diesen kleingläubigen Schlauköpfen rächen. Mein Art[ikel] kommt erst in Nr. 24, da er erst die Zensur der Halleschen Freunde passieren muß. Von Herzen segensreiches] Pfingstf[est.] [Ueber 1900 Abonn[enten.]] 5 Ihr getreuer Rade.

Nr. 55 Brief Rades an Harnack 1 Schönbach bei Löbau i[n] S[achsen,] 12. 6. [18]88. Hochverehrter Herr Professor, Es war mir eine besondre Freude, Ihnen gewisse Nachricht aus Berlin schikken zu können, 2 eine nicht geringere, Ihre volle Zustimmung zu meinem Artikel 3 zu erhalten. Gott schenke Ihnen in Berlin eine gesegnete Wirksamkeit! Ihre Stellung dort wird in vieler Beziehung nicht leicht sein, jedoch in sofern leichter, als Sie vermutlich von dem kirchlichen Leben in Stadt und Staat sich vor der Hand sehr zurückhalten werden. Ich bin jüngst nur dazu in B[erlin] gewesen, um Studien über den kirchlichen Zustand zu machen, u[nd] habe ca.

Nr. 54 1 Auf der Vorderseite der Karte befinden sich Notizen von der Hand Harnacks. 2 Harnack, A.: Adam und Christus in der Legende, in: CW 2 (1888), 236. 3 Rade, M.: Eine akademische Berufung, in: ebd., 219—222. 4 Der Bonner Professor für praktische Theologie, Theodor Christlieb, war damals 55 Jahre alt und krank. Er verstarb im Jahr 1889. 5 Die eckigen Klammern, die den Vermerk „Ueber 1900 Abonn[enten.]" umgeben, befinden sich im Original. Nr. 55 1 Das Briefpapier trägt den gedruckten Briefkopf: „Redaktion der Christlichen Welt Pfarrer Lic. Rade in Schönbach bei Löbau i. S." 2 Rade hatte durch Bernhard Weiß die Mitteilung erhalten, daß Harnacks Berufung nach Berlin nun sicher wäre. Vgl. Nr. 57. 3 Vgl. Anm. 3 zu Nr. 54.

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20 Personen aller Parteien interviewt. Bin auf allen Seiten großem Vertrauen begegnet u[nd] durch die gegensätzlichen Mitteilungen der bestunterrichtete Mensch auf diesem Gebiete geworden: die Parteien ujnd] Personen dort, die zusammenarbeiten sollten, haben nicht nur kein Verständnis für einander, sondern auch keine Kenntnis von einander. Die Leute der Mittelpartei aber wissen vom hellen Tage nichts, u[nd] das ist am Ende das beste Teil, das sie erwählen können. Von dem allen, wills Gott, einmal mündlich. Heute habe ich etwas andres auf dem Herzen. Schelten Sie mich nicht anmaßend u[nd] erzählen Sie niemandem von meiner Zudringlichkeit: es ist nur für Sie, u[nd] Ihre Sache, inwieweit Sie davon Notiz nehmen wollen. Ueber Ihren Nachfolger in Marburg werden Sie bereits sich Ihre Gedanken gemacht haben. Ich irre wohl kaum, wenn Karl Müller u[nd] Loofs für Sie zunächst in Frage gekommen sind. Nun ist von Loofs wohl ziemlich sicher, daß er Jacobis Nachfolger in Halle wird. (Nebenbeigesagt: wenn Sie in Marb u r g ] blieben, wäre er ohne Zweifel nach Berlin gekommen!!!) Bleibt Karl Müller: wenn Ihre Fakultät ihm ihr Vertrauen zuwendet, so schätze ich ihn als Freund u[nd] Gelehrten genug, um mich herzlich darüber zu freuen. Sollte das jedoch nicht der Fall sein, u[nd] sollten Sie zum mindesten neben ihm noch andre Vorschläge machen, so möchte ich Sie ganz dringend bitten sich zu überlegen, ob nicht Jülicher der rechte Mann auf Ihren Posten wäre. 4 Sie wissen daß ich mit ihm eng befreundet bin, aber Sie trauen mir auch zu, daß ich ihn nicht darum empfehle. Sie kennen seine Tüchtigkeit als Gelehrter. In seinen ,Gleichnisreden J e s u ' 5 m a g er sich zunächst als Exeget ausgewiesen haben, aber doch wahrlich nicht insofern Exeget etwas andres ist wie Historiker. Seine Rezensionen] zumal in den Gött[ingischen] Gekehrten] Anz e i g e n ] legen seine Kenntnisse u[nd] seinen Scharfsinn auf eigentlich kirchengeschichtlichem Gebiete mit glänzender Beredsamkeit dar. 6 Sein Ambrosiaster würde heute gedruckt vorhanden sein, wenn nicht jenes wahrhaft tückische Pech ihn um sein 1. M[anu-]S[kript] gebracht hätte 7 : u[nd] er, der nie mit 4

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L o o f s wurde 1888 ordentlicher Professor in Halle. Müller blieb in Gießen. Als Nachfolger H a r n a c k s in M a r b u r g wurde tatsächlich am 13. O k t o b e r 1888 — zunächst als außerordentlicher Professor — Adolf Jülicher berufen. H a r n a c k hatte ihn in einem sehr positiven Gutachten vom 28. Juni 1888 für die zweite Stelle der Berufungsliste (nach L o o f s ) vorgeschlagen. Er bezeichnete ihn als „Historiker ersten R a n g e s " , aus dessen Arbeiten er, H a r n a c k , „eine gütige Superiorität und eine Gelehrsamkeit, ferner eine Reife u[nd] Zielsicherheit des Urteils empfinde, der ich mich unterordne." In: Hessisches Staatsarchiv M a r b u r g , Signatur 307a, Acc. 1950/1. Auch Friedrich Althoff brachte Jülicher als Nachfolger H a r n a c k s ins Gespräch; vgl. seinen Brief v o m 1. Juli 1888 an H a r n a c k , in: K 26. Jülicher, A.: Die Gleichsreden J e s u , Bd. I: Die Gleichnisreden Jesu im Allgemeinen, Freiburg i. B. 1888. Vgl. z. B. Jülicher, A.: (Rez.) Weizsäcker, C.: Neues Testament, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 1883, 7 3 7 - 7 4 8 ; ders.: (Rez.) Wellhausen, J . : Prolegomena, in: ebd., 1884, 1 4 4 8 - 1 4 6 3 ; ders.: (Rez.) Völter, D.: Donatismus, in: ebd., 1885, 4 1 5 - 4 2 9 . Jülicher hatte d a s einzige handschriftliche E x e m p l a r seiner fertigen Habilitationsschrift, d a s er für den Druck vorbereitete, eines Tages zwischen Bibliothek und Bahnhof in Berlin verloren. Vgl. Jülicher, A.: Adolf Jülicher [Autobiographie], in: Die Religionswissen-

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sich Zufriedne, hat gerade von dieser Arbeit mit Genugthuung gesprochen. Erst in den großen Ferien wird die 2. Niederschrift vollendet werden. Immerhin, vergleicht man sonstige preußische Berufungen, so meine ich, müßte er genug „geschrieben" haben, um mit Ehren zu kandidieren. Als Dozenten habe ich ihn in voriger Woche kennen gelernt. Von 70, die belegt haben, waren über 50 zugegen (trotz Lutherspiel! 8 ). Sein Vortrag ist frei in der Weise des Ihren, klar, lebhaft, interessant, die Darstellung belebt durch eine M a s s e kleiner Züge, die nicht am Wege liegen. Aufmerksamkeit u[nd] Eifer der Zuhörer musterhaft. Karl Müller hierin nicht zu vergleichen. Er ist nicht Ihr Schüler, auch kein Ritschlianer: ich weiß, daß [sie] macht für Sie nichts. Er gehört aber auch keiner andern theol[ogischen] Schule an, wie das ein wirklicher Historiker eben nicht fertig bringt. War er früher einigermaßen Biedermann zugethan, so ist davon nichts mehr zu spüren. Sie haben seine ganze Hochachtung, u[nd] er freut sich auf das ev[entuelle] Z u s a m menwirken mit Ihnen, obwohl er weiß, daß Sie ihm großen Abbruch thun werden. Endlich noch eins. Diese vorzügliche Kraft wird vorschnell abgenutzt durch das D o p p e l a m t . 9 Auch als Pastor erfreut er sich großer Achtung u[nd] Beliebtheit; aber er bekennt fortwährend, daß dies nicht sein Beruf sei. Wie viel mehr würde er für die Wissenschaft leisten, wenn man ihn endlich freimachte? — Und wohin wird man ihn je so leicht berufen, wenn nicht nach Marburg? Wo doch der H[err] Minister 1 0 mehr Freiheit hat als sonst. Gießen ist ihm durch Stade wohl verschlossen. Ueberall sitzen Menschen, gegen die er rücksichtslos war. Schilt man ihn deshalb, so sagt er: ich kann nichts wider die Wahrheit. 1 1 — Seine Gesundheit hat sich in der letzten Zeit trotz aller Arbeit u[nd] Unfälle entschieden gebessert, u[nd] von dieser Seite her können keine Bedenken kommen. — Bitte, h[och]v[erehrter] H[err] Prof[essor], vernichten Sie diesen Br[ief], sobald als möglich. Es war mir eine Pflicht ihn zu schreiben. Meinen Sie, daß es der Sache dient, wenn Sie ihn etwa Herrm[ann] mitteilen woll[en]. Uebrig[en]s ein guter Kollege wird J[ülicher] sein, er ist, daß ichs frei sage, ein edler Mensch. Noch eine herzliche] Empfehlung an Ihre Fr[au] Gattin u[nd] viel[e] gute Wünsche für die Uebersiedl[un]g. Immer Ihr Rade

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Schaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, hrsg. von E. Stange, Bd. 4, Leipzig 1928, 179f.; Kümmel, W. G.: Adolf Jülicher ( 1 8 5 7 - 1 9 3 8 ) , in: Marburger Gelehrte in der ersten H ä l f t e des 20. Jahrhunderts, hrsg. von I. Schnack ( = Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen, 35), M a r b u r g 1977, 243, Anm. 6. Über diese A u f f ü h r u n g berichtete R a d e in dem Artikel: Lutherschauspiel mit Hindernissen in Berlin, in: C W 2 (1888), 2 3 2 - 2 3 4 . Jülicher war seit Dezember 1882 Prediger an der Waisenhauskirche in Rummelsburg, dazu seit 1887 Privatdozent für Kirchengeschichte und neutestamentliche Exegese an der Universität in Berlin. Der preußische Kultusminister Gustav von Goßler. Die letzten drei Sätze wurden zwischen die Zeilen der beiden vorhergehenden Sätze geschrieben.

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Nr. 56 Brief Rades an H a r n a c k 1 Schönbach bei L ö b a u i[n] S[achsen,] 19. 6. [18]88. Hochverehrter Herr Professor, In Sachen Jülichers beunruhigt mich doch ein kleiner Zwischenfall, den ich selber ihn u[nd] seine allzu geängstete Frau leicht nehmen lehrte. In den Tagen der Lutherspielaufreg[un]g brachte das Kleine Journal — ein absolut wertloses Blättchen — eine Notiz von etwa 5 Zeilen, worin gemeldet wurde: Privatdoz[ent] Dr. Jül[icher] habe sein gestriges Kolleg mit den Worten eröffnet: Trotz des hohen Polizeipräsidiums fahren wir in unsrer Vorles[un]g über Papstgeschichte fort oder so ähnlich. D a nur das Kleine Journal die Sache brachte, begnügte sich Jül[icher] einen kurzen Widerruf zu verlangen, der wohl erfolgt ist, u[nd] verzichtete darauf, die von ihm gebrauchten Worte, in denen das hohe Polizeipräsidium nicht vorkam, seinerseits zu veröffentlichen. Uebrigens war die Meldung des Kl[einen] J[ournals] seitens eines allzu begeisterten Zuhörers erfolgt. 2 Es ist nun in Preußen nicht unmöglich, daß dieser kleine Zwischenfall ernste Folgen hat. Z u m mindesten sollen Sie, beziehungsweise] die Fakultät, ihn kennen. Den Wortlaut seines Spruchs hat J[ülicher] nachträglich festgestellt; er ist natürlich ganz unverfänglich. Wichtiger wird für den gegebnen Fall sein, daß Jül[icher] als eifriger Freund des Kartells 3 für den konservativen Kandidaten seines Wahlkreises in einer Weise eingetreten ist, die ihm sogar das gelegentliche Wohlwollen] Stöckers e i n g e t r a g e n hat. Dies wird ja auch leicht von irgendwelchem Berliner Ministerium festzustellen sein. Es ist mir zuwider, über solche Bagatelle einen Brief schreiben zu müssen, aber ich halte in Preußen vieles für möglich, selbst daß die Karriere eines

Nr. 56 1 D a s Briefpapier trägt den gedruckten Briefkopf: „Redaktion der Christlichen Welt Pfarrer Lic. R a d e in Schönbach bei L ö b a u i. S . " 2 Die entsprechenden Ausgaben des „Kleinen J o u r n a l s " konnten bibliographisch nicht nachgewiesen werden. — Der Vorfall bezog sich auf folgendes: Eine für den 3. Juni geplante Aufführung des Schauspiels „Luther und seine Z e i t " in Berlin wurde abgesagt, da d a s Polizeipräsidium kurzfristig nachträgliche Streichungen gefordert hatte, die die Veranstalter nicht durchführen wollten. Eine Eingabe um Erlaubnis zur unveränderten A u f f ü h r u n g wurde vom preußischen Innenminister von Puttkamer mit der Begründung abschlägig beschieden, daß die in diesem Stück gebrachten anstößigen Darstellungen katholischer Bräuche und Glaubenssätze den konfessionellen Frieden in schwerer Weise gefährden würden. — D a s Stück wurde schließlich in veränderter Fassung am 6. Juni aufgeführt. Vgl. R a d e (wie Anm. 8 zu Nr. 55), 233, und ders.: Noch einmal die Berliner Zensur und d a s Trümpelmannsche Lutherschauspiel, in: C W 2 (1888), 253 — 255. 1 D a s „Kartell" war ein Bündnis der Deutschkonservativen, der Nationalliberalen und der Reichspartei für die Reichstagswahl am 21. Februar 1887.

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hochbefähigten Theologen an dem Zorne des Polizeipräsidenten scheitert, den er sich unschuldigerweise zugezogen hat. Die endliche Veröffentlichung Ihrer Berufung läßt lange warten! Immer Ihr getreuer Rade.

Nr. 57 Brief Rades an Harnack 1 Schönbach bei Löbau i[n] S[achsen,] 2. 7. [18]88. Hochverehrter Herr Professor, Ihre fr[eun]dl[iche] Karte bewegt mich sehr. Denn ich hoffte von Ihnen zu hören, daß Goßler in Naumburg Ihnen so sichere Zusagen gemacht habe, daß alles Mißtrauen ausgeschlossen sei. 2 Dies scheint nun nicht der Fall. Umso mehr muß ich Ihnen Näheres von dem mitteilen, was Weiß3 mir sagte. Der Minister habe, worüber er, Weiß, sich besonders freue, die Sache mit dem vollen Bewußtsein ihrer prinzipiellen Tragweite entschieden. So ungefähr; ich verstand W[eiß] durchaus dahin, daß Goßler nicht in Erwägung zufälliger Konstellationen handle — etwa unter dem Einfluß des „liberalen" Kaisertums Friedrichs III. Aber ich habe gleichzeitig in Berlin einen so lebhaften Eindruck von der demoralisierenden Wirkung der Aura des kranken Kaisers erhalten, daß ich auch bei Goßler vieles für möglich halte. Wie Sie Weiß kennen, werden Sie mich verstehen, wenn ich in der Sache jetzt nicht an ihn schreiben mag. Ich habe auch bei meinem damaligen Besuche ihn von Ihrer Angelegenheit anfangen lassen. Unsagbar schmerzlich wäre es mir, wenn ich nun doch damals Ihnen eine falsche Nachricht geschrieben hätte. Aber sicherer kann einem nichts anvertraut werden als mir Ihre Beruf[un]g durch Weiß. Begreiflich, wenn die andauernde Ungewißheit Sie nervös macht; mir war es bis dahin eine Beruhigung, daß Herrmann gelegentlich Ihre Nerven bewunderte. Viele sind mit Ihnen in Unruhe, vielleicht mehr als Sie denken. Mein Art[ikel] in Nr. 2 4 4 hat mir von vielen Unbekannten die herzlichste Zustimmung eingetragen. Lassen Sie die preußischen Kirchenmänner siegen: es wird Nr. 57 1 Der Brief trägt einen gedruckten Briefkopf: „Redaktion der Christlichen Welt Pfarrer Lic. R a d e in Schönbach bei L ö b a u i. S . " 2 Der preußische Kultusminister Gustav von Goßler hatte a m 10. Juni 1888 in N a u m b u r g mit H a r n a c k ein Gespräch geführt, um einen persönlichen Eindruck von ihm zu gewinnen. Goßler hatte sich daraufhin von H a r n a c k s eine sehr positive Meinung gebildet. Vgl. Z a h n - H a r n a c k , 122. 3 Der Neutestamentier Bernhard Weiß war Referent für Universitätsangelegenheiten im preußischen Kultusministerium. 4 Vgl. A n m . 3 zu Nr. 54.

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ein Pyrrhussieg sein. Und Sie sind, Gott sei Dank! noch jung genug, um auf bessere Zeiten warten zu können. Es ist unmöglich, daß es so fortgeht. In unsrer Zeit[un]g bringen wir jetzt einen Aufsatz über das Wöllnersche Edikt (von Mirbt): 5 ob sie den in Berlin verstehen werden? Sonst habe ich in Rücksicht auf Ihre Angelegenheit jetzt keine Pläne, außer daß Loofs einige alte Berufungsskandale erzählen will. 6 Sollten sie's mit ihren Ketzereilisten 7 zu arg treiben, geben wir vielleicht auch mal eine Zusammenstellung positiver Sätze aus Ihrer 2. Aufl[age]. 8 Für die ich Ihnen nun herzlich zu danken habe. Sie verzeihen mir doch meine Kühnheit, d[a]ß ich Sie daran erinnerte: aber wie viel lieber nehme ich sie aus Ihrer Hand! Und ihr Nichtbesitz wurde nachgerade für mich eine Verlegenheit. Ich werde Ihnen bald schreiben können, daß ich Sie gelesen. Innigen Dank! — Und eine besondere] Empfehlung an Ihre v[erehrte] Fr[au] G[emahlin], Ihre Leidensgefährtin im Warten! Gott sende einen frischen Wind in unsre Kirche, zumal die preußische] Landeskirche! Immer von Herzen der Ihre. Rade.

Nr. 58 Postkarte Harnacks an Rade 2. Juli [18]88. Marburg L[ieber] F[reund], Vielen Dank f[ür] Ihren theilnehmenden u[nd] freundschaftlichen Brief: es ist sehr gut, daß Sie nicht an O'NI [ = Weiß] geschrieben haben; denn eine gestern erhaltene Kunde zeigt mir, daß die Sache noch gut steht, freilich noch immer nicht am Ende ist. In Bezug auf HT'?}"'' [ = Jülicher] werde ich gegebenen Falls mein Möglichstes thun, denn auch ich glaube, daß er für uns der rechte Mann ist; aber es wird nicht ganz leicht sein, Andere davon zu überzeugen. Doch hoffe ich das Beste: doch dies vertraulich. 1 Herzlich Ihr treu ergebener A. Harnack.

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Mirbt, C.: Ein Religionsedikt vor hundert Jahren, in: C W 2 (1888), 2 5 9 - 2 6 1 , 2 6 9 - 2 7 2 . In der C W erschien kein entsprechender Artikel von L o o f s . Von konservativen Kreisen wurde gegen H a r n a c k s Berufung nach Berlin opponiert mit Hinweisen vor allem auf seine Stellung zum neutestamentlichen K a n o n , zur Wunderfrage, zu Jungfrauengeburt, Auferstehung und Himmelfahrt. Vgl. Z a h n - H a r n a c k , 118 f. Die zweite, verbesserte und vermehrte Auflage des ersten Bandes von H a r n a c k s „Lehrbuch der Dogmengeschichte" war 1888 erschienen.

Nr. 58 1 Vgl. Anm. 4 zu Nr. 55.

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N[ota-]B[ene]: Natürlich thun Sie in meiner Angelegenheit i[n] Ihrem Blatte nichts! Wir wollen den übrigens nicht mehr wahrscheinlichen „Pyrrhussieg" abwarten. Im Falle desselben würde ich eine Abhandlung über „Geschichte u[nd] Kirchengeschichte" nicht unterdrücken.

Nr. 5 9 Brief Harnacks an Rade 16. 7. [18]88. Marburg. L[ieber] F[reund], Den Artikel J. [ = über] Rußland kann ich nicht schreiben, weiß im Moment Niemanden außer Bonwetsch i[n] Dorpat. Meiner Frau u[nd] Jungen geht es gut. Gott sei Dank! 1 Das Berliner Schweigen scheint mir jetzt mehr als bedenklich. Nun schwimmt der Kaiser nach Rußland. Die Sache 2 ist entweder noch nicht erledigt oder im schlimmen Sinn. In beiden Fällen ist es traurig genug. Ich glaube — unter uns gesagt — daß Goßler die Sache möglichst hinzögert. Er will vor Allem Zeit gewinnen u[nd] sich selbst sicherstellen. Gut, wenn ich irre. Herzlich Ihr A. Harnack. Ich bin nur gespannt, wen sie nehmen. Loofs können sie doch nicht sofort aus Halle versetzen. Hauck? Aber zum Herbst wird ihn die bayrische Regierung nicht ziehen lassen. Was sagen Sie zu dem Plane „ S o h m " 3 . Zuerst erschein er mir so unglaublich, wie die Carolinenangelegenh[ei]t 4 ; aber ich habe jetzt Grund z[u] der Annahme, daß es Kreise giebt, die ernsthaft auf ihn hinarbeiten.

Nr. 59 1 2

3 4

Am 15. Juli 1888 wurde das vierte Kind von Adolf und Amalie Harnack, Ernst, geboren. Es geht um Harnacks Berufung nach Berlin. — Harnacks Berufung verzögerte sich, weil Wilhelm II. am 12. Juli befohlen hatte, den Fall noch einmal dem preußischen Oberkirchenrat vorzulegen. Am 14. Juli 1888 reiste er per Schiff nach St. Petersburg ab. Er besuchte anschließend Kopenhagen und Stockholm und kehrte am 1. August nach Potsdam zurück. Vgl. hierzu Nr. 61. Um die Karolineninseln hatten sich Deutschland und Spanien gestritten und zur Lösung ihres Interessenkonfliktes 1885 Papst Leo XIII. als Schiedsrichter angerufen. Er sprach die Inseln Spanien zu unter der Auflage, Deutschland das Recht auf Handel und freie Schiffahrt sowie das Recht, eine Schiffs- und Kohlestation anzulegen, zu gewähren. Auf letzteres Recht verzichtete Deutschland 1886. Im Jahre 1899 wurden die Karolineninseln gegen eine Entschädigung von Spanien an Deutschland abgetreten.

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Nr. 60 Postkarte von Rade, W. Bornemann und P. Drews an H a r n a c k 1 Schneekoppe d[en] 16. VII. [Poststempel: 1888] 5 Uhr morgens 7 Uhr: Die Nebel kommen und gehen, dazwischen Lichtblicke. Es ist wie in der deutschen Kirche. Aber der H u m o r blieb uns noch. Z u m Zeichen herzlichen Gedenkens diesen Bergesgruß von Bornemann Rade Drews.

Nr. 61 Brief Rades an H a r n a c k 1 Schönbach bei Löbach i[n] S[achsen,] 20. 7. [18]88. Hochverehrter Herr Professor, Karte und Brief erhielt ich auf meiner kleinen Riesengebirgsreise nachgeschickt, die ich, wie Sie inzwischen erfahren haben werden, mit guten Freunden unternommen. Wir haben mit herzlicher Freude und innigsten Wünschen die Ankunft Ihres Söhnleins begrüßt: Gott gebe, daß er Ihnen gesund und frisch erhalten bleibe und fröhlich heranwachse! Sie werden nach der schweren Erfahrung, die Sie mit Ihrem älteren Knaben machen mußten, doppelt dankbar dafür sein! 2 Was Ihre Beruf[un]g anlangt, so bin ich nun ganz im Unklaren, welchen Wert die Nachricht der neuesten Luthardtschen hat; 3 ich kann aber unmöglich annehmen, d[a]ß die Sache schlecht steht, wenn sie so schreibt, denn ohne triftigen Grund wird sie doch für sie so Unerfreuliches nicht melden. Daß Sohm ernstlich in Frage komme, schien mir immer unglaublich; daß man ihn aber von Seiten Ihrer Gegner ernstlich empfohlen hat, beweisen ja Nr. 60 1 Die D a t u m s a n g a b e wurde mit Bleistift geschrieben. A b „ 7 U h r " wurde die Karte mit Tinte von der H a n d Rades geschrieben. Nr. 61 1 D a s Briefpapier trägt den gedruckten Briefkopf: „Redaktion der Christlichen Welt Pfarrer Lic. R a d e in Schönbach bei L ö b a u i. S . " 2 H a r n a c k s im J a n u a r 1886 geborener Sohn Karl T h e o d o s i u s erblindete und war geistig behindert. Vgl. Z a h n - H a r n a c k , 87. 3 Rubrik „Personalien", in: Allgemeine evangelisch-lutherische Kirchenzeitung 21 (1888), 703: „Als Nachfolger des f [=verstorbenen] ordentlichen Professors der Kirchengeschichte Dr. Semisch in Berlin ist nunmehr Prof. Dr. A. H a r n a c k in M a r b u r g bestimmt in Aussicht g e n o m m e n . "

202 Ev[angelische]

1888 K[irchen]z[eitung]4,

D[eutsche] Ev[angelische]

tung] u[nd] Ev[angelisch-]K[irchlicher]

K[irchen]z[ei-

Anz[eiger]s zur Genüge. S o h m ,

mit

d e m ich j ü n g s t k o r r e s p o n d i e r t e , s c h r i e b m i r d a r ü b e r , w i e f o l g t : „ D i e F a m a , d [ a ] ß ich f ü r K [ i r c h e n - ] G [ e s c h i c h t e ] n a c h B [ e r l i n ] g e r u f e n w e r d e n s o l l t e (!), h a b e ich in I h r e m B l a t t z u e r s t g e w i s s e r m a ß e n a u t h e n t i s c h v o r m i r g e s e h e n (den E v [ a n g e l i s c h - ] K i r c h l [ i c h e n ] A n z [ e i g e r ] k e n n e i c h n i c h t ) . N u n , ich d e n k e , d a ß diese , G e g e n k a n d i d a t u r ' m e h r o d e r w e n i g e r in d e n B e r e i c h d e r Z e i t u n g s enten g e h ö r t . " 6

eine s o l c h e

Berufung

keinesfalls a n n e h m e n w i r d , 7 z u m a l e r jetzt ein g r o ß e s 2 b ä n d i g e s

— Ich bin ü b e r z e u g t ,

d[a]ß S[ohm]

Kirchen-

4

In einem Artikel von O. Holtzheuer mit dem Titel „Zur Lage", in: Evangelische Kirchenzeitung 122 (1888), 4 9 2 - 4 9 8 , der in Nr. 23 vom 9. Juni 1888 erschien, hieß es: „Wie gut unsre Kirche gegenwärtig durch ihre Behörde vertreten ist, hat sich jetzt wieder in dem vom Oberkirchenrath eingelegten Einspruch gegen die Berufung Harnacks nach Berlin gezeigt. [...] Es versteht sich von selbst, daß Harnack für Berlin beseitigt ist. Sollte ihn völlig wider Erwarten die große und einflußreiche Familie Ritsehl wenn auch nur als Parallel-Professor neben einem zu berufenden Positiven doch durchsetzen, so würde man sehen, daß die Gegenströmung in einer Kirche wie die evangelische Landeskirche Preußens einer ganz andren Kraft und Ausdauer fähig wäre, als es in kleinen Landeskirchen oder isolierten Provinzialkirchen der Fall ist." (496) Nachdem Harnack in dem Artikel vorgeworfen wurde, daß er „im Grunde unsolide" arbeite, ging der Verfasser auf die Frage ein, wer stattdessen berufen werden sollte: „Was hindert es, z. B. einen Juristen in's Auge zu fassen, wenn er nur der geeignete Mann ist? Daß jeder, der für ein kirchliches Lehramt befähigt ist, sich diesem Lehramte schuldet, wenn dasselbe seiner bedarf, kann keine Frage sein. Derjenige an den ich denke, ist der Professor der Rechte Rudolph Sohm in Leipzig, der seit lange eine kirchliche Leuchte ist, und der durch seine jetzt zu einem Grundriß der Kirchengeschichte zusammengefaßten kirchengeschichtlichen Aufsätzen in der Allgemeinen] cons[ervativen] Monatsschrift den Beweis erbracht hat, daß er, obwohl ex professo Rechtslehrer, auch in einer theologischen Disciplin, der der Kirchengeschichte, ein Meister ersten Ranges ist. Welche eine Verzerrung sonnenklarer Herrlichkeit in ungeschichtliche Armseligkeit bei Harnack, und welche gewissenhaft tiefsinnige Ergründung der wahren Geschichte des Reiches Gottes bei Sohm! Und dazu kommt bei Sohm eine ebenso methodische, wie mit der Kraft der Unmittelbarkeit wirkende Lehrgabe, dieses seltenste Charisma gerade in den Kreisen, wo das Bestimmungswort Lehr, man denke an Lehrstuhl wie Lehrkörper, eine so besondere Rolle spielt. Wenigstens verhandeln könnte man einmal mit Sohm, und wenn die Verhandlungen zu einem Resultate führen, so würde an der Berliner Universität das kirchengeschichtliche Studium voraussichtlich aufblühen, wie es seit Neanders Zeit nicht geblüht hat." (497)

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Vgl. die Artikel: Zur angeblichen Berufung Harnacks nach Berlin, in: Deutsche Evangelische Kirchenzeitung (hrsg. von Adolf Stoecker) 2 (1888), 189, 228f., die aus der Evangelischen Kirchenzeitung übernommen wurden. Ebd., 229, wurde für die Berufung Sohms plädiert. Vgl. auch die Notiz in der Rubrik „Kirchliche Chronik", in: ebd., 171, zur eventuellen Berufung Harnacks nach Berlin sowie die Artikel: Der Fall Harnack, in: ebd., 345 — 346; Zur Berufung Harnacks, in: ebd., 381 — 383. Das entsprechende Schreiben Sohms befindet sich nicht im Rade-Nachlaß. In einer „Erklärung", die in Nr. 30 vom 28. Juli 1888 der Evangelischen Kirchenzeitung, 647f., erschien, stellte Sohm unter Bezug auf den in Anm. 3 zitierten Artikel fest: Es „wird der Gedanke angeregt, mich als Kandidaten für die erledigte kirchengeschichtliche Professur in Berlin in Aussicht zu nehmen. Da an der Spitze der Evangelischen] Kirchen-] Z[eitung] auch mein Name steht [Sohm war Mitherausgeber dieser Zeitung], so fühle ich mich veranlaßt zu erklären, daß ich diesem Gedanken vollständig fernstehe." (647)

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recht 8 herausgeben will. Sonst weiß ich nichts, als daß 0[ber-]K[onsistorial-]R[at] Sell-Darmstadt von Goßler zu einem Gutachten über Ihren praktischen Einfluß auf die Studenten aufgefordert worden ist u[nd] d[a]ß dasselbe sehr freundlich ausgefallen ist. Ich bin gewiß, daß die Geschichte zum Besten uns[er]er Sache u[nd] Kirche laufen muß, gleichviel wie die nächste Entscheid[un]g fällt. Für Sie ist freilich diese Ungewißheit der Lage entsetzlich. Aber Gott beschere Ihnen die nötige Geduld. Wenn Sie endlich berufen werden, wollen wir uns um so mehr freuen. — Viele besondre Grüße u[nd] Wünsche diesmal Ihrer hochverehrten] Fr[au] Gemahlin. Die Meinen u[nd] Bornemann grüßen u[nd] glückwünschen mit mir. Immer Ihr R.

Nr. 62 Postkarte Harnacks an Rade Herrnalb, 4. Sept[ember] [18]88. L[ieber] F[reund], Ich lese in Marburg im W[inter-]S[emester] Kirchengeschichte I. Theil, Deutsche Kirchengeschfichte] im 19. Tahrhfundertl u[nd] halte Übungen über Tertullian. In B[erlin] würde ich dasselbe lesen, nur statt Deutsche K[irchen-] G[eschichte] im 19. Jahrh[undert] vielmehr Geschichte der Katholischen Kirche vom Westfähl[ischen] Frieden bis auf die Gegenwart. Im nächsten Sommer lese ich jedenfalls Dogmengeschfichte], sei es in M[arburg] oder B[erlin]. Ich gedenke am 6. oder 7. Sept[ember] wieder in Marburg zu sein u[nd] dort die Z u k u n f t abzuwarten. Nach Cassel 1 werde ich schwerlich gehen, da ich mich nicht endlosen Fragen u[nd] unerquicklichen Gesprächen aussetzen will. Hoffentlich kommen Sie nach Marburg, wenn auch nur auf Stunden. Herzlichst u[nd] mit Grüßen von meiner Frau Ihr AHarnack.

8

Kirchenrecht, 2 Bde., hrsg. von R. Sohm ( = Systematisches Handbuch der Deutschen Rechtswissenschaft, 8. Abtheilung), Leipzig 1892 und 1923.

Nr. 62 1 In Kassel fand vom 10. bis 13. September 1888 der 25. Kongreß für innere Mission statt.

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Nr. 63 Brief Harnacks an Rade Marburg, den 7. 9. [18]88. Abends 7 Uhr. Lieber Freund, Ihren Brief über den Herrnhuter habe ich allerdings erst nach einiger Zeit (seit seiner Abfassung) erhalten u[nd] beantwortet. 1 Hoffentlich ist er jetzt in Ihren Händen. Ihren eingeschriebenen Brief 2 habe ich soeben erhalten, aber ohne Einlage, d. h. ohne den Brief, der denselben veranlaßt hat u[nd] von dem Sie bemerkten, daß Sie ihn beigelegt hätten. Sie müssen im Versehen doch den Brief zurückgehalten haben. Seinen Inhalt kann ich mir freilich aus Ihren freundlichen Zeilen construiren. Sie können sich denken, daß ich mit sehr gemischten Gefühlen dem Project gegenüberstehe; dankbar in Bezug auf Ihre Absicht — denn ich wüßte Niemanden, der sie besser verwirklichen könnte —, ablehnend in Bezug auf die Sache; denn ich habe an so etwas keine Freude, u[nd] der Anlaß ist für mich so geringfügig wie möglich, da ich in dem ganzen Handel völlig passiv bin, ja mir selbst wie die Leiche des Patroklus vorkomme, um die gestritten wird. Stünde ich z. Z . in einer kräftigen Action, in der ich etwas einsetzte, so wäre es etwas anderes. Da aber die Situation mich neben den 13 ausgesprungenen Crokodilen zu einer Sauren-Gurken-Berühmtheit gemacht hat, so möchte ich keinen Finger rühren, um mich an der Oberfläche zu halten, auf welche mich eine capriciöse Welle geworfen hat. Daher bitte ich Sie, dem Briefschreiber — ich vermuthe, es ist der treffliche Dr. König, mein guter Freund selbst — zu antworten, er möge die freundliche Absicht, mich seinen Lesern vorzustellen, aufschieben, bis Holz u[nd] Stoppeln abgebrannt sind, wo dann Niemand mehr ein Verlangen haben wird, den Cathederprofessor in einer Zeitung zu finden. Und noch Eines: die Aufgabe, wenn sie denn einmal behandelt werden sollte, wüßte ich, wie oben bemerkt, nirgendwo in besseren Händen als in den Ihrigen — allein unserem Verhältniß u[nd] Ihrer Stellung entspricht es nicht, wenn Sie über mich an einem solchen Orte schreiben. Sie haben sich Ihr besonderes Feld in unserer gemeinsamen großen Arbeit erobert u[nd] sind auf demselben Führer: bei allem Respect vor Ihrer Feder, die es versteht, Herr der Situation zu bleiben, fürchte ich doch, daß Sie sich eine unnütze Schwierigkeit schaffen und sich in ein falsches Licht stellen, wenn Sie über mich schreiben. Daher ist mein dringender Wunsch, daß Sie es lassen. Dieser Wunsch ist sogar theilweise egoistisch — es können Nr. 63 1

2

Der Bezug ist unklar, da der entsprechende Brief Rades fehlt. Möglicherweise hatte Rade, der gute Beziehungen zur Herrnhuter Brüdergemeinde besaß, Harnack einen von dort stammenden Studenten — Ernst Reichel — empfohlen. Vgl. Nr. 66. Auch dieser Brief ist nicht erhalten.

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noch immer Gelegenheiten kommen, wo wir öffentlich Schulter an Schulter zu kämpfen haben, u[nd] wo Sie für mich oder ich für Sie eine Lanze zu brechen die Freude haben werden. Wollen wir uns daher nicht präjudiciren u[nd] eine Unterstützung vorwegnehmen! Sparen wir das „vereinte Marschiren" auf, bis die beste Gelegenheit da ist. Ich schreibe das um so freudiger, als ich mir weder in theoreticis noch in praxi irgend welcher erheblichen Differenz mit Ihnen bewußt bin. Auf unserem Standpunkt giebt es überhaupt nur einschneidende Differenzen oder gar keine; denn was man „theologische" Differenzen nennt, sind unter denen keine, die da wissen, daß man an den Worten „Vater Unser" und „Jesus Christus sei mein Herr" nicht auslernt. 3 Haben Sie den öden, elenden Artikel von Bender „Im Kampf um die Seligkeit" in den Preußischen] Jahrb[üchern] gelesen? 4 Der arme Mann hütet jetzt bei den Darwinianern die Schweine u[nd] belehrt uns andere darüber, daß ein Rafael'sches Gemälde aus Öl, Pinsel u[nd] Leinwand bestehe und daß der Mensch nichts mehr sein könne als die erste Zelle, aus der er sich entwickelt hat. Diese elende Entwicklungstheorie! als ob nicht eben das das Geheimniß aller Entwickelung ist, daß sich die Größen in ihr nicht nur verändern, sondern ändern! Die Religion mag aus dem Wunsche nach Gütern entsprungen sein — zugeschaut hat übrigens Niemand —, aber was heute Religion ist, gebietet uns, unsere Wünsche zu kreuzigen. Nach Cassel 5 komme ich nicht — ich will dort nicht der grüne Esel sein. Aber wenn ich Sie irgendwie bei Cassel sprechen kann, so fahre ich hin. Noch besser — kommen Sie zu uns! Wenn das aber nicht geht, so komme ich zu Ihnen nach Guntershausen oder wohin Sie wollen — wie Nicodemus bei der Nacht. 6 Herzlich Ihr Harnack Nr. 64 Brief Rades an Harnack 1 Schönbach bei Löbau i[n] S[achsen,] 8. 9. [18]88. Hochverehrter Herr Professor, Anbei die einst zurückgebliebene Einlage, damit Sie sie wenigstens kennen lernen. 3

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5 6

Die Redaktion der Zeitschrift „ D a h e i m " hatte offensichtlich bei R a d e angefragt, ob er nicht angesichts des Streites um H a r n a c k s Berufung nach Berlin einen Artikel über ihn schreiben wolle. Vgl. Nr. 64. Bender, W.: Der K a m p f um die Seligkeit, in: PrJ 6 2 (1888), 2 0 - 5 6 . Z u Bender vgl. Anm. 2 zu Nr. 39. Vgl. Anm. 1 zu Nr. 62. Anspielung auf J o h 3,1 f.

Nr. 64 1

D a s Briefpapier trägt den gedruckten Briefkopf:

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Ich begreife Ihre Stimmung vollkommen. Aber der Entschluß, den DaheimArtikel nicht zu schreiben, wird mir nicht leicht. Wünschen Sie, daß er von jemand anderem geschrieben wird? — wenn [sie] nicht, was bleibt Ihnen übrig, als auch dies noch über sich ergehen zu lassen? Aber den Versuch, die Daheim Red[aktion] von ihrem Vorhaben abzubringen, will ich jedenfalls machen. Sprechen muß ich Sie nun durchaus. Wie, das wird sich ja in Kassel finden. Wenns nicht anders geht, mache ich von Ihrer Erlaubnis Gebrauch und bestelle Sie zu einem Rendezvous an irgend welchen gelegnen Ort. Sie lesen doch hoffentlich nicht mehr, was über Ihren „Fall" geschrieben wird? Ich für mein Teil brings kaum noch fertig. Mit herzlicher Empfehlung an Ihre beste Frau Gemahlin u[nd] vielen guten Wünschen der Ihre Rade.

Nr. 65 Postkarte Harnacks an Rade 1 [Poststempel: Marburg, den 14. 9.1888] 7. Mai 1851 geb[oren] zu Dorpat (Livland), wo m[ein] Vater Prozessor] d[er] praktischen] Theologie 1853 nach Erlangen übergesiedelt, wo mein Vater bis [18]66 blieb u[nd] ich das Gymnasium bis Untersecunda besuchte. 1866—1869 Gymnasium zu Dorpat. 1869-1872 Studium i[n] Dorpat, cand[idatus] theol[ogiae] (Hauptlehrer: vfon] Engelhardt, weiter von Oeningen u[nd] mein Vater)[.] Durch Engelhardt erhielt ich die Richtung aufs Historische, auch auf den geschichtlichen] Christus; ferner lebte er ganz im Problem d[er] Entstehung der altkath[olischen] Kirche. Durch ihn wurde ich auf das Buch von Ritsehl 2 aufmerksam, welches ich so oft gelesen h[at]te, daß ich es fast auswendig konnte. Engel-

„Redaktion der Christlichen Welt Pfarrer Lic. Rade in Schönbach bei Lübau i. S."

Nr. 65 1

2

Auf der Vorderseite der Postkarte wurde mit Blaustift „14. 9. 1888" vermerkt. Die Angaben zu seinem Lebenslauf, die diese Karte enthält, hatte Harnack wahrscheinlich aus Anlaß eines eventuell von Rade über ihn zu schreibenden Artikels (vgl. Nr. 63 und 64), über den sie bei ihrem Treffen in Wabern (vgl. Nr. 66) gesprochen hatten, an diesen gesandt. Ritsehl, A.: Die Entstehung der altkatholischen Kirche. Eine kirchen- und dogmengeschichtliche Monographie, Bonn 1850, 2. Aufl. 1875.

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hardt stellte 1870 die Preisaufgabe über Marcion, welche ich löste, 3 wodurch ich 1) in Tertullian mich versenkte, 2) in den Gnosticismus. Durch die marcionitisch-gnostischen Studien wurde ich i[n] dem Unterschied von positiver Religion u[nd] Theologie bestärkt. Die gleichzeitig unter Bunge's [?] Leitung sehr eifrig betriebenen Studien Kants u[nd] der englischen Philosophen bestärkten mich in der Erk[enntnis] der Unmöglichkeit der Metaphysik. Ich war J a h r e lang ein „rigider Positivist", worin ich i[n] Leipzig noch durch meinen Freund Göring bestärkt worden bin. Daneben ging mir immer sicherer auf die Herrlichkeit der Geschichte u[nd] daß wir Alles, was wir sind, ihr verdanken; daß es gilt, nicht zu speculiren, sondern sich mit den großen Persönlichkeiten der Gesch[ichte] zu befreunden, durch sie sich zu bereichern. Aber sie alle seit X p . [ = Christus] erschienen mir stets nur als seine Diener (Augustin, Luther, Goethe, Carlyle). 1872 ging ich nach Leipzig, 1874 Privatdocent, 1876 Extraordin[arius]. 1879 Ordinar[ius] i[n] Gießen, 1876 i[n] Marburg. Der idealistischen Philosophie traue ich jetzt mehr zu wie früher, aber vielleicht, weil ich diese Studien nicht mehr v[on] Grund aus betreibe. Meine Aufgaben sind: 1) Entstehung des Katholicismus, 2) Altchristl[iche] Literat[ur-] Gesch[ichte] 3) Augustin in seiner Weltgeschichtlichen] Bedeutung u[nd] damit auch die Reformation. Stets Ihr AH.

Nr. 66 Brief Rades an Harnack Sch[ö]n[bach], 19. 9. [18]88. H[och]v[ehrter] H[err] Prozessor], Da haben wir nun die Bescherung. Das habe ich immer gefürchtet, d[a]ß die D[aheim]-R[edaktion] inzwischen sich über mich weiter orientieren u[nd] bei so günstiger Gelegenheit ihren Auftrag zurückziehen werde 1 — um ihn einem andern zu übertragen. Aber wem? 3

Für die Bearbeitung der Preisaufgabe „Marcionis doctrina e Tertulliani adversus Marcionem libris eruatur et explicetur" hatte H a r n a c k den ersten Preis erhalten; vgl. Z a h n Hamack, 397.

Nr. 66 ' Die Daheim-Redaktion schrieb a m 18. September 1 8 8 8 an Rade (der Brief ist dem Briefwechsel mit Rade im H a r n a c k - N a c h l a ß beigefügt): „Verehrter Herr Pfarrer! Da wir aus Ihrem Schreiben entnehmen, daß Sie den „Fall H a r n a c k " doch nur ungern besprechen würden, wollen wir von Ihrem freundlichen Anerbieten doch lieber keinen Gebrauch machen. Empfangen Sie jedenfalls unseren herzlichsten Dank für dasselbe. Hochachtungsvoll und sehr ergeben Daheim-Redaktion Th. H . Pantenius"

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Ich bitte Sie nun um Ihret- u[nd] der Sache willen, Ihrem Freunde König, beziehungsweise] der D[aheim]-R[edaktion] einen kategorischen Br[ief] zu schreiben, daß Sie sich den Artikel verbäten. Dabei könnten Sie ja einschalten: wenn schon, dann von mir. Ich werde der D[aheim]-R[edaktion] umgehend wenige Zeilen schreiben, die ohne alle Zudringlichkeit ihr den Rückzug erleichtern. 2 Herzlichen Dank für Ihre fr[eun]dl[iche] Karte, 3 die mir auf jeden Fall von großem Wert ist. Herzlichen] Dank auch für Wabern. 4 Es fiel mir freilich nachher noch viel ein, das hätte besprochen werden müssen; aber es war auch gut, daß ich am andern Vorm[ittag] in Cassel sein konnte. Daß ich Ihre v e r ehrte] Fr[au] G[emahlin] in Marb[urg] nicht begrüßen konnte, thut mir freilich noch immer leid. Aber das läßt sich, so Gott will, nächstens in Berlin nachholen. 5 Der Herrnhuter Ernst Reichel kommt jedenfalls] zu Ihnen nach M[arburg] oder B[erlin]. 6 Ihr herzl[ich] ergjebener] Rade

Nr. 67 Postkarte Rades an Harnack [Poststempel: Schönbach (Sachsen), 21. 9.1888] Glückliche, gesegnete Fahrt nach Berlin! 1 Ich freue mich doch sehr und bitte Gott, daß er Ihrem Wirken ferner viel Frucht beschere, vielleicht auch auf die verrotteten kirchlichen Verhältnisse der Stadt mit der Zeit Sie einen glücklichen Einfluß gewinnen lasse! — Zur Feier der Uebersiedelung wird Nr. 42 Ihren schönen Artikel bringen, 2 für den ich herzlich danke. Stets Ihr getreuer Rade.

2 3 4 5 6

Ein entsprechender Artikel über Harnack erschien in „Daheim" nicht. Nr. 65. Dort trafen sich Harnack und Rade; vgl. Nr. 62—64. Die Berufung Harnacks nach Berlin erfolgte am 17. September; vgl. Anm. 2 zu Nr. 59. Vgl. Anm. 1 zu Nr. 63.

Nr. 67 1 Harnack war am 17. September durch einen Erlaß Kaiser Wilhelms II. als Professor an die theologische Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin berufen worden. Der Wortlaut des Erlasses ist abgedruckt in: Huber/Huber, Bd. III, 654. 2 Harnack, A.: Die natürliche Gotteserkenntnis, in: CW 2 (1888), 3 9 8 - 4 0 0 . Der Artikel erschien allerdings erst in Nr. 43.

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Nr. 6 8 Brief R a d e s an H a r n a c k Sch[önbach], 22. 9. [18]88. H[och]v[erehrter] H[err] Prof[essor,] D e r E v [ a n g e l i s c h - ] K [ i r c h l i c h e ] A n z [ e i g e r ] v [ o n ] Berl[in] feiert in seiner neusten N r . infolge Ihrer B e r u f u n g w a h r e O r g i e n des U n v e r s t a n d e s und des F a n a t i s m u s . 1 Ich hoffe zu G o t t , d a ß Ihre p e r s ö n l i c h e B e k a n n t s c h a f t , Ihre g a n z e W i r k s a m k e i t in Berlin diese L e u t e d a v o n ü b e r z e u g e n w i r d , d a ß sie falsches Z e u g n i s g e r e d e t h a b e n . F ü r Sie m u ß es ja u n g e m e i n s c h m e r z l i c h sein, d a ß diese Ihre G e g n e r den „ P r o t e s t des christlichen und k i r c h l i c h e n

Gewissens"

für sich in A n s p r u c h n e h m e n u [ n d ] d a ß Ihre F r e u n d e bis z u m Berliner T a g e b l a t t 2 u [ n d ] z u r F r e i s i n n i g e n ] Z e i t [ u n ] g 3 h i n a b Ihre B e r u f u n g — m a n k a n n Nr. 68 1 Berlin, den 21. September. Die Berufung Harnacks, in: Evangelisch-Kirchlicher Anzeiger 39 (1888), 3 4 2 - 3 4 4 . In diesem mit „ H " unterzeichneten Artikel wurde die Berufung Harnacks nach Berlin kritisiert, da dieser beispielsweise „die Geschichtlichkeit der Evangelienberichte über die Heilsthatsachen des christlichen Glaubens" leugne und dadurch „eine Geschichte des Urchristenthums" konstruiere, „die ebenso sehr mit dem Materialprinzip wie mit dem Formalprinzip der reformatorischen Lehre im Widerspruch steht." (342) Harnacks Berufung bedeute eine weitere „Begünstigung der R/fscW'schen Schule, welcher ein Lehrstuhl nach dem andern überantwortet wird" (343) und so auch eine „Niederlage" der obersten Kirchenbehörde der evangelischen Kirche. Gegen diese Berufung müsse um des kirchlichen Gewissens willen Einspruch erhoben werden, da Toleranz gegenüber Lehren in der Kirche, „welche nicht den Samen der Wiedergeburt" in sich tragen, verfehlt sei. (343) 2 Im Artikel: Professor Harnacks Berufung bestätigt!, in: Berliner Tageblatt, Nr. 479 vom 20. September 1888, wurde ausgeführt, daß Harnack als „streng kirchlich gesinnter Gelehrter" gelte, „der die Ergebnisse seiner Forschung stets in der maßvollsten Form vorzutragen verstand. Aber er hat freilich nicht zur starren Orthodoxie geschworen, und das allein genügte den Ultras, um ihr Anathema über ihn auszusprechen. Von dieser Seite gedrängt, faßte der Oberkirchenrath mit sehr nothdürftiger Majorität seinen negativen Beschluß, den die Hochkirchler als eine erste Kraftprobe ihres Einflusses auf die Regierung des neuen Kaisers ansahen. Die Probe ist zu ihren Ungunsten ausgefallen; sie hat zu einer schweren Niederlage der Extremen geführt. [...] Um eine neue Enttäuschung bereichert, müssen die Anhänger der äußersten Fraktion erkennen, daß sie zu früh triumphiert haben, als sie von dem Regierungsantritte des Sohns und Erben Kaiser Friedrichs den Anbruch einer extrem konservativen Aera erhofften." Am nächsten Tag schrieb das Berliner Tageblatt in einer Reaktion auf die Stellungnahme der konservativen „Kreuzzeitung" zu Harnacks Berufung: „Wenn die oberste kirchliche Behörde jetzt eine Niederlage erlitten hat, so hat sie das lediglich sich selbst und ihrem unbefugten Einspruch zuzuschreiben. Der Wunsch der 'Kreuzzeitung', der auf eine Verkümmerung der staatlichen Unterrichtshoheit hinausgeht, wird hoffentlich immer ein frommer Wunsch bleiben." 3 Der Artikel: Der Fall Harnack, in: Freisinnige Zeitung, Nr. 221 vom 20. September 1888, Nachtausgabe, interpretierte den Einspruch des Evangelischen Oberkichenrates gegen die Berufung Harnacks folgendermaßen: „Es handelte sich hier um einen ersten Versuch, in der Richtung der Hammerstein-Kleist-Retzow'schen Anträge, unter dem Vorgeben der Selbständigkeit der evangelischen Kirche preußische Staatsanstalten der evangelischen Hierarchie zu unterwerfen."

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es d o c h nicht anders e m p f i n d e n — zu Fußtritten gegen unsre evangelische Kirche benutzen. Ich g e d e n k e in der nächsten Nr., w o viele ein Wort des T r i u m p h e s v o n uns erwarten werden, über d a s Ereignis zu schweigen, in übernächster Nr. aber vielleicht ein Wort gegen Ihre unerwünschten Freunde zu sagen.4 Was beif[ol]g[en]den Br[ief] b e t r e f f t ] , s o h a b e ich an die D a h [ e i m - ] R e d [ a k tion] nicht so ungeschickt geschrieben, d[a]ß sie hätte meinen Wunsch verkennen können den Art[ikel] d o c h zu schreiben. Aber sie w a r f r o h , mich mit guter M i e n e l o s z u w e r d e n . 5 Wer weiß, w o z u es gut ist. Immer Ihr treu ergebner R.

N r . 69

Postkarte Harnacks an Rade 1 [Berlin,] 27/1. [18]89. Hohenzollern[straße] 22. Lieber Freund, 120 M a r k h a b e ich gestern an G r u n o w geschickt. Wegen 1888 haben wir vor einem J a h r c o r r e s p o n d i r t , u[nd] Sie riethen mir, entweder die 6 0 0 M [ a r k ] auf die 2 J a h r e zu vertheilen oder f ü r [18]88 nicht zu zeichnen, d a es nicht n o t h w e n d i g sei. Wenn es nicht nöthig ist, s o m a g es dabei bleiben, u[nd] ich garantire d a n n für 1889 3 0 0 M a r k . Sollte dies zu wenig sein oder sollte es w ü n s c h e n s w e r t h sein, d a ß ich auch für [18]88 nachträglich garantire, s o lassen Sie es mich — bitte ich — w i s s e n . 2 4

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In C W 2 (1888), 384 ( N u m m e r 41 vom 7. Oktober), veröffentlichte R a d e seinen Artikel: Die Berufung Professor H a r n a c k s nach Berlin. Der Brief der Daheim-Redaktion vom 21. September 1888 liegt dem Briefwechsel mit R a d e im H a r n a c k - N a c h l a ß bei. Er lautet: „Verehrter Herr Pfarrer! Es thut uns überaus leid, wenn ein Mißverständniß vorliegt, wir empfingen aber übereinstimmend aus Ihrem Schreiben den Eindruck, daß Ihnen im Grunde der Artikel unsympathisch war und Sie nur aus Gefälligkeit an ihn gingen. Unter diesen Umständen hielten wir es für angebracht uns an einen anderen Mitarbeiter zu wenden und erhielten bereits eine Z u s a g e von ihm. Empfangen Sie den nochmaligen Ausdruck unseres lebhaften Bedauerns über d a s Mißverständniß. Wir glaubten durch das Zurücknehmen unserer Bitte Ihnen einen Gefallen zu thun. Hochachtungsvoll Ihre sehr ergebene Daheim-Redaktion Th. H . Pantenius"

Nr. 69 1

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Auf der Vorderseite der Karte wurde mit Blaustift die J a h r e s a n g a b e ,,[18]89", mit Bleistift „27. 1." vermerkt. Außerdem befindet sich dort eine von H a r n a c k mit Tinte ausgeführte Subtraktion. Es geht um die finanzielle Situation der CW; vgl. Nr. 52.

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K a f t a n ' s A u f s ä t z e 3 finde ich ausgezeichnet: ich hätte über diese Frage g e n a u d a s s e l b e geschrieben. Sie werden a u c h a m Schluß meines N e a n d e r - V o r t r a g s 4 eine A n d e u t u n g i[n] dieser R i c h t u n g finden, die g a n z u n a b h ä n g i g v[on] K a f tan's A u f s ä t z e n ist, u[nd] d o c h mit ihnen z u s [ a m m e n ] s t i m m t . Bitte, schreiben Sie d o c h a u c h K a f t a n , er soll die A u f s ä t z e s e p a r a t h e r a u s g e b e n ; ich h a b e es ihm schon gesagt. L o o f s war vor 2 Stunden bei mir — sehr a n g e n e h m . Er k a n n wohl anders, als i[n] H a l l e bleiben, u[nd] seine W i r k s a m k e i t wird d o r t keine gere sein als i[n] Leipzig (vielleicht größer); aber u m Leipzig thut es mir D o c h sie haben es sich selbst zuzuschreiben! sie [sie] haben einstmals w a g e n wollen u[nd] werden jetzt ins Hintertreffen k o m m e n . 6 I m m e r Ihr A H a r n a c k .

nicht gerinleid. 5 nichts

Nr. 70 Postkarte Harnacks an Rade 1 [Berlin,] 31/1. [18]89. Lfieber] F[reund], Reden Sie K a f t a n ja zu, seine A b h a n d l u n g e n d r u c k e n zu l a s s e n . 2 Ich finde die D u r c h f ü h r u n g der S a c h e vortrefflich. In der T e r m i n o l o g i e halte ich „ n e u e s D o g m a " nicht für glücklich. Aber er meint „ B e k e n n t n i ß " , u[nd] es w ä r e d o c h eine S c h m a c h , wenn m a n im P r o t e s t a n t i s m u s ] die N o t h zur T u g e n d machen müßte u[nd] erklären, der P r o t e s t a n t i s m u s ist die F o r m des C h r i s t e n t h u m s , welche ein christliches Bekenntniß nicht zu S t a n d e bringen k a n n . 3 D a ß es mit 3

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K a f t a n , J . : G l a u b e und D o g m a , in: C W 3 (1889), 7 - 1 0 , 1 9 - 2 5 , 4 3 - 4 8 , 6 8 - 7 2 , 8 8 - 9 2 , 150—157. Die Aufsätze setzten sich auseinander mit Dreyer, O.: Undogmatisches Christentum. Betrachtungen eines deutschen Idealisten, Braunschweig 1888. K a f t a n s Aufsätze erschienen als Sonderdruck: G l a u b e und D o g m a . Betrachtungen über Dreyers undogmatisches Christentum, Bielefeld-Leipzig 1890. H a r n a c k , A.: Rede auf August Neander, gehalten zur Feier seines 100jährigen Geburtstages am 17. J a n u a r 1889 in der Aula der Berliner Universität, in: PrJ 63 (1889), 1 7 7 - 1 9 6 ; auch in: R A 1, 193 — 218. Daneben erschien ein A u f s a t z von H a r n a c k : Z u m Andenken August Neanders, in: C W 3 (1889), 2 3 9 - 2 4 2 , 2 5 8 - 2 6 0 . L o o f s w a r seit 1888 ordentlicher Professor für Kirchengeschichte in Halle und blieb dort bis zu seiner Emeritierung im J a h r e 1927. Anspielung auf die gescheiterte Berufung H a r n a c k s nach Leipzig im J a h r e 1886; vgl. Nr. 39 und 44.

Nr. 70 1 Auf der Vorderseite der Karte wurde mit Blaustift die J a h r e s a n g a b e ,,[18]89" und mit Bleistift „ 3 1 . 1 . " vermerkt. 2 Vgl. Anm. 3 zu Nr. 69. 3 Kaftan forderte „ein neues D o g m a " , da d a s überlieferte D o g m a in der Gegenwart nicht mehr genüge, die Kirche andererseits ohne D o g m a nicht bestehen könne. (Kaftan, J . : G l a u b e und D o g m a , in: C W 3 (1889), 68) D a s D o g m a sei aufgrund seiner Beziehung zum Glauben nötig. „ A u s dem Glauben wächst es heraus, und es ist notwendig, weil

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dem Bekenntniß, mag es auch das vortrefflichste sein, nicht gethan ist, wird auch K[aftan] nicht leugnen. Aber wie viele Unsicherheit könnte doch abgeschnitten werden, wenn wir 1) ein kurzes Bek[enntnis] besäßen — so kurz wie das Apostolicum — und 2) eine sich mit der Vergangenheit auseinandersetzende ausführliche Schrift, die den sicheren Ertrag dessen enthielte, was wir positiv und negativ im 16. 18. u[nd] 19. Jahrh[undert] gelernt haben. Aber das klingt angesichts unsrer Zustände wie eine Utopie! Doch das schadet nichts. Man muß sich seine Ziele für die Zukunft dort stecken, wo der gemeine, in die Gegenwart verstrickte Parteimann die 4. Dimension wittert. — Mihi oratio "ETVD [ = Curtii] non valde placuit. Ea quae in cogitationibus et in progressu scientiarum saeculi nostri vera sunt, ille vix attigit et universalia ista quae de religione et de Graecis litteris protulit, homines nostrae aetatis vix commovebunt. At non nego, orationem severam atque amabilam fuisse. 4 Mein Vortrag über Neander erscheint demnächst. 5 Druckbogen habe ich acht. Ihr A. Harnack.

Nr. 71 Brief Harnacks an Rade 1 [Berlin,] 9 / 3 / [ 1 8 ] 8 9 . Hohenzollern [straße] 22. Lieber Freund, Mit einem Artikel über ,,Desc[endit] ad inferna" könnte man nicht wohl eine Serie aufklärender Artikel über das A p o s t o l i k u m ] beginnen. Man müßte doch Zweck, Zeit u[nd] Umbildungsgesch[ichte] des Apostolikums], sowie

der Glaube ohne dasselbe nicht bestehen und sich verbreiten kann." (69) Luther habe „den Glauben wieder entdeckt, der das Ganze ist", der mit der „Frömmigkeit selber identisch" sei. „Damit ist eine neue Wurzel der Dogmenbildung lebendig geworden, eine ganz andre als die, aus welcher das Dogma der alten Kirche herausgewachsen ist. Da handelt es sich nicht darum, den Inhalt des Glaubens in begriffliche Formen zu fassen, sondern vielmehr darum, den Glauben zu bekennen und auszusprechen." (70) Dieses neue Dogma sei „als Abschluß der menschlichen Erkenntnis und Wissenschaft gedacht, wie nur je das alte." (155) Ihm wohne „Autorität, die der Wahrheit des Glaubens" inne. (156) Es handle „sich um eine Wahrheit", die „der Gemeinde Jesu Christi vertraut ist, welche diese zu bekennen, zu vertreten und dadurch für die Belehrung und Beseligung

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der Menschen fruchtbar zu machen hat. Aber eine solche Wahrheit heißt man eben ein Dogma." (157) Die Rede: Die Bürgschaften der Zukunft, in: Curtius, E.: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge, 3. Bd., Berlin 1889, 2 7 — 4 0 , hatte Ernst Curtius am 27. Januar 1889 aus Anlaß des Geburtstages Kaiser Wilhelms II. gehalten. Vgl. Anm. 4 zu Nr. 69.

Nr. 71 1 Auf der ersten Seite des Briefes wurde mit Blaustift die Jahresangabe , , [ 1 8 ] 8 9 " und mit Bleistift „Rade" vermerkt.

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Anlage u[nd] Inhalt vorher behandeln. Ich habe nun große Lust das zu thun, aber ich weiß nicht, ob es opportun ist sowohl für das Blatt, als für meine hiesige Stellung. Die Artikel von K a f t a n 2 sind noch nicht verdaut, u[nd] sein bedenkliches Stichwort: „neues D o g m a " hat vielen von Links u[nd] namentlich von Rechts einen Stich gegeben. Er wird nun in den K[irchen-]Zeitungen verarbeitet, u[nd] die „Christliche] Welt" fährt auch nicht gut dabei. Mir aber lauern sie auf, wo sie können. Gestern wieder soll Hülle-Ricks[dorf] (ich habe es noch nicht gelesen) einen Artikel wider meinen „Anti Z a h n " 3 los gelassen haben, der sehr bösartig sein soll. 4 Wenn ich nun mit dem A p o s t o l i kum] komme, werden Sie [sie] es mit mir machen wie mit Kaftan: sie werden das, was ihnen paßt, herausgreifen, um Stimmung i[n] d[er] Gemeinde zu machen, u[nd] das Positive verschweigen. Ich bin in diesen Dingen nicht feige; aber ich muß mich doch fragen, ob momentan mehr genützt oder geschadet wird, wenn ich über das A p o s t o l i k u m ] schreibe u[nd] wenn die „Christliche] Welt" solche Artikel bringt. Nun kommt noch etwas Anderes hinzu. Mein alter schwerfälliger Freund Kattenbusch wird — wenn es nicht wieder aufgeschoben wird — zu Ostern den Druck seines Folianten über das Apostolicum 5 beginnen. Ich glaube, es wird ihm nicht lieb sein, wenn ich jetzt eine Serie von Aufsätzen über das Apostolicum bringe. Er wird wünschen, daß d a s später im Anschluß an sein großes Werk geschieht. Ich halte mich halb u[nd] halb für verpflichtet, Rücksicht auf ihn zu nehmen. Also wäre z. Z . nur ein Artikel über die Höllenfahrt angezeigt. Den könnte man ja bringen, ohne Kattenbusch vor den Kopf zu stoßen. Aber 1) hat er gerade über diesen Punkt sehr ausführlich gearbeitet, u[nd] 2) ist es nicht angenehm — wie bemerkt — über die Höllenfahrt isolirt z[u] schreiben, zumal da man die leidige Petrusstelle 6 nicht umgehen kann. Ich würde Ihnen daher unbedingt rathen, die Sache bis z[um] nächsten Jahr hinauszuschieben, wenn Sie nicht den Artikel schon angekündigt hätten. D a s ist recht mißlich. Aber auch so noch scheint mir der beste Ausweg, die Sache z. Z . zu lassen u[nd] mitzutheilen, Sie würden später eine Reihe v[on] Artikeln [ = über] das Symbolum bringen. Man könnte ja — nach Rücksprache mit Kattenbusch — gradezu sagen, man habe gehört, daß diese neue Publication bevorsteht u[nd] man wolle ihre Resultate abwarten. Meinen Sie nicht? 7

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Vgl. Anm. 3 zu Nr. 69. H a r n a c k , A.: D a s Neue Testament um das J a h r 200. T h e o d o r Zahn's Geschichte des neutestamentlichen Kanons geprüft, Freiburg i. B. 1889. Dieser Artikel konnte nicht belegt werden, da das von E. Hülle herausgegebene Berliner Evangelische Sonntagsblatt von 1889 bibliographisch nicht nachzuweisen ist. Kattenbusch, F.: Das apostolische Symbol, 2 Bde., Leipzig 1894 und 1900. 1 Petr 3,19: „ S o ist er auch zu den Geistern gegangen, die im Gefängnis waren, und hat ihnen gepredigt." Schließlich veröffentlichte Kattenbusch die Artikel: „Niedergefahren zur H ö l l e " , in: C W 3 (1889), 5 3 1 - 5 3 4 , 5 4 7 - 5 5 0 ; Ein Wort über 1. Petr. 3,19, in: ebd., 6 2 7 - 6 2 9 .

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Ich habe große Lust, Sie Anfang April in Schönbach zu besuchen. Werden Sie da sein? Herzlich Ihr AHarnack

Nr. 72 Brief Harnacks an Rade [Berlin,] Hohenzollernstr[aße] 22. 4. 4. [18]89. Lieber Freund, Leider kann ich meinen Plan, Sie zu besuchen, den Sie freundlichst gebilligt, wieder nicht ausführen, aus Gründen, deren Anführung zu weitläufig wäre. Ich bedauere dies Fehlschlagen herzinnig; denn ich hatte mich sehr auf das Zusammensein gefreut. Aber wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, kommt vielleicht der Prophet recht bald zum Berg. Dürfen wir darauf hoffen. 1 Heute erhielt ich Ihr gedrucktes Circular. Mir scheint die Lösung der Frage davon abzuhängen, ob bei auch sehr gesteigerter Abonnentenzahl eine Erhöhung sich nicht doch nöthig machen wird. Wenn wir einen besonderen Redacteur brauchen — u[nd] das scheint auch mir nothwendig —, u[nd] die Verlagshandlung entschädigt werden muß, so, glaube ich, kommt man ohne Erhöhung des Preises nicht aus. Nun kann man ja freilich sich als Ziel 5 0 0 0 A b o n nenten] stecken u[nd] vielleicht (?) reicht dann der bisherige Preis aus. Allein diese Ziffer ist doch zu hoch gegriffen. Ich halte Folgendes für das Richtige. Der Verleger möge so freundlich sein, uns eine ungefähre Berechnung vorzulegen, wie sich die Finanzlage des Blattes bei 3 0 0 0 , 3 5 0 0 und 4 0 0 0 Ab[onnenten] gestalten würde (1 Vi Bogen wöchentlich; Redacteur, Entschädigung der Verlagshandlung). Erst dann läßt sich m. E. darüber urtheilen, was zu geschehen hat. Würde es sich z. B. herausstellen, daß auch noch 4 0 0 0 Ab[onnenten] nicht ausreichen würden, um Alles glatt zu machen, so würde ich den Preis des Blattes schon jetzt steigern. Dagegen scheint es mir nicht unbedenklich, so weiter zu arbeiten; denn nur wenn das Blatt financiell auf eigenen Füßen steht, kann es Krisen überstehen. Freilich steht dem gegenüber, daß man nur das liebt, wofür man was opfert. Aber der Ausgleich dieser Erwägungen muß doch einmal erfolgen. Also bitte ich um einen Überschlag, bevor ich mich entscheide. 2 Herzlich stets Ihr A. Harnack. Nr. 7 2 1 2

Dieser Absatz ist mit Blaustift durchgestrichen. Im J a h r 1 8 8 9 kostete die C W 1 , 5 0 M a r k vierteljährlich; 1 8 9 0 wurde der Preis auf 2 Mark vierteljährlich erhöht. — Das Redaktionsgeschäft wurde weiterhin von Rade versehen, der aber meist einen jungen Theologen als Hilfsredakteur beschäftigte.

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Nr. 73 Postkarte Rades an Harnack Schönbach 11. 6. [18]89 H[och]v[erehrter] H[err] Prozessor,] Herzli[chen] Dank für Ihren l[ieben] Glückwunsch. Ich denke, Sie sollen sich in meiner Braut nicht täuschen. Winter, so Gott will, komme ich mir ihr nach Berlin; die Hochz[ei]t ist im Herbst. 1 Prozessor] Kaft[an] können Sie sagen (aber bitte vertraulich]), daß sein neues Dogma mich beinahe um mein Glück gebracht hätte. Wirklich ists durch ein Fegfeuer gegangen, daß ich niemandem gönne. Davon wohl einmal mündlich. Die Auseinandersetzungen u[nd] ihr Abschluß ehrten doch alle Teile, u[nd] ich bin froh, daß sie der Verlob[un]g vorangingen u[nd] also nicht folgen können. 2 — Der Christlichen] W[elt] will ich mich nun wieder besser widmen; doch hat denk ich mein Vertreter 3 seine Sache gut gemacht? Abonn[enten] über 2700. Erhöh[un]g von 1. 1. [18]90 ab sicher 8 M[ark]. 4 — Daß Sie in Berl[in] florieren, höre ich mit Freude. Herzlichen] Gr[uß] an Ihre Fr[au] Gem[ahlin]; auch Kaft[an] lasse ich danken. In Treue Ihr Rade.

Nr. 74 Brief Harnacks an Rade Berlin, W. Hohenzollernstr[aßej 22. 13. Novfember] [18]89. Sehr lieber Freund! Durch einen bloßen Zufall erfuhr ich gestern — erst gestern! —, daß Sie schon seit 5 Wochen verheirathet sind, u[nd] dann bestätigte es mir die „Christliche Welt", deren ältere Nummern ich nun erst ordentlich einzusehen die Zeit fand (ich war bis Mitte October in Unteritalien). Meine Frau hatte die Notiz übersehen. 1 Es ist mir sehr schmerzlich, daß ich Ihnen zu dem Tage nicht geschrieben habe, daß ich 5 Wochen neben Ihnen her gelebt habe, ohne Nr. 73 1 R a d e hatte sich mit D o r a N a u m a n n , der Schwester Friedrich N a u m a n n s , verlobt. 2 Der Vater D o r a N a u m a n n s , Friedrich H u g o N a u m a n n , ein orthodoxer, pietistischer Lutheraner, hatte Bedenken gegen Rades theologische Ausrichtung und unterzog ihn einer eingehenden Prüfung. Vgl. Rathje, 33 f. 3 Redaktionshelfer Paul Göhre. 4 Vgl. Anm. 2 zu Nr. 72.

Nr. 74 1

Martin und D o r a R a d e hatten am 8. Oktober 1889 geheiratet. Eine Hochzeitsanzeige war erschienen in: C W 3 (1889), 816.

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zu wissen, was mit Ihnen vorgegangen ist. Nun, nehmen Sie jetzt noch meine herzlichsten Glück- u[nd] Segenswünsche: „Der Dich erhält, wie es Dir selber gefällt." 2 Dieser treffliche nur etwas unpoetische Lobpreis unseres Gottes trifft doch in dem Falle, der sich nun auch an Ihnen vollzogen hat, am schönsten zu! Gott baue Ihnen das Haus u[nd] erhalte Ihnen das Herz frisch u[nd] weit, wenn die Sorgen von anderen Seiten kommen, als Sie sie bisher gewohnt sind. Sie bleiben nicht aus; aber wie viel fester steht man auch zu Zweien! Ich muß Sie nothwendig bald sehen, u[nd] ich sinne darüber nach, wie das ausführen. Müssen Sie denn nicht bald einmal sich wieder i[n] Berlin umsehen? Hier passirt freilich auch nicht viel. Wir haben alle in Deutschland z. Z . ein vorläufiges oder besser nachläufiges unmaßgebliches öffentliches Leben; denn Bismarck lebt! Wunderbar, was ein Mann vermag. Vielleicht hat noch Niemand vor ihm in Deutschland eine solche Macht ausgeübt. Jeder weiß, daß er nur zu sorgen hat, um die Zukunft nach seinem Sinn zu gestalten — die Gegenwart ist besetzt u[nd] zwar durch einen Mann auf allen Gebieten! Was würde wohl der selige Hegel sagen? ist [sie] das die Macht der Idee des 19. Jahrh[underts] oder ist das der ganz persönliche Bismarck? Aber keine Philosophie u[nd] keine Theologie soll diese Zeilen weiter beschweren. Im Beruf geht es sehr gut; im Hause fehlt uns unser lieber kranker Junge, den wir auf einige Monate in ein stilles Pfarrhaus mit seinem Fräulein zu geben für besser gefunden haben. 3 Es war eine schwere Trennung. Meine Frau grüßt auch sehr. Wir empfehlen uns Ihrer verehrten Fr[au] Gemahlin. Immer Ihr treu ergebener A. Harnack.

Nr. 75 Postkarte Harnacks an Rade [Poststempel: Berlin, 2 3 . 1 2 . 1 8 8 9 ] Lieber Freund, Ich habe Ihnen gestern ein nachträgliches kleines Hochzeitsgeschenk zugehen lassen u[nd] bedaure nur, daß es erst jetzt kommt: die vier Typen katholischer Frömmigkeit hat mir einst zu meiner Hochzeit Ritsehl verehrt. Ich habe gedacht, daß es Sie auch deßhalb freuen wird, das Bild, wie ich, zu besitzen. Man kann sich diese Typen auch als evangelischer Christ wohl gefallen lassen: „ziehen wir einst im Seigen Chor gehts nach einer Weise," u[nd] alles, was aufrichtig ist, hat ein Recht der Existenz. Diese aber erscheinen aufrichtig; eben darum haben sie auch Ritsehl gefallen. Es ist eines der wenigen Bilder,

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Zitat aus dem Lied „Lobet den Herren" von Joachim Neander. Karl Theodosius; vgl. Anm. 2 zu Nr. 61.

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über das er sich günstig ausgesprochen hat. — Möge Ihr Haus blühen und der letzte Tag Ihrer Ehe wie der erste sein — nur schöner! Herzlich Ihr A. Harnack.

Nr. 76 Brief Rades an Harnack 1 Schönbach bei Löbau i[n] S[achsen,] 2 8 . 1 2 . 1 8 8 9 . Hochverehrter Herr Professor, Den lange hinausgeschobnen Dank für Ihren l[ieben] Br[ief] vom 13. v o r i gen] M[onats] muß ich nun verdoppeln u[nd] verdreifachen. Sie haben mir eine Weihnachtsüberraschung schönster Art bereitet u[nd] meiner Frau dazu. Das Bild war schon aufgehängt u[nd] bewundert, ehe wir aus der verspäteten Paketadresse den Schenkgeber erfuhren. Ich freute mich gleich sehr darüber, kenne u[nd] schätze ich doch das Bild vom Vatikan her, u[nd] der Stich ist sehr gut. Nun es als Ihr Geschenk zu besitzen, ist mir eine besondre Freude. Ihre liebe Karte endlich brachte mir noch Mitteilungen, die den Wert wieder noch erhöhten. Ich bin nun froh, daß ich meinen Dank bald werde mündlich besser aussprechen können. — Zum ruhigen Briefschreiben bin ich eben jetzt außer Stande, wo die während der Feiertage in Abwesenheit meines Kandidaten 2 angehäufte Arbeitslast mich ganz in Anspruch nimmt. Die Nr. I 3 ist glücklich abgeschickt; aber eine große Reihe ausführlicher Briefe bürdet mir die Uebernahme der Braunschweiger Lutherausgabe 4 auf, zu der ich mich auf langes Drängen so gut wie entschlossen habe. Es gilt zunächst Unschädlichmach[un]g des bisherigen Herausgebers, Gewinnung neuer Mitarbeiter, Feststell[un]g eines bessern Planes usw. Ist die Sache einmal im Gange, wird sie nicht viel Not machen. Auch die geplante Berliner Reise zwingt mich zu doppelter Arbeit. Ich komme mit meiner liebsten Frau, so Gott will, am 7. u[nd] reise am 11. wieder ab. Kurz genug, aber länger ist unmöglich. Wir werden doch wenigstens die Freunde sehen u[nd] sprechen können, u[nd] meine Frau kann vielleicht doch im Geleit unsrer freundlichen Wirtin Frl. Albers auch einiges von Berlin sehen. Nr. 76 1 D a s Briefpapier trägt den gedruckten Briefkopf: „ R e d a k t i o n der Christlichen Welt Pfarrer Lic. R a d e in Schönbach bei L ö b a u i. S . " 2 Paul G ö h r e war von September 1888 bis M a i 1890 der erste Redaktionshelfer R a d e s in Schönbach. Vgl. dessen Erinnerungen an diese Zeit: Die Geburtsstätte der „Christlichen Welt", in: Vierzig J a h r e , 1 5 - 1 8 . 3 Die erste N u m m e r der C W im J a h r e 1890. 4 Luthers Werke für d a s christliche H a u s , hrsg. von G . K a w e r a u , G . Buchwald, J . Köstlin, E . S c h n e i d e r und M . R a d e , 8 Bde. und 2 Ergänzungsbde., Braunschweig 1889—1892, 1905.

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Da die Zeit so knapp ist, wüßte ich gern im voraus, wann ich mit meiner Liebsten am besten zu Ihnen komme. H a b e n 5 Sie die Güte, mir das auf einer Karte zu schreiben. Wir möchten keine vergeblichen Wege machen. Ich freue mich sehr auf diese Berliner Fahrt, aus vielen Gründen. Ueber die Christliche] W[elt] u[nd] wie vieles! drängt es mich sehr mit Ihnen zu reden. Anbei ein gedrucktes Rundschreiben. Es ist so gut wie sicher, daß Grunow das Blatt mit allen Schulden u[nd] Verpflichtungen demnächst übernimmt. Er hat großes Vertrauen zu seiner Zukunft. 6 Zum neuen Jahre Gottes reichen Segen für Amt u[nd] Haus. Möchten wir Sie u[nd] Ihre l[iebe] Familie glücklich u[nd] gesund antreffen. Meine Frau grüßt u[nd] dankt mit mir herzlich. Auch Ihre verehrteste Frau wird sich von uns herzlich grüßen u[nd] mit danken lassen! Nochmals: Sie haben mir eine große Freude gemacht. Wie immer. Ihr treu u[nd] dankbar ergebener Rade.

Nr. 77 Brief Rades an Harnack 1 Schönbach bei Löbau i[n] Sfachsen,] 6. 2 . 1 8 9 0 Hochverehrter Herr Professor, Nachdem ich eben den Bericht der Kreuzz[eitung] darüber gelesen habe, erneure ich dringend die Bitte um das M[anu-]S[kript] Ihres Vortrags. Ehe die beabsichtigte Sammlung angefangen wird zu drucken, liegt in uns[erem] Bl[att] der ganze Vortrag fertig vor, u[nd] gegen den Wiederabdruck in der Samml[un]g ist ja gar kein Bedenken. 2 Mein Besuch in Berlin war mir viel wert, doch fiel mir nachträglich noch manches ein, was ich gern mit Ihnen durchgesprochen hätte. Sehr beschäftigt mich Ihr Gedanke, uns eine etwa zweimonatliche Kirchliche Rundschau zu schreiben. Wenn Sie das übernehmen u[nd] bis an Ihren oder der Zeitung Tod durchführen, bin ich mit Freuden dabei. Gerade vom hohen Standpunkte des Kirchenhistorikers geschrieben werden diese Uebersichten ebensowenig der 5 6

Die Worte „wüßte ich" bis „ H a b e n " sind mit Bleistift unterstrichen. Im Verlag Friedrich Wilhelm G r u n o w in Leipzig wurde die C W bis 1896 verlegt.

Nr. 77 1 D a s Briefpapier trägt den gedruckten Briefkopf: „Redaktion der Christlichen Welt Pfarrer Lic. R a d e in Schönbach bei L ö b a u i. S . " 2 H a r n a c k , A.: Legenden als Geschichtsquellen. Ein populärer Vortrag, in: PrJ 65 (1890), 249—265; auch abgedruckt in: R A 1, 1 — 26. — Die Neue preußische (Kreuz-)Zeitung berichtete in Nr. 60 vom 5. Februar 1890, Abendausgabe, darüber in dem Artikel: Legenden als Geschichtsquellen, 5. Vortrag in der Neuen Kirche. In der C W wurde dieser Vortrag H a r n a c k s nicht veröffentlicht.

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Langeweile wie der Einseitigkeit verfallen. Sonst vestigia terrent. Ich betrachte das also als eine Idee, deren Ausführung von Ihnen persönlich abhängt. Und ich bitte Sie herzlich, den Gedanken zum festen Plan u[nd] Versprechen zu erheben. Gut wäre es, wenn in diesem Jahrgang, spätestens also im Okt[ober] u[nd] Dezfember], der Anfang gemacht w ü r d e . 3 — Abonnenten haben wir nun wieder ziemlich] soviel wie ende [sie] [18]89, in anbetracht der Preiserhöh u n g 4 sehr erfreulicherweise. In Lichtenstein kam ich zum Sterben unsers Vaters eben noch zurecht. 5 Wann ich nun mit meiner Liebsten nach Berlin k o m m e , ist ganz ungewiß, da mich Ostern mein Kandidat verläßt u[nd] ich dann eine Zeit lang allein bleiben möchte. Später versuche ich vielleicht] Foerster zu gewinnen. 6 Sie raten doch nicht ab? Mit herzlichen] Empfehl[un]gen an Frau Prozessor] in alter Treue u[nd] Verehrung Ihr Rade

Nr. 78 Brief Rades an Harnack 1 Schönbach bei Löbau i[n] S[achsen,] 1. 4. 1890 Hochverehrter Herr Professor, Der Gedanke, Sie müßten plötzlich einmal Ihren baldigen Besuch anmelden u[nd] sich bei mir um eine Sonntagspredigt bewerben, k o m m t mir in diesen Tagen immer wieder. Da ich aber seines Zutreffens nicht sicher bin, schreibe ich lieber, was ich auf dem Herzen habe. Bismarcks Rücktritt 2 hat mich natürlich nach den verschiedensten Seiten hin tief bewegt. Im letzten freue ich mich dieser Wendung, sovieles an dieser Freude H o f f n u n g ist. Als Redakteur beschloß ich zu dem „Welt"-Ereignis zu schweigen, doch aber zeitig dafür zu sorgen, daß bei andrer Gelegenheit, sa-

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Eine von Harnack geschriebene „Kirchliche Rundschau" kam nicht zustande. Stattdessen rief Rade die „Chronik der Christlichen Welt" ins Leben, die ab 1890 über wichtige Ereignisse im kirchlich-religiösen Bereich berichtete. Vgl. Nr. 72. Rades Schwiegervater, Friedrich Hugo Naumann, der in Lichtenstein Oberpfarrer gewesen war, verstarb am 24. Januar 1890. Vgl. Rathje, 34. Erich Foerster war bis Ostern 1891 als Nachfolger Paul Göhres Kandidat und Redaktionshelfer bei Rade in Schönbach.

Nr. 78 1 Der Brief trägt den gedruckten Briefkopf: „Redaktion der Christlichen Welt Pfarrer Lic. Rade in Schönbach bei Löbau i. S." 2 Reichskanzler Otto von Bismarck war am 20. März 1890 von Kaiser Wilhelm II. entlassen worden.

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gen wir nach seinem wills Gott noch lange fernen Ableben, die C h r i s t l i c h e ] Welt das rechte Wort bereit hat. Ich beauftragte den Pfarrer Bürkner in Berka, den ich dazu für besonders geeignet halte, sich den Stoff zu einem Charakterbild Bismarcks als Christen zu sammeln. Ich bedarf aber noch ein anderes gewichtigeres Zeugnis: über Bismarck und die Kirche, vom kirchenpolitischen, kirchengeschichtlichen Standpunkte aus abgegeben. Ich k o m m e zu Ihnen mit der Bitte, diese Aufgabe zu übernehmen. Schlagen Sie mirs nicht ab. Sie mögen hundert Bedenken dagegen haben. Aber ich erwidre dagegen nur Eins: Sie können nicht anders, als sowohl privatim wie von Amts wegen sich Ihre Meinung über die genannte Sache bilden, so bleibt es eine verhältnismäßig geringe M ü h e , sie für uns niederzuschreiben. 3 Die Arbeit, mit der Sie Ihre Ernennung zum Akademiker 4 werden zu bezahlen haben, drückt mich ein wenig. Ich habe zwar noch so viel Sinn für die Wissenschaft, für Ihre Wissenschaft, um die Herausgabe der Väter unter Ihrer Leitung freudig zu begrüßen. 5 Aber Sie werden dadurch doch als Gelehrter noch mehr in Beschlag genommen auf Kosten Ihrer unmittelbar kirchlichen Thätigkeit. Ich bedaure das im allgemeinen, aber begreiflicherweise besonders im Inter[esse] der C h r i s t l i c h e n ] W[elt]. Es ist für unser Blatt nicht gut, daß die wenigen „Kapazitäten", die es mit aus der Wiege gehoben haben, ihm ihre kräftige Mitwirkung vorenthalten. Es ist aufgefallen, daß Sie Ihren Neander 6 , Ihre Legende 7 nicht in der C h r i s t l i c h e n ] W[elt] veröffentlicht haben. Ich für mein Teil begreife das, aber die Thatsache bleibt, daß man es vielfach erwartet hat u[nd] von der Nichterfüllung dieser Erwartung die C h r i s t l i c h e ] W[elt] den Nachteil hat. Eben jetzt, wo das Blatt noch in aufsteigender Bewegung ist, sollten alle starken Freunde mithelfen, daß es einen tüchtigen Ruck vorwärtskomme. M i t Schmerzen, mit großen Schmerzen las ich Ihre Zurücknahme des Gedankens der Kirchlichen Rundschau. 8 Ich beschwere mich nicht, denn ich weiß, daß Sie ernste Arbeit genug haben u[nd] uns nicht aus Teilnahmelosigkeit im Stich lassen; aber ich möchte auch nicht, daß Sie es falsch auffassen, wenn ich schweige. Für Ihren Legendenvortrag danke ich herzlich. Ich möchte Ihnen auch gern einmal etwas schicken, aber ich komme zu nichts. Von Ostern ab wird mich

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Ein Artikel von H a r n a c k über Bismarck erschien nicht; vgl. Nr. 7 9 und 80. H a r n a c k wurde 1 8 9 0 Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Vgl. dazu Z a h n - H a r n a c k , 191 ff.

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H a r n a c k leitete die von der Preußischen Akademie der Wissenschaften durchgeführte Herausgabe der griechischen Kirchenväter: Die griechischen christlichen Schriftsteller der ersten drei Jahrhunderte, hrsg. von der Kirchenväter-Commission der KöniglichPreußischen Akademie der Wissenschaften, Leipzig 1 8 9 7 ff. H a r n a c k , A.: Rede auf August Neander, gehalten zur Feier seines 100jährigen Geburtstages am 17. J a n u a r 1 8 8 9 in der Aula der Berliner Universität, in: P r J 6 3 ( 1 8 8 9 ) , 1 7 7 - 1 9 6 ; vgl. Anm. 4 zu Nr. 6 9 . H a r n a c k , A.: Legenden als Geschichtsquellen. Ein populärer Vortrag, in: P r J 6 5 ( 1 8 9 0 ) , 2 4 9 - 2 6 5 ; vgl. Anm. 2 zu Nr. 7 7 . Vgl. Nr. 7 7 .

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nun die Braunschweiger Lutherausgabe 9 sehr in Anspruch nehmen. Derenwegen bin ich 11. 12. in Halle. Am 10. hält Drews seine Hochzeit. 1 0 In der Pfingstwoche werde ich, wills Gott zum Ev[angelisch-]soz[ialen] Kongreß nach Berlin kommen. Ich habe mitunterschrieben, um der Versamml[un]g nach Kräften mit aus den Stöckerschen Bahnen herauszuhelfen. 1 1 Es wird aber schwerlich gelingen. Ihnen u[nd] Ihrer ganzen Familie ein fröhliches Osterfest! Ihrer verehrtesten Gattin besondern ergebnen Gruß! In dankbarer Verehrung stets der Ihre Rade Nr. 79 Brief Harnacks an Rade [Berlin,] Hohenzollernstr[aße] 22. 2. 4. [18]90. Lieber Freund, Sie glauben nicht, wie schwer es mir ist, wenn Sie mir vorhalten, was ich für die Christliche] W[elt] thun sollte. Aber man verlangt von mir in den ersten 1 V2 Jahren meines Berliner Aufenthalts zuviel. Vielleicht wenn Sie die 800 Seiten meines 3. Bandes 1 in der Hand haben werden, werden Sie noch deutlicher als jetzt einsehen, daß ich unfähig war, mehr zu thun. Daß wir Bücher schreiben, nicht nur Broschüren u[nd] Artikel ist doch auch etwas, u[nd] man kann kühnlich sagen: es geschieht für die „Christliche] Welt". Ich meine, es müßte darin noch viel mehr geschehen. Welch' eine Macht ist selbst ein schlechtes umfangreiches Buch durch sein bloßes Dasein! Ich erinnere an Janssen! 2 Es ist eine Macht selbst für die, welche es nicht lesen, u[nd] auch das beste Kleingewehrfeuer von Broschüren ist ohne durchschlagende Wirkung wider dasselbe. Doch Ihnen brauche ich das nicht zu sagen: aber ich 9 10 11

Vgl. Anm. 4 zu Nr. 76. Paul Drews heiratete Elisabeth Kühn, mit der er sich im Januar 1890 verlobt hatte. Der erste ESK fand vom 27. bis 29. Mai 1890 statt. Adolf Stoecker war Mitbegründer dieses Kongresses und prägte ihn in seiner Anfangszeit. Vgl. Einleitung, Kapitel 8.1.; Rathje, 101; Zahn-Harnack, 164ff.; Pollmann, K. E.: (Art.) Evangelisch-sozialer Kongreß, in: T R E Bd. X , 1982, 6 4 5 - 6 5 0 .

Nr. 79 1 Harnack, A.: Lehrbuch, Bd. III, 1890. 2 Der katholische Historiker Johannes Janssen hatte eine „Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters, 6 Bde., Freiburg i. B. 1878 — 1889" verfaßt, in der die These vertreten wurde, daß die Reformation den zerstörerischen Kräften, die im Deutschland des späten Mittelalters vorhanden gewesen seien, zum Durchbruch verholfen und so den Untergang des „alten Reiches" mitverschuldet habe. Diese These wurde von protestantischer Seite scharf kritisiert. Rade hatte sich mit Janssen in seinem Vortrag „Bedarf Luther wider Janssen der Verteidigung?" (vgl. Anm. 2 zu Nr. 25) auseinandergesetzt.

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wünschte, daß es einmal öffentlich gesagt würde, daß unsere theologischen Gesinnungsgenossen, welche zunächst u[nd] vor Allem das wissenschaftliche Gewissen unserer Kirche zu vertreten haben, fleißiger sein sollten. Wenn ein Jeder von ihnen ein großes Thema gründlich u[nd] umfassend bearbeiten würde, so würden sie mehr Gedanken haben und einen sichereren Halt: sie würden auch mehr gelten. Ich veranschlage die Gefahr, die in dem hastigen Treiben des Vielerlei heute ligt, sehr hoch. Die Leute kommen nicht über das Niveau der Broschüre, die man an einem Tage liest u[nd] in einer Woche schreibt. Was den Umstand betrifft, daß ich meine beiden Berliner Vorträge 3 nicht in der Christlichen] W[elt] habe erscheinen lassen, so kennen Sie die Gründe. Daß kurzsichtige Freunde es anders wünschten, ist mir schmeichelhaft, kann aber an der Richtigkeit meines Entschlusses nichts ändern. Ich werde die Christliche] W[elt] nicht vergessen; aber Sie werden hoffentlich auch nicht vergessen, daß ich für die Theologische] Lit[eratur-]Zeitung, für die Christliche] Welt, für unsere neue Zeitschrift 4 , für die Texte u[nd] Unters[uchungen] u[nd] für die Abhandlungen der Akademie neben meinen Hauptstudien arbeiten soll. Wenn daneben für Studenten u[nd] für heranwachsende Kinder gesorgt werden muß oder vielmehr diese von Rechtswegen Allem vorgehen, weil sie meine Nächsten sind, so werden Sie Nachsicht üben. Doch ich will nicht nur mit Widerklagen kommen. Als ich Ihren Brief gelesen hatte, setzte ich mich hin u[nd] schrieb, inmitten einer Fluth unbeantworteter Briefe, die sich in den 12 Tagen, da ich in Dorpat war, aufgehäuft haben, Beiliegendes für die „Christliche] W[elt]". Nehmen Sie es als eine kleine Abschlagszahlung. 5 Über Bismarck ufnd] die Kirche zu schreiben ist mir z. Z. ganz unmöglich, u[nd] ich möchte den Mann sehen, der das heute vermöchte. Vielleicht wird man es nach ein paar Jahren können, vielleicht auch nicht. Die Frage steht einfach so: hat Bismarck die evangelische Kirche niedergehalten, weil er richtig geurtheilt hat, daß diese Kirche als Kirche macht- u[nd] sinnlos ist u[nd] daher nur Unheil anrichten kann, wenn man sie losläßt, oder hat Bismarck durch sein Niederhalten die Kräfte dieser Kirche zur Verkümmerung gebracht? Die Antwort wird aus der Folgezeit zu entnehmen sein. Bevor diese gesprochen hat, kann man über den Mann als Kirchenpolitiker nur schwätzen. Aber selbst dann, wenn sich in den nächsten Jahren ein erfreulicher Aufschwung zeigen sollte, wäre zu fragen, ob sich nicht die Kirche selbst geändert hat, so daß er noch immer Recht behielte gegenüber der preußischen Kirche seiner Zeit. Ich fürchte in der That — er hat Recht gehabt, diese Kirche zu knebeln; denn wenn er auch manches Gute niedergehalten hat, vor wie vielem Schlimmen u[nd] Schlimmsten hat er uns bewahrt, indem er es den unwissenden, 3 4

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Vgl. Anm. 6 und 7 zu Nr. 78. Die von J. Gottschick herausgegebene „Zeitschrift für Theologie und Kirche", deren erster Jahrgang 1891 erschien. Harnack, A.: Lesefrüchte aus Ambrosius, in: CW 4 (1890), 7 6 2 - 7 6 4 .

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raffinirten, trotzigen u[nd] verzagten Kirchenpolitikern verwehrt hat, ihren „positiven" Despotismus aufzurichten! Zugleich zu binden u[nd] zu lösen aber ging über seine Kräfte; darum hat er den Kirchenteufel gebunden, wenn auch nicht auf 1000 Jahre, so doch auf 20. In Gedanken läßt sich freilich fein säuberlich ausmalen, wo er hätte Freiheit gewähren u[nd] wo er die Wucht des Staats auf die Kirche hätte legen müssen — aber man kann nur in Gedanken gerecht sein, nicht in der That. Der Thätige muß sich immer entschließen, von zwei Übeln das geringere zu wählen. Er ist jedenfalls ein Kaxextov [= Zügler, Zähmer] unserer Kirche gewesen — ob zum Guten oder zum Schlimmen, das weiß ich nicht sicher. Nicht anders beurtheile ich sein Verhältniß zur katholischen Kirche, das heißt, ich weiß nicht, ob er Recht gehabt hat u[nd] wie weit. Wir werden es nach 30 Jahren wissen, wenn wir noch leben. Gerne lasse ich mir immer von seinem persönlichen Christenstande erzählen; aber zur Beurtheilung seiner Kirchenpolitik gewinnt man nichts anderes daraus als Zurückhaltung im eigenen Urtheil. Da haben Sie meine Gedanken über Bismarck u[nd] die Kirche. Sie sehen — sie sind zu kurz für einen Aufsatz. Ich füge nur noch das Wort von ihm hinzu, das er in Bezug auf die evangelische Kirche gesprochen haben soll: „Man muß die Kirche heute nicht vom Staat, sondern von der 'Kirche' befreien."

Wollen Sie diese Zeilen etwa in der Form „aus einem Brief an den Redacteur" ohne meinen Namen in der Christlichen] Welt veröffentlichen, so habe ich nichts dagegen (ich meine von den Worten „Über Bismarck" an). Aber sie scheinen mir doch zu nichtig dafür. Vielleicht können Sie sie in einen Artikel einziehen, den Sie selber schreiben. 6 Mein Kommen zu Ihnen war ein schöner Traum. Ich war eben in Dorpat u[nd] habe den Untergang meines Vaterlands mit angesehen — eine vandalische Verwüstung 7 — u[nd] in 10 Tagen muß ich nach Cassel! Bitte empfehlen Sie mich Ihrer Frau. In alter Treue Ihr A. Harnack 6 7

Ein entsprechender Artikel erschien nicht. Harnack spielt auf die Russifizierungspolitik im Baltikum an. Bei der Thronbesteigung Zar Alexanders III. waren zum ersten Mal die Privilegien der russischen Ostseeprovinzen nicht bestätigt worden. Bald darauf setzte die Politik der Russifizierung ein: Im Jahre 1885 wurde Russisch zur alleinigen Amtssprache erklärt; ab 1887 wurde Russisch Unterrichtssprache an den Schulen, worauf die baltische Ritterschaft mit der Schließung der Gymnasien reagierte. Die Universität Dorpat verlor ihre Autonomie im November 1889; auch dort wurde nach und nach Russisch zur Unterrichtssprache. Viele deutsche Beamte wurden durch russische ersetzt; die lutherische Kirche wurde Repressalien ausgesetzt; das russische Polizeiwesen (1888) sowie die russische Gerichtsverfassung und Prozeßordnung (1889) wurden eingeführt. Vgl. Wittram, R.: Baltische Geschichte. Die Ostseelande Livland, Estland, Kurland 1 1 8 0 - 1 9 1 8 , München 1954, 216ff.

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Nr. 80 Brief Rades an Harnack 1 Schönbach bei Löbau i[n] S[achsen,] 24. 5 . 1 8 9 0 Hochverehrter Herr Professor, Sonnabend vor Pfingsten. Aber ich mag nicht länger mich hindern lassen, diesen längst beabsichtigten Brief zu schreiben. Inzwischen freilich sah ich Sie. Die Gelegenheit war zu traurig, als daß ich vieles, was ich wollte, mit Ihnen hätte besprechen können. 2 Diese Stunde, wo ich an Ihrem u[nd] Ihrer besten Gattin Schmerz persönlich teilnehmen durfte, wird mir unvergeßlich sein. Es ist ein wenig einsamer geworden in Ihrem Hause: Gott gebe, daß Sie doch morgen ein freundliches gesegnetes Pfingstfest mit einander feiern. Ich hoffe Sie Dienstag nachmittag] 5—8 bei v[on] Soden zu sehen. Er hat Sie doch zu der Vorbesprech[un]g für den Kongreß geladen; wenn nicht, so thäte ich es hiermit. Es wird manches zu beraten geben. Man hat alle Ursache, Stöcker zu mißtrauen, auch wo man sich überwindet, mit ihm gemeinsam zu arbeiten. Dieser Mann ist auch so ein Verhängnis unsrer Kirche, man weiß nicht, ob zum Segen oder zum Zorn gesetzt. 3 Ihre Worte über Bismarck wären die vollkommne Erfüllung meines Wunsches, wenn Sie dem Urteil auch die sachliche Unterlage mit auf den Weg gegeben hätten. O b ich nicht bei Gelegenheit auch ohnedas von Ihrer Erlaubnis Gebrauch mache u[nd] abdrucke, was Sie geschrieben haben, weiß ich nicht; z. B. könnte eine Schrift über Bismarcks Abgang, die mir heute zuging, eine Veranlass[un]g dazu sein, d[a]ß ich mirs so bequem mache. Aber Sie erinnern sich, daß ich überh[au]pt jetzt gar keine Notwendigkeit empfinde in der Christlichen] W[elt] über den Kirchenpolitiker Bism[arck] zu schreiben, daß meine Bitte an Sie nur auf den — hoff[en]tl[ich] noch lange nicht eintretenden — Fall seines Todes ging. Ich wage zu hoffen, daß Sie sich vielleicht doch dann entschließen, dann Ihr Votum in der Chrfistlichen] W[elt] abzugeben, u[nd] wäre Ihr Urteil noch ebenso zurückhaltend wie jetzt, nur so, d[a]ß Sie auch die nötigen historischen Perspektiven eröffneten, die Sie in Ihrem Briefe für sich behalten haben. 4 Nr. 80 1 D a s Briefpapier trägt den gedruckten Briefkopf: „Redaktion der Christlichen Welt Pfarrer Lic. R a d e in Schönbach bei L ö b a u i. S . " 2 Die Zweitälteste Tochter von Amalie und Adolf H a r n a c k , Margarete, starb a m 21. April 1890 im Alter von sieben Jahren. Vgl. Z a h n - H a r n a c k , 133, 141. 3 Der erste E S K tagte vom 27. bis 29. Mai 1890 in Berlin. Die Vorbesprechung, auf die R a d e hier hinweist, fand a m 27. Mai statt. Vgl. Bericht über die Verhandlungen des Ersten Evangelisch-sozialen Kongresses, abgehalten zu Berlin vom 27. bis zum 29. M a i 1890, Berlin 1890. 4 H a r n a c k veröffentlichte aus Anlaß des Todes Bismarcks keinen Artikel. Er hielt jedoch zu dessen 10. Todestag eine Rede „ B i s m a r c k " , veröffentlicht in: Neue Freie Presse v o m 26. Juli 1908; auch abgedruckt in: R A 3, 1 8 9 - 1 9 6 .

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So hoffe ich auch, d a ß Sie den G e d a n k e n einer „Kirchlichen R u n d s c h a u " , die ja nur etwa aller [sie] Vierteljahre zu erscheinen b r a u c h t e , nicht aus dem Sinne lassen. D e n n ich bin weit entfernt in dem modernen K a m p f e um Bedeutung u[nd] Dasein, der zwischen Buch u[nd] Z e i t u n g geführt wird, mich ohne weitres auf Seiten der Z e i t u n g zu schlagen. A b e r ich halte es für unheilvoll, d a ß unsre großen Geister vielfach sich aufs Bücherschreiben verlegen u[nd] das Artikelu[nd] Broschürenschreiben den kleinen überlassen, bin vielmehr der M e i n u n g , M ä n n e r wie Sie sollen das Eine thun u[nd] das Andre nicht lassen, u[nd] h a b e speziell bei der C h r i s t l i c h e n ] W [ e l t ] von A n f a n g an das als ihren Vorzug, als eine sichere Bürgschaft ihrer W i r k u n g angesehen, d a ß hier auch unsre besten T h e o l o g e n sich herablassen, der G e m e i n d e in schlichten Aufsätzen von Ihrem Besten zu geben. Ich weiß, daß es a m guten Willen dazu bei Ihnen nicht fehlt. Aber diesen zu stärken ist mein R e c h t u[nd] meine Pflicht, gerade w o Sie im Begriff sind eine spezifisch gelehrte Aufgabe zu übernehmen, die Ihre Kraft u[nd] Z e i t hart in Anspruch nehmen w i r d . 5 R ü h r e n d w a r mir, d [ a ] ß Sie mir im D r a n g der Arbeit u[nd] Abhaltungen Ihre Lesefrüchte aus A m b r o s i u s s c h i c k t e n . 6 Ich danke Ihnen herzlich dafür und bin gespannt auf die F o r t s e t z u n g ] . Und nun haben Sie Ihren 3. B a n d vollendet. 7 Ich beglückwünsche Sie zu dem erreichten Ziel. G o t t lege seinen Segen auf das Werk. E r wird es, wie er schon bisher gethan. Ich bin mir w o h l bewußt, was unsre Kleinarbeit gegen solche Arbeit ins G r o ß e bedeutet. Aber Sie tragen die Fahne weit u[nd] schnell v o r a n , u[nd] wir haben tüchtig zu thun, d a ß das G r o s , die G e m e i n d e auch folgt. E c k hat in seinen jüngsten T h e s e n mir aus der Seele gesprochen, wieviel eine tüchtige T h e o l o g i e heute für Kirche u[nd] Volk b e d e u t e t . 8 Und ich denke 5

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Die Herausgabe der Kirchenväter bei der Preußischen Akademie der Wissenschaften, vgl. Anm. 5 zu Nr. 78. Harnack, A.: Lesefrüchte aus Ambrosius, in: CW 4 (1890), 7 6 2 - 7 6 4 . Harnack, A.: Lehrbuch, Bd. III, 1890. Eck, S.: Die soziale Krisis und die evangelische Kirche. Dem Evangelisch-sozialen Kongreß zur Begrüßung dargeboten, in: CW 4 (1890), 4 8 6 - 4 9 5 . Auf das Thema Theologie ging Eck ebd., 492, ein: „Es ist Aufgabe der evangelischen Kirche, durch ihre Wissenschaft (Theologie) gegenüber der modern-weltlichen Wissenschaft ebenso das christliche (kirchliche) Selbstvertrauen neu zu wecken wie die Anerkennung der modernen Kultur zu erlangen — dadurch daß die Theologie den doppelten Nachweis führt, daß sie auf eignen Füßen steht (keines Anlehnens bei der weltlichen Wissenschaft bedarf), daß sie aber zugleich zum Zweck ihrer Selbsterhaltung es nicht für notwendig findet, dem Betrieb der weltlichen Wissenschaft Vorschriften zu erteilen." Es sei „Aufgabe der Kirche, ihre Wissenschaft des Glaubens, ohne jedes ängstliche Verhüllen, der Gesamtgemeinde zumal durch die Mittel der Presse darzubieten." Die Kirche solle durch ihre „wissenschaftlich geschulten Geistlichen, durch Predigt, Unterricht, Seelsorge (Vorträge) in den Gemeinden das zuversichtliche Bewußtsein [...] wecken, daß zwischen ihrem christlichen und weltlichen Denken kein Zwiespalt einzutreten oder dauernd sich einzunisten braucht, sobald jenes sich ausschließlich auf die offenbare Person Christi stützt und von daher sich von jeder Angst vor den 'Ergebnissen' oder 'Fortschritten' weltlichen Erken-

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doch, wir haben, wir bekommen Sie immer mehr. Nicht am wenigsten mit durch Ihre Glaubenskraft und Schaffensfreudigkeit. Gott erhalte, Gott stärke Ihnen beides! Jetzt, wo ich keinen cand[idatus] habe, konnte ich noch nicht ordentlich lesen, was Sie geboten haben. Wenn Foerster daist, wird das besser. 9 Lieb aber wird Ihnen sein, Sulzes beifolgenden Brief kennen zu lernen: ich brauche ihn nicht zurück. 1 0 Für meine Person vielen, vielen Dank. Dank auch für den Sonderabdruck aus den Preußischen] Jahrb[üchern]. n Damit Ihre Stimme nicht vereinzelt bleibt u[nd] verhallt, wir Freunde überh[au]pt einmütig vorgehn, müssen wir uns in Berl[in] über einige Sätze einigen. Vorlage bringe ich, da Ecks Thesen so ausarteten u[nd] ich die Zeit dazu nicht fand, keine mit. Bitte helfen Sie in B[erlin] mit dazu. Den Antisemitism[us] haben Sie mir in der Form zu scharf mißbilligt, obwohl ich kein Antisemit bin. 1 2

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nens frei macht." Die evangelische Kirche fordere, da „die soziale Krisis in der modernen Wissenschaft ihre innerste geistige Kraft besitzt, [...] von ihren höchsten rechtlichen Organen, d. h. den Obrigkeiten der Landeskirchen, daß sie allen Versuchen wehren, welche die jener allein gewachsene freie Theologie lahmlegen wollen, und daß sie auf die wissenschaftliche Fortbildung ihrer Geistlichen im Pfarramt ein verschärftes Augenmerk habe". Vgl. Anm. 6 zu Nr. 77. Der Brief E. Sulzes vom 19. Mai 1890 an Rade befindet sich im Harnack-Nachlaß (K 43). Sülze kritisierte darin Adolf Stoecker. Er warf ihm vor, durch sein Engagement im ESK seine politischen Ambitionen zu verfolgen. Lobend erwähnte Sülze Harnack und besonders den dritten Band seines „Lehrbuchs der Dogmengeschichte". Es sei das „Beste, was in der Kirche u[nd] für sie jetzt geleistet worden ist." Harnack, A.: Der Evangelisch-sociale Congreß zu Berlin, in: PrJ 65 (1890), 566—576; auch in: RA 2, 3 2 7 - 3 4 3 . Harnack schrieb ebd. 574f. (RA 2, 340f.), — mit deutlicher Stoßrichtung gegen den von Adolf Stoecker vertretenen Antisemitismus: „Es mag eine Judenfrage im nationalen und im wirtschaftlichen Sinn geben — ich weiß das nicht und bin darüber nicht competent —, aber das weiß ich, daß den Antisemitismus auf die Fahnen des evangelischen Christenthums zu schreiben, ein trauriger Skandal ist. Die, welche das gethan haben, haben freilich immer das nationale und wirthschaftliche Interesse mithinein gezogen, weil sie als Christen hätten schamroth werden müssen, wenn sie einfach im Namen des Christenthums die Parole des Antisemitismus ausgegeben und das Evangelium in einen neuen Islam verwandelt hätten. Aber wer kann leugnen, daß auch das geschehen ist? Das heißt aber die Macht, welche dazu in der Welt ist, die Gegensätze der Racen und Nationen zu mildern und Menschenliebe selbst dem Feinde gegenüber zu erwecken, in entgegengesetzter Richtung mißbrauchen. Wir dürfen voraussetzen, daß auf dem Congreß, der der Verbrüderung dienen soll und nicht der Vergiftung, kein Versuch gemacht werden wird, die 'Judenfrage' hineinzuziehen. Solle er gemacht werden, so wird eine kräftige Abwehr nicht fehlen." Vgl. aber den zumindest latenten Antisemitismus in Nr. 261. Rade selbst distanzierte sich in seinem Bericht über den Kongreß nur vorsichtig vom Antisemitismus Stoeckers: „Der Antisemitismus ist eine Reaktion des natürlichen Menschen gegenüber zweifellos vorhandenen Uebeln. Eben deshalb können und dürfen wir ihn als Christen nicht einfach mitmachen." Rade, M.: Vom Evangelisch-sozialen Kongreß zu Berlin. 4. Schlußwort, in: CW 4 (1890), 604.

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Auf baldiges Wiedersehn, wills Gott. Ihrer verehrtesten Fr[au] Gemahlin eine herzliche Empfehl[un]g. Stets Ihr getreuer Rade.

Nr. 81 Postkarte Harnacks an Rade 1 [Poststempel: Berlin, 2. 11. 1890] L[ieber] F[reund], Es hat mir auch sehr leid gethan, daß ich Sie am 23. nicht gesprochen. Die Conferenz 2 war dadurch für mich ein Hamlet ohne Hamlet. Aber jener T[a]g war für mich vielleicht der besetzteste, den ich in diesem Jahre erlebt habe. Von 8 — 9 begann ich meine Vorlesungen, eilte nach Hause u[nd] hatte von 9 V2 — 11 V2 eine Conferenz mit Seil, der i[n] der Nacht gekommen war u[nd] nun glücklich als Prozessor] d[er] Kirchengesch[ichte] nach Bonn berufen ist. Um 12 war ich auf der Conferenz bis 1 Vi Uhr. Um 2 V2 Uhr eröffnete ich mein Seminar. Um 4 Uhr hatte ich eine sehr wichtige Akademiesitzung, die bis 6 Uhr dauerte; am Abend hatte ich mit Seil noch einmal u[nd] dann mit Althoff zu sprechen. Um 8 V2 Uhr kam ich völlig plattgedrückt u[nd] zu jedem weiteren Gespräch unfähig nach Hause. Hoffentlich sehe ich Sie bald. Adresse meines Bruders 3 ist Derfflingerstr[aße] 27. Den Robertson 4 nehme ich gern wieder; bringen Sie ihn mir bei Gelegenheit mit. Beste Grüße an Förster. Herzlich Ihr A. H.

Nr. 81 1 Auf der Vorderseite der Postkarte ist mit Bleistift „2. 11.", mit Blaustift (nur schwach lesbar) „1890" vermerkt. 2 Bei dieser Konferenz handelte es sich wahrscheinlich um die erste Sitzung des erweiterten Ausschusses des ESK, dem sowohl Harnack als auch Rade angehörten. Vgl. die Notiz: Der erweiterte Ausschuß des Evangelisch-sozialen Kongresses, in: CW 4 (1890), 893f. 3 Otto Harnack lebte ab 1889 als Mitarbeiter der „Preußischen Jahrbücher" in Berlin. Er hatte vorher eine von ihm gegründete Privatrealschule in Wenden geleitet, bis er diese aufgrund der Russifizierung des Baltikums (vgl. Anm. 7 zu Nr. 79) aufgeben mußte. 4 Gemeint ist wahrscheinlich die deutsche Ausgabe der Predigten des englischen, auch in Deutschland wirksamen Predigers Frederick William Robertson, zu denen Harnack ein Vorwort schrieb: Robertson, F. W.: Religiöse Reden, Leipzig 1890, I1I-IV.

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Nr. 82 Brief Rades an Harnack 1 Schönbach b[ei] Löbau i[n] Sfachsen,] 9. 4. [18]91. Hochverehrter Herr Professor, In letzter Stunde eine eilige Anfrage. Sonnt[ag] geht Ihr Vortr[ag] 2 in die Presse. Darf ich die wenigen Worte streichen, die allein die Form des Vortrags festhalten? Es ist das bei unserm Blatte Brauch. Ausnahmen sind natürlich gestattet u[nd] Ihnen gegenüber mache ich die Konzession sehr gern. Vielleicht haben Sie Grund dafür. Der Leser wird, nach meiner Erfahrung, die Erinnerung an die erste Bestimmung des gedruckten Wortes gern entbehren. Selbstverständlich wird in der A n m e r kung] die historische Thatsache, daß hier Ihr Berliner Vortrag etc. vorliegt, ihr Recht finden müssen. 3 Zur Sache: ich bin Ihnen sehr dankbar für das Gesagte. Sie haben sich hier so warm gegeben, Ihre Meinung, Ihre Person. Ich habe aus Anregung Ihres Vortrags letzten Sonntag über die Einzelbeichte gepredigt. Zu Joh. 20,19—23.4

Bis Sonnt[ag] erreicht mich wohl ein kurzer Bescheid. Es war sehr aufopfernd von Ihnen, daß Sie meine Bitte erfüllten. Viele Werdens Ihnen danken. Zu beanstanden wüßte ich nichts. In herzlicher Ergebenheit der Ihre Rade. Foerster kehrt nun nach B [erlin] zurück, mir ein lieber Freund geworden, als Redakteur der „Chronik". Ich bitte Sie dringend, h[och]v[erehrter] H[err] Prozessor], ihn in dieser Eigenschaft, soweit Ihre Zeit u[nd] Kraft das gestattet, zu unterstützen. Unsre Chronik ist doch ein direkter Feldzug, das Nachrichtenmonopol der Luthardtschen zu entreißen. 5 Ich hoffe, wir siegen. R Nr. 82 1 Das Briefpapier trägt den gedruckten Briefkopf: „Leitung der Christlichen Welt Pfarrer Lic. Rade in Schönbach bei Löbau i. S." 2 Harnack, A.: Was wir von der römischen Kirche lernen und nicht lernen wollen, in: CW 5 (1891), 4 0 1 - 4 0 8 ; auch in: RA 2, 2 4 7 - 2 6 4 . 3 Im Text des Vortrags findet sich kein Hinweis auf seinen ursprünglichen Anlaß. In der Anm. ebd., 401, wird erklärt, daß Harnack diesen Vortrag im Januar 1891 „im Bund evangelischer Studierender zu Berlin gehalten" hatte, „frei, auf Grund weniger Notizen." 4 Harnack ging in seinem Aufsatz auf die Heilsamkeit von Schuldbekenntnissen ein. Er lehnte eine „obligatorische Ohrenbeichte" ab, (405) beklagte aber, daß die evangelischen Kirchen ein „Nichts" (ebd.) an deren Stelle gesetzt hätten und regte an, sich von der katholischen Praxis dahingehend inspirieren zu lassen, vergleichbare Gelegenheiten zu Aussprachen zu schaffen. Ebd., 405f. 5 Erich Foerster, der u. a. in Berlin studiert hatte, kehrte dorthin zurück und übernahm ab dem 15. April 1890 die Redaktion der „Chronik der Christlichen Welt". Diese war

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Nr. 83 Postkarte Harnacks an Rade 1 [Berlin,] 2 2 . 1 . 1 8 9 2 Lieber Freund, Sie werden demnächst von der Gießener Fakultät eine Zusendung erhalten, die Sie erfreuen wird. 2 Es ist mir eine besondere Freude, Ihnen als Erster dazu zu gratulieren, und ich tue es nicht ohne Vorwissen der Fakultät. Mögen Sie die wohlverdiente Ehre recht lange und zum Heile unserer Kirche und Theologie tragen. — Es ist mir eine Entbehrung, daß wir so wenig von einander hören: Aber das Leben wird immer fordernder, und hinter die Pflicht des Tages tritt so Vieles zurück, was die Sache schmücken und beleben könnte. Aber seien Sie stets der treuen Teilnahme gewiß, mit der ich jeden Schritt, den Sie tun, und jede Wendung Ihrer Feder begleite.

Nr. 84 Brief Rades an Harnack 1 Schönbach bei Löbau i[n] S[achsen,] 2 3 . 1 . [18]92. Hochverehrter Herr Professor, Herzlichen Dank für Ihren Glückwunsch, der der erste war, nachdem ich gestern abend durch einen Brief von Kattenbusch das Ereignis erfahren hatte.

1890 mit dem Ziel gegründet worden, „als unparteiisches, zuverlässiges kirchliches Nachrichtenblatt einem Bedürfnis der kirchlich Interessirten entgegen[zu]kommen, auf das die 'Christliche Welt' keine Rücksicht hat nehmen können." Rade, M.: Die „Chronik der christlichen Welt" und die „Christliche Welt", in: CW 4 (1890), 1054. - In einem vertraulichen Rundschreiben über den Anlaß zur Gründung der „Chronik der Christlichen Welt" führte Rade aus, ihm sei von verschiedenen Seiten „als ein Hindernis für die Verbreitung der 'Christlichen Welt' entgegengehalten worden, daß man die 'Allgemeine Evangelisch-Lutherische Kirchenzeitung' [die „Luthardtsche"] um der Nachrichten willen halten müsse. Darüber kam mir zum Bewußtsein, daß es ein kirchliches Nachrichtenblatt überhaupt nicht gibt, und es erschien mir des Versuches wert, denen, die ein Bedürfnis nach solchen Mitteilungen haben, eine Zusammenstellung von möglichster Unparteilichkeit, Vollständigkeit und Schnelligkeit darzubieten". Zitiert nach Rathje, 57f. Nr. 83 1 Diese Karte ist verlorengegangen. Zitat nach Rathje, 64. 2 Rade wurde von der theologischen Fakultät in Gießen auf Antrag Ferdinand Kattenbuschs ehrenhalber zum D. theol. promoviert. Vgl. das Sitzungsprotokoll der theologischen Fakultät der Universität Gießen vom 13. Januar 1882, Universitätsarchiv Gießen, Signatur Theol C 2. Die Akten des Promotionsvorgangs sind nicht mehr erhalten. Nr. 84 1 Das Briefpapier trägt den gedruckten Briefkopf: „Redaktion der Christlichen Welt Pfarrer Lic. Rade in Schönbach bei Löbau i. S."

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Ich freue mich wirklich darüber, u[nd] besonders] daß mir die Ehre noch als Pfarrer von Schönbach widerfährt. 2 Aber mehr noch bewegte mich die gleichzeitige Anfrage, ob ich event[uell] bereit sein würde, in die Nachfolge Gottschicks einzutreten. 3 Ihnen gegenüber darf ich wohl von der streng vertraulichen Mitteilung reden, Sie sind ja doch noch ein halber Gießener. Nun würde ich gerade in Gießen sehr gern die Praktische] Theol[ogie] übernehmen. Besonders darum übernähme ich überh[au]pt gern eine Professur, weil ich zur eigenen wissenschaftlichen Vertiefung und Fortbildung gar nicht mehr komme. Das wird auf die Dauer ängstlich. Aber ich habe doch rund absagen müssen in der Voraussicht, daß ich am 31. in Frankfurt gewählt werde. Daran ist kaum ein Zweifel. 4 Und nun hat man mich dort nicht nur von mehr als einer Seite geradezu durch Erklärungen gebunden, daß ich wirklich komme, wenn ich gewählt werde, sondern ich fühle mich wirklich verpflichtet hinzugehn, nachdem Positive u[nd] Liberale in Frankfurt sich auf mich geeinigt haben. Die Gemeindevertretung von F r a n k f u r t ] hat mich den Wählern einstimmig in erster Linie vorgeschlagen: das ist etwas in Fr[an]kf[urt] noch nicht Dagewesenes, denn seit Speners Zeiten ist in der dortigen Kirche u[nd] Geistlichkeit kein Friede gewesen. So gerufen gehe ich gern nach Fr[an]kf[urt], und daß es die Stadt der kirchlichen Unordnung ist, lockt mich auch, einmal weil ich da allerhand Erfahrungen machen u[nd] sodann weil ich an der geplanten Neuordnung der Dinge mitwirken kann. Aber freilich in wenigen Jahren sitze ich dort vermutlich bis über die Ohren in Arbeit. 2

3 4

Vgl. Anm. 2 zu Nr. 83. In einem Brief vom 15. Februar 1892 an den damaligen Dekan der Gießener theologischen Fakultät, Bernhard Stade (Universitätsarchiv Gießen, Signatur Theol O 8) bedankte sich Rade für diese Ehrung, die er in erster Linie aufgrund seiner Herausgebertätigkeit der C W erhalten hatte. Rade schrieb, er möchte das erhaltene Lob „ein wenig auf andre Schultern mit" abladen. „Der Herausgeber einer Zeitschrift deckt viel geistiges Gut, viel Kraft und Witz mit seinem Namen, und die Leistungen seiner Helfer rechnet unwillkürlich die Oeffentlichkeit ihm zum persönlichen Verdienst. Was die Christliche Welt geworden ist, ist sie durch die Tüchtigkeit ihrer Mitarbeiter geworden. Aber diesen ganzen großen Kreis treuer Kämpen haben Sie ehren und krönen wollen, indem Sie mich auszeichneten." Rade verstand die Ehrenpromotion als Bestätigung der Zielsetzung der CW und Anerkennung ihrer Erfolge, die jedoch zu weiterem Engagement verpflichteten. „Auch mir ist der Erfolg der Christlichen Welt ein glückverheißendes Zeichen der Zeit. Ich weiß, daß wir ungezählten Gebildeten mit unserm guten Willen einen großen Dienst gethan haben; ich weiß, daß wir an der Ueberwindung der Kluft zwischen theologischer Wissenschaft und kirchlicher Praxis wirksam mitarbeiten; ich weiß, daß die Kirchenleitungen auf unsre Stimme merken; ich weiß, daß auch die profane Presse sich bequemt, uns ein wenig Beachtung zu schenken. In alledem sehe auch ich den Beweis erbracht, daß wir auf eine Wiedergewinnung aller Schichten unsers Volks als das ernste Ziel unsrer kirchlichen Arbeit nicht verzichten dürfen. Aber was da erreicht ist, verpflichtet mehr, als es befriedigt. [...] Das Ziel liegt ebenso fern als groß vor uns." Gottschick wechselte 1893 an die Universität in Tübingen. Rade wurde zum Pfarrer an der Frankfurter Paulskirche gewählt, an der er von 1892 bis 1899 tätig war. Er trat sein Amt am 22. Mai 1892 an. Vgl. Rathje, 60ff., 95ff.

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Sollte ich am 31. nicht gewählt werden, würde ich in G[ießen] gern kandidieren. Ihnen u[nd] Ihrer verehrten Gattin habe ich noch nicht zu Ihrem Kindchen 5 gratuliert. Gott behüte es, lasse es fröhlich heranwachsen. So wie unsern Buben 6 , der ein Bild von Gesundheit ist und uns viel Freude macht. Wenn wir hier fortgehn, wird es uns noch sehr schwer werden. Sie wollten ja immer mal hier predigen? Ach Sie haben auch immer zu viel zu thun. Das geht nun so. Viel[e] herzliche Grüße u[nd] Wünsche Ihnen und Ihrer Gattin. In treuer Anhänglichkeit der Ihre Rade.

Nr. 85 Postkarte Harnacks an Rade Wilmersdorf bei Berlin, 2 8 / 6 / [ 1 8 ] 9 2 . Lieber Freund, Ich habe Ihre beiden Predigten 1 gleich durchgelesen, mich an ihnen erfreut (nur die Wendung S. 14 letzte Zeile u[nd] 15 Anfang ist nicht in meinem Sinne; es ist eine |aeTdßaai