Seit der globalen Finanzkrise im Jahr 2008 wird das Verhältnis von Markt und Moral wieder heftig diskutiert. Wie weit ge
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German Pages 590 [591] Year 2011
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Title
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Inhaltsverzeichnis
Danksagung und Widmung
Vorwort
Einleitung
1. Wirtschaften und Ethik in der Geschichte der christlichen Religion Eine Verhältnisbestimmung vom Alten Testament bis in die G
2. Das Verhältnis von Ethik und Ökonomik
3. Nachhaltiges und verantwortliches Handeln in der unternehmerischen Praxis
4. Zusammenfassung: Wirtschaften zwischen Ethik und Ökonomik
5. Verantwortliches und nachhaltiges unternehmerisches Handeln als Kommunikationsund Managementkonzept
6. Conclusio und Ausblick CSR als Kommunikationsund Managementkonzept verantwortlichen und nachhaltigen unternehmerischen Handel
7. Anhang
Kontexte. Neue Beiträge zur historischen und systematischen Theologie Begründet von Johannes Wirsching Herausgegeben von Jörg Lauster und Bernd Oberdorfer
Band 42
Christopher G. Große Wirtschaft in der Verantwortung Management und Kommunikation im Spannungsfeld zwischen Ethik und Ökonomik
Inh. Dr. Reinhilde Ruprecht e.K.
Mit 1 Abbildung, 6 Grafiken und 73 Tabellen. Die Umschlagabbildung zeigt Hochhäuser in New York City © Christopher G. Große.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Eine eBook-Ausgabe ist erhältlich unter DOI 10.2364/4619760806. © Edition Ruprecht Inh. Dr. R. Ruprecht e.K., Postfach 17 16, 37007 Göttingen – 2011 www.edition-ruprecht.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urhebergesetzes bedarf der vorherigen schriftlichen Zustimmung des Verlags. Diese ist auch erforderlich bei einer Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke nach § 52a UrhG. Satz: Christopher G. Große Layout: mm interaktiv, Dortmund Umschlaggestaltung: klartext GmbH, Göttingen Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach ISBN: 978-3-7675-7150-1
Gewidmet meinen Eltern – und der Erinnerung an Joschi
Inhaltsverzeichnis Danksagung und Widmung...........................................................11 Vorwort........................................................................................13 Einleitung.....................................................................................15 1.
Wirtschaften und Ethik in der Geschichte der christlichen Religion Eine Verhältnisbestimmung vom Alten Testament bis in die Gegenwart....................................................................................20
1.1
Mammon und Moral: Das Verhältnis von christlicher Religion und Wirtschaft..............................................................................................................20
1.2
Suche und Bestimmung eines Verhältnisses.................................................22 Wirtschaften und Ethik in der christlichen Religionsgeschichte.............22
1.2.1
Altes Testament/Judentum...............................................................................23
1.2.2
Neues Testament.................................................................................................25
1.2.3
Wirtschaft und Wirtschaftsethik in der Geschichte der christlichen Kirchen..................................................................................................................27
1.3
Wirtschaftsethische Fragestellungen in katholischer Soziallehre und evangelischer Sozialethik........................57
1.3.1
Die katholische Soziallehre...............................................................................57
1.3.2
Wirtschaftsethische Stellungnahmen des Lehramts vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart...............................................................86
1.3.3
Ausblick: Wirtschaftsethische Positionen in der katholischen Soziallehre...........................................................................................................112
1.3.4
Ökumenische Stellungnahmen zur Wirtschaftsethik...............................115
1.3.5
Die Entwicklung wirtschaftsethischer Gedanken in der evangelischen Sozialethik................................................................................122
1.3.6
Wirtschaftsethische Stellungnahmen der Evangelischen Kirche in Deutschland...................................................................................................148
1.4
Wirtschaftsethik in der christlichen Religionsgeschichte: Ein Ausblick.......................................................................................................174
8
Inhaltsverzeichnis
2.
Das Verhältnis von Ethik und Ökonomik....................................177
2.1
Auf der Suche nach Verantwortung: Wirtschaftskrise als Vertrauenskrise..................................................................................................177
2.1.1
Von der Finanz- zur globalen Wirtschaftskrise..........................................177
2.1.2
Die Wiederentdeckung der Moral.................................................................184
2.1.3
Die Krise als Vertrauenskrise.........................................................................189
2.1.4
Die Krise: Krise der Wirtschaftswissenschaften?......................................198
2.2
Entwicklung ethischer Gedanken innerhalb der Wirtschaftswissenschaften..............................................................................202
2.3
Ethik und Ökonomik: Unvereinbare Gegensätze?...................................207
2.4
Die geistesgeschichtliche Entwicklung der Ökonomik.............................210
2.5
Entwicklung des Zuordnungsverhältnisses von Ethik und Ökonomik...................................................................................................212
2.6
Unterschiedliche Wirtschaftsethikmodelle und das Selbstverständnis der Disziplin..............................................................214
2.7
Das Zuordnungsverhältnis von Ethik und Ökonomik ............................218 in der aktuellen wirtschaftsethischen Debatte............................................218
2.7.1
Ökonomik als Ausgangsparadigma..............................................................218
2.7.2
Ethik als Ausgangsparadigma.......................................................................233
2.8
Wirtschaftsethik als Brückendisziplin..........................................................260
2.9
Bedarf einer Wirtschafts- und Unternehmensethik..................................262
3.
Nachhaltiges und verantwortliches Handeln in der unternehmerischen Praxis................................................271
3.1
Unternehmerische Verantwortung als ethisches Konzept.......................271
3.1.1
Entwicklung unternehmerischer Verantwortung......................................271
3.1.2
Unternehmen als Akteure – das Problem der Verantwortung...............274
3.1.3
Ursachen für verantwortliches und nachhaltiges unternehmerisches Handeln..........................................................................294
3.2
Corporate Social Responsibility und die Umsetzung unternehmerischer Verantwortung...............................................................316
3.2.1
Corporate Social Responsibility als Management- und Kommunikationskonzept verantwortlichen und nachhaltigen unternehmerischen Handelns........................................................................316
Inhaltsverzeichnis
9
4.
Zusammenfassung: Wirtschaften zwischen Ethik und Ökonomik............................................................................351
5.
Verantwortliches und nachhaltiges unternehmerisches Handeln als Kommunikations- und Managementkonzept............371
5.1
Untersuchungsproblem, Forschungsgegenstand und Forschungsfrage........................................................................................371
5.2
Entdeckungszusammenhang: .......................................................................372 Nachhaltiges verantwortliches Handeln bei der Krones AG..................372
5.3
Untersuchungsdesign und Operationalisierung........................................379
5.3.1
Grundlagen qualitativer Forschung..............................................................381
5.3.2
Begründung und Durchführung leitfadengestützter Experteninterviews...........................................................................................382
5.3.3
Aufbau des Leitfadens.....................................................................................385
5.3.4
Vorstudie zum Interviewleitfaden (Pretest)................................................386
5.4
Organisation und Durchführung der leitfadengestützten Experteninterviews...........................................................................................389
5.4.1
Auswahl der Interviewpartner.......................................................................389
5.4.2
Organisation der leitfadengestützten Experteninterviews......................392
5.4.3
Durchführung der leitfadengestützten Experteninterviews...................393
5.5
Auswertung der leitfadengestützten Experteninterviews........................396
5.5.1
Grad der Sensibilisierung für Corporate Social Responsibility............397
5.5.2
Grad der Etablierung von Corporate Social ResponsibilityMaßnahmen.......................................................................................................400
5.5.3
Bewertung und Erwartung.............................................................................412
5.6
Quantifizierung.................................................................................................424
5.6.1
Begründung und Durchführung der Befragung.......................................424
5.6.2
Auswahl der Stichprobe..................................................................................425
5.6.3
Operationalisierung.........................................................................................427
5.6.4
Pretest und Feldphase......................................................................................433
5.6.5
Auswertung der quantitativen Befragung...................................................435
5.7
Zusammenfassung: Verantwortliches und nachhaltiges unternehmerisches Handeln als Kommunikations- und Managementkonzept bei der Krones AG.........521
10
Inhaltsverzeichnis
6.
Conclusio und Ausblick CSR als Kommunikations- und Managementkonzept verantwortlichen und nachhaltigen unternehmerischen Handelns und eine neue ethische Kommunikation......................524
7.
Anhang.......................................................................................529 Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen...............................................529 Verzeichnis der verwendeten Abkürzungen...............................................533 Verzeichnis der verwendeten Literatur........................................................535 Register...............................................................................................................585
Danksagung und Widmung An dieser Stelle möchte ich all jenen meinen Dank aussprechen, die mich bei der Entstehung dieser Arbeit und der ihr in Teilen zugrunde liegenden empirischen Studien beraten, unterstützt und auf diesem Weg begleitet haben und es mir so ermöglichten, diese Herausforderung zu bewältigen. Großen Dank möchte ich meinem Betreuer und Erstgutachter Prof. Dr. Bernd Oberdorfer aussprechen für die Möglichkeit zu dieser Arbeit und die Aufnahme in seine Reihe, seine große Unterstützung und die wertvollen wie kenntnisreichen Hinweise, aber auch für das stets offene Ohr, seine Zeit, Zuversicht, die vielen aufmunternden Worte und den Glauben an dieses interdisziplinäre Projekt. Herzlich danken möchte ich überdies meinem Zweitgutachter Prof. Dr. Erik E. Lehmann. Dank gilt ebenfalls meiner Drittgutachterin Prof. Dr. Marion Schmaus. In besonderer Weise möchte ich Herrn Prof. Dr. Thomas Schwartz für die engagierte, motivierende und vor allem fachkundige Beratung, die unzähligen nützlichen Anregungen sowie die klaren und in der Regel sehr klugen und hilfreichen Worte danken. Vor allem den vielen Freundinnen und Freunden möchte ich aufrichtig danken, die mich auf meinem Gang durch die unterschiedlichen fachlichen Methodiken kompetent und selbstlos beraten und unterstützt haben und die – noch wichtiger – während der vergangenen Jahre vielfach eine Menge Geduld mit mir hatten und mich beharrlich (wenn auch mitunter erfolglos) daran erinnerten, dass es ein Leben neben der Arbeit gibt. Stellvertretend für viele weitere, denen ich sehr verbunden bin, möchte ich an dieser Stelle Sebastian S., David, Khai, Marco, Hardy, Michael S. und Liisa, Sebastian D., Johannes, Felix, Philipp, Sebi und Vera, Jonny, Michael H. sowie meiner Cousine Bettina meinen Dank aussprechen. Dank gebührt ferner der Krones AG, die mein Forschungsvorhaben vom ersten Tag an mit allen Kräften unterstützte und so zu dessen Realisierung maßgeblich beitrug. Herzlich danken möchte ich Hermann Graf zu Castell-Rüdenhausen für die produktive Zusammenarbeit und die hervorragende Unterstützung. Danken möchte ich weiterhin dem Vorstandsvorsitzenden Volker Kronseder, dem Gesamtbetriebsratsvorsitzenden Werner Schrödl sowie dem Leiter Personalmanagement und Soziales Wolfgang Preßler für ihr Entgegenkommen und die stets unbürokratische und reibungslose Zusammenarbeit sowie allen Interviewpartnern, Befragten und allen weiteren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die mich bei meiner Arbeit unterstützten, insbesondere den Abteilungen Corporate Communications und Informationsmanagement. Weiterhin danken möchte ich meinem Arbeitgeber, dem Berufsbildungszentrum Augsburg, insbesondere der Geschäftsführerin Maria Klingelstein sowie allen Kolleginnen und Kollegen, die mir während der Erstellung meiner Dissertationsschrift eine flexible Einteilung meiner Arbeitszeit ermöglichten, ohne die ich nicht ausreichend Muße für diese Arbeit gefunden hätte.
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Danksagung und Widmung
Mein herzlicher Dank gilt zudem der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern für den in Aussicht gestellten Druckkostenzuschuss. Abschließend möchte ich den wichtigsten Menschen in meinem Leben meinen tief empfundenen Dank aussprechen: Meinen Eltern Christiane und Berthold, die viele hundert, in Teilen vermutlich sehr anstrengende Seiten kritisch Korrektur gelesen haben, mich aber vor allen Dingen in den zurückliegenden gut drei Jahrzehnten in herausragender und – dem Thema dieser Arbeit entsprechend – verantwortlicher wie nachhaltiger Weise unterstützt und gefördert haben und mich auf meinem Weg in ihrer Liebe und Großzügigkeit immer bestärkt haben. Ihnen – und der Erinnerung an Joschi, der während des Abfassens dieser Arbeit viel zu früh gegangen ist – sei meine Arbeit gewidmet.
Vorwort Mit dem Neuland ist das ja so eine Sache. Da gibt es die Einen, die immer nur davor zurückschrecken, sich mürrisch und stur an Altes und vorgeblich Bewährtes klammernd. Und da gibt es die Anderen, die viel Energie darauf verwenden, die Schnellsten, Höchsten, Weitesten zu sein und immer schon gewesen zu sein – oder es zumindest so aussehen zu lassen – die immer schon einen Schritt weiter zu sein meinen, noch bevor sie überhaupt losgegangen sind. Irgendwo zwischen Bewahrung und blindem Zukunftsglauben: so etwas wie der vermutete Königsweg. „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“, sagt Hermann Hesse. Die Suche danach: zumeist spannend. Und so ist diese Arbeit etwas Besonderes – eine Arbeit besonders vieler Spannungsfelder: zwischen wissenschaftlichen Disziplinen, wie es ein interdisziplinärer Ansatz notwendigerweise mit sich bringt, zwischen Ethik und Ökonomik, wie es Thema und Konzept dieser Arbeit notwendigerweise mit sich bringen, zwischen Wissenschaft und Wirtschaft, wie es eine von zwei unterschiedlichen Institutionen mit ihren unterschiedlichen Interessen geprägte Arbeit notwendigerweise mit sich bringt, zwischen wissenschaftlichen Methoden, wie es die wechselseitige Berücksichtigung geistes-, sozial- und wirtschaftswissenschaftlicher Vorgehensweisen notwendigerweise mit sich bringt. Diese Gegensätze zu nutzen und zu einem größeren und sinnvollen Ganzen zu verbinden, ist eine Aufgabe, die in einer einzelnen Studie zweifelsohne nicht einmal in Ansätzen gelöst werden kann. Doch der ambitionierte Studiengang Ethik der Textkulturen, in dem dieses Promotionsvorhaben seinen Anfang nahm, hat das Vortasten auf Neuland zum Programm erhoben. Und so gelingt es vielleicht, zum Nach- und Weiterdenken anzuregen und so die ersten vorsichtigen Schritte in eine gute Richtung zu machen. Das wäre mit Sicherheit auch Hesse Recht gewesen.
“When I use a word,” Humpty Dumpty said, in rather a scornful tone, “it means just what I choose it to mean – neither more nor less.” “The question is,” said Alice, “whether you can make words mean so many different things.” “The question is,” said Humpty Dumpty, “which is to be master – that’s all.” (Lewis Carroll: Through the Looking Glass, and What Alice Found There)
Wollte man aber das Lustbringende und das sittlich Gute für ein Zwingendes ausgeben, insofern es nämlich außen ist und darum Zwang ausüben soll, dann wäre alles ohne Ausnahme zwingend. Denn um dieser Dinge willen tun alle alles. Auch sind die erzwungenen und unfreien Handlungen schmerzlich, während das um der Lust und des Guten willen Getane uns Freude macht. Es ist also lächerlich, die äußeren Güter anzuklagen und nicht sich selbst, der man so leicht von Derartigem gefangen wird, lächerlich, das Gute sich selbst zuzuschreiben, das Schimpfliche aber auf Rechnung des äußeren Reizes zu setzen. Erzwungen ist und bleibt doch wessen Prinzip außen ist, wo aber das den Zwang Erduldende nichts dazu tut. (Aristoteles: Nikomachische Ethik. Drittes Buch, Erstes Kapitel)
Einleitung Anlass und Thema dieser Arbeit Die Jahrzehnte nach dem Fall des Eisernen Vorhangs brachten der internationalen Gemeinschaft durch das Zusammenwachsen der nationalen Volkswirtschaften zu einem globalen Markt einen beeindruckenden Zuwachs an Wohlstand. Dies gilt zumindest für jene Länder und Bevölkerungsgruppen, die am Globalisierungsprozess Anteil hatten. Das enorme Wachstum der globalen Wirtschaftsleistung war aber nur möglich durch eine sich parallel dazu entwickelnde Veränderung des Finanzsystems. Diese brachte eine signifikante Erhöhung der Liquidität mit sich, die im Verbund mit weltweit relativ niedrigen Zinssätzen die Investitionsbereitschaft aller Marktteilnehmer erhöhte, die wiederum in der Folge das weltweite Wachstum befeuerten. Dabei war es für die global agierenden Unternehmen anfangs kein Hindernis, dass sich die politische Zusammenarbeit nicht analog zur wirtschaftlichen Verflechtung entwickelte. Gerade zu Beginn des Globalisierungsprozesses konnten dadurch für das Wachstum wichtige steuerliche und rechtliche Vorteile ausgenutzt werden. Das verschaffte nicht nur der Ökonomie nie gekannte Handlungs- und Gestaltungsfreiheit, die sie zur Steigerung ihrer Profite verwendete, sondern führte auch zu einem mit wachsendem Wohlstand verbundenen Anwachsen persönlicher Freiheit der Marktteilnehmer. Dass sich in einer solchen Situation eine global verstehende und ebenso weltweit agierende Wirtschaft nicht bereitwillig an neue Regeln gewöhnt, sondern darauf verweisen wird, dass das globale Wachstum und der Freiheitszuwachs der an diesem Prozess Beteiligten erst durch die Überwindung bislang geltender nationaler Regeln möglich waren, verwundert dabei nicht. Doch hat nicht erst der Beinahe-Zusammenbruch des weltweiten Finanzsystems im Gefolge der Subprime-Immobilienkrise in den Vereinigten Staaten von Amerika die Dringlichkeit wirtschaftsethischen Fragens deutlich gemacht. Vielmehr hat schon die Globalisierung selbst Fragen nach der gerechten Gestaltung dieses Prozesses aufgeworfen. Dazu gehörte beispielsweise die Frage nach der Teilhabe an der Globalisierung: Wie gelingt es, die positiven Effekte weltweiter Kooperation auch den ärmsten und am wenigsten entwickelten Ländern zugute kommen zu lassen? Eine weitere Fragestellung ergab sich aus der mit der Globalisierung einhergehenden Notwendigkeit intensiver Kommunikation. Diese braucht Infrastruktur. Wer über keine Infrastruktur verfügt, ist von Information und den damit möglichen ethisch-zivilisatorischen Entwicklungspotentialen ausgeschlossen. Schließlich wirkt sich drittens globales Wirtschaften immer auch national und regional aus und wird zudem lokal erfahren. Das gilt nicht allein im Bereich der Medien (wo auch in den ärmsten Ländern der Welt in nahezu jeder Hütte ein
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Einleitung
Fernsehgerät steht). Das gilt vielmehr in besonderer Weise auch für den Bildungssektor, in dem es immer stärker auf ungehinderten Zugang zu Wissen ankommen wird. Denn nur durch Bildung wird zukünftiger Wohlstand möglich. Im Blick auf diese Herausforderungen tauchte bereits zu Beginn des Globalisierungsprozesses immer wieder das Faktum des Versagens nationaler Politik auf. Weder erreichte es die Politik vieler Länder gerade Afrikas, ihre Volkswirtschaften stärker als nur durch bloße Rohstofflieferungen an der Globalisierung zu beteiligen, noch gelang es ihr, die Armutsschere und den Bildungsnotstand in ihren Ländern wirksam zu bekämpfen. In dieser Situation offenkundigen Staatsversagens stehen die lokal präsenten aber global agierenden Unternehmen vor neuen, bisher nicht gekannten Herausforderungen. Sie sehen sich als Unternehmen in der Verantwortung gegenüber denjenigen Anspruchsgruppen, die von ihrem wirtschaftlichen Handeln direkt oder mittelbar betroffen sind. Zu diesen Anspruchsgruppen zählen aber nicht allein die gesellschaftlichen Akteure in o.g. Ländern. Eine in ihrer Bedeutung immer wichtigere Gruppe stellen vielmehr die Repräsentanten der sogenannten Non-Governmental Organizations (im Folgenden NGOs) dar. Ihre Existenz und ihr wachsender Einfluss können ohne Zweifel als Ausdruck der Tatsache verstanden werden, dass sich neben der Wirtschaft auch die Information und Kommunikation der Bürgergesellschaft stärker global vernetzen konnten, als es den politischen Akteuren möglich war. Deren Vermögen, in kürzester Zeit weltweite Aufmerksamkeit für ethisch fragwürdiges Verhalten zu erzeugen, ist gerade für global agierende Unternehmen zu einer nicht zu unterschätzenden Einflussgröße geworden. Die Fähigkeit der NGOs, im Rahmen ihres weltweiten Netzwerkes Informationen zu verbreiten, kann das Verhalten von Kunden und Investoren wesentlich beeinflussen und hat damit nicht unerhebliche Auswirkungen auf die Reputation und den Börsenwert eines Unternehmens. Damit wird ethisch richtiges Verhalten zu einem wirtschaftlich fundierten Ziel der Unternehmen. Die von den NGOs eingeforderte Übernahme unternehmerischer Verantwortung entspricht damit in gewisser Weise spiegelbildlich den Frei- und Spielräumen und der gewachsenen Handlungsmächtigkeit der Unternehmen in einem globalen Markt. Beides ist ursächlich dafür, dass weltweit agierende Unternehmen heute ihre Verantwortung zunehmend wahr- und ernst nehmen. Die ethischen Forderungen an Unternehmen sind dabei nicht selten religiös fundiert, sind es doch gerade Vertreter religiöser, vor allem kirchlicher Gruppen, die besonders stark global vernetzt sind. Von daher ergibt sich die Notwendigkeit, die ethischen Positionen kennen zu lernen, die die beiden großen christlichen Kirchen zu wirtschaftlichen Themen einnehmen, aus denen besagte Gruppen ihre Motivation und konkreten Handlungspostulate ableiten. Diese Einbindung religiös-ethischer Positionen ist dabei nicht willkürlich. Fragen der gerechten Teilhabe am Wirtschaftsgeschehen in all seinen Ausprägungen stellen sich vielmehr von seinem Anfang an. Ge-
Einleitung
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rade die beiden großen christlichen Kirchen waren in der Religionsgeschichte stets Protagonisten dieser Auseinandersetzung und sind es bis heute. Die Übernahme von Verantwortung stellt für die betroffenen Unternehmen nicht nur eine ethische Herausforderung dar, sondern wirkt sich auf alle Kommunikations- und Managementprozesse aus: Einerseits muss verantwortliches Handeln allen betroffenen Anspruchsgruppen vermittelt werden; andererseits kann nur das glaubwürdig und transparent kommuniziert werden, was in der Unternehmensorganisation auch wirklich gelebt und umgesetzt wird. Diese Aufgabe versuchen Managementkonzepte zu bewältigen, die unter dem Label einer „Corporate Social Responsibility“ (CSR) firmieren. Sie versuchen, die gesamte Wertschöpfungskette eines Unternehmens nachhaltig unter den Aspekten von ökonomischer Vernunft, ökologischer Sensibilität und gesellschaftlicher Verantwortung zu gestalten. Diese Entwicklungen nachzuzeichnen, die konkrete Umsetzung im Rahmen eines unternehmerischen Prozesses darzustellen und die Wirkungen solcher Kommunikations- und Managementkonzepte auf bestimmte unternehmerische Anspruchsgruppen zu untersuchen, ist das leitende Anliegen dieser Studie.
Aufbau und Methode dieser Arbeit Vorliegende Untersuchung gliedert sich in vier Hauptteile. In einem ersten Teil möchte die Arbeit anhand einiger Schlaglichter aus der christlichen Theologiegeschichte die Ursprünge und die Entwicklung wirtschaftsethischer Positionen in den beiden großen christlichen Kirchen exemplarisch nachzeichnen. Auf diese Weise soll gezeigt werden, dass die menschliche Kultur seit der Zeit des Alten Testamentes bis hinein in unsere Gegenwart fortwährend von der Bestimmung des Verhältnisses zwischen Wirtschaft und Ethik geprägt war, dass mit der Wirtschaft immer auch normative Fragen an wirtschaftliches Handeln einhergingen und dass mit der normativen Beurteilung des Wirtschaftens immer auch eine explizite oder zumindest implizite Zuordnung zwischen Ökonomie und Ethik vorgenommen wird. Dabei wird deutlich werden, dass Fragestellungen nach Rechtfertigung und Moral und die Herausbildung wirtschaftsethischer Gedanken seit jeher so eng mit dem wirtschaftlichen Handeln des Menschen verbunden sind, dass nachgerade von einer Zwangsläufigkeit ihrer Beziehung gesprochen werden kann. Es gibt kein wirtschaftliches Handeln ohne moralische Reflexion desselben und seiner Konsequenzen. Insbesondere die Religion setzte sich in ihrer Geschichte immer wieder mit wirtschaftlichem Handeln und daraus abgeleiteten wirtschaftsethischen Fragestellungen auseinander. Religion und Wirtschaft sind zwei Aspekte und Interaktionsweisen, die für das menschliche Zusammenleben immer schon von wesentlicher Bedeutung waren. So
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Einleitung
wie sich religiöse Deutungssysteme als Systeme der Lebensführung mit tiefgreifendem Anspruch bezüglich Ordnung und Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens beschreiben lassen, beinhaltet jede religiöse Ethik auch Stellungnahmen zum wirtschaftlichen Handeln des Menschen, das sie so gestaltet und normiert. Im zweiten Teil der Arbeit werden zunächst die Auswirkungen der Wirtschaftsund Finanzkrise und deren Konsequenzen auf die wirtschafts- und unternehmensethische Debatte näher betrachtet. Dabei soll zum einen besonderes Augenmerk auf den Vertrauensverlust wichtiger unternehmerischer Anspruchsgruppen gelegt werden, der mit der Krise einher ging. Zum anderen soll anhand einer knappen Betrachtung des Richtungs- und Methodenstreits, der im Zuge der Krise hinsichtlich der Grundlagen der Wirtschaftswissenschaften und deren gesellschaftlichem Einfluss geführt wurde, die schwierige Beziehung von Ethik und Ökonomik in der jüngeren wissenschaftlichen Diskussion in den Blick genommen werden. Im Anschluss an eine Beschreibung der Entwicklung ethischen Nachdenkens innerhalb der Wirtschaftswissenschaften soll anhand unterschiedlicher wirtschaftsethischer Modelle das Zuordnungsverhältnis der beiden Disziplinen und deren jeweiliges Selbstverständnis eingehender betrachtet werden. Im Mittelpunkt stehen dabei die einflussreiche Ökonomiktheorie Karl Homanns und seiner Schüler auf der einen und das konträre, aber nicht weniger einflussreiche Konzept einer integrativen Wirtschaftsethik Peter Ulrichs auf der anderen Seite. Aus deren Einordnung, Vergleich und Würdigung soll eine Positionsbestimmung einer Wirtschaftsethik in der Gegenwart vorgenommen und der Bedarf einer zeitgemäßen Unternehmensethik begründet werden. Der dritte Teil der Arbeit ist der CSR als Grundlage nachhaltigen und verantwortlichen unternehmerischen Handelns gewidmet. Es soll gezeigt werden, wie sich unternehmerische Verantwortung entwickelte, worauf sie sich begründet und aufgrund welcher Beweggründe Unternehmen heute verantwortlich handeln. Im Anschluss sollen gegenwärtige Konzepte unternehmerischer Verantwortungsübernahme, ihre historische Entwicklung, ihre wesentlichen Elemente und Funktionen sowie ihre gesellschaftliche Anschlussfähigkeit dargestellt werden. Auf diese Weise soll ein Anforderungsprofil für nachhaltiges und verantwortliches unternehmerisches Handeln als Ausdruck unternehmerischer Ethik entwickelt werden. Der Teil schließt mit einer Reflexion über die Anforderungen an die moderne Disziplin einer Wirtschaftsethik und die aus ihr erwachsenen Möglichkeiten. Schließlich soll im vierten Teil der vorliegenden Arbeit mittels einer zweiteiligen empirischen Erhebung untersucht werden, welche Auswirkungen die Umsetzung eines den Kriterien von Verantwortung und Nachhaltigkeit verpflichteten Management- und Kommunikationskonzepts auf die Mitarbeiter eines Unternehmens als wichtige Anspruchsgruppe hat. So sollen anhand des Spezialanlagenbauunternehmens Krones AG die Voraussetzungen für verantwortliches und nachhaltiges unternehmerisches Handeln näher betrachtet und im Zuge dessen geklärt werden, ob und inwieweit sich durch nachhaltiges und verantwortliches unterneh-
Einleitung
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merisches Handeln bei unternehmerischen Anspruchsgruppen ein Bewusstsein für die Bedeutung von Unternehmensethik und ihrer praktischen Ausformung im Rahmen einer Corporate Social Responsibility schaffen lässt. So versucht diese Arbeit, das Bewusstsein für Verantwortlichkeit von Unternehmen, wie sie von den Kirchen theologisch und ethisch grundgelegt wird, im Rahmen der wirtschaftsethischen Debatte theoretisch zu unterbauen und von der Unternehmenspraxis her zu exemplifizieren. Damit soll ein Beitrag dazu geleistet werden, „Verantwortung in der Wirtschaft“ zu stärken.
1. Wirtschaften und Ethik in der Geschichte der christlichen Religion Eine Verhältnisbestimmung vom Alten Testament bis in die Gegenwart 1.1 Mammon und Moral: Das Verhältnis von christlicher Religion und Wirtschaft „Niemand kann zwei Herren dienen: entweder er wird den einen hassen und den andern lieben, oder er wird dem einen anhangen und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon“, heißt es im Matthäus-Evangelium (Mt 6,24).1 Bereits an diesem kurzen Bibelzitat kann man erkennen, dass zwar die oben aufgeworfenen aktuellen Fragestellungen neu sein mögen, die Frage nach dem Verhältnis von theologischer Ethik und wirtschaftlichem Handeln hingegen nicht. Die Auseinandersetzung mit der Ethik des Wirtschaftens beginnt nicht erst in der Moderne. Vielmehr sind Fragestellungen nach Rechtfertigung und Moral seit jeher so eng mit dem wirtschaftlichen Handeln des Menschen verbunden, dass nachgerade von einer Zwangsläufigkeit ihrer Beziehung gesprochen werden kann: Seit der Mensch in der Neolithischen Revolution sesshaft wurde und sich die Anfänge des Wirtschaftens ausbildeten, seit sich die Arbeitsteilung entwickelte und mit ihr die Entstehung sozialer Schichten einsetzte, gehen mit der Wirtschaftsweise des Menschen immer auch Fragen nach einer richtigen Verteilung der erwirtschafteten Güter, nach arm und reich, nach Hunger und Überfluss, nach Verantwortung und Solidarität, nach der Gerechtigkeit als Frage der göttlichen Ordnung einher.2 Es gibt kein wirtschaftliches Handeln ohne moralische Reflexion desselben und seiner Konsequenzen. Religion und Wirtschaft „bezeichnen Aspekte und Interaktionsweisen, die – zusammen mit ‚Politik‘ und ‚Wissenschaft‘“ – für das Zusammenleben von Menschen wesentlich sind. Das ergibt sich, wenn man (in der Tradition des Christen-
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Vgl. ebf. Lk 16,9: „Und ich sage euch auch: Machet euch Freunde mit dem ungerechten Mammon, auf daß, wenn ihr nun darbet, sie euch aufnehmen in die ewigen Hütten.“ Vgl. zudem Lk 16,13: „Kein Knecht kann zwei Herren dienen: entweder er wird den einen hassen und den andern lieben, oder er wird dem einen anhangen und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott samt dem Mammon dienen.“ Vgl. auch Jak 4,4: „Ihr Ehebrecher und Ehebrecherinnen, wisset ihr nicht, daß der Welt Freundschaft Gottes Feindschaft ist? Wer der Welt Freund sein will, der wird Gottes Feind sein.“ Vgl. überblicksartig zu den Entwicklungen während der Neolithischen Revolution Hans-Peter Uerpmann: Von Wildbeutern zu Ackerbauern – Die Neolithische Revolution der menschlichen Subsistenz. In: Mitteilungen der Gesellschaft für Urgeschichte 16 (2007), S. 53–74.
Mammon und Moral: Das Verhältnis von christlicher Religion und Wirtschaft
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tums und prominenter – nicht aller – Strömungen westlicher Philosophie) das Menschsein als endliches, leibhaftes Personsein versteht und dieses wiederum als ursprüngliches Bestimmtsein zur interaktionellen Selbstbestimmung im Lichte von Selbstgewissheit und ihrer jeweils bildungsgeschichtlich erreichten Inhalte“.3 Die Beziehung zwischen Religion, Wirtschaft und der Anwendung ethischer Prinzipien auf das Wirtschaften ist also so alt wie das wirtschaftliche Handeln des Menschen selbst. Der Anspruch der Religionen, sich mit den elementaren moralischen Fragen menschlichen Zusammenlebens auseinanderzusetzen, ist in ihrem Wesen begründet. Religiöse Deutungssysteme lassen sich unter Betrachtung ihrer ordnungsstrukturierenden Leistungen als „Systeme der Lebensführung verstehen, die die Lebensvollzüge der in ihnen vergemeinschafteten Menschen (zumeist) tiefgreifend prägen“.4 Da sie sich auf das „‚Ganze‘ der Wirklichkeit“ beziehen, ist es jeder religiösen Ethik immanent, „einen Anspruch auf den ‚ganzen Menschen‘ zu erheben und alle Felder menschlichen Handelns normieren zu wollen“. 5 Jede religiöse Ethik beinhaltet so notwendigerweise „auch eine Stellungnahme zum wirtschaftlichen Handeln des Menschen“.6 Da alle religiös fundierten Ethiken Aussagen über das Weltverhältnis machen, tragen sie – auch ohne explizite oder spezifische Aussagen zu wirtschaftlichen Aktivitäten vorzunehmen – maßgeblich zur „Normierung und Gestaltung des ökonomischen Handelns der Gläubigen“ bei.7 Das Verhältnis von Religion und Wirtschaft lässt sich also überhaupt erst durch den Einbezug der Ethik beschreiben. Unter Wirtschaft oder Ökonomie versteht man „die Erzeugung“, den „Austausch und“ den „Konsum von Gütern“8 und damit gemeinhin dasjenige, „was der planvollen Deckung des materiellen Bedarfs einzelner oder von Gruppen dient“.9 Die Wirtschaftsethik fügt wirtschaftlichem Handeln die Dimension des Sittengesetzes hinzu.10 Beide Begriffe sind bezogen auf die Religion deshalb so eng miteinander verbunden, weil sich „eine bestimmte Wirtschaftsform überhaupt erst aus den Voraussetzungen einer religiös geprägten Kultur“ herausbildet.11 Treffen unterschiedliche Wirtschaftsformen aufeinander, so verändern sich entweder auch die Kulturen und mit ihnen ihre Religionen, oder aber die Wirtschaftsordnungen 3
Eilert Herms: Die Bedeutung der Religion für die Fortentwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft. In: Handbuch der Wirtschaftsethik. Hg. im Auftrag der Görres-Gesellschaft v. Wilhelm Korff u.a. Bd. 1: Verhältnisbestimmung von Wirtschaft und Ethik. Gütersloh 1999, S. 669–683, 669. 4 Friedrich Wilhelm Graf: Die geschichtliche Rolle von Religion im Modernisierungsprozess der Wirtschaft. In: Handbuch der Wirtschaftsethik I, S. 567–596, 567. 5 Graf: Die geschichtliche Rolle, S. 568. 6 Graf: Die geschichtliche Rolle, S. 568. 7 Graf: Die geschichtliche Rolle, S. 568. 8 Ludwig Beutin: Einführung in die Wirtschaftsgeschichte. Köln u.a. 1958, S. 3. 9 Wassilios Klein: Wirtschaft/Wirtschaftsethik I. Religionsgeschichtlich. In: Theologische Realenzyklopädie [TRE]. Studienausgabe. Teil III. Bd. 36. Berlin u.a. 2006, S. 130–135, 130. 10 Vgl. Klein: Wirtschaftsethik. Religionsgeschichtlich, S. 130. 11 Klein: Wirtschaftsethik. Religionsgeschichtlich, S. 130.
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Wirtschaften und Ethik in der Geschichte der christlichen Religion
werden von den durch Kultur und Religion geprägten jeweiligen Wirtschaftsethiken umgeformt.12 Dieses Verhältnis hat aber Grenzen: So gibt es keine kulturübergreifende oder global gültige Wirtschaftsethik. In der Moderne beschäftigte sich vor allem der Nationalökonom Max Weber mit den Wechselwirkungen zwischen einer religiös geprägten Wirtschaftsethik und der Wirtschaftsform eines Kulturraums (vgl. ausführlicher dazu unten). Beispielhaft lässt sich die enge Korrelation von religiös geprägter Kultur und Wirtschaftsform am Zeitalter der Aufklärung erkennen, als in einem Kulturraum mit der fundamentalen Veränderung der Religiosität zugleich eine fundamentale Veränderung der Wirtschaftsform einherging. Es sei nicht verschwiegen, dass dieser Prozess auch dafür verantwortlich ist, dass heutzutage überhaupt im Wesentlichen frei von religiösen Grundparadigmen Wirtschaftsethik betrieben werden kann.
1.2 Suche und Bestimmung eines Verhältnisses Wirtschaften und Ethik in der christlichen Religionsgeschichte Die großen christlichen Kirchen weisen heute keine einheitliche Konzeption des Zusammenhangs zwischen religiösem Glauben, Ethik und ökonomischem Handeln auf, wobei vor allem die Bedeutung ethischer Theoriebildung von ihnen sehr unterschiedlich gewichtet wird.13 Individuum, Kirche und politische Gemeinschaft erfahren verschiedenartige Zuordnungen und dementsprechend differieren auch die Leitbilder tugendhaften, christlichen Handelns. So besteht weder ökumenischer Konsens hinsichtlich der theologischen Auslegung der kapitalistischen Ökonomie der Moderne noch in den ethischen Stellungnahmen zu dieser Wirtschaftsform und in der Beurteilung ihrer Auswirkungen auf die Gesellschaft. In einem knappen kursorischen Überblick soll im Folgenden die Entwicklung des Verhältnisses von christlicher Religion, Wirtschaft und Ethik beschrieben werden. Die deskriptive Darstellung folgt der kultur- und geistesgeschichtlichen Entwicklung einer christlichen Wirtschaftsethik von ihren biblischen Anfängen über ein aufgeklärtes, von einem rationalen Menschheitsethos geprägtes ethisches Fragen an Wirtschaft und wirtschaftliches Handeln, die Herausbildung einer eigenständigen katholischen Soziallehre und einer protestantischen Sozialethik bis zu den Stellungnahmen der beiden großen christlichen Kirchen in der Gegenwart. Auf diese Weise soll anhand einiger Schlaglichter aus der Religions- und Kirchengeschichte des Christentums exemplarisch verdeutlicht werden, in welcher Weise
12 Vgl. hierzu und zum Folgenden Klein: Wirtschaftsethik. Religionsgeschichtlich, S. 130. 13 Vgl. dazu und zum Folgenden Friedrich Wilhelm Graf: Der Stellenwert der Religion im Globalisierungsprozess moderner Wirtschaft. Christentum. In: Handbuch der Wirtschaftsethik I, S. 627–669, 628f.
Suche und Bestimmung eines Verhältnisses
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die Entwicklung unserer Kultur von alttestamentarischer Zeit bis in die Gegenwart auch stets von der Suche und Bestimmung des Verhältnisses Wirtschaft und Ethik bestimmt war. Die Darstellung muss dabei auf grobe Entwicklungslinien und wenige Beispiele beschränkt bleiben und kann keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Eine eingehende Diskussion oder Würdigung der dazugehörigen wissenschaftlichen Debatten ist im Rahmen dieser Studie nicht zu leisten. Bis auf eine knappe Darstellung der jüdischen Grundlagen einer alttestamentarischen Wirtschaftsethik müssen die übrigen Religionen dabei unberücksichtigt bleiben. 1.2.1 Altes Testament/Judentum Bereits jüdische Wirtschaft und Wirtschaftspraxis wurden von Beginn an stark von den Grundlagen der Religion bestimmt14, wie anhand einiger knapper Beispiele verdeutlicht werden soll.15 Das Hebräische kennt keinen Begriff für Wirtschaft und die damit einhergehenden Phänomene. Unter Wirtschaft wird nicht nur alle Beschäftigung verstanden, die dem Lebensunterhalt dient, sondern auch der Handel des Einzelnen oder der Gemeinschaft, der mit anderen getätigt wird.16 Eine starke Bindung an die Landwirtschaft, die aus der Bronzezeit übernommen wurde, ist für die israelische Geschichte von Beginn an und während der gesamten ersten Hälfte des ersten vorchristlichen Jahrtausends bestimmend, zu einer Handelstätigkeit kommt es erst mit dem Beginn der Überschussproduktion. Erst in hellenistischer Zeit spielt die Geldwirtschaft eine entscheidende Rolle und löst die Naturalwirtschaft vollständig ab. Das Königtum brachte neben entscheidenden Veränderungen in der Sozialstruktur vor allem eine Reihe wirtschaftlicher Impulse: Aufgrund seiner wirtschaftlichen Stärke verfügte das Königshaus zwar über eigenen Grundbesitz zur Selbstversorgung, doch musste die Wirtschaft des Landes den Unterhalt des Heeres und die Versorgung des Hofstaates tragen.17 Der große Aufwand, mit dem König Salomo Fernhandel und Bautätigkeit betrieb, belastete das Volk zusätzlich. Ein Teil der Wirtschaftseinkommen musste vom Volk an den König abgeliefert wer-
14 Vgl. Günter Stemberger: Wirtschaft/Wirtschaftsethik III. Judentum. In: TRE 36, S. 140–144, 140. 15 Auf eine ausführlichere Darstellung der Wirtschaft im antiken Judentum und die Entstehung und historische Entwicklung einer jüdischen Wirtschaftsethik muss im Rahmen dieser Arbeit verzichtet werden. Vgl. dazu grundlegend bspw. Arye Ben-David: Talmudische Ökonomie. Die Wirtschaft des jüdischen Palästina zur Zeit des Mischna und des Talmud. Hildesheim 1974. Vgl. zudem Georg Caro: Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Juden im Mittelalter und der Neuzeit. 2 Bde. Leipzig 1908–1920. Vgl. ebf. Jack Pastor: Land and Economy in Ancient Palestine. London 1997. Vgl. auch Jacob Neusner: The Economics of the Mishnah. Chicago, Ill. 1989. Dort finden sich überdies weitere Belege. 16 Vgl. dazu und zum Nachfolgenden Volkmar Fritz: Wirtschaft/Wirtschaftsethik II. Altes Testament. In: TRE 36, S. 136–140, 136. 17 Vgl. Fritz: Wirtschaftsethik II. Altes Testament, S. 137.
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den.18 Indem die Belastungen auf die gesamte Bevölkerung verteilt wurden, beschleunigte das Königtum die soziale Differenzierung in eine schmale Elite aus Großgrundbesitzern, die ihren Besitz über Generationen sichern und vermehren konnte, und die zahlenmäßig starke und verhältnismäßig homogene Klasse von Bauern mit kleinem Familienbesitz.19 Die Grundlinien idealer Wirtschaft im antiken Judentum werden von der Tora vorgegeben: Israel wird das Land von Gott gegeben, der es als Basis einer egalitären Gesellschaft gleichmäßig an alle Stämme und Familien verteilen lässt.20 Entstehende Armut, Ungleichheit und Schuldknechtschaft von Israeliten sollten regelmäßig wieder durch Sabbat- und Jobeljahr (Lev 25,2–31) behoben werden – obgleich ungewiss ist, inwieweit dieses Ideal tatsächlich praktisch zur Umsetzung gelangte. Durch das Zinsverbot unter Israeliten sollte eine völlige Verarmung vermieden werden (Ex 22,24–26). Die Finanzierung von Tempel und Gemeinwesen sowie der Unterhalt der ursprünglich landlosen Priester erfolgte durch den ersten und zweiten Zehnt sowie Abgaben für die Priester (Hebe) als Abgaben vom Bodenertrag.21 Die Nachlese – was am Rande des Feldes wächst oder bei der Ernste vergessen wird – gehörte den Armen.22 Außerdem kam alles, was im Sabbatjahr von selbst wächst, allen gleichermaßen zu. Zwar wurde diese Idealordnung nur sehr beschränkt eingehalten, doch kam es immer wieder zu Bemühungen ihrer radikalen Anwendung.
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Vgl. Fritz: Wirtschaftsethik II. Altes Testament, S. 137f. Vgl. Fritz: Wirtschaftsethik II. Altes Testament, S. 139. Vgl. dazu und zum Folgenden Stemberger: Wirtschaftsethik III. Judentum, S. 140. Vgl. zum ersten und zweiten Zehnt Clemens Leonhardt: Zehnt II. Judentum. In: TRE 36, S. 490– 495, bes. 492ff. Im rabbinischen Judentum wird besonders aus den alttestamentarischen Quellen ein umfangreiches System des Umgangs mit den Produkten des Landes entwickelt, in welches auch die Gesetze des Zehnten eingefügt sind. (Vgl. dazu und zum Folgenden ebd., S. 492f.) Während der Zeit des Zweiten Tempels verpflichten die Gebote über die Abgaben der Produzenten. Nach der Zerstörung des Tempels entwickeln die rabbinischen Gelehrten das Abgabensystem neu und verlegen einen Teil der Verantwortung für die Entrichtung der Abgaben auf die Konsumenten. Als „Teil eines umfangreichen Systems des Umgangs mit den Früchten des Landes Israels“ ermöglicht der rabbinische Zehnt eine „Kontinuität der Präsenz des Heiligen in Land und Gesellschaft […], bzw. die Kommunikation zwischen Gott und seinem Volk durch das Land und seine Gaben“, wodurch die in ihrem vollen Umfang für eine ideale Zukunft konstruierten Gesetze der rabbinischen Literatur praktische Bedeutung erhielten. (Ebd., S. 493.) Leonhardt erläutert weiter, dass die Talmudim „beiläufig das Repertoire der Gesetze“ systematisierten: „In den ersten sechs Jahren des Sabbatjahreszyklus (weil im Sabbatjahr selbst kein Privatbesitz an Bodenerzeugnissen entsteht) ist der erste Zehnt an die Leviten zu entrichten und dazu im ersten, zweiten, vierten und fünften Jahr der zweite Zehnt zu deklarieren. Im dritten und sechsten Jahr tritt der Armenzehnt an die Stelle des zweiten Zehnten.“ (Ebd., S. 493.) Auf die unterschiedliche Auslegung und die Diskussion der alttestamentarischen Überlieferung kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Vgl. dazu ebd., S. 490–495 sowie Corinna Körting: Zehnt I. Altes und Neues Testament. In: TRE 36, S. 488–490, bes. 489. Dort finden sich ebenfalls zahlreiche weitere Belege. 22 Vgl. dazu und zum Folgenden Stemberger: Wirtschaftsethik III. Judentum, S. 140f. Dort finden sich auch entsprechende Belege.
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1.2.2 Neues Testament Zwar bietet das Neue Testament keine geschlossene Wirtschaftsethik, doch lassen sich einige grundlegende Charakteristika benennen: Als Geschöpf Gottes hat der Mensch ein Anrecht auf Befriedigung seiner materiellen und immateriellen Grundbedürfnisse.23 Von wesentlicher Bedeutung ist ferner eine soziale Mindestabsicherung in Form von Armenpflege durch die Gemeinschaft. Privateigentum und Vermögensverwaltung werden vorausgesetzt, unlauterer Erwerb hingegen bemängelt, Zinsnahme eingeschränkt und die dem Reichtum innewohnende Gefahr der Lebens- und Zukunftssicherung auf Kosten anderer im Lichte der Gottesfrage kritisiert. Die Gottesfrage stellt sich im Umgang mit Vermögen dahingehend, dass Geld zum Götzen und „Mammon“ werden kann (Mt 6,19–34). Von den Reichen ist eine besonders am Leben der Untergebenen ausgerichtete Vermögensverwaltung gefordert. In verantwortlicher Haushalterschaft und Kollekten drücken sich der wechselseitige Ausgleich und die Einheit der Kirche aus. Güter- und Konsumgemeinschaft bilden zwar das Ideal, nicht aber die Norm. Begriffsgeschichtlich geht Ökonomie zurück auf die Regeln, das Gesetz, die Lebensordnung (nómos) der Hausgemeinschaft (oikos) als Mittelpunkt des Lebens.24 Gottes Ökonomie (oikonomía) umfasst seinen Ratschluss, seinen Heilsplan (Eph 1,9; 3,9; I Tim 1,4), im übertragenen Sinn das Amt als Haushalter Gottes (I Kor 4,1ff.). Der Begriff oikonómos findet im Neuen Testament – teils in metaphorischer Übertragung – für den Verwalter (Lk 12,42; 16,1 und weitere), den Pfleger (Gal 4,2) sowie den Stadtkämmerer (Röm 16,23) Verwendung. Wirtschaftliches Handeln taucht dort nie abstrakt, sondern stets konkret als Teil von Subsistenz-, Waren-, Handels- und Geldwirtschaft auf.25 Formen der frühjüdischen Barmherzigkeit und Fürsorge für Arme findet sich vielfältig im Neuen Testament. Witwen, Waisen, Fremde und kleine Leute unterstehen dem besonderen Schutz Gottes und seiner Gemeinschaft, weshalb Sorge für den heutigen Tag (Mt 6,11) und Almosen-Gebet (Mt 6,1–4) Teil allgemeiner Verantwortung sind.26 Der Kreis der Jünger Jesu Christi rekrutierte sich aus einfachen Leuten, die auf Grundlage von Subsistenzwirtschaft in Familienverbänden, mit der Unterstützung
23 Vgl. dazu und zum Folgenden Jörg Baumgarten: Wirtschaftsethik IV. Neues Testament. In: TRE 36, S. 144–147, 146. Vgl. ferner grundlegend zur Geschichte der Alten Kirche, zur Entwicklung des christlichen Glaubens und zu den frühen Überlieferungen Heinrich Kraft: Einführung in die Patrologie. Darmstadt 1991 (= Die Theologie); Karl Suso Frank: Lehrbuch der Geschichte der Alten Kirche. 2., verbesserte Aufl. Paderborn u.a. 1997; Lexikon der antiken christlichen Literatur. Hg. v. Sigmar Göpp u. Wilhelm Geerlings. Freiburg i.Br. u.a. 1998; Berthold Altaner/Alfred Stuiber: Patrologie. Leben, Schriften und Lehre der Kirchenväter. 7., völlig neubearb. Aufl. Freiburg i.Br. 1966. 24 Vgl. dazu und zum Folgenden Baumgarten: Wirtschaftsethik IV. Neues Testament, S. 144f. 25 Vgl. Baumgarten: Wirtschaftsethik IV. Neues Testament, S. 145. 26 Vgl. Baumgarten: Wirtschaftsethik IV. Neues Testament, S. 145.
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durch örtliche Gastfreundschaft (Mk 6,10; Mt 10,5ff.; Lk 9,4) oder reichere Frauen (Lk 8,2–3) sowie durch eine gemeinsame Kasse (Joh 12,6; 13,29) in einer freiwilligen relativen Armut lebten, die aber eine Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse zuließ (Mt 25,31ff.).27 Symbolische Mitte der Bewegung war das geteilte Brot. Ihre Teilnahme am Wirtschaftsleben umfasste das Spenden von Almosen (Mt 6,1ff; Lk 11,41; 12;33), das Zahlen eines Mindestlohns für eine durchschnittliche Familie (Mt 20,1ff.), ehrlicher Handel auf dem Markt und das Entrichten von Zöllen sowie staatlichen bzw. kaiserlichen Abgaben und Tempelsteuern (Mk 12,13ff.; Mt 17,24ff.). Entsprechend scharf kritisiert Jesus den als ungerecht empfundenen Wirtschaftsbetrieb des Tempels (Mk 11,15). Privateigentum galt indes als selbstverständlich, ebenso wie der Umgang mit relativ wohlhabenden Menschen, und auch die Zinsnahme und -zahlung wird nicht pauschal kritisiert oder verurteilt (Mt 25,27). Soziales und wirtschaftliches Handeln der Jesusbewegung greifen die jüdische Tradition der „Option für die Armen“ auf, die diesen einen Rechtsanspruch auf die Absicherung ihrer Grundbedürfnisse gewährte und Armenpflege und den Erlass von Schulden als wesentliche Teile sozialer Verantwortung in der Solidargemeinschaft begriff. In der Nachfolge der Jesusbewegung lebten Apostel, Propheten und Lehrer auf der Grundlage traditioneller Subsistenz-, Handels- und Geldwirtschaft.28 Sie kauften oder erhielten Lebensmittel, nahmen Gastfreundschaft in Anspruch, waren erwerbstätig und hatten an ihren Wirkungsstätten Anspruch auf Unterkunft, Verpflegung oder eine Vergütung zur Überlebenssicherung (II Kor 11,7f.; Phil 4,14ff.). Privateigentum und Klein-Darlehen sowie Zinsgewährung wurden vorausgesetzt (Mt 25,27), aber zugleich auch eingeschränkt (Lk 6,34f.). Wirtschaften war dabei stets an den Grundbedürfnissen orientiert, was später zum Ideal bedarfsorientierter Güter-, Konsum- und Lebensgemeinschaft im Spannungsfeld zwischen Privatund Gemeineigentum (Apg. 2,42ff.; 4,32–37; 5,1f.) wurde. Deutliche Kritik erfährt besonders unlauteres Wirtschaften (überhöhte Zölle (Lk 19,1ff.), Hab- und Geldgier (Lk 12,13–15; Röm 1,29; I Thess 2,5; Eph 5,3.5; II Tim 3,2; Hebr 13,3) sowie Betrug (Apg. 5,1ff.; I Thess 4,6)), nicht indes Reichtum an sich (Lk 8,3; Röm 16,23), wohl aber das Verhalten von Reichen in einigen Fällen (Mt 19,16ff.; Lk 12,16–21).29 Die Gottesfrage wird immer dann aufgeworfen, wenn Zukunftssicherung auf Geld oder Vermögen statt auf Gott ausgerichtet wurde (Mt 6,19ff.), da in solchen Fällen der Glaube auf dem Spiel stand.30 Vermögensverwaltung galt als ungerecht, wenn die Überlebensfähigkeit des Schuldners nicht Beachtung fand. Dem teilweisen oder vollständigen Erlass von Schulden wurde eine wesentliche, gar lebensrettende Funktion zuerkannt, die Verelendung verhindern sollte (Lk 27 Vgl. dazu und zum Folgenden Baumgarten: Wirtschaftsethik IV. Neues Testament, S. 145. 28 Vgl. dazu und zum Folgenden Baumgarten: Wirtschaftsethik IV. Neues Testament, S. 145f. 29 Vgl. grundlegend Martin Hengel: Eigentum und Reichtum in der frühen Kirche. Aspekte einer frühchristlichen Sozialgeschichte. Stuttgart 1973. 30 Vgl. dazu und zum Folgenden Baumgarten: Wirtschaftsethik IV. Neues Testament, S. 146.
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7,41–43; Lk 16,1–8; Mt 18,21–35). Dabei findet sich eine Reihe versuchter Anknüpfungen von Grundstücks- und Geldwirtschaft an die Traditionen von Sabbatund Jobeljahr. Renditeorientierung waren Jesusbewegung und Urchristentum gänzlich fremd. Kollekten (I Kor 16,1; 16;3; Röm 15,26; Apg. 12,25ff.) waren teilendes Opfer aller, bei dem jeder nach dem Maß seiner Vermögenslage zu geben (Apg. 11,29; Hebr 13,16) hatte. Sie drückten kirchliche Haushalterschaft aus (I Petr 4,10), während die jüdische Tradition des Zehnten kaum Anwendung fand. Die Jerusalemer Kollekte (II Kor 8,9ff.) diente dem sozialen Ausgleich zwischen den wirtschaftlich unterschiedlich starken Gemeinden und war insofern Ausdruck ökumenischer Mitverantwortung und des eschatologischen Bewusstseins der frühen Christen.31 1.2.3 Wirtschaft und Wirtschaftsethik in der Geschichte der christlichen Kirchen 1.2.3.1
Alte Kirche
Christlicher Glaube und Kirche spielten in der Folge eine wichtige Rolle für die Erzeugung, den Austausch und den Konsum von Gütern, und nahmen so nicht nur Einfluss auf die Entwicklung von Theorien zum Verständnis des Wirtschaftsgeschehens, sondern auch auf die daraus gezogenen sittlich-moralischen Konsequenzen, was im Folgenden anhand einiger Beispiele und Entwicklungslinien grob skizziert werden soll. Betrachtet man das Verhältnis von Religion und Wirtschaft und die Herausbildung wirtschaftsethischer Gedanken in der Kirchengeschichte, stellt man fest, dass die Forschungslage insgesamt wenig befriedigend ausfällt: Viele Einführungen und Überblicksdarstellungen zur antiken bzw. spätantiken Wirtschaft widmen sich dem Christentum nur am Rande und nehmen mögliche Interdependenzen zwischen der Christianisierung des Reiches und der Entwicklung der Wirtschaft kaum in den Blick.32 Nur wenige Darstellungen der Geschichte der Alten Kirche setzen sich – wie beispielsweise die patristische Literatur mit dem Zinsverbot – überhaupt mit entsprechenden Fragestellungen auseinander. In vorkonstantinischer Zeit stellte sich angesichts des Vordringens des Christentums in nahezu alle Regionen des Römischen Reichs, über das Reich hinaus wie auch in weite Teile der Gesellschaft rasch die Frage nach der Teilnahme am wirtschaftlichen Leben.33 Dabei ließ sich im Zuge der zunehmenden Ausbreitung
31 Vgl. Baumgarten: Wirtschaftsethik IV. Neues Testament, S. 146. 32 Vgl. dazu wie zum Folgenden Wolfram Kinzig: Wirtschaft/Wirtschaftsethik V/1. Kirchengeschichtlich. Alte Kirche. In: TRE 36, S. 147–153, 147f. Dort finden sich auch zahlreiche Belege. 33 Vgl. dazu und zum Folgenden Kinzig: Wirtschaftsethik V/1. Kirchengeschichtlich. Alte Kirche, S. 148.
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des Christentums und der wachsenden Verknüpfung mit traditionellen paganen Strukturen die paulinische Forderung nach wirtschaftlicher Autarkie der christlichen Gemeinden (I Thess 4,11f.) nur noch bedingt aufrecht erhalten. Die frühchristlichen Gemeinden zeichneten sich durch eine hohe soziale Kohäsion aus und waren so organisiert, dass aus vorhandenen beruflichen Qualifikationen der Mitglieder möglichst großer Nutzen erzielt werden konnte. Konvertiten, die in ihren alten Berufen etwa aufgrund von Nähe zu traditionellen Kulten nicht weiter tätig sein konnten, mussten sich in anderer sinnvoller Weise einbringen, wobei man stets bemüht war, Gemeindemitglieder entsprechend ihrer Fähigkeiten einzusetzen, um die Belastungen für die Gemeindekasse, die die Armenfürsorge und den Unterhalt der Kleriker zu tragen hatte, gering zu halten.34 In dieser Hochschätzung der Arbeit unterschied sich die Alte Kirche wesentlich von ihrer nichtchristlichen Umwelt, in der körperliche Arbeit, Handel und Handwerk Zeichen niederer sozialer Herkunft waren. Von ihrer Umwelt wurden die Christen dabei durchaus als ökonomische Bedrohung wahrgenommen, besonders wenn ihr Handeln Wirtschaftszweige betraf, die in unmittelbarer Beziehung mit den traditionellen Kulten standen. Die wachsende gesellschaftliche Diversifizierung des vorkonstantinischen Christentums und die zunehmende theologische Legitimation von Geld und Besitz machten auch die Integration wohlhabender Christen möglich, die nun in christianisierter Form als Patrone fungieren konnten. Auf Handel und Geldgeschäfte des Klerus reagierte die Synode von Elvira schon im Jahr 306 mit einem Handelsverbot für Kleriker und dem Verbot von Zinsgeschäften für Kleriker und Laien. In Folge der Konstantinischen Wende breitete sich das Christentum mit großer Geschwindigkeit aus und kontrollierte rasch das Wirtschaftsleben im Römischen Reich – unter anderem den Geldhandel, an dem sich auch Kleriker trotz synodaler Verbote weiterhin beteiligten.35 Insgesamt passte sich die kirchliche Hierarchie den ökonomischen Rahmenbedingungen der spätantiken Gesellschaft an. Vorchristliche Sozialstrukturen wie das Klientelwesen hatten nicht nur weiter Bestand, auch gut betuchte Bischöfe übernahmen gegenüber mittellosen Bevölkerungsschichten die Funktionen paganer Patrone mit allen damit einhergehenden ökonomischen Konsequenzen. Vermehrt forderten Bischöfe nun auch, die der gesellschaftlichen Statussicherung dienende Wohltätigkeit nicht nur den traditionellen Gliedern der Stadtbevölkerung, sondern auch den bisher davon ausgeschlossenen Armen zugute kommen zu lassen.36 34 Vgl. dazu und zum Folgenden Kinzig: Wirtschaftsethik V/1. Kirchengeschichtlich. Alte Kirche, S. 148. 35 Vgl. dazu und zum Folgenden Kinzig: Wirtschaftsethik V/1. Kirchengeschichtlich. Alte Kirche, S. 149. 36 Vgl. Henry Chadwick: Humanität. In: Reallexikon für Antike und Christentum. Bd. 16. Stuttgart 1994, Sp. 663–711, 692f. Vgl. ebf. Paul Veyne: Brot und Spiele. Gesellschaftliche Macht und politische Herrschaft in der Antike. Frankfurt a.M. 1988 (= Theorie und Gesellschaft 11), S. 40–64.
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Die Kirchen selbst mehrten ihr Eigentum vor allem seit Konstantin d. Gr. durch Schenkungen und Erbschaften sowie Unterstützung des Kaisers.37 Sie beteiligten sich ebenfalls signifikant am Handel und entwickelten sich zu Großgrundbesitzern. Eine selbstständige Wirtschaftstheorie wurde von den Theologen der Alten Kirche (ebenso wie von paganen Autoren) nicht ausgebildet.38 Insofern Wirtschaftsethik eine Theorie wirtschaftlicher Prozesse voraussetzt, kann für die Zeit der Alten Kirche von Wirtschaftsethik als selbstständigem Bereich systematischer theologischer Reflexion nicht gesprochen werden. Allerdings haben altkirchliche Autoren in vielfacher Weise zu bestimmten ethischen Aspekten und Konsequenzen ökonomischer Abläufe Stellung bezogen. Dabei stechen besonders Predigten mit stark paränetischem Gehalt hervor, die Fragen nach Geld und Besitz und den damit verbundenen menschlichen Einstellungen betreffen. Die Sozialkritik ist zwar weitestgehend traditionell, neu ist aber, dass sie von den altkirchlichen Schriftstellern durch die schöpfungstheologische Begründung und die Betonung karitativer Verpflichtungen in einen neuen, biblisch grundierten Bezugsrahmen gespannt wird. Besitz wird dabei in der Regel als reale und sittlich indifferente Gegebenheit akzeptiert, obschon einzelne Theologen wie Johannes Chrysostomus die Gütergemeinschaft der Urgemeinde als gesamtgesellschaftliches Ideal favorisieren.39 Basierend auf einer schöpfungstheologischen Reflexion wird Reichtum als Teil der geschaffenen Ordnung und somit als Lehen bzw. Geschenk Gottes betrachtet und ist als solcher nicht schlecht – die ethische Qualifizierung hängt von seinem Gebrauch ab. Unehrenhaft erworbener Reichtum ist Ausdruck der unter den Menschen regierenden Sünde und häufig lässt die Sorge um den Besitz den Menschen wichtigere Dinge vergessen, was sich nachteilig auf das religiöse und sittliche Leben auswirkt. Als Gabe Gottes resultiert aus Eigentum immer die Verpflichtung zum karitativen Dienst am mittellosen Nächsten. Seit dem 4. Jahrhundert wird die Habgier zu den acht bzw. sieben Haupt- oder Wurzelsünden gezählt, auch nehmen moralphilosophische Belehrungen gegen den Missbrauch des Reichtums in altkirchlichen Schriften viel Raum ein. Die Haltung zum Geld ist innerhalb der Kirche unterschiedlich: Teilweise wird es abgelehnt – so etwa von den Pelagianern und Manichäern, teils als dem Menschen anvertraute Gabe Gottes gesehen, die erst durch ihren Gebrauch ethisch qualifiziert wird. Guter Gebrauch 37 Vgl. Kinzig: Wirtschaftsethik V/1. Kirchengeschichtlich. Alte Kirche, S. 150; vgl. dazu auch Hans Wieling: Grundbesitz I (rechtsgeschichtlich). In: Reallexikon für Antike und Christentum. Bd. 12. Stuttgart 1983, Sp. 1172–1196, 1192–1195. 38 Vgl. dazu und zum Folgenden Kinzig: Wirtschaftsethik V/1. Kirchengeschichtlich. Alte Kirche, S. 150. 39 Vgl. dazu wie zum Folgenden Kinzig: Wirtschaftsethik V/1. Kirchengeschichtlich. Alte Kirche, S. 150f.; vgl. ebf. Klaus Thraede: Gleichheit. In: Reallexikon für Antike und Christentum 11 (1981), Sp. 122–164, 142–163; vgl. zudem Adolf Martin Ritter: Frühes Christentum – Das Beispiel der Eigentumsfrage. In: Stephan H. Pfürtner u.a. (Hg.): Ethik in der europäischen Geschichte. Bd. 1: Antike und Mittelalter. Stuttgart u.a. 1988, S. 116–133, 122f.
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besteht in der Wohltätigkeit, während Wucher, Zinsnehmen und Geldgier, aber seit dem 4. Jahrhundert auch zunehmend der Luxus von Klerikern und später ebenfalls von Mönchen getadelt werden.40 Noch ist den christlichen Autoren der Zeit das Geld „als Mittel zur Steigerung der Produktivität, zur Hebung des Lebensstandards, zur Beseitigung der sozialen Mißstände, zur Förderung der Bildung, Kunst u[nd] Wissenschaft“ unbekannt.41 Der Handel und die aus ihm erwachsenen Chancen und Risiken werden nur selten thematisiert und noch seltener in Frage gestellt, lediglich bestimmte Geschäftspraktiken ernten Kritik.42 1.2.3.2
Mittelalter
Im Mittelalter trugen das Wiederaufleben des Handels im 11. Jahrhundert, die Wiederentdeckung antiker Wissenschaft in der Folgezeit, die Entstehung der Universitäten sowie das Aufkommen der Bettelorden mit ihrer städtischen Ausrichtung maßgeblich zum entschiedenen Bemühen der Kirche um ein schlüssiges Konzept einer Wirtschaftsethik – häufig als scholastische Wirtschaftsethik bezeichnet – bei.43 Deren Aufbau und Durchgestaltung setzten sich bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts fort, bis Kriegswirren, Hungersnöte und die Pest den zwischenzeitlichen Niedergang der westeuropäischen Wirtschaft wie wirtschaftstheoretischer Überlegungen bedeuteten. Die Zeit zwischen Untergang des Römischen Reichs und Ende des ersten Jahrtausends stellte den Scholastikern zwar keine geschlossene konzeptionelle Grundlage zur Verfügung, diente ihnen jedoch als wesentliche Vorbereitungszeit bei der Aufbereitung der Tradition in Textsammlungen, die grundlegend für die Anlage der Scholastik wurden. Die maßgeblichen scholastischen Autoren, die sich mit wirtschaftsethischen Fragestellungen auseinandersetzten, waren Theologen wie Thomas von Aquin, Johannes Duns Scotus, Heinrich von Gent, Petrus Cantor, die Dominikaner Ulrich von Straßburg, Johannes von Freiburg und Aegidius von Lessines, die Franziskaner Petrus Johannes Olivi, Astesanus von Asti und Richard von Mediavilla, die Augustiner Gregor von Rimini, Heinrich von Friemar und Gerhard von Siena, der Karmeliter Guido Terreni oder der Pariser Professor Johannes Buridan und sein Schüler Nikolaus von Oresme, die unter Einbezug des kanonischen Rechts schrieben.44 Dabei unterschieden die Kanonisten zwischen Regeln der inneren Gerichts40 Vgl. dazu Raymond Bogaert: Geld (Geldwirtschaft). In: Reallexikon für Antike und Christentum 9 (1976), Sp. 797–907, 901–903. 41 Bogaert: Geld (Geldwirtschaft), Sp. 901. 42 Vgl. Kinzig: Wirtschaftsethik V/1. Kirchengeschichtlich. Alte Kirche, S. 151. 43 Vgl. dazu und zum Folgenden Odd Langholm: Wirtschaft/Wirtschaftsethik V/2. Kirchengeschichtlich. Mittelalter. In: Theologische Realenzyklopädie. Studienausgabe. Teil III. Bd. 36. Berlin u.a. 2006, S. 153–159, 153. 44 Vgl. dazu und zum Folgenden Langholm: Wirtschaftsethik V/2. Kirchengeschichtlich. Mittelalter, S. 153f.; vgl. dazu auch ausführlich Ders.: Price and Value in the Aristotelian Tradition. Oslo 1979; wie auch ders.: The Legacy of Scholasticism in Economic Thought. Antecedents of Choice and
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barkeit, die relevant vor dem eigenen Gewissen bzw. im Beichtstuhl waren und als Niederschlag des göttlichen Gesetzes betrachtet wurden, sowie freien Einstellungen gegenüber dem Handel, welche von der kirchlichen, äußeren Gerichtsbarkeit als externe Instanz dem römischen Recht entnommen waren. Schließlich lieferten die Übersetzungen der Nikomachischen Ethik und der Politik des Aristoteles weitere Anregungen für Überlegungen zur Wirtschaftstätigkeit, so dass die scholastische Wirtschaftsethik eine Synthese aus diesen Elementen darstellt. Vor allem die tiefgreifende Veränderung des Handels im späten Mittelalter mit einer nie dagewesenen Mobilität und Ausbreitung trug entscheidend zur scholastischen Wirtschaftslehre bei, die sich zu einem wesentlichen Teil als moralischer Leitfaden für Kaufleute verstehen lässt.45 Die Handelstätigkeit ist dabei nach Thomas von Aquin nicht zu beanstanden und darf auch maßvollen Gewinn abwerfen, wenn ein Kaufmann nicht habgierig ist und sein Geschäft nur für den Unterhalt seines Hausstandes, zur Unterstützung der Armen sowie aus Gründen des Gemeinwohls betreibt.46 Mönchen und Geistlichen ist kein Handel erlaubt, doch dürfen sie einem Handwerk nachgehen, bei dem sie Rohstoffe erwerben und zu einem fertigen Produkt weiterverarbeiten. Zum sittlichen Maßstab der moralischen Beurteilung des Handels wird so der ehrbare Handwerker, der mit seiner Arbeit den eigenen Unterhalt sichert. Die Übersetzung der aristotelischen Ethik brachte einen Aufschwung für das scholastische Wirtschaftsdenken.47 Alle Formen partikularer Gerechtigkeit beruhen für Aristoteles auf einer Art von Gleichwertigkeit. So deuteten seine bedeutendsten lateinischen Kommentatoren, Albertus Magnus und dessen Schüler Thomas von Aquin, Gerechtigkeit beim Warenaustausch als eine gewisse Form wechselseitiger Gerechtigkeit: Zwischen den ausgetauschten Sachen sollte Gleichwertigkeit im Sinne von Vergleichbarkeit bestehen. Ein gleicher Wert beim Tausch kann dabei durchaus einen lokal unterschiedlichen Nutz- oder Gebrauchswert bedeuten, so dass beide Parteien vom Geschäft profitieren. Nach Aristoteles stellt wechselseitiger menschlicher Bedarf den Grund für den Austausch dar.48 Entsprechend verweisen Albertus Magnus und Thomas von Aquin auf den menschlichen Bedarf als Gleichgewicht erzeugendes Prinzip. Dabei
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Power. Cambridge 1998. Vgl. ebf. Barry Gordon: Economic Analysis before Adam Smith. London 1975. Vgl. dazu und zum Folgenden Langholm: Wirtschaftsethik V/2. Kirchengeschichtlich. Mittelalter, S. 154. Vgl. Thomas von Aquin: Summa Theologica II–II 77. Vgl. dazu grundlegend Peter Koslowski: Ethische Ökonomie und theologische Deutung der Gesamtwirklichkeit in der „Summa theologiae“ des Thomas von Aquin. In: Vademecum zu einem Klassiker der Wirtschaftsethik. Ökonomie, Politik und Ethik in Thomas von Aquins „Summa theologiae“. Düsseldorf 1991, S. 43–60. Vgl. dazu und zum Folgenden Langholm: Wirtschaftsethik V/2. Kirchengeschichtlich. Mittelalter, S. 156. Vgl. dazu und zum Folgenden Langholm: Wirtschaftsethik V/2. Kirchengeschichtlich. Mittelalter, S. 157.
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stellte sich das Problem, wie der Bedarf als gerechter Wertmaßstab fungieren konnte, wenn es zugleich sündhaft war, ihn auszunutzen. Diese Aporie wurde von der nachfolgenden Kommentatorengeneration aufgelöst, indem die aristotelische Feststellung im Sinne eines überindividuellen Bedarfs einer ganzen Gemeinschaft interpretiert wurde. Als schwerste wirtschaftliche Sünde galt bei den Theologen des Mittelalters unter Berufung auf Lk 6,35 („Leihet, ohne etwas zurückzuerwarten“) sowie auf Begründungen aus der natürlichen Vernunft der Wucher als ungerechtfertigter Gewinn aus dem Geldverleih oder dem Verkauf auf Kredit. Thomas von Aquin betont in enger Anlehnung an Aristoteles, dass das Zinsnehmen auf geborgtes Geld der Gerechtigkeit entgegensteht und darum eine Sünde ist. 49 Das Zinsnehmen erscheint dabei als Paradigma für jene menschlichen Handlungen, die auf Geldvermehrung abzielen. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass es sich beim Besitz von Geld lediglich um künstlichen Reichtum handelt. Im Gegensatz zu den Sachgütern, deren Besitz die Grundlage für die menschliche Lebensgestaltung darstellt, dient das Geld nur der Erleichterung der Tauschgeschäfte und der Gewährleistung eines gemeinsamen Wertmaßstabs.50 So ist der Gebrauchswert einer bestimmten Geldsumme nach Thomas von Aquin mit der entsprechenden Kaufkraft streng identisch. Verlangt jemand Zinsen, bedeutet dies, er habe über die Kaufkraft noch etwas Weiteres im Gegenwert des Zinsbetrags verliehen, was es nicht geben könne.51 1.2.3.3
Neuzeit: Die Entwicklung des Frühkapitalismus von der Reformation bis zur Aufklärung
Die historische Phase vom 16. bis 18. Jahrhunderts, gemeinhin als Frühe Neuzeit oder Frühmoderne tituliert, zeichnet sich durch eine relative Kontinuität zum Mittelalter aus. Es kam nicht – wie von Werner Sombart postuliert – zu einem „gewaltige[m] Ruck“, der dem Kapitalismus zum Durchbruch verholfen hätte, vielmehr ist die Epoche des Frühkapitalismus geprägt durch eine Vielzahl unterschiedlicher Entwicklungen, die allmählich einsetzten und sich vielfach gegenseitig bedingten und beförderten.52 49 Vgl. Thomas von Aquin: Summa Theologica II–II 78,1c. Vgl. dazu und zum Folgenden Rochus Leonhardt: Zwischen Skylla und Charibdis? Theologische Wirtschaftsethik im Spiegel kirchlicher Verlautbarungen. In: Udo Kern (Hg.): Wirtschaft und Ethik in theologischer Perspektive. Münster u.a. 2002 (= Rostocker Theologische Studien 7), S. 199–239, 216. 50 Vgl. Thomas von Aquin: Summa Theologica II-II 2,1c. Vgl. dazu ausfürhrlich Rochus Leonhardt: Glück als Vollendung des Menschseins. Die beatitudo-Lehre des Thomas von Aquin im Horizont des Eudämonismus-Problems. Berlin u.a. 1998 (= Arbeiten zur Kirchengeschichte 68), S. 179f. 51 Vgl. Leonhardt: Theologische Wirtschaftsethik im Spiegel kirchlicher Verlautbarungen, S. 216.; vgl. ebf. die Ausführungen bei Thomas von Aquin: De malo 13,4c. 52 Werner Sombart: Der moderne Kapitalismus. Bd. 2: Das europäische Wirtschaftsleben im Zeitalter des Frühkapitalismus, vornehmlich im 16., 17. und 18. Jahrhundert. Halbbd. 1. Berlin u.a. 1928, S. 10.
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Der geistig-kulturelle Aufbruch der Renaissance und des Humanismus, die Entdeckungsfahrten der Portugiesen und Spanier seit Ende des 15. Jahrhunderts und die Reformation – und in ihrer Folge die Konfessionalisierung, die nicht nur das Ende der Einheit der römischen Kirche bedeutete, sondern auch weitreichende politische und gesellschaftliche Folgen nach sich zog – markieren in der europäischen Geschichtswissenschaft für gewöhnlich den Beginn der frühen Neuzeit. Zugleich setzten langfristig bedeutsame Veränderungen ein, die eine neue Epoche in der wirtschaftlichen Entwicklung Europas einleiteten. 53 So kam es zu einem langsamen, aber kontinuierlichen Wirtschaftswachstum, das durch eine Steigerung von Handel und Gewerbe bei gleichzeitiger Stagnation von Innovation und Produktivität gekennzeichnet war. Mit der Produktivitätsentwicklung in Gewerbe und Landwirtschaft gingen ein demographischer Wandel und stetiges Bevölkerungswachstum einher. Wirtschaftliche Veränderungen im Gewerbe und Innovationen gab es vor allem in Montan- und Textilindustrie, mit der Manufaktur und dem Verlagswesen entstanden neue vorindustrielle Organisationsformen.54 Der Frühkapitalismus erschien vor allem in den oberdeutschen Handelsstädten als Gesinnung, die sich auf die „allgemeine Durchdringung des Wirtschaftskreislaufs mit Ware-Geld-Beziehungen“ auswirkte.55 Langsam bildeten sich das Prinzip der Arbeitsteilung, der erhöhte Kapitalbedarf und die Trennung von Kapital und Arbeit heraus, was sich unmittelbar auf die Preisentwicklung sowie die Bedeutung und Wertschätzung des Geldes auswirkte.56 In Folge von Bevölkerungswachstum und gesteigerter Nachfrage kam es immer wieder zu Inflationsschüben, die sinkenden Realeinkommen gegenüber standen. Zudem weitete sich der Fern- und Überseehandel im Zuge der europäischen Expansion signifikant aus. Parallel zu einer ersten Frühindustrialisierung bildete sich aus dem feudalistischen Personenverbandsstaat der institutionelle Flächenstaat aus.57 Dabei entwickelte sich aus den mittelalterlichen Herrschaftsformen der Territorialstaat, dessen Herrschaft immer weitere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens umfasste. Der frühmoderne Staat war unter anderem durch Finanzhoheit und Gewaltmonopol gekennzeichnet. Ein politisch, persönlich und wirtschaftlich vom Herrscher abhängiges aufstrebendes Stadtbürgertum und gebildetes Beamtentum traten vielfach an die Stelle von Adel und Klerus und führten zur Tendenz einer rationalen Herrschaft. Neben der Gewährleistung des Friedens nach innen und außen im Rah53 Vgl. dazu und zum Folgenden Norbert Friedrich: Wirtschaft/Wirtschaftsethik V/3. Neuzeit. In: TRE 36, S. 159–170, 159f. 54 Vgl. Friedrich: Wirtschaftsethik V/3. Neuzeit, S. 161. 55 Winfried Schulze: Einführung in die neuere Geschichte. Stuttgart 1987 (= Uni-Taschenbücher 1422), S. 108. 56 Vgl. dazu und zum Folgenden Friedrich: Wirtschaftsethik V/3. Neuzeit, S. 160f. 57 Vgl. dazu wie zum Nachfolgenden Friedrich: Wirtschaftsethik V/3. Neuzeit, S. 161. Friedrich bezieht sich bei den Begrifflichkeiten auf den österreichischen Historiker Theodor Mayer sowie die von ihm geprägten Begrifflichkeiten zur mittelalterlichen Staatsauffassung.
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men seines Gewaltmonopols oblag dem Staat dabei auch die „Herstellung einer gerechten Ordnung“.58 In diesem Rahmen agierte der Staat zunehmend wirtschaftspolitisch, ergriff Maßnahmen zur Förderung der Infrastruktur und reglementierte verstärkt Wirtschaft, Handel und Gewerbe. Um seinen gewachsenen Aufgaben gerecht werden zu können, war der frühmoderne Staat auf steigende Einnahmen angewiesen, die über einen Staatsausbau zum Steuerstaat generiert wurden, der im Gegensatz zu zentralistisch organisierten europäischen Staaten besonders den Territorialherren nützte. Von wesentlicher Bedeutung ist die als „Kommunikationsrevolution“ (Sombart) bezeichnete Wandlung der sich herausbildenden medialen Landschaft durch die Erfindung des Drucks mit beweglichen Lettern und die Entstehung der Post mit dem Aufbau des Briefwesens durch Franz von Taxis ab dem Ende des 15. Jahrhunderts.59 Ein wichtiges Motiv für den Aufbau des Postwesens war die Förderung und Entwicklung des eigenen Territorialstaats.60 Bücher, Pamphlete, Flugblätter und Zeitungen führten zur Herausbildung eines neuen Informationssystems mit bislang ungekannten Diskursmöglichkeiten in den gelehrten Kreisen. 1.2.3.4
Reformation und Wirtschaftsethik
Im 16. Jahrhundert setzten darüber hinaus wesentliche geistesgeschichtliche Veränderungen im Zuge von Reformation und Gegenreformation ein.61 Mit der Konfessionalisierung als zentralem Institutionalisierungsvorgang des 16. Jahrhunderts, der Ausdifferenzierung der Christenheit in unterschiedliche Deutungsangebote kam es zu einer veränderten, rationalen Weltsicht, die sich auch auf die Ökonomie auswirkte.62 Renaissance, Humanismus und Reformation führten durch die „Entdeckung“ des Individuums und der Förderung des Gewinnstrebens zu Veränderungen in der Wirtschaft, obschon sie gleichermaßen auf die Schwierigkeiten ihrer Zeit als „schwierige(n) sozio-ökonomische(n) Übergangsphase“ (Prien) reagierten 58 Hans Boldt: Deutsche Verfassungsgeschichte. Politische Strukturen und ihr Wandel. Bd. 1. München 1984 (= dtv Wissenschaft 4424), S. 159. 59 Vgl. dazu Rudolf Dekker: Briefe von Seeleuten an Bord niederländischer Schiffe und ihrer Familien im 17. und 18. Jahrhundert. In: Kaspar von Greyerz (Hg.): Selbstzeugnisse in der Frühen Neuzeit. Individualisierungsweisen in interdisziplinärer Perspektive. München 2007 (= Schriften des Historischen Kollegs: Kolloquien 68), S. 33–44, 42f. Vgl. dazu auch Wolfgang Behringer: Im Zeichen des Merkur. Reichspost und Kommunikationsrevolution in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2003 (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 189). Vgl. ebf. Friedrich: Wirtschaftsethik V/3. Neuzeit, S. 160. 60 Vgl. Friedrich: Wirtschaftsethik V/3. Neuzeit, S. 161. 61 Vgl. dazu und zum Folgenden Friedrich: Wirtschaftsethik V/3. Neuzeit, S. 162. 62 Vgl. wie auch umfassend zu den institutionellen Entwicklungen des 16. Jahrhunderts besonders Johannes Burkhardt: Das Reformationsjahrhundert. Deutsche Geschichte zwischen Medienrevolution und Institutionenbildung. Stuttgart 2002, hier S. 11f. Vgl. außerdem zur Konfessionalisierung Heinz Schilling: Aufbruch und Krise. Deutschland 1517–1648. Berlin 1988. Vgl. dazu ebf. Harm Klueting: Das konfessionelle Zeitalter: 1525–1648. Stuttgart 1989 (= Uni-Taschenbücher 1556).
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und „dabei gleichwohl auch Gemeinwohlvorstellungen“ (Friedrich) vertraten.63 Zwischen reformatorischer Gesinnung und einer Bejahung wirtschaftlicher Entwicklung bestand indes keine feste Verbindung, wie die Reformatoren selbst zeigen.64 Allgemein übten die Reformatoren vor allem biblisch begründete Kritik am Gewinnstreben wie schon zuvor die Scholastiker, wobei deren Kritik stärker naturrechtlich begründet war (vgl. oben). Trotz dieser Skepsis gegenüber den ökonomischen Prozessen der Zeit lässt sich bei Martin Luther ein gewisses Verständnis für die Kapitalbedürfnisse der aufstrebenden Wirtschaft feststellen.65 Luther lehnt es etwa ab, Wirtschaftsordnung und Geldwesen unmittelbar biblisch zu regulieren, betont aber auch, dass Handels- und Geldgeschäfte nicht am maximalen Profit, sondern am Prinzip von Recht und Billigkeit ausgerichtet zu sein hätten66: „Es sollt nicht so heyssen ‚Ich mag meyne wahr so theur geben, als ich kan odder wil‘, Sondern also ‚Ich mag meyne wahr so theur geben, als ich soll odder alss recht und billich ist‘“.67 Martin Luthers predigtähnliche Schriften, die seit 1518 rasante Verbreitung fanden und maßgeblich zu seiner Popularität beitrugen, richteten sich in deutscher Sprache an die Laien und informierten über die wichtigsten Fragen einer neuen Frömmigkeitspraxis.68 Im Werk Martin Luthers nehmen wirtschaftliche Fragen zwar keinen zentralen Platz ein, allerdings hat Luther mit großem Interesse an den wirtschaftlichen Entwicklungen seiner Zeit partizipiert und so erscheinen entsprechende Aussagen an unterschiedlichen Stellen seines Werkes.69 Immer wieder stehen Luthers Aussagen dabei im Zusammenhang mit theologischen Gerechtigkeits-
63 Hans-Jürgen Prien: Luthers Wirtschaftsethik. Göttingen 1992, S. 49. Friedrich: Wirtschaftsethik V/3. Neuzeit, S. 162. 64 Friedrich: Wirtschaftsethik V/3. Neuzeit, S. 162. 65 Vgl. dazu und zum Folgenden Martin Honecker: Grundriss der Sozialethik. Berlin u.a. 1995, S. 488–494; sowie ders.: Geld II. Historisch und ethisch. In: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 12. Berlin u.a. 1984, S. 278–298, bes. 286ff. Vgl. dazu wie auch zum Folgenden ebf. Leonhardt: Theologische Wirtschaftsethik im Spiegel kirchlicher Verlautbarungen, S. 217. 66 Vgl. dazu und zum Folgenden Honecker: Grundriss der Sozialethik, S. 488–494. Vgl. ebf. ders.: Geld II. Historisch und ethisch, S. 278–298, bes. 286ff. Vgl. dazu wie auch zum Folgenden ebf. Leonhardt: Theologische Wirtschaftsethik im Spiegel kirchlicher Verlautbarungen, S. 217. 67 Martin Luther: Von Kaufshandlung und Wucher. 1524. In: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe [WA]. Bd. 15. Weimar 1883ff., S. 293–322, 295. 68 Vgl. dazu wie zum Folgenden Michael Beyer: Wirtschaftsethik bei Martin Luther. In: Udo Kern (Hg.): Wirtschaft und Ethik in theologischer Perspektive. Münster 2002 (= Rostocker Theologische Studien 7), S. 85–110, 94. 69 Vgl. Andreas Pawlas: Lutherische Wirtschaftsethik in ihrer geschichtlichen und aktuellen Bedeutung. In: Udo Kern (Hg.): Wirtschaft und Ethik in theologischer Perspektive. Münster 2002 (= Rostocker Theologische Studien 7), S. 111–138, 111f. Vgl. zu den wirtschaftsethischen Vorstellungen Luthers v.a. auch grundsätzlich Prien: Luthers Wirtschaftsethik sowie Max Josef Suda: Die Ethik Martin Luthers. Göttingen 2006 (= Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie 108), bes. S. 170–179.
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vorstellungen.70 Explizit Thema sind sie in Luthers der Wucherproblematik gewidmeten Schriften, in denen sich der Reformator scharf gegen den Wucher wendet, jedoch moderate Zinsen von 4-6 % erlaubt, so der Geldgeber darauf angewiesen ist. Seit 1519 schrieb Luther über den Wucher und die viele Menschen bewegenden Frage der Zinswirtschaft.71 Ende des Jahres erschien der Sermon von dem Wucher, der bereits 1520 als Großer Sermon von dem Wucher erneut erschien und auch in die Wucherschrift von 1524 Von Kaufshandlung und Wucher Eingang finden sollte. Im Sermon von dem Wucher liefert Luther eine grundsätzliche, der Bergpredigt entnommene Belehrung, bei der er drei Grade im christlichen Umgang mit den weltlichen Gütern unterscheidet. Der erste und höchste Grad besteht im Erleiden von Unrecht: „Szo yemant unß ettwas mit gewalt nimpt, solnn wirs nit allein faren lassen, sondern auch bereyt sein, ßo er er mehr nemen wolt, dasselb auch zulassen, Und spricht alßo ‚wer mit dir hadernn will am gericht, das er dir den rock nehme, ßo las yhm auch den mantel‘, das ist, solt nit widderstreben noch weeren, das er den mantell nit auch nehm. Und diß ist der hochst grad yn dißem werck.“ 72 Luther fordert also die Bereitschaft dazu ein, Unrecht zu erdulden – auch vor Gericht – und sich nicht nur auf äußeren Druck hin von materiellen Gütern zu trennen, sondern darüber hinaus sogar noch freiwillig mehr hinzugeben. Der zweite Grad behandelt die Freigiebigkeit gegenüber Bedürftigen, sobald sie darum bitten73: „Der ander [Grad] ist, das man geben soll yderman, der seyn darff und begeret, davon sagt er alßo ‚Wer von dir bittet, dem gib‘.“74 Der dritte Grad wird von Luther als „der geringste“, also leichteste, bezeichnet und widmet sich dem Thema Wucher. Diese klare Unterweisung an die Christen bezieht sich auf die Bereitschaft zum Verleihen mit der Aussicht, sein Gut zurück zu erhalten, wobei der Gläubiger aber keinen Zins verlangen dürfe: „Der dritt grad ist, das man williglich und gerne leyhe odder borge an allen auffsatz odder tzinße, davon sagt er ‚Und wer von dyr borgen odder entleyhen will, von dem kere dich nit‘, das ist, vorsags yhm nicht.“75 Daran schließt sich ein Diskurs über das Leihen ohne Zins an, in dem Luther auf die Goldene Regel verweist und anführt, dass sich jedermann gerne zinslos etwas ausleihe und das doch ebenso umgekehrt funktionieren könne.76 Darüber hinaus gibt es für Luther weitere Grade des „Austauschs“ weltlicher Güter über den „christlichen Umgang und Wohltun mit zeitlichem Gut“ hinaus, der durch die gestufte Trias „umsonst Geben, Verleihen ohne Bedingungen, mit Liebe hinter sich lassen“ beschrieben ist.77 Bei diesen niederen Graden handelt es sich um normale
70 71 72 73 74 75 76 77
Vgl. dazu und zum Folgenden Friedrich: Wirtschaftsethik V/3. Neuzeit, S. 162. Vgl. dazu wie zum Folgenden Beyer: Wirtschaftsethik bei Martin Luther, S. 94. Luther: WA 6, S. 3. Vgl. dazu und zum Folgenden Beyer: Wirtschaftsethik bei Martin Luther, S. 94f. Luther: WA 6, S. 3. Luther: WA 6, S. 3. Vgl. dazu und zum Folgenden Beyer: Wirtschaftsethik bei Martin Luther, S. 96f. Luther: WA 6, S. 6.
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Geschäftsabläufe, wirtschaftliches Handeln wie Kaufen, Verkaufen, Erben, Verträge schließen, das nach geistlichem wie weltlichem Recht geordnet abläuft und bei dem die Redlichkeit der Wirtschaftspartner grundsätzlich vorausgesetzt ist. All das reicht aber noch nicht an das in der Trias beschriebene christliche Verhalten heran: Rechtschaffenheit beschränkt sich für Luther niemals auf die bloße Einhaltung von Gesetzen. Christlich im eigentlichen Sinne und somit verbindlich für alle Christen ist vielmehr ein vollkommeneres Handeln, wie es von Jesus in der Bergpredigt gefordert wird. Luthers weitere Ausführungen sind dem Problem des „Zinskaufs“ gewidmet, aus dem Wucher werden kann aber nicht muss. Hierbei appelliert Luther an die Rechtschaffenheit der Geschäftspartner, obgleich diese freilich vom christlichen Wohltun unterschieden werden musste. Auch in seinen weiteren Schriften, der Neuauflage seines Wuchersermons in erweiterter Fassung und seiner ebenfalls 1520 veröffentlichten Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung, setzte sich Luther wiederholt mit dem Zinskauf auseinander, den er unter anderem auch als Ursache großen Wohlstands besonders auch kirchlicher Institutionen kritisierte.78 Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass Luther den Wucher – wie auch alle anderen unlauteren Geschäftsbeziehungen – zuerst im Bereich der Kirche bekämpfte und erst in einem zweiten Schritt als für alle Christen verurteilenswert qualifizierte. Der Wuchersermon ist schließlich auch in Luthers 1524 veröffentlichter größerer Schrift Von Kaufshandlung und Wucher enthalten, in der er sich intensiver mit Fragen des Handels beschäftigt, was vor allem auf die reichsweite Diskussion über die wirtschaftliche Konzentration in den großen Handelsgesellschaften wie etwa der Fugger und Welser in Augsburg und deren regionale Auswirkungen auf weite Teile des Landes zurückzuführen ist.79 1539 erschien schließlich als Reaktion auf Hungersnöte in Sachsen und den damit einhergehenden Wucher die Vermahnung an die Pfarrherrn, wider den Wucher zu predigen, in der Luther die Geistlichen aufforderte, die Obrigkeit – im Fallen deren Versagens – zu beraten. Die Einforderung eines Notrechts des kirchlichen Standes gegenüber der weltlichen Obrigkeit stellte bemerkenswerterweise die direkte Umkehrung seiner früheren Forderungen an die weltliche Obrigkeit dar, sich der Belange der Kirche anzunehmen, wenn diese ihren gesellschaftlichen Verpflichtungen nicht mehr nachkäme. Nach Prien nimmt Luther im Großen Sermon „den spezifischen Zinswucher aufs Korn“, während er in Von Kaufshandlung und Wucher zunächst einmal die Notwendigkeit des Handels anerkennt, um dann aber den Wucherbegriff auf das Handelskapital mit seinen zahlreichen Missbräuchen auszuweiten, die der Reduzierung der Konkurrenz dienen sollen und schließlich allesamt überhöhte Preisforderungen und Teuerungen zur Folge haben. 80 In der Vermahnung greift Luther in erster
78 Vgl. Beyer: Wirtschaftsethik bei Martin Luther, S. 98f. 79 Vgl. dazu und zum Folgenden Beyer: Wirtschaftsethik bei Martin Luther, S. 100f. 80 Vgl. dazu und zum Folgenden Prien: Luthers Wirtschaftsethik, S. 213.
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Linie wieder den Zinswucher des Finanzkapitals an und lässt den Zinskauf beiseite, geht aber verstärkt auf den kausalen Zusammenhang von Wucher und Teuerung ein und lehnt den Wucher weiterhin als „rechtsgeschäftliche Aneignung offenbaren Mehrwertes“ grundsätzlich ab.81 Eine „wesentliche Schwäche“ in Luthers Argumentation erkennt Prien darin, dass Luther „nicht eindeutig zwischen karitativen und kaufmännisch-bankmäßigen Leihen bzw. Konsum- und Produktionskrediten unterscheidet“.82 Doch sei dies nicht zuletzt der sozio-ökonomischen Umbruchsituation im 16. Jahrhundert geschuldet.83 Luther erfasste die veränderten Rahmenbedingungen nur teilweise, die sich auf den Kreditsektor insofern auswirkten, dass nun Darlehensgeschäfte die Möglichkeiten boten, Kapitalien produktiv anzulegen, was den Charakter des Darlehenszinses wesentlich veränderte. 84 Trotzdem ist nach Prien vor allem Luthers Kritik an Zinsforderungen für karitative Darlehen plausibel und auch seine Kritik an überhöhten Zinssätzen für Kredite in Handel und Produktion mit schädlichen Folgen für die Gesamtwirtschaft wie dem Preisanstieg, unter dem vor allem die Armen zu leiden hatten, sowie an völlig überzogenen Zinssätzen für Konsumkredite stringent. Besonders letztere führen leicht zur Expropriierung der Darlehensnehmer, vermindern damit gesellschaftlichen Wohlstand und begünstigen zugleich soziales Elends- und Konfliktpotential. Luther befürchtet die Entstehung eines Teufelskreises: Die von den überhöhten Zinsen geförderte Geldakkumulation zieht eine Zentralisierung gesellschaftlichen Reichtums nach sich, welcher wiederum durch seine Monopolfunktion in Wirtschaftsunternehmungen eine preistreibende Wirkung entfacht.85 Luthers Kritik an den Handelspraktiken des Frühkapitalismus wirkt dabei eingedenk der Folgen der späteren Industrialisierung, auf die unten noch näher eingegangen werden soll, außerordentlich modern. Georg Simmel hat später in seiner Philosophie des Geldes den von Luther vorausgesehenen Akkumulationsprozess des Kapitals nachgezeichnet, dabei aber anders als beispielsweise Karl Marx denselben nicht negativen gedeutet, sondern aufzuweisen versucht, dass gerade mit dieser Zusammenballung von monetärem Kapital die Bedingung der Möglichkeit für einen, wie er es nennt, „substantiellen Fortschritt“ geschaffen werden konnte.86 Neben der ausgedehnten Kritik an Wucher und Monopolbildung spricht sich Luther auch eindeutig gegen eine Eigengesetzlichkeit des Wirtschaftssystems aus, wie sich etwa an seiner kompromisslosen Ablehnung der kaufmännischen Prinzipien des höchsten erzielbaren Zinses und des höchsten erzielbaren Preises zeigt 81 Vgl. die Definition nach Oswald von Nell-Breuning: Wucher. In: Staatslexikon. Bd. 5. Freiburg i.B. 5 1932, Sp. 1467–1478, 1468. 82 Prien: Luthers Wirtschaftsethik, S. 216. 83 Vgl. dazu und zum Folgenden Prien: Luthers Wirtschaftsethik, S. 215ff. Vgl. ebf. ebd., S. 49. 84 Vgl. dazu auch Irmgard von Schubert: Wirtschaftsethische Entscheidungen Luthers. (Kauf und Darlehn.) In: Archiv für Reformationsgeschichte. Internationale Zeitschrift zur Erforschung der Reformation und ihrer Weltwirkungen 21 (1924), S. 49–77, 76f. 85 Vgl. Prien: Luthers Wirtschaftsethik, S. 217. 86 Vgl. Georg Simmel: Philosophie des Geldes. Leipzig 1900.
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(vgl. oben).87 Dem Prinzip der Gewinnmaximierung in der Geldwirtschaft und seiner sozialen Folgeerscheinungen Teuerung, Armut und Abhängigkeit setzt der Reformator die evangelischen Weisungen der Bergpredigt entgegen, die auch in wirtschaftlichen Fragen verbindlichen normativen Charakter für die Christen habe, „so viel es das gewissen betrifft“.88 Auf diese Ablehnung einer normativen Autonomie des Wirtschaftens greifen später sowohl Vertreter der christlichen Soziallehre zurück als auch neuere wirtschaftsethische Ansätze wie etwa die integrative Wirtschaftsethik Peter Ulrichs (vgl. dazu ausführlich im dritten Teil dieser Arbeit). Von wesentlicher Bedeutung für Luthers Ethik ist dabei sein Sündenbegriff, welcher eschatologisch geprägt ist. Das Umsichgreifen von Wucher und Geiz in seiner Umwelt versteht er als Zeichen der beginnenden Endzeit. Von diesem Denkansatz ist auch seine Kreuzestheologie bestimmt, wonach sich das menschliche Herz von den Gütern dieser Welt lösen soll. Kontraktformen wie der Zinskauf sollen Sünden wie Wucher und Geiz nur verschleiern, die zügellose Profitgier nach sich ziehen. Mit der theologischen Redeweise vom Dienst des Mammons meint Luther, dass der Mensch sich der Verfügungsgewalt seines Schöpfers zu entziehen versucht, indem er sich mit Hilfe des Geldes der wirklichen, materiellen Unverfügbarkeiten seiner Existenz enthebt. Entsprechend geißelt er mit der Zinskaufmentalität ein Sicherheitsstreben, das die menschliche Kreatürlichkeit verkennt und somit auf Gottesleugnung hinausläuft. So kann „groß Geld und Gut den Hunger nicht stillen, noch im rathen, sondern verursacht mehr die Theurung. Denn wo reiche Leute sind, ist es allzeit theuer. Zu dem macht das Geld niemand recht fröhlich, sonder macht einen viel mehr betrübt und voller Sorgen; denn es sind Dornen, so die Leute stechen, wie Christus den Reichthum nennet. Noch ist die Welt so thöricht, und will alle ihre Freude darinnen suchen“. 89 Bei seiner Geißelung des „Mammonismus“ denkt Luther an Geld, dessen Gebrauch er immer dann als unnatürlich, schädlich und unmoralisch verurteilt, wenn es sich eigenständig zu vermehren und somit in naturwidriges Kapital zu verwandeln beginnt.90 Wie Prien feststellt, erklärt sich die Verurteilung von Wucher und Geiz als Blasphemie und Verstoß gegen das 1. Gebot also aus der Antithese Gott oder Mammon, die Luthers wirtschaftsethisches Denken bestimmte.91 Die als Hauptsünde titulierte Habgier (Geiz und Wucher) und Hochmut hindern den Menschen sowohl am Dienst
87 88 89 90
Vgl. dazu wie zum Folgenden Prien: Luthers Wirtschaftsethik, S. 220f. Luther: WA 15, S. 294. Vgl. Luther: WA Tischreden. Bd. 3, S. 192, 16–20. Vgl. Theodor Strohm: Luthers Wirtschafts- und Sozialethik. In: Leben und Werk Martin Luthers von 1526 bis 1546. Festgabe zu seinem 500. Geb. i. Auftr. des Theologischen Arbeitskreises für Reformationsgeschichtliche Forschung hrsg. v. Helmar Junghans. Bd. 1. Göttingen 1983, S. 205–223, 212. Wie nah er damit im Grunde der Position des Aristoteles und seiner Lehre von der Chrematistik ist, wie sie auch die Scholastik vertrat, wird ihm dabei wohl zweitrangig gewesen sein. 91 Vgl. dazu und zum Folgenden Prien: Luthers Wirtschaftsethik, S. 221.
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an Gott als auch am Mitmenschen, weshalb Luther 1539 sogar die Anwendung der Kirchenzucht gegen Wucherer verlangte.92 Im Rahmen von Luthers „eschatologische[m] Denken(s) bilden die Mächte des Frühkapitalismus“ einen „Teil des satanischen Zerstörungspotentials“.93 Trotz seines aus der Bergpredigt gewonnenen Ideals einer kreditlosen Wirtschaft strebt Luther keine biblizistische Reglementierung der Wirtschaft an und weist wiederholt Wege auf, die aus christlicher Sicht noch verantwortet werden können.94 Mit seiner Bergpredigtauslegung wollte er sich sowohl gegen die katholische Tradition der mittelalterlich-scholastischen Auslegung mit ihrer Zwei-Stände-Ethik als auch gegen die revolutionäre Täuferbewegung absetzen, die eine sichtbare Gemeinde der wahrhaft Gläubigen aussondern und zur wörtlichen Befolgung der Bergpredigt verpflichten wollte.95 Seiner Meinung nach zielten beide in ihrem Verständnis auf ein Gesetzeschristentum, was er ablehnte: Luther wollte die Bergpredigt als Evangelium verteidigen und zugleich eine klare Trennung zwischen Gesetz und Evangelium verwirklichen.96 Originär an Luthers Interpretation ist, dass nicht eine kleine Anzahl Christen als Aussteiger aus dem weltlichen Reich die Bergpredigt wörtlich befolgt, sondern dass die gesamte Christenheit in der Welt lebt – „nicht exterritorial, sondern im weltlichen Reich“ – und die Weisungen der Bergpredigt befolgt.97 Luther verbindet so – wie oben dargestellt – die Forderung, gemäß Gottes Willen für Recht und Wahrheit einzutreten mit dem Gebot der Bergpredigt, Unrecht geduldig zu erleiden und auch den Feind zu lieben. Dadurch ermöglicht er es seinen Zeitgenossen, „innerweltliche Verantwortung zu übernehmen, ohne auf die Verbindlichkeit der Bergpredigt zu verzichten“.98 Da Luther voraussetzt, dass die Weisungen der Bergpredigt dem Naturrecht folgen und es verschärfen, stellen das Handeln in Amt oder Beruf und die Forderungen der Bergpredigt keinen Widerspruch dar.99 Trotz seiner Absicht, den Weisungen Jesu radikal Geltung
92 Vgl. Luther: WA 51, S. 422. Vgl. grundlegend zur Kirchenzucht, zu ihrer Anwendung und zu ihren Ausprägungen in der Frühen Neuzeit, worauf an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden kann, John H. Leith/Hans-Jürgen Goertz: Kirchenzucht. In: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 19. Berlin u.a. 1990, S. 173–191; sowie den Sammelband von Heinz Schilling (Hg.): Kirchenzucht und Sozialdisziplinierung im frühneuzeitlichen Europa. Berlin 1994 (= Zeitschrift für historische Forschung: Beiheft 16). 93 Prien: Luthers Wirtschaftsethik, S. 222. 94 Vgl. Prien: Luthers Wirtschaftsethik, S. 222f. 95 Vgl. Prien: Luthers Wirtschaftsethik, S. 180. 96 Vgl. dazu und zum Folgenden Prien: Luthers Wirtschaftsethik, S. 181f. 97 Heinrich Leipold: Luthers Lehre von den beiden Reichen in ihrer Bedeutung für die Gegenwart. In: Martin Luther – der Streit um sein Erbe. Ringvorlesung des Fachbereichs Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg im WS 1983/84. Hg. v. Hans-Martin Barth u. Heinrich Leipold. Kassel 1984 (= Monographia Hassiae 11), S. 70–82, 79. 98 Gerta Scharffenorth: Den Glauben ins Leben ziehen … Studien zu Luthers Theologie. München 1982, S. 246. 99 Vgl. Tor Aukrust: Bergpredigt II. In: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 5. Berlin u.a. 1980, S. 621.
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zu verschaffen, kann Luther somit in der Praxis bestimmte Einschränkungen zulassen.100 Auf dieser Grundlage unterbreitet Luther etwa konkrete Vorschläge zur kaufmännischen Preisbildung nach dem Prinzip der Billigkeit: Einerseits sollen Schaden oder Nachteil für den Käufer, andererseits aber Unterschiede der Einkaufspreise, der Qualität, der Transportkosten, Schäden durch höhere Gewalt, das Geschäftsrisiko sowie die unternehmerische Tätigkeit entsprechend berücksichtigt werden, damit der Kaufmann kostendeckend arbeiten kann.101 Obwohl Luther Verzinsung grundsätzlich ablehnt, kommt angesichts der „not und art des wercks“ des Kaufmanns eine sog. „feyl im Handel“ zur Sprache. Diese Begrifflichkeit bezeichnet Rücklagen oder eine gewisse Verzinsung und stellt nach Auffassung Luthers eine unvermeidliche Sünde dar, die nicht durch Mutwillen oder Geiz bedingt ist und die man „mit dem vater unser fur Gott bringen und yhm befelhen“ solle. 102 Der Unternehmerlohn soll dabei aber stets „zymlich“ sein: Entsprechend hat der Unternehmer seine Produktpreise so zu gestalten, dass sie eine „zymliche narunge“ einbringen.103 Zugleich sollen aber auch stets die legitimen Interessen des Nächsten gewahrt bleiben, der beim Handel entsprechend der Goldenen Regel nicht übervorteilt werden darf.104 Neben der ausgiebigen Auseinandersetzung mit dem klassischen Thema des Wuchers setzt Luther aber auch ganz neue Akzente für wirtschaftsethisches Fragen. Darauf weist Pawlas hin, wenn er ausführt, Luther habe eine „ganz eigene Lehre vom Beruf und damit ein ganz eigenes wirtschaftsethisches Konzept entwickelt“.105 Seit 1522 findet sich bei ihm der unmittelbare Bezug auf das Wort „Beruf“.106 Die mittelalterliche arbeitsteilige Gesellschaftsordnung mit ihrer Trennung von vita contemplativa und vita activa, wonach ein Teil der Gesellschaft für das Heil betete, während der andere für die Betenden arbeitete, wurde abgelöst. An ihre Stelle tritt ein theologisches Konzept von Beruf und Arbeit. In Luthers Sicht hat nun jeder Christ im Sinne des allgemeinen Priestertums das Recht, aber auch die Pflicht, sich in Gebet und Tat sowohl für sich als auch für das Ganze zu engagieren. Entsprechend fordert Luther wiederholt die Christen zur Wahrnehmung ihres Berufs auf: Dabei solle man sich nicht dazu verführen lassen, „so wie die Gottlosen nach Gütern zu trachten“. Luther verlangt: „Vertraue du Gott, und bleibe in deinem Beruf. Denn es ist dem HERRN gar leicht, einen Armen reicht zu machen.“107 Die Kopplung von beruflich-weltlicher Aktivität und Frömmigkeit hatte 100 Vgl. Hans Walter Krumwiede: Glaubenszuversicht und Weltgestaltung bei Martin Luther. Göttingen 1983, S. 174. 101 Vgl. dazu und zum Folgenden Prien: Luthers Wirtschaftsethik, S. 110f. Auch hier tritt wieder die Nähe zur aristotelischen Nikomachischen Ethik und ihrem Prinzip der Billigkeit zutage. 102 Luther: WA 15, S. 297. 103 Luther: WA 15, S. 297, 296. 104 Vgl. Prien: Luthers Wirtschaftsethik, S. 223. 105 Vgl. Pawlas: Lutherische Wirtschaftsethik, S. 119. 106 Vgl. dazu und zum Folgenden Pawlas: Lutherische Wirtschaftsethik, S. 120f. 107 Luther: WA DB [Deutsche Bibel] 12, S. 178.
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für evangelische Christen zur Folge, dass sie nun ihren Beruf als alltäglichen Ort verstehen konnten, an dem sie dem Ruf Christi antworten und zugleich ihre Tätigkeit verantwortlich leben konnten, um zur Ehre Gottes und zum Nutzen des Nächsten zu dienen. Der berufliche Alltag wird so als Auftrag Gottes verstanden, von dem jeder Christ gleich welchen Standes zu den unmittelbar vor den eigenen Händen liegenden Aufgaben berufen ist: „Item: bistu eyn furst, herr, geystlich odder weltlich, wer hatt mehr tzu thun denn du? das deyn unterthan recht thun, frid, sey, niemant unrecht geschehe. […] Sihe, wie nu niemand on befelh und beruff ist, ßo ist auch niemand on werck, ßo er recht thun will. Ist nu eynem iglichen drauff tzu mercken, das er ynn seynem stand bleybe, auff sich selb sehe, seynis befelhs warnhem unnd darynnen gott diene und seyn gepott hallte, ßo wirtt er tzu schaffen ßo viell ubirkommen, das yhm all tzeytt tzu kurtz, alle stett tzu enge, alle krefft tzu wenig seyn werdenn. […] Daher kompts, das eyn frum magt, ßo sie ynn yhrem befelh hynngeht unnd nach yhrem ampt den hoff keret oder mist außtregt, oder eyn knecht ynn gleycher meynung pflugt und fehret, stracks tzu gen hymel geht, auff der richtigen straß, dieweyll eyn ander, der tzu sanct Jacob odder tzur kirchen geht, seyn ampt und werck ligen lest, stracks tzu tzur hellen geht.“108
Entscheidend ist dabei der Glaubensgehorsam.109 Das Verhalten in den beruflichen Ordnungen wird nicht durch die Ordnungsmäßigkeit gerechtfertigt, sondern durch Glauben und Vergebung.110 Entsprechend hat jeder Christ also einen Lebensort bzw. seinen Beruf und Stand, zu dem er von Gott berufen ist, und dessen Sinn darin bestehe, dem Nächsten zu dienen.111 In gewisser Weise könnte man von einer Spiritualisierung der Arbeitswelt sprechen. In der Schweiz hatte die reformierte Tradition andere Nachwirkungen. Johannes Calvin brachte unter den Reformatoren das größte Verständnis für das neu entstehende Geldwesen auf und hatte im Gegensatz zu Luther keine grundsätzlichen Vorbehalte gegenüber dem Zinsgeschäft oder Berufen wie Bankier oder Kaufmann.112 Doch gesteht auch er dem Gewinnstreben keineswegs Selbstzweckcharakter zu, sondern betont nachdrücklich, dass gemäß dem christlichen Verständnis von Liebe (entsprechend I Kor 13) „die Sorge um den eigenen Nutzen“ stets „jenem eifrigen Trachten“ nach „dem Wohlergehen des anderen“ unterzuord-
108 Luther: WA 10 I, S. 308ff. 109 Vgl. dazu und zum Folgenden Pawlas: Lutherische Wirtschaftsethik, S. 121f. 110 Vgl. dazu auch Helmut Thielicke: Theologische Ethik. Bd. 1: Dogmatische, philosophische und kontroverstheologische Grundlegung. Tübingen 1951, S. 11. 111 Vgl. Luther: WA 11, S. 179. So seien alle Berufszweige durcheinander geflochten, das einer dem anderen helfe: „Sic omnes artifices sind durch einander geflochten, das einer dem andern helff.“ Sowie Luther: WA 15, S. 625. Dort heißt es: „Alle Stände sind darauf gerichtet, dass sie einander dienen sollen. Wir kehren alles um.“ (Übersetzung nach Gustaf Wingren: Luthers Lehre vom Beruf. München 1952 (= Forschungen zur Geschichte und Lehre des Protestantismus, Reihe 10,3), S. 18.) 112 Vgl. Honecker: Geld II, S. 287,46–50.
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nen sei.113 Dies resultiere aus der göttlichen Einsetzung des Menschen als Haushalter, die dazu verpflichte, „über die Verteilung“ der von Gott übertragenen Gaben, mit denen „wir dem Nächsten zu helfen vermögen“, „einst Rechenschaft abzulegen“.114 Entsprechend ergeben sich hinsichtlich des Zinsnehmens erhebliche Einschränkungen.115 Von Armen darf prinzipiell kein Zins verlangt werden und selbst unter Vermögenden ist das Zinsgeschäft nach Möglichkeit derart zu gestalten, dass der Schuldiger den größeren Vorteil hat, in jedem Fall soll aber eine Übervorteilung des Nächsten ausgeschlossen bleiben. 1.2.3.5
Der Zusammenhang zwischen Religion und Wirtschaftsethik in der Neuzeit
In gleicher Weise wie Luthers Lehre vom allgemeinen Priestertum förderte die reformatorische Theologie durch ihr erneuertes Verständnis von christlicher Freiheit die Ablösung der mittelalterlichen Gesellschafts- und Herrschaftsordnung. Insbesondere der Begriff der Arbeit erfuhr eine Neubewertung, indem die vita activa anstelle der vorher einseitig in den Vordergrund gestellten vita contemplativa stärker in den Mittelpunkt rückte. Arbeit wurde zum Gottesdienst, der weltliche Beruf zur christlichen Berufung. Während des Merkantilismus kam es dann zur Loslösung dieser Idee von ihren religiösen Ursprüngen und einer säkularen Vorstellung der Arbeitspflicht.116 Inwieweit im Zuge der Reformation neben den gesellschaftlichen Veränderungen auch das Verhältnis zwischen Ethik und Religion einerseits und wirtschaftlichem Handeln andererseits einen tiefgreifenden Wandel erfuhr, steht nicht erst seit 113 Johannes Calvin: Unterricht in der christlichen Religion. Institutio Christianae religionis. Nach der letzten Ausg. von 1559 übers. und bearb. von Otto Weber. Neukirchen-Vluyn 51988, S. 450. Vgl. ebf. Leonhardt: Theologische Wirtschaftsethik im Spiegel kirchlicher Verlautbarungen, S. 218. 114 Calvin: Unterricht in der christlichen Religion, S. 450. 115 Vgl. dazu und zum Folgenden Leonhardt: Theologische Wirtschaftsethik im Spiegel kirchlicher Verlautbarungen, S. 218. 116 Vgl. dazu und zum Folgenden Friedrich: Wirtschaftsethik V/3. Neuzeit, S. 162. Die Herausbildung des Merkantilismus im 17. und 18. Jahrhundert, einer auf die eigene Volkswirtschaft und deren größtmögliche Autarkie ausgerichteten Wirtschaftspolitik, wurde maßgeblich von der Herausbildung absolutistischer Staaten in Europa beeinflusst. (Vgl. Rolf Walter: Wirtschaftsgeschichte. Vom Merkantilismus bis zur Gegenwart. Köln u.a. 1995 (= Wirtschafts- und sozialhistorische Studien 4), S. 19. Vgl. dazu ebf. wie auch zum Folgenden Friedrich: Wirtschaftsethik V/3. Neuzeit, S. 163.) Merkantilistische Anschauungen waren in der Frühen Neuzeit die vorherrschende wirtschaftliche Ideologie in Europa. Zentren des Merkantilismus waren England und Frankreich, allerdings übernahmen die meisten Staaten diese Anschauungen bis zu einem gewissen Grad. Wesentliches Ziel war die Stärkung von nationaler Wirtschaft und Handel, was durch die Erhöhung des Geldumlaufs, des Strebens nach einer aktiven Handelsbilanz und eine Reihe strikter politischer Regelungen sowie Maßnahmen in Zoll-, Steuer- und Gewerbepolitik erreicht werden sollte. Entsprechend der Bedürfnisse und Bedingungen der Kleinstaaten entwickelte sich in Deutschland mit dem Kameralismus eine beinahe identische Variante dieser Wirtschaftspolitik, wobei ergänzend auch Verwaltung, Rechtsprechung und Finanzwesen betroffen waren.
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Wirtschaften und Ethik in der Geschichte der christlichen Religion
Max Webers These vom Einfluss der protestantischen Ethik auf den Geist des Kapitalismus im Zentrum einer intensiven Diskussion (vgl. dazu ausführlich unten).117 Bereits im ausgehenden 17. sowie im 18. Jahrhundert wurden Fragen nach denkbaren Zusammenhängen zwischen religiösem Glauben und wirtschaftlichem Handeln erörtert. Vor allem der größere Wohlstand protestantischer Territorien und die verschiedenartigen Entwicklungen der großen europäischen Nationalstaaten beförderten Untersuchungen über den Einfluss der Religion auf die Wirtschaftsordnung eines Landes und das ökonomische Verhalten seiner Bürger und weckte das Bewusstsein für die mentalen, ideellen und soziokulturellen Voraussetzungen ökonomischer Entwicklung.118 Auch wenn der Begriff „religiöse Wirtschaftsethik“ wohl erst im ausgehenden 19. Jahrhundert entstand, ist das Thema älter als seine Bezeichnung.119 Die theologischen Aufklärer des späten 17. und des 18. Jahrhunderts prägten den Begriff des Christentums programmatisch, „um eine höhere Vernünftigkeit dieser Weltreligion im Verhältnis zu den anderen großen monotheistischen Religionen geltend zu machen“.120 Sie entwarfen das Leitbild eines undogmatischen, tätigen Christentums, dessen Wesen sie abseits immer neuer Lehrstreitigkeiten zwischen den Konfessionskirchen im Medium der Ethik zu bestimmen suchten. 121 Den Einzelnen zu einer tugendhaften, normengeleiteten und moralischen Lebensführung nach dem Vorbild Jesu von Nazareth zu motivieren und eine ausgeprägte Selbstdisziplin zu fördern, erachteten sie als Inbegriff und maßgebliche Wirkung des christlichen Glaubens. Bereits im 18. Jahrhundert machten Gelehrte tiefgreifende Unterschiede zwischen den christlichen Konfessionskirchen aus – und zwar keineswegs nur in dogmatischen Fragen, sondern auch in Auslegung und Lösung ethischer Problemstellungen. Je stärker die Funktion des christlichen Glaubens für Lebensbedeutung und -gestaltung betont wurde, desto mehr Beachtung fanden dessen konfessionsspezifische Ausprägungen in ihren lebenspraktischen und -weltlichen Differenzen Beachtung. Ab dem frühen 19. Jahrhundert – und ab der Mitte des Jahrhunderts verstärkt durch die mit der Entstehung der neuen theologischen Disziplin der „Konfessionskunde“ verbundenen Kulturkämpfe – standen so die grundlegenden Unterschiede in den von Konfessionskirchen und Sekten vertretenen Konzepten idealer christlicher Lebensführung sowie die spezifischen religiös-sittlichen Bildungs- und Sozia-
117 Vgl. Friedrich: Wirtschaftsethik V/3. Neuzeit, S. 163. 118 Vgl. Graf: Die geschichtliche Rolle, S. 570f. 119 Vgl. Graf: Die geschichtliche Rolle, S. 571. Vgl. dazu außerdem Johannes Burkhardt: Wirtschaft. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 7. Hg. v. Otto Brunner u.a. Stuttgart 1992, S. 511–594, 586f. 120 Graf: Stellenwert der Religion, S. 627. 121 Vgl. hierzu und zum Folgenden Graf: Stellenwert der Religion, S. 627.
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lisationsprozesse im Fokus von Theologie und Kulturwissenschaften.122 Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entsteht daneben parallel zum „Umbruchsprozeß von der vorindustriellen, traditionellen Wirtschaftsgesellschaft zur modernen Industriewirtschaft“ eine regelrechte Fülle theologischer Literatur zur Wirtschaftsethik einschließlich päpstlicher Enzykliken und protestantischer kichlicher Verlautbarungen.123 Industrielle Revolution und Reaktion auf die Soziale Frage Mit der Aufklärung und der Herausbildung der klassischen Nationalökonomie durch die Arbeiten Adam Smiths, David Ricardos, Jean-Baptiste Says, Thomas Malthus’ und John Stuart Mills setzte ein tiefgreifender gesellschaftlicher Wertewandel ein.124 Im Zuge der Herausbildung einer frühkapitalistischen Ethik gewannen Freihandel und Industrialisierung in der öffentlichen Wahrnehmung gegenüber der bloßen Nahrungssicherung stark an Relevanz. Eigennutz und Laissezfaire-Prinzip fungierten als neue Leitbilder: Eine „invisible hand“, so glaubte man, würde aus dem Eigennutz des Einzelnen das Allgemeinwohl formen. In der Folge kam es zur Beseitigung zahlreicher ökonomischer Barrieren, wie sie etwa durch das Zunftsystem bestanden hatten.125 Eine umfassende Industrialisierung setzte ein, die nicht nur eine rasch fortschreitende Urbanisierung, ein enormes Wachstum der Betriebe, sondern auch eine starke Ausweitung des Welthandels mit sich brachte. Gleichzeitig verelendeten große Teile der Bevölkerung.Trotz nationaler Unterschiede können die ökonomischen und gesellschaftlichen Wandlungsprozesse der Industrialisierung als gesamteuropäische Entwicklung beschrieben werden, die allerdings in Deutschland später einsetzte als in anderen europäischen Ländern.126 Die Reformen des wirtschaftsliberalen Preußen dienten vielen anderen deutschen Staaten als Vorbild. Mit dem deutschen Zollverein wurde 1834 ein einheitliches deutsches Wirtschaftsgebiet geschaffen, in dem eine sehr dynamische Wirtschaftsentwicklung einsetzte, die bis zum Beginn des Kaiserreichs anhielt. Die christlichen Kirche sahen sich angesichts der fundamentalen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen mit der Herausforderung konfrontiert, 122 Vgl. dazu und zum Folgenden Graf: Stellenwert der Religion, S. 627f. 123 Hans-Werner Hahn: Die industrielle Revolution in Deutschland. München 1998 (= Enzyklopädie deutscher Geschichte 49), S. 1. Vgl. Udo Kern: Vertrauen als wirtschaftsethische Kategorie. In: Ders. (Hg.): Wirtschaft und Ethik in theologischer Perspektive. Münster u.a. 2002 (= Rostocker theologische Studien 7), S. 139–178, 139f. 124 Vgl. hierzu und zum Folgenden Erich Loitlsberger: Geschichte der ökonomischen Theorien in ihren ethischen Dimensionen. Einzelwirtschaftliche Theoriebildungen. In: Handbuch der Wirtschaftsethik. Hg. im Auftrag der Görres-Gesellschaft v. Wilhelm Korff u.a. Bd. 1: Verhältnisbestimmung von Wirtschaft und Ethik. Gütersloh 1999, S. 524–566, 535. 125 Vgl. Wilhelm Treue: Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit im Zeitalter der Industriellen Revolution. 1700–1960. Stuttgart 1962 (= Kröners Taschenausgabe 208), S. 106ff., S. 226f. 126 Vgl. dazu und zum Folgenden Friedrich: Wirtschaftsethik V/3. Neuzeit, S. 165f.
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Gegenmodelle zur kapitalistischen Ethik zu entwickeln und ihr ein anderes Wertesystem entgegenzustellen.127 Die Entwicklungen und besonders die unerwünschten Folgen, die die Industrialisierung nach sich zog, beschäftigten im 19. Jahrhundert zahlreiche Theologen: Die Soziale Frage als eine der wesentlichen Konsequenzen der Industrialisierung wurde in den entstehenden Fabriken und ihren Arbeits- und Produktionsbedingungen zu einer moralisch-sittlichen, die zu einer ethischen Auseinandersetzung und Positionierung von Religion und Kirche regelrecht aufforderte.128 Allerdings war die Soziale Frage nicht einzig Folge der „Industriellen Revolution“. Not und Verelendung wuchsen auch deshalb in zahlreichen Regionen Deutschlands, weil eine gut entwickelte gewerbliche Wirtschaft fehlte. Fortschritte in Medizin und Hygiene minderten zugleich die Kindersterblichkeit und erhöhten die Lebenserwartung, was trotz gleichzeitiger beträchtlicher Auswanderung zum Anwachsen der Einwohnerzahl in Deutschland von 24 auf mehr als 56 Mio. Menschen zwischen 1800 und 1900 führte.129 Die Konsequenzen aus diesem rasanten Anstieg der Bevölkerungszahl wurden durch die Auflösung der ständisch geprägten Wirtschaftsform zugunsten einer durch freie Konkurrenz geprägten Ökonomie verschärft. Durch die Beseitigung der herrschaftlichen Fürsorge- und Schutzpflicht im Zuge der „Bauernbefreiung“ büßten weite Teile der Landbevölkerung ihre soziale Sicherung ein, die Einführung der Gewerbefreiheit und die Beseitigung des Zunftzwangs führten in vielen Handwerkszweigen zu Überbesetzungen und zogen auch hier eine Proletarisierung nach sich.130 Ursache dieser vorindustriellen sozialen Frage war nicht die Industrialisierung, sondern das Fehlen von Industrie.131 Wo sich Industrie entwickelte, zeigten sich rasch Probleme, die weniger aus der Industrialisierung als aus der Art und Weise ihrer alltäglichen Umsetzung resultierten.132 Durch die Unterordnung des Arbeiters sowohl unter seinen Fabrikherrn als auch unter die Maschine kam es zur von Karl Marx als „Selbstentfremdung“ bezeichneten „Fremdbestimmung der Arbeit“133, auf die Unternehmer und Staat mit Forderungen nach „Arbeitsaskese“, strenger „Zucht“ und „Arbeitserziehung als
127 Vgl. Loitlsberger: Geschichte der ökonomischen Theorien, S. 535. Vgl. grundlegend Wilhelm Abel: Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Europa. Versuch einer Synopsis. Hamburg u.a. 1974. 128 Vgl. Friedrich: Wirtschaftsethik V/3. Neuzeit, S. 165. 129 Vgl. hierzu und zum Folgenden Franz Josef Stegmann: Ansätze und Entwicklungen der modernen wirtschaftsethischen Fragestellung in den christlichen Kirchen. Wirtschaftsethische Ansätze im Kontext der Sozialen Frage. Katholische Kirche. In: Handbuch der Wirtschaftsethik I, S. 683–712, 683f. 130 Vgl. Stegmann: Wirtschaftsethische Ansätze. Katholische Kirche, S. 684. 131 Vgl. Gerhart von Schulze-Gävernitz: Die industrielle Revolution. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 60 (1931), S. 225–246, 240. 132 Vgl. wie auch zum Folgenden Stegmann: Wirtschaftsethische Ansätze. Katholische Kirche, S. 684. 133 Ernst Michel: Sozialgeschichte der industriellen Arbeitswelt, ihrer Krisenformen und Gestaltungsversuche. 3., neu bearb. u. erw. Aufl. Frankfurt a.M. 1953, S. 25.
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‚Zwang zum Guten‘“ reagierten.134 Insbesondere in der Frühzeit der Industrialisierung wurde die Leistungskraft der Arbeiter rücksichtslos ausgebeutet. Im Produktionsprozess erschien der Mensch lediglich als Kostenfaktor: Menschenunwürdige Arbeitsbedingungen, überlange Arbeitszeiten und Kinderarbeit waren die Regel. Als weiteres Problem trat die proletarische Lebenslage hinzu. Die Übertragung des Prinzips von Angebot und Nachfrage auf Arbeit und Arbeiter koppelte die Löhne an die jeweilige Marktlage. Der Arbeiter war durch das gewaltige Angebot an Arbeitskräften gezwungen, sich und seine Arbeitskraft unter allen Umständen zu verkaufen. Hatte früher die ständische Ordnung zumindest einen gewissen Schutz gewährt, war der Arbeiter nun im gnadenlosen Wettbewerb permanent in der schwächeren Position, aus der er sich schon deshalb nicht aus eigener Kraft befreien konnte, weil seine Entlohnung nie mehr als das Lebensnotwendigste abdeckte. In diesem Teufelskreis wurde das Proletarierschicksal eines permanenten wirtschaftlichen Existenzkampfes zur Lebensbestimmung des Arbeiters. Unterernährung, Krankheiten und ein „moralischer Verfall“ durch Alkoholismus, Promiskuität, Neid und Erbitterung, die „fortschreitende zivilisatorische Verkümmerung“ ganzer Bevölkerungsschichten waren die Folge.135 Hinzu traten Probleme im Zusammenhang mit der fortschreitenden Verstädterung.136 Die Bevölkerungsströme vom Land in die Stadt wie vom agrarischen Osten in die Industriegebiete des Westens, aber auch das Anwachsen von Landgemeinden zu Städten führten zu einem beispiellosen Wohnungselend. Die Gesellschaft differenzierte sich zusehends in Klassen von Eigentümern und Nichteigentümern von Produktionsmitteln, wobei sich auch im Proletariat ein entsprechendes Klassenbewusstsein ausbildete. Da sich die Interessen der beiden großen gesellschaftlichen Gruppen augenscheinlich unversöhnlich gegenüberstanden, mündete diese Entwicklung in eine Auseinandersetzung, die sich auch mehr und mehr gegen den Staat richtete, von welchem sich die Arbeiter im Stich gelassen fühlten. Diese „Haltung prinzipieller Opposition“ und Staatsverneinung sollte die sozialistische Arbeiterbewegung bis ins 20. Jahrhundert hinein beherrschen.137 1.2.3.6
Reaktion der christlichen Soziallehre auf Industrialisierung und Soziale Frage
Auf Industrialisierung und Soziale Frage fand die christliche Soziallehre unterschiedliche Antworten. Der Mainzer Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler setzte sich in Anbetracht der sozialen Frage für eine Verchristlichung und Reka134 Carl Jantke: Der vierte Stand. Die gestaltenden Kräfte der deutschen Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert. Freiburg i.Br. 1955, S. 2. 135 Werner Hofmann: Ideengeschichte der sozialen Bewegung des 19. und 20. Jahrhunderts. Berlin u.a. 4 1971 (= Sammlung Göschen 1205), S. 11. 136 Vgl. dazu und zum Folgenden Stegmann: Wirtschaftsethische Ansätze. Katholische Kirche, S. 685. 137 Jantke: Vierter Stand, S. 124.
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tholisierung sowie – ebenso wie der Priester und Publizist Adolph Kolping – für sozialpraktische Initiativen innerhalb des Katholizismus ein.138 Der soziale Katholizismus um den Schweizer Staatsrechtler und Nationalökonomen Karl Ludwig von Haller und den Philosophen und Staatstheoretiker Adam Heinrich Müller antwortete auf die ökonomischen Bedingungen der Zeit mit der Stärkung der Idee einer den Staat ordnenden Ständegesellschaft. Die weitere Beschleunigung der Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verhalf schließlich einer „pragmatischen gegenwartsorientierten Sichtweise“ zur Durchsetzung.139 Hatten weite Teile des sozialen Katholizismus über eine längeren Zeitraum überkommene konservative Ideen verfolgt, was „zu einer gewissen Wirklichkeitsentfremdheit der Lösungsvorschläge für die soziale Frage geführt“ hatte, wuchs nun insbesondere bei sozialen Verantwortungsträgern die Einsicht, dass sie nicht utopische Ideale verfolgen konnten, sondern in der gegebenen Situation ihr Möglichstes tun mussten, um die Mängel und Auswüchse der kapitalistischen Produktionsweise zu überwinden.140 Mit den Auswirkungen der Verstädterung für die evangelische Kirche beschäftigten sich beispielsweise Johann Heinrich Wichern und die Innere Mission bereits früh.141 Sie unterschieden sich in ihrer Analyse der Gründe stark von den katholischen Stellungnahmen. Abgesehen von einer kleinen Anzahl liberaler Positionen im späteren Kaiserreich – so etwa des evangelischen Theologen Friedrich Naumann – herrschte bei den Autoren eine negative Sichtweise der Stadt vor, die als bedeutender Auslöser für die Säkularisierung erschien. Das vorherrschende soziale Elend wird dabei wiederum auf die Entchristlichung der Gesellschaft zurückgeführt, durch die moralische Maßstäbe außer Kraft gesetzt würden. Ähnlich ablehnend war auch die Haltung vieler Protestanten gegenüber dem technischen Fortschritt. War die aufkommende Technisierung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch mit der Hoffnung verbunden, die neu gewonnenen Freiheitsspielräume des Menschen würden das religiöse Leben befördern, herrschte später bei Theologen und Amtskirche eine nahezu apokalyptische Sichtweise der Industrialisierung vor. Arbeits- und Wohnbedingungen, aber auch die durch Erfindungen und technischen Fortschritt bedingten Veränderungen der Erfahrungen von 138 Vgl. dazu wie zum Folgenden Friedrich: Wirtschaftsethik V/3. Neuzeit, S. 165. 139 Franz Josef Stegmann/Peter Langhorst: Geschichte der sozialen Ideen im deutschen Katholizismus. In: Walter Euchner u.a.: Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland.Sozialismus – Katholische Soziallehre – Protestantische Sozialethik. Ein Handbuch. Herausgegeben von Helga Grebing. Essen 2000 (= Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen. Schriftenreihe A, Darstellungen 13), S. 599–866, 665. 140 Stegmann/Langhorst: Geschichte der sozialen Ideen im deutschen Katholizismus, S. 665. Von Ketteler etwa gelangte zu der Erkenntnis, dass „keine Macht der Welt die Fortentwicklung der modernen Volkswirtschaft, das Umsichgreifen der zentralisierten Massenproduktion zu hindern“ vermöge. (Vgl. Wilhelm Emmanuel v. Kettelers Schriften. Ausgewählt und hg. v. Johannes Mumbauer. 3 Bde. Bd. 3. Kempten 1911, S. 154.) 141 Vgl. dazu wie auch zum Folgenden Friedrich: Wirtschaftsethik V/3. Neuzeit, S. 165f.
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Raum und Zeit wurden problematisiert. Insgesamt verstand sich der soziale Protestantismus als Gegenbewegung zu den aufkommenden marxistischen und sozialistischen Vorstellungen.142 Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte ein von fortwährenden Krisen und Rückschlägen flankierter Aufschwung der Weltwirtschaft ein.143 Die Verknüpfung der einzelnen Staaten und Volkswirtschaften wurde dabei auf verschiedenen Ebenen insbesondere aufgrund der von Adam Smith und anderen propagierten Idee des Freihandels und eines komplexen Systems von Handelsverträgen immer enger. Die „Große Depression“ führte im letzten Drittel des Jahrhunderts zu einer ernsten Wirtschaftskrise, die jedoch in Deutschland lediglich eine Verlangsamung des Wirtschaftswachstums zur Folge hatte. In der Bismarck-Ära wandelten sich die politischen Rahmenbedingungen weg vom Liberalismus hin zu einem Protektionismus und zum modernen Interventionsstaat mit festen staatlichen Rahmenbedingungen und Regularien. Öffentliche Versorgung, Post und Eisenbahn lagen in der Hand von Kommunen bzw. Staat, der so bestimmte Wirtschaftszweige dem marktwirtschaftlichen Gewinnstreben entzog. Als Reaktion auf die Forderungen der Bewegung der bürgerlichen Sozialreform setzte im Kaiserreich eine staatliche Sozialpolitik ein, die sich neben der Schaffung eines Sozialversicherungssystems auch Fragen der Arbeitssicherheit und des Arbeitsschutzes widmete. Die im „Verein für Socialpolitik“ organisierten Reformer verlangten die Ausrichtung der Politik am Gemeinwohl aller, hielten entsprechend staatliche Interventionen und Regulierungen in der Wirtschaft für notwendig und möglich und sprachen dem Staat in der Tradition eines protestantischen Staatsdenkens eine höchste, unbedingte Autorität zu. Auch der politische und soziale Katholizismus, der sich grundsätzlich mit der kapitalistischen Wirtschaftsordnung des Kaiserreichs arrangiert hatte, unterstützte und förderte die staatliche Sozialpolitik.144 Zahlreiche katholische und konservativ-lutherische Autoren übten zu dieser Zeit „moralische Fundamentalkritik“ am „modernen Konkurrenzkapitalismus“, den sie vor allem in Anbetracht von dessen katastrophalen gesellschaftlichen Folgewirkungen insbesondere auf die schwächsten Glieder der Gesellschaft ablehnten.145 Seit den 1870er Jahren kam eine Diskussion über die Rolle der Juden bei der Entstehung des modernen Kapitalismus und der Entwicklung kapitalistischer Zweckrationalität auf – häufig mit antisemitischer Stoßrichtung.146 Seit den 1890er Jahren wurden auch mögliche protestantische Ursprünge des „Geistes des Kapitalismus“ diskutiert.147 In Deutschland als Land der „verspäteten, aber besonders 142 143 144 145 146 147
Vgl. zum Folgenden Friedrich: Wirtschaftsethik V/3. Neuzeit, S. 166. Vgl. hierzu und zum Folgenden Friedrich: Wirtschaftsethik V/3. Neuzeit, S. 166f. Vgl. Friedrich: Wirtschaftsethik V/3. Neuzeit, S. 167. Graf: Die geschichtliche Rolle, S. 571. Vgl. Werner Sombart: Die Juden und das Wirtschaftsleben. Leipzig 1911. Vgl. zur Geschichte des Begriffs Richard Passow: Kapitalismus. Eine begrifflich-terminologische Studie. Jena 21927. Vgl. auch Graf: Die geschichtliche Rolle, S. 571.
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schnellen und krisenhaften kapitalistischen Modernisierung“ (Graf) setzten sich um die Jahrhundertwende beinahe alle namhaften Vertreter der historischen Kulturwissenschaften und der Theologie mit den religiösen Triebfedern der Entstehung einer kapitalismuskonformen ökonomischen Mentalität, dem „Geiste des Kapitalismus“ (Max Weber), auseinander.148 Besondere Wirkung entfalteten dabei die Arbeiten Werner Sombarts, Ernst Troeltschs, Adolf von Harnacks, Karl Holls und vor allem Max Webers. Webers 1904 und 1905 veröffentlichter Essay Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus rief eine bis heute andauernde, lebhafte und kontroverse Diskussion um die Voraussetzungen und kulturell-religiösen Grundlagen der Herausbildung ökonomischer Rationalität und des kapitalistischen Wirtschaftssystems hervor.149 1.2.3.7
Christliche Sozialethik im 20. Jahrhundert
Das 20. Jahrhundert war bestimmt durch zwei Weltkriege, die sowohl für die nationalen Volkswirtschaften als auch für die internationalen Wirtschaftsbeziehungen gewaltige Störungen mit sich brachten. Weiterhin war die Zeit durch eine Beschleunigung der technologischen Wandlungsprozesse, eine große wirtschaftliche Expansion sowie nachhaltige demographische Veränderungen gekennzeichnet. Darüber hinaus kam es zu schwerwiegenden Veränderungen der Wirtschaftsordnungen und -verfassungen, wobei sich aber nicht etwa der liberale Wirtschaftsstaat, sondern der moderne Interventionsstaat fortentwickelte. Der Staat nahm vermehrt Einfluss auf die Wirtschaftsordnung – nicht nur in den sozialistischen Planwirtschaften, sondern auch in den westlich-kapitalistischen Marktwirtschaften, die als gemischte Wirtschaftsordnungen bezeichnet werden. Erhöhte Staatsquoten und eine Ausweitung der staatlichen Transferleistungen stehen sinnbildlich für ein verändertes Staatsverständnis, können aber ebenso als Reaktion auf die tiefgreifenden politischen Umbrüche verstanden werden, die das Jahrhundert prägten.150 In Folge des Ersten Weltkriegs, der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ (George F. Kennan) kam es zum Zusammenbruch des alten europäischen Systems. Der Krieg nie dagewesenen Ausmaßes und nicht gekannter Grausamkeit hinterließ globale Verwerfungen, welche die Welt nachhaltig verändern sollten. Mit den Reichen der Habsburger, der Osmanen und der Zaren wurden drei Weltreiche gestürzt, der europäische Kontinent verlor allmählich seine weltweite politische und wirtschaftliche Vormachtstellung. 148 Graf: Die geschichtliche Rolle, S. 571. Vgl. ebf. Graf: Stellenwert der Religion, S. 628. Vgl. zur problematischen (und verspäteten) Entwicklung des deutschen Liberalismus auch Heinrich August Winkler: Liberalismus und Antiliberalismus. Göttingen 1979 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 38), S. 20–23. 149 Vgl. Graf: Die geschichtliche Rolle, S. 571f. 150 Vgl. auch Friedrich: Wirtschaftsethik V/3. Neuzeit, S. 167.
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In Deutschland hatte die Reichsverfassung der Weimarer Republik die Grundlagen für den Ausbau des Sozialstaats gelegt und erkannte zugleich eine freiheitliche Wirtschaftsordnung an.151 Doch konnte in ganz Europa aufgrund der Zerstörung aller gewachsenen Wirtschaftsbeziehungen und der übrigen Kriegsfolgen der Aufbau einer stabilen Wirtschaftsordnung von der brüchigen Nachkriegsordnung nicht gewährleistet werden. Krisenverschärfend wirkten sich die Ausbreitung von Nationalismus, wirtschaftlichem Protektionismus sowie das Aufkommen des durch hohe Zollschranken gekennzeichneten Neomerkantilismus aus. Zugleich bestand ein breiter gesellschaftlicher Konsens über eine vergrößerte Staatstätigkeit. Anstelle internationaler Verflechtung wurde eine verstärkte Nationalisierung der Wirtschaft eingefordert. Auch protestantische Theologen, soweit sie sich überhaupt mit ökonomischen Fragen beschäftigten, äußerten sich in dieser Weise. Entsprechend propagierten Vertreter eines Religiösen Sozialismus wie Eduard Heimann oder Georg Wünsch etatistische Konzepte einer sozialistischen Marktwirtschaft oder des Sozialismus. Der soziale Katholizismus war stark diversifiziert und vertrat keine einheitliche Linie in der Gesellschaftspolitik. Neben den Vertretern eines christlichen Sozialismus wie Theodor Steinbüchel oder eines konservativen Sozialpatriarchalismus, die Modelle einer Übernahme alter ständischer Führungsmodelle in das Industriezeitalter propagierten152, entwickelte sich eine vom Jesuiten Heinrich Pesch initiierte SolidarismusDebatte, in der berufsständische Ideen eine wichtige Rolle spielten.153 Nach einer kurzen Phase vermeintlicher Stabilisierung in den 1920er Jahren kam es 1929 – ausgehend von der mittlerweile führenden Wirtschaftsmacht USA – zu einer schweren Krise der Weltwirtschaft.154 Ein dramatischer Produktionsrückgang, extrem hohe Arbeitslosigkeit, verbreitete Not und Armut und eine zunehmende Vergiftung und Radikalisierung des politischen Klimas waren die Folgen,
151 Vgl. dazu und zum Folgenden Friedrich: Wirtschaftsethik V/3. Neuzeit, S. 167. Vgl. grundlegend zu den gesellschaftlichen und politischen Folgen des Ersten Weltkriegs, zur Weimarer Republik und zum Ausbau des Sozialstaats, worauf an dieser Stelle nicht ausführlicher eingegangen werden kann, bspw. Hagen Schulze: Weimar. Deutschland 1917–1933. Berlin 21983; vgl. zudem Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen. Bd. 1: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik. München 2000, S. 378–551; sowie ders.: Weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie. München 1993; vgl. auch Eberhard Kolb: Die Weimarer Republik. 6. überarb. u. erw. Aufl. München 2002 (=Oldenbourg Grundriß der Geschichte 16); vgl. ebenso Andreas Wirsching: Die Weimarer Republik in ihrer inneren Entwicklung. Politik und Gesellschaft. München 2000 (= Enzyklopädie deutscher Geschichte 58); vgl. auch Karl Dietrich Bracher u.a. (Hg.): Die Weimarer Republik. 1918 – 1933. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft. Bonn 21988 (= Bundeszentrale für Politische Bildung, Schriftenreihe: Studien zur Geschichte und Politik 251); sowie Horst Möller: Die Weimarer Republik. Eine unvollendete Demokratie. 7., erw. und aktualisierte Neuaufl. München 2004. 152 Vgl. zur Genese des Sozialpatriarchalismus Anton Burghardt: Kompendium der Sozialpolitik. Berlin 1979, S. 74–76. 153 Vgl. Friedrich: Wirtschaftsethik V/3. Neuzeit, S. 167. 154 Vgl. dazu und zum Folgenden Friedrich: Wirtschaftsethik V/3. Neuzeit, S. 167f.
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die in Deutschland mit der Deflationspolitik Heinrich Brünings noch verschärft wurden. Im Zuge der Krise setzte sich zunehmend eine keynesianische Wirtschaftspolitik durch. Der britische Ökonom John Maynard Keynes hatte als Gegenmodell zu neoklassischen Theorien und Monetarismus eine staatliche Steuerung der Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen gefordert. In zahlreichen Ländern kam es zu einer aktiveren staatlichen Wirtschaftspolitik durch unterschiedliche öffentliche Interventionsprogramme und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen – so etwa zur Politik des New Deal in den USA.155 Im Deutschen Reich fand unter der totalitären Diktatur des NS-Regimes zunächst die Wirtschaftspolitik der Vorgängerregierungen eine Fortsetzung. Die wirtschaftlich prekäre Lage vereinfachte die Pläne einer expansiveren Staatstätigkeit.156 Ab 1934 setzte eine massive kreditfinanzierte Aufrüstung ein, während es zugleich zu einschneidenden Veränderungen der gesamten Wirtschafts- und Sozialordnung im Zuge der nationalsozialistischen „Gleichschaltung“ kam, etwa durch Liquidation der Gewerkschaften und Gründung der Deutschen Arbeitsfront als nach dem „Führerprinzip“ gegliederter Einheitsverband der Arbeitnehmer und Arbeitgeber157, durch die Abschaffung der Rechte des Betriebsrates und durch die Abschaffung des Tarifvertragswesens.158 So entstand ein durchgängiges Geflecht ordnungspolitischer Maßnahmen, das sich zu einem „diktatorischen Staatsdirigismus“ (Barkai) mit vielfältigen Eingriffen in die Wirtschaft entwickelte.159 155 Vgl. Friedrich: Wirtschaftsethik V/3. Neuzeit, S. 168. 156 Vgl. dazu wie auch zum Folgenden Friedrich: Wirtschaftsethik V/3. Neuzeit, S. 168. 157 Vgl. dazu sowie zur Sozialpolitik im Dritten Reich Andreas Kranig: Arbeitnehmer, Arbeitsbeziehungen und Sozialpolitik unter dem Nationalsozialismus. In: Karl Dietrich Bracher u.a. (Hg.): Deutschland 1933–1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft. Bonn 21993 (= Studien zur Geschichte und Politik. Schriftenreihe 314), S. 135–152, bes. S. 139–145. Vgl. zur Gleichschaltung von Gewerkschaften und Verbänden Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen. Bd. 2: Deutsche Geschichte vom „Dritten Reich“ bis zur Wiedervereinigung. München 2000, S. 28f. 158 Vgl. grundlegend zur nationalsozialistischen „Machtergreifung“ sowie zur nationalsozialistischen „Gleichschaltung“ Karl Dietrich Bracher: Die deutsche Diktatur. Entstehung, Struktur, Folgen des Nationalsozialismus. Berlin 71997, bes. S. 251–414; vlg. ders. u.a.: Die nationalsozialistische Machtergreifung. Studien zur Errichtung des totalitären Herrschaftssystems in Deutschland 1933/34. Köln u.a. 1960 (= Schriften des Instituts für Politische Wissenschaft 14); vgl. auch, insbes. zur Situation der Arbeiterbewegung, Michael Schneider: Unterm Hakenkreuz. Arbeiter und Arbeiterbewegung 1933 bis 1939. Bonn 1999 (= Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts 12); vgl. ebf. Richard J. Evans: The Third Reich in power. 1933 – 1939. London u.a. 2005; sowie ders.: Das Dritte Reich. Bd. 1: Aufstieg. München 2004; vgl. außerdem Klaus Hildebrand: Das Dritte Reich. München 32003 (= Oldenbourg Grundriss der Geschichte 16), S. 1–28; vgl. zudem Hans-Ulrich Wehler: Der Nationalsozialismus. Bewegung, Führerherrschaft, Verbrechen. München 2009, v.a. S. 24–67; vgl. ebf. kontrovers und zu wesentlichen Streitpunkten in der historischen Diskussion Wolfgang Wippermann: Umstrittene Vergangenheit. Fakten und Kontroversen zum Nationalsozialismus. Berlin 1998, bes. S. 44–63. 159 Vgl. dazu Albrecht Ritschl: Wirtschaftspolitik im Dritten Reich – Ein Überblick. In: Karl Dietrich Bracher u.a. (Hg.): Deutschland 1933–1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft.
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Der Zweite Weltkrieg hinterließ die europäischen Volkswirtschaften entweder ganz zerstört oder zumindest nachhaltig geschwächt.160 Entsprechend groß waren Reformbedarf und -bereitschaft, wobei vor allem der Ruf nach dem Staat als fürsorglicher, ordnender Faktor in Wirtschaft und Gesellschaft verbreitet vernommen werden konnte. Forderungen nach Verstaatlichungen von Schlüsselindustrien wurden anfänglich sogar in bürgerlichen Kreisen vertreten. Zunehmenden und bald entscheidenden Einfluss auf Wirtschaftsordnungsdenken und konkrete Wirtschaftsentwicklung erlangten der Ost-West-Gegensatz und der Kalte Krieg. Während in der Sowjetunion und ihren Satellitenstaaten mit der Einführung der Zentralverwaltungswirtschaft die Trennung von Staat und Wirtschaft beseitigt und die Produktionsmittel in Allgemeineigentum überführt wurden, setzten sich im Westen marktwirtschaftliche Ordnungen unterschiedlicher Prägung durch, obschon die Alliierten öffentlicher Verwaltung und Verbänden bei der Gestaltung des Wirtschaftssystems relativ weitreichende Handlungsspielräume einräumten.161 Die Mittel des sog. „Marshallplans“ spielten eine große Rolle beim wirtschaftlichen Wiederaufbau Europas.162 Ab den 1950er Jahren setzte in zahlreichen europäischen Staaten und in den USA mit dem „Wirtschaftswunder“ ein kraftvoller wirtschaftlicher Aufschwung ein. In Deutschland traten zwei weitere wichtige Faktoren hinzu: Die Währungsreform von 1948, die mit verschiedenen gesetzlichen Regelungen zur Steuer- und Finanzpolitik die „Wiedereinschaltung des Marktmechanismus“ sicherte, sowie die von der Freiburger Schule um den Ökonomen Walter Eucken entwickelte und von Wirtschaftsminister Ludwig Erhard politisch repräsentierte und in die Wirtschaftsordnung der jungen Bundesrepublik implementierte Soziale Marktwirtschaft.163 Mit ihr wollte man eine freiheitliche Wettbewerbsordnung aufbauen und sichern, die zugleich einen sozialen Charakter haben sollte.164 Die Rahmenbedingungen dafür hatte der Staat zu gewährleisten, dem besonders die Aufgabe zukam, den Wettbewerb zu schützen – etwa durch das Kartellgesetz. Schon früh ist auf die protestantischen, aber auch katholischen Wurzeln der Sozialen Marktwirtschaft und auf den Einfluss von Religion und Kirche bei deren Ent-
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Bonn 21993 (= Studien zur Geschichte und Politik. Schriftenreihe 314), S. 118–134, bes. 118, 129ff. Vgl. ebf. Avraham Barkai: Das Wirtschaftssystem des Nationalsozialismus. Der historische und ideologische Hintergrund. 1933–1936. Köln 1977 (= Bibliothek Wissenschaft und Politik 18), S. 209. Vgl. hierzu und zum Folgenden Friedrich: Wirtschaftsethik V/3. Neuzeit, S. 168f. Vgl. Friedrich: Wirtschaftsethik V/3. Neuzeit, S. 168. Vgl. ebenso Wilfried Feldenkirchen: Die deutsche Wirtschaft im 20. Jahrhundert. München 1998 (= Enzyklopädie deutscher Geschichte 47), S. 78. Vgl. dazu auch grundlegend Ludolf Herbst u.a. (Hg.): Vom Marshallplan zur EWG. Die Eingliederung der Bundesrepublik Deutschland in die westliche Welt. München 1990 (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 30). Vgl. dazu und zum Folgenden Friedrich: Wirtschaftsethik V/3. Neuzeit, S. 168. Rolf Walter: Wirtschaftsgeschichte. Vom Merkantilismus bis zur Gegenwart. Köln u.a. 1995 (= Wirtschafts- und sozialhistorische Studien 4), S. 215. Vgl. dazu und zum Folgenden Friedrich: Wirtschaftsethik V/3. Neuzeit, S. 168f.
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wicklung hingewiesen worden.165 So lehnten sich insbesondere die im deutschen Widerstand entwickelten wirtschaftspolitischen Leitlinien eng der sozialethischen Tradition des Protestantismus an. Der Nationalökonom Alfred Müller-Armack strebte mit der Sozialen Marktwirtschaft einen praktischen Ausgleich der Ziele der Freiheit und der sozialen Gerechtigkeit an, was der Tradition der protestantischen Sozialethik wie der katholischen Soziallehre in gleicher Weise entsprach.166 Die Soziale Marktwirtschaft wurde von ihren Schöpfern wie Ludwig Erhard, Alfred Müller-Armack, Franz Böhm und Alexander Rüstow als Wirtschaftssystem verstanden, welches „das Prinzip der Freiheit auf dem Markt mit dem des sozialen Ausgleichs“ verbindet.167 Die Soziale Marktwirtschaft solle „nicht nur eine vom Markt her koordinierte Wirtschaftsordnung“ umfassen, vielmehr gebe das „Beiwort sozial […] daneben den Hinweis darauf, daß diese Ordnung gesellschaftspolitische Ziele verfolgt“.168 Kern des Wirtschaftssystem ist dabei der vom Staat durch eine „klare Rahmenordnung“ gesicherte Leistungswettbewerb.169 An seine Seite treten soziale Elemente, wie etwa die Ausrichtung der Wirtschaft an den Bedürfnissen der Verbraucher – und nicht an einer staatlichen Zentralinstanz – durch das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage, eine leistungsorientierte und gerechte Einkommensverteilung, eine dem Wettbewerb geschuldete permanente Produktivitätssteigerung, der Ausgleich unerwünschter Folgen durch die staatliche Sozialpolitik sowie die Erleichterung wirtschaftlicher Strukturveränderungen durch die Festlegung des regulativen Prinzips für Interventionen sozialer oder anderer Art in der Marktwirtschaft als marktkonform.170 Zur einflussreichsten wirtschaftspolitischen Richtung avancierte in der Bundesrepublik der sogenannte Ordoliberalismus. Dessen Kennzeichen ist der von der Freiburger Schule entwickelte Ordo-Gedanke einer vom Staat zu gewährleistenden Wettbewerbsordnung.171
165 Vgl. grundlegend zu den protestantischen Wurzeln der Sozialen Marktwirtschaft den Sammelband von Günter Brakelmann/Traugott Jähnichen (Hg.): Die protestantischen Wurzeln der sozialen Marktwirtschaft. Ein Quellenband. Gütersloh 1994. 166 Vgl. auch Friedrich: Wirtschaftsethik V/3. Neuzeit, S. 168. 167 Alfred Müller-Armack: Soziale Marktwirtschaft. In: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften. Hg. v. Erwin von Beckerath. Bd. 9. Stuttgart u.a. 1956, S. 390–392, 390. 168 Alfred Müller-Armack: Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik. Studien und Konzepte zur Sozialen Marktwirtschaft und zur Europäischen Integration. Freiburg i.Br. 1966 (= Beiträge zur Wirtschaftspolitik 4), S. 301. 169 Müller-Armack: Soziale Marktwirtschaft, S. 390. 170 Stegmann: Wirtschaftsethische Ansätze. Katholische Kirche, S. 700; Vgl. zu den Anpassungsinterventionen Alfred Müller-Armack: Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik. Studien und Konzepte zur Sozialen Marktwirtschaft und zur Europäischen Integration. Freiburg i.Br. 1966 (= Beiträge zur Wirtschaftspolitik 4), S. 304f. Vgl. dazu ebf. Hans-Rudolf Peters: Wirtschaftspolitik. München u.a. 32000, S. 166. 171 Vgl. beispielsweise Walter Eucken: Die Wettbewerbsordnung und ihre Verwirklichung. In: Ordo 2 (1949), S. 1–99, 1ff.
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Ab der Mitte der 1960er Jahre kam es zu ökonomischen und ökologischen Krisen sowie zu einer Verschiebung der ökonomischen Kräfte in der Welt. 172 Die USA hatten sich zur stärksten Wirtschaftsmacht der Welt entwickelt, während der geeinigte europäische Kontinent Anstrengungen unternahm, in einem gemeinsamen Markt zu alter Stärke zurückzufinden. Zu den traditionellen Wirtschaftsmächten gesellten sich neue aufstrebende Länder und Regionen wie die Schwellenländer China, Indien, Brasilien, Mexiko und Südafrika, aber auch die asiatischen sog. Tigerstaaten. Forciert von ökumenischer Bewegung und Befreiuungstheologie rückte die „Dritte Welt“ verstärkt in den Blickpunkt christlicher Soziallehre, wobei insbesondere die überzogen starke Abhängigkeit der „Wirtschaftssysteme des Südens“ von „denen des Nordens“ kritisiert wurde.173 Zum Ende des Jahrhunderts wandelten sich die wirtschaftspolitischen Leitkonzepte erneut. In vielen Marktwirtschaften bildete sich in Verbindung mit neoliberalen Politikmodellen ein dereguliertes Wirtschaftssystem aus.174 Insbesondere der Prozess der Globalisierung zeitigte weltweit Folgen. Vor allem ließ er den Einfluss der Nationalstaaten auf Markt und Wirtschaftsgeschehen mehr und mehr schwinden. Politische Institutionen konnten mit der wirtschaftlichen Dynamik immer weniger Schritt halten; nationale Regeln und Rahmenordnungen wurden gegenüber den Frei- und Spielräumen transnational agierender Großunternehmen zunehmend wirkungslos. Im Zuge der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise zu Beginn des neuen Jahrtausend erlebten Forderungen nach mehr Kontrolle der Wirtschaft sowie staatlicher Ordnungspolitik und Regulierung bis hin zu (Teil-) Verstaatlichungen ganzer Konzerne eine bemerkenswerte und kaum erwartete Renaissance. Ob diesem Revival allerdings nachhaltiger Einfluss auf den Fortgang der weltweiten wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Entwicklung beschieden sein wird oder ob der neuerliche Ruf nach dem Staat (und nach mehr Vernunft) bloße Episode bleibt, wird erst die Zukunft zeigen. Waren die politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte bereits große Herausforderungen für die christlichen Kirchen und eine christlich fundierte Sozialethik, so sehen sich die auch kulturhistorisch die christlichen Kirchen am Ende des 20. Jahrhunderts mit einer Reihe neuer Herausforderungen konfrontiert: Mit der kulturalistischen Wende seit den 1980er Jahren und der Abkehr von der klassischen Rational Choice-Theorie wächst die Einsicht in die kulturelle Prägung und Bedingtheit individueller Handlungsweisen.175 Indem 172 Vgl. dazu wie zum Folgenden Friedrich: Wirtschaftsethik V/3. Neuzeit, S. 168. 173 So auf der Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen (ÖRK) 1983 in Vancouver. Zit. nach Traugott Jähnichen/Norbert Friedrich: Geschichte der sozialen Ideen im deutschen Protestantismus. In: Helga Grebing (Hg.): Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland. Sozialismus – Katholische Soziallehre – Protestantische Sozialethik. Ein Handbuch. Essen 2000 (= Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen: Schriftenreihe A, Darstellungen 13), S. 876–1103, 1088. 174 Vgl. hierzu und zum Folgenden Friedrich: Wirtschaftsethik V/3. Neuzeit, S. 169. 175 Vgl. hierzu und zum folgenden Abschnitt Graf: Die geschichtliche Rolle, S. 569.
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die Strukturen individueller Wahrnehmung als von „cognitive maps“ und „belief systems“ gesteuert betrachtet wurden und die Beurteilung einer Handlung als rational oder effizient als von subjektiven „images“ bzw. Bildern von Realität bestimmt betrachtet wurden, gewannen diese Alltagstheorien auch für die Prozesse sowie mentalen und kognitiven Voraussetzungen der Entscheidungsfindung wirtschaftlicher Akteure wesentliche Bedeutung.176 In den späten 1980er und frühen 1990er Jahren betonten Ökonomen wie Viktor Vanberg, James F. Buchanan und Hansjörg Siegenthaler die wesentliche Bedeutung solcher Alltagstheorien für wirtschaftliche Entscheidungen und wiesen die Grenzen der Rational Choice-Modelle auf.177 Kein Mensch und keine Gruppe von Menschen handelt in einem allgemeinen Sinne ökonomisch rational: Die Interessenlage, die Einschätzung der Chancen auf Verwirklichung der Interessen und die Erwartungen an ökonomische Handlungen sowohl eines individuellen als auch eines kollektiven Handlungssubjekts werden geprägt durch kulturspezifische Vorverständnisse.178 Mit dem gewachsenen Bewusstsein für die kulturellen wie sprachlichen Grundlagen ökonomischer Prozesse wurde man auch der Selektoren (sowie ihrer Wirkung) gewahr, die – befördert durch den Wettbewerb auf Finanz- und Gütermärkten – vor allen Dingen weniger anpassungsfähige Marktteilnehmer bestrafen. Wer nicht oder nicht ausreichend in der Lage ist, seine subjektiven Realitätsbilder erfahrungsgemäß zu überprüfen und wenn nötig zu korrigieren, ist gegenüber lernfähigeren Akteuren, die zu exakten Deutungen des potentiellen Handelns der Wettbewerber fähig sind und so ihre eigenen Handlungsoptionen und -chancen revisionsfähig einschätzen können, im Nachteil und kann sich unter Wettbewerbsbedingungen schlechter durchsetzen. Lernfähigkeit und -bereitschaft hängen entscheidend von der Konstruktion der subjektiven cognitive maps, Alltagstheorien und Realitätsbilder ab. Religiöse Weltbilder lassen sich als cognitive maps rekonstruieren, indem sie die Wirklichkeitswahrnehmungen von Individuen steuern und über deren Repräsentation von Handlungschancen mitbestimmen. Gerade durch die Repräsentation symbolischer Identität und verlässlicher Ordnungsstrukturen, bieten religiöse Deutungssystem Individuen oder Gruppen Regelvertrauen und können den Aufbau neuer Alltagstheorien befördern.179 Sie sind so insbesondere im Hinblick auf die Frage ökonomisch relevant, „ob sie die für Erfolge auf Märkten unumgängliche Lernbereitschaft fördern oder blockieren“.180 176 Graf: Die geschichtliche Rolle, S. 569. 177 Vgl. dazu und zum Nachfolgenden ebf. Friedrich Wilhelm Graf: Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur. München 2004, S. 179ff. 178 Vgl. dazu grundlegend Viktor Vanberg/James F. Buchanan: Interests and Theories in Constitutional Choice. In: Journal of Theoretical Politics 1 (1989), S. 49–62. 179 Vgl. zum Aufbau von Regelvertrauen und zu Krisenbewältigungsstrategien grundlegend Hansjörg Siegenthaler: Regelvertrauen, Prosperität und Krisen. Tübingen 1993. 180 Graf: Die geschichtliche Rolle, S. 570. Vgl. grundlegend zu „cognitive maps“ und den entsprechenden Lerntheorien Edward Tolman: Cognitive maps in rats and men. In: Psychological Review 55 (1948), S. 189–208. Vgl. dazu außerdem Robert M. Kitchin: Cognitive Maps: What Are They and
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Die Prozesse sozialer Differenzierung und die interne Pluralisierung der Religionen führten laut Graf auch zu einer Veränderung des systematischen Ortes und der Funktionsweisen religiöser Ethik.181 In der gleichen Weise, wie sich die Teilsysteme gegeneinander verselbständigten und nur noch ihrer subsystemspezifischen Rationalität folgten, blieben ihnen religiöse Normierungen äußerlich: „Unter den Bedingungen funktionaler Differenzierung setzt sich die Eigengesetzlichkeit eines Subsystems oder die Sachlogik einer Institution selbst über den stärksten moralischen Akteur hinweg, der neben der funktional effizienten Zweckrationalität noch irgendwelche anderen, eben ethische Maßstäbe geltend zu machen versucht. Jede religiöse Ethik ist angesichts wachsender sozialer Differenzierung insoweit mit der Frage konfrontiert, wie ethische Normativität innerhalb der eigengesetzlich verfassten Subsysteme geltend gemacht werden soll.“182 Zudem stelle sich die Frage, inwieweit religiöse Ethiken überhaupt imstande seien, sozialer Differenzierung gerecht zu werden. Für die großen christlichen Kirchen und ihre Theologie erwachse daraus die besondere Herausforderung, am Markt als „durch harten Interessenkampf und elementare Antagonismen geprägtes Gebilde“183 ihre Positionen zu einer „theologischen Wirtschaftsethik“ im Sinne einer „systematischen Reflexion von als moralisch bestimmten wirtschaftlichen Interaktionen bzw. Handlungen […], die ihren Begründungszusammenhang in der Sprach- und Erfahrungswelt des christlichen Glaubens expliziert“, klarzustellen.184
1.3 Wirtschaftsethische Fragestellungen in katholischer Soziallehre und evangelischer Sozialethik 1.3.1 Die katholische Soziallehre Im langen Zeitraum vom Ende des Altertums bis zur Aufklärung war die christliche Ethik verbindlich für die Gestaltung des menschlichen Lebens und damit auch für die wirtschaftliche Tätigkeit der Betriebsführung.185 Soweit sich die Ethik auf Wirtschaft bezog, standen vor allem Themen wie Gerechtigkeit, Nahrungssicherung und Sinnerfüllung im Mittelpunkt. Vor allem der Nahrungssicherung kam dabei eine wesentliche Bedeutung zu. Sie betrifft das Versorgungsziel der Wirtschaft, was bei Betriebsgründung und -prozess eine enge Bedarfs- und Bedürfnisorientierung nach sich zog und so die streng reglementierte Organisation der Why Study Them? In: Journal of Environmental Psychology 14 (1994), S. 1–19. Vgl. hierzu und zum Folgenden Graf: Die geschichtliche Rolle, S. 576. Graf: Die geschichtliche Rolle, S. 576. Graf: Die geschichtliche Rolle, S. 576. Susanne Edel: Wirtschaftsethik im Dialog. Der Beitrag Arthur Richs zur Verständigung zwischen Theologie und Ökonomik. Stuttgart 1998 (= Arbeiten zur Theologie 88), S. 20. 185 Vgl. dazu und zum Folgenden Loitlsberger: Geschichte der ökonomischen Theorien, S. 534. 181 182 183 184
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Betriebe in rigiden Zünften mit beeinflusste. Arbeit erschien dabei gemeinhin als wichtiger Beitrag für die Sinnerfüllung des Lebens.186 Bis in die Gegenwart kommt ihr somit eine Funktion zu, die weit über ein bloßes Instrument zur Einkommenserzielung hinausreicht: Sie wird als notwendig für die Entfaltung der Persönlichkeit erachtet. Auch in den auf Gott als das höchste Gut bezogenen mittelalterlichen Tugendethiken, in denen durch die Sakramentalisierung des Heils und der Morallehre der Kirche in ihrer sakramentalen Gnadengestalt gesellschafts- und staatsumfassende Bedeutung zukam, nahmen Fragen des wirtschaftlichen Handelns des Menschen einen wichtigen Platz ein, obwohl freilich die ökonomische Dimension einer vita activa des Frommen hinter die Hochschätzung der vita contemplativa mit ihrem Ideal einer geistlich motivierten Abwendung von allem Weltlichen zurücktrat.187 Im Zentrum ethischer Betrachtungen stand hauptsächlich die Tabuisierung des Bankwesens und bestimmter Geschäftspraktiken im Rahmen des kanonischen Zinsverbotes sowie die Auseinandersetzung mit gerechten Preisen von Waren und Dienstleistungen.188 Ab dem Spätmittelalter entwickelten sich jedoch angesichts der wachsenden Bedeutung des Fernhandels spezielle Standesethiken für Kaufleute, in denen sich erste Prinzipien einer streng rationalen Ökonomik finden.189 1.3.1.1
Entstehung und Verortung der katholischen Soziallehre im Kontext der Sozialen Frage
Es waren dann aber erst die Auseinandersetzungen um die mit der Industrialisierung einhergehenden Probleme und die drängende Soziale Frage (vgl. oben), die das soziale Profil des Katholizismus entscheidend schärften und zu einer intensiven wirtschaftsethischen Debatte führten.190 Ab dem frühen 19. Jahrhundert reagierten katholische Intellektuelle auf die Auflösung des feudalen Gemeinwesens und die Herausbildung der modernen bürgerlichen Gesellschaft mit der Entwicklung einer umfassenden eigenständigen Soziallehre.191
186 Vgl. dazu und zum Folgenden Loitlsberger: Geschichte der ökonomischen Theorien, S. 535. 187 Vgl. dazu und zum Folgenden Graf: Stellenwert der Religion, S. 638. Vgl. hierzu ebf. Alexander Heck: Grundkurs Theologische Ethik. Ein Arbeits- und Studienbuch. Münster u.a. 2003 (= Theologische Arbeitsbücher 5), S. 35. 188 Vgl. Graf: Stellenwert der Religion, S. 638f. 189 Auf diesen Umstand verweist Werner Sombart bereits 1902. Vgl. Werner Sombart: Der moderne Kapitalismus. Historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart. 3 Bde. Erster Bd. Die Genesis des Kapitalismus. München 1987 [Erstveröffentlichung 1902], S. 378ff. 190 Vgl. hierzu und zum Folgenden Anton Rauscher: Katholische Soziallehre und Soziale Marktwirtschaft. In: Ders. (Hg.): Handbuch der Katholischen Soziallehre. Im Auftrag der Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft und der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle. Berlin 2008, S. 539–548, 542. 191 Vgl. Graf: Stellenwert der Religion, S. 640.
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In der Diskussion um gesellschaftliche Ordnungssysteme, Kapitalismus, Sozialreform und Sozialpolitik bildete sich eine katholisch-soziale Bewegung heraus, bei der sehr unterschiedliche wirtschaftsethische Ansätze wirksam wurden und die zu Auseinandersetzungen bis weit in die eigenen Reihen hinein führte.192 Zentral war dabei das Erfassen der sozialen Not als religiöses und wirtschaftlich-gesellschaftliches Problem, das Bemühen um eine partielle Sozialpolitik, also das Abrücken von Forderungen einer grundlegenden Sozial- und Gesellschaftsreform bei gleichzeitiger Zustimmung zur bestehenden Ordnung und Beseitigung ihrer negativen Folgen, die Selbsthilfe der Arbeitnehmer durch Zusammenschluss und organisierte Interessenvertretung und das Ziel der Sozialpartnerschaft, welche auf der gegenseitigen Zuordnung von Arbeit und Kapitel basiert und den Arbeitnehmern Möglichkeiten der Teilhabe durch Mitbestimmung und -verantwortung gewährt.193 Für die seit dem zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts aufkommende katholische Sozialbewegung erschien die Kirche, wie für die Mehrheit der Gläubigen auch, als zentrale gesellschaftliche Ordnungsmacht.194 Entsprechend wurde auch die Soziale Frage vornehmlich als religiös-karitatives Problem gesehen, dessen Lösung man primär vom pastoralen Wirken der Kirche erwartete. So schrieb die Tübinger Theologische Quartalsschrift etwa 1841, der „den socialen Verhältnissen drohende Sturm“ könne einzig durch „die beseligenden Einflüsse der christlichen Religion“ abgewendet werden.195 In ähnlicher Weise wurde immer wieder die religiös-moralische Seite der Sozialen Frage und die Bedeutung kirchlicher Armenpflege und der karitativen Tätigkeit der Orden betont. Der Mainzer Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler, der als einflussreichste Persönlichkeit des sozialen Katholizismus im 19. Jahrhundert gilt, wies bis zum Beginn der 1860er Jahre nachdrücklich auf diese religiöse Seite hin: 1848 betonte er in seinen Adventspredigten im Mainzer Dom, dass die gesellschaftliche Krankheit „eine notwendige Folge“ des „Abfalls von Christus“ darstelle, „nicht in der äußeren Not“ liege „unser soziales Elend, sondern in der inneren Gesinnung“ und allein „die Rückkehr zum Christentum“ verspreche Heilung: „Je ohnmächtiger die Lehre der Welt ist, um zu helfen, desto mächtiger ist die Lehre des Christentums.“196 Dabei ist von 192 Vgl. Stegmann: Wirtschaftsethische Ansätze. Katholische Kirche, S. 683. 193 Vgl. Stegmann: Wirtschaftsethische Ansätze. Katholische Kirche, S. 683. Vgl. kritisch dazu Werner Krämer: Richtungen im Sozialkatholizismus – seine gegenwärtige Krise. In: Richard Faber: Katholizismus in Geschichte und Gegenwart. Würzburg 2005, S. 211–226, bes. 212f. 194 Vgl. dazu und zum Folgenden Stegmann: Wirtschaftsethische Ansätze. Katholische Kirche, S. 685f. 195 Ed. Vogt: Socialistensystem. In: Theologische Quartalschrift 23 (1841), S. 551–574, 574. Das „Prinzip der christlichen Moral“ sei „Willensfreiheit“, heißt es dort weiter, „das der unchristlichen Willensknechtschaft“. (Ebd.) Von der „versöhnende[n] und Welt überwindende[n] Kraft“ der christlichen Religion ist Vogt überzeugt: „In dieser Hinsicht“ könne man „füglich den bekannten Vers anwenden“, zeigte sich Vogt ob, „Vor dem Sklaven, wenn er die Kette bricht, Vor dem freien Willen Manne erzittre nicht!“ (Ebd.) 196 Wilhelm Emmanuel von Ketteler: Die großen socialen Fragen der Gegenwart [1848]. In: Texte zur katholischen Soziallehre. Hg. v. Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung
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Ketteler den protestantischen Stellungnahmen durchaus nahe. Äußerst kritisch setzte sich von Ketteler in seinen Predigten auch mit der liberalen Wirtschaftsordnung auseinander.197 Noch bevor die Industrielle Revolution in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichte, wandte sich Ketteler gegen das absolute Eigentumsrecht und damit einen der Grundpfeiler der kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Angelehnt an Thomas von Aquin wies er darauf hin, dass nach katholischer Lehre der eigentliche Eigentümer aller Güter Gott sei und der menschliche Besitzer nur als „Verwalter“ fungiere, der zum „Fruchtgenuß“ berechtigt sei. „Nimmermehr“ könne die Kirche „dem Menschen das Recht zuerkennen, mit den Gütern der Welt nach Belieben zu schalten und zu walten“, und wenn sie vom „Eigentume des Menschen“ spreche und es beschütze, so werde sie „immer die drei, ihren Eigentumsbegriff wesentlich konstituierenden Momente vor Augen haben“, dass das „wahre und volle Eigentumsrecht nur Gott“ zustehe, dass dem Menschen lediglich „ein Nutzungsrecht eingeräumt worden“ sei und dass er deshalb dazu verpflichtet sei, „bei der Benutzung die von Gott gegebene Ordnung anzuerkennen“.198 Der „berüchtigte Ausspruch: das Eigentum ist Diebstahl“, enthalte, „neben einer großen Lüge, zugleich eine furchtbare Wahrheit“.199 Stegmann/ Langhorst weisen darauf hin, dass von Kettelers Vorstoß den „Beginn der kirchlichen Auseinandersetzung mit dem Wirtschaftsliberalismus“ markiert, der beinahe den gesamten deutschen Katholizismus über eine „lange Zeit“ geprägt habe.200 Neben von Ketteler wurden weitere Stimmen im Katholizismus lauter, die in der Sozialen Frage auch ein wirtschaftlich-gesellschaftliches Problem erkannten.201 Der Kulturtheoretiker Franz von Baader betrachtete besonders die Auflösung der ständischen Ordnung, die im Mittelalter festen Halt gegeben habe, als Hauptursache der als Pauperismus bezeichneten Massenarmut sowie des Klassenunterschieds zwischen Arm und Reich. Die niederen Volksschichten seien „durch die Auflösung ihres Hörigkeitsverbandes“ sogar „in den reichsten und industriösesten Staaten wirklich nur relativ ärmer und hilfs- und schutzbedürftiger geworden“. 202 Der katholische Politiker Franz Joseph Ritter von Buß hielt 1837 im Badischen Landtag die erste sozialpolitische Rede vor einem deutschen Parlament. Von Buß befürDeutschlands. Bd. 2: Dokumente zur Geschichte des Verhältnisses von Kirche und Arbeiterschaft am Beispiel der KAB. Bornheim u.a. 1976, S. 87–115, 107–109. 197 Vgl. dazu und zum Folgenden Stegmann/Langhorst: Geschichte der sozialen Ideen im deutschen Katholizismus, S. 645. 198 von Ketteler: Die großen socialen Fragen der Gegenwart, S. 92. 199 von Ketteler: Die großen socialen Fragen der Gegenwart, S. 96. 200 Stegmann/Langhorst: Geschichte der sozialen Ideen im deutschen Katholizismus, S. 645. 201 Vgl. dazu und zum Folgenden Stegmann: Wirtschaftsethische Ansätze. Katholische Kirche, S. 686. 202 Franz von Baader: Ueber das dermalige Mißverhältnis der Vermögenslosen oder Proletairs zu den Vermögen besitzenden Klassen der Societät in Betreff ihres Auskommens, sowohl in materieller als intellektueller Hinsicht, aus dem Standpunkt des Rechts betrachtet [1835]. In: Texte zur katholischen Soziallehre. Hg. v. Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung Deutschlands. Bd. 2: Dokumente zur Geschichte des Verhältnisses von Kirche und Arbeiterschaft am Beispiel der KAB. Bornheim u.a. 1976, S. 43–53, 47.
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wortete grundsätzlich die Industrialisierung, sah aber deutlich deren nachteilige Folgen für die Arbeiter. In seiner berühmt gewordenen „Fabrikrede“ benannte er vier gesellschaftlich-wirtschaftliche Hauptursachen der Sozialen Frage: Die durch den raschen Wandel der neuen technischen Arbeitsweise und eine gewisse Labilität der gesamten Wirtschaft bedingte Existenzunsicherheit, unmenschliche Arbeitsbedingungen, aus denen schwere gesundheitliche Schäden resultierten, politische Entrechtung und weitgehende Abhängigkeit des Arbeiters vom Fabrikherrn sowie soziale Not und Massenarmut, die vom Arbeiter aus eigener Kraft nicht zu überwinden sei, da das Einkommen aus Lohnarbeit gerade das zum Leben Nötigste abdecke und der Aufbau von Ersparnissen so gut wie nicht möglich sei. 203 Als Konsequenz forderte von Buß staatliche Hilfsmaßnahmen und unterbreitete konkrete Vorschläge, die von Arbeitszeitbeschränkungen über Unfallschutz bis zu Bildungsmaßnahmen und staatliche Hilfe bei Existenzgründungen reichten. Dass allein mit Gesinnungsänderung, religiöser Erneuerung und karitativer Tätigkeit der Kirche der gesellschaftlichen Not und der sozialen Missstände nicht beizukommen war, erkannte später auch von Ketteler. Er identifizierte die proletarische Lebenslage der Arbeiter als Kern der Sozialen Frage und verwies – beeinflusst durch Ferdinand Lasalle – auf den Warencharakter der Arbeit. An von Ketteler zeigt sich beispielhaft, dass die Soziale Frage vom sozialen Katholizismus nun weitestgehend als wirtschaftliches und gesamtgesellschaftliches Problem betrachtet wurde, zu dessen Lösung es nicht nur einer Gesinnungsreform, sondern tiefgreifender wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Veränderungen der Zustände bedurfte. Die aufkommende katholisch-soziale Bewegung stand nun vor der Frage, ob die Lösung der sozialen Probleme durch eine völlige Neugestaltung des bestehenden kapitalistischen Wirtschaftssystems im Rahmen einer umfassenden Sozialreform nach ständisch-korporativem Vorbild oder lediglich durch partielle Sozialpolitik, die Beseitigung der Auswüchse auf sozialpolitischem Weg und im Rahmen der bestehenden Ordnung, geschehen sollte.204 Die unterschiedliche Beantwortung dieser Frage trennte während des letzten Drittels des Jahrhunderts die konservative von der liberalen Richtung innerhalb der katholisch-sozialen Bewegung. 205 Im Mittelpunkt der Kontroverse stand dabei die Beurteilung des Liberalismus im Allgemeinen und des Wirtschaftsliberalismus im Besonderen.206 Einer mehr oder weniger weitgehenden Akzeptanz der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschafts203 Franz Joseph von Buß: Ueber die mit dem fabrikmäßigen Gewerbsbetrieb verbundenen Nachtheile und die Mittel ihrer Verhütung [1837]. In: Franz Josef Stegmann (Hg.): Franz Joseph von Buß 1803–1878. Paderborn 1994 (= Quellentexte zur Geschichte des Katholizismus 13), S. 27–58, 43. 204 Vgl. Stegmann: Wirtschaftsethische Ansätze. Katholische Kirche, S. 687. 205 Vgl. dazu und zum Folgenden Stegmann/Langhorst: Geschichte der sozialen Ideen im deutschen Katholizismus, S. 644. 206 Vgl. ebf. Wilhelm Weber: Liberalismus. In: Anton Rauscher (Hg.): Der soziale und politische Katholizismus. Entwicklungslinien in Deutschland 1803–1963. Bd. 1. München u.a. 1981 (= Geschichte und Staat 247/249), S. 265–293.
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ordnung durch die liberalen Sozialpolitiker stand deren grundsätzliche Ablehnung durch die konservativen Sozialreformer gegenüber.207 Die Sozialkritiker der Romantik spielten als Vertreter einer ständischen Gesellschaftskonzeption eine prägende Rolle bei der Entstehung der katholisch-sozialen Bewegung. Im Verschwinden der alten ständischen Ordnung erkannten sie die wesentliche Ursache der Sozialen Frage und verlangten dementsprechend die Einfügung der neuen Schicht der Arbeiterschaft in eine erneuerte, ständisch strukturierte Gesellschaftsordnung.208 Bedeutendster Vertreter dieser Richtung war der Sozialphilosoph Franz von Baader, der proklamierte, dass „Freiheit des sozialen Lebens“ nur durch korporative „Gliederung“ möglich sei.209 Sozialphilosophen wie von Baader oder Adam Müller übten insbesondere Kritik an der auf Adam Smith zurückgehenden deutschen liberal-kapitalistischen Konkurrenzökonomie. Sie setzten der abstrakten Herrschaft des Marktes und der Vereinzelung des Individuums Modelle einer neuen Vergemeinschaftung des Menschen als geistige Einheit im Sinne der Universalität der Kirche entgegen.210 Dabei verknüpften sie ihre „antiliberale organische Gesellschaftslehre ständisch-konservativen Charakters“ mit einem bestimmten Verständnis der politisch-sozialen Funktion und inneren Ordnung der Kirche211: So war sie einerseits in ihrer hierarchischen Ordnung Vorbild für das Allgemeinwesen, zudem sollte ihr „aufgrund des ihr erschlossenen Wissens um den wahren ordo der geschaffenen Wirklichkeit eine Deutungs- und Weisungskompetenz für alle Gebiete der Kultur“ zukommen.212 Müller und andere katholische Frühkonservative beförderten mit ihrer engen Verbindung von Sozialtheorie und Ekklesiologie die Entwicklung einer spezifisch katholischen Theorie des Sozialen, die seit den 1870er Jahren explizit als „katholische Soziallehre“ bezeichnet wurde. Auf Bischof von Ketteler geht die innerkatholische Alternative zur ständischen Gesellschaftsreform zurück.213 Mit von Ketteler begann „eine Entwicklung im katholischen Sozialdenken weg vom fundamentalistischen Antikapitalismus hin zu 207 Vgl. auch Clemens Bauer: Der deutsche Katholizismus und die bürgerliche Gesellschaft. In: Ders.: Deutscher Katholizismus. Entwicklungslinien und Profile. Frankfurt a.M. 1964, S. 28–53, 44ff. 208 Vgl. dazu und zum Nachfolgenden Stegmann: Wirtschaftsethische Ansätze. Katholische Kirche, S. 687. 209 Baader: Ueber das dermalige Mißverhältnis der Vermögenslosen oder Proletairs, S. 48. Vgl. Franz Josef Stegmann: Von der Ständischen Sozialreform zur Staatlichen Sozialpolitik. Der Beitrag der Historisch-Politischen Blätter zur Lösung der sozialen Frage. München 1965 (= Politische Studien, Beih. 4), S. 127ff. Stegmann führt die verwandte Argumentation der „Historisch-politischen Blätter“ an, die von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Reichsgründung die bedeutendste Zeitschrift des sozialen Katholizismus war. 210 Vgl. Graf: Stellenwert der Religion, S. 640f. 211 Albrecht Langner: Katholische und evangelische Sozialethik im 19. und 20. Jahrhundert. Beiträge zu ideengeschichtlichen Entwicklungen im Spannungsfeld von Konfession, Politik und Ökumene. Paderborn u.a. 1998, S. 50. 212 Vgl. dazu und zum Folgenden Graf: Stellenwert der Religion, S. 641. 213 Vgl. Stegmann: Wirtschaftsethische Ansätze. Katholische Kirche, S. 687f.
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pragmatischen Reformkonzepten“.214 Ursprünglich ein entschiedener Gegner des Wirtschaftsliberalismus – noch 1864 hatte von Ketteler den „Sklavenmarkt unseres liberalen Europa“ angeprangert, in dem sich Arbeit zur „Ware“ entwickelt habe – bemühte sich von Ketteler zusehends um eine konstruktive Verbindung aus sozialen Zielen und liberaler Theorie.215 1869 erklärte er auf einer Rede vor katholischen Arbeitern, dass man die „unbedingte Freiheit auf allen Gebieten der Volkswirtschaft“ für „notwendig“ und „heilsam“ erachten könne.216 Von Ketteler verlangte nicht länger die Beseitigung des kapitalistischen Wirtschaftssystems, sondern dessen Milderung, „für alle einzelnen schlimmen Folgen desselben die entsprechenden Heilmittel zu suchen“ und vor allem auch, die Arbeiter „an dem, was an dem System gut ist, an dessen Segnungen Anteil nehmen zu lassen“. 217 Auf diese Weise wies er dem sozialen Katholizismus eine neue Richtung weg von der umfassenden ständischen Reform der Gesellschaft, die bis zu diesem Zeitpunkt von der Mehrheit der katholisch-sozialen Bewegung vertreten worden war, hin zu einer partiellen Sozialpolitik, die in der bestehenden Wirtschaftsordnung deren Auswüchse zu beseitigen suchte. Der Philosoph und Zentrum-Politiker Georg Freiherr von Hertling lieferte hierfür die sozialpolitische Begründung: So gebe es „keine ein für allemal gültige Formel“ für das Verhältnis von Kapital und Arbeit und auch die Ständeordnung habe große Nachteile gehabt.218 Entsprechend gehe es nicht um eine „Neugestaltung der Gesellschaft“, sondern darum, „im Rahmen der bestehenden Gesellschaftsordnung die Schäden zu heilen“, welche „die moderne großindustrielle Produktion der arbeitenden Bevölkerung gebracht hat“.219 Diese grundsätzliche Anerkennung der bestehenden Wirtschaftsordnung im Sinne einer partiellen Sozialpolitik bedeutete zugleich die Absage des deutschen sozialen Katholizismus an eine umfassende ständische Gesellschaftsreform zur Lösung der Sozialen Frage. 1891 wies das Rundschreiben Rerum novarum Papst Leos XIII. in dieselbe sozialpolitische Richtung, als es sich entschieden gegen Klassenkampf und zugunsten in „Freiheit und Gerechtigkeit“ ausgehandelter Arbeitsverträge
214 Christoph Sachße: Subsidiarität: Zur Karriere eines sozialpolitischen Ordnungsbegriffs. Zur Karriere eines sozialpolitischen Ordnungsbegriffs. In: Zeitschrift für Sozialreform 40 (1994), S. 717– 738, 719. 215 Zit. nach Rauscher: Katholische Soziallehre, S. 542. 216 Wilhelm Emmanuel von Ketteler: Die Arbeiterbewegung und ihr Streben im Verhältnis zu Religion und Sittlichkeit [1869]. In: Texte zur katholischen Soziallehre. Hg. v. Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung Deutschlands. Bd. 2: Dokumente zur Geschichte des Verhältnisses von Kirche und Arbeiterschaft am Beispiel der KAB. Bornheim u.a. 1976, S. 241–262, 243. 217 Wilhelm Emmanuel von Ketteler: Sozialcaritative Fürsorge der Kirche für die Arbeiterschaft [1869]. In: Texte zur katholischen Soziallehre. Hg. v. Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung Deutschlands. Bd. 2: Dokumente zur Geschichte des Verhältnisses von Kirche und Arbeiterschaft am Beispiel der KAB. Bornheim u.a. 1976, S. 225–240, 231. 218 Georg Freiherr von Hertling: Aufsätze und Reden socialpolitischen Inhalts. Freiburg i.Br. 1884, S. 42. 219 Georg Freiherr von Hertling: Naturrecht und Sozialpolitik. Köln 1893, S. 42.
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aussprach.220 Auftrieb erhielten die von der Enzyklika geforderten sozialpolitischen Bemühungen durch den 1890 gegründeten „Volksverein für das katholische Deutschland“, der die bestehende Wirtschaftsordnung bejahte, aber deren Auswüchse zu beseitigen suchte.221 Der Verein wurde zur Massenorganisation, dessen Schulungsangebote viele wichtige Persönlichkeiten der katholisch-sozialen Bewegung in Anspruch nahmen. An der Spitze dieser Bewegung wurden Adelige, die „in der feudalen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung verwurzelt“ gewesen waren, zunehmend von Männern ersetzt, „die in der Industrie und ihrer freiheitlichen Verfassung ihren Standboden hatten“.222 Neben dem Spannungsfeld zwischen umfassender Gesellschaftsreform und partieller Sozialpolitik war für die katholische Soziallehre noch eine weitere Frage von wesentlicher Bedeutung: War die Lösung der sozialen Probleme eine Angelegenheit des Einzelnen und freier gesellschaftlicher Kräfte oder erforderte sie (auch) staatliche Intervention?223 Mit der eingeleiteten Entwicklung hin zu pragmatischen Reformkonzepten und zur Präferenz einer partiellen Sozialpolitik wurde auch die verbreitete Ablehnung gegenüber staatlichen Eingriffen mehr und mehr aufgegeben. Hatte der junge von Ketteler noch 1848 auf dem ersten Katholikentag in Mainz erklärt, es werde sich zeigen, dass „der katholischen Kirche die endliche Lösung der socialen Frage vorbehalten“ sei, da „der Staat, mag er Bestimmungen treffen, welche er will, […] dazu nicht die Kraft“ habe, hatten sich seine wirtschaftsethischen Positionen 20 Jahre später grundlegend gewandelt. 224 Dabei ist von Kettelers Sinneswandel paradigmatisch für eine Entwicklung, die er damit selbst maßgeblich mitbestimmte: Die Überwindung der sozialen Missstände betrachtete er nun vornehmlich als Aufgabe des Staates und forderte entsprechend staatliche Arbeiterschutzgesetze zum Schutz der Arbeiter, eine Regelung der allgemeinen Arbeitszeit, die Schließung gesundheitsschädlicher Arbeitsräume, staatliche Hilfe bei Arbeitsunfähigkeit, besonders aber „Staatskontrolle über die Ausführung der Arbeitergesetzgebung durch Ernennung offizieller Fabrikinspektoren“. 225 Einige Jahre später schließlich forderte er nicht nur den „gesetzlichen Schutz der Arbeit und des Arbeiterstands gegen Unterdrückung jeglicher Art“, sondern dar-
220 Leo XIII.: Rerum novarum. Rom 1891, Nr. 15. 221 Vgl. hierzu und zum Folgenden Stegmann: Wirtschaftsethische Ansätze. Katholische Kirche, S. 688f. 222 Emil Ritter: Die katholisch-soziale Bewegung Deutschlands im neunzehnten Jahrhundert und der Volksverein. Köln 1954, S. 112. 223 Vgl. dazu wie zum Folgenden Stegmann: Wirtschaftsethische Ansätze. Katholische Kirche, S. 689f. 224 Generalversammlung der Katholischen Vereine Deutschlands (Hg.): Verhandlungen der Versammlung der Katholischen Vereine Deutschlands. Amtlicher Bericht. Bd. 1: Am 3.–6. Oktober 1848 zu Mainz. Mainz 1848, S. 52. 225 von Ketteler: Sozialcaritative Fürsorge der Kirche für die Arbeiterschaft, S. 236. Vgl. dazu auch Rauscher: Katholische Soziallehre, S. 542.
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über hinaus ebenfalls die „billige Unterstützung der Arbeiterverbindungen durch den Staat“.226 Doch war die Einsicht in die Notwendigkeit staatlicher Intervention noch kein Allgemeingut im deutschen Katholizismus. Insbesondere der einsetzende Kulturkampf in den 1870er Jahren verstärkte massiv die Abneigung zahlreicher Katholiken gegenüber Gewalt und Einfluss des Staates.227 So blieb es der Enzyklika Rerum novarum Papst Leos XIII. vorbehalten, der interventionistischen Richtung endgültig den Weg zu bahnen und auch explizit den Staat bei der Lösung der Sozialen Frage in die Pflicht zu nehmen. Die offizielle Befürwortung der staatlichen Wirtschafts- und Sozialpolitik durch das kirchliche Lehramt ging von der generellen Feststellung aus, der Staat habe „das Wohlergehen der Allgemeinheit und der einzelnen“ zu sichern.228 Ihm komme die besondere Aufgabe des „Schutz[es]“ und der „Förderung der arbeitenden Schicht“ zu.229 Sozialpolitische Einzelforderungen umfassten den Schutz der Sonntags- und Feiertagsruhe, die gesetzliche Begrenzung der Arbeitszeit, besondere Schutzbestimmungen für Frauen- und Kinderarbeit und die Sicherung eines „gerechten“ Lohns.230 Auch das Recht der Arbeitnehmer auf Zusammenschluss und organisierte Interessenvertretung war lange Zeit umstritten.231 Vertreter des sozialen Katholizismus wie von Baader und von Buß in seiner oben erwähnten Fabrikrede forderten bereits früh die Einrichtung genossenschaftlicher Selbsthilfeeinrichtungen, um die Situation der Arbeiter zu verbessern. Um die Jahrhundertmitte kam es zur Gründung erster katholischer Arbeitervereine, später auch „christlich-sozialer“ Vereine, denen aber aufgrund von Kulturkampf und „Sozialistengesetz“ vorerst kein langes Bestehen beschieden war. Lokale „christliche Gewerkvereine“ gründeten sich Anfang der 1890er Jahre nach Aufhebung des Sozialistenverbots, gleichzeitig wurden die Arbeiter in Rerum novarum zum Zusammenschluss ermutigt und das Koalitionsrecht somit von päpstlicher Seite verteidigt.232 Das Recht der Selbstorganisation und Interessenvertretung wird den Arbeitern dabei als „naturrechtlich“ verankert zuerkannt.233 226 Wilhelm Emmanuel von Ketteler: Christentum und Sozialdemokratie [1875]. In: Texte zur katholischen Soziallehre. Hg. v. Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung Deutschlands. Bd. 2: Dokumente zur Geschichte des Verhältnisses von Kirche und Arbeiterschaft am Beispiel der KAB. Bornheim u.a. 1976, S. 274–286, 276. 227 Vgl. dazu und zum Folgenden Stegmann: Wirtschaftsethische Ansätze. Katholische Kirche, S. 690f. 228 Rerum novarum, Nr. 26. 229 Rerum novarum, Nr. 27. 230 Rerum novarum, Nr. 32–35. 231 Vgl. dazu und zum Folgenden Stegmann: Wirtschaftsethische Ansätze. Katholische Kirche, S. 691ff. 232 Vgl. Stegmann: Wirtschaftsethische Ansätze. Katholische Kirche, S. 692. 233 Rerum novarum, Nr. 38. Vgl. auch Hans-Joachim Höhn: Konzeptionelle wirtschaftsethische Implikationen in den Soziallehren der Kirchen. Katholische Kirche. In: Handbuch der Wirtschaftsethik I, S. 740–758, 742.
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Intensive Diskussionen erfuhr auch die Frage der Mitbestimmung der Arbeiter bei Entscheidung und Verantwortung und der Sozialpartnerschaft, die auf der wechselseitigen Abhängigkeit bzw. Zuordnung von Kapital und Arbeit fußt. 234 Besonders Bischof von Ketteler war um die Einrichtung von Produktivassoziationen bemüht, zuvor hatte Franz von Baader schon 1835 einen Rechtsanspruch der Arbeiter auf Vertretung in den Ständeversammlungen festgestellt. In der Programmatik der erstarkenden katholisch-sozialen Bewegung der 1880er Jahre spielten die rechtliche Besserstellung der Arbeiter, deren Interessenwahrnehmung gegenüber den Unternehmen durch selbst gewählte Vertreter sowie deren Mitwirkung bei der Regelung betrieblicher und überbetrieblicher Angelegenheiten eine zentrale Rolle. Das Problem der Mitwirkung wurde in der Enzyklika Rerum novarum zwar nicht thematisiert, allerdings wurde darin der Wunsch geäußert, dass der tatsächliche Einfluss der Vereinigungen der Arbeiter zunehmen und deren Interessenwahrnehmung wachsen sollten.235 Auf Initiative des Sozialpolitikers Franz Hitze schlug die Reichstagsfraktion der Zentrumspartei wiederholt die obligatorische Einführung von Arbeiterausschüssen vor, blieb damit aber bis zur Mitte des Ersten Weltkriegs erfolglos. 1916 erfolgte schließlich mit dem „Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst“ die „staatliche Anerkennung des Rechts der Arbeitnehmerschaft und ihrer Organisationen auf Gleichberechtigung und gleicher Ebene mit der bisher so gut wie autonomen Unternehmerschaft“, womit ein Hauptziel des sozialen Katholizismus Verwirklichung fand.236 1.3.1.2
Wirtschaftsethische Implikationen in der Katholischen Soziallehre im 20. Jahrhundert
Schon die Entstehung der katholischen Soziallehre war, wie dargestellt, eng mit dem Bemühen um die Bestimmung der Existenzbedingungen moderner Gesellschaften in Anbetracht des tiefgreifenden Wandels des 19. Jahrhunderts und den damit einhergehenden gesellschaftlichen Herausforderungen verbunden237: Ihr Anspruch ist dabei fundamental ethischer Natur, stellt sie doch „vor dem Wert- und Sinnhorizont christlicher Glaubenspraxis […] die Frage nach der dem Menschen angemessenen Gestaltung seiner sozialen Lebenswelt“.238 Die Vertreter der katholischen Soziallehre sind so stets beteiligt an den (sozial)ethischen Ermittlungs-, Orientierungs- und Urteilsprozessen ihrer Zeit, wobei ihre normativen Zielvorstellungen auf die Errichtung einer gesellschaftlichen Ordnung ausgerichtet sind, die sich 234 Vgl. dazu wie zum Folgenden Stegmann: Wirtschaftsethische Ansätze. Katholische Kirche, S. 693f. 235 Rerum novarum, Nr. 36, 45. 236 Otto Neuloh: Die deutsche Betriebsverfassung und ihre Sozialformen bis zur Mitbestimmung. Tübingen 1956 (= Soziale Forschung und Praxis 13), S. 103. 237 Vgl. hierzu wie auch zum Folgenden Höhn: Konzeptionelle wirtschaftsethische Implikationen. Katholische Kirche, S. 740. 238 Höhn: Konzeptionelle wirtschaftsethische Implikationen. Katholische Kirche, S. 740.
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gleichermaßen an Gemeinwohl, Solidarität und sozialer Gerechtigkeit orientiert. Dabei geht es allerdings weniger um die Formierung eines festen systematischen Rahmens, als vielmehr um die Feststellung maßgeblicher sozialethischer Grundprinzipien, Kriterien und Verhaltensorientierungen, deren konkrete Umsetzung in der Praxis des Zusammenspiels mit sozialwissenschaftlichen Analysen und volksund betriebswirtschaftlicher Handlungskompetenz bedarf. Die Dokumente der katholischen Sozialverkündigung müssen folglich immer auch als zeitbedingte, geschichtlich-kontingente Stellungnahmen gelesen und begriffen werden, deren zentrale wirtschaftsethische Aussagen überdies eine kontinuierliche Fortschreibung, Differenzierung und Modifizierung erfahren. Obwohl also nicht von einem wirtschaftsethischen Lehrgebäude der katholischen Soziallehre gesprochen werden kann, existieren in den Texten lehramtlicher Sozialverkündigung eine Reihe konzeptioneller wirtschaftsethischer Leitbilder. Diese erschließen sich aus der bereits erwähnten Zeitgenossenschaft der katholischen Soziallehre, die sich daraus verstehen lässt, dass sich die Sozialverkündigung immer als Reflex auf gesellschaftliche Entwicklungen verstanden hat und nicht als systematische geschlossene Lehre von der in keiner Gesellschaft zu praktizierenden Gerechtigkeit. Das Bemühen um einen angemessenen Platz in der Wilhelminischen Gesellschaft hatte trotz einiger Divergenzen die Anstrengungen des deutschen Katholizismus in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg bestimmt.239 Der Kulturkampf prägte die Anfangsjahre des deutschen Kaiserreichs.240 Eine wesentliche Folge der von Reichskanzler Otto von Bismarck forcierten weltanschaulichen Auseinandersetzung war eine Fokussierung innerhalb des Katholizismus auf kirchlichpolitische Aufgaben, die den Zusammenhalts der Katholiken und die Loyalität der Laien gegenüber Kirche und Klerus stärkte.241 Zugleich förderte gerade diese Unterordnung sozialer Bestrebungen unter kirchliche und staatspolitische Ziele den Übergang vom überkommenen Ideal einer vollständigen Gesellschaftsreform zur Praxis der partiellen Sozialpolitik. Insbesondere im Rheinland wirkte sich überdies der Einfluss der liberalen Richtung des belgischen und französischen Sozialkatholizismus um Frédéric Le Play, Léon Harmel und besonders den belgischen Nationalökonomen Charles Périn aus. Von privaten Unternehmer- und Arbeiterzusammenschlüssen und der Ausübung christlicher Nächstenliebe durch die 239 Vgl. Stegmann: Wirtschaftsethische Ansätze. Katholische Kirche, S. 694f. 240 Vgl. dazu wie zum Folgenden Stegmann/Langhorst: Geschichte der sozialen Ideen im deutschen Katholizismus, S. 655f. Vgl. grundlegend zum Kulturkampf, auf den an dieser Stelle nicht im Einzelnen eingegangen werden kann, bspw. Rudolf Morsey: Der Kulturkampf. In: Rauscher (Hg.): Der soziale und politische Katholizismus I, S. 72–109. 241 Vgl. Winfried Becker: Der politische und soziale Katholizismus. In: Rauscher (Hg.): Handbuch der Katholischen Soziallehre, S. 175–192, 179f. Vgl. zu den politischen Auseinandersetzungen zwischen Zentrumspartei und Reichskanzler Bismarck sowie zu den politischen wie religiösen Einschränkungen des deutschen Katholizismus Karl Bachem: Vorgeschichte, Geschichte und Politik der deutschen Zentrumspartei. Bd. 3. Köln 1927, bes. S. 137f. Vgl. dazu ebf. Rudolf Morsey: Bismarck und die deutschen Katholiken. Friedrichsruh 2000, bes. S. 16.
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Arbeitgeber erwartete sich diese Richtung eine Verbesserung der bestehenden Zustände. Die Christlich-Sozialen Blätter, das Organ der christlich-sozialen Verbände Westdeutschlands, verneinte offen die Ideen des sozial-konservativen Katholizismus.242 Sie strebten eine Unterscheidung der klassischen Lehre des Wirtschaftsliberalismus, wie sie Adam Smith geprägt hatte, vom „Manchesterthum, d. h. die unchristliche Folgerung aus der Adam Smith’schen Doktrin“, an, kritisierten, „dass man auch von Seiten katholischer Publicisten in der socialen Misere die Schuld allein auf den Kapitalismus wälzte“, priesen die Konkurrenz als „einzige durchschlagende Triebfeder auf allen Gebieten des Erwerbes“, ohne die es „um die Ernährung unserer, gegenwärtig über 47 000 000 zählenden, deutschen Staatsbürger in der That schlecht bestellt“ wäre und bekannten sich zum Kapitalismus als „eine wirthschaftliche Nothwendigkeit, durch welche die Ausdehnung der Cultur selbst nothwendig bedingt“ sei.243 Der Philosoph und spätere Reichskanzler Georg Freiherr von Hertling avancierte zum Ideengeber eines ab den 1880er Jahren immer stärker werdenden „Liberal-Katholizismus“ (wie der konservative, liberalismuskritische Publizist Karl Freiherr von Vogelsang die Entwicklung nannte), indem der Wandel von der integralen Sozialreform zur partiellen Sozialpolitik immer deutlicher zu Tage trat. Von Hertling, Mitbegründer der „Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft“, war um eine grundlegend naturrechtliche Begründung der Ordnung des menschlichen Zusammenlebens bemüht. Im Naturrecht erkannte er jene höhere Norm, „welche aus der menschlichen Natur und der Einrichtung der sittlichen Ordnung entspringend, von der Vernunft erkannt und als bindend anerkannt wird“, nach der sich der „sittliche Wert oder Unwert einer Handlung, im Unterschied vom Nutzen und vom äußeren Erfolg, bestimmt“.244 Durch den Rückgriff auf naturrechtliche Argumentationen von Kettelers trug von Hertling dazu bei, das naturrechtliche Denken in der katholischen Soziallehre fest zu etablieren, was sie – so Stegmann/Langhorst – davor bewahrt hätte, „bestimmte, irgendwann einmal in der Geschichte entstandene Ordnungen festzulegen und diese absolut zu setzen“.245 242 Vgl. dazu und zum Folgenden Stegmann/Langhorst: Geschichte der sozialen Ideen im deutschen Katholizismus, S. 657. 243 Christlich-Sociale Blätter 16 (1883), S. 467, 522, 527. Dabei erscheint vor allem die Verbindung eines christlichen Menschenbilds mit kapitalistischer Wirtschaftsweise als Lösung der sozialen Probleme, zugleich werden staatliche Eingriffe und staatssozialistische Ideen abgelehnt: „Nicht den Capitalismus als solchen greifen wir unsererseits an, sondern wir fordern die ausgedehnte Wiederbelebung christlicher Denkungs- und Handlungsweise in allen Kreisen der Bevölkerung; aus dieser wird sich naturgemäss die weise geregelte Association als Vereinigungspunkt für Capital ergeben, von welcher wir allein eine zeitgemässe Regeneration der Gesellschaft in ihrer heutigen Existenzform erwarten. Dagegen müssen wir es als einen beklagenswerthen Irrthum erkennen, an die Stelle der Manchestermänner den Staat zu setzen und durch seine Vermittelung die grossen Mittel für grosse Unternehmungen zusammen zu bringen. Der Staatssocialismus ist die Stagnation des gewerblichen Lebens.“ (Ebd., S. 527.) 244 Georg von Hertling: Naturrecht und Sozialpolitik. Köln 1893, S. 12. 245 Stegmann/Langhorst: Geschichte der sozialen Ideen im deutschen Katholizismus, S. 657f.
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Von Hertling setzte sich für die Bildung von Gewerkschaften nach englischem Vorbild ein, da diese „im Rahmen der bestehenden Gesellschaftsordnung die Schäden zu heilen“ versuchten, welche „die moderne großindustrielle Produktion der arbeitenden Bevölkerung gebracht“ habe.246 Dieses Bekenntnis zu einer praktischen Sozialpolitik bedeutete die grundsätzliche Anerkennung der bestehenden liberalen Sozial- und Wirtschaftsverfassung und eine endgültige Abkehr von den Ideen einer ständischen Ordnung, wie sie etwa Franz Hitze noch lange vertreten hatte.247 Trotz anfänglich fortbestehender Bedenken gegenüber der neuen Ordnung wandelte sich Hitze vom ideologisch-ständischen Reformer zum praktischen Sozialpolitiker, der schließlich die von Hertling entwickelte partielle Sozialpolitik in die Realität umsetzte und so bis zum Ersten Weltkrieg zur führenden Gestalt im sozialen Katholizismus wurde. Gemeinsam mit der historisch-ethischen Nationalökonomie und den Sozialethikern des lutherischen Sozialkonservativismus nahm dann die katholische Soziallehre im 20. Jahrhundert entscheidenden Einfluss auf die Begründung und Ausformung des modernen deutschen Sozialstaats als korporatistisch-konservatives Wohlfahrtsregime.248 Indem die katholische Soziallehre darüber hinaus zur Formulierung der großen päpstlichen Sozialenzykliken beitrug, schuf sie die Grundlagen für die Herausbildung eines katholischen Sonderwegs zwischen liberalem Individualismus und sozialistischem Kollektivismus. Dabei wurden nach dem Ersten Weltkrieg vom Universalismus beeinflusste revolutionär-konservative Ständeutopien wie beispielsweise die autoritären Vorstellungen Engelbert Dollfuß’ in Österreich letztlich ebenso verworfen wie die seit Beginn des Jahrhunderts entwickelten Modelle eines christlichen Sozialismus.249 Insbesondere während der Weimarer Republik gab der soziale Katholizismus kein einheitlich-gesellschaftliches Ordnungsbild ab, dennoch nahm der Einfluss katholisch-sozialer Ideen auf die Ausgestaltung der Sozial- aber auch der Kulturpolitik signifikant zu. Die Basis für den Ausbau des Sozialstaats wurde von der 1919 verabschiedeten Weimarer Reichsverfassung gelegt, in der eine freiheitliche Wirtschaftsordnung anerkannt wurde.250 Der gewachsene politische Einfluss des sozialen Katholizismus ist dabei vor allem 246 Hertling: Naturrecht und Sozialpolitik, S. 65. 247 Vgl. dazu und zum Folgenden Stegmann/Langhorst: Geschichte der sozialen Ideen im deutschen Katholizismus, S. 659. Der junge Hitze hatte in seiner 1881 veröffentlichten Vortragssammlung Kapital und Arbeit und die Reorganisation der Gesellschaft ständische Ideen vorgetragen, was zu einer Kontroverse mit Hertling geführt hatte, der nicht dazu bereit war, die Notwendigkeit einer Umbildung einer gegebenen Ordnung anzuerkennen. Hertling wies dabei unter Berufung auf die Geschichte ausdrücklich auf die Nachteile einer ständischen Gesellschaftsordnung für die Menschen hin. (Vgl. Georg von Hertling: Aufsätze und Reden socialpolitischen Inhalts. Freiburg 1884, S. 36– 39, 42.) 248 Vgl. Graf: Stellenwert der Religion, S. 643. Vgl. zur Unterscheidung vom liberalen britischen und sozialdemokratischen schwedischen Modell Gøsta Esping-Andersen: The three worlds of welfare capitalism. Cambridge 1990. 249 Vgl. dazu auch Stegmann: Wirtschaftsethische Ansätze. Katholische Kirche, S. 694–697. 250 Vgl. Friedrich: Wirtschaftsethik V/3. Neuzeit, S. 167.
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auf die Sonderstellung zurückzuführen, die dem Zentrum als konfessioneller Volkspartei zugefallen war.251 Dies wirkte sich vor allem auf das Ziel der Gleichberechtigung der Arbeiterschaft aus, obgleich – wie Rauscher anmerkt – „die Forderung ‚Partnerschaft statt Klassenkampf‘ kaum in die Praxis umgesetzt werden konnte“.252 Für die Folgezeit von maßgeblicher Bedeutung war insbesondere die Herausbildung des Solidarismus, der angesichts der stark differierenden wirtschaftsethischen Positionen während der Weimarer Zeit den Anspruch einer „katholisch-soziale[n] Einheitslinie“ vertrat.253 Theoretiker wie der Sozialethiker und Nationalökonom Heinrich Pesch entwickelten so in Anknüpfung an naturrechtliche und schöpfungstheologische Modelle Gegenentwürfe zum bürgerlich-liberalistischem Individualismus mit seinen politischen und ökonomischen Freiheitskonzepten auf der einen und dessen sozialistischer bzw. sozialdemokratischen Kritik und den etatistischen Gesellschaftskonzepten der Arbeiterbewegung auf der anderen Seite.254 Der Jesuit Pesch entwarf dazu eine die Prinzipien der katholischen Sozialphilosophie einbeziehende und die Ansätze von Kettelers, von Hertlings und Hitzes weiterführende Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie.255 Dabei verfolgte er den Anspruch, dem sozialpolitischen Pragmatismus des deutschen Vorkriegskatholizismus eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Entwicklung folgen zu lassen, die den Ansprüchen von Individuum und Gemeinschaft gleichermaßen gerecht werden und zugleich die Fehler von Individualismus und Sozialismus vermeiden sollte. Pesch ging dabei von der „tatsächliche[n] wechselseitige[n] Abhängigkeit“256 des arbeitenden Menschen „inmitten der Gesellschaft“257 als „Gesetz der Gemeinsamkeit und Gegenseitigkeit“, das „sämtliche Lebenssphären“ durchzieht 258, aus. Um dem arbeitenden Menschen die ihm zustehende Stellung zu gewahren, verwarf er die „ungebundene Herrschaftsstellung des Kapitalbesitzes“ und „sein un251 Vgl. Rudolf Morsey: Der politische Katholizismus 1890–1933. In: Rauscher (Hg.): Der soziale und politische Katholizismus I, S. 110–164. Vgl. auch Stegmann: Wirtschaftsethische Ansätze. Katholische Kirche, S. 695. 252 Rauscher: Katholische Soziallehre, S. 542. 253 So der programmatische Titel einer Monographie des österreichischen Sozialethikers Johannes Messner, der ebf. einer der Vordenker der Bewegung war. Johannes Messner: Um die katholisch-soziale Einheitslinie. Innsbruck u.a. 1930 (= „Neues Reich“ Bücherei 9). Vgl. Stegmann: Wirtschaftsethische Ansätze. Katholische Kirche, S. 695. 254 Vgl. Graf: Stellenwert der Religion, S. 641f. Vgl. dazu ebf. Gerhard Besier: „Berufsständische Ordnung” und autoritäre Diktaturen. Zur politischen Umsetzung einer „klassenfreien“ katholischen Gesellschaftsordnung in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts. In: Aufklärung und Kritik, Sonderheft 9 (2004), S. 255–271. 255 Vgl. dazu und zum Folgenden Stegmann: Wirtschaftsethische Ansätze. Katholische Kirche, S. 697. 256 Heinrich Pesch: Lehrbuch der Nationalökonomie. Bd. 1: Grundlegung. 3. u. 4., neu bearb. Aufl. Freiburg i.Br. 1924, S. 44. 257 Heinrich Pesch: Lehrbuch der Nationalökonomie. Bd. 2: Allgemeine Volkswirtschaftslehre I: Volkswirtschaftliche Systeme, Wesen und disponierende Ursachen des Volkswohlstandes. Freiburg i.Br. 5 1925, S. 214f. 258 Heinrich Pesch: Lehrbuch der Nationalökonomie. Bd. 4. Freiburg i.Br. 21922, S. 3.
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gezügeltes Erwerbsstreben“, das „maßvolle[s] Erwerbsstreben“ ersetze.259 „Die kritische Auseinandersetzung mit dem Liberalismus im allgemeinen und dem Wirtschaftsliberalismus im besonderen“ gehörte ganz wesentlich zu Peschs Konzeption und zwar in einer Weise, „die die katholische Soziallehre gewissermaßen in der Mitte zwischen den abzulehnenden Positionen eines individualistischen (Liberalismus) bzw. kollektivistischen (Sozialismus) Denkansatzes ansiedelt“.260 So sprach er sich sowohl gegen „sozialistische Diktaturgelüste“ als auch gegen den „alte[n] kapitalistische[n] Herrenstandpunkt“ aus.261 Dabei verwarf er indes nicht die privatwirtschaftliche Ordnung und den Wettbewerb als solche.262 Statt dessen verlangte er eine neue „solidaristische“ Ordnung und eine „mehr demokratisch-konstitutio-
259 Pesch: Lehrbuch der Nationalökonomie II, S. 227. 260 Vgl. Clemens Dölken: Katholische Sozialtheorie und liberale Ökonomik. Das Verhältnis von Katholischer Soziallehre und Neoliberalismus im Lichte der modernen Institutionenökonomik. Tübingen 1992 (= Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften 77), S. 14. Peschs Liberalismuskritik steht sinnbildlich für eine Entwicklung, die ihren Ursprung bereits in der Zeit nach der Französischen Revolution hat: So war das gesamte Zeitalter des Liberalismus geprägt durch eine permanente – gewollte oder ungewollte – Gegnerschaft von Liberalismus und katholischer Kirche bzw. Katholizismus, die sich im 19. Jahrhundert intensivierte. (Vgl. Dölken: Katholische Sozialtheorie, S. 15. Vgl. ebf. Rauscher: Katholische Soziallehre, S. 542.) Diese Grenzziehung war durchaus auch von Rom aus so gewollt, da modernistische und nationalkirchliche Ideen, die persönliche oder sogar institutionelle Überschneidungen mit dem politischen, wenigstens aber dem weltanschaulichen Liberalismus aufwiesen, als Gefährdung begriffen wurden. (Vgl. Dölken: Katholische Sozialtheorie, S. 16.) Die sich darin verdeutlichende Identifikation des Liberalen mit dem Antikirchlichen stammt aus den geistigen Konflikten, mit denen sich die Kirche am Ausgang des Zeitalters des Liberalismus auseinanderzusetzen hatte. (Vgl. Karl Heinz Grenner: Wirtschaftsliberalismus und katholisches Denken. Ihre Begegnung und Auseinandersetzung im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Köln 1967, S. 80–84). Die Kirche identifizierte zu dieser Zeit vor allem die scharfen und schmerzlichen Angriffe Kants und Leibniz’ mit dem geistesgeschichtlichen Zeitgeist – obwohl paradoxerweise sowohl Kant als auch Leibniz freilich weder als Theoretiker noch als politische Vertreter des Liberalismus gelten. (Vgl. hierzu Dölken: Katholische Sozialtheorie, S. 16.) Die scharfe Kritik des „liberalistischen Individualismus“ und die Absage an das Konkurrenzdenken der modernen Ökonomie und ihre freien Märkte dominierte die akademische Sozialethik dann auch noch im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. (Graf: Stellenwert der Religion, S. 643.) Die Weltwirtschaftskrise sorgte schließlich dafür, den Ruf der liberalen Wirtschaftsordnung in der katholischen Sozialethik (aber freilich nicht nur dort) weiter in Misskredit zu bringen. (Vgl. Dölken: Katholische Sozialtheorie, S. 21.) So blieb trotz der insgesamt großen Divergenz des Katholizismus die überwiegende Zahl katholischer Moraltheologen und Sozialethiker den normativen Leitannahmen des Liberalismus gegenüber bis lange ins 20. Jahrhundert hinein skeptisch bis ablehnend eingestellt. (Vgl. Graf: Stellenwert der Religion, S. 638.) Diese Auffassung fand so auch Einzug in die päpstliche Sozialverkündigung und findet seitens der Katholischen Soziallehre ebenfalls gegenüber dem Neoliberalismus Anwendung. (Vgl. Anton Rauscher: Katholische Soziallehre und liberale Wirtschaftsauffassung. In: Ders. (Hg.): Selbstinteresse und Gemeinwohl. Beiträge zur Ordnung der Wirtschaftsgesellschaft. Berlin 1985 (= Soziale Orientierung 5), S. 279–318, 285. Vgl. auch Dölken: Katholische Sozialtheorie, S. 14.) 261 Heinrich Pesch: Der richtige Weg zur Lösung der sozialen Frage. In: Hans Frhr. v. Berlepsch u.a. (Hg.): Soziale Arbeit im neuen Deutschland. Festschrift zum 70. Geburtstage v. Franz Hitze. Mönchengladbach 1921, S. 38–60, 56f. 262 Vgl. Stegmann: Wirtschaftsethische Ansätze. Katholische Kirche, S. 697.
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nelle Verfassung“ von Betrieben und Wirtschaft.263 Dem lag ein Freiheitsverständnis zugrunde, das der elementaren Einbindung des Einzelnen in Gemeinschaften wie Familie, Kirche und Kommune entsprach.264 Die Orientierung am bonum commune, dem Wohl aller, und Sozialprinzipien wie Personalität, Solidarität und Subsidiarität sollten helfen, die sozialen Kosten der kapitalistischen Marktwirtschaft zu begrenzen. Junge Sozialwissenschaftler beschäftigten sich Ende der 1920er und zu Beginn der 1930er Jahre mit der Fortentwicklung und Vertiefung des von Pesch entwickelten Solidarismuskonzepts.265 Der einflussreiche österreichische Politiker und Theologe Johannes Messner betonte beispielsweise, dass notwendige Korrekturen „innerhalb des Rahmens des heutigen Wirtschaftsleben bleiben“ und „sich der heutigen Wirtschaftsordnung einpassen müssen“, um Bestand zu haben. 266 Auch der Jesuit Oswald von Nell-Breuning warb um Reformen „innerhalb der bestehenden kapitalistischen Wirtschaftsordnung“.267 Die „auf Kapitalvermehrung eingestellte Wirtschaftsordnung“ sei „an und für sich nicht schlecht und böse“, doch müsse das für das Funktionieren der Wirtschaft erforderliche Gewinnstreben „durch staatliche Einflussnahme“ gezügelt, nicht aber „durch Bürokratie“ ersetzt werden.268 Auch das kirchliche Lehramt schloss sich in der Enzyklika Quadragesimo anno von 1931 dieser Bewertung der Wirtschaftsform an, die „nicht in sich schlecht“ sei, und bei der es jeweils „andere“ seien, „die die Produktionsmittel“ zur Verfügung stellten und „die die Arbeit“ bereitstellten.269 Verworfen wurde zugleich aber die kapitalistische Klassengesellschaft, in der das „Kapital die Lohnarbeiterschaft in seinen Dienst nimmt, um die Unternehmungen und die Wirtschaft insgesamt einseitig nach seinem Gesetz und zu seinem Vorteil ablaufen zu lassen, ohne Rücksicht auf die Menschenwürde des Arbeiters, ohne Rücksicht auf den gesellschaftlichen Charakter der Wirtschaft, ohne Rücksicht auf Gemeinwohl und Gemeinwohlgerechtigkeit“.270
263 Pesch: Der richtige Weg zur Lösung der sozialen Frage, S. 56f. 264 Vgl. dazu und zum Folgenden Graf: Stellenwert der Religion, S. 641f. 265 Vgl. dazu wie auch zum Folgenden Stegmann: Wirtschaftsethische Ansätze. Katholische Kirche, S. 698f. 266 Johannes Messner: Sozialökonomik und Sozialethik. Studie zur Grundlegung einer systematischen Wirtschaftsethik. Paderborn 21929 (= Veröffentlichungen der Sektion für Sozial- und Wirtschaftswissenschaft der Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft im katholischen Deutschland 1), S. 51. 267 Oswald von Nell-Breuning: Grundzüge der Börsenmoral. Freiburg i.Br. 1928 (= Studien zur katholischen Sozial- und Wirtschaftsethik 4), S. 4. 268 Oswald von Nell-Breuning: Kirche und Kapitalismus. Mönchengladbach 1929 (= Wirtschafts- und sozialpolitische Flugschriften 1), S. 7. 269 Pius XI.: Quadragesimo anno. Rom 1931, Nr. 100. 270 Quadragesimo anno, Nr. 101.
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Im Lehramt zeigt sich so die Tendenz einer moderaten Anerkennung und sozialinstitutionellen Begrenzung des Marktes.271 So wurden in der Enzyklika Privateigentum an Produktionsmitteln und eine unternehmerische Wettbewerbswirtschaft als Bedingungen wirtschaftlichen Fortschritts begriffen, die Selbstregulierung des freien Marktes jedoch abgelehnt: Die „rechte Ordnung der Wirtschaft“ dürfe nicht „dem freien Wettbewerb anheimgegeben werden“.272 Die ausführliche Kapitalismuskritik beinhaltete Forderungen nach Entprivatisierungen und Enteignungen; in der Beschreibung des geforderten Ordnungsrahmens blieb die Enzyklika jedoch wenig konkret. Das Lehramt forderte vom Einzelnen im Rahmen einer berufsständischen Ordnung die Verpflichtung gegenüber dem Wohl der Gemeinschaft. So solle die postkapitalistische Ordnung der Wirtschaft durch „soziale Gerechtigkeit und die soziale Liebe“ bestimmt sein.273 Zwar entsprachen die Begrenzung der Kräfte des Marktes und das Bekenntnis zu Solidarität, Schutz und Unterstützung der Schwachen den Anforderungen und Erwartungen der von Krieg und Wirtschaftskrise gebeutelten Weimarer Gesellschaft, doch erfolgte diese Fokussierung auf die Folgen der kapitalistischen Modernisierung auf Kosten einer tiefergehenden Auseinandersetzung mit der ökonomischen Realität eines durch Trust- und Monopolbildungen geprägten, rasch um sich greifenden organisierten Kapitalismus und den damit einhergehenden Schwierigkeiten, den Entwicklungen an den Börsenund Kapitalmärkten sowie einer Beschäftigung mit der Ausgestaltung wirtschaftlicher Prozesse.274 Ein Schritt zur Beseitigung der Missstände war die Ausweitung der Mitbestimmungsmöglichkeiten der Arbeitnehmerschaft sowie die Weiterführung der staatlichen Sozialpolitik, die maßgeblich von Vertretern der katholisch-sozialen Bewegung wie dem Sozialpolitiker und Priester Heinrich Brauns vorangetrieben wurden.275 Artikel 165 der Weimarer Verfassung sicherte die gleichberechtigte Mitwirkung der Arbeiter an der wirtschaftlichen Entwicklung und sah zudem die Einrichtung eines Rätesystems mit einem Reichswirtschaftsrat an der Spitze vor. Das Betriebsrätegesetz, das 1920 verabschiedet wurde, gewährte volle Mitbestimmung in personalen und sozialen Fragen sowie ansatzweise in wirtschaftlichen Fragen, da der Betriebsrat nun erstmals Mitglieder in den Aufsichtsrat eines Unternehmens entsenden durfte. Brauns, seit 1921 Reichsarbeitsminister, war besonders um die „Eingliederung der Arbeiterklasse in die Gesellschaft“ bemüht.276 Hierfür schlug er die Realisierung und Etablierung eines „Arbeitsrechts“ vor, „in dessen
271 Vgl. Graf: Stellenwert der Religion, S. 643. 272 Quadragesimo anno, Nr. 88. Vgl. hierzu und zum Folgenden Graf: Stellenwert der Religion, S. 643f. 273 Quadragesimo anno, Nr. 88. 274 Vgl. Graf: Stellenwert der Religion, S. 644. 275 Vgl. dazu wie zum Folgenden Stegmann: Wirtschaftsethische Ansätze. Katholische Kirche, S. 698f. 276 Hubert Mockenhaupt: Weg und Wirken des geistlichen Sozialpolitikers Heinrich Brauns. München u.a. 1977 (= Beiträge zur Katholizismusforschung, Reihe B, Abhandlungen), S. 176.
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Mittelpunkt die Persönlichkeit des Arbeitnehmers gestellt“ sein sollte.277 Darüber hinaus sollten Wirtschafts- und Sozialpolitik eine gleichwertige Rolle spielen. Dazu sah Brauns die Weiterführung der Sozialversicherung vor, die – eine lebensfähige Wirtschaft vorausgesetzt – ihrerseits Voraussetzung für wirtschaftlichen Fortschritt sei.278 Weitere Gesetze und Verordnungen wie das Gesetz über die Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge, die Ablösung der unzureichenden Armepflege durch ein modernes Fürsorgerecht, die Arbeitszeitverordnung sowie das Gesetz zur Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung gingen während seiner von 1920 bis 1928 dauernden Amtszeit ebenfalls auf Brauns zurück.279 Der Zentrumspolitiker und Reichsfinanzminister Matthias Erzberger machte 1921 den Vorschlag, Werksgenossenschaften durch die Belegschaften bilden zu lassen, die durch Gewinnbeteiligung und Miteigentum von bis zu 50 % erstmals paritätisch an der Unternehmensleitung beteiligt werden sollten. 280 Auch in der lehramtlichen Verkündigung fanden „Mitbesitz oder Mitverwaltung“ und somit den Vorschlägen Erzbergers vergleichbare Mitbestimmungsmöglichkeiten der Arbeitnehmer Erwähnung.281 Wie bereits zuvor in der Enzyklika Rerum novarum hob auch Quadragesimo anno die sittliche Erlaubtheit des Lohnvertrags hervor, sprach sich aber zusätzlich für eine „Annäherung des Lohnarbeitsverhältnisses an ein Gesellschaftsverhältnis“ aus.282 Die große Wirtschaftskrise von 1929 setzte eine Spirale in Gang, die schließlich zum Ende der Weimarer Republik führte.283 Obschon in der katholisch-sozialen Bewegung auch weiter intensiv Fragen einer Reform der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung diskutiert wurden – unter anderem durch den von Nell-Breuning ausgearbeiteten Entwurf der Enzyklika Quadragesimo anno284 –, so wurde der politische Alltag doch zunehmend von anderen Fragen dominiert: Die katastrophale Situation der öffentlichen Finanzen, der Bankenkrach von 1931, der Kollaps von Weltkonjunktur und -handel, vor allem aber der starke Anstieg der Arbeitslosigkeit trafen den Nerv der ersten deutschen Demokratie. Die Machtübernahme durch Adolf Hitler bedeutete dann auch die Rücknahme zahlreicher sozialer Errungenschaften wie Mitbestimmung, Selbstversammlung und Betriebsverfassung.
277 Heinrich Brauns: Zum Kampf um die Sozialpolitik. Essen 1930, S. 7. 278 Vgl. Mockenhaupt: Weg und Wirken, S. 182. 279 Vgl. grundlegend zur Sozialpolitik und den entsprechenden Konflikten während der Weimarer Republik Kolb: Die Weimarer Republik, S. 90–94. Vgl. dazu ferner Wirsching: Die Weimarer Republik in ihrer inneren Entwicklung, bes. S. 69–83. 280 Vgl. Matthias Erzberger: Christlicher Solidarismus als Weltprinzip. Mönchengladbach 1921, S. 26. 281 Quadragesimo anno, Nr. 65. 282 Quadragesimo anno, Nr. 65. 283 Vgl. dazu und zum Folgenden Stegmann: Wirtschaftsethische Ansätze. Katholische Kirche, S. 699f. 284 Vgl. Oswald von Nell-Breuning: Wie sozial ist die Kirche? Leistung und Versagen der katholischen Soziallehre. Düsseldorf 1972 (= Schriften der Katholischen Akademie in Bayern ), S. 99ff.
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Mag man Nell-Breuning rückblickend als Nestor der katholischen Soziallehre ansehen, so kann sein Lehrer Heinrich Pesch als deren „wissenschaftliche[r] Architekt“ betrachtet werden285: Ansätze eines strukturierten Lehrgebäudes mit erkennbarer Systematik innerhalb der katholischen Soziallehre werden überhaupt erst mit Peschs Solidarismus greifbar, gleiches gilt für deren Auseinandersetzung mit dem Wirtschaftsliberalismus.286 Die von Pesch und seinen geistigen Erben in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entwickelte Vorstellung eines von der Kirche gewiesenen dritten Wegs zwischen liberaler Ökonomik und Sozialismus blieb in der katholischen Soziallehre über einen langen Zeitraum bestimmend.287 1.3.1.3
Neue Herausforderungen: Katholische Soziallehre und Sozialpolitik nach 1945
Der gewachsene Einfluss des deutschen Katholizismus auf die gesellschaftliche Entwicklung nach der Stunde Null erklärt sich nicht zuletzt aus der Tatsache, dass die Kirchen nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur zu den wenigen intakt gebliebenen gesellschaftlichen Institutionen zählten.288 Der soziale Katholizismus konnte in der Zeit nach dem Krieg in bisher nicht da gewesener Weise Politik und Gesellschaft mitgestalten und dabei gerade auch seine wirtschaftsethischen Vorstellungen und Ziele einbringen. Schwerpunkte bildeten dabei die Problemfelder Soziale Marktwirtschaft, Eigentum und Eigentumsstreuung sowie wirtschaftliche Mitbestimmung. Den großen Einfluss der katholischen Soziallehre auf Politik, Gesellschaft und Wirtschaftsordnung der jungen Bundesrepublik erkennt man deutlich daran, dass eine Vielzahl der Ziele, die der soziale Katholizismus von seinen Anfängen bis 285 Dölken: Katholische Sozialtheorie, S. 13f. Vgl. dazu auch Lothar Roos: Kapitalismus, Sozialreform, Sozialpolitik. In: Anton Rauscher (Hg.): Der soziale und politische Katholizismus. Entwicklungslinien in Deutschland 1803–1963. Bd. 2. München u.a. 1982 (= Geschichte und Staat 250/252), S. 52–158, 91f. 286 Vgl. Dölken: Katholische Sozialtheorie, S. 15. Vgl. auch Karl Heinz Grenner: Wirtschaftsliberalismus und katholisches Denken. Ihre Begegnung und Auseinandersetzung im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Köln 1967. Entscheidend sei, so Dölken, der Einfluss Peschs für die Entwicklung der katholischen Soziallehre vor allem deshalb gewesen, weil es in ihr keine nennenswerte theoretische Rezeption früherer Autoren wie Franz von Baader, Adam Heinrich Müller, Emmanuel von Ketteler, Peter Franz Reichersperger oder Franz Hitze gegeben habe, obwohl letztgenannte sich intensiv mit dem Wirtschaftsliberalismus auseinandergesetzt hätten. Er führt in diesem Zusammenhang auch die Versicherung Oswald von Nell-Breunings an, er habe frühere Autoren wie Baader nie gelesen. (Oswald von Nell-Breuning: Worauf es mir ankommt. Zur sozialen Verantwortung. Freiburg i.B. u.a. 1983, S. 90.) So seien frühere Einflüsse auf die katholische Soziallehre weniger theoretischer als vielmehr wissenssoziologischer Art gewesen, wie beispielsweise antiliberale Reaktionen in Folge des Kulturkampfes in Deutschland und der protestantisch-kleindeutschen Lösung der Reichseinigung. (Dölken: Katholische Sozialtheorie, S. 15.) 287 Vgl. Graf: Stellenwert der Religion, S. 640f. 288 Vgl. dazu und zum Folgenden Stegmann: Wirtschaftsethische Ansätze. Katholische Kirche, S. 700.
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zum Ende der Weimarer Zeit erarbeitete, ziemlich genau jenen Vorstellungen entsprachen, die in der Nachkriegszeit als Soziale Marktwirtschaft bezeichnet wurden (vgl. auch oben).289 Das beinhaltete die grundsätzliche Zustimmung zur privatwirtschaftlichen Ordnung und zum Leistungswettbewerb, jedoch mit sozialen Zielsetzungen und Auflagen. 1.3.1.3.1
Soziallehre und Soziale Marktwirtschaft
Die Hinwendung der deutschen Katholiken zu Neoliberalismus und Sozialer Marktwirtschaft manifestierte sich in den 1950er Jahren vornehmlich in der praktischen Wirtschafts- und Sozialpolitik der Unionsparteien. 290 Die Mehrheit des Katholizismus erblickte in den Unionsparteien ihre politische Vertretung, obgleich politische Partei und Katholizismus freilich nicht miteinander gleichgesetzt werden dürfen.291 Insbesondere durch die Sozialausschüsse erlangte der soziale Katholizismus großen Einfluss auf die sozialpolitische Debatte in den Unionsparteien und prägte so die Herausbildung der sozialen Marktwirtschaft als differenziertes und komplexes institutionelles System der Daseinsvorsorge und Umverteilung. Christlich-soziale Positionen, die im Zusammenhang mit der Enzyklika Quadragesimo anno entstanden waren, spielten eine große Rolle im Programm der CDU der Nachkriegszeit.292 Besonders das Ahlener Programm der CDU in der britischen Besatzungszone von 1947 stellte nach Meinung sozialpolitisch engagierter christlicher Gewerkschaftler und Politiker die „Erfüllung des katholisch-sozialen Bemühens um die Lösung der ‚sozialen Frage‘“ dar.293 Darin fand sich unter anderem die Forderung einer „gemeinwirtschaftlichen Ordnung“, in welcher „nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben“, sondern „die Bedarfsdeckung des Volkes“ als Ziel aller Wirtschaft erschien.294 Diese Forderung deckt sich – wie unten noch ausführlich dargestellt werden soll – mit neueren wirtschaftsethischen Ansätzen wie dem Peter Ulrichs: Wie der Sozialethiker und Theologe Arthur Rich sieht Ulrich nicht in der „Schaffung von Marktwerten […] das entscheidende Mass der Wirtschaft“, sondern begreift „allen Sachzwängen zum Trotz“ die „Lebensdienslichkeit“ als vordringliches Ziel des Wirtschaftens.295 Dem entspricht eine
289 Vgl. wie auch zum Nachfolgenden Stegmann: Wirtschaftsethische Ansätze. Katholische Kirche, S. 700. 290 Vgl. Stegmann: Wirtschaftsethische Ansätze. Katholische Kirche, S. 700. 291 Vgl. hierzu und zum Folgenden Graf: Stellenwert der Religion, S. 644f. 292 Vgl. dazu und zum Folgenden Rauscher: Katholische Soziallehre, S. 543. 293 Rauscher: Katholische Soziallehre, S. 543. 294 Roos: Kapitalismus, Sozialreform, Sozialpolitik, S. 128ff. 295 Vgl. Peter Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik. Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie. Bern u.a. 32001, S. 203f. Vgl. ebf. ebd. S. 11f. Vgl. zudem Arthur Rich: Wirtschaftsethik. Bd. 2: Marktwirtschaft, Planwirtschaft, Weltwirtschaft aus sozialethischer Sicht. Gütersloh 1990, S. 23.
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Vorstellung der Wirtschaft nicht als „Selbstzweck, sondern als „Mittel für das gute Leben und das gerechte Zusammenleben freier und gleicher Bürger“.296 Die intensive Beteiligung des sozialen Katholizismus an der sozialpolitischen Debatte der Nachkriegsjahre darf indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass gerade auf seiner vorpolitischen Ebene die Hinwendung zu neoliberaler Politik und Sozialer Marktwirtschaft weitaus geringer ausgeprägt war.297 Die Befürworter einer regen Mitgestaltung argumentierten, die Sicherung der Freiheit stelle „das Zentralanliegen eines echten Liberalismus und das Fundament der christlichen Sozialethik“ dar298; die katholische Soziallehre bzw. das aus ihr hervorgehende Prinzip der Subsidiarität fordere, „möglichst viel Tätigkeit, Verantwortung und Initiative bei den Einzelmenschen“ zu belassen.299 Die Soziale Marktwirtschaft stelle keinen Manchester-Kapitalismus mehr dar, vielmehr stehe dieses Ordnungsmodell im Dienst am Menschen und umschließe „das Bezugssystem des Sozialen“.300 Tatsächlich spielte aber wohl die überlegene Leistungsfähigkeit der Marktwirtschaft die entscheidende Rolle, wie Stegmann vermutet301, die „Erfahrung von der ungeheuren Produktivkraft eines entfalteten freien Wirtschaftssystems“, denn schließlich sei die „Explosion der produktiven Kräfte“ nur dort möglich, „wo kollektivistische Experimente unterblieben“.302 Demgegenüber wandten sich die Kritiker vor allem gegen die Überbetonung von Wettbewerb, (geradezu naturgesetzlicher) Marktautomatik und Wirtschaft insgesamt im Neoliberalismus, wodurch die „Möglichkeit sittlich zu verantwortender Willensentscheidungen und Handlungen gegen den Marktmechanismus“ ausgeschlossen würden.303 Außerdem kritisierten sie die Überbetonung einer „verabsolutierten, formalistisch interpretierten Frei296 Peter Ulrich: Wider die entgrenzte Marktwirtschaft. Integrative Wirtschaftsethik als Kritik der ökonomischen Vernunft. In: Helmut Neuhaus (Hg.): Ethische Grenzen einer globalisierten Wirtschaft. Atzelsberger Gespräche 2002. Erlangen 2003 (= Erlanger Forschungen, Reihe A, Geisteswissenschaften 103), S. 41–63, 41. 297 Vgl. hierzu und zum Folgenden Stegmann: Wirtschaftsethische Ansätze. Katholische Kirche, S. 701. 298 Berthold Kunze: Wirtschaftsethik und Wirtschaftsordnung. In: Patrick M. Boarman (Hg.): Der Christ und die soziale Marktwirtschaft. Stuttgart u.a. 1955, S. 35–52, 48. 299 Georg Bernhard Kripp: Wirtschaftsfreiheit und katholische Soziallehre. Zürich u.a. 1967 (= Veröffentlichungen der Hochschule St. Gallen für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Volkwirtschaftlich-wirtschaftsgeographische Reihe 14), S. 111. 300 Goetz Briefs: Katholische Soziallehre, Laissez-faire-Liberalismus und soziale Marktwirtschaft. In: Was wichtiger ist als Wirtschaft. Vorträge auf der 15. Tagung der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft am 29. Juni 1960 in Bad Godesberg. Ludwigsburg 1960 (= Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft. Tagungsprotokoll 15), S. 33–44, 41. 301 Vgl. Stegmann: Wirtschaftsethische Ansätze. Katholische Kirche, S. 701. 302 Briefs: Katholische Soziallehre, Laissez-faire-Liberalismus und soziale Marktwirtschaft, S. 40. 303 Egon Edgar Nawroth: Die Sozial- und Wirtschaftsphilosophie des Neoliberalismus. Heidelberg 1961 (= Politeia 14), S. 380. Vgl. kritisch dazu Gerhard Engel: Die Überwindung von Normativität durch Theoriebildung. Anmerkungen zu Popper, Eucken, Hayek und Buchanan. In: Helmut Leipold/Ingo Pies (Hg.): Ordnungstheorie und Ordnungspolitik. Konzeptionen und Entwicklungsperspektiven. Stuttgart 2000 (= Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft 64), S. 277–302, 286–288.
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heit“, die man „als letztgültige Norm“ im „menschlich-sozialen“ sowie im „staatlich-gesellschaftlichen Bereich“ verstehe.304 So werde durch den Neoliberalismus lediglich der paläoliberale Harmonieglaube an eine gottgegebene „natürliche Ordnung“ durch die Erwartung einer neuen Harmonie aufgrund des vom Staat „veranstalteten“ Wettbewerbs ersetzt, was keinen „revolutionären Wandel“, sondern allenfalls eine „Säkularisierung und ordnungspolitische Modifikation des Laissez-faire-Optimismus“ bedeute.305 Eine ähnliche Skepsis findet sich auch noch bei von Nell-Breuning, der zu einem der einflussreichsten katholischen Sozialwissenschaftler avancierte. So nimmt er weitestgehend eine Übertragung der überkommenen Vorbehalte gegenüber dem Liberalismus auf den Neoliberalismus vor, die sich so in politischen Zeitschriften, aber auch in den Sozialausschüssen der CDU sowie der KAB wiederfinden.306 Nell-Breuning sieht es zwar als „große Errungenschaft“ an, dass der Neoliberalismus dem Laissez-faire eine Absage erteile und es für notwendig erachte, „eine Freiheitsordnung zu schaffen und durch geeignete gesellschaftliche Einrichtungen zu sichern“.307 Doch könne so der Anschein erweckt werden, „als sei es dem Neoliberalismus gelungen, der individualistischen Verfälschung des alten Individualismus sich zu entledigen und sich zu echtem Liberalismus zu läutern“.308 Eine solche Wandlung wird durch von Nell-Breuning entschieden negiert: „Vielleicht mag er in Zukunft einmal wirklich dahin gelangen; bis jetzt aber hat der Neoliberalismus trotz des großen Fortschritts, den er namentlich auf wirtschaftlichem Gebiet über den manchesterlichen Laissez-faire-Liberalismus gemacht hat, sich noch nicht vom Individualismus zu lösen vermocht.“309 Obschon auch die Enzyklika Quadragesimo anno dem „freien Wettbewerb“ als dem „regulativen Prinzip der Wirtschaft“ noch kritisch gegenüber gestanden hatte310, wird in der Gegenwart das grundsätzliche Ja zur Sozialen Marktwirtschaft kaum mehr in Zweifel gezogen.311 Der ehemalige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Joseph Kardinal Höffner, etwa hat sich explizit für eine „sozial ausgerichtete marktwirtschaftliche Ordnung“ ausgesprochen312, und die Enzyklika 304 Nawroth: Sozial- und Wirtschaftsphilosophie des Neoliberalismus, S. 425. 305 Nawroth: Sozial- und Wirtschaftsphilosophie des Neoliberalismus, S. 21. 306 Vgl. Albrecht Langner: Wirtschaftliche Ordnungsvorstellungen im deutschen Katholizismus. 1945–1963. In: Ders. (Hg.): Katholizismus, Wirtschaftsordnung und Sozialpolitik 1945–1963. Paderborn u.a. 1980 (= Beiträge zur Katholizismusforschung, Reihe B), S. 88ff. 307 Oswald von Nell-Breuning: Liberalismus. In: Ders./Hermann Sacher (Hg.): Wörterbuch der Politik. Heft V: Gesellschaftspolitische Ordnungssysteme. Freiburg i.Br. 1951, S. 218. 308 Nell-Breuning: Liberalismus, S. 218. 309 Nell-Breuning: Liberalismus, S. 218. 310 Quadragesimo anno, Nr. 88. 311 Vgl. dazu und zum Folgenden Stegmann: Wirtschaftsethische Ansätze. Katholische Kirche, S. 701. 312 Joseph Höffner: Wirtschaftsordnung und Wirtschaftsethik. Richtlinien der katholischen Soziallehre. Eröffnungsreferat des Kardinals Joseph Höffner bei der Herbstversammlung der Deutschen Bischofskonferenz in Fulda, 23. September 1985. Bonn 1985 (= Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz 12), S. 41. Vgl. zu Höffner, der 1951 den Lehrstuhl für Christliche Soziallehre in
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Centesimus annus aus dem Jahr 1991 stellt ein „Bekenntnis zur Marktwirtschaft“ dar313, welche von ihr als „sicher positiv“ gewertet wird, sofern sie „in eine feste Rechtsordnung eingebunden ist“.314 Dass auch von Nell-Breuning 1948 forderte, „zunächst soviel wie irgend möglich die Marktwirtschaft in Gang zu bringen“, ist vor allem darauf zurückzuführen, dass man Leistungskonkurrenz, Markt und Wettbewerb mehr als jedem anderen System die Fähigkeit zuerkannte, die knappen ökonomischen Ressourcen bestmöglich zu nutzen.315 Ineffizientes wirtschaftliches Handeln und Verschwendung von Ressourcen, wie sie sich in den sozialistischen Staaten zeigten, stellten einen Verstoß „gegen das Prinzip der mitmenschlichen Solidarität […], theologisch gesprochen – gegen das Verbot der Nächstenliebe“ dar.316 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass „für die katholische Soziallehre wirtschaftliches Geschehen Teil des umfassenden gesellschaftlichen Geschehens ist“ und sich dementsprechend die „Qualität der Wirtschaft […] danach bestimmt, ob und wie viel sie beiträgt zu einer humanen Gestaltung des Lebens aller Menschen“.317 So genügt es nicht, bloße Sicherungen für den Wettbewerb und das Funktionieren der Marktwirtschaft bereitzustellen und gegebenenfalls nachträglich nicht genügende Ergebnisse zu korrigieren.318 Eine im eigentlichen Wortsinn soziale und gegenüber dem Neoliberalismus eigenständige Marktwirtschaft muss gleichzeitig auch Sicherungen für einen „sozial befriedigenden Vollzug und ein sozial gerechtes Ergebnis der Wirtschaft“ bereitstellen.319
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Münster übernahm und als Leiter des Sozialreferats im Zentralkomitee der deutschen Katholiken die Koordination des sozialen Katholizismus gewährleisten sollte, Manfred Hermanns: Sozialethik im Wandel der Zeit. Persönlichkeiten – Forschungen – Wirkungen des Lehrstuhls für Christliche Gesellschaftslehre und des Instituts für Christliche Sozialwissenschaften der Universität Münster 1893–1997. Paderborn u.a. 2006 (= Abhandlungen zur Sozialethik 49), S. 237ff., S. 256ff. Peter Langhorst: „Centesimus annus“ und der Mensch. Zur Jahrhundertenzyklika Papst Johannes Paul II. In: Lebendiges Zeugnis 47 (1992), S. 178–189, 189. Johannes Paulus II.: Centesimus annus. Rom 1991, Nr. 42, 2. Oswald von Nell-Breuning: Aus der Aussprache aus der 1. Sitzung des Wissenschaftlichen Beirats bei der Verwaltung für Wirtschaft am 23./24. Januar 1948 in Königstein im Taunus (stenographisches Protokoll). In: Ders.: Wirtschaft und Gesellschaft heute. Bd. 1. Freiburg i.Br. 1956, S. 156– 158, 158. Franz Josef Stegmann: Soziale Marktwirtschaft – Neoliberalismus – Christliche Gesellschaftslehre. Historische und grundsätzliche Anmerkungen zu einer aktuellen Problematik. In: Herbert Schambeck (Hg.): Der Mensch ist der Weg der Kirche. Festschrift für Johannes Schasching. Berlin 1992, S. 241–266, 259. Stegmann: Wirtschaftsethische Ansätze. Katholische Kirche, S. 701f. Vgl. Stegmann: Wirtschaftsethische Ansätze. Katholische Kirche, S. 702. Oswald von Nell-Breuning: Wie „sozial“ ist die „Soziale Marktwirtschaft“? In: Ders.: Den Kapitalismus umbiegen. Schriften zu Kirche, Wirtschaft und Gesellschaft. Ein Lesebuch. Düsseldorf 1990, S. 222–238, 236.
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1.3.1.3.2
Eigentum, Eigentumsordnung und wirtschaftliche Mitbestimmung
Der Begründung des Eigentumsrechts liegt in der katholischen Soziallehre die Auffassung zugrunde, dass die Erdengüter im Sinne einer grundlegenden Gemeinwidmung nicht bestimmten Menschen zugeordnet sind, sondern dass sie „allen Menschen zugute kommen“ und so jedem die „Teilhabe an der Nutzung der Güter“ ermöglicht werden soll.320 Dies gewährleistet die Privateigentumsordnung. Die „allen zustehende Nutzung der Güter“ ist dadurch sichergestellt, dass ihre Verwaltung und die Verfügung über sie „nicht schematisch von zentraler Stelle von oben herab“ erfolgt, sondern „tunlichst sachnah und menschennah von denen selbst ausgeübt“ wird, „die es unmittelbar angeht“.321 Das Recht auf Eigentum wird also nicht vom Staat gewährt, sondern ist ein Naturrecht. Allerdings hat der Staat für die Regelung von „Form und Ausgestaltung“ der Eigentumsordnung Sorge zu tragen und diese „mit dem Gemeinwohl in Einklang“ zu bringen.322 Wegen der auf Gott gründenden Gemeinwidmung der Erdengüter muss jedes konkrete Eigentum immer wieder darauf geprüft werden, „ob es diesen Anspruch ermöglicht“.323 Die ungleiche Verteilung des Eigentums und insbesondere die Anhäufung von Produktionsmitteln in den Händen einer Minderheit steht so dem primären Widmungszweck der Erdengüter entgegen. In Anbetracht der „überwältigende[n] Massenerscheinung des Proletariats gegenüber dem kleinen Kreis von Überreichen“ verlangte bereits Pius XI. in Quadragesimo anno, dass „wenigstens in Zukunft die neugeschaffene Güterfülle nur in einem billigen Verhältnis bei den besitzenden Klassen sich anhäufe, dagegen in breitem Strom der Lohnarbeiterschaft zufließe“.324 So stellte auch der aus der katholisch-sozialen Bewegung kommende Sozialwissenschaftler Paul Jostock die Frage, mit welchem Recht der wirtschaftliche Wertzuwachs, der aus einem Zusammenwirken von Kapital, Management und Arbeit beruhe, „in das Alleineigentum der Kapitalbesitzer“ übergehe, ohne die Arbeiter zu beteiligen.325 Auch der Bochumer Katholikentag übte 1949 scharfe Kritik an der einseitigen Kapitalkonzentration: Vielmehr müssten, so der zuständige Arbeitskreis, „auch die Gewinne der Unternehmungen gerechterweise zwischen Arbeitnehmern, Unternehmern und Kapitalgebern“ aufgeteilt werden.326 Von solchen Überlegungen beeinflusst forderte die CDU im selben Jahr in ihrem Programm 320 Franz Klüber: Katholische Eigentumslehre. Osnabrück 1968 (= Zeitnahes Christentum 54), S. 29f. Vgl. hierzu ebenso Stegmann: Wirtschaftsethische Ansätze. Katholische Kirche, S. 702f. 321 Oswald von Nell-Breuning: Gerechtigkeit und Freiheit. Grundzüge katholischer Soziallehre. München 21985 (= Geschichte und Staat 273), S. 211. 322 Quadragesimo anno, Nr. 49. 323 Friedrich Beutter: Die theologische Begründung der katholischen Lehre vom Eigentum. In: Gesellschaft und Politik 12, H. 2 (1976), S. 34–41, 39. 324 Quadragesimo anno, Nr. 60f. 325 Paul Jostock: Grundzüge der Soziallehre und der Sozialreform. Freiburg i.Br. 1946, S. 164. 326 Gerechtigkeit schafft Frieden. Der 73. Deutsche Katholikentag vom 31. August bis 4. September 1949 in Bochum. Hg. v. Generalsekretariat des Zentralkomitees der Deutschen Katholikentage. Paderborn 1949, S. 247.
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vor der ersten Bundestagswahl, vorhandene Beteiligungsformen der Arbeitnehmer am Produktivvermögen „auf weitere Betriebe auszudehnen und neue Formen zu entwickeln“.327 Zahlreiche Vertreter der Soziallehre vertraten die Auffassung, dass die Einführung eines Investivlohns einen geeigneten Weg darstelle, die Arbeitnehmer am Zuwachs des Produktivvermögens teilhaben zu lassen.328 Investivlohn bildet einen Teil des Arbeitsentgelts, der nicht als Geld an den Arbeitnehmer ausgezahlt wird, sondern in Form einer Unternehmensbeteiligung. Vorschläge zum Investivlohn wurden seit den 1950er Jahren wiederholt im sozialen Katholizismus und seit den 1980er Jahren auch vom Zentralkomitee der deutschen Katholiken vorgelegt.329 Von Nell-Breuning betonte, dass besonders Erhöhungen des Arbeitnehmereinkommens der Investition zugeführt werden müssten und nicht in den Konsum gehen dürften, weil dies nur höhere Preise verursache, die letztlich wieder einseitig dem Unternehmer nützten.330 Entsprechend verlange das aus sozialethischen und gesellschaftspolitischen Gründen geforderte „Hineinwachsen der Arbeiterschaft in das Miteigentum an Produktionsmitteln“, einen „wachsenden Teil des Volkseinkommens den Lohneinkommensbeziehern zufließen zu lassen, damit er von ihnen der Investition zugeführt werde“.331 Die Forderungen führten unter anderem zur Einführung vermögenswirksamer Leistungen, konnten sich aber dennoch bis in die Gegenwart nicht allgemein durchsetzen.332 Katholische und evangelische Kirche plädierten in ihrem gemeinsamen Sozialwort „Für eine Zukunft in Freiheit und Gerechtigkeit“ von 1997 nochmals eindringlich für „eine verstärkte Beteiligung der Arbeiterinnen und Arbeiter am Produktivvermögen“, um eine sozial ausgewogenere und gerechtere Vermögensverteilung zu gewährleisten und so gleichzeitig „Investitionen zu erleichtern, Arbeitsplätze zu sichern und neue zu schaffen und so auch die wirtschaftlichen Verhältnisse zu festigen.333 327 Christlich-Demokratische Union Deutschlands: Düsseldorfer Leitsätze vom 15. Juli 1949. In: Ossip K. Flechtheim (Hg.): Dokumente zur parteipolitischen Entwicklung in Deutschland seit 1945. Bd. 2: Programmatik der deutschen Parteien. 1. Teil. Berlin 1963, S. 58–76, 73. 328 Vgl. Franz Josef Stegmann: Die katholische Kirche in der Sozialgeschichte. Die Gegenwart. München u.a. 1983, S. 66ff. Vgl. ebf. Stegmann: Wirtschaftsethische Ansätze. Katholische Kirche, S. 703. 329 Vgl. Stegmann: Wirtschaftsethische Ansätze. Katholische Kirche, S. 704. 330 Oswald von Nell-Breuning: Das Lohnproblem im Zusammenhang mit der Beteiligung des Arbeiters am Sozialprodukt, insbesondere an der volkswirtschaftlichen Vermögensbildung. Referat, gehalten vor dem Wissenschaftlichen Beirat des Bundesministeriums für Wirtschaft am 17. November 1951. In: Ders.: Wirtschaft und Gesellschaft heute I, S. 410–422, 411. 331 Oswald von Nell-Breuning: Einkommensgestaltung in der sozialen Marktwirtschaft. Referat, gehalten vor dem Wissenschaftlichen Beirat des Bundesministeriums für Wirtschaft am 23. September 1950. In: Ders.: Wirtschaft und Gesellschaft heute I, S. 403–410, 406. 332 Vgl. Stegmann: Wirtschaftsethische Ansätze. Katholische Kirche, S. 704. 333 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland. Hg. v. Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland und v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz. Hannover u.a. 1997 (= Gemeinsame Texte/Sekretariat der Deut-
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Zu den meistdiskutierten wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Fragen der Nachkriegszeit gehörte das Thema der Mitbestimmung, das im sozialen Katholizismus seit jeher eine wichtige Rolle gespielt hatte.334 Sowohl die CDU der britischen Zone als auch die CSU sprachen sich in ihren Grundsatzprogrammen im Jahr 1946 für Mitbestimmung und Verantwortung der Arbeitnehmer aus.335 Auf dem Bochumer Katholikentag spielte die Frage nach betrieblicher Mitbestimmung eine wesentliche Rolle. Man einigte sich auf den Entschluss, dass „das Mitbestimmungsrecht aller Mitarbeitenden bei sozialen, personalen und wirtschaftlichen Fragen ein natürliches Recht in gottgewollter Ordnung ist, dem die Mitverantwortung entspricht“ und forderte eine entsprechende gesetzliche Festlegung. 336 In der Folge erregte die naturrechtliche Begründung jedoch einigen Anstoß. Kritiker, unter denen sich auch Papst Pius XII. befand, wiesen auf die Unvereinbarkeit zwischen dem von der Kirche gelehrten Recht auf Privateigentum und der Mitbestimmung hin und negierten, dass es sich bei letzterem um ein Naturrecht handle. 337 Befürworter betonten ihre „hohe natürliche Angemessenheit“338 und interpretierten sie als politische Forderung.339 Das bedeutete zwar die Rücknahme der naturrechtlichen Begründung, was hingegen nichts daran änderte, dass das Votum des Katholikentags die gesetzlichen Mitbestimmungsregelungen in der Folgezeit maßgeblich beeinflusste.340 Seit 1951 müssen in Kapitalgesellschaften in Bergbau sowie Eisen- und Stahlindustrie mit mehr als 1000 Mitarbeitern die Aufsichtsräte paritätisch sowie mit einem zusätzlichen neutralen Mitglied besetzt sein. Zudem muss sich im Vorstand ein Arbeitsdirektor befinden, welcher der Zustimmung der Arbeitnehmer bedarf. Mit dem Mitbestimmungsgesetz von 1976 wurde die paritätischen Bischofskonferenz und Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland 9), Nr. 216, 218. 334 Vgl. dazu und zum Folgenden Stegmann: Wirtschaftsethische Ansätze. Katholische Kirche, S. 705. 335 Vgl. Christlich-Demokratische Union Deutschlands: Aufruf und Parteiprogramm von Neheim-Hüsten vom 1. März 1946. In: Ossip K. Flechtheim (Hg.): Dokumente zur parteipolitischen Entwicklung in Deutschland seit 1945. Bd. 2: Programmatik der deutschen Parteien. 1. Teil. Berlin 1963, S. 48–53, 51. Vgl. Christlich-Soziale Union Deutschlands: Grundsatzprogramm von 1946. In: Flechtheim (Hg.): Dokumente zur parteipolitischen Entwicklung in Deutschland seit 1945 II 1, S. 213–219, 216. 336 Gerechtigkeit schafft Frieden. Der 73. Deutsche Katholikentag vom 31. August bis 4. September 1949 in Bochum. Hg. v. Generalsekretariat des Zentralkomitees der Deutschen Katholikentage. Paderborn 1949, S. 114. 337 Vgl. Gustav Gundlach: Ordnung der menschlichen Gesellschaft. Rheinischer Merkur Nr. 41 v. 05.10.1951. In: Otto Kunze (Hg.): Wirtschaftliche Mitbestimmung im Meinungsstreit. Bd. 2. Köln 1964, S. 178. Vgl. ebf. Gustav Gundlach: Mitbestimmung und Sozialisierung. Rheinischer Merkur Nr. 3 v. 07.03.1952. In: Kunze (Hg.): Wirtschaftliche Mitbestimmung II, S. 179–182, 179. 338 Hans Hirschmann: Was sagte Bochum zum Mitbestimmungsrecht? Paderborn 1951, S. 14. 339 Vgl. ihre Verteidigung bei Oswald von Nell-Breuning: Das Sendschreiben nach Turin. Neues Licht auf die Mitbestimmung [1952]. In: Ders.: Wirtschaft und Gesellschaft heute. Bd. 2. Freiburg i.Br. 1957, S. 139–143, 141. 340 Vgl. dazu und zum Folgenden Stegmann: Wirtschaftsethische Ansätze. Katholische Kirche, S. 705f.
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sche Besetzung der Aufsichtsräte auch auf Unternehmen der übrigen Wirtschaft mit (gewöhnlich) mehr als 2000 Mitarbeitern ausgedehnt, obschon in einer Pattsituation der Vorsitzende entscheidet. Darüber hinaus sind nach dem Betriebsverfassungsgesetz seit 1952 (bzw. 1972) in Kapitalgesellschaften mit weniger als 2000 Arbeitnehmern ein Drittel der Aufsichtsratsmitglieder Arbeitnehmervertreter. Im Gegensatz zur ablehnenden Haltung Papst Pius’ XII. fand dies 1961 auch die Unterstützung Johannes XXIII. in seiner Sozialenzyklika Mater et magistra sowie besonders in den Dokumenten des Zweiten Vatikanischen Konzils.341 Dafür war die besondere Stellung verantwortlich, die der Arbeit zuerkannt wurde: Sie ist „unmittelbarer Ausfluß“ der menschlichen Natur und der Person342 und besitzt laut der 1965 verabschiedeten Pastoralkonstitution Gaudium et spes „Vorrang vor allen anderen Faktoren des wirtschaftlichen Lebens“.343 Zur Mitbestimmung hielt das Konzil fest: „In den wirtschaftlichen Unternehmen stehen Personen miteinander in Verbund, d.h. freie, selbstverantwortliche, nach Gottes Bild geschaffene Menschen.“344 Aus diesem Grund „sollte man unter Bedachtnahme auf die besonderen Funktionen der einzelnen, sei es der Eigentümer, der Arbeitgeber, der leitenden oder der ausführenden Kräfte, und unbeschadet der erforderlichen einheitlichen Werkleitung die aktive Teilnahme aller an der Unternehmensgestaltung voranbringen“, wobei „die geeignete Art und Weise der Verwirklichung“ noch „näher zu bestimmen“ wäre.345 In den katholischen Sozialwissenschaften wurden die Texte in der Folge kontrovers diskutiert. 346 Einige Theologen verstanden die Konzilsaussagen als „prinzipielle und generelle Entscheidung zugunsten der Mitbestimmung“, die auch die 1951 realisierte Form der kollektiven Mitbestimmung nicht ausschließe.347 Während sie dementsprechend auch „die so umstrittenene wirtschaftliche Mitbestimmung“ als „vollauf in die Gedanken des Papstes einbezogen“ betrachteten348, urteilten andere wie der Konzilstheologe Wilhelm Weber, „die deutsche Form der Mitbestimmung, wie wir sie im Montanbereich kennen, dürfte in den Augen des Konzils wohl kaum Gnade finden“ und von „einem Blankoscheck für die paritätische Mitbestimmung der Ar341 Vgl. hierzu wie auch zum Folgenden Anton Rauscher: Arbeit und Eigentum in der Problematik der paritätischen Mitbestimmung. In: Goetz Briefs (Hg.): Mitbestimmung? Beiträge zur Problematik der paritätischen Mitbestimmung in der Wirtschaft. Stuttgart 1967 (= Schriftenreihe des Vereins für wirtschaftliche und soziale Fragen e.V. Stuttgart 1), S. 56–97, 70. 342 Johannes XXIII.: Mater et magistra. Rom 1961, Nr. 107. 343 Concilium Vaticanum 2: Gaudium et spes. Rom 1965, Nr. 67. 344 Gaudium et spes, Nr. 68. 345 Gaudium et spes, Nr. 68. 346 Vgl. zur Diskussion Stegmann/Langhorst: Geschichte der sozialen Ideen im deutschen Katholizismus, S. 816–821. 347 Franz Klüber: Arbeit und Mitbestimmung als soziale Grundrechte. In: Katechetische Blätter 103 (1978), S. 278–283, 281. 348 Eberhard Welty: Johannes’ XXIII. Vermächtnis an die Arbeitnehmer. In: Hans Achinger u.a. (Hg.): Normen der Gesellschaft. Festgabe für Oswald v. Nell-Breuning SJ zu seinem 75. Geburtstag. Mannheim 1965, S. 113–149, 129.
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beitnehmer“ könne „wohl keine Rede sein“.349 Weber sah die Wahrung der unterschiedlichen Funktionen der Eigentümer, Unternehmensleiter und Arbeitnehmer gefährdet und warnte vor anonymen und kollektiven Einflussnahmen unternehmensfremder Machtgruppen.350 Und für den Augsburger Sozialethiker Anton Rauscher waren Mitbestimmung und Eigentumsrechte gänzlich unvereinbar.351 Diese Meinungsverschiedenheiten waren auch für den übrigen deutschen Katholizismus prägend.352 Die Katholische-Arbeitnehmer-Bewegung forderte die Ausweitung der paritätischen Mitbestimmung auf alle übrigen Großunternehmen353, der Bund Katholischer Unternehmer wandte sich entschieden dagegen, da so die „Entscheidungsfreiheit des Unternehmers“ aufgehoben, Eigentumsrechte verletzt und somit „unsere freiheitliche Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung“ hoch gefährdet seien.354 Trotz der Uneinigkeit über die richtige Deutung der lehramtlichen Aussagen erscheint jedoch unstrittig, dass das Unternehmen nicht bloß als Sachmittelapparat zur Gütererzeugung, sondern in erster Linie als Verbund von freien, selbstverantwortlichen Menschen verstanden wird.355 Eigentümer, Unternehmensmanagement und Mitarbeiter vollbringen eine gemeinsame Leistung und sollen entsprechend ihren Funktionen sowie unbeschadet der einheitlichen Leitung des Unternehmens an seiner Gestaltung beteiligt sein. In welcher Weise und in welchem Umfang diese Teilnahme umgesetzt werden soll, bleibt offen: „Die juristischtechnischen Lösungen […] entziehen sich nicht nur der Kenntnis, sondern auch dem Urteil des Konzils.“356 Die Enthaltung des Konzils ist zuerst dem Umstand geschuldet, dass es nicht die spezifisch deutsche Mitbestimmungsproblematik im Auge hatte. Bedeutsamer ist jedoch wohl eine die theologische Ethik betreffende Ursache, die über diese Problematik hinaus von grundsätzlicher Relevanz ist. Da die christliche Offenbarung lediglich „allgemeine Leitideen für eine humane Ge-
349 Wilhelm Weber: Konzil und Mitbestimmung. Ein Beitrag zur Entscheidung einer aktuellen Streitfrage. In: Rheinischer Merkur Nr. 11 v. 11.03.1966, S. 3. 350 Weber: Konzil und Mitbestimmung, S. 3 351 Anton Rauscher: Arbeit und Eigentum in der Problematik der paritätischen Mitbestimmung. In: Goetz Briefs (Hg.): Mitbestimmung? Beiträge zur Problematik der paritätischen Mitbestimmung in der Wirtschaft. Stuttgart 1967 (= Schriftenreihe des Vereins für wirtschaftliche und soziale Fragen e.V. Stuttgart 1), S. 56–97, 70. 352 Vgl. dazu wie zum Folgenden Stegmann: Wirtschaftsethische Ansätze. Katholische Kirche, S. 706f. 353 Katholische Arbeitnehmer-Bewegung Deutschlands: Gesellschaftspolitische Grundsatzerklärung der KAB vom 23. März: Antwort auf die Kritik an der Gesellschaftspolitischen Grundsatzerklärung. Köln 1964, S. 8. 354 Bund Katholischer Unternehmer: Leitsätze zur gesellschaftlich-wirtschaftlichen Ordnung. Vorgelegt vom Bund Katholischer Unternehmer zu Bad Neuenahr am 7. Oktober 1966. Köln 1966, S. 10. 355 Vgl. dazu wie auch zum Folgenden Stegmann: Wirtschaftsethische Ansätze. Katholische Kirche, S. 707. 356 Oswald von Nell-Breuning: Kommentar zum II. Kapitel. In: Heinrich Suso Brechter u.a. (Hg.): Das Zweite Vatikanische Konzil. Konstitution, Dekrete und Erklärungen, lateinisch und deutsch. Teil III. Freiburg i.Br. u.a. 1968 (= Lexikon für Theologie und Kirche [Erg. Bd.]), S. 487–515, 500.
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staltung menschlichen Zusammenlebens“ enthält, nicht aber politische oder wirtschaftliche Einzelanweisungen zur Lösung von konkreten Problemen bereitstellt, ist es weder Aufgabe noch Auftrag oder Zuständigkeit des kirchlichen Lehramts, praktische Wirtschaftspolitik zu betreiben.357 1.3.1.3.3
Rheinischer Kapitalismus und katholische Soziallehre
Im sog. „rheinischen Kapitalismus“358 entwickelte sich unter dem Einfluss der katholischen Soziallehre eine enge stark integrierend wirkende und den sozialen Frieden sichernde Verknüpfung aus Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, was allerdings auch zur Folge hatte, dass sich in Deutschland bürgerschaftliches Engagement, staatsunabhängige Organisationen und Institutionen des tertiären non-profit-Sektors nicht in gleicher Weise entwickeln konnten wie in anderen europäischen Gesellschaften.359 Friedrich Wilhelm Graf merkt kritisch an, dass das einsetzende Wirtschaftswunder die Illusion befördert habe, „die katholische Soziallehre könne dauerhaft den Weg in einen sozialstaatlich begrenzten Kapitalismus ohne Krisen weisen“.360 Er verweist darauf, dass die wirtschaftsethische Diskussion im Katholizismus „dabei insgesamt von einer problematischen Tendenz bestimmt“ gewesen sei: Im Interesse des sozialen Friedens und des solidarischen Teilens musste der Sozialstaat als maßgebliches „Subjekt jener Rahmenordnung bestimmt werden“, welche „die dynamischen Kräfte des Marktes kanalisieren und begrenzen sollte“.361 Wachsende gesellschaftliche Differenzierung und marktwirtschaftliche Dynamik hätten zur Folge gehabt, dass dem „sozialen Staat“ von der katholischen Sozialethik – unter anderem von Oswald von Nell-Breuning – eine Vielzahl neuer Funktionen zuerkannt worden seien, sie jedoch einer, so Graf, im Übrigen auch im Widerspruch zum stets betonten Subsidiaritätsprinzip stehenden, „spezifisch deutschen Tradition kommunitären und genossenschaftlichen Staatsdenkens“ verhaftet geblieben sei.362 So habe die sozialverträgliche Begrenzung der Marktprozesse bzw. die soziale Bindung der Freiheit als zentrale ethische Zielsetzung in erster Linie über den Staat in die Wirtschaftsprozesse mediatisiert werden sollen: „Die deut-
357 Franz Josef Stegmann: Glaube und Politik. Christliches Handeln im Spannungsfeld von kirchlichem Heilsauftrag und profaner Weltgestaltung. In: Alfred E. Hierold/Hans Jürgen Nagel (Hg.): Kirchlicher Auftrag und politische Friedensgestaltung. Festschrift für Ernst Niemann. Stuttgart u.a. 1995, S. 13–24, 16. 358 Vgl. grundlegend zum Begriff Michel Albert: Kapitalismus contra Kapitalismus. Frankfurt a.M. u.a. 1992. 359 Vgl. dazu grundlegend Helmut K. Anheier u.a. (Hg.): Der Dritte Sektor in Deutschland. Organisationen zwischen Staat und Markt im gesellschaftlichen Wandel. Berlin 1997. 360 Graf: Stellenwert der Religion, S. 645. 361 Graf: Stellenwert der Religion, S. 645. 362 Graf: Stellenwert der Religion, S. 646.
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schen katholischen Sozialtheoretiker dachten vom Staat sehr viel höher als die Liberalen.“363 Unabhängig davon, ob man Grafs Kritik teilen mag oder nicht, bleibt festzuhalten, dass der soziale Katholizismus und seine wirtschaftsethischen Positionen nicht nur wesentlichen Einfluss auf das wirtschafts- und gesellschaftspolitische Profil der Unionsparteien und damit auf die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft in der jungen Bundesrepublik hatten. Durch das ausgeprägte Misstrauen gegenüber (Neo-)Liberalismus und den am Markt wirksamen Kräften einerseits und das verhältnismäßig große Vertrauen gegenüber dem (Sozial-)Staat und seiner ordnungspolitischen Funktion andererseits kann die katholische Soziallehre als ein maßgeblicher Wegbereiter für ordnungsökonomische Konzeptionen in der Volkswirtschaftslehre betrachtet werden. Auch und gerade in den Wirtschaftswissenschaften erfuhr die Ordnungsökonomik eine deutlich stärkere Rezeption und Wertschätzung, als dies in den weit weniger „staatsgläubigen“ angloamerikanischen Ländern der Fall war. Welche Auswirkungen der daraus resultierende große Einfluss ordnungsökonomischer Konzepte auf die Diskussion des Zuordnungsverhältnisses von Ethik und Ökonomik in den Wirtschaftswissenschaften und nicht zuletzt auch auf die aktuelle wirtschaftsethische Debatte hatte und hat, wird unten noch zu zeigen sein. 1.3.2 Wirtschaftsethische Stellungnahmen des Lehramts vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart 1.3.2.1
Rerum novarum und Quadragesimo anno
Wie oben bereits ausgeführt, müssen die Dokumente der katholischen Sozialverkündigung immer auch als zeitbedingte, geschichtlich-kontingente Stellungnahmen gelesen und begriffen werden, deren zentrale wirtschaftsethische Aussagen eine kontinuierliche Fortschreibung, Differenzierung und Modifizierung erfahren. Obwohl ein wirtschaftsethisches Lehrgebäude der katholischen Soziallehre im eigentlichen Sinn nicht existiert, lassen sich in der lehramtlichen Sozialverkündigung doch eine Reihe konzeptioneller wirtschaftsethischer Leitbilder finden. Die erste Sozialenzyklika Rerum novarum Leos XIII. von 1891 stellte vor allem eine Reaktion auf die Konflikte zwischen Kapital und Arbeit sowie zwischen Sozialismus und Liberalismus und auf die desolate Lage des Industrieproletariats im Zuge der Industrialisierung dar.364 Dabei maß sie dem Eigentum als sozialer Institution eine wesentliche Bedeutung für das menschliche Zusammenleben zu und ließ keinerlei Zweifel an der Legitimität eines privaten Besitz- und Verfügungs363 Graf: Stellenwert der Religion, S. 646. 364 Vgl. dazu und zum Folgenden auch Höhn: Konzeptionelle wirtschaftsethische Implikationen. Katholische Kirche, S. 741f.
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rechts am Kapital, was allerdings nicht nur für die Eigner, sondern auch für die Arbeiter gelte365: „So wenig das Kapital ohne die Arbeit, so wenig kann die Arbeit ohne Kapital bestehen.“366 Leos XIII. aussagekräftige Formel charakterisiert einerseits deskriptiv die kapitalistische Wirtschaftsweise, stellt aber andererseits auch eine Abwehr sozialistischer Klassenkampftheoreme dar. Verurteilt wird ein Arbeitgeberverhalten, „Menschen bloß zu eigenem Gewinn auszubeuten und sie nur so hoch zu veranschlagen, als ihre Arbeitskräfte reichen“.367 Die Ausführungen zum „gerechten Lohn“ enthalten deutliche Kritik an liberalistischen Positionen. Ein Lohn sei nicht nach der jeweiligen Marktlage aus dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage frei vereinbar, sondern erst dann „gerecht“, wenn davon ein Arbeiter und seine Familie wenigstens ihre Grundbedürfnisse bestreiten könnten.368 Dem Staat komme die Pflicht zu, durch Schutzregelungen in den Prozess der Wirtschaft gestaltend und begrenzend einzugreifen.369 Außerdem werden den Arbeitern die Rechte auf Zusammenschluss und Interessenvertretung als „naturrechtlich“ verankert zuerkannt.370 Die ebenfalls bereits mehrfach erwähnte Enzyklika Quadragesimo anno Papst Pius’ XI. lieferte eine Reihe von Klarstellungen zu kontrovers diskutierten Aussagen ihrer Vorgängerin insbesondere zur Eigentums- und Arbeitslehre.371 Sie wurde inmitten der Weltwirtschaftskrise veröffentlicht, deren ökonomische und soziale Folgeerscheinungen auch zu einem erheblichen Vertrauensverlust gegenüber liberalistischen Ökonomiekonzepten führte. Die wirtschaftsethischen Passagen der Enzyklika sind um eine Verhältnisbestimmung von Ethik und Ökonomie bemüht. Dabei wird eine stärkere Differenzierung angemahnt, wonach wirtschaftliche Überlegungen in eine von der ethischen Vernunft vorzunehmende Handlungsorientierung einzubringen sind.372 In der Eigentumslehre wird von der Enzyklika gegen individualistische oder kollektivistische Verkürzungen eine gleichrangig individuelle wie soziale Dimension hervorgehoben, wonach das Eigentum sowohl dem Einzel- wie auch dem Gemeinwohl zugeordnet wird.373 Bei der Diskussion des Verhältnisses von Arbeit und Kapital geht die Enzyklika im Vergleich zu ihrer Vorgängerin über die Arbeiterfrage hinaus und nimmt die gesamte gesellschaftliche Ordnung in den Blick. Dabei wendet sich Quadragesimo anno sowohl gegen eine Kapitalakkumulation nur beim Kapitalbesitzer als auch gegen Vorstellungen einer 365 Vgl. Rerum novarum, Nr. 4ff., 12, 19. 366 Rerum novarum, Nr. 15. 367 Rerum novarum, Nr. 16. 368 Vgl. Rerum novarum, Nr. 33ff. 369 Vgl. Rerum novarum, Nr. 26 ff. 370 Vgl. Rerum novarum, Nr. 38. 371 Vgl. wie auch zum Folgenden Höhn: Konzeptionelle wirtschaftsethische Implikationen. Katholische Kirche, S. 742f. 372 Vgl. Quadragesimo anno, Nr. 42. 373 Vgl. Quadragesimo anno, Nr. 45.
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vollständigen Kollektivierung der Erträge und strebt statt dessen eine bedarfsorientierte Bemessung der beiderseitigen Anteile an, die mit den „Forderungen des Gemeinwohls bzw. der Gemeinwohlgerechtigkeit in Einklang“ zu bringen seien.374 Eine vollkommene Sozialisierung von Produktionsmitteln wird ebenfalls nicht befürwortet, allerdings wird in Erwägung gezogen, „bestimmte Arten von Gütern der öffentlichen Hand vorzubehalten, weil die mit ihnen verknüpfte übergroße Macht ohne Gefährdung des öffentlichen Wohls Privathänden nicht überantwortet bleiben kann“.375 Um der – fraglos kapitalismuskritischen – Forderung nach „Entproletarisierung des Proletariats“ nachzukommen376, geht die Enzyklika auf Maßnahmen zur Vermögensbildung der Arbeiter377, zu Mitbesitz, Mitverwaltung oder zur Gewinnbeteiligung am Unternehmen sowie zur Lohngerechtigkeit ein.378 Bei der Bemessung der Löhne sollen die Lebensbedürfnisse des Arbeiters und seiner Familie, die Lebensfähigkeit des Unternehmens sowie die „allgemeine Wohlfahrt“, also der Erhalt und die Schaffung von Arbeitsplätzen und ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den einzelnen Zweigen der Wirtschaft, gleichermaßen Berücksichtigung finden.379 Erstmals wird dabei auch auf gesellschaftliche Ordnungsprinzipien direkt Bezug genommen. Sozialethischer Kern der Überlegungen zu einer neuen Gesellschaftsordnung ist das Subsidiaritätsprinzip, das die Eigeninitiative und ein Eigenrecht kleiner sozialer Einheiten gegenüber dem sozialen Ganzen schützt.380 Zurückgehend auf Aristoteles und weiterentwickelt von Thomas von Aquin markierte das Subsidiaritätsprinzip eine entscheidende Wende in der katholischen Staatstheorie.381 Nach diesem „höchst gewichtige[n] sozialphilosophische[n] Grundsatz“ dürfe einerseits „dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten“ könne, „ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden“, genauso verstoße es „gegen die Gerech-
374 Quadragesimo anno, Nr. 54f. 375 Quadragesimo anno, Nr. 114. 376 Quadragesimo anno, Nr. 59. 377 Vgl. Quadragesimo anno, Nr. 61. 378 Vgl. Quadragesimo anno, Nr. 65. 379 Vgl. Quadragesimo anno, Nr. 70–75. 380 Vgl. Quadragesimo anno, Nr. 79. 381 Das Modell einer Ordnung, bei der Zuständigkeiten jeweils von unten her verstanden werden und der Zugriff von oben nur als Unterstützungsmaßnahme zugelassen wird, findet sich bereits in den Schriften von Aristoteles und von Thomas von Aquin. Vgl. Christoph Butterwegge: Krise und Zukunft des Sozialstaates. Wiesbaden 32006, S. 33ff. Thomas von Aquin schreibt: „Daher steht fest, daß das Wohl der Teile um des Wohls aller besteht. Aus natürlichem Verlangen und auch aus Liebe liebt ein jedes einzelne Ding sein eigenes Wohl um des Gemeinwohls des ganzen Universums willen, und das ist Gott.“ (Thomas von Aquin: Summa theologica I-II 109,3.) Daraus geht hervor, dass der Mensch neben seiner vorrangigen Individualität auch wesentlich sozial ist und so erst durch die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft zu seiner Vervollkommnung gelangt. Vgl. auch grundlegend Arno Waschkuhn: Was ist Subsidiarität? Ein sozialphilosophisches Ordnungsprinzip. Von Thomas von Aquin bis zur „Civil Society“. Opladen 1995.
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tigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen“, da es „überaus nachteilig“ sei und „die ganze Gesellschaftsordnung“ verwirre.382 „Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen.“383 Gegenüber früheren zentralistischen Sichtweisen wurde damit bzw. mit dem Subsidiaritätsprinzip ein Gesellschaftsansatz vertreten, der das Individuum im Rahmen seiner individuellen Leistungsfähigkeit zum Maßstab und zur Begrenzung überindividuellen Handelns machte. Mit der Hervorhebung und Stärkung der individuellen Verantwortung gegenüber dem Kollektiv sollte ein deutliches Zeichen gegen die in Faschismus und Kommunismus vertretenen und scharf kritisierten kollektivistischen Menschenbilder und deren Weltanschauung gesetzt werden und der katholischen Soziallehre ein Mittelweg zwischen Staatsdirigismus und radikalem Liberalismus gewiesen werden.384 Denn auch eine kapitalistische Klassengesellschaft ist mit dem Subsidiaritätsrinzip unvereinbar und in einer „klassenfreien“ Gesellschaft zu überwinden.385 Das uneingeschränkte Markt- bzw. Wettbewerbsprinzip wird abgelehnt, als Regulative sollen statt dessen „soziale Gerechtigkeit und die soziale Liebe“ fungieren.386 Die kapitalistische Wirtschaftsweise wird einer eingehenden Kritik unterzogen: Die Dienstbarmachung der Lohnarbeiterschaft durch das Kapital ohne Rücksicht auf die Menschenwürde des Arbeiters, auf den gesellschaftlichen Charakter der Wirtschaft sowie auf Gemeinwohl und Gemeinwohlgerechtigkeit werden dabei ethisch negativ qualifiziert.387 Die Kapitalakkumulation in den Händen einzelner wird ebenso kritisiert388 wie ein unbegrenzter Einfluss des Finanzkapitals als Kreditgeber389 und ein sozialdarwinistisches Verständnis von Konkurrenz als Selbstzweck.390 1.3.2.2
Mater et magistra
Die 1961 veröffentlichte Sozialenzyklika Mater et magistra erhält ihr Gepräge maßgeblich von der veränderten Weltlage nach dem Zweiten Weltkrieg.391 Die Auseinandersetzungen um die Dekolonisation der „Dritten Welt“, die ab dem Jahr 1960 382 Quadragesimo anno, Nr. 79. 383 Quadragesimo anno, Nr. 79. 384 Vgl. Quadragesimo anno, Nr. 111–113, 118–126. 385 Vgl. Quadragesimo anno, Nr. 83–87. 386 Quadragesimo anno, Nr. 88. 387 Vgl. Quadragesimo anno, Nr. 101. 388 Vgl. Quadragesimo anno, Nr. 105. 389 Vgl. Quadragesimo anno, Nr. 109. 390 Vgl. Quadragesimo anno, Nr. 108. 391 Vgl. hierzu und zum Folgenden Höhn: Konzeptionelle wirtschaftsethische Implikationen. Katholische Kirche, S. 744.
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und der Unabhängigkeit der meisten afrikanischen Staaten eine besondere Dynamik entwickelt hatte, die wachsende Internationalisierung der Sozialen Frage und die ungelösten Herausforderungen von Überbevölkerung und Unterentwicklung in vielen Teilen der Welt bildeten den zeitgeschichtlichen Hintergrund der Enzyklika. Im wirtschaftsethischen Teil des Schreibens werden die Aussagen von Rerum novarum und Quadragesimo anno zum Recht sowie zu den Grenzen des staatlichen Einflusses auf die Wirtschaft angesichts des Vorrangs privater Initiative, zum Arbeitsentgelt, zum Privateigentum sowie zur gerechten Beteiligung der Arbeiter bekräftigt, verdeutlicht und erweitert. Zudem bezieht sich die Enzyklika auf die Soziallehre Pius’ XII., von dem der Grundsatz übernommen wird, dass „das Recht jedes Menschen, materielle Güter zu seinem Lebensunterhalt zu nutzen, einen Vorrang hat vor jedem anderen Recht wirtschaftlichen Inhalts, also auch vor dem Privateigentum“.392 Diese Aussage enthält einige Sprengkraft: Privateigentum wird dabei gegenüber der existenziellen Bedarfsdeckung zu einem nachrangigen Gut. Es gehört zum sekundären Naturrecht, während Gemeinwohl dementsprechend primäres Naturrecht ist. Die mit der steigenden internationalen Verflechtung politisch-ökonomischer Prozesse und Strukturen einhergehende Vergesellschaftung menschlicher Existenz stellt als soziokulturelles Phänomen eine neue Herausforderung für Wirtschaft und Politik dar.393 Der Prozess ist politisch beeinflussbar und muss am Gemeinwohl als „Inbegriff jener gesellschaftlichen Voraussetzungen, die den Menschen die volle Entfaltung ihrer Werte ermöglichen oder erleichtern“, ausgerichtet sein.394 Ein wesentliches Gebot der sozialen Gerechtigkeit ist es, alle Bevölkerungskreise am wachsenden Reichtum der Nation zu beteiligen.395 Zum ersten Mal werden auch Elemente einer „Beteiligungsgerechtigkeit“ bezogen auf die Stellung von Arbeitnehmern in ihren Unternehmen formuliert.396 In der „koextensiven“ Sicherung des Friedens und der Sorge für die wirtschaftliche und soziale Situation der Völker werden neue Aspekte der Sozialen Frage erkannt: So kommt den reichen Ländern die Pflicht zu einer uneigennützigen wissenschaftlichen, technischen und finanziellen Entwicklungshilfe zu, bei der wirtschaftlicher und sozialer Aufstieg miteinander im Einklang stehen und Hilfsprogramme auf globaler Ebene implementiert werden sollen.397 Die Rolle der Solidarität als zweites Prinzip katholischer Sozialethik wird hier also auf die Bedingungen einer sich globalisierenden Gesellschaft angewandt. In der Enzyklika werden drängende aktuelle Probleme mit einzelnen Vorschlägen zur ökonomisch-politischen Entwicklung eines Gemeinwohls und mit grund392 Mater et magistra, Nr. 43. 393 Vgl. Mater et magistra, Nr. 59–67. 394 Mater et magistra, Nr. 65. 395 Vgl. Mater et magistra, Nr. 73. 396 Vgl. Mater et magistra, Nr. 82–103. 397 Vgl. Mater et magistra, Nr. 157–177, Nr. 200–211.
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sätzlichen Überlegungen zum anthropologischen Fundament des Sozialen und der katholischen Soziallehre verbunden.398 In Mater et magistra zeichnet sich ein verändertes sozialethisches Begründungsund Argumentationsmuster ab, das für die Folgezeit bestimmend werden sollte. Die ersten beiden Sozialenzykliken und die Verlautbarungen Pius’ XII. waren von einem ordnungsethischen Modell geprägt gewesen, das auf einer eher statischen Naturrechtsauffassung beruhte, bei dem das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft als durch überzeitliche, in der Schöpfungsordnung fundierte Normen geregelt betrachtet wurde.399 Traditionell gingen die alteuropäische und mit ihr auch die christliche Ethik von der Vorstellung einer hierarchisch gegliederten und ontologisch vorgegebenen Gesellschaftsordnung aus.400 Mit der neuzeitlich-modernen Wende zum Subjekt und den systemtheoretischen Analysen zur Differenzierung und funktionalen Spezialisierung, wie sie von Talcott Parsons und später Niklas Luhmann vorgelegt wurden, wurde dieser Ansatz radikal in Frage gestellt.401 Dagegen wird nun in Mater et magistra erstmals ein eher dialogischer Ansatz sichtbar, der stärker einem evolutiven Gesellschafts- und Geschichtsverständnis verpflichtet ist, von der Veränderbarkeit und Entwicklung bestehender Sozialordnungen ausgeht, die Menschenrechte als Maßstab für eine konstruktiv-kritische Analyse der Gesellschaft ansieht und dabei vom biblischen Ethos der Freiheit und Gerechtigkeit angespornt wird.402 1.3.2.3
Pacem in terris
Johannes’ XXIII. zweite Sozialenzyklika Pacem in terris wurde 1963 während des ersten Jahres des Zweiten Vatikanischen Konzils und damit auch in der Hochphase des Kalten Krieges abgefasst.403 Wie alle Enzykliken richtet sie sich an alle Men398 Vgl. Höhn: Konzeptionelle wirtschaftsethische Implikationen. Katholische Kirche, S. 744f. 399 Vgl. Graf: Stellenwert der Religion, S. 647. Vgl. Höhn: Konzeptionelle wirtschaftsethische Implikationen. Katholische Kirche, S. 744. 400 Vgl. Thomas Hausmanninger: Christliche Sozialethik in der späten Moderne. Grundlinien einer modernitätsintegrativen und -korrektiven Strukturenethik. In: Ders. (Hg.): Christliche Sozialethik zwischen Moderne und Postmoderne. Paderborn 1993, S. 45–90. 401 Vgl. dazu Markus Vogt: Ethik in moderner Gesellschaft (Institutionenethik). In: Ders.: Sozialethik I: Methodische Grundlegung. Vorlesungsskript WS 2007/08 an der LMU München. [München 2007], S. 28–66, 33, URL: http://www.kaththeol.uni-muenchen.de/einrichtungen/lehrstuehle/ christl_sozialethik/personen/vogt/material/ws0708_grundlag/grundlagen-zsf05.pdf [aufgerufen am 16.09.2009]. Vgl. zu den gesellschaftlichen Differenzierungsprozessen und zur Reaktion der Kirche auch Bernhard Laux: Exzentrische Sozialethik. Zur Präsenz und Wirksamkeit christlichen Glaubens in der modernen Gesellschaft. Berlin u.a. 2007 (= Forum Religion & Sozialkultur, A 13), S. 96ff., 107f. Vgl. ebf. Karl Gabriel: Die neuzeitliche Gesellschaftsentwicklung und der Katholizismus als Sozialform der Christentumsgeschichte. In: Ders./Franz-Xaver Kaufmann (Hg.): Zur Soziologie des Katholizismus. Mainz 1980, S. 201–225, 204. 402 Vgl. Höhn: Konzeptionelle wirtschaftsethische Implikationen. Katholische Kirche, S. 745. 403 Vgl. dazu und zum Folgenden Höhn: Konzeptionelle wirtschaftsethische Implikationen. Katholische Kirche, S. 745.
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schen guten Willens. Im Mittelpunkt steht die Sicherung der Menschenrechte. Neben dem Recht auf Ausbildung404 und freie Arbeit405 wird auch das Recht, „im Bewußtsein eigener Verantwortung wirtschaftliche Unternehmungen zu betreiben“, hervorgehoben.406 Das Prinzip des Gemeinwohls, an dem sich staatliche Gewalt auszurichten habe, wird dahingehend expliziert, dass es sich in seiner Menschendienlichkeit auf die „Erfordernisse des Leibes ebenso wie auf die des Geistes“, also auf die Vermittlung „materielle[r] Wohlfahrt“ wie auch „geistige[r] Güter“, erstreckt.407 Ebenso wird auf die wechselseitige Beziehung von wirtschaftlichem und sozialem Fortschritt hingewiesen, wozu von der Volkswirtschaft entsprechende Dienstleistungen zur Verbesserung der jeweiligen Infrastruktur entwickelt werden sollen.408 Betont wird auch die Bedeutung internationaler Zusammenarbeit mit dem Zweck „eines leichteren Austausches der Güter, der Kapitalien und der Menschen“409, wobei Armuts- und Arbeitsmigration verhindert werden sollen, indem, „soweit möglich, das Kapital die Arbeit suche“ und nicht umgekehrt.410 1.3.2.4
Gaudium et spes
Die Pastoralkonstitution Gaudium et spes des Zweiten Vatikanischen Konzils aus dem Jahr 1965 zeigt eine umfassende Neubestimmung des Ortes der Kirche in der Welt der Moderne, in der allerdings der technisch-ökonomische Fortschrittsoptimismus noch dominiert, obgleich erste Ambivalenzen und Verwerfungen der Moderne bereits aufscheinen.411 Neben einer theologisch-anthropologischen Grundreflexion über die Conditio humana verfügt die Enzyklika über ein eigenes Kapitel zum Wirtschaftsleben, in das wesentliche Denkfiguren des ersten Teils einfließen.412 Dazu zählt die theologisch-ethische Grundthese der Abhängigkeit von menschlicher Person und menschlicher Gemeinschaft: So geht die Pastoralkonstitution davon aus, dass „der Fortschritt der menschlichen Person und das Wachsen der Gesellschaft als solcher sich gegenseitig bedingen“. 413 Die Konstitution vollzieht dabei endgültig die Wende zum Subjekt, die in Mater et magistra bereits begonnen wurde414: So müsse die menschliche Person „Wurzelgrund, Träger und Ziel aller gesellschaftlichen Institutionen“ sein, allerdings bedürfe sie doch von ihrem 404 Vgl. Johannes XXIII.: Pacem in terris. Rom 1963, Nr. 13. 405 Vgl. Pacem in terris, Nr. 18. 406 Pacem in terris, Nr. 20. 407 Pacem in terris, Nr. 57. 408 Vgl. Pacem in terris, Nr. 64. 409 Pacem in terris, Nr. 101. 410 Pacem in terris, Nr. 102. 411 Vgl. dazu und zum Folgenden Höhn: Konzeptionelle wirtschaftsethische Implikationen. Katholische Kirche, S. 746. 412 Vgl. Gaudium et spes, Nr. 4–45. 413 Gaudium et spes, Nr. 25. 414 Vgl. dazu und zum Folgenden Vogt: Ethik in moderner Gesellschaft, S. 33.
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Wesen her des sozialen Lebens.415 Ihr normatives Maß haben Institutionen demnach in der Ausrichtung auf die Entfaltungsbedingungen der menschlichen Person. Der Schutz des Menschen als sittliches Subjekt wird damit zum zentralen Ausgangspunkt christlicher Ethik in der modernen Gesellschaft. „Die Legitimität von Normen, Institutionen und gesellschaftlichen Ordnungen erschließt sich durch ihre Zuordnung zum Menschen als Person in seiner individuellen, sozialen und naturalen Dimensionen.“416 Dieser veränderten Sichtweise entspricht auch ein partieller Wandel in der Terminologie: So weicht der Begriff der „Ordnung“ der Gesellschaft dem des „gesellschaftlichen Lebens“.417 Die Bedeutung des technisch-ökonomischen Fortschritts bemisst die Pastoralkonstitution so auch daran, inwieweit er einen Beitrag zur „Erreichung einer größeren Gerechtigkeit, einer umfassenderen Solidarität und einer humaneren Ordnung der gesellschaftlichen Verflechtungen“ leistet. 418 Dabei wird eine „Autonomie der irdischen Wirklichkeiten“ explizit anerkannt, die darin besteht, dass „die geschaffenen Dinge und auch die Gesellschaften ihre eigenen Gesetze haben, die der Mensch schrittweise erkennen und gestalten muß“.419 Das Bemühen der Enzyklika um eine adäquate und zeitgemäße Zuordnung von Theologie, Ethik und Wirtschaftswissenschaften ist deutlich erkennbar: Alle Einzelwirklichkeiten haben durch ihr Geschaffensein „ihre eigene Wahrheit, ihre eigene Gutheit sowie ihre Eigengesetzlichkeit und ihre eigenen Ordnungen, die der Mensch unter Anerkennung der den einzelnen Wissenschaften und Techniken eigenen Methoden“ zu achten hat.420 „Insofern alle geschaffene Wirklichkeit teilhat an der Sinnstruktur der Schöpfung, kann für das Konzil die ethische Sollensordnung (‚Sittengesetz‘) keine heteronome Überformung der einzelnen sozialen Funktions- und ‚Kultursachbereiche‘ darstellen, sondern bezieht sich auf deren eigene Wertstruktur.“ 421 Auch die Wirtschaft erscheint so als eigener Kultursachbereich, dessen Aufgabe die Förderung der Würde der menschlichen Person und des Wohls der gesamten Gesellschaft ist.422 Der Zweck des Produktionsprozesses wird nicht in vermehrter Produktion, in Gewinnerzielung oder Machtausübung gesehen, sondern im Dienst an der ganzen menschlichen Person im Hinblick auf ihre materiellen und geistigen Bedürfnisse.423 Die Enzyklika betont folglich die entscheidende Bedeutung ökonomischen Wachstums für den sozialen Fortschritt, behält aber mit Blick auf die Personwürde dennoch die Vorstellung des Vorrangs der Arbeit vor dem Kapi-
415 Gaudium et spes, Nr. 25. 416 Vogt: Ethik in moderner Gesellschaft, S. 33. 417 Graf: Stellenwert der Religion, S. 647. 418 Gaudium et spes, Nr. 35. 419 Gaudium et spes, Nr. 36. 420 Gaudium et spes, Nr. 36. 421 Höhn: Konzeptionelle wirtschaftsethische Implikationen. Katholische Kirche, S. 746. 422 Vgl. Gaudium et spes, Nr. 63. 423 Vgl. Gaudium et spes, Nr. 64.
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tal und „allen anderen Faktoren des wirtschaftlichen Lebens“ aufrecht.424 Während letztere „nur werkzeuglicher Art“ sind, gilt die Arbeit, unabhängig davon, ob sie selbstständig oder in einem Lohnarbeitsverhältnis ausgeübt wird, als „unmittelbarer Ausfluß der Person, die den stofflichen Dingen ihren Stempel aufprägt und sie ihrem Willen dienstbar macht“.425 Die Arbeit soll dem Menschen Gelegenheit „zur Entwicklung seiner Anlagen und Entfaltung seiner Personwerte“ bieten.426 Unternehmen werden der Bedeutung des Faktors Arbeit entsprechend nur als Verbund von Personen begriffen, in dem es darauf ankommt, „unter Bedachtnahme auf die besondere Funktion des einzelnen, sei es der Eigentümer, der Arbeitgeber, der leitenden oder ausführenden Kräfte, und unbeschadet der erforderlichen einheitlichen Werkleitung die aktive Beteiligung aller an der Unternehmensgestaltung“ voranzubringen.427 Streik erscheint demgemäß lediglich als ultima ratio zur Durchsetzung von Arbeiterinteressen.428 Darüber hinaus weist die Konzilskonstitution auf die grundsätzliche Begrenztheit eines auf Naturbeherrschung und Ausbeutung der natürlichen Ressourcen basierenden Wirtschaftsprozesses hin und betont die Widmung der irdischen Güter an alle Menschen, denen sie gleichermaßen zugute kommen sollen.429 Bernhard Laux sieht in der Pastoralkonstitution zum ersten Mal die Bejahung und Aneignung des modernen Freiheitsverständnisses und des mit ihm verbundenen Pluralismus durch die Kirche.430 Friedrich Wilhelm Graf merkt demgegenüber jedoch kritisch an, dass sich die Kirche in der Wahrnehmung der Logik moderngesellschaftlicher Entwicklung noch immer schwer getan habe und die soziale Differenzierung, die zunehmende Autonomisierung des Einzelnen und die durch spezifische Rationalität bzw. Eigenlogik bestimmten Subsysteme in den Aussagen des Konzils weiterhin nur unzureichend erfasst habe.431 1.3.2.5
Populorum progressio
Die Enzyklika Pauls VI. Populorum progressio von 1967 erscheint zu einem Zeitpunkt, da in den Industrieländern das Wachstum weiter zunahm, in den Entwicklungsländern nun ebenfalls ein Prozess nachholender Industrialisierung einsetzte, zugleich aber auch die Schere zwischen Nord und Süd weiter auseinander klaffte.432 Zum ersten Mal widmete sich eine Sozialenzyklika ganz den Fragen der Ent-
424 Gaudium et spes, Nr. 67. Vgl. Graf: Stellenwert der Religion, S. 647. 425 Gaudium et spes, Nr. 67. 426 Gaudium et spes, Nr. 68. 427 Gaudium et spes, Nr. 68. Vgl. auch Graf: Stellenwert der Religion, S. 647f. 428 Gaudium et spes, Nr. 68. Vgl. dazu wie zum Folgenden Höhn: Konzeptionelle wirtschaftsethische Implikationen. Katholische Kirche, S. 747. 429 Vgl. Gaudium et spes, Nr. 69, 71. 430 Laux: Exzentrische Sozialethik, S. 108. 431 Vgl. Graf: Stellenwert der Religion, S. 647.
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wicklung.433 Sofort nach ihrem Erscheinen löste die Enzyklika „eine breite und höchst kontroverse Diskussion“ aus.434 Ihrer positiven Bewertung in der „Dritten Welt“ stand eine teilweise scharf ablehnende Aufnahme in den Industrieländern gegenüber – einige Kritiker unterstellten ihr sogar eine marxistische Sichtweise.435 Für die katholische Soziallehre bedeutet die intensive Beschäftigung mit der internationalen Entwicklung eine Erweiterung ihres Themenspektrums. Populorum progressio liegt dabei ein umfassendes und differenziertes Verständnis von Entwicklung zugrunde, wonach sich Entwicklung nicht in wirtschaftlichem Wachstum erschöpfe: „Wahre Entwicklung“ müsse „umfassend“ sein und müsse „jeden Menschen und den ganzen Menschen im Auge haben“.436 Anzustreben sei ein „neue[r] Humanismus“, der die Entfaltung des Menschen und der gesamten Menschheit in ökonomischer, politischer, sozialer und kultureller Hinsicht gewährleiste.437 Aus diesem Entwicklungsbegriff werden sehr konkrete Entwicklungsziele abgeleitet, vom „Aufstieg aus dem Elend zum Besitz des Lebensnotwendigen“, der „Überwindung der sozialen Mißstände“, der „Erweiterung des Wissens“, dem „Erwerb von Wissen“ bis zum „deutlichere[n] Wissen um die Würde des Menschen“, dem „Ausrichten auf den Geist der Armut“, der „Zusammenarbeit zum Wohle aller“, dem „Wille[n] zum Frieden“ und damit der „Anerkennung letzter Werte von seiten des Menschen“ und der „Anerkennung Gottes, ihrer Quelle und ihres Zieles“. Erstmals geht eine Enzyklika ausführlich auf die Ambivalenz des wirtschaftlichen Fortschritts ein. Dabei geht sie zum einen den ökonomischen Ursachen für Armut, Unterentwicklung und Krieg nach, betont zum anderen aber auch die Unersetzbarkeit der Ökonomie für einen integralen Wirtschaftsprozess. Die Industrialisierung wird als Hauptantriebskraft für wirtschaftliches Wachstum und menschlichen Fortschritt zwar anerkannt, doch dürfe sie deshalb nicht „mystifiziert“ werden.438 Wirtschaftswachstum erscheint zwar als notwendige, nicht aber als hinreichende Bedingung für die Überwindung von Armut und Unterentwicklung.439 Weitreichende Konsequenzen hatte diese Entwicklungstheorie für Entwicklungstheorie und Entwicklungspolitik: Die Enzyklika verwirft die verbreitete Vorstellung, gesamtwirtschaftliches Wachstum komme über kurz oder lang immer auch
432 Vgl. hierzu und zum Folgenden Höhn: Konzeptionelle wirtschaftsethische Implikationen. Katholische Kirche, S. 747. 433 Vgl. dazu und zum Folgenden Johannes Müller/Johannes Wallacher: Vierzig Jahre Populorum Progressio. Ein Meilenstein auf dem Weg zu einer weltweiten Soziallehre. In: Stimmen der Zeit 132 (2007), S. 168–180, 168f. 434 Müller/Wallacher: Vierzig Jahre Populorum Progressio, S. 168. 435 Vgl. bspw. Hanno Helbling: Kritik an der Enzyklika. In: Anton Rauscher (Hg.): Ist die katholische Soziallehre antikapitalistisch? Köln 1968, S. 25–30. 436 Paulus VI.: Populorum progressio. Rom 1967, Nr. 14. 437 Populorum progressio, Nr. 20. 438 Vgl. Populorum progressio, Nr. 25, 27. 439 Vgl. dazu und zum Folgenden Müller/Wallacher: Vierzig Jahre Populorum Progressio, S. 169f.
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den Armen zugute. Vielmehr sei eine soziale Entwicklung, welche Ungleichheiten verringere, mindestens ebenso bedeutsam wie wirtschaftlicher Fortschritt.440 Aus der Leitthese „Entwicklung ist der neue Name für Frieden“441 leitet Paul VI. in seiner Enzyklika die Grundforderung nach weltweiter Solidarität ab, die manifest werde in der „Hilfe, die die reichen Völker den Entwicklungsländern leisten müssen“, sodann „in der Pflicht“ zur Schaffung „soziale[r] Gerechtigkeit“ zwischen den „mächtigen und schwachen Völkern“ sowie in der Pflicht zur „Schaffung einer menschlicheren Welt für alle, wo alle geben und empfangen können, ohne daß der Fortschritt der einen ein Hindernis für die Entwicklung der anderen ist“.442 Als konkrete Maßnahmen schlägt die Enzyklika die „Umwidmung“ von Rüstungsaufgaben für die Entwicklungshilfe443, die maßvolle Bemessung von Zinshöhe, Tilgungsrate und Laufzeit von Anleihen444 sowie den Ausbau eines gerechten Welthandelssystems vor.445 Gefordert wird mehr Chancengleichheit im internationalen Warenaustausch, da die Spielregeln des freien Handels und des freien Wettbewerbs eindeutig die Industrieländer begünstigten.446 Dazu seien auch nichtökonomische Barrieren wie Rassismus und Nationalismus zu überwinden und die Entwicklungsländer sollen die Möglichkeit nutzen, eigene „einheitliche Wirtschaftsräume“ mit koordinierten Investitionen, verteilter Produktion und organisiertem Güteraustausch aufzubauen.447 Zugleich wird aber auch die Eigenverantwortung der Entwicklungsländer betont. Wirkliche Entwicklung könne immer nur durch die Menschen vor Ort erfolgen: „Weil die Völker die Baumeister ihres eigenen Fortschritts sind, müssen sie selbst auch an erster Stelle die Last und Verantwortung dafür tragen.“448 Diese Sichtweise ist maßgeblich durch den französischen Reformkatholizismus um den Entwicklungsökonomen Louis-Joseph Lebret geprägt, der bereits in den 1940er Jahren nicht nur die besondere Verantwortung einzelner Regierungen für einen erfolgreichen Entwicklungsprozess hervorhob, sondern auch die zentrale Rolle von Zivilgesellschaften vor Ort betonte.449 Ebenfalls auf Lebret geht der Begriff „autopropulsive Entwicklung“ zurück, wonach sich Volkswirtschaften entsprechend ihrer jeweils eigenen Dynamik entfalten müssten.450 Unter Bezugnahme auf Lebret verstand die Enzyklika Entwicklung wesentlich auch als kulturellen Prozess, unter440 Vgl. Populorum progressio, Nr. 34. 441 Populorum progressio, Nr. 76. 442 Populorum progressio, Nr. 44. 443 Vgl. Populorum progressio, Nr. 51. 444 Vgl. Populorum progressio, Nr. 54. 445 Vgl. Populorum progressio, Nr. 56–65. 446 Vgl. Populorum progressio, Nr. 61. 447 Populorum progressio, Nr. 64. 448 Populorum progressio, Nr. 77. 449 Vgl. Müller/Wallacher: Vierzig Jahre Populorum Progressio, S. 170. 450 Vgl. Nikolaus Klein: Dreißig Jahre Enzyklika Populorum progressio. In: Orientierung 61 (1997), S. 75–77.
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strich den Wert jeder Kultur und wandte sich gegen einen westlichen Ethnozentrismus.451 Während diese Passagen von der Weltöffentlichkeit überwiegend positiv aufgenommen wurden, sorgten andere Aussagen der Sozialenzyklika für einige Aufregung: So äußerte sich die Enzyklika zur Sozialgebundenheit des Eigentums und führte diesbezüglich das Recht zu Enteignungen an, um gemeinwohlwidrige Verhältnisse zu beseitigen.452 Weltwirtschaftliche Gerechtigkeit und die Überwindung der Spannung zwischen reichen und armen Ländern bildeten die wesentliche Grundlage für Frieden in der Welt. Diesem Ziel sei das Recht auf Privateigentum unterzuordnen: „Das Privateigentum ist also für niemand ein unbedingtes und unumschränktes Recht.“453 Niemand sei dazu „befugt, seinen Überfluß ausschließlich sich selbst vorzubehalten, wo anderen das Notwendigste“ fehle.454 Die Relativierung des Privateigentums geht in Populorum progressio einher mit harscher Kritik an einem in vielen Ländern der „Dritten Welt“ noch immer bestehenden ManchesterKapitalismus. Ein ungehemmter Wirtschaftsliberalismus, „wonach der Profit der eigentliche Motor des wirtschaftlichen Fortschritts, der Wettbewerb das oberste Gesetz der Wirtschaft, das Eigentum an Produktionsmitteln ein absolutes Recht“ darstelle, sei abzulehnen.455 Während Marxisten und Sozialisten die kritischen Worte der Enzyklika begrüßten – die Prawda veröffentlichte Auszüge und zustimmende Kommentare, wurden sie von anderer Seite scharf kritisiert. Die französische L’Humanité stellte den Papst unter Sozialismusverdacht, das Wall Street Journal erblickte in der Enzyklika „aufgewärmten Marxismus“ und das Time Magazine erkannte in Teilen der Enzyklika „den schrillen Tonfall einer marxistischen Polemik des frühen 20. Jahrhunderts“.456 Besonders kritisch bewerteten viele Kommentatoren, dass die Enzyklika unter besonderen, äußersten Umständen sogar einen gewaltsamen Umsturz
451 Vgl. Müller/Wallacher: Vierzig Jahre Populorum Progressio, S. 170. Vgl. dazu ebf. Populorum progressio, Nr. 14, 40f. 452 Vgl. Populorum progressio, Nr. 23f. “Das Gemeinwohl verlangt deshalb manchmal eine Enteignung von Grundbesitz, wenn dieser wegen seiner Größe, seiner geringen oder überhaupt nicht erfolgten Nutzung, wegen des Elends, das die Bevölkerung durch ihn erfährt, wegen eines beträchtlichen Schadens, den die Interessen des Landes erleiden, dem Gemeinwohl hemmend im Wege steht. Das Konzil hat das ganz klar gesagt. Und nicht weniger klar hat es erklärt, daß verfügbare Mittel nicht einfach dem willkürlichen Belieben der Menschen überlassen sind und daß egoistische Spekulationen keinen Platz haben dürfen.“ (Ebd., Nr. 24.) 453 Populorum progressio, Nr. 23. 454 Populorum progressio, Nr. 23. 455 Populorum progressio, Nr. 26. 456 Kurt Remele: Als das „Wall Street Journal“ schäumte. Relativierung des Privateigentums, Sozialpflichtigkeit des Kapitals: Vor 40 Jahren erschien die Enzyklika „Populorum progressio“ Pauls VI. Graz 2007, URL: http://www-theol.uni-graz.at/cms/dokumente/10003895/59794d02/ Populorum_ progressio_.pdf [aufgerufen am 29.12.2009]. Vgl. auch Martin Honecker: Einführung in die Theologische Ethik. Berlin u.a. 1990, S. 350.
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für gerechtfertigt erachtete: „Es ist die Frage der Revolution, wenn ungerechte Zustände zum Himmel schreien.“457 Zwanzig Jahre nach dem Erscheinen von Populorum progressio veröffentlichte Papst Johannes Paul II. die Sozialenzyklika Sollicitudo rei socialis, die erneut das Nord-Süd-Gefälle zum Thema hatte. Darin erinnerte er nicht nur an die Vorgängerschrift, sondern betonte auch deren „bleibende Aktualität“ und würdigte deren Bedeutung für die katholische Soziallehre.458 Der Grazer Sozialethiker Kurt Remele sieht in der Enzyklika Populorum progressio eine bedeutsame Aktualisierung und Konkretisierung der katholischen Soziallehre „im Blick auf die krassen Ungerechtigkeiten in den Nord-Süd-Beziehungen“ und Johannes Müller und Johannes Wallacher heben hervor, die Enzyklika sei „in den meisten Punkten ihrer Zeit voraus“ gewesen und habe „wegweisende Leitlinien für die friedliche Entwicklung“ der Welt enthalten.459 Vor allem betonen sie deren „Bedeutung für die weltweite Entwicklung“ und die „bleibende Aktualität zentraler Botschaften der Enzyklika“, die durch „die Entwicklungen der letzten vier Jahrzehnte, nicht zuletzt zahlreiche lokale wie weltweite Konflikte“, bestätigt worden seien.460 Obwohl man – wie etwa Martin Honecker – der Enzyklika vorwerfen kann, sie mache „keine präzisen oder gar radikalen Lösungsvorschläge“, dürfen besonders ihre Folgewirkungen keineswegs unterschätzt werden.461 Sie führte nicht bloß Entwicklung als Schlüsselbegriff für soziale Gerechtigkeit in die katholische Soziallehre ein, sondern gilt auch als wichtige – obgleich nicht freiwillige – Impulsgeberin für die Entwicklung der Befreiungstheologie in Lateinamerika.462 Auch mit ihrer teilweise scharfen Kapitalismuskritik verfolgt Populorum progressio ein wesentliches Ziel, das über Kritik erhaben sein dürfte: Entsprechend betonte die Wochenzeitung Die Zeit bereits 1967: „Nüchtern gesehen, ist die Enzyklika ‚Populorum Progressio‘ ein Dokument, das heute gilt. Sie zeigt ein Ziel: die Errichtung des Weltfriedens. Und sie nennt das Mittel, dieses Ziel zu erreichen: die universale Entwicklungshilfe.“463 Mit der Enzyklika erhalte „die Soziale Frage einen neuen Rang“.464
457 Populorum progressio, Nr. 30. Vgl. außerdem ebd., Nr. 31. 458 Johannes Paulus II.: Sollicitudo rei socialis. Rom 1987, Nr. 2. Vgl. dazu ebf. ebd., Nr. 5–10. 459 Müller/Wallacher: Vierzig Jahre Populorum Progressio, S. 168. 460 Müller/Wallacher: Vierzig Jahre Populorum Progressio, S. 168–172. 461 Honecker: Einführung in die Theologische Ethik, S. 351. 462 Vgl. bspw. Leopold Neuhold: Religion und katholische Soziallehre im Wandel vor allem der Werte. Erscheinungsbilder und Chancen. Münster 2000 (= Schriften des Instituts für Christliche Sozialwissenschaften der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster 43), S. 231; wie auch José Comblin: Kurze Geschichte der Theologie der Befreiung. In: Hans-Jürgen Prien (Hg.): Lateinamerika: Gesellschaft – Kirche – Theologie. Bd. 2: Der Streit um die Theologie der Befreiung. Göttingen 1981, S. 13–38, 17. Vgl. ebf. Theologie der Befreiung. In: Der Spiegel Nr. 4 v. 22.01.1979, S. 176. 463 Vgl. Moderne Entwicklungshilfe. In: DIE ZEIT Nr. 22 v. 02.06.1967, URL: http://www.zeit.de/ 1967/22/Moderne-Entwicklungshilfe [aufgerufen am 29.12.2009]. 464 Vgl. Moderne Entwicklungshilfe.
Wirtschaftsethische Fragestellungen
1.3.2.6
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Octogesima adveniens
1971 richtete Paul VI. zum 80. Jahrestag von Rerum novarum einen offenen Brief Octogesima adveniens an den Vorsitzenden des päpstlichen Laienrats und der Kommission „Justitia et pax“.465 Inhaltlich einer Sozialenzyklika gleichkommend, wurden darin die bisherigen Aussagen zu Marxismus, Sozialismus und Liberalismus differenziert und neu fokussiert. Der Brief setzt sich mit den vielfältigen Problemen auseinander, die die Urbanisierung sozialer Lebenswelten und Arbeitsmigrationen mit sich bringen. Zudem wird schwerpunktmäßig auf Formen einer neuen Armut eingegangen, von der Behinderte, Alte und sozial Marginalisierte betroffen sind. Zum ersten Mal werden auch multinationale Konzerne und mit ihnen die Konsequenzen aus der allmählich beginnenden Globalisierung in den Blick genommen. Mahnend weist der Brief auf die Möglichkeiten „neue[r] Wirtschaftsmächte“ hin, „nämlich verschiedene Völker betreffende[r] Unternehmungen, die wegen der konzentrierten und zur Gesamtproduktion geeigneten Machtfülle Führungsstil annehmen können, die niemandem Rechenschaft schuldig, zum großen Teil von den politischen Mächten der Völker unbeeinträchtigt und so von jeder Kontrolle vom Gemeinwohl her frei sind“ und so „zu einer neuen, unzulässigen Form wirtschaftlicher Macht führen“ könnten, „und zwar auf dem sozialen Gebiet, in der geistigen Bildung und auch in der Politik“.466 Staatlicher Gewalt kommt also die Aufgabe zu, im Blick auf das Gemeinwohl wirtschaftliche Macht zu kontrollieren und gegebenenfalls zu regulieren. 1.3.2.7
De iustitia in mundo und „Option für die Armen“
Die Erklärung der Weltbischofssynode De iustitia in mundo aus demselben Jahr verschafft den Positionen der Kirchen aus der „Dritten Welt“ erstmals Gehör.467 In der Benennung der mit den Modernisierungsschüben in Wirtschaft und Politik einhergehenden Ungleichzeitigkeiten und Härten werden Grundlinien der Idee einer weltweiten Gerechtigkeit und die ihr entgegenstehenden soziostrukturellen Hindernisse näher bestimmt.468 Dabei betont das Dokument stärker als bisherige Verlautbarungen die Selbstverpflichtung der Kirche, sich für eine umfassende Befreiung des Menschen aus allen Formen politischer, wirtschaftlicher und sozialer Unterdrückung einzusetzen, und fordert die „Abgabe eines bestimmten prozentualen Anteils vom jährlichen Nationaleinkommen der reichen Länder an die Entwicklungsländer, gerechte Rohstoffpreise“ sowie „die Öffnung des Marktes bei den
465 Vgl. dazu und zum Folgenden Höhn: Konzeptionelle wirtschaftsethische Implikationen. Katholische Kirche, S. 748. 466 Paulus VI.: Octogesima adveniens. Rom 1971, Nr. 44. 467 Vgl. dazu und zum Folgenden Höhn: Konzeptionelle wirtschaftsethische Implikationen. Katholische Kirche, S. 748f. 468 Vgl. De iustitia in mundo. Welt-Bischofssynode in Rom. Rom 1971, Nr. 7–29.
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reichen Nationen um Vorzugsrechte für manche Artikel beim Export von Manufakturen aus den Entwicklungsländern“.469 In Bezugnahme auf die schrittweise Einführung einer globalen Wirtschafts- und Sozialordnung soll den Staaten der „Dritten Welt“ bei entwicklungspolitischen Entscheidungen mehr Eigenverantwortung zugestanden werden, um den derzeitigen „Machtmißbrauch, der in einer gerechten und verantwortlichen Weltordnung nicht hingenommen werden“ könne, zu überwinden.470 Eine weiter gewachsene Sensibilität für die Armutskrisen in zahlreichen Gesellschaften der „Dritten Welt“ und der – trotz Distanzierung des Lehramts – nicht zu übersehende Einfluss der Befreiuungstheologien auf die wirtschaftsethische Debatte in der Gesamtkirche, die Wahrnehmung der ökologischen Folgeprobleme der modernen Industrie, aber auch die teilweise Kooperation der katholischen Kirche mit dem Ökumenischen Rat der Kirchen im „konziliaren Prozess“ für „peace, justice and integrity of creation“ wirkten sich seit den 1970er Jahren verstärkt auf die sozialethischen Veröffentlichungen des Lehramts aus.471 Angeführt sei hier nur knapp der Hirtenbrief der nordamerikanischen katholischen Bischofskonferenz Wirtschaftliche Gerechtigkeit für alle aus dem Jahr 1986, der vor allem dem Ideal der „Beteiligungsgerechtigkeit“ folgt.472 Veranlasst unter anderem durch die Zunahme gravierender Asymmetrien in der Verteilung von Arbeit und Einkommen, einer signifikanten Zunahme der Arbeitslosigkeit in den Vereinigten Staaten und eine tiefe Erschütterung des Glaubens an den „amerikanischen Traum“ gehört der Brief gemeinsam mit den Beschlüssen der lateinamerikanischen Bischofssynoden von Medellín und Puebla von 1968 bzw. 1979 in die Reihe von Veröffentlichungen, die in der „Option für die Armen“ ein wesentliches Anliegen der katholischen Soziallehre erkennen. Diese wies insgesamt verstärkt auf die zahlreichen Krisenphänome des globalen Kapitalismus hin, tat sich hingegen mit der Entwicklung eigener wirtschaftsethischer Lösungsstrategien schwer. Dies ist nach Graf vor allem darauf zurückzuführen, dass die Amtskirche auf die Hauptursachen der kritisierten Entwicklung – den wachsenden weltweiten Einfluss transnationaler Unternehmen, die Internationalisierung der Kapitalmärkte und die Veränderung von Kommunikation und medialer Öffentlichkeit – nicht mit genereller Ablehnung reagieren konnte, wenn sie nicht mit dem eigenen globalethischen Weisungsanspruch und der ethischen Wächterfunktion des römischen Lehramts in Konflikt geraten wollte.473 Friedrich Wilhelm Graf bemängelt in diesem Zusammenhang, dass ab den späten 1970er Jahren die liberalismuskritische Grundorientierung der katholi469 De iustitia in mundo, Nr. 64,3. 470 De iustitia in mundo, Nr. 64,4. 471 Graf: Stellenwert der Religion, S. 648. 472 Vgl. dazu und zum Folgenden Höhn: Konzeptionelle wirtschaftsethische Implikationen. Katholische Kirche, S. 750. 473 Vgl. Graf: Stellenwert der Religion, S. 648.
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schen Soziallehre und ihre naturrechtliche Grundorientierung mit der zentralen Vorstellung des bonum commune angesichts fortschreitender Probleme des Sozialstaats zunehmend an ihre Grenzen gestoßen seien.474 Die starke Fokussierung auf Verteilungsgerechtigkeit, Gemeinsinn und Solidarität und die permanente religiösmoralische Verdächtigkeit ökonomischer Rationalität und Leistungskraft habe aus den Augen geraten lassen, dass der Wohlfahrtsstaat als autonomes Subjekt keinen gesellschaftlichen Reichtum produziere und dessen ausufernde Interventions- und Verteilungspolitik auch neue strukturelle Ungerechtigkeiten und ungewollte Folgewirkungen – wie etwa die moralische Delegetimierung des individuellen Eigennutzes, Subventions- und Versorgungsmentalität oder auch das Auseinanderklaffen der Schere zwischen dem Einsatz und den Ergebnissen und viele mehr – keimen ließ.475 Die Institutionalisierung ethischer Normen in einem der ökonomischen Rationalität korrespondierenden Institutionengefüge als zentrales Problem der Wirtschaftsethik sei von der katholischen Soziallehre nahezu vollständig ignoriert worden, die so die Entwicklung einer zeitgemäßen Rahmenordnung verpasst habe, die dem Anspruch des Gemeinwohls einerseits und dem modernen weltanschaulichen Pluralismus sowie dem Wettbewerb der Wirtschaftssubjekte andererseits gerecht würde.476 Die Kirche habe so den „etatistischen Glauben“ gestärkt, dass der Staat „viele ökonomische Probleme durch Intervention“ lösen könne.477 Vor allem Grafs letztgenanntes Argument von einer gewissen übergroßen Gläubigkeit in die Regelungskompetenz (und -potenz) des Staates lässt sich trotz der augenscheinlichen Schärfe nicht gänzlich in Abrede stellen, wie vor allem der Blick auf die jüngste Enzyklika Papst Benedikts XVI. noch zeigen wird. Allerdings muss Graf sich auch die Frage gefallen lassen, ob sich erstens eine zeitgemäße Wirtschaftsethik tatsächlich allein im Aufbau eines institutionellen Rahmens erfüllt und ob zweitens die Verortung der Moral in einem Regel- und Ordnungssystem überhaupt mit dem Anspruch der christlichen Soziallehre und dem Subsidiaritätsprinzip in Einklang zu bringen wäre. Auch kann man sich fragen, ob und inwieweit Graf nach den Erfahrungen aus der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise seine antiinterventionistischen Thesen möglicherweise revidierte. Einem „etatistischen Glauben“ ist jedenfalls in den vergangenen Jahren seit der Krise keineswegs der Todesstoß versetzt worden. Darüber hinaus versuchen besonders die lehramtlichen Verlautbarungen der zurückliegenden knapp 50 Jahre nach dem Zweiten Vaticanum eine Brücke zwischen einer grundlegend auf dem Eigentum basierenden und damit immer eigennutzorientierten Wirtschaft und dem Gemeinwohl zu schlagen. Dass diese Lösungen nicht zu einem vollständigen wirtschaftsethischen Konzept bzw. System führten, ist auch darauf zurückzuführen, dass kirchliche Sozialverkündigung zu 474 475 476 477
Vgl. dazu und zum Folgenden Graf: Stellenwert der Religion, S. 646. Vgl. Graf: Stellenwert der Religion, S. 646f. Vgl. dazu und zum Folgenden Graf: Stellenwert der Religion, S. 647. Graf: Stellenwert der Religion, S. 647.
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keiner Zeit ein solches Vorgehen beabsichtigte. Dies ist einerseits auf die Achtung der Autonomie der irdischen Wirklichkeiten zurückführen, andererseits aber auch auf das Bewusstsein der Kirche, dass sie ob der Vorläufigkeit aller irdischen Wirklichkeit letztlich kein politisches und/oder wirtschaftliches System vorschlagen kann, das gleichsam „gottgewollt“ wäre – und zudem die Existenz eines theonomen Systems irdischer Wirklichkeit voraussetzen würde. In Centesimus annus äußert sich etwa Papst Johannes Paul II.: „Die Kirche hat keine eigenen Modelle vorzulegen. Die konkreten und erfolgreichen Modelle können nur im Rahmen der jeweils verschiedenen historischen Situationen durch das Bemühen aller Verantwortlichen gefunden werden, die sich den konkreten Problemen in allen ihren eng miteinander verflochtenen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Aspekten stellen.“478 1.3.2.8
Laborem exercens
Die erste Sozialenzyklika Laborem exercens Johannes Pauls II. von 1981 enthält grundsätzliche Reflexionen aus anthropologischer, theologischer und sozialethischer Sicht, die vornehmlich Stellung, Funktion und Wert der menschlichen Arbeit im Wirtschaftsprozess gewidmet sind.479 Die zunehmende Automatisierung der modernen Produktion und die fortschreitende globale Verflechtung und Arbeitsteilung der Ökonomie drohten die menschliche Arbeit zu einer abhängigen Variablen, einer „Art ‚Ware‘, die der Arbeitnehmer […] dem Arbeitgeber verkauft“480 und damit zu einem bloßen Instrument wirtschaftlicher Zwänge werden zu lassen. Gegen eine solche Behandlung der Arbeit als „eine anonyme“, le478 Centesimus annus, Nr. 43. 479 Vgl. dazu und zum Folgenden Höhn: Konzeptionelle wirtschaftsethische Implikationen. Katholische Kirche, S. 749. Grundsätzlich muss insbesondere bei der Bewertung der frühen Enzykliken Johannes Pauls II. berücksichtigt werden, dass der Papst in ihnen auch gegen das sozialistische Denken anschrieb. Den Sozialismus lehnte Johannes Paul II. grundsätzlich als atheistische Doktrin ab – so etwa explizit in Centesimus Annus. (Vgl. Centesimus annus, Nr. 24ff.) Der Grundirrtum des Sozialismus sei „anthropologischer Natur“: „Er betrachtet den einzelnen Menschen lediglich als ein Instrument und Molekül des gesellschaftlichen Organismus, so dass das Wohl des einzelnen dem Ablauf des wirtschaftlich-gesellschaftlichen Mechanismus völlig untergeordnet wird; gleichzeitig ist man der Meinung, dass eben dieses Wohl unabhängig von freier Entscheidung und ohne eine ganz persönliche und unübertragbare Verantwortung gegenüber dem Guten verwirklicht werden könne. Der Mensch wird auf diese Weise zu einem Bündel gesellschaftlicher Beziehungen verkürzt, es verschwindet der Begriff der Person als autonomes Subjekt moralischer Entscheidung, das gerade dadurch die gesellschaftliche Ordnung aufbaut. Aus dieser verfehlten Sicht der Person folgen die Verkehrung des Rechtes, das den Raum für die Ausübung der Freiheit bestimmt, und ebenso die Ablehnung des Privateigentums. Der Mensch, der gar nichts hat, was er ‚sein eigen‘ nennen kann, und jeder Möglichkeit entbehrt, sich durch eigene Initiative seinen Lebensunterhalt zu verdienen, wird völlig abhängig von den gesellschaftlichen Mechanismen und von denen, die sie kontrollieren. Es wird dem Menschen äußerst schwer, seine Würde als Person zu erkennen. Damit aber wird der Weg zur Errichtung einer echten menschlichen Gemeinschaft verbaut.“ (Vgl. ebd., Nr. 13.) 480 Johannes Paulus II.: Laborem exercens. Rom 1981, Nr. 7,2.
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diglich „für die Produktion erforderliche ‚Kraft‘“481 macht die Enzyklika geltend, dass Würde und Wert der menschlichen Arbeit theologisch im Schöpfungsauftrag, „die Erde zu bebauen und zu bewahren“, begründet sind und anthropologisch ihr Wert daraus erwächst, dass der Mensch durch sie sein Personsein realisiert. 482 Wiederum wird das „Prinzip des Vorrangs der Arbeit vor dem Kapital“ angeführt, zumal im Produktionsprozess „die Arbeit immer den ersten Platz als Wirkursache einnimmt, während das Kapital, das ja in der Gesamtheit der sächlichen Produktionsmittel besteht“ lediglich „instrumentale Ursache ist“.483 Entsprechend muss eine sachgemäße und „moralisch zulässig[e] […] Ordnung des Arbeitslebens“ den „Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital schon in ihrer Grundlage“ überwinden und darauf angelegt sein, das „Prinzip zu verwirklichen, wonach der Arbeit ein wesentlicher und wirksamer Vorrang zukommt, weil die Arbeit von ihrem Subjekt her gesehen menschlich ist und demzufolge der arbeitende Mensch entscheidenden Anteil am gesamten Produktionsprozeß hat, unabhängig von der Art der von ihm erbrachten Leistung“.484 Inakzeptabel erscheint von diesem Grundsatz her der Standpunkt eines Kapitalismus, der das ausschließliche Recht des Privateigentums an den Produktionsmitteln „wie ein unantastbares Dogma des Wirtschaftslebens verteidigt“.485 Statt dessen seien Vorkehrungen für einen Mitbesitz der Arbeiter an den Produktionsmitteln zu treffen.486 Die Begründung für dieses Recht ist personalistisch: Die Arbeiter müssen Einfluss nehmen können, um ein Empfinden für Mitverantwortung und Beteiligung gewinnen zu können.487 Zugleich wird das Recht auf Beteiligung durch eine Arbeitswertlehre begründet: „Kapital ist ein Ergebnis der Arbeit von Generationen und wird durch Arbeit neu geschaffen.“ 488 Diese Standpunkte der Enzyklika, über deren Tragweite und Auslegung ein hitziger Streit entbrannte489, finden sich anschließend wiederholt in weiteren Ausfüh481 Laborem exercens, Nr. 7,3. 482 Laborem exercens, Nr. 4–6. 483 Laborem exercens, Nr. 12,1. 484 Laborem exercens, Nr. 13,1. 485 Laborem exercens, Nr. 14,4. Vgl. hierzu und zum Folgenden auch Höhn: Konzeptionelle wirtschaftsethische Implikationen. Katholische Kirche, S. 750. 486 Vgl. Laborem exercens, Nr. 14,5. 487 Vgl. Göran Collste: Mitbestimmung. In: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 23. Berlin u.a. 1994, S. 99–104, 104. 488 Collste: Mitbestimmung, S. 104. 489 Vgl. zu den einzelnen Streitpunkten und den Grundlinien der Auseinandersetzung um Arbeiterrechte Stegmann/Langhorst: Geschichte der sozialen Ideen im deutschen Katholizismus,S. 802– 821, bes. 819. Dort finden sich auch weitere Verweise. Im Rahmen der Kontroverse um die Enzyklika wurde auch diskutiert, inwieweit die Aussagen des Papstes überhaupt weltweit Gültigkeit beanspruchen könnten – oder ob sie sich nicht vielmehr weitestgehend auf die damaligen Zustände in der Volksrepublik Polen bezögen. Im Heimatland des Papstes war es bereits seit den späten 1960er Jahren zu Streiks und ernsthaften Auseinandersetzungen zwischen Arbeitern und den kommunistischen Machthabern gekommen. Der sich anschließende Polnische Ausnahmezustand von 1981 bis 1983 gilt als gewalttätiger Höhepunkt der Unruhen. Die Konflikte, die um politische Forderungen und soziale Reformen entbrannten, gingen größtenteils von der freien Gewerkschaftsbe-
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rungen zur Beschäftigungspolitik, zur Bemessung von Löhnen sowie zur Bedeutung von Gewerkschaften.490 Nachdrücklich hebt die Enzyklika hervor, dass Wirtschaft mehr als nur ein Sachprozess ist und dass wirtschaftliche Notwendigkeiten stets in zwischenmenschliche, soziokulturelle und geistige Sinngehalte eingebunden werden müssen.491 1.3.2.9
Sollicitudo rei socialis
Zwanzig Jahre nach Populorum Progressio zieht Papst Johannes Paul II. 1987 in der Sozialenzyklika Sollicitudo rei socialis eine kritische Bilanz der Entwicklungshilfe.492 Insbesondere diese Enzyklika entspricht damit stark einer allgemein recht verbreiteten negativen Weltsicht gegen Ende der 1980er Jahre, als Krisensymptome wie Verschuldung, Arbeitslosigkeit, Rezession sowie die Verschärfung des Nord-SüdKonflikts verstärkt wahrgenommen wurden. Die Kritik richtet sich dabei besonders gegen eine ökonomisch verengte Auffassung von „Entwicklung“, bei der eine bloße Anhäufung von Gütern und Dienstleistungen im Mittelpunkt steht, die außer Acht lässt, dass die gesamte Menge der verfügbaren Mittel und Möglichkeiten ebenso von einer „sittlichen Grundeinstellung gelenkt und auf das wahre Wohl des Menschengeschlechtes hingeordnet wird“. 493 „Überentwicklung“, das Vorhandensein materieller Güter im Übermaß „zugunsten einiger sozialer Schichten“, erscheint dabei ebenso wenig annehmbar wie das Elend der Unterentwicklung. 494 Scharf als „Strukturen der Sünde“ werden die beiden großen, auf starre Ideologi-
wegung Solidarno und ihren Mitglieder aus. Als Beispiel für die verbreitete Kritik mag ein Kommentar des SWR-Journalisten Franz Alt aus dem Magazin Der Spiegel dienen: Dieser monierte, dass „für die derzeitigen Verhältnisse in Polen […] beinahe jeder Satz“ gelte, „den dieser Papst aus Polen in seine erste Sozial-Enzyklika“ geschrieben habe. (Franz Alt: Eine unzeitgemäße Botschaft. In: Der Spiegel Nr. 39 v. 21.09.1981, S. 30f., 30.) Dies sei zugleich „Stärke und die Schwäche dieses Dokuments“. (Ebd., S. 30.) Alt hebt die Kontinuität der Enzyklika zu vorangegangenen Verlautbarungen hervor und bemängelt ihren Duktus und Umfang: „Dieser Papst schreibt über Arbeit in einer Sprache, die kein Arbeiter versteht. […] Und: Wie viele Arbeiter lesen ein Papier von 109 Seiten?“ (Ebd., S. 30.) Außerdem kritisiert Alt die Nähe zu Gewerkschaftspositionen, die gleichzeitig andere wesentliche Probleme wie Umweltschutz oder Gleichberechtigung außer Acht lasse. (Vgl. ebd., S. 30f.) Zudem moniert er die eurozentrische Verengung des päpstlichen Arbeitsbegriffs, der weder zeitgemäß sei, noch sich auf die Situation in den Ländern der „Dritten Welt“ ausweiten lasse: „Sein Schlüsselwort heißt ‚Arbeit‘. Der Papst gebraucht dieses Wort so, wie es heute noch die meisten europäischen Gewerkschaftsführer gebrauchen: Arbeit als ein anderes Wort für Selbstverwirklichung. […] Der patriarchalische Arbeitsbegriff des Papstes koppelt die Arbeitskraft des Mannes ans Kapital und die der Frau ans Haus. […] Auch diese Enzyklika dokumentiert ein Stück katholischer Ungleichzeitigkeit – eine polnische Enzyklika.“ (Ebd., S. 30f.) 490 Vgl. Laborem exercens, Nr. 18–20. 491 Vgl. Laborem exercens, Nr. 24–27. 492 Vgl. dazu und zum Folgenden Höhn: Konzeptionelle wirtschaftsethische Implikationen. Katholische Kirche, S. 751. 493 Sollicitudo rei socialis, Nr. 28. 494 Sollicitudo rei socialis, Nr. 28.
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en gestützten Machtblöcke gebrandmarkt, die unterschiedliche Formen von Imperialismus, Profitgier und Macht statt Solidarität praktizieren.495 Die Kategorie der internationalen „Solidarität“, gegründet auf dem Prinzip, dass „die Güter der Schöpfung für alle bestimmt sind“, markiert den Weg „zum Frieden und zugleich zur Entwicklung“.496 Dabei will die Kirche zur Ausgestaltung dieses Postulats keinen politisch-ökonomischen Mittelweg „zwischen liberalistischem Kapitalismus und marxistischem Kollektivismus“ beschreiten497, sondern möchte ihre Orientierungsleistung durch die Erfüllung ihres Verkündigungsauftrags im sozialen Bereich erbringen. Dazu zählen die Offenlegung von Unterdrückung und Unrecht ebenso wie die Einlösung der „Option und vorrangigen Liebe für die Armen“ 498, woraus sich Konsequenzen für die sozialen Verpflichtungen und den Lebensstil der Christen und „für die entsprechenden Entscheidungen hinsichtlich des Eigentums und des Gebrauchs der Güter“ ergeben.499 Daraus folgert die Enzyklika Reformbedarf in der Gestaltung internationaler Wirtschaftsbeziehungen, da das Welthandelssystem arme Länder noch immer auf unterschiedlichen Ebenen diskriminiere, benachteilige, ihnen notwendige Technologien vorenthalte und ihre Zahlungsbilanz – etwa durch übergroße Fluktuationen der Wechselkurse und Zinssätze – sowie ihren Schuldendienst beeinträchtige.500 Allerdings werden auch die Entwicklungsländer zu mehr Eigeninitiative und Kooperationsbereitschaft in ihren jeweiligen Wirtschaftsräumen aufgefordert.501 1.3.2.10 Centesimus annus Die Entwicklung der globalen Ökonomie, insbesondere in Folge des Zusammenbruchs der sozialistischen Staatenwelt, führte zu einer verstärkten Beschäftigung der katholischen Soziallehre mit der eigenen Rationalität kapitalistischer Ökonomie.502 Hundert Jahre nach Rerum novarum erschien 1991 Johannes Pauls II. Enzyklika Centesimus annus, in der auch die Tradition der katholischen Soziallehre in einer Rückschau503 gewürdigt wird.504 Die 1991 verkündete Sozialenzyklika reagiert auf die wirtschaftspolitischen und wirtschaftsethischen Herausforderungen nach dem Ende der planwirtschaftlichen sozialistischen Zwangsstaaten und des OstWest-Konflikts.505 Neben der Betonung der Grenzen des Marktes und der War495 Vgl. Sollicitudo rei socialis, Nr. 35–37. 496 Sollicitudo rei socialis, Nr. 39. 497 Sollicitudo rei socialis, Nr. 41. 498 Sollicitudo rei socialis, Nr. 42. 499 Sollicitudo rei socialis, Nr. 42. 500 Vgl. Sollicitudo rei socialis, Nr. 43. 501 Vgl. Sollicitudo rei socialis, Nr. 44–45. 502 Vgl. Graf: Stellenwert der Religion, S. 647. 503 Vgl. Centesimus annus, Nr. 11–21. 504 Vgl. Höhn: Konzeptionelle wirtschaftsethische Implikationen. Katholische Kirche, S. 752. 505 Vgl. dazu und zum Folgenden Graf: Stellenwert der Religion, S. 648f.
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nung vor einer Ökonomisierung aller Lebensbereiche enthält die Enzyklika eine scharfe Anklage des hedonistischen, konsumistischen und oberflächlichen Lebensstil der westlichen Gesellschaften. Wirtschaftsethisch bedeutend sind die Ausführungen zu einem erweiterten Arbeits- und Eigentumsbegriff, zur Marktwirtschaft, zur Bewertung unternehmerischen Handelns und von Unternehmensgewinnen, zur Entwicklungshilfe sowie zur ökologischen Dimension menschlicher Weltgestaltung.506 Nicht mehr allein die „natürliche Fruchtbarkeit der Erde“ 507 erscheint als die menschliche Arbeit erschließende Produktivkraft, sondern besonders auch der Besitz von Wissen und Technik, die Organisation des Produktionsprozesses und die Initiativkraft des Unternehmertums dienen als Grundlagen für den Reichtum der Industrienationen. Gewürdigt wird explizit die unternehmerische Fähigkeit, die „Bedürfnisse der anderen Menschen“ sowie „die Kombination der geeignetsten Produktionsfaktoren für ihre Befriedigung rechtzeitig zu erkennen“.508 Die bisherige Zurückhaltung der katholischen Soziallehre, ihre Stellung zu konkreten Wirtschaftsordnungen zu bestimmen, wird gelockert, indem die „freie Marktwirtschaft“ im Zusammenhang mit dem „Aufbau einer demokratischen Gesellschaft, die sich von sozialer Gerechtigkeit leiten lässt“ erwähnt wird und zugleich auch auf die Grenzen des freien Marktes hingewiesen wird.509 So wird der freie Markt als bislang effektivstes Instrument zur „Anlage der Ressourcen“ und zur menschlichen Bedürfnisbefriedigung charakterisiert, doch gelte dies nur für bezahlbare Bedürfnisse, bzw. für solche, für die Kaufkraft vorhanden ist, sowie für „verkäufliche Ressourcen“, die einen angemessenen Preis erzielen können. Demgegenüber existieren jedoch „unzählige menschliche Bedürfnisse, die keinen Zugang zum Markt haben“, woraus die „strenge Pflicht der Gerechtigkeit und der Wahrheit“ resultiert510, „zu verhindern, daß die fundamentalen menschlichen Bedürfnisse unbefriedigt bleiben und daß die davon betroffenen Menschen zugrunde gehen“.511 So gibt es wichtige menschliche Erfordernisse und Güter, die sich der Marktlogik entziehen, weshalb der Markt von den in einer Gesellschaft wirksamen Kräften „und vom Staat in angemessener Weise kontrolliert werden“ müsse, um „die Befriedigung der Grundbedürfnisse der Gesellschaft zu gewährleisten“512 und diejenigen Güter zu schützen, „die ihrer Natur nach weder bloße Waren sind noch sein können“.513 Darüber hinaus warnt die Enzyklika vor den Gefahren der Wohlstandsgesellschaft, die Entfremdung und Konsumismus birgt, von denen der Mensch in ein Netz falscher und oberflächlicher Bedürfnisbefriedigungen hineingezogen
506 Vgl. Centesimus annus, Nr. 30–43. 507 Centesimus annus, Nr. 31. 508 Centesimus annus, Nr. 32. 509 Centesimus annus, Nr. 19. 510 Centesimus annus, Nr. 40. 511 Centesimus annus, Nr. 34. 512 Centesimus annus, Nr. 35,2. 513 Centesimus annus, Nr. 40,2.
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wird514, doch machen auch ökologische Gründe Korrekturen im Lebensstil erforderlich.515 Die von der Enzyklika vorgeschlagenen wirtschaftspolitischen Rezepte sind keineswegs neu und sorgen für mehr Spielräume zur Interpretation als für Eindeutigkeit: So fordert die Enzyklika zur Schaffung gemeinwohlorientierter Rahmenbedingungen wie gesehen einerseits eine angemessene Kontrolle und Sanktionierung des Marktes durch Gesellschaft und Staat, gleichzeitig verlangt sie aber andererseits, die Steuerung der Wirtschaftsprozesse den Entscheidungen der Marktbeteiligten zu überlassen, ohne ständig interventionistisch einzugreifen oder als „Fürsorgestaat“ unter Verletzung des Subsidiaritätsprinzips die gesellschaftlichen Kräfte aus ihrer Selbstverantwortung zu entlassen.516 Überdies wird ein liberalistisches Gesellschafts- und Wirtschaftssystem weiterhin ebenso abgelehnt wie die Vorstellung, „die Niederlage des sogenannten ‚realen Sozialismus‘ lasse den Kapitalismus als einziges Modell wirtschaftlicher Organisation übrig“.517 Damit scheint jenseits des „realen Sozialismus“ und des Konkurrenzkapitalismus der neoliberalen Ökonomik (wiederum) die Möglichkeit eines dritten Weges als alternative, nicht allein kapitalistische Form des Wirtschaftens auf, die aber nicht weiter expliziert wird.518 Für den Welthandel wird zwar eine marktwirtschaftliche Ordnung favorisiert und protektionistischen Theorien eine klare Absage erteilt, aber auch für einen „gerechten Zugang“ der Entwicklungsländer „zum internationalen Markt“ plädiert.519 Die dafür unumgängliche Ordnungspolitik und die Konsequenzen eines globalökonomischen Ordnungsrahmens werden dabei jedoch weder thematisiert noch problematisiert.520 1.3.2.11 Caritas in veritate Die aktuellste und zugleich erste Sozialenzyklika Papst Benedikts XVI. Caritas in veritate aus dem Juli 2009 führt neben vielen Bezügen zur Entwicklungsenzyklika Papst Paul VI. Populorum progressio aus dem Jahr 1967 vor allem zentrale sozialethische Ansätze aus Benedikts erster Enzyklika Deus caritas est (2005) weiter aus.521 Dabei knüpft nicht nur der Name der neuen Enzyklika an Deus caritas est an, auch in der Einleitung wird klargestellt, dass die Liebe Gottes die innere Kraft und Befähigung für die Entwicklung eines ganzheitlichen Humanismus der ganzen 514 Vgl. Centesimus annus, Nr. 41. 515 Vgl. Centesimus annus, Nr. 37–38. 516 Vgl. Centesimus annus, Nr. 48. Vgl. wie auch zum Folgenden Höhn: Konzeptionelle wirtschaftsethische Implikationen. Katholische Kirche, S. 753. 517 Centesimus annus, Nr. 35,4. 518 Vgl. Graf: Stellenwert der Religion, S. 649. 519 Centesimus annus, Nr. 33,4. 520 Vgl. Graf: Stellenwert der Religion, S. 649. Vgl. zudem Höhn: Konzeptionelle wirtschaftsethische Implikationen. Katholische Kirche, S. 753. 521 Vgl. Benedictus XVI.: Caritas in veritate. Rom 2009, Nr. 10–20.
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Menschheitsfamilie darstellt.522 Caritas in veritate liefert zuerst eine Erläuterung des zugrundeliegenden vernunftbetonten Prinzips der „Liebe in Wahrheit“, um das die „Soziallehre der Kirche kreist“ und das in „Orientierungsmaßstäben für das moralische Handeln wirksame Gestalt annimmt“.523 Dabei stellt Benedikt XVI. die besondere Bedeutung von „Gerechtigkeit“ und „Gemeinwohl“ für die „Entwicklung in einer Gesellschaft auf dem Weg zur Globalisierung“ heraus.524 In den nachfolgenden Teilen setzt sich die Enzyklika unter anderem breit mit der Globalisierung und den von ihr verursachten „Problemen“ auseinander, die „durch die Wirtschafts- und Finanzkrise noch weiter erschwert“ worden seien und in deren Lösung die wesentliche Aufgabe der Gegenwart gesehen wird. 525 In Anbetracht dieser Herausforderung gelte es nicht bloß „die traditionellen sozialethischen Prinzipien […] Transparenz, […] Ehrlichkeit und […] Verantwortung“ nicht zu vernachlässigen oder zu schwächen, sondern auch dem „Prinzip der Unentgeltlichkeit“ und der „Logik des Geschenks […] in den geschäftlichen Beziehungen“ des gewöhnlichen Wirtschaftsleben zu ihrem Platz zu verhelfen.526 Um diesen Prinzipien und dem Ziel der Gerechtigkeit zur Geltung zu verhelfen, benötige das „Wirtschaftsleben […] ohne Zweifel Verträge, um den Tausch von einander entsprechenden Werten zu regeln“.527 Dieser vertraglich vereinbarte Güteraustausch sei zwar in der globalisierten Wirtschaft vorherrschend, ebenso notwendig seien „jedoch gerechte Gesetze, von der Politik geleitete Mechanismen zur Umverteilung und darüber hinaus Werke, die vom Geist des Schenkens geprägt sind“.528 Unter Berufung auf die Enzyklika Centesimus annus Johannes Pauls II. betont Benedikt XVI. die Bedeutung der Zivilgesellschaft für das Wirtschaftssystem, die eine geeignete Basis „für eine Wirtschaft der Unentgeltlichkeit und der Brüderlichkeit“ biete.529 Wirtschaftstätigkeit könne „nicht auf die Unentgeltlichkeit verzichten, die die Solidarität und das Verantwortungsbewußtsein für die Gerechtigkeit und das Gemeinwohl in seinen verschiedenen Subjekten und Akteuren verbreitet und nährt“.530 Solidarität sei nicht allein vom Staat zu gewährleisten, hier sei die gesamte Zivilgesellschaft gefordert.531 Ohne Unentgeltlichkeit könne und werde es keine Gerechtigkeit geben. Daher müsse weltweit eine Marktordnung geschaffen werden, auf der neben den „gewinnorientierten Privatunternehmen“ und „staatlichen Unternehmen“ auch die nach „sozialen Zielen strebenden Produktionsverbände“, die über die „Logik des Äquivalenzprinzips und des Gewinns als Selbst522 Vgl. Caritas in veritate, Nr. 1–9. 523 Caritas in veritate, Nr. 6. 524 Caritas in veritate, Nr. 6. 525 Caritas in veritate, Nr. 36. 526 Caritas in veritate, Nr. 36. 527 Caritas in veritate, Nr. 37. 528 Caritas in veritate, Nr. 37. 529 Caritas in veritate, Nr. 38. 530 Caritas in veritate, Nr. 38. 531 Vgl. Caritas in veritate, Nr. 38.
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zweck“ hinausgehen, einen Platz finden.532 Davon erhofft sich Benedikt XVI. eine globale „Zivilisierung der Wirtschaft“.533 Auch die global agierenden Wirtschaftskonzerne werden direkt adressiert und in die Pflicht genommen: „Die derzeitigen internationalen wirtschaftlichen Dynamiken mit ihren schwerwiegenden Verzerrungen und Mißständen erfordern, daß sich auch das Verständnis des Unternehmens tiefgreifend verändern muß.“534 Dabei werden neben den Folgen der Globalisierung vor allem die Tätigkeit von Investoren und die daraus resultierenden Entwicklungen kritisch betrachtet: „Eine der größten Gefahren ist sicher die, daß das Unternehmen fast ausschließlich gegenüber den Investoren verantwortlich ist und so letztendlich an Bedeutung für die Gesellschaft einbüßt.“535 Aufgrund ihrer wachsenden Größe und ihres zunehmenden Kapitalbedarfs hingen immer weniger Unternehmen „von einem gleichbleibenden Unternehmer ab, der sich langfristig – und nicht nur vorübergehend – für die Tätigkeit und die Ergebnisse seines Unternehmens verantwortlich“ fühle.536 Zudem hingen Unternehmen ebenfalls immer weniger „nur von einer Region“ ab. Außerdem könne die Auslagerung der Produktionstätigkeit zu einem geringeren „Verantwortungsbewußtsein des Unternehmers gegenüber Interessensträgern wie den Arbeitnehmern, den Zulieferern, den Konsumenten, der Umwelt und dem größeren gesellschaftlichen Umfeld“ führen. Kritisiert wird eine einseitige Orientierung am Shareholder Value, die der Verantwortung des Unternehmens entgegen stünde. So könnten Unternehmen geneigt sein, sich vermehrt an den Interessen von Aktionären zu orientieren, „die nicht an einen bestimmten Ort gebunden sind und daher außerordentlich beweglich sind“.537 Die Enzyklika merkt kritisch die großen Handlungsspielräume an, die „der internationale Kapitalmarkt“ für Unternehmen biete.538 Zugleich wird aber auch konstatiert, dass in den Unternehmen das „Bewußtsein für die Notwendigkeit einer weiterreichenden ‚sozialen Verantwortung‘“ wachse: „Auch wenn nicht alle ethischen Konzepte, die heute die Debatte über die soziale Verantwortung des Unternehmens bestimmen, aus der Sicht der Soziallehre der Kirche annehmbar sind, so ist es doch eine Tatsache, daß sich eine Grundüberzeugung ausbreitet, nach der die Führung des Unternehmens nicht allein auf die Interessen der Eigentümer achten darf, sondern auch auf die von allen anderen Personenkategorien eingehen muß, die zum Leben des Unternehmens beitragen.“539 In diesem Zusammenhang wird mit den Arbeitnehmern, Kunden, Zulieferern und den entsprechen-
532 Caritas in veritate, Nr. 38. Vgl. dazu auch Caritas in veritate, Nr. 39f. 533 Caritas in veritate, Nr. 38. 534 Caritas in veritate, Nr. 40. 535 Caritas in veritate, Nr. 40. 536 Caritas in veritate, Nr. 40. 537 Caritas in veritate, Nr. 40. 538 Caritas in veritate, Nr. 40. 539 Caritas in veritate, Nr. 40.
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den Gemeinden auf verschiedene Stakeholdergruppierungen der Unternehmen verwiesen. Generell fällt die deutliche Präferierung eines Stakeholder orientierten Ansatzes gegenüber einem reinen Shareholder Value-Ansatz auf. Lobend werden Manager hervorgehoben, „die sich dank weitblickender Analysen immer mehr der tiefgreifenden Verbindungen bewußt werden, die ihr Unternehmen mit der Region oder den Regionen, in denen es arbeitet, hat“. 540 Scharfe Kritik übt Benedikt XVI. indes am Führungsverhalten einiger Manager und am wachsenden Einfluss von Private-Equity-Gesellschaften und Investmentfonds auf Unternehmensentscheidungen: „In den vergangenen Jahren war eine Zunahme einer kosmopolitischen Klasse von Managern zu beobachten, die sich oft nur nach den Anweisungen der Hauptaktionäre richten, bei denen es sich normalerweise um anonyme Fonds handelt, die de facto den Verdienst der Manager bestimmen.“541 Vor allem der veränderte Charakter von Investitionen geben für das Lehramt Anlass zur Sorge: Trotz der Liberalisierung der Kapitalmärkte dürften Investitionen nicht nur als rein „technische(r) Vorgang“ betrachtet werden, sondern müssten auch als „menschliche und ethische Handlung“ gesehen werden.542 Investitionen im Ausland könnten auch Gutes – so unter anderem für Bildung und Entwicklung der Bevölkerung – bewirken, wobei immer die „die aus Gerechtigkeit bestehenden Ansprüche gewährt“ sein müssten. So dürfe eine Auslagerung nicht nur erfolgen, um von „Begünstigungen zu profitieren“ oder gar „um andere auszubeuten“.543 In jedem Fall müsse vermieden werden, „daß die finanziellen Ressourcen zur Spekulation verwendet werden und man der Versuchung nachgibt, nur einen kurzfristigen Gewinn zu suchen und nicht auch den langfristigen Bestand des Unternehmens, den Nutzen der Investition für die Realwirtschaft und die Sorge für die angemessene und gelegene Förderung von wirtschaftlichen Initiativen in Entwicklungsländern“.544 Angesichts des nahenden Endes „alte[r] Formen der Unternehmertätigkeit“ fordert die Enzyklika in diesem Zusammenhang ein gänzlich neues Unternehmertum.545 Die unternehmerische Tätigkeit habe „noch vor ihrer beruflichen eine menschliche Bedeutung“, der sie verstärkt gerecht werden müsse.546 Doch auch der „politische[n] Autorität“ käme eine wichtige Rolle auf dem „Weg zur Verwirklichung einer neuen sozial verantwortlichen und nach dem Maß des Menschen ausgerichteten wirtschaftlich-produktiven Ordnung“ zu.547 „Die zusammengewachsene Wirtschaft unserer Zeit eliminiert die Rolle der Staaten nicht, sie verpflichtet
540 Caritas in veritate, Nr. 40. 541 Caritas in veritate, Nr. 40. 542 Caritas in veritate, Nr. 40. 543 Caritas in veritate, Nr. 40. 544 Caritas in veritate, Nr. 40. 545 Caritas in veritate, Nr. 40. 546 Caritas in veritate, Nr. 41. 547 Caritas in veritate, Nr. 41.
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die Regierungen vielmehr zu einer engeren Zusammenarbeit untereinander.“548 Zur Umsetzung dieser Programmatik fordert der Papst schließlich gar die Einrichtung einer „echten politischen Weltautorität“. Deren Aufgaben sollen dabei über die Steuerung der Weltwirtschaft, die Sanierung der von „von der Krise betroffenen Wirtschaften“ bis zur Vorbeugung vor „einer Verschlimmerung der Krise und sich daraus ergebenden Ungleichgewichten“ reichen.549 Ähnlich ambitioniert sind auch die mit ihrer Einrichtung verbundenen Ziele: So solle die Weltautorität nicht weniger als eine „geeignete vollständige Abrüstung […] verwirklichen, die Sicherheit und den Frieden […] nähren, den Umweltschutz […] gewährleisten und die Migrationsströme […] regulieren“.550 Eine solche dringend einzurichtende Autorität müsse „sich dem Recht unterordnen, sich auf konsequente Weise an die Prinzipien der Subsidiarität und Solidarität halten, auf die Verwirklichung des Gemeinwohls hingeordnet sein“ und sich „für die Verwirklichung einer echten ganzheitlichen menschlichen Entwicklung einsetzen, die sich von den Werten der Liebe in der Wahrheit inspirieren läßt“.551 Dazu sei sie mit umfassenden Kompetenzen auszustatten, müsse „von allen anerkannt“ werden und vor allem „über wirksame Macht verfügen, um für jeden Sicherheit, Wahrung der Gerechtigkeit und Achtung der Rechte zu gewährleisten“.552 Man mag die von der Kirche vorgeschlagene „große Lösung“ einer global agierenden Weltpolizei für Frieden, Gerechtigkeit und ökonomische Verantwortung als vermessen, unrealistisch oder auch als visionär bezeichnen. In jedem Fall bleibt festzuhalten, dass nicht nur ein weiteres Mal das Allgemeinwohl als höchstes zu erreichendes Gut erscheint, sondern auch in der Gegenwart das Vertrauen des kirchlichen Lehramts in den Einfluss zentraler Instanz und die Effizienz interventionistischer Regelungen ungebrochen scheint. Die Idee zur Einrichtung einer solchen Weltautorität ist indes keineswegs neu: Benedikt XVI. beruft sich selbst explizit auf Johannes XXIII.553, doch schon bei Immanuel Kant finden sich Konzepte, die eine erstaunliche Nähe zu den aktuellen sozialethischen Vorschlägen des Lehramts aufweisen. In Kants Altersschrift Zum Ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf von 1795 wendet Kant die Grundsätze seiner Moralphilosophie in Form eines Friedensvertrages auf die Kernfrage der Politik nach dem Frieden zwischen den Staaten an.554 Für Kant ist der Frieden für die Menschen kein natürlicher Zustand 548 Caritas in veritate, Nr. 41. 549 Caritas in veritate, Nr. 40. 550 Caritas in veritate, Nr. 67. 551 Caritas in veritate, Nr. 67. 552 Caritas in veritate, Nr. 67. 553 Vgl. Caritas in veritate, Nr. 67. 554 Vgl. Rudolf Malter: Nachwort. In: Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. Hg. v. Rudolf Malter. Stuttgart 2008 (= Reclams Universal-Bibliothek 1501), S. 69–85. Vgl. dazu auch Mario A. Cattaneo: Menschenwürde bei Kant. In: Kurt Seelmann (Hg.): Menschenwürde als Rechtsbegriff. Stuttgart 2004 (= Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie : Beiheft [N.F.] 101), S. 24–32, bes. 30–32.
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und müsse deshalb gestiftet werden. Den Frieden zu gewährleisten sei Sache der Politik, welche sich der Idee eines allgemeingültigen Rechtssystems unterzuordnen habe. Im Anhang formuliert er: „Das Recht der Menschen muß heilig gehalten werden, der herrschenden Gewalt mag es auch noch so große Aufopferung kosten.“555 Man könne es „nicht halbieren und ein Mittelding eines pragmatischbedingten Rechts (zwischen Recht und Nutzen) aussinnen“, sondern „alle Politik“ müsse „ihre Knie vor dem ersten beugen“. 556 Durch eine solche Weltordnung, in der die wahre Politik der Moral und dem Recht der Menschen unterworfen ist, drückt sich Kants Hoffnung auf ein dauerhaftes friedliches und die Würde und Rechte aller Menschen achtendes globales Zusammenleben aus.557 Die jüngste Enzyklika Caritas in veritate Benedikts XVI. bietet damit eine Reihe ernst zu nehmender durchaus zeitgemäßer wirtschaftsethischer Reflexionen, denen eine breitere Diskussion in den Medien und eine aufmerksame Rezeption gerade auch von Seiten der Wirtschaftswissenschaften nur gewünscht werden kann. Umgekehrt wird die Kirche noch weitaus mehr ökonomischen Sachverstand unter Beweis stellen und sich so im eigentlichen Wortsinn beweisen müssen, will sie in Wirtschaftsfragen von den relevanten Akteuren als maßgebliche moralische Instanz wahr- und ernst genommen werden und so das Wirtschaftssystem tatsächlich verändern. So könnte sie beispielsweise konkrete Vorschläge zur Ausgestaltung eines globalen Bankenwesens anbieten oder auch auf Fragen der Mitbestimmung und der Wahrung der Chancengleichheit in global agierenden Unternehmen eingehen. 1.3.3 Ausblick: Wirtschaftsethische Positionen in der katholischen Soziallehre Die lehramtlich dokumentierte Sozialverkündigung stellt eine Ausweitung der kirchlichen Moralverkündigung auf soziale Probleme dar, als deren Ursache der neuzeitliche Wandel in den Grundlagen und Strukturen politisch-ökonomischer Ordnungen und Prozesse angesehen wird.558 Inhaltlich nehmen die Sozialenzykliken zumeist eine kritische Sozialanalyse „im Lichte des Evangeliums“ vor, die in die Form einer Grundlagenreflexion über eine Vielzahl häufig auch recht heterogener Themen eingebunden ist.559 So entsteht ein vielfältiges Geflecht aus ethischen Postulaten und Paränesen, Denkanstößen und praktischen Handlungsvorschlägen bis hin zu weitreichenden Überlegungen zur Verfassung einer Weltgesellschaft.
555 Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. Hg. v. Rudolf Malter. Stuttgart 2008 (= Reclams Universal-Bibliothek 1501), S. 49. 556 Kant: Zum ewigen Frieden, S. 49. 557 Vgl. dazu auch Cattaneo: Menschenwürde bei Kant, S. 31f. 558 Vgl. Höhn: Konzeptionelle wirtschaftsethische Implikationen. Katholische Kirche, S. 754. 559 Höhn: Konzeptionelle wirtschaftsethische Implikationen. Katholische Kirche, S. 754.
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So heterogen sich die Themen und Schwerpunkte der katholische Soziallehre darstellen, so unterschiedlich sind auch die Kommentare und Einwände zur bzw. gegen die katholische Soziallehre: So wurde sie als „utopisch und reaktionär, soziales Alibi“ oder „politischer Irrläufer der Kirche“, als „restaurativ und umstürzlerisch“, gar als „Zulieferer einer Überbau-Ideologie und Sozialromantik“ oder als „klerikaler Übergriff in den Bereich der Sozialwissenschaften“ bezeichnet.560 HansJoachim Höhn räumt ein, dass es „zweifellos Anhaltspunkte für diese Kritik“ gebe, plädiert jedoch für eine differenziertere Sichtweise, da die Kirche „sowohl für die von ihr formulierten Prinzipien und Grundsätze“ als auch für „konkrete Einzelforderungen“, die zum einen „rational zustimmungsfähg [sic!]“ sein müssten und zum anderen die „motivierende Kraft des christlichen Glaubens“ erkennen lassen sollten, „keine andere Kompetenz und Verbindlichkeit in Anspruch“ nehmen könne und wolle, „als sie aus der Prägnanz der Analyse, der Überzeugungskraft der vorgetragenen Argumente und der Praktikabilität der vorgeschlagenen Maßnahmen“ hervorgehe.561 Allein daran seien Progressivität und Konservatismus, Widerständigkeit und Opportunität der kirchlichen Aussagen zu messen.562 Die wirtschaftsethischen Leitlinien der katholischen Soziallehre seien nicht als Blaupausen für den Aufbau eines idealen Gemeinwesens zu verstehen, vielmehr stellten die ethischen Prinzipien eine normative Grundlage zu dessen Konstituierung zur Verfügung, die sich allerdings stets auch an den (konkreten) Forderungen sozialer Relevanz und Effizienz messen lassen müssten.563 Ihre größte politische Wirksamkeit entfaltete die katholische Soziallehre – wie gesehen – fraglos während des wirtschaftlichen und sozialen Aufbaus der jungen Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg – so etwa vermittels der im Grundgesetz verankerten Sozialbindung des Eigentums, der Vermögensbildung auf Arbeitnehmerseite, aber auch des Familienlastenausgleichs und der dynamischen Altersrente. Nachdem die katholische Soziallehre in der Folgezeit zunehmend aus dem Fokus der öffentlichen Wahrnehmung verschwand, konnte sie mit einer neuen Sensibilität für sozialethische Fragen ab den 1970er Jahren – bzw. für globale wirtschaftsethische Problemstellungen nach dem Zusammenbruch des Ostblocks – wieder vermehrt Aufmerksamkeit gewinnen und Einfluss auf den öffentlichen Diskurs nehmen. Für die Zukunft stellt sich nicht nur Höhn die Frage, ob sich ein „solcher ‚Sozialkatholizismus‘ als ein profiliertes kirchlich-gesellschaftliches Segment erhalten bzw. erneuern kann“, auch da die „Skepsis“ darüber wachse, „ob die Dokumente der Weltkirche bei Beibehaltung ihres bisherigen Themen-, Sprach-, und Methodenformats der Komplexität wirtschaftsethischer Fragestellungen und den ungleichzeitigen Verhältnissen in den verschiedenen Ortskirchen und Weltregionen
560 Höhn: Konzeptionelle wirtschaftsethische Implikationen. Katholische Kirche, S. 754. 561 Höhn: Konzeptionelle wirtschaftsethische Implikationen. Katholische Kirche, S. 755. 562 Vgl. Höhn: Konzeptionelle wirtschaftsethische Implikationen. Katholische Kirche, S. 755. 563 Vgl. Höhn: Konzeptionelle wirtschaftsethische Implikationen. Katholische Kirche, S. 755.
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noch gerecht werden können“.564 Neben dem Legitimationsdruck in Richtung einer allgemein einsichtigen Begründung sozialethischer Vorgaben und Zielbestimmungen werde dabei noch stärker die „Frage nach der Anschlussfähigkeit an den wirtschaftswissenschaftlichen Diskurs der Gegenwart zu beachten sein“.565 So müsse die Kirche „substantielle Beiträge“ gerade zu den nicht-ökonomischen Voraussetzungen und Bedingungen ökonomischen Handelns leisten, die sich am Grundsatz der Menschendienlichkeit festmachen, vor allem aber müsse sie auch auf die gesellschaftliche Implementierung wirtschaftsethischer Normen drängen, um Wirtschaftsethik nicht zu einem sich in der „Nachkonstruktion“ erschöpfenden „Stück Technik“ werden zu lassen.566 Erschwert wird dieser vorgeschlagene Wandel durch das Fehlen einer klaren wirtschaftsethischen Systematik in der katholischen Soziallehre. Und so sehr Höhn mit seinen Forderungen Recht haben mag, so sehr fordert er jedoch auch in gewisser Weise etwas von der Sozialverkündigung der Kirche, was die Wirtschaft und die sie theoretisch betrachtenden Wirtschaftswissenschaften selbst zu leisten nicht imstande sind. Denn bis heute existiert keine die wirtschaftliche Realität systematisch beschreibende Wirtschaftstheorie, die konsensual wäre, bzw. über einen gewissen paradigmatischen Charakter verfügen würde. Im Rahmen der immer weiteren Differenzierung wirtschaftlicher Transaktionen in der Gegenwart ist es umso schwieriger, einen systematisch einheitlichen Entwurf einer Wirtschaftsethik zu entwickeln, der konkreter ist als das, was in der katholischen Soziallehre in allgemeiner Weise vorgestellt wird. Neuere Ansätze bemühen sich in den vergangenen Jahren verstärkt um eine Überbrückung der Gräben zwischen liberaler Ökonomik und katholischer Soziallehre und um eine Kongruenz beider Konzepte. 567 Dabei wird – etwa bei Clemens Dölken, aber auch bei Friedrich Wilhelm Graf – eine kritische, aber differenzierte Rezeption des methodologischen Individualismus der neueren liberalen Ökonomik als Chance für die katholische Soziallehre begriffen. Nach Meinung Grafs ist eine Transformation katholischer Sozialethik notwendig im Sinne des normativen Anspruchs der Institution Kirche, Einfluss auf die Globalisierungs- und Gerechtigkeitsdebatte zu nehmen und zugleich auf die Gestaltung eines transnationalen Regelrahmens zur Gewährleistung von Gerechtigkeit hinzuwirken.568 Graf plädiert dafür, die normativen Prinzipien Gerechtigkeit, Gemeinwohl, Subsidiarität und Personwürde zu aktualisieren und den Voraussetzungen und Bedingtheiten von heutiger Wirtschaft und den Prozessen des Marktes anzupassen. 569 Dölken argu564 Höhn: Konzeptionelle wirtschaftsethische Implikationen. Katholische Kirche, S. 755. 565 Höhn: Konzeptionelle wirtschaftsethische Implikationen. Katholische Kirche, S. 756. 566 Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt a.M. 1984 [1951] (= Bibliothek Suhrkamp 236), S. 333. 567 Vgl. Dölken: Katholische Sozialtheorie, S. 8. 568 Vgl. Graf: Stellenwert der Religion, S. 653. 569 Vgl. Graf: Stellenwert der Religion, S. 652f.
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mentiert, dass „liberale Ökonomik und katholische Soziallehre […] miteiander kompatibel“ seien, obgleich „sie von den Paradigmen her nicht vollständig übereinstimmen“.570 Viele der „in der Literatur diskutierten Schwierigkeiten“ zwischen Theologie und Ökonomik erwiesen sich heute „als Scheinprobleme“.571 Konzepte liberaler Ökonomik seien dabei insbesondere gut „zur Explizierung und Operationalisierung von Gerechtigkeitsvorstellungen“ geeignet.572 1.3.4 Ökumenische Stellungnahmen zur Wirtschaftsethik 1.3.4.1
Veränderungen, Umbrüche und Krisen
Im Rahmen der ökumenischen Zusammenarbeit fand in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in erster Linie das Thema einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung zur Förderung der ärmeren Länder Beachtung.573 Auf der Weltkirchenkonferenz in Uppsala wurde 1968 das Konzept der Einen Welt formuliert. 1975 wurden auf der Weltkirchenkonferenz in Nairobi besonders die selbstverantwortlichen und ökonomischen Aspekte der Entwicklung mit dem Ziel einer gerechten, beteiligenden und nachhaltigen Gesellschaft hervorgehoben. In jüngerer Zeit kann ein zunehmendes ökumenisches Auftreten der beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland beobachtet werden, wobei offensicht-
570 Dölken: Katholische Sozialtheorie, S. IX. Vgl. auch ebd., S. 291. Dölken kritisiert vor allem die „unzulängliche Konzeptualisierung der Katholischen Soziallehre in der Sozialtheorie“, die sich unter anderem darin manifestiere, „daß die methodologisch individualistische Vorgehensweise, welche als holistischen Ansätzen gegenüber überlegen vorausgesetzt werden kann, nicht rezipiert wird“. (Dölken: Katholische Sozialtheorie, S. 290.) Er plädiert für eine „Implementierung des methodologischen Individualismus“, die es einer „moderenen [sic!] Katholischen Sozialtheorie“ einerseits ermöglichte, die „Konzeption der nichtindentierten Handlungswirkungen“ als harten Kern des Liberalismus aufzunehmen, andererseits „bedürften normative begriffliche Konzeptionen wie ‚Gemeinwohl‘ und ‚Soziale Gerechtigkeit‘“ dann „keiner mit eingeschlossenen Entitäten zur Erreichung der Gerechtigkeitsforderung“, sondern ließen sich „entsprechend der Vorgehensweise der modernen katholischen Moraltheorie auch methodologisch individualistisch unter dem normativen Postulat der allgemein [sic!] Sittlichkeitsforderung rekonstruieren“. (Dölken: Katholische Sozialtheorie, S. 290.) Dies geschehe konsistent in einer „teleologischen Ethik, die als Wertethik Probleme mißverständlicher Auffassungen von ‚Naturrecht‘ auszuräumen vermag und als normative Ethik in teleologischer Begründung jene Normen ableitet, die für die Sozialethik erforderlich erscheinen“ (Dölken: Katholische Sozialtheorie, S. 290f.) Durch den Einbezug der wissenschaftstheoretischen Einsichten unter „Anwendung eines ökonomischen Erklärungsschemas“ eröffneten sich für die Sozialethik auch Perspektiven auf dem Gebiet der Politik, von der Neuen Politischen Ökonomie bis hin zur „modernen Demokratietheorie“, die so Argumentationsraster für die interdisziplinäre Diskussion zwischen Ökonomie, Philosophie und Theologie böten. (Dölken: Katholische Sozialtheorie, S. 291.) 571 Dölken: Katholische Sozialtheorie, S. IX. 572 Dölken: Katholische Sozialtheorie, S. 284. 573 Vgl. hierzu und zum Folgenden Günter Meckenstock: Wirtschaft/Wirtschaftsethik VI. Ethisch. In: Theologische Realenzyklopädie. Studienausgabe. Teil III. Bd. 36. Berlin u.a. 2006, S. 171–179, 177.
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lich die Absicht geteilt wird, angesichts des globalen Wandels und der kapitalistischen Rationalisierungsprozesse den sozialethischen Forderungen und Programmen der beiden Kirchen (größeres) Gehör zu verschaffen574: Die gesellschaftlichen Veränderungen und aufkommende Krisensymptome nach der deutschen Vereinigung zogen einen Konsultationsprozess nach sich, dessen Resultat ein gemeinsames Wort der evangelischen und katholischen Kirche darstellte.575 Die Kirchen führen in ihrem Gemeinsamen Sozialwort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ als Grund für ihr gemeinsames sozialethisches Auftreten an, es als ihre Aufgabe zu betrachten, „Mitverantwortung für eine menschengerechte und sachgerechte Ordnung der öffentlichen Angelegenheiten wahrzunehmen und dabei besonders für die Belange der Armen, der Schwachen und Benachteiligten einzutreten“.576 Aus diesem Grund hätten sich der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und die Deutsche Bischofskonferenz „in der gegenwärtigen Umbruchsituation entschlossen, ein gemeinsames Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage vorzubereiten und dazu einen breiten Diskussionsprozeß über die Grundbedingungen des wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Miteinanders anzustoßen“ und erkennen darin „auch einen Dienst für die Gesellschaft“.577 Dieser Konsultationsprozess wurde im Spätherbst 1994 mit der Veröffentlichung einer Diskussionsgrundlage Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland eingeleitet, die den „Charakter eines Impulspapiers“ gehabt hätte, „das den Konsultationsprozeß in Gang setzen und inhaltlich umreißen sollte“.578 Damit habe sich „die Einladung zum Dialog […] sowohl innerhalb der Kirchen als auch mit Politik, Wirtschaft, Gewerkschaften und gesellschaftlichen Gruppen“ verbunden, um „im Austausch von Erfahrungen und Argumenten den gesellschaftlichen Grundkonsens zu verbreitern“.579 In der Diskussionsgrundlage Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland forderten die Kirchen eine Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland, durch die in Anbetracht der politisch-sozialen Veränderungen in Deutschland, Europa und der Welt die Grundwerte Freiheit und soziale Gerechtigkeit neu zur Geltung gebracht werden sollten.580 Die christliche Verantwortung für die Gestaltung der Zukunft und des Gemeinwohls erscheint darin in dreifacher Konkretisierung: Es solle für die Benachteiligten, für den sozialen Frieden und für die soziale Haushalterschaft eingetreten werden, wobei insbesondere dem Schutz der Schwachen in Anknüpfung an Jes 58,7, Mt 11,28 sowie Jak 1,22 besondere Bedeu-
574 Vgl. Graf: Stellenwert der Religion, S. 650. 575 Vgl. dazu und zum Nachfolgenden Günter Meckenstock: Wirtschaftsethik. Berlin u.a. 1997, S. 134f. 576 Vgl. Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Nr. 37. 577 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Nr. 37. 578 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Nr. 39. 579 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Nr. 38. 580 Vgl. hierzu und zum Folgenden Meckenstock: Wirtschaftsethik, S. 135.
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tung beigemessen wird und unter Bezugnahme auf Phil 4,7 die fundamentale Wichtigkeit eines vernunftübersteigenden versöhnenden Friedens hervorgehoben wird.581 Als wichtiges ökumenisches Dokument in der aktuellen Diskussion um die Bewertung der Folgen der Globalisierung muss auch die 2006 vom Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) veröffentliche Stellungnahme Alternative Globalisierung im Dienst von Menschen und Erde – AGAPE zumindest Erwähnung finden.582 Der ÖRK stellt einen Zusammenschluss von 349 Kirchen aus aller Welt dar, wobei die römisch-katholische als einzige große christliche Kirche nicht Mitglied der Organisation ist. Die vom Exekutivausschuss des ÖRK im September 2005 beschlossene endgültige Fassung des AGAPE-Aufrufs stellt das Ergebnis einer länger andauernden „Arbeit zu Fragen der wirtschaftlichen Globalisierung“ innerhalb des ÖRK dar, die 1998 auf der Vollversammlung im simbabwischen Harare ihren Ursprung nahm und schließlich in die Veröffentlichung der gemeinsamen AGAPE-Erklärung auf der Vollversammlung im brasilianischen Porto Alegre mündete.583 Die in Form eines Gebetes verfasste Erklärung ruft die Mitgliedskirchen dazu auf, „gemeinsam für die Umgestaltung wirtschaftlicher Ungerechtigkeit“ im Sinne einer „alternativen Globalisierung“ einzutreten.584 1.3.4.2
Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit
1997 veröffentlichten der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und die Deutsche Bischofskonferenz nach mehr als zweijährigen Konsultationen schließlich ihr gemeinsames Sozialwort „zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland“ Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit.585 Darin würdigten beide Kirchen den Konsultationsprozess, mit dem sie „Neuland betreten“ hätten, als „insgesamt gelungen[es] […] Experiment“586, das nicht nur „zahlreiche wichtige inhaltliche Beiträge und Einsichten gebracht“ habe, sondern auch habe erkennen lassen, „was den meisten in der gegenwärtigen Lage unter den Nägeln brennt und welche vorrangigen Handlungsziele und -möglichkeiten sie sehen“.587 Dabei handle es sich zum einen um die „Massenarbeitslosigkeit“, gegenüber der es „keine Resi581 Vgl. Meckenstock: Wirtschaftsethik, S. 135. 582 Ökumenischer Rat der Kirchen (ÖRK): Alternative Globalisierung im Dienst von Menschen und Erde – AGAPE. Ein Aufruf zur Liebe und zum Handeln. Genf 2006, URL: http:// www.oikoumene.org/fileadmin/files/wccassembly/documents/german/pb6g-agapecall.pdf [aufgerufen am 06.03.2011]. 583 ÖRK: AGAPE, S. 1. 584 ÖRK: AGAPE, S. 3. 585 Vgl. den Untertitel des Sozialworts Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Vgl. dazu und zum Folgenden bes. auch Höhn: Konzeptionelle wirtschaftsethische Implikationen. Katholische Kirche, S. 753. 586 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Nr. 40. 587 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Nr. 41.
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gnation geben“ dürfe.588 Ferner zählten dazu eine für die Gesellschaft konstitutive „allgemeine soziale Sicherung, die allen Bürgerinnen und Bürgern eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und die gerechte Teilhabe an den gesellschaftlichen Gütern“ garantiere.589 Die Systeme der sozialen Sicherung in Deutschland böten die „Voraussetzung, einer veränderten Lage gerecht und ihr angepaßt zu werden, wie dies auch in der Vergangenheit in vergleichbarer Situation möglich“ gewesen sei.590 Zudem müssten „bei allen grundlegenden Entscheidungen […] die Folgen für die Lebenssituation der Armen, Schwachen und Benachteiligten bedacht werden“, die „ein Anrecht auf ein selbstbestimmtes Leben, auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und an den gesellschaftlichen Chancen sowie auf Lebensbedingungen, die ihre Würde achten und schützen“, hätten.591 Außerdem müsse „intensiver über die Lebenssituation der Familie, der Frauen, der Kinder, der Jugendlichen und über die Wahrung ihrer Belange nachgedacht werden“.592 Ein weiteres Ergebnis des Konsultationsprozesses sei die Erkenntnis gewesen, dass „die innere Einheit in Deutschland […] mehr“ sei „als einfach nur eine Angleichung der Lebensverhältnisse des Ostens an die des Westens“.593 So müssten sich beide Teile „im Prozeß des Zusammenwachsens deutlich umorientieren“.594 Indem im Gemeinsamen Wort angesichts hoher Arbeitslosenzahlen, eines extrem belasteten Sozialstaats, des fortschreitenden europäischen Integrationsprozesses aber auch der Folgen einer globalisierten Ökonomie die sozialethischen Voraussetzungen für eine solidarische und zukunftsgerechte Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung auf die Agenda genommen werden, wollen die Kirchen zur Neuorientierung der Gesellschaft und zur Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft gleichermaßen einen Beitrag in der „aktuelle[n] Diskussion über Maßstäbe der Wirtschafts- und Sozialpolitik“ leisten.595 Mit „Zukunftsfähigkeit und Nachhaltigkeit“ werden für die katholische Soziallehre unter Betonung der engen Vernetzung der sozialen, ökonomischen und ökologischen Problematik neue – und für die Konzeptualisierung des Sozialwortes zentrale – Leitkategorien etabliert. 596 Dabei korreliert der sozial und ökologisch geprägte Nachhaltigkeitsbegriff mit dem Solidaritätsprinzip, das nicht nur intragenerativ verstanden wird, sondern bewusst
588 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Nr. 41. 589 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Nr. 41. 590 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Nr. 41. 591 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Nr. 41. 592 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Nr. 41. 593 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Nr. 41. 594 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Nr. 41. 595 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Nr. 1. Vgl. dazu und zum Folgenden Höhn: Konzeptionelle wirtschaftsethische Implikationen. Katholische Kirche, S. 753. 596 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Nr. 1. So genüge es nicht, „das Handeln an den Bedürfnissen von heute oder einer einzigen Legislaturperiode auszurichten, auch nicht allein an den Bedürfnissen der gegenwärtigen Generation“. (Ebd.) Vgl. hierzu und zum Folgenden Höhn: Konzeptionelle wirtschaftsethische Implikationen. Katholische Kirche, S. 753f.)
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auch Verantwortung für zukünftige Generationen mit einschließt, die ebenfalls das Recht auf eine intakte natürliche Umwelt und die Nutzung derer Ressourcen besitzen. Dazu ist die Eingebundenheit aller gesellschaftlichen Prozesse „in das – allem menschlichen Tun vorgegebene – umgreifende Netzwerk der Natur“ und die dauerhafte Ausrichtung der sozialen Evolution an der sich wandelnden Tragekapazität der ökologischen Systeme erforderlich.597 Besonders ausgiebig widmet sich die gemeinsame Veröffentlichung der Diskussion der Schwierigkeiten, mit dem das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft in Anbetracht neuer Globalisierungsschübe und des Aufkommens neoliberaler Tendenzen in der „gegenwärtigen Situation eines tiefgreifenden Umbruchs“ konfrontiert sei.598 Grundsätzlich stimmt das Gemeinsame Wort dem marktwirtschaftlichen Wirtschaftssystem freilich zu und hebt dabei vor allem dessen Problemlösungskompetenz hervor.599 So seien „marktwirtschaftliche Ordnungsprinzipien […] ein unverzichtbares Element bürgerlicher Freiheit und die Bedingung innovativen unternehmerischen Handelns“.600 Moderne Gesellschaften hätten ihnen „eine effiziente Versorgung, ihren technischen Fortschritt und ihr Wirtschaftswachstum“ zu verdanken, ebenfalls aber „auch einen Teil ihrer Probleme“.601 Auch vermöge „kein anderes gesellschaftliches Ordnungsprinzip“ als ein funktionierender Wettbewerb „derzeit besser den ökonomischen Ressourceneinsatz und die Befriedigung der Konsumentenwünsche zu gewährleisten“602 und es sei „kein Wirtschaftssystem in Sicht, das die komplexe Aufgabe, die Menschen materiell zu versorgen und sie sozial abzusichern, ebenso effizient organisieren könnte wie die “.603 Doch sei eine „unvoreingenommene Auseinandersetzung mit den gegen sie vorgebrachten kritischen Einwendungen unerläßlich“, da die Voraussetzungen, die der Sozialen Marktwirtschaft im Westen Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg zum Erfolg verholfen hätten, nicht mehr gegeben seien.604 Aufgrund der Veränderung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Parameter und der krisenhaften Züge der gegenwärtigen Lage in Deutschland stehe das Bündnis von Demokratie, Sozialstaat und Kapitalismus, welches die Grundlage für die Soziale Marktwirtschaft war, nun auf dem Prüfstand. So erschwere der „Prozeß der Globalisierung […] nationalstaatlich geprägte Marktwirtschaften, die auf eine starke Kooperation und Integration von Ökonomie, Sozialsystem und Kultur“ abhöben: „Je größer die 597 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Nr. 125. 598 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Nr. 91. 599 Vgl. Leonhardt: Theologische Wirtschaftsethik im Spiegel kirchlicher Verlautbarungen, S. 206. 600 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Nr. 142. 601 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Nr. 142. 602 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Nr. 142. 603 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Nr. 145. 604 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Nr. 145. Vgl. Höhn: Konzeptionelle wirtschaftsethische Implikationen. Katholische Kirche, S. 754. Vgl. dazu und zum Folgenden ebf. Meckenstock: Wirtschaftsethik VI. Ethisch, S. 177.
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Räume des freien Handels und je ungebundener die Handlungsmöglichkeiten der transnationalen Unternehmen werden, desto stärker wird das Ordnungsmodell Soziale Marktwirtschaft gefährdet. Die stabilisierenden Möglichkeiten des Staates nehmen dabei deutlich ab.“605 Jedoch ließen sich diese offenkundigen Probleme nicht durch eine „Herauslösung der Marktwirtschaft aus ihrer gesellschaftlichen Einbettung“ und ihrer sozialethischen Fundierung und einer bloßen Anpassung an internationale Wettbewerbsbedingungen lösen.606 So wird von den Kirchen ein mehrdimensionaler Ansatz bei der Erneuerung und Weiterentwicklung des Konzepts einer Sozialen Marktwirtschaft unterbreitet, zu dem etwa die Sicherung von Solidaritätspotentialen in einer erneuerten Sozialkultur607, aber auch die Erschließung neuer Zugänge zu Erwerbsarbeit und die Eröffnung neuer Beschäftigungspotentiale zählen.608 Dahinter steht die Absicht, mit dem Kirchenwort ethische Orientierung und Impulse für den gesellschaftlichen Grundkonsens zur Verfügung zu stellen.609 Durch aus dem christlichen Glauben gewonnene ethische Perspektiven möchten die Kirchen die kulturellen Grundlagen einer auf Gerechtigkeit, Solidarität, Subsidiarität und Nachhaltigkeit ausgerichteten Wirtschafts- und Sozialordnung stärken. Fundamentale Orientierung für die Soziale Marktwirtschaft könne dabei das christliche Menschenbild geben, das die christliche Weltgestaltung einerseits an persönliche Verantwortung und soziale Verpflichtung kopple610 und andererseits durch das „Doppelgebot der Gottes- und der Nächstenliebe (Mk 12, 28-31 par)“ 611 eine handlungsgebundene Zuwendung zu den Armen beinhalte.612 So sei die „Besinnung auf das [christliche] Menschenbild und die Grundwerte, auf denen die Soziale Marktwirtschaft gründet, […] die unerlässliche Voraussetzung für eine nachhaltige Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage“.613 Hier liege „der genuine Beitrag der Kirchen“, da das „Menschenbild des Christentums […] zu den grundlegenden geistigen Prägekräften der gemeinsamen europäischen Kultur und der aus ihr erwachsenen wirtschaftlichen und sozialen Ordnung“ gehöre.614 Als wesentliche Konsenselemente einer zukunftsfähigen Gesellschaft führt das Kirchenwort die Anerkennung der individuellen, politischen und sozialen Menschenrechte, die Befürwortung der freiheitlich-sozialen Demokratie, die Fortentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft im Sinne einer „Strukturreform zu einer
605 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Nr. 145. 606 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Nr. 146. 607 Vgl. Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Nr. 156–160. 608 Vgl. Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Nr. 167–176. 609 Vgl. hierzu und zum Folgenden Meckenstock: Wirtschaftsethik VI. Ethisch, S. 177f. 610 Vgl. Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Nr. 91–102. 611 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Nr. 103. 612 Vgl. Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Nr. 103–125. 613 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Nr. 92. 614 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Nr. 92.
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ökologisch-sozialen Marktwirtschaft “615, die Ausbildung eines neuen Arbeitsverständnisses sowie einer solidarischen Sozialkultur und die Übernahme internationaler Verantwortung an.616 Bei ihrem Konzept wahren die Kirchen auch ihre traditionelle Skepsis gegenüber der liberalen Ökonomik und antworten darauf mit institutionalistischen Positionen: Gegen freie Märkte und deren Verselbstständigung gegenüber nationalstaatlicher Regulierung wird die staatsanaloge Handlungskompetenz transnationaler Institutionen angeführt.617 Angesichts der „ungehinderten Dominanz privatwirtschaftlicher Interessen auf Weltebene und der daraus resultierenden Beschränkung des politischen Handlungsspielraumes einzelner Staaten“ sei „eine verbindliche weltweite Rahmenordnung für wirtschaftliches und soziales Handeln dringlich“.618 Erste Ansätze dazu gebe es in der „Tätigkeit der Vereinten Nationen, der Weltbank, des Weltwährungsfonds und vor allem der Welthandelsorganisation (WTO)“ und weiterer Organisationen, die „vor allem durch Regeln für einen fairen wirtschaftlichen Wettbewerb und durch soziale Mindeststandards“ zu unabhängigen politischen Steuerungsinstrumenten ausgebaut werden müssten.619 Zur Durchsetzung dieser Regeln seien die „weltweit tätigen staatsähnlichen Institutionen mit ordnungspolitischer Kompetenz“ auszustatten.620 Die Kirchen gehen dabei davon aus, dass sich auf diese Weise die beschleunigende Dynamik ökonomischer Prozesse sozialverträglich begrenzen und kanalisieren ließe – die Ausgestaltung der sozialpolitischen Interventionskompetenzen und deren politische Legitimierung bleibt indes eine Leerstelle.621 Vermehrt wurde die Kritik geäußert, die Kirchen planten durch staatsanaloge globale Institutionen, das Primat der Politik über die Ökonomie zurückzugewinnen.622 In jedem Fall fällt die starke institutionalistische Fokussierung des Sozialworts auf einen ordnenden Regelrahmen auf. Dabei wird die Kategorie ethischer Eigenverantwortung genauso übergangen wie die wirtschaftsethische Gretchenfrage: Wie der „Transfer moralischer Zielsetzungen in eine ökonomisch funktionale Institutionenordnung“ überhaupt erfolgen soll, bleibt seltsam unklar.623
615 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Nr. 148. 616 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Nr. 126–165. 617 Vgl. dazu und zum Folgenden Graf: Stellenwert der Religion, S. 650f. 618 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Nr. 163. 619 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Nr. 163. 620 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Nr. 163. 621 Vgl. Graf: Stellenwert der Religion, S. 651. 622 Vgl. Graf: Stellenwert der Religion, S. 651. Vgl. zur Kritik Alfred Schüller: Die Kirchen und die Wertgrundlagen der Sozialen Marktwirtschaft. In: ORDO – Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft 48 (1997), S. 727–755. 623 Graf: Stellenwert der Religion, S. 650.
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1.3.5 Die Entwicklung wirtschaftsethischer Gedanken in der evangelischen Sozialethik Auch wenn Religion – wie oben dargestellt – seit jeher einen engen Bezug zur Wirtschaft und zur Wirtschaftsweise des Menschen aufweist, erscheinen die heutigen wirtschaftsethischen Fragestellungen und Aufgaben als Folgen der Industrialisierung und der aus ihr erwachsenen sozialen Konsequenzen, der durch die Aufklärung bewirkten Emanzipation der Wirtschaft von staatlichen und kirchlichen Autoritäten und der Herausbildung des arbeitsteiligen, kapitalistischen Wirtschaftssystems.624 Konzeptionelle Erwägungen haben zur systematischen Formulierung einer Soziallehre geführt, die nach Honecker enge Verknüpfungen mit der Ekklesiologie – und damit mit Geschichte, Kultur und Gesellschaft – aufweist, weshalb auch die theologische Wirtschaftsethik ekklesiologische Grundannahmen und Implikationen enthält.625 Grundsätzlich nahmen in der deutschsprachigen evangelischen Sozialethik wirtschaftsethische Themen zu früheren Zeiten eher eine Randposition als unselbstständige Abschnitte innerhalb der Ethik oder Sozialethik ein und wurden dort zumeist unter der Auseinandersetzung mit den Themen Arbeit oder Beruf subsumiert.626 Vor der Industrialisierung wurden in der Theologie nicht die Strukturen des Wirtschaftens erörtert, sondern Themen wie Staat, Familie und Ehe, Arbeit und Beruf, die Tugenden und Pflichten des Einzelnen und dabei besonders die persönliche Haltung gegenüber Besitz, Vermögen und Reichtum sowie die Bewertung des Zinsnehmens, die Verteilung von Eigentum, Armenfürsorge und Almosengeben sowie kirchliche Diakonie gegenüber Hilfsbedürftigen und Notleidenden.627 In der evangelischen Soziallehre traten seit dem 19. Jahrhundert neben die klassischen Themen christlicher Ethik weitere hinzu: Die Mitbestimmung als Instrument der Kooperation im Unternehmen zur Überwindung des Gegensatzes von Kapital und Arbeit sowie die Beschränkung der Unternehmergewalt durch Arbeiterausschüsse, die rechtliche Verankerung der Mitbestimmung in der Bundesrepublik oder die sozialstaatliche Verpflichtung.628 Besonders aber die Wirtschaftsordnung als solche und deren ethische Anerkennung und Begründbarkeit wurde zu einem der Hauptgegenstände wirtschaftsethischer Reflexion. 624 Vgl. Martin Honecker: Ansätze und Entwicklungen der modernen wirtschaftsethischen Fragestellungen in den christlichen Kirchen. Evangelische Kirchen. In: Handbuch der Wirtschaftsethik I, S. 758–780, 758. 625 Vgl. Honecker: Moderne wirtschaftsethische Fragestellungen. Evangelische Kirchen, S. 759f. 626 Vgl. hierzu und zum Folgenden Meckenstock: Wirtschaftsethik VI. Ethisch, S. 174. 627 Vgl. hierzu und zum Folgenden Meckenstock: Wirtschaftsethik, S. 116f. Vgl. dazu ebf. Honecker: Moderne wirtschaftsethische Fragestellungen. Evangelische Kirchen, S. 763f. 628 Vgl. dazu und zum Folgenden Honecker: Moderne wirtschaftsethische Fragestellungen. Evangelische Kirchen, S. 764.
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Seit ihren Anfängen im frühen 19. Jahrhundert war für die deutsche lutherische Sozialethik ein „sozialpaternalistischer Antikapitalismus“ (Graf) prägend, der sowohl in seinen moralischen Motiven als auch in seinen argumentativen Grundmustern zahlreiche strukturelle Affinitäten zur römisch-katholischen Soziallehre aufweist.629 Wesentlich unterscheiden sich beide Soziallehren jedoch darin, dass die evangelische Sozialethik, die zwar zumeist auf starke theologische, etwa naturrechtliche Fundamente und Begründungsfiguren verzichtet, in einem deutlich engeren Kontakt zu den positiven Kulturwissenschaften und der modernen Nationalökonomie entwickelt wurde. Bereits zu Zeiten des Kameralismus und des Merkantilismus zeichneten vor allem Protestanten für die ökonomische Theoriebildung verantwortlich, was es den protestantischen Theologen erleichterte, in einen wissenschaftlichen Dialog mit den führenden Ökonomen zu treten: „Es fallen die katholischen Gebiete in der gelehrten Begründung des neuen Wirtschaftsdenkens völlig aus“, hielt Müller-Armack bereits vor einem halben Jahrhundert fest.630 So hatte Friedrich D.E. Schleiermacher intensiv die klassische schottische Nationalökonomie und Adam Smith rezipiert und einflussreiche lutherische Sozialethiker wie Alexander von Oettingen, der 1868 den Begriff „Sozialethik“ prägte, Martin von Nathusius und Reinhold Seeberg standen bei der Entwicklung ihrer sozialkonservativen Ordnungskonzepte in engem Austausch mit lutherischen Ökonomen wie Wilhelm Roscher und Karl Knies, die wiederum aus dem Dialog mit den theologischen Ethikern die ethischen Denkformen für ihre historisch-ethische Begründung der Nationalökonomie zu gewinnen suchten. Entsprechend wurde der weltliche Beruf, die vita activa, immer höher gewertet als die vita contemplativa. Wenn auch für Katholizismus und Protestantismus gleichermaßen das Verhältnis des Menschen zu Gott entscheidend ist, wobei der Glaube an die Heils- und Erlösungszusage durch Jesus Christus dabei den obersten Wert darstellt, stellt das protestantische Wertsystem jedoch stärker als im Katholizismus auf Arbeit, Verantwortung und Pflichterfüllung des Menschen ab: Im Beruf dient der Mensch durch seine Arbeit dem Nächsten und Gott, wodurch wiederum Beruf und Arbeit ihren besonderen Wert erlangen.631 Dieses „protestantische“ Arbeitsethos hält dazu an, mit der Arbeit verbundene Mühsal auf sich zu nehmen, und lehnt zugleich Müßiggang ab. In der Moderne strebt die evangelische Sozialethik hinsichtlich Betriebsorganisation eine partizipative Menschenführung auf Basis gegenseitigen Vertrauens der Beteiligten im Betrieb an.632 Dabei werden autoritäre Führungsstile abgelehnt und statt dessen demokratische Entscheidungsmodelle anempfohlen, da 629 Vgl. dazu und zum Folgenden Graf: Stellenwert der Religion, S. 656. 630 Alfred Müller-Armack: Religion und Wirtschaft. Geistesgeschichtliche Hintergründe unserer europäischen Lebensform. Stuttgart 1959, S. 182f. 631 Vgl. dazu und zum Folgenden Loitlsberger: Geschichte der ökonomischen Theorien, S. 537f. 632 Vgl. dazu und zum Folgenden Andreas Pawlas: Christliche Menschenführung im Betrieb? In: Horst Albach u.a. (Schriftl.): Unternehmensethik. Konzepte, Grenzen, Perspektiven. Wiesbaden 1992 (= Zeitschrift für Betriebswirtschaft. Ergänzungsheft 1/92), S. 121–136, 127ff.
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diese der Gleichheit der Christenmenschen gerecht würden; aus dem hohen Stellenwert der Pflichterfüllung resultiert ein gegenüber dem katholischen Glauben verändertes Bild der Nächstenliebe. Sie wird vor allem als Hilfe zur Selbsthilfe verstanden, was konkret die Schaffung von Arbeitsplätzen bedeutet, was wiederum Investitionen und deren Finanzierbarkeit voraussetzt, wodurch betriebliche Ebenen eine wichtige Bedeutung erlangen.633 Ein weiterer Unterschied zwischen evangelischer und katholischer Soziallehre bestand darin, dass die Lutheraner einen starken monarchischen Gemeinwohlstaat für die erhoffte Integration des Gemeinwesens und die Zügelung der Marktkräfte präferierten, der eng verknüpft mit der Volkskirche einen einheitlichen gesellschaftlichen Ethos gewährleisten sollte.634 Auf gesellschaftliche Entwicklungen wie Fragmentierung, Konkurrenzkampf, Vereinzelung und Auflösung ursprünglicher Gemeinschaftsbande reagierten sie mit Forderungen nach einem starken Kulturstaat als integrative Klammer. An der Entwicklung und Ausformung einer evangelischen Soziallehre – und entsprechender wirtschaftsethischer Positionen – war die evangelische Kirche erst zu einem relativ späten Zeitpunkt beteiligt. In besonderer Weise war sie vom Wandel der Kirchenverfassungen und den Veränderungen des partikularkirchlichen Rechts im 19. und 20. Jahrhundert bestimmt.635 Zuerst machte das bis 1918 bestehende landeskirchliche Kirchenregiment die Ausarbeitung einer spezifisch kirchlich-evangelischen Soziallehre unmöglich. In evangelischen Ländern war für Politik und Wirtschaft der Landesherr zuständig, der zugleich das Kirchenregiment innehatte. Während der Weimarer Republik kam es dann zu einer Neugestaltung der Kirchenverfassungen, die zu einem föderalen Zusammenschluss der Landeskirchen in einem Kirchenbund führte. Auch während der nationalsozialistischen Diktatur und dem innerkirchlichen Kampf konnten keine sozialethischen Konzepte entwickelt bzw. zumindest nicht öffentlich gemacht werden. Einen Öffentlichkeitsauftrag nahm die evangelische Kirche so erst nach dem Zweiten Weltkrieg in Anspruch, und entsprechend kam es erst dann zu offiziellen kirchlichen Stellungnahmen zu wirtschaftsethischen Themen, in der Regel in Form von Denkschriften. Weit vor diesen offiziellen Stellungnahmen gab es jedoch sowohl eine Vielzahl unterschiedlicher wirtschaftsethischer Aussagen evangelischer Wissenschaftler, die sich um eine wirtschaftsethische Systematik bemühten, als auch eine von einem breiten innerkirchlichen Konsens getragene evangelische Soziallehre – was sich nicht zuletzt aus dem Umstand erklären lässt, dass „evangelisches Kirchenverständnis kein institutionelles kirchliches Lehramt kennt“.636 Entsprechend strittig 633 Vgl. Loitlsberger: Geschichte der ökonomischen Theorien, S. 538. 634 Vgl. dazu und zum Folgenden Graf: Stellenwert der Religion, S. 656. 635 Vgl. dazu und zum Folgenden Honecker: Moderne wirtschaftsethische Fragestellungen. Evangelische Kirchen, S. 760f. Vgl. grundlegend zum partikularkirchlichen Recht Martin Honecker: Recht in der Kirche des Evangeliums. Tübingen 2008 (= Jus Ecclesiasticum 85), S. 192f. 636 Honecker: Moderne wirtschaftsethische Fragestellungen. Evangelische Kirchen, S. 760.
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blieb die Kompetenz und Zuständigkeit der Kirche im Hinblick auf die Entwicklung einer Soziallehre und einer systematischen Wirtschaftsethik.637 1.3.5.1
Wilhelminisches Reich: Evangelische Soziallehre und Anfänge des Sozialstaats
Ab dem 19. Jahrhundert rückt mit dem Wandel von einer vorwiegend agrarwirtschaftlichen Stände- zu einer industriell-kapitalistischen Klassengesellschaft und der Sozialen Frage die Auseinandersetzung mit den wirtschaftlich-sozialen Umwälzungen und den daraus folgenden Missständen verstärkt in den Fokus der evangelischen Soziallehre.638 Seit den 1880er Jahren griffen Theologen in ihren ethischen Abhandlungen vermehrt die Soziale Frage auf, so etwa der Dorpater Lutheraner Alexander von Oettingen, der in seinem zweibändigen Werk Die Moralstatistik in ihrer Bedeutung für eine christliche Socialethik eine Bilanz der sozialen Zustände nach Familienbeschaffenheit, Kriminalität, Wohnungsnot und weiteren Kriterien vornimmt. Der Pfarrer Rudolf Todt, der 1876 den Central-Verein für Socialreform ins Leben rief und dessen Wochenschrift Der Staats-Socialist leitete, hielt die Soziale Frage durch einen konsitutionell-monarchischen Staat und die Kooperation von kathedersozialistischer, also eine staatliche Sozialpolitik bejahender Nationalökonomie, wissenschaftlichem Sozialismus und Neuem Testament für lösbar, was er 1877 programmatisch in seiner einflussreichen Schrift Der radikale deutsche Socialismus und die christliche Gesellschaft darlegte. Die Staatsbürokratie unter Reichskanzler Bismarck und Kaiser Wilhelm I. nahm gegen Ende des 19. Jahrhunderts das wachsende revolutionäre Potential wahr, das sich unter den Bedingungen eines ungehemmten und nicht regulierten kapitalistischen Marktgeschehens mit einer einseitigen Akkumulation des Kapitals herausgebildet hatte.639 Die 1881 zum Regierungsprogramm erhobene Sozialge637 Vgl. Honecker: Moderne wirtschaftsethische Fragestellungen. Evangelische Kirchen, S. 760f. So betonte Adolf von Harnack bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts anlässlich der Gründung des Evangelisch-Sozialen Kongresses, dass dieser in erster Linie die Aufgabe habe, der Information zu dienen. (Vgl. dazu und zum Folgenden Adolf von Harnack: Der Evangelisch-Sociale Kongress zu Berlin. In: Ders.: Reden und Aufsätze. Bd. 2. Gießen 21906, S. 327–343, 329.) Die Kirche habe kein christliches sozialpolitisches Programm; vielmehr sei soziale Fürsorge – auch in Abgrenzung von der katholischen Soziallehre und vom päpstlichen Lehramt – Aufgabe des Staates, des freien Vereinswesens, der Inneren Mission und der Einzelgemeinde. Und Ernst Troeltsch vertrat die Auffassung, es gebe nur eine soziologische Einstellung zu den sozialen und ökonomischen Problemen. (Vgl. Ernst Troeltsch: Die Sozialphilosophie des Christentums. Zürich 1922, S. 33.) Sozialphilosophie und Wirtschaftstheorie seien rein weltlich. Die christliche Sozialphilosophie verstand er als historisch seit Augustinus durch das Naturrecht geprägte Sozialtheorie. (Vgl. Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen. Tübingen 1912, S. 13f.) 638 Vgl. dazu und zum Folgenden Meckenstock: Wirtschaftsethik, S. 116f. 639 Vgl. dazu und zum Folgenden Günter Brakelmann: Ansätze und Entwicklungen der modernen wirtschaftsethischen Fragestellungen in den christlichen Kirchen. Evangelische Kirchen. In: Handbuch der Wirtschaftsethik I, S. 712–740, 712f.
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setzgebung zugunsten der proletarisierten Industrie- und Landarbeiterschaft als Benachteiligte des kapitalistischen Wirtschaftssystems war unumgänglich, führten den Staat aber auch auf einen schmalen Grat zwischen den Forderungen der Vertreter eines liberalistischen Manchester-Kapitalismus auf der einen Seite, die jede sozialpolitische Intervention in die ehernen Gesetze des Marktes und die freie selbsttätige Bildung der bürgerlichen Wirtschaftsgesellschaft ablehnten, und die Vertreter zumeist radikaler sozialistischer Theorien auf der anderen Seite, welche die Zerschlagung des politisch-gesellschaftlichen wie des ökonomischen Systems als Voraussetzung für eine neue freie, gleiche und brüderliche Gesellschaft ansahen. Der von Bismarck entwickelte Staatssozialismus suchte durch die Setzung einer allgemein verpflichtenden Rahmenordnung und basierend auf dem kontinuierlichen Wachstum volkswirtschaftlichen Reichtums die Effektivität der liberalen Marktwirtschaft mit einer sozialstaatlichen Flankierung zugunsten der am Markt strukturell Schwächeren im Sinne einer gemeinwohlorientierten sozialen Gerechtigkeit zu verbinden.640 Vorbereitet und begleitet wurde die in den 1870er und 1880er Jahren vollzogene geistige und politische Wende zum Sozialstaat von einer breiten öffentlichen Diskussion, an der alle politisch und gesellschaftlich relevanten Gruppen beteiligt waren und Einfluss auf Reichstag und Reichsregierung zu gewinnen suchten.641 Die evangelische Kirche beteiligte sich nicht unmittelbar an der Debatte, da sie nicht über repräsentative Organe auf Reichsebene verfügte, sondern aus einzelnen Landeskirchen bestand, denen als oberste Rechtsorgane die jeweiligen Fürsten vorstanden. Der Oberste Evangelische Kirchenrat in Berlin als oberste Behörde der großen evangelischen Landeskirche Preußens äußerte sich in der zweiten Jahrhunderthälfte vermehrt zu sozialen Fragen, ist indes als königlich-preußische Staats- und Kirchenbehörde nicht repräsentativ für den Protestantismus in Deutschland. Von wesentlicher Bedeutung für die Entwicklung des deutschen Sozialstaats waren vielmehr freie Initiativen von protestantischen Kirchenmitgliedern, die gemäß ihres Verständnisses christlichen Glaubens, christlicher Ethik und weltlicher Verantwortung zu Problemen der Politik und Wirtschaft Stellung bezogen: So lässt sich zwar der „Prozess der konstruktiv-kritischen Begleitung der Entwicklung einer Wirtschaftsethik aus protestantischem Geist unter den Bedingungen des deutschen Sozialstaats nachzeichnen […], aber eine kirchliche Sozialethik oder Soziallehre nur schwer […] rekonstruieren“, da es einzelne Gläubige, Gruppen oder Verbände waren, „die durch ihre konzeptionelle Arbeit und durch ihr praktisches sozialpolitisches Engagement einen unverwechselbaren Beitrag zu wirtschaftsethischen Fragen und sozialstaatlicher Konturierung“ leisteten.642
640 Vgl. Brakelmann: Christliche Kirchen. Evangelisch, S. 713. 641 Vgl. dazu und zum Folgenden Brakelmann: Christliche Kirchen. Evangelisch, S. 714. 642 Brakelmann: Christliche Kirchen. Evangelisch, S. 714.
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Der Protestantismus im Wilhelminischen Deutschland war in eine liberale Kulturtheologie und eine konfessionelle Kirchentheologie gespalten, die allerdings in der Einforderung von Gesellschaftsreformen wie auch in der scharfen Abgrenzung vom römischen Katholizismus und dem materialistischen Sozialismus übereinstimmten.643 Die konfessionelle Kirchentheologie vertrat das Programm einer Rechristianisierung der sozialdemokratischen Arbeitnehmerschaft, das durch die auf Johann Heinrich Wichern zurückgehende Innere Mission organisatorisch und durch umfängliche sozialkaritative Aktivitäten realisiert werden sollte, um materielle Not und sittliche Missstände zu lindern und zu beseitigen.644 Die liberale Kulturtheologie maß der religiös-sittlichen Persönlichkeit zentrale Bedeutung zu und wollte in prononcierter Anknüpfung an die Reformation Kirchlichkeit und Religion getrennt wissen. Sie bejahte die relative Eigengesetzlichkeit unterschiedlicher Kulturbereiche und bemühte sich um eine Vermittlung zwischen den neuen industriell-kapitalistischen und den vorindustriell-agrarischen Lebensformen.645 Vom sozialreformerischen Kulturstaat erwartete man die Reintegration der sozialdemokratischen Arbeiterschaft und unterstützte teilweise aktiv den gewerkschaftlichen Kampf um Arbeiterrechte sowie Streikbewegungen. Gegenwartskritische Betrachtungen nahmen jedoch zu, als sich die Erwartung, dass der ökonomisch-technische Fortschritt zu einem harmonischen Zusammenleben autonomer Persönlichkeiten führen würde, als falsch herausstellte. Grundlegenden wirtschaftsethischen Fragen, die sich im Kontext der Sozialen Frage stellten, widmete sich als erstes protestantisches Forum dieser Art der von Rudolf Todt, Rudolf Meyer, Adolf Wagner und Adolf Stoecker 1877 gegründete Central-Verein für Socialreform, der zugleich den Staatssozialisten herausgab. Obwohl zahlreiche Gründer des 1872 ins Leben gerufenen Vereins für Socialpolitik im Zentralverein eine wichtige Rolle spielten, sprach der Zentralverein stärker kirchliche Kreise und insbesondere die Pfarrerschaft an.646 Ordnungspolitisch und wirtschaftsethisch setzte man sich vor allem mit dem Manchester-Kapitalismus und dem ihm zugrunde liegenden überspitzten liberalistischen Individualprinzip auseinander, das man als Auslöser eines moralischen Zerfalls der Gesellschaft betrachtete, da eine reine Orientierung am Eigeninteresse nicht die Grundlage für eine funktionierende arbeitsteilige Gesellschaft und Wirtschaft darstellen könne. Da der Mensch zugleich für sich selbst Verantwortung trage und in einen sozialen, solidarischen Gesamtzusammenhang eingebunden sei, sich also Personalität und Sozialität zwar unterscheiden, aber nicht isolieren ließen, schlägt der Verein die Ergänzung des Individualprinzips durch das solidarische Sozialprinzip zur Ganzheit menschlicher Existenz vor. Ebenso sei die Wirtschaft nicht die Summe von Einzelinteressen, sondern ein von Tradition, Kultur, vor allem auch religiösen 643 Vgl. Meckenstock: Wirtschaftsethik, S. 118. 644 Vgl. Meckenstock: Wirtschaftsethik, S. 118f. 645 Vgl. dazu und zum Nachfolgenden Meckenstock: Wirtschaftsethik, S. 119. 646 Vgl. dazu wie zum Folgenden Brakelmann: Christliche Kirchen. Evangelisch, S. 715.
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Werten geprägter Prozess, der nicht von seinem gesellschaftlichen und staatlichen Bezugsrahmen losgelöst werden könne. Ziel der Wirtschaft sei die Befriedigung der materiellen und immateriellen menschlichen Bedürfnisse als gesamtkulturelle Aufgabe und somit die Erfüllung der ökonomischen Voraussetzungen für die außerhalb ihrer selbst liegenden Zwecke Humanität und kultureller Fortschritt. Da sie wie Staat und Politik der Gestaltungsaufgabe des politisch-moralischen Willens unterliege und die von ihm gesetzten Ziele verwirkliche, könne die Wirtschaft nie unter dem Verweis auf angebliche Naturgesetze frei von normativen Prinzipien sein, obgleich sie zur Realisierung ihrer Aufgaben freilich auf rationale Methoden angewiesen ist.647 Die von den „Staatssozialisten“ entwickelte Sozialethik auf dem Fundament einer christlichen Anthropologie trugen sowohl entscheidend zur Ablehnung eines liberal-individualistischen Weges innerhalb des deutschen Protestantismus als auch dazu bei, dass dort die Problematik der Wirtschaftsordnung als zentrale wirtschaftsethische Frage unter wechselnden Bedingungen immer wieder neu diskutiert wurde.648 Bereits Todt mit seiner Monographie Der radikale deutsche Socialismus und die christliche Gesellschaft sowie später Friedrich Naumann stehen beispielhaft für eine alle Evangelisch-Sozialen verbindende Tendenz, ihre wirtschaftsethischen und ordnungspolitischen Positionen stets im Prozess einer differenzierten, konstruktiv-kritischen Auseinandersetzung mit den vorherrschenden zeitgenössischen Ideologien sowie deren Untersuchung auf Übereinstimmungen bzw. Konflikte mit christlichen Positionen zu gewinnen: „Wer die soziale Frage verstehen und zu ihrer Lösung beitragen will, muß in der Rechten die Nationalökonomie, in der Linken die wissenschaftliche Literatur der Sozialisten und vor sich aufgeschlagen das Neue Testament haben. Fehlt einer dieser drei Faktoren, so fällt die Lösung schief aus.“649 Todt gelang damit der bemerkenswerte Versuch eines Gesprächs zwischen den Sozialwissenschaften und der Theologie. In diesem Zusammenhang verlangte er auch erstmals überhaupt die Errichtung sozialwissenschaftlicher Lehrstühle an den theologischen Fakultäten. Die beschriebenen Entwicklungen hatten eine Flut wirtschaftsethischer Aussagen protestantischer Provenienz zur Folge, sind aber zugleich dafür verantwortlich, dass sich in der evangelischen Sozialethik im Gegensatz zur katholischen Soziallehre keine den päpstlichen Enzykliken in ihrer Verbindlichkeit vergleichbaren Äußerungen finden lassen.650 Umgekehrt stärkte mit Sicherheit gerade das Fehlen eines verbindlichen kirchlichen Wortes mit dem Charakter einer Handlungsverpflichtung die Mitverantwortung der evangelischen Laien, die sich in weltlicher 647 Vgl. Brakelmann: Christliche Kirchen. Evangelisch, S. 715f. 648 Vgl. dazu wie auch zum Folgenden Brakelmann: Christliche Kirchen. Evangelisch, S. 716f. 649 Rudolf Todt: Der radikale deutsche Socialismus und die christliche Gesellschaft. Versuch einer Darstellung des socialen Gehaltes des Christenthums und der socialen Aufgaben der christlichen Gesellschaft auf Grund einer Untersuchung des neuen Testaments. Wittenberg 21878, S. 1. 650 Vgl. Brakelmann: Christliche Kirchen. Evangelisch, S. 717.
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Verantwortung formulierte. Dabei soll nicht unterschlagen werden, dass auf katholischer Seite die Mitverantwortung und der Einfluss der Laien durch eine starke Verbandsarbeit – etwa durch die gegründete Katholische Arbeiter-Bewegung oder die auf Adolph Kolping zurückgehenden katholischen Gesellenvereine (das spätere Kolpingwerk) – gesichert wurde. Sozialethische Debatte und sozialreformerische Maßnahmen wurden im deutschsprachigen Protestantismus vom 1890 von sozialkonservativen und kulturliberalen Gruppen gemeinsam gegründeten Evangelisch-Sozialen Kongreß weiter vorangetrieben, welcher der staatlichen Sozial- und Gesellschaftspolitik zahlreiche wichtige Impulse verleihen sollte.651 Auf jährlich stattfindenden Tagungen wurden auf hohem wissenschaftlichen Niveau sozialpolitische Diskussionen und Aktivitäten gebündelt und aktuelle sowie prinzipielle Fragen der Ökonomie vom Standpunkt der protestantischen Ethik aus erörtert. Die dem Bildungsbürgertum entstammenden Initiatoren des Kongresses wie etwa der Kirchenhistoriker Adolf von Harnack und der Theologe Martin Rade teilten die Überzeugung, dass das protestantische Christentum auf Basis seiner „gesamtkulturellen Führungsrolle“ wesentliche Beiträge zur Lösung der im Zuge der Industrialisierung und der Entstehung einer heterogenen Klassengesellschaft aufgekommenen Krisen und Konflikte und zum Ausgleich zwischen den gesellschaftlichen Gruppen leisten könne. 652 Nach wenigen Jahren schieden die Sozialkonservativen unter Martin von Nathusius wieder aus dem Kongress aus und riefen 1897 gemeinsam mit Vertretern der Inneren Mission die Freie kirchlich-soziale Konferenz ins Leben, die sich stärker konkreten Diakoniemaßnahmen und weniger sozialpolitischen Aufgaben zuwendete. Verstärkt wurden in der Folge innerhalb der Wissenschaft – gerade auch unter Einfluss des methodischen Historismus – die institutionellen und ökonomischen Bedingungen und Konsequenzen der Kirchen- und Theologiegeschichte in den Blick genommen. Neben von Harnack, der sich um einen Ausgleich von christlichem Glauben und bürgerlichen Kulturidealen bemühte, untersuchte vor allem der Theologe und Kulturphilosoph Ernst Troeltsch in seinen zahlreichen Schriften und besonders in seiner zunächst als Aufsatzfolge und schließlich 1912 als Monographie erschienenen Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen die Wechselbeziehungen zwischen christlich-frommen Gesellschaftsvorstellungen und den Entwicklungen der Wirtschaft.653
651 Vgl. dazu wie zum Folgenden Meckenstock: Wirtschaftsethik, S. 119f. Vgl. ebf. Brakelmann: Christliche Kirchen. Evangelisch, S. 717. 652 Friedrich Wilhelm Graf: Protestantische Theologie in der Gesellschaft des Kaiserreichs. In: Ders. (Hg.): Profile des neuzeitlichen Protestantismus. Band 2: Kaiserreich. Teil 1. Gütersloh 1992, S. 12– 117, 19. Vgl. Adolf von Harnack/Martin Rade: Der Briefwechsel zwischen Adolf von Harnack und Martin Rade. Theologie auf dem öffentlichen Markt. Hrsg. und kommentiert von Johanna Jantsch. Berlin u.a. 1996, S. 7. 653 Vgl. Meckenstock: Wirtschaftsethik, S. 120.
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1.3.5.2
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Der protestantische Geist des Kapitalismus
Zu den grundlegenden Themen der modernen Kulturwissenschaften zählt die Frage nach der Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung des okzidentalen Betriebskapitalismus.654 Insbesondere mit Max Weber und seiner berühmten Studie Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus setzt eine religionssoziologische Beschäftigung mit den Wechselwirkungen zwischen einer religiös geprägten Wirtschaftsethik und der Wirtschaftsform eines Kulturraums ein, deren Ergebnisse bis heute kontrovers diskutiert werden.655 Der kulturprotestantische Theologe Ernst Troeltsch begann seit 1906 mit breit angelegten Arbeiten über Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen.656 Beeinflusst von Georg Simmel und Max Weber widmete er sich neben den religiösen Vergemeinschaftungsidealen und politischen Ordnungskonzepten der drei Hauptkonfessionen des westlichen Christentums (Katholizismus, Luthertum und Calvinismus) auch deren besonderer Wirtschaftsethik. Seit 1912 baute Max Weber seine Forschungen zum Protestantismus zu vergleichenden universalhistorischen Untersuchungen der Wirtschaftsethiken aller großen Weltreligionen aus. Ab 1920 erschienen Webers – Fragment gebliebene – Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, in denen er die Entstehung und Ausformung des abendländischen Rationalismus und die Durchsetzung kapitalistischer Zweckrationalität zu erklären suchte. Weber liefert in seinen Studien zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen sowie im religionssoziologischen Kapitel seines postum veröffentlichten Wirtschaft und Gesellschaft trotz einiger Kritik mit den „Idealtypen“ eine wirkmächtige Deutung zur Bestimmung der divergierenden Wirtschaftsethiken der großen Religionen und ihrer wirtschaftsethisch relevanten Weltbilddifferenzen.657 Troeltsch verwies 1913 darauf, dass religiöse Deutungssysteme nicht als solche, sondern lediglich in spezifischer Vermittlung bestimmte „Wirtschaftsideale“ und „Wirtschaftsstile“ prägen: Weder seien „Religionen Wirtschaftsideale“, noch „Wirtschaftsformen und -interessen religiöse Gesetze. Die Berührungen sind nur vermittelt“.658 Die vermittelnde Größe bestehe in den „großen soziologischen Formen des Daseins, die einerseits stets von der Religion geschaffen werden und, einmal derartig begründet, aufs tiefste einschneiden in alle wirtschaftliche Arbeit, die andererseits aus wirtschaftlichen – neben anderen – Gründen entstehen und nun ihrerseits in ihre Allmacht die religiöse Vorstellungswelt hineinziehen“.659 Das komplizierte Wesen der Wirtschaftsethik einer Religion wurde von Weber – teils anschließend, teils kritisierend – ebenfalls hervorgehoben. Konkrete Wirtschaftsethiken seien nie654 Vgl. dazu und zum Folgenden Graf: Stellenwert der Religion, S. 653. 655 Vgl. Klein: Wirtschaftsethik I. Religionsgeschichtlich, S. 131. 656 Vgl. hierzu und zum Folgenden Graf: Die geschichtliche Rolle, S. 573. 657 Vgl. dazu und zum Folgenden Graf: Die geschichtliche Rolle, S. 573f. 658 Ernst Troeltsch: Religion und Wirtschaft [1913]. In: Deutsche Akademiereden. Hg. v. Fritz Strich. München 1924, S. 319–341, 322f. 659 Troeltsch: Religion und Wirtschaft, S. 322f.
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mals bloß durch religiöse Faktoren, sondern stets durch eine Vielzahl von Bedingtheiten bestimmt (worden).660 Religiöse Wirtschaftsethik war für ihn ein gelebtes Ethos, welches durch den spezifischen religiösen Gehalt einer Religion, den „Inhalt ihrer Verkündigung und Verheißung“661, also den materialen Gehalt ihrer Heilsgüter und die in den „psychologischen und pragmatischen Zusammenhängen der Religionen gegründeten praktischen Antriebe zum Handeln“662, wesentlich bestimmt wird. Entscheidende Prägekraft für die Wirtschaftsethik einer Religionsgemeinschaft hätten die Art der Definition der dem Frommen um seiner Erlösung bzw. um seines Seelenheils zukommenden Heilsgüter in der religiösen Tradition, die Heilsmittel sowie das Institutionengefüge der Religionsgemeinschaft.663 Doch sei das Religiöse niemals einziger Bestimmungsgrund eines ökonomischen Habitus – eine Wirtschaftsethik besitzt „selbstverständlich ein im höchsten Maß durch wirtschaftsgeographische und geschichtliche Gegebenheiten bestimmtes Maß von reiner Eigengesetzlichkeit gegenüber allen durch religiöse oder andere […] ‚innerliche‘ Momente bedingten Einstellungen des Menschen zur Welt“.664 Entsprechend der Prägung ökonomischer Mentalität durch die im Medium religiöser Symbolsprachen entwickelten Ordnungen des Lebens, wirkten umgekehrt auch wirtschaftliche Institutionen auf das Ethos einer religiösen Gemeinschaft zurück.665 Die Frage nach den mentalen Voraussetzungen und kulturellen Grundlagen ökonomischer Rationalität wurde auch von Nationalökonomen und Volkswirtschaftlern rezipiert. In der gegenwärtigen Globalisierungsdebatte findet sie eine Aktualisierung: In der von Samuel Huntington angestoßenen Diskussion um den „clash of civilizations“ geht es ebenso wie in der von Michel Albert geprägten Debatte um den „capitalisme contre capitalisme“ um die Unterscheidung konkurrierender Grundtypen des Kapitalismus, deren Unterschiede durch die jeweils unterschiedlichen Arrangements von (sozio)kultureller bzw. religiöser Mentalität und Tradition, Rahmenordnung und sozialer und politischer Institutionen als Begrenzer bzw. Förderer des freien Marktes sowie dem Markt und dessen Prozessen definiert sind.666 Besonders Webers 1904 und 1905 veröffentlichtes Essay Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus rief eine bis heute andauernde, lebhafte und kontro-
660 Vgl. Max Weber: Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Vergleichende Religionssoziologische Versuche [1915]. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Bd. 1. Tübingen 91988 (= UTB für Wissenschaft 1488), S. 237–573, 238f. Vgl. dazu wie zum Folgenden Graf: Die geschichtliche Rolle, S. 574. 661 Weber: Wirtschaftsethik der Weltreligionen, S. 240. 662 Weber: Wirtschaftsethik der Weltreligionen, S. 238. 663 Vgl. Graf: Die geschichtliche Rolle, S. 575. 664 Weber: Wirtschaftsethik der Weltreligionen, S. 238. 665 Vgl. Weber: Wirtschaftsethik der Weltreligionen, S. 238. Vgl. zudem Graf: Die geschichtliche Rolle, S. 574. 666 Vgl. Graf: Die geschichtliche Rolle S. 572f.
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Wirtschaften und Ethik in der Geschichte der christlichen Religion
verse Diskussion über den Einfluss der Religion auf das kapitalistische Wirtschaftssystem hervor.667 Anschließend an die Studien Karl Bernhard Hundeshagens und Matthias Schneckenburgers aus der Mitte des 19. Jahrhunderts über die ethischen Unterschiede zwischen Luthertum und Calvinismus arbeitete Weber darin eine differenzierte Sicht der Wirtschaftsethiken der beiden protestantischen Konfessionen heraus.668 Nach Weber waren für die Herausbildung des Wirtschaftslebens als Element moderner Kultur vor allem lutherische und calvinistische Positionen von Bedeutung.669 In einer ausführlichen Analyse von Luthers Konzept des weltlichen Berufs des Christen erbrachte Weber den Nachweis, dass die Reformation im Verhältnis zur katholisch-mittelalterlichen Tradition eine äußerst folgenreiche theologische Neubewertung der menschlichen Arbeit vorgenommen habe.670 Entsprechend der Lehre vom Priestertum aller Gläubigen habe Luther die göttliche vocatio nunmehr auf alle Gläubigen bezogen und ihre weltliche Tätigkeit ungeachtet ihres Standes als ihren göttlichen Beruf und wahren Gottesdient gedeutet (vgl. oben). So wurde „anstelle frommer Weltflucht“ der Berufenen, die es in Priestertum und Kloster gezogen hatte, „die tätige Aneignung und Umgestaltung der Welt religiös prämiert“ und die religiösen Energien auf das Diesseits und den jeweiligen Stand ausgerichtet, in den sich der Fromme gestellt sah.671 Diese lutherische „Weltfrömmigkeit“ (Goethe) war zwar einer aktivistischen, leistungsorientierten Lebensführung förderlich, war aber nach Meinung Webers keineswegs der Ursprung der rigiden asketischen Selbstdisziplinierung, die er als entscheidende mentale Ursache eines der Entstehung des Kapitalismus zuträglichen Habitus erachtete.672 Vielmehr habe erst der von Calvin geprägte reformierte Protestantismus und insbesondere der Puritanismus konsequente innerweltliche Askese propagiert. Anhand der puritanischen Frömmigkeitsliteratur versucht Weber darzustellen, dass der psychisch starke Antrieb zu einem streng asketischen, triebkontrollierten und auf Kapitalakkumulation ausgerichteten Handeln in erster Linie aus der elementaren Unsicherheit des reformierten Frommen über seinen Gnadenstand resultiert, die aus der Lehre der doppelten Prädestination folgt. Die Tatsache, dass das erarbeitete Kapital wiederum für erneute, gesteigerte Kapitalakkumulation und nicht etwa für Luxus oder Vergnügungen eingesetzt wurde, erklärt sich nach Weber aus dem Umstand, dass ökonomischer Erfolg als äußeres Zeichen des Erwähltseins durch Gott betrachtet wurde. 667 Vgl. Graf: Die geschichtliche Rolle, S. 571f. Vgl. dazu ebf. Friedrich Wilhelm Graf: Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur. München 2007 (= Beck`sche Reihe 1779), S. 183f. 668 Vgl. Graf: Stellenwert der Religion, S. 653. 669 Vgl. Leonhardt: Theologische Wirtschaftsethik im Spiegel kirchlicher Verlautbarungen, S. 202f. 670 Vgl. dazu und zum Folgenden Graf: Stellenwert der Religion, S. 653f. 671 Graf: Stellenwert der Religion, S. 654. 672 Vgl. hierzu sowie zum Nachfolgenden Graf: Stellenwert der Religion, S. 654.
Wirtschaftsethische Fragestellungen
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Weber gelangt zu der Einschätzung, dass die Frömmigkeit des Calvinismus, vor allem die Prädestinationsgewissheit, den Anstoß zu extrem disziplinierter Berufsarbeit und in deren Folge zu innerweltlicher Askese gegeben habe, die wiederum dem Prozess der Kapitalbildung wesentliche Impulse verliehen habe.673 Im Calvinismus äußere sich die Nächstenliebe, „da sie ja nur Dienst am Ruhme Gottes, nicht: der Kreatur, sein darf – in erster Linie in Erfüllung der durch die lex naturae gegebenen Berufsaufgaben“ und sie nehme „dabei einen eigentümlich sachlichunpersönlichen Charakter an: den eines Dienstes an der rationalen Gestaltung des uns umgebenden gesellschaftlichen Kosmos“.674 Die „rastlose Berufsarbeit“ sei den Gläubigen „eingeschärft“ worden, da sie der Vergewisserung des persönlichen Erwähltseins diene.675 Diese „religiöse Wertung“ der „Berufsarbeit als schlechthin höchsten asketischen Mittels und zugleich sicherster und sichtbarster Bewährung des wiedergeborenen Menschen“ habe ja „der denkbar mächtigste Hebel der Expansion jener Lebensauffassung“ sein müssen, „die wir hier als ‚Geist des Kapitalismus‘ bezeichnet haben“.676 Gegenüber dem reformierten Protestantismus veranschlagt Weber der Einfluss des Luthertums auf die Entstehung der modernen Wirtschaft geringer.677 Sowohl Weber als auch Troeltsch betonen dabei nachdrücklich „die traditionalistische Haltung der Wirtschaftsethik“ im Luthertum: „Emporsteigen wollen, durch freie Initiative die gegebenen Ordnungen durchbrechen“, sei „gegen natürliches und göttliches Gesetz“.678 Dagegen sei das Ideal des Calvinismus gerade „nicht die Ergebung in ein fertiges, von der Vorsehung geleitetes System der Berufe, sondern die freie Verwendung der Berufe als Mittel für die heilige Gemeinde“.679 Weber stellt indes nicht das Postulat auf, das Wirtschaftssystem des Kapitalismus sei durch die Reformation geschaffen worden.680 Seine Untersuchung der historischen Kausalbeziehung zwischen protestantischer Ethik und dem Geist des Kapitalismus als „ethisch gefärbte Maxime der Lebensführung“ solle lediglich deskriptiv feststellen, „ob und inwieweit religiöse Einflüsse bei der qualitativen Prägung und quantitativen Expansion jenes ‚Geistes‘ über die Welt hin mitbeteiligt gewesen sind und welche konkreten Seiten der auf kapitalistischer Basis ruhenden Kultur auf sie zurückgehen“.681 Weber stellt also die Frage nach den Bedingungen 673 Vgl. Leonhardt: Theologische Wirtschaftsethik im Spiegel kirchlicher Verlautbarungen, S. 202f. 674 Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus [1904/05]. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, S. 17–205, 100f. (Hervorhebungen im Original gesperrt.) 675 Vgl. Weber: Geist des Kapitalismus, S. 105f. 676 Weber: Geist des Kapitalismus, S. 192. 677 Vgl. Leonhardt: Theologische Wirtschaftsethik im Spiegel kirchlicher Verlautbarungen, S. 202f. 678 Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen. Tübingen 1912 (= Gesammelte Schriften 1), S. 573. Auch Weber charakterisiert den lutherischen Berufsbegriff als „traditionalistisch“. Vgl. Weber: Geist des Kapitalismus, S. 77. 679 Troeltsch: Soziallehren, S. 655. 680 Vgl. Gregor Fitzi: Max Weber. Frankfurt a.M. 2008, S. 110. 681 Weber: Geist des Kapitalismus, S. 33, 83.
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Wirtschaften und Ethik in der Geschichte der christlichen Religion
für die Entstehung einer spezifischen Wirtschaftsethik durch bestimmte religiöse Glaubensinhalte, die er anhand der Betrachtung der Zusammenhänge zwischen dem modernen Wirtschaftsethos und der rationalen Ethik des asketischen Protestantismus zu beantworten sucht.682 Für Weber ist der Charakter des Kapitalbesitzes und des Unternehmertums vorwiegend protestantisch, was sich an einer „stärkere[n] Beteiligung der Protestanten am Kapitalbesitz und den leitenden Stellungen innerhalb der modernen Wirtschaft“ zeige.683 Es sei „Tatsache“, dass die Protestanten seit jeher und in allen Kulturen „eine spezifische Neigung zum ökonomischen Rationalismus“ gezeigt hätten.684 Demgegenüber seien die Katholiken nicht bloß an den höheren Lehranstalten unterrepräsentiert, auch zeige sich eine auffallend „geringere Beteiligung der Katholiken am modernen Erwerbsleben in Deutschland“.685 Die Ursache dafür müsse in der „dauernden inneren Eigenart“ gesucht werden, da sie nicht von äußeren, etwa politischen oder historischen Faktoren abhinge.686 Webers These vom genetischen Zusammenhang zwischen innerweltlicher protestantischer Askese und dem „Geist des Protestantismus“, die auch Troeltsch teilte, wurde bereits in der zeitgenössischen Diskussion bestritten, nicht aber die zentralen Voraussetzungen von Webers Argumentation: So ist der okzidentale Betriebskapitalismus in seinen Ursprungsphasen an spezifische habituelle bzw. mentale Bedingungen geknüpft und setzt einen aktivistischen Menschentypus voraus, der sich durch bestimmte Eigenschaften wie Askese, Risikobereitschaft sowie die Fähigkeit zur Optimierung und rationalen Beurteilung ökonomischer Chancen, Triebunterdrückung sowie rastloses Leistungsstreben auszeichnet.687 Ebenso hatte die reformatorische Lehre vom weltlichen Beruf des Christen eine folgenreiche Neubewertung weltlicher Arbeit zur Folge und bot zudem die Gelegenheit, erarbeiteten Wohlstand ethisch positiv zu qualifizieren.688 Das Profane und Weltliche gewann zudem für Protestanten einen religiösen Verpflichtungsauftrag, weshalb sie ihre religiösen Energien vor allem auf die Gestaltung der Welt konzentrierten. Überdies führte die reformatorische libertas christiana in Kombination mit dem Berufsethos zu einer engen Verbindung überlieferter christlicher Normen mit den bürgerlichen Idealen der Moderne, wobei insbesondere bürgerliche Autonomie aus protestantischer Tradition legitimiert werden konnte und sich das Protestantische in zahlreichen spezifisch bürgerlichen Tugenden ausdrückte. Diese Faktoren bedingen die Existenz einer historischen Wahlverwandtschaft zwi-
682 Vgl. Weber: Geist des Kapitalismus, S. 21. 683 Weber: Geist des Kapitalismus, S. 21. 684 Weber: Geist des Kapitalismus, S. 23. 685 Weber: Geist des Kapitalismus, S. 22. 686 Vgl. Weber: Geist des Kapitalismus, S. 23. 687 Vgl. Graf: Stellenwert der Religion, S. 654. 688 Vgl. dazu und zum Folgenden Graf: Stellenwert der Religion, S. 654f.
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schen frühem okzidentalem Betriebskapitalismus und protestantischen Lebenswelten, sofern in diesen eine innerweltliche Askese vermittelt wird. Im Gegensatz zu Weber bediente sich zur selben Zeit der Soziologe Werner Sombart alter Argumentationsmuster und machte den „jüdischen Geist“ als entscheidende Quelle für die asketische Wirtschaftsgesinnung aus, welche die Grundlage für die Entstehung und die Durchsetzung des Kapitalismus gebildet habe, „denn: aus der Geldleihe ist der Kapitalismus geboren“.689 Sombart resümiert, dass „am Aufbau der modernen Volkswirtschaft der Anteil der Juden weit größer sei, als man bisher geahnt hatte“.690 Obwohl Sombart in seiner Studie wiederholt betont, sich – gerade auch in Anbetracht des nicht lange zurückliegenden Weberschen Werturteilsstreit (vgl. ausführlicher dazu unten 2.2 Entwicklung ethischer Gedanken innerhalb der Wirtschaftswissenschaften) – subjektiv gefärbter Werturteile enthalten zu wollen691, sind seine Ergebnisse doch paradigmatisch für eine ab der Industrialisierung gerade auch in Intellektuellenkreisen gängige Tendenz, die Geldverleihpraktiken der Juden so zu interpretieren, als wären großer Kapitalbesitz, Judentum und Kapitalismus ein und dasselbe, was wiederum dem modernen, extremen Antisemitismus das Feld bereitete.692 1.3.5.3
„Menschenrechte im Industrialismus“ – Die Formierung der evangelischen Soziallehre im späten Kaiserreich
In der evangelischen Soziallehre finden sich zum Ende der Kaiserzeit neben solch problematischen Positionen wie der Sombarts auch einige – im positiven Sinne – wegweisende Gedanken693: So entwarf Friedrich Naumann, der zu seiner Zeit wohl kreativste Sozialpolitiker im deutschen Protestantismus, mit dem Ziel der Demokratisierung der Betriebe das Modell einer liberalen und zugleich sozialen „Industrieverfassung“ im Sinne eines Industrieparlamentarismus. Seiner Studie Neudeutsche Wirtschaftspolitik von 1902 geht die Frage voraus, wie Industrieuntertanen zu Industriebürgern werden könnten. Damit verbindet Naumann Forderungen nach Betriebsausschüssen für Beamte und Arbeiter, einer Humanisierung der Arbeitsbedingungen sowie einer Verkürzung der Arbeitszeiten. Er schlussfolgert, dass man „bis jetzt die soziale Frage viel zu einseitig als bloße Frage materieller Versorgung angesehen“ habe, doch sei sie „im Großbetrieb einfach die Frage des Menschenrechtes“.694 Angesichts einer „Zukunft mit immer größeren Riesenbetrieben“
689 Vgl. Werner Sombart: Die Juden und das Wirtschaftsleben [1911]. München 1928, S. XI. 690 Sombart: Die Juden und das Wirtschaftsleben, S. V. 691 Vgl. Sombart: Die Juden und das Wirtschaftsleben, S. 222, 329. 692 Vgl. dazu Hubert Kiesewetter: Das einzigartige Europa. Wie ein Kontinent reich wurde. Stuttgart 2006, S. 110ff. Dort finden sich auch noch weitere Verweise. 693 Vgl. dazu wie zum Folgenden Brakelmann: Christliche Kirchen. Evangelisch, S. 719. 694 Friedrich Naumann: Neudeutsche Wirtschaftspolitik. In: Ders.: Werke. Bd. 3: Schriften zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. Köln u.a. 1964, S. 71–534, 428.
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Wirtschaften und Ethik in der Geschichte der christlichen Religion
müsse man fragen, ob „diese Zukunft eine neue Sklaverei […], ein Ende aller aller liberalen Träume, eine Hörigkeit der Masse“ sein werde, oder ob es „eine Form der Mitwirkung der Beamten und Arbeiter an der Leitung“ geben werde, „die derartige moderne Versklavung unmöglich“ mache.695 Ob „Menschenrechte im Industrialismus“ ihre Gültigkeit behielten, sei „das tiefste Problem der Industrieverfassung“.696 Mit Mitwirkung, Mitbestimmung, Demokratisierung, Humanisierung und Basisdemokratie formulierte Naumann die großen Zukunftsthemen, die für die Um- und Neugestaltung der Industriegesellschaft von Bedeutung sein sollten.697 Für Naumann waren diese Ziele nur auf der Basis der Koalitionsfreiheit mit starken Gewerkschaften auf der einen und handlungsbereiten Unternehmerverbänden auf der anderen Seite zu realisieren. Eine Systematisierung der unterschiedlichen Positionen der evangelischen Theologie im Kaiserreich zu einer einheitlichen Soziallehre ist aufgrund ihrer Diversifizität kein einfaches Unterfangen. Unstrittig ist hingegen, dass gerade diese Generation sozial engagierter evangelischer Wissenschaftler aufgrund ihrer offenen Argumentationsstruktur nachhaltigen Einfluss auf die praktische Reformpolitik gewann, so dass ihre theoretische Grundsatzarbeit in und außerhalb der Vereine, Gesellschaften und Kongresse von ganz entscheidender Bedeutung zuerst für den Auf- und dann auch den weiteren Ausbau des Sozialstaats sein sollte.698 Auch einten den Verbandsprotestantismus trotz aller Verschiedenheiten einige wichtige Gemeinsamkeiten in der Denk- und Mentalitätsstruktur.699 So wendete man sich gegen Extremismus und Radikalismus und zwar sowohl praktisch als auch theoretisch und suchte nach einem Mittelweg, der einerseits den erreichten Fortschritt sicherte und sich andererseits den notwendigen Reformen für die Zukunft nicht verweigerte. Gegen kapitalistische wie sozialistisch-kollektivistische Systemtheorien plädierte man für eine marktwirtschaftliche Ordnung, die von einer staatlichen Rahmenordnung begrenzt wird und die abhängig Arbeitenden gegen die großen Arbeits- und Lebensrisiken absichert. Einigkeit besteht auch über den Wunsch nach einer gesetzlich verbrieften Tarifparteienschaft von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften sowie über die Rolle des Sozialstaats, dem die abschließende Verantwortung zum Aufbau eines Gemeinwohl fördernden Wirtschafts- und Sozialsystems im Dienste der nationalen Wohlfahrt zukommt.
695 Naumann: Neudeutsche Wirtschaftspolitik, S. 428. 696 Naumann: Neudeutsche Wirtschaftspolitik, S. 428. 697 Vgl. dazu und zum Folgenden Brakelmann: Christliche Kirchen. Evangelisch, S. 719f. 698 Vgl. Brakelmann: Christliche Kirchen. Evangelisch, S. 717. 699 Vgl. dazu und zum Folgenden Brakelmann: Christliche Kirchen. Evangelisch, S. 722.
Wirtschaftsethische Fragestellungen
1.3.5.4
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Wirtschaftsethische Positionen in der protestantischen Sozialethik während der Weimarer Republik
Das Ende des Staatskirchentums mit der Gründung der Weimarer Republik bedeutete für die sozialethische Orientierung der evangelischen Theologie einen tiefgreifenden Einschnitt.700 Der deutsche Protestantismus und mit ihm drei programmatische Gruppen, die von den Erfahrungen von Weltkrieg und Revolution besonders geprägt wurden, lehnten die bürgerlich-liberale Ausrichtung der Weimarer Republik überwiegend ab: Der Gedanke natürlicher Lebensgemeinschaften und des Volkes als Ort des natürlich-geschichtlichen Gottesdienstes dominierte das national orientierte Jungluthertum um Emanuel Hirsch, Werner Elert und Paul Althaus, während der religiöse Sozialismus um Paul Tillich eine Verbindung aus Religion und Sozialismus in einer theonomen Gesellschaft anstrebte. Die dialektische Theologie um Karl Barth, Emil Brunner, Rudolf Bultmann und Friedrich Gogarten wandte sich wiederum gegen eine Anthropologisierung und Ethisierung der Theologie.701 Lediglich die liberale Theologie um Adolf von Harnack, Ernst Troeltsch, Martin Rade und Otto Baumgarten befürwortete die neue staatliche, kirchliche und gesellschaftliche Ordnung. Das größte wissenschaftliche Buchereignis zur Wirtschaftsethik wurde die Evangelische Sozialethik des Sozialethikers Georg Wünsch.702 Wünsch setzte sich in seiner 1927 veröffentlichten Monographie mit den philosophischen und theologischen Grundlagen der Wirtschaft und einer Reihe wesentlicher sozialpolitischer Themenkomplexe wie Beruf, Lohn, Arbeit und Arbeitszeit, Arbeitskämpfe, Eigentum und den Aufgaben der Kirche auseinander und spricht sich darin für eine Neuordnung der protestantischen Sozialethik im Sinne eines christlichen Sozialismus aus. Wünsch möchte die gegensätzlichen Ansprüche von Wirtschaft und Religion auflösen, indem er die Wirtschaft einer zentralen ethischen Norm, die sich aus dem Evangelium ergebe und durch die Allmächtigkeit, Heiligkeit und Güte Gottes bestimmt sei, zuordnet.703 So garantiere die Güte Gottes gegen die Macht der Sünde, dass Ziel und Sinn der Welt von Gott her gesichert seien, dass „Gott seinen allmächtigen Willen zum Zweck der positiven Verwirklichung des in der Schöpfung als Ansatz vorhandenen“ einsetze.704 Ausgehend von diesem Grundgedanken entwickelt Wünsch in Anlehnung an die Werteethik Max Schelers eine theologisch-ethische Deutung allen Kulturschaffens.705 Wirtschaftliches Handeln habe entsprechend der Sicherung 700 Vgl. dazu und zum Folgenden Meckenstock: Wirtschaftsethik, S. 120f. 701 Vgl. dazu und zum Folgenden Meckenstock: Wirtschaftsethik, S. 121. 702 Vgl. dazu und zum Folgenden Meckenstock: Wirtschaftsethik VI. Ethisch, S. 174. Vgl. dazu ebf. Brakelmann: Christliche Kirchen. Evangelisch, S. 724f. 703 Vgl. Meckenstock: Wirtschaftsethik, S. 174. 704 Georg Wünsch: Evangelische Wirtschaftsethik. Tübingen 1927, S. 202. 705 Vgl. Jähnichen/Friedrich: Geschichte der sozialen Ideen, S. 1011.
138
Wirtschaften und Ethik in der Geschichte der christlichen Religion
der stofflich-materiellen Grundlage menschlichen Lebens zu dienen.706 Gegenüber der im Protestantismus verbreiteten religiösen Sanktionierung gängiger Ordnungen hob Wünsch die Wandel-, Veränder- und Ersetzbarkeit aller Ordnungen hervor, wenn sie den Forderungen der Güte Gottes widerstritten. Wünsch fordert eine effektive und am Bedarf der Menschen orientierte, nicht aber erwerbsorientierte Wirtschaftsordnung.707 Die grundsätzliche Bejahung der Autonomie der Wirtschaft ist bei ihm verknüpft mit einer strikten Ablehnung der Selbstzweckhaftigkeit der Wirtschaft. Die von der klassischen Nationalökonomie vertretene Behauptung einer Eigengesetzlichkeit der Wirtschaft im Sinne einer naturkausalen mechanischen Gesetzmäßigkeit erachtet er als überholt. Wirtschaftswerte sind für Wünsch stets nur dienende Werte, die den „elementare[n] und kulturelle[n] Bedürfnissen“ und Zielsetzungen untergeordnet werden müssten, um die Lage der schwächsten Glieder der Gesellschaft zu verbessern.708 Die notwendige Begrenzung der Selbstzweckhaftigkeit der Wirtschaft seien weder vom Privatkapitalismus noch vom Marxismus zu leisten, die beide die Ökonomie verabsolutierten.709 Von einer effizienten Bedarfswirtschaft verspricht er sich die Befreiung von der Massenarmut hin zu einem auf Gott ausgerichteten Leben, eine Minimierung der Arbeitszeit und eine Erhöhung der allgemeinen Kulturbedingungen. 710 Entsprechend seiner Auffassung der Wirtschaftspolitik als Folge christlichen Glaubens fordert er die Einbindung des strikt geplanten Wirtschaftslebens in ein christlich ausgerichtetes Gesellschaftsleben und die Sozialisierung der Produktionsmittel bei gleichzeitiger Privatisierung der Konsumtionsmittel. Wünschs Positionen stehen paradigmatisch für die während der Weimarer Republik zunehmend aufkommende Bewegung eines Religiösen Sozialismus. Die Selbstbezeichnung Religiöser Sozialismus wurde bereits 1906 von den Schweizer evangelischen Theologen Hermann Kutter und Leonhard Ragaz geprägt, die sich so von nichtreligiösen Sozialisten und antisozialistischen Christen abgrenzen wollten. Nach dem Ersten Weltkrieg übernahmen unterschiedliche christliche deutsche Gruppen den Begriff für verschiedene Programmatiken. 1926 vereinten sie sich zum Bund der Religiösen Sozialisten Deutschlands, der als evangelische Kirchenpartei auftrat und gegen nationalistische, militaristische und antidemokratische Tendenzen der evangelischen Kirchen in der Weimarer Republik vorgehen wollte. Der erste geschäftsführende Vorsitzende des Bundes, Pfarrer Erwin Eckert, forderte programmatisch, die evangelische Kirche dürfe „den aus der kapitalisti-
706 Vgl. dazu und zum Folgenden Jähnichen/Friedrich: Geschichte der sozialen Ideen, S. 1009–1012. 707 Vgl. dazu und zum Folgenden Meckenstock: Wirtschaftsethik, S. 123. 708 Georg Wünsch: Wirtschaftsethik. In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. 2., völlig neubearb. Aufl . Bd. 5. Tübingen 1931, Sp. 1964–1971, 1967. Vgl. zudem Georg Wünsch: Religion und Wirtschaft. Tübingen 1925, S. 11. 709 Vgl. Meckenstock: Wirtschaftsethik, S. 123. Vgl. auch Daniel Dietzfelbinger: Praxisleitfaden Unternehmensethik. Kennzahlen, Instrumente, Handlungsempfehlungen. Wiesbaden 2008, S. 316. 710 Vgl. dazu und zum Folgenden Meckenstock: Wirtschaftsethik, S. 124.
Wirtschaftsethische Fragestellungen
139
schen Wirtschaftsform immer wieder genährten Egoismus und die kalte Gleichgültigkeit gegen das von der kapitalistischen Wirtschaftsform verursachte Elend nicht dulden“, sondern müsse „laut dafür eintreten, daß eine bessere, dem Brudersinn Jesu entsprechende Gestaltung unseres Wirtschaftslebens“ eintrete.711 Die verfassten Kirchentümer definierten in der Weimarer Republik ebenfalls verstärkt die soziale Verantwortung als kirchliche Aufgabe.712 Entsprechend wurden Sozialausschüsse auf allen synodalen Ebenen eingerichtet und in einer bisher ungekannten Breite alle wirtschaftlichen und sozialen Konfliktfelder der Weimarer Zeit diskutiert. Aus der Arbeit der „Konferenz der hauptamtlichen Sozialpfarrer“ des Evangelischen Kirchenbundes gingen 1925 die so genannten Eisenacher Richtlinien hervor. Dort heißt es, dass „die Verkündigung des Wortes vom Gesichtspunkte der sozialen Aufgabe aus […] tiefgreifende und klare Erkenntnis der sozialen Tatbestände und ihrer Zusammenhänge“ erfordere.713 „Zentrale Erfordernis“ sei daher „wissenschaftliche Arbeit an den hier erwachsenen Fragen zur Herausstellung einer evangelischen Soziallehre, also sozialwissenschaftliche und theologische Arbeit“, die nicht zwingend von einem Pfarrer geleistet werden müsse.714 Vorausgegangen war die vom Betheler Kirchentag des Deutschen Evangelischen Kirchenbundes 1924 formulierte „Soziale Botschaft“ an Kirche und Öffentlichkeit, welche die erste ausführliche Auseinandersetzung der Kirchenöffentlichkeit mit sozialen und ökonomischen Fragen darstellte.715 Die Betheler Botschaft hat dabei ihren Schwerpunkt in empirisch-kritischer Analyse der Gegenwart, wobei sie in erster Linie personal- und berufsethisch argumentiert. Dabei wird unter Verweis auf die „Verschärfung der sozialen Gegensätze“ vor allem auf ein verändertes Bewusstsein der Christen abgestellt, von dem sich der Kirchenbund eine Verbesserung der sozialen Situation der Schwächeren sowie der Kommunikationsstruktur der Verantwortlichen verspricht.716 Das Wirtschaftsordnungsproblem bleibt dabei allerdings ebenso weitgehend außen vor wie die liberal-sozialen und religiös-sozialistischen Anregungen der sozialethischen Diskussion der Zeit. Lediglich auf die Kämpfe um die „Ausgestaltung und Fortentwicklung der wirtschaftlichen Ordnungen“ wird verwiesen, die zwar ihre Berechtigung hätten, wobei es aber besonders auf 711 Zit. nach: Johannes Kandel: Theorien der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik – Religiöser Sozialismus. In: Thomas Meyer u.a. (Hg.): Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Lernund Arbeitsbuch. Darstellung, Chronologie, Dokumente. Bd. 2. Bonn 1984 (= Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe 207), S. 455–483, 458. 712 Vgl. wie auch zum Folgenden Brakelmann: Christliche Kirchen. Evangelisch, S. 727. 713 Leitsätze des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses für die soziale Aufgabe der Kirche (1925). In: Günter Brakelmann/Traugott Jähnichen (Hg.): Die protestantischen Wurzeln der Sozialen Marktwirtschaft. Ein Quellenband. Gütersloh 1994, S. 266–268, 266. 714 Leitsätze des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses für die soziale Aufgabe der Kirche (1925), S. 266. 715 Vgl. dazu und zum Folgenden Brakelmann: Christliche Kirchen. Evangelisch, S. 727f. 716 Soziale Botschaft und Entschließung des Deutschen Evangelischen Kirchentages von 1924 in Bethel. In: Brakelmann/Jähnichen (Hg.): Die protestantischen Wurzeln der Sozialen Marktwirtschaft, S. 268–273, 271.
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Wirtschaften und Ethik in der Geschichte der christlichen Religion
den Geist ankomme, „in dem diese Kämpfe geführt werden“.717 Die „Erfahrungen der letzten Jahre“ hätten gezeigt, dass „alle Versuche, das wirtschaftliche Leben allein auf äußeren sozialen Forderungen und Maßnahmen aufzubauen“, scheiterten und nicht zum Frieden führten.718 „Wahrhaft soziale Gesinnung“ entstamme indes aus dem christlichen Glauben, „mit dem die Ueberzeugung von dem unvergleichlichen Wert der Menschenseele, die Pflicht zur Brüderlichkeit und zum opferwilligen Dienen, das Bewußtsein der Verantwortung vor Gott und als oberstes Ziel das Reich Gottes“ gegeben sei.719 Nur auf „christlichem Boden“ seien dementsprechend die sozialen Forderungen „vernünftig und […] ihre Verwirklichung möglich“.720 Diese Verwirklichung setze zwar „eine feste wirtschaftliche Ordnung voraus“, doch können diese Ordnung „nur dann soziale Gerechtigkeit bringen“, wenn sie beachte, „daß der Mensch unendlich wichtiger ist als alle Sachwerte“.721 „Mit ernster Sorge“ betrachtet die Botschaft die zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern entbrennenden „Kämpfe“, die das Potential hätten, „die Volksgemeinschaft, die gegenwärtig doppelt nottut, zu zerreißen und Deutschlands Gesundung und Aufstieg zu vereiteln“.722 Trotz Berufung zu gemeinsamer Arbeit und Angewiesenheit aufeinander stünden sich beide Gruppen „vielfach fremd oder gar feindlich gegenüber“ und „Ueberhebung und Machtbewußtsein, Neid und Mißgunst, hüben und drüben Verständnislosigkeit und Bitterkeit“ herrschten vor.723 Gespeist würde dieses „Unheil(s)“ durch den „materialistische[n] Geist, der das Leben nach Geldverdienen und Genuß“ einschätze, „die Einzel- und Klassenselbstsucht unheimlich groß“ werden ließe und „nicht selten sogar das Gewissen des einzelnen unter den Willen der Masse oder einer Vereinigung“ knechte. 724 Dieser materialistische Geist stünde dem Frieden entgegen, der nur aus „der christlichen Einschätzung des Lebens und wirklicher Brüderlichkeit“ erwachsen könne.725
717 Soziale Botschaft thel, S. 271. 718 Soziale Botschaft thel, S. 271. 719 Soziale Botschaft thel, S. 271. 720 Soziale Botschaft thel, S. 271. 721 Soziale Botschaft thel, S. 271. 722 Soziale Botschaft thel, S. 271. 723 Soziale Botschaft thel, S. 271f. 724 Soziale Botschaft thel, S. 272. 725 Soziale Botschaft thel, S. 272.
und Entschließung des Deutschen Evangelischen Kirchentages von 1924 in Beund Entschließung des Deutschen Evangelischen Kirchentages von 1924 in Beund Entschließung des Deutschen Evangelischen Kirchentages von 1924 in Beund Entschließung des Deutschen Evangelischen Kirchentages von 1924 in Beund Entschließung des Deutschen Evangelischen Kirchentages von 1924 in Beund Entschließung des Deutschen Evangelischen Kirchentages von 1924 in Beund Entschließung des Deutschen Evangelischen Kirchentages von 1924 in Beund Entschließung des Deutschen Evangelischen Kirchentages von 1924 in Beund Entschließung des Deutschen Evangelischen Kirchentages von 1924 in Be-
Wirtschaftsethische Fragestellungen
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Indem sie eine substantielle Auseinandersetzung mit der Ordnung des Systems umging und sich statt dessen auf eine klassische berufsethische Argumentation beschränkte, blieb die evangelische Kirche so trotz der inhaltlichen Bedeutung der Betheler Botschaft in gewisser Weise hinter dem zur damaligen Zeit bereits erreichten sozialethischen Diskussionsstand zurück.726 1.3.5.5
Grundlinien der evangelischen Wirtschaftsethik nach dem Zweiten Weltkrieg
Die Teilung Deutschlands führte zu völlig unterschiedlichen Entwicklungen in den Besatzungszonen: Dem in der US-amerikanischen, britischen und französischen Besatzungszone etablierten marktwirtschaftlichen System stand die Zentralverwaltungswirtschaft in der russischen Besatzungszone antagonistisch gegenüber. Für die wirtschaftsethischen Überlegungen zur Neuordnung des Wirtschaftssystems nach dem Zweiten Weltkrieg waren vor allem die Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Diktatur prägend.727 Während des Nationalsozialismus erlebte die Entwicklung wirtschaftsethischer Positionen auf Basis eines reformatorischen Welt- und Gesellschaftsbildes einen Höhepunkt.728 Vor allem die Denkschrift des Freiburger Bonhoeffer-Kreises vom Januar 1943 unter dem Titel Politische Gemeinschaftsordnung. Ein Versuch zur Selbstbesinnung des christlichen Gewissens in den politischen Nöten unserer Zeit war für die Zukunft von besonderer Bedeutung. Mitglieder des bürgerlich-christlichen Widerstands und der Bekennenden Kirche wie der Ökonom Franz Böhm, der Theologe Constantin von Dietze, die Ökonomen Walter Eucken und Adolf Lampe sowie der Politiker Carl Friedrich Goerdeler, der Unternehmer Walter Bauer, der Historiker Gerhard Ritter, der Jurist Erik Wolf und die theologischen Berater Helmut Thielicke und Otto Dibelius entwickelten das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft programmatisch und interdisziplinär aus ihrem Selbstverständnis als Christen, indem sie unter Einsatz ihres Lebens ihre Mitverantwortung für einen zukünftigen Rechts- und Sozialstaat auf Basis einer freiheitlichen und sozialen Wirtschafts- und Sozialordnung formulierten. Die Erfahrungen mit dem ungenügenden individualistisch strukturierten Wirtschaftsliberalismus des 19. Jahrhunderts, mit der ordnungspolitischen Konzeptlosigkeit und Handlungsschwäche des Weimarer Staates, die eine Dominanz großindustrieller und großagrarischer Interessen nach sich zog, auf der einen Seite und auf der anderen Seite mit den Folgen der kommunistischen Zentralwirtschaft als bolschewistische Alternative zum Industriekapitalismus sowie unter dem Eindruck der völligen systematischen Aufhebung von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit und vollständiger Entwürdigung, Entmenschlichung und Instrumentalisierung des
726 Vgl. Brakelmann: Christliche Kirchen. Evangelisch, S. 728. 727 Vgl. Meckenstock: Wirtschaftsethik, S. 124. 728 Vgl. dazu und zum Folgenden Brakelmann: Christliche Kirchen. Evangelisch, S. 729.
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Wirtschaften und Ethik in der Geschichte der christlichen Religion
Individuums im totalitären NS-Staat führten zur Entwicklung einer Ordnungsalternative, die dem christlichen Menschenbild der Gruppe, den christlichen Grundsätzen von Ethik und Moral sowie den Prinzipien des europäischen Humanismus gleichermaßen entsprechen sollte.729 Es ging ihnen dabei nicht um einen akademischen Diskurs, sondern um die Entwicklung gangbarer Wege in eine neue humane Ordnung von Wirtschaft, Gesellschaft und Staat.730 Neben der Restituierung eines handlungsfähigen Rechtsstaates strebten sie nach einer Neubestimmung der Person in der Ökonomie und komplementär der Rolle der staatlichen Wirtschaftsund Sozialpolitik. Die Denkschrift spricht beinahe alle wichtigen Komplexe, die im Zusammenhang mit Wirtschaftsordnungsfragen stehen, an. Immer wieder versucht sie dabei, einen Bezug zwischen den beiden wesentlichen Zielen Freiheit der Person und Gerechtigkeit in der Gesellschaft herzustellen: Es wird das Bestreben geäußert, „eben sowohl das Extrem des wirtschaftlichen Kollektivs mit seinen seelisch verwüstenden Wirkungen zu vermeiden wie die Wirtschaftsanarchie eines einseitig und falsch verstandenen Wirtschaftsliberalismus, der dem privaten Egoismus schlechthin alles überläßt und auf eine prästabilierte Harmonie aller Wirtschaftsegoismen vertraut“. Ziel ist die Anregung der „selbständige[n] Initiative und Freiheit der Wirtschaftenden“, die aber „zuchtvoll gebändigt“ und „in den Rahmen einer festen und streng überwachten Gesamtordnung“ eingefügt werden müsse, was dem „Grundgedanken unserer gesamten Ausarbeitung“ entspräche, „die den Personalcharakter des Menschen nur im Rahmen einer wahren Gemeinschaftsordnung gesichert sieht“.731 Dieser Intention der Denkschrift entspricht auch die wenig später von Alfred Müller-Armack aufgestellte Forderung: „Was wir verlangen, ist eine neu zu gestaltende Wirtschaftsordnung.“732 So eine Ordnung könne „nie aus dem Zweckdenken und überalterten politischen Ideen allein vorgehen“, sondern bedürfe „der tieferen Begründung durch sittliche Ideale, welche ihr erst die innere Berechtigung“ verliehen.733 „Zwei großen sittlichen Zielen fühlen wir uns verpflichtet, der Freiheit und der sozialen Gerechtigkeit.“734 Entsprechend müsse „die soziale Gerechtigkeit mit und neben der Freiheit zum integrierenden Bestandteil unserer künftigen Wirtschaftsordnung erhoben werden“.735
729 Vgl. Brakelmann: Christliche Kirchen. Evangelisch, S. 730. 730 Vgl. wie auch zum Folgenden Brakelmann: Christliche Kirchen. Evangelisch, S. 731. 731 Freiburger Bonhoeffer-Kreis: In der Stunde Null. Die Denkschrift des Freiburger „Bonhoeffer-Kreises“: Politische Gemeinschaftsordnung. Ein Versuch zur Selbstbestimmung des christlichen Gewissens in den politischen Nöten unserer Zeit. Eingel. von Helmut Thielicke. Mit einem Nachw. von Philipp von Bismarck. Tübingen 1979, S. 91. 732 Alfred Müller-Armack: Vorschläge zur Verwirklichung der Sozialen Marktwirtschaft [1948]. In: Ders.: Genealogie der Sozialen Marktwirtschaft. Frühschriften und weiterführende Konzepte. 2., erw. Aufl. Bern u.a. 1981 (= Beiträge zur Wirtschaftspolitik 34), S. 90–109, 90. 733 Müller-Armack: Vorschläge zur Verwirklichung der Sozialen Marktwirtschaft, S. 90. 734 Müller-Armack: Vorschläge zur Verwirklichung der Sozialen Marktwirtschaft, S. 90. 735 Müller-Armack: Vorschläge zur Verwirklichung der Sozialen Marktwirtschaft, S. 91.
Wirtschaftsethische Fragestellungen
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Aus diesen Vorstellungen ging das in der sog. Freiburger Schule vom Nationalökonomen und Religionssoziologen Alfred Müller-Armack später als „Soziale Marktwirtschaft“ bezeichnete, als eine mit „sozialer Gerechtigkeit […] in einem komplementären Verhältnis“ stehende Marktwirtschaft entwickelte und von Ludwig Erhard politisch umgesetzte Konzept hervor.736 1948 erläuterte der spätere Bundeswirtschaftsminister und Bundeskanzler Ludwig Erhard, dass man „mit der wirtschaftspolitischen Wendung von der Zwangswirtschaft hin zur Marktwirtschaft […] mehr getan“ habe, „als nur eine engere wirtschaftliche Maßnahme in die Wege geleitet“.737 Vielmehr sei das „gesellschaftswirtschaftliche(s) und soziale(s) Leben auf eine neue Grundlage und vor einen neuen Anfang gestellt“ worden.738 Dazu habe man der „Intoleranz, die über die geistige Unfreiheit zur Tyrannei und zum Totalitarismus“ führt, abschwören und zu einer Ordnung gelangen müssen, die „durch freiwillige Einordnung, durch Verantwortungsbewußtsein in einer sinnvoll organischen Weise zum Ganzen“ entsprechend eines „organisch verantwortungsbewußten Staatsdenken[s]“ strebe.739 Die „geistige Grundlage“ für diesen Staat, auf der man „eine neue Wirtschaft, eine neue gesellschaftliche Ordnung aufbauen“ wolle, gründe sich auf die „Freiheit des Individuums, zusammenstrebend zu einem höheren Ganzen“.740 Die Idee der Sozialen Marktwirtschaft erscheint bei ihren Vätern als Alternative sowohl zur kommunistischen Planwirtschaft als auch zur nationalsozialistischen Kommandowirtschaft, besonders aber auch als Gegenmodell zu jeder Form eines Laissez-faireKapitalismus.741 Um ein freiheitliches Marktsystem und ein gerechteres Sozialsystem zu gewährleisten und einen Ausgleich zwischen beiden sicherzustellen, kommt dem Staat die sog. Ordo-Funktion zu: Das bedeutet, dass er in letzter Zuständigkeit die ordnungspolitische Aufgabe zu erfüllen hat, die Marktwirtschaft einerseits durch Rahmenbedingungen so zu begrenzen, dass ein anarchischer Wettbewerb und eine übermäßige Machtakkulumation zuungunsten der Schwächeren verhindert wird, und andererseits eine Wettbewerbsordnung zu realisieren, die der Dynamik des Marktes förderlich ist. Das bedeutet Wirtschaftspolitik zur Gestaltung der Wirtschaftsordnung, nicht aber staatliche Lenkung des Wirtschaftsprozesses. Staatliche Ordnungspolitik hebt den Markt folglich nicht auf, sondern kontrolliert als Sachwalter dessen Funktionsfähigkeit zur Erreichung des Gemeinwohls. Dass der politische Ordnungswille des Staates Priorität insbesondere auch gegenüber
736 Friedrun Quaas: Soziale Marktwirtschaft. Wirklichkeit und Verfremdung eines Konzepts. Bern 2000 (= Beiträge zur Wirtschaftspolitik 74), S. 55. 737 Ludwig Erhard: Die neuen Tatsachen. In: Wolfgang Stützel u.a. (Hg.): Grundtexte zur Sozialen Marktwirtschaft. Zeugnisse aus zweihundert Jahren ordnungspolitischer Diskussion. Stuttgart u.a. 1981, S. 47–48, 47. 738 Erhard: Tatsachen, S. 47. 739 Erhard: Tatsachen, S. 47. 740 Erhard: Tatsachen, S. 47. 741 Vgl. dazu und zum Folgenden auch Brakelmann: Christliche Kirchen. Evangelisch, S. 732.
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Wirtschaften und Ethik in der Geschichte der christlichen Religion
der Wirtschaft haben müsse, war bei den Vätern der Sozialen Marktwirtschaft unbestritten. Ein wesentliches anthropologisches Element der inneren Textur der Sozialen Marktwirtschaft stellt ein konsequent personales Verständnis des Menschen dar, das stets mit dem Gedanken der Sozialpflichtigkeit des Ökonomischen sowie der zwischenmenschlichen Solidarität eng verbunden erscheint.742 Der Mensch ist dabei gleichermaßen durch Eigeninteresse und Verantwortungsbewusstsein für das Gemeinwohl sowie sich selbst und seine Nächsten gekennzeichnet. Die Begründung und Entwicklung der Ordnung der Sozialen Marktwirtschaft und des deutschen Sozialstaats entstand unter maßgeblichem Einfluss und wesentlicher Beteiligung der evangelischen Sozialethik und ihrer Protagonisten.743 Günter Brakelmann und Traugott Jähnichen beschreiben in ihrem Quellenband Die protestantischen Wurzeln der Sozialen Marktwirtschaft das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft als „in wesentlichen Zügen von den sozialethischen Traditionen des Protestantismus mitbestimmt“.744 So ließe sich „für die unmittelbare Nachkriegszeit […] diese These sogar dahingehend zuspitzen, dass eine Verbindungslinie zwischen der sozialethischen Diskussion des Protestantismus und der Begründung des Konzepts ‚Soziale Marktwirtschaft‘“ bestehe.745 Im Gegensatz „zur sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Forderung nach einer gelenkten Wirtschaft und dem im sozialen Katholizismus mehrheitlich propagierten ‚christlichen Sozialismus‘ einerseits und im Unterschied zur von den liberalen Parteien geforderten freien Marktwirtschaft andererseits“ seien es besonders „in der Tradition des sozialen Protestantismus stehende Theoretiker, die eine neue Synthese sozialer Verantwor742 Vgl. dazu und zum Folgenden Brakelmann: Christliche Kirchen. Evangelisch, S. 734. 743 Vgl. dazu und zum Folgenden Graf: Stellenwert der Religion, S. 657. Vgl. dazu ebf. Gerhard Besier: Die Rolle der Kirchen im Gründungsprozeß der Bundesrepublik Deutschland. Lüneburg 2000 (= Lüneburger Universitätsreden 2); sowie ders.: Die politische Rolle des Protestantismus in der Nachkriegszeit. In: Beilage zu Das Parlament 50 (2000), S. 29–38.Vgl. grundlegend zur Etablierung der Sozialen Marktwirtschaft und Begründung des deutschen Sozialstaats sowie zu den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der Nachkriegszeit, auf die in diesem Rahmen nicht ausführlicher eingegangen werden kann, z.B. Christoph Kleßmann: Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945–1955. Bonn 51991 (= Bundeszentrale für Politische Bildung, Schriftenreihe: Studien zur Geschichte und Politik 298); vgl. ebf. Winkler: Der lange Weg nach Westen. Bd. 2, S. 116–205; sowie Gerold Ambrosius: Die Durchsetzung der Sozialen Marktwirtschaft in Westdeutschland 1945–1949. Stuttgart 1977; vgl. ebf. Quaas: Soziale Marktwirtschaft. Wirklichkeit und Verfremdung eines Konzepts; vgl. überdies Uta Gerhardt: Soziologie der Stunde Null. Zur Gesellschaftskonzeption des amerikanischen Besatzungsregimes in Deutschland 1944–1945/6. Frankfurt a.M. 2005 (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1768); vgl. darüber hinaus zur politischen Kultur in der Gründungs- und Anfangsphase der Bundesrepublik Sebastian Ullrich: Der WeimarKomplex. Das Scheitern der ersten deutschen Demokratie und die politische Kultur der frühen Bundesrepublik. Göttingen 2009. 744 Günter Brakelmann/Traugott Jähnichen: Einleitung. Protestantische Wurzeln der Sozialen Marktwirtschaft. In: Diesn. (Hg.): Die protestantischen Wurzeln der Sozialen Marktwirtschaft. Ein Quellenband. Gütersloh 1994, S. 13–17, 13. 745 Brakelmann/Jähnichen: Einleitung. Protestantische Wurzeln der Sozialen Marktwirtschaft, S. 13.
Wirtschaftsethische Fragestellungen
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tung und marktwirtschaftlicher Effizienz“ angestrebt hätten.746 Die Soziale Marktwirtschaft erscheint so als historisch bestimmtes Konstrukt, das in einer langen geistesgeschichtlichen Kontinuitätslinie „als Antwort auf spezifische Probleme einer bestimmten Zeit“ zu verstehen ist.747 Müller-Armack selbst verwies auf die Kontinuitätslinien in den wissenschaftlichen Ursprüngen der Systematik: So habe „lange geistige Vorbereitung […] zu dieser modernen Lösung einer freien und sozialen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung“ geführt.748 Während und besonders nach dem Zweiten Weltkrieg gab unter anderem der Freiburger Nationalökonom Constantin von Dietze der evangelischen Sozialethik bedeutende Impulse.749 Zur Zeit des Nationalsozialismus hatte sich von Dietze in der Bekennenden Kirche und im Freiburger Kreis, einem Zusammenschluss von ordoliberalen Wirtschaftswissenschaftlern, Juristen und einer Reihe von evangelischen und katholischen Christen, die aus Anlass der Novemberpogrome im Jahr 1938 in einem oppositionellen Gesprächskreis zusammenkamen, engagiert und sich seitdem für eine von der christlichen Ethik bestimmte neue Wirtschaftsordnung eines demokratischen Deutschlands eingesetzt. Nachdrücklich unterstützte von Dietze das die Sozial- und Wirtschaftsordnung der jungen Bundesrepublik bestimmende Programm der Sozialen Marktwirtschaft, das die staatliche Ordnungspolitik so auszugestalten suchte, dass individuelle Freiheit und soziale Gerechtigkeit miteinander verknüpft und die wettbewerblichen Eigeninitiativen für den sozialen Fortschritt genutzt würden.750 In seinem 1941 in Alpirsbach vor der Gesellschaft für Nationalökonomie gehaltenen und 1947 veröffentlichten Vortrag Nationalökonomie und Theologie beschrieb von Dietze historisch und systematisch die Zusammenhänge zwischen Nationalökonomie und christlicher Theologie. Darin beklagt er die positivistische Ausrichtung der Nationalökonomie seit der Jahrhundertwende, die zu einem Unverhältnis zur Theologie geführt habe.751 Die Nationalökonomie begreift von Dietze als Ordnungswissenschaft, die darstelle, wie eine optimale Bedarfsdeckung mit einem möglichst geringen Mitteleinsatz erzielt werden könne.752 Da er die Gerechtigkeit – auch unter 746 Brakelmann/Jähnichen: Einleitung. Protestantische Wurzeln der Sozialen Marktwirtschaft, S. 13. 747 Knut Borchardt: Die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft in heutiger Sicht. In: Otmar Issing (Hg.): Zukunftsprobleme der sozialen Marktwirtschaft. Verhandlungen auf der Jahrestagung des Vereins für Socialpolitik, Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in Nürnberg. Berlin 1981 (= Schriften des Vereins für Socialpolitik. N.F. 116), S. 33–53, 35. Vgl. dazu auch Ralf Ptak: Vom Ordoliberalismus zur Sozialen Marktwirtschaft. Stationen des Neoliberalismus in Deutschland. Opladen 2004, bes. S. 228f. 748 Alfred Müller-Armack: Die wissenschaftlichen Ursprünge der Sozialen Marktwirtschaft [1973]. In: Ders.: Genealogie der Sozialen Marktwirtschaft. Frühschriften und weiterführende Konzepte. 2., erw. Aufl. Bern u.a. 1981 (= Beiträge zur Wirtschaftspolitik 34), S. 176–184, 178. 749 Vgl. hierzu und zum Folgenden Meckenstock, S. 174. 750 Vgl. Meckenstock: Wirtschaftsethik, S. 124f. Vgl. ebf. Meckenstock: Wirtschaftsethik VI. Ethisch, S. 174. 751 Vgl. Meckenstock: Wirtschaftsethik, S. 124f. 752 Vgl. dazu und zum Folgenden Meckenstock: Wirtschaftsethik, S. 125.
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Wirtschaften und Ethik in der Geschichte der christlichen Religion
den Erfahrungen des Nationalsozialismus – durch eine Selbstvergötzung weiter Teile der Sozialökonomie und des gesellschaftlichen Lebens bedroht sieht, erachtet er unter Bezugnahme auf Luther und den Gedanken der creatio continua die Erhaltungs- und Bewahrungsordnung auch für das Wirtschaften als maßgeblich. Nach Meinung von Dietzes könne die Theologie für die Nationalökonomie vor allem in anthropologischen Aussagen über das Verhalten und die Natur der Menschen sowie in sozialtheoretischen Aussagen bezüglich weltlicher Ordnungen und des Persönlichkeitswertes der Menschen einen wichtigen Beitrag leisten. Die Nationalökonomie wiederum liefere der Theologie Aussagen über die faktischen gesellschaftlichen Zustände der Gegenwart.753 Die Grundzüge einer christlich bestimmten Sozialwirtschaftsethik erläuterte von Dietze in seinem im Herbst 1947 vor der evangelischen Akademie in Bad Boll gehaltenen und 1947 erschienenen Vortrag Eigengesetzlichkeit und Verantwortlichkeit in der Wirtschaft.754 Darin lehnt er eine vollständige Autonomie der Wirtschaftsordnung ab. Jede Wirtschaftsordnung müsse an moralische Kategorien der Verantwortlichkeit gebunden bleiben, die sich aus Gottesfurcht, Nächstenliebe und den Zehn Geboten herleiten ließen. Von Dietze optiert für eine planmäßige, in sich nach Wettbewerbskriterien gegliederte Gesamtordnung der Wirtschaft, die auch die rechtliche und soziale Rahmenordnung umfasst. Durch Individualisierung, Dezentralisierung und Einzelentscheidung sieht er den besten Schutz vor totalitären Ansprüchen gewährleistet.755 Zudem vertrage sich die Wettbewerbswirtschaft am Besten mit politischer Dezentralisierung, die für eine echte Demokratie charakteristisch sei. Eine gerechte Preis- und Lohnbildung stelle ein geeignetes Mittel gegen Ausbeutung dar, mit der optimalen Güterversorgung bestehe zudem die Aussicht auf die Überwindung von Armut und Massenarbeitslosigkeit. Der Staat habe mit einer aktiven Wirtschaftspolitik zum einen das Funktionieren des Marktes zu sichern, müsse aber zum anderen Monopolisierungstendenzen durch eigenes wirtschaftliches Engagement unterbinden.756 In einer ebenfalls aktiven Sozialpolitik habe der Staat jedem Gruppenegoismus entgegenzuwirken und müsse sich am Wohnungsmarkt, für die betriebliche Mitbestimmung sowie den Gesundheitsschutz einsetzen.757 Von wesentlicher Bedeutung für die neuere wirtschaftsethische Debatte waren die Arbeiten des Schweizer Sozialethikers Arthur Rich, der in seiner 1984 und 1990 veröffentlichten zweibändigen Wirtschaftsethik die beiden divergierenden sozialethischen Grundkategorien des Menschengerechten und des Sachgemäßen unter dem Kriterium der Lebensdienlichkeit bündelt.758 Durch das Sachgemäße werde diejenige Wirtschaftsweise gefördert, die auch dem Menschengerechten zugute 753 Vgl. Meckenstock: Wirtschaftsethik, S. 125. 754 Vgl. hierzu und zum Folgenden Meckenstock: Wirtschaftsethik, S. 125. 755 Vgl. Meckenstock: Wirtschaftsethik VI. Ethisch, S. 174f. 756 Vgl. Meckenstock: Wirtschaftsethik VI. Ethisch, S. 175. 757 Vgl. Meckenstock: Wirtschaftsethik, S. 126.
Wirtschaftsethische Fragestellungen
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komme.759 Das Menschengerechte verleihe dem Sachgemäßen den vernünftigen Rahmen und die angemessene Zielsetzung. Rich wendet sich dabei explizit gegen eine „in der Sozialwissenschaft seit Max Weber […] bis heute vorherrschende Tendenz, das Sachgemäße vom Menschengerechten abzulösen, um es möglichst ‚wertfrei‘ zu bestimmen“.760 Das Spannungsverhältnis zwischen Ethik und Ökonomie fasst Rich in der These zusammen: „Was nicht sachgemäß ist, kann auch nicht, im umfassenden Sinn des Wortes, menschendienlich sein.“761 Um eine echte Vermittlung zwischen Ethik und Ökonomie zu realisieren, müsse sich die Sozialethik bei der Vermittlung zwischen dem Absoluten und dem Relativen, dem Letzten und dem Vorletzten um das „Sachgemäße“ bemühen, da die Sozialethik „ohne hinreichende Sachkenntnis […] jegliche Legitimität“ verliere, „zur Sache zu reden“.762 Sie werde dann „bestenfalls zur Lieferantin utopischer Gesellschaftsentwürfe“ und liefere keinen „konstruktive[n] und mithin gangbare[n] Beitrag zum Aufweis realer Gestaltungsmöglichkeiten auf menschengerechtere Ordnungen hin“.763 Zur Lösung des Vermittlungsproblems verfolgt Rich einen „existenzial-eschatologischen“ theologischen Ansatz, der die präskriptiven „Kriterien des Menschengerechten“ freisetzt (für Rich handelt es sich bei den in vorempirischen Werthaltungen und fundamentalen Sinngewissheiten gründenden Kriterien um Geschöpflichkeit, kritische Weltwahrnehmung, relative Rezeption von Weltverbesserungsimpulsen, Relationalität der Werte, dialogische Mitmenschlichkeit, Mitgeschöpflichkeit, Partizipation an den Sozialstrukturen), anhand derer er in der Auseinandersetzung mit dem „Sachgemäßen“ zu operationalen sozialethischen „Maximen“ als praxisorientierte wirklichkeitsnahe Anweisungen und Handlungsnormen zur Veränderung der konkreten Wirtschaftspraxis gelangt.764 In den zurückliegenden Jahrzehnten kann eine vermehrte und intensivere Beschäftigung der evangelischen Sozialethik mit wirtschaftsethischen Themen beobachtet werden. Ende der 1980er Jahre wurde im Loccumer Arbeitskreis zur Wirtschaftsethik beispielhaft der Versuch unternommen, von Seiten der evangelischen Theologie wie der Wirtschaftswissenschaft einerseits Grundsatzfragen der Wirtschaftsethik andererseits aber auch konkrete Probleme wie die Schuldenkrise oder die zivile Nutzung der Kernkraft zu erörtern. Eilert Herms, Dietz Lange, Falk Wagner, Rolf Kramer und Alfred Jäger explizierten ihre jeweiligen wirtschaftsethischen Ansätze im Rahmen der Kolloquien und führten sie über die Tagungen hin-
758 Vgl. Meckenstock: Wirtschaftsethik VI. Ethisch, S. 175. Vgl. ebenfalls Siegfried Karg: Arthur Rich. In: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon. Bd. 8. Hamm (Westf.) 1994, Sp. 194–203. 759 Vgl. hierzu und zum Folgenden Meckenstock: Wirtschaftsethik, S. 127. 760 Arthur Rich: Wirtschaftsethik. Bd. 1: Grundlagen in theologischer Perspektive. Gütersloh 41991, S. 73. 761 Rich: Wirtschaftsethik II, S. 344. 762 Rich: Wirtschaftsethik I, S. 72. 763 Rich: Wirtschaftsethik I, S. 72. 764 Vgl. Rich: Wirtschaftsethik I, S. 222–243. Vgl. auch Meckenstock: Wirtschaftsethik, S. 129f.
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Wirtschaften und Ethik in der Geschichte der christlichen Religion
aus weiter aus.765 Wie Rich suchten auch sie nach den Bedingungen der Möglichkeit einer systematisch-theologisch begründeten protestantischen Wirtschaftsethik und deren potentiellen Aufgaben. Für Eilert Herms ist eine theologische Wirtschaftsethik dadurch gekennzeichnet, dass sie „Aussagen über den aus der Sicht des christlichen Glaubens wünschenswerten […] Zustand des gesellschaftlichen Gesamtsystems […] und über die dazu gehörige Verfassung und Funktion des Wirtschaftssystems“ machen könne.766 1986 schlägt er in seinem Beitrag Aufgaben und Probleme einer theologisch begründeten Wirtschaftsethik ein interdisziplinäres und interfakultatives schulmäßiges Dialogverfahren vor, nachdem die Wirtschaftsethik zwar Orientierungswissen zur Verfügung stellen, jedoch auf konkrete Handlungsanweisungen verzichten solle.767 Die konkreten Handlungsentscheidungen lägen beim Handelnden, dem aber entsprechende Maximen zu vermitteln seien, damit dieser die Maßnahme im Rahmen seiner Wirkungsmöglichkeiten auswähle, die den erheblichsten Beitrag zur Verwirklichung einer wünschenswerten Gesamtordnung leiste.768 Herms Ziel ist die Vernetzung der theologischen Perspektive mit der wirtschaftswissenschaftlichen Theoriebildung. Die akademische Theologie sei institutionell und organisatorisch für die Wirtschaftsethik zu öffnen und müsse Reflexionshilfe zur Beantwortung von Fragen aus der Grundüberzeugung des christlichen Glaubens geben.769 In der Entwicklung des Menschen zu seiner schöpfungsmäßigen Bestimmung und der Entfaltung des Individuums gemäß der Schöpfungsordnung erkennt er den für die Wirtschaftsethik fundamentalen Bildungsauftrag. 1.3.6 Wirtschaftsethische Stellungnahmen der Evangelischen Kirche in Deutschland Die innerkirchliche Diskussion zur Wirtschaftsethik in Deutschland findet in der evangelischen Kirche unter gänzlich anderen Vorzeichen statt als im Katholizismus: Einerseits ist dies auf die territoriale und lokale Begrenzung ihrer Landeskirchen zurückzuführen und andererseits darauf, dass die evangelische Kirche kein institutionelles kirchliches Lehramt kennt, weshalb sie sich nicht wie die katholische Soziallehre auf mit formalem autoritärem Anspruch festgelegte Texte beziehen kann.770 Auch als Konsequenz der Organisation theologischer Lehre und Forschung in den deutschen Universitäten und der zumeist vorgenommenen 765 Vgl. hierzu und zum Folgenden Ute Hermann: Vielgestaltigkeit als Wettbewerbsvorteil. Ansätze Evangelischer Wirtschaftsethik von 1970–1995. Münster 2005 (= Entwürfe zur christlichen Gesellschaftswissenschaft 16), S. 14. 766 Eilert Herms: Aufgaben und Probleme einer theologisch begründeten Wirtschaftsethik. In: Ders./Hans May (Hg.): Theologische Aspekte der Wirtschaftsethik. Bd. 1. Loccum 1986, S. 2–49, 3. 767 Vgl. Herms: Aufgaben und Probleme einer theologisch begründeten Wirtschaftsethik, S. 2–49. Vgl. dazu und zum Folgenden auch Meckenstock: Wirtschaftsethik, S. 130f. 768 Vgl. Meckenstock: Wirtschaftsethik, S. 132. 769 Vgl. dazu und zum Folgenden Meckenstock: Wirtschaftsethik, S. 131.
Wirtschaftsethische Fragestellungen
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Zusammenfassung von Dogmatik und Ethik im Fach Systematische Theologie erhielt die Wirtschaftsethik im protestantischen Diskurs kein dem Katholizismus vergleichbares Gewicht. Vielfach spielten – wie oben dargestellt – Laien eine Rolle als wichtige Impulsgeber evangelischer Wirtschaftsethik. Hinzu trat nach dem Krieg in der innerkirchlichen Diskussion eine Dominanz von Themen der politischen Ethik gegenüber wirtschaftlichen Themen: Die bestimmenden Auseinandersetzungen zur Spaltung Deutschlands, zum Ost-West-Konflikt, zur Friedensfrage, zur Wieder- und Atombewaffnung und der Systemgegensatz zwischen Kapitalismus und Sozialismus bewirkten so „eine gewisse Wirtschaftsferne der Evangelischen Kirche“.771 Während in den östlichen Landeskirchen Kritik am sozialistischen Wirtschaftssystem kaum möglich war, nahm die EKD in der Bundesrepublik an der öffentlichen Diskussion ökonomischer Themen eher mit pragmatischen, situativ bezogenen Voten als mit grundsätzlichen Überlegungen teil.772 Das zeigen auch die Themen der Denkschriften: Die erste Denkschrift Eigentumsbildung in sozialer Verantwortung von 1962 war mit der in der jungen Bundesrepublik entstandenen Eigentumsverteilung befasst. Weitere Themen von Denkschriften und Studien in den folgenden Jahrzehnten waren die Landwirtschaft, die Mitbestimmung sowie der Sozialstaat. Die Denkschrift Sozialethische Überlegungen zur Frage des Leistungsprinzips und der Wettbewerbsgesellschaft von 1978 widmete sich der Gesellschaftskritik am Leistungsgedanken und am Wettbewerb als Mittel zur Leistungssteuerung und beschäftigte sich in diesem Zusammenhang auch mit wirtschaftlichen Aspekten. Die Schwerpunkte der Äußerungen lagen auf sozialpolitischen Empfehlungen und Forderungen, so etwa auch in den Studien Solidargemeinschaft von Arbeitenden und Arbeitslosen von 1982 sowie Arbeit, Leben und Gesundheit. Perspektiven, Forderungen und Empfehlungen zum Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz von 1990 und in der Denkschrift Verantwortung für ein soziales Europa aus dem Jahr 1991. Erst 1991 wird mit der Denkschrift Gemeinwohl und Eigennutz. Wirtschaftliches Handeln in Verantwortung für die Zukunft eine prinzipielle Reflexion wirtschaftsethischer Prinzipien vorgenommen. Von besonderer Bedeutung sind auch die gemeinsamen ökumenischen Beiträge mit der katholischen Kirche wie das Gemeinsame Sozialwort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ (vgl. oben) von 1997, die allerdings keine der katholischen Sozialverkündigung vergleichbare theoretische Begründung und begriffliche Klärung voraussetzen, sondern eher appellativen Charakter haben.
770 Vgl. dazu und zum Folgenden Honecker: Moderne wirtschaftsethische Fragestellungen. Evangelische Kirchen, S. 764. 771 Honecker: Moderne wirtschaftsethische Fragestellungen. Evangelische Kirchen, S. 764. 772 Vgl. dazu wie zum Folgenden Honecker: Moderne wirtschaftsethische Fragestellungen. Evangelische Kirchen, S. 764f.
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1.3.6.1
Wirtschaften und Ethik in der Geschichte der christlichen Religion
Gemeinwohl und Eigennutz
Die 1991 vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland publizierte Denkschrift Gemeinwohl und Eigennutz widmet sich insbesondere der wirtschaftlich-sozialen Situation Deutschlands in Folge der Vereinigung der beiden deutschen Staaten und reagiert damit auf die Diagnose eines sowohl internen als auch externen Bedarfs, als evangelische Soziallehre ethisches Orientierungswissen in Hinblick auf die Bewertung und Gestaltung des Wirtschaftssystems in Deutschland zur Verfügung stellen zu müssen.773 So mache es einerseits die innerkirchliche Gesprächslage seit langem erforderlich, dass evangelische Theologie und Kirche ihr Verhältnis zur Wirtschaftsordnung klärten, andererseits müsse die evangelische Kirche nach außen darstellen, welche Lösungen sie für die Herausforderungen und krisenhaften Entwicklungen wie Arbeitslosigkeit oder drängende Fragen zum Generationenvertrag und zur Ökologie zur Verfügung stelle und nach welchen Kriterien sie diese Lösungen beurteile.774 Diese Klärung des Verhältnisses zur Wirtschaftsordnung wurde allgemein als Bejahung und Annäherung an die Soziale Marktwirtschaft interpretiert und teilweise heftig kritisiert (vgl. dazu das folgende Unterkapitel 1.3.6.1.1).775 So wird in der Denkschrift die Soziale Marktwirtschaft erstmalig theoretisch und konzeptionell gewürdigt und als positive Möglichkeit für zukunftsfähiges wirtschaftliches Handeln eingeschätzt.776 Die ökonomische Bedeutung und die ethische Bewertung von Gewinnorientierung und Wettbewerb erscheinen dabei als „dem eigentlichen Ziel der Güterversorgung dienende Instrumente“ und Ausdruck einer „spezifische[n] Rationalität ökonomischen Handelns“, die darauf ausgerichtet seien, angesichts einer angenommenen Ressourcenknappheit keine Güter zu verschwenden.777 Schon zuvor hatte 1978 die EKD-Denkschrift Leistung und Wettbewerb den Wettbewerb als Mittel der Leistungssteuerung anerkannt und gewürdigt.778 Ein wichtiger Impuls dieser Denkschrift war die Forderung, das Leistungsprinzip und den Wettbewerb auf sinnvolle Ziele auszurichten und mit dem Prinzip der mitmensch-
773 Vgl. Hermann: Vielgestaltigkeit als Wettbewerbsvorteil, S. 164. Vgl. ebf. Meckenstock: Wirtschaftsethik, S. 133. 774 Vgl. Meckenstock: Wirtschaftsethik, S. 134. 775 Vgl. Hermann: Vielgestaltigkeit als Wettbewerbsvorteil, S. 32. 776 Vgl. hierzu und zum Folgenden Leonhardt: Theologische Wirtschaftsethik im Spiegel kirchlicher Verlautbarungen, S. 200. 777 Evangelische Kirche in Deutschland (EKD): Gemeinwohl und Eigennutz. Wirtschaftliches Handeln in Verantwortung für die Zukunft. Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland. Gütersloh 1991, Nr. 150. Vgl. auch Honecker: Moderne wirtschaftsethische Fragestellungen. Evangelische Kirchen, S. 768. 778 Vgl. Evangelische Kirche in Deutschland (EKD): Leistung und Wettbewerb. Sozialethische Überlegungen zur Frage des Leistungsprinzip und der Wettbewerbsgesellschaft. Eine Denkschrift der Kammer der Evangelischen Kirche in Deutschland für Soziale Ordnung. Gütersloh 1978, S. 89–108.
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lichen Solidarität in Einklang zu bringen.779 Weder Wettbewerb noch Solidarität könnten für sich genommen das Prinzip des wirtschaftlichen Handelns sein; vielmehr müssten sie wechselseitig zueinander in Beziehung gesetzt werden, wie es im System der Sozialen Marktwirtschaft erfolge. Entsprechend wird auch in Gemeinwohl und Eigennutz die Zustimmung zu einer Sozialen Marktwirtschaft vor allem damit begründet, dass diese Ordnung diejenigen wesentlichen Rahmenbedingungen sicherstelle, die im Interesse des Gemeinwohls und der Benachteiligten Solidarität gewährleisteten: „Christen können dem Weg der Sozialen Marktwirtschaft grundsätzlich zustimmen, weil er zu der von ihrem Glauben gewiesenen Richtung des Tuns nicht in Widerspruch tritt, vielmehr Chancen eröffnet, den Impulsen der Nächstenliebe und der Gerechtigkeit zu folgen.“780 Um die Bejahung der Sozialen Marktwirtschaft zu unterstreichen, konstruiert die Denkschrift Gemeinwohl und Eigennutz einen historischen Zusammenhang zwischen christlicher Tradition und „moderne[r], rationale[r] Wirtschaftsweise“, der zur Begründung einer „Art Verantwortungsgemeinschaft“ von Kirche und Wirtschaft herangezogen wird, die insbesondere im Zeitalter der Globalisierung und „im Blick auf die internationale Verflechtung wirtschaftlichen Handelns […] unübersehbar“ und für die „weltweiten Konsequenzen erfolgreichen und folgenreichen wirtschaftlichen Handelns“ von Bedeutung seien.781 So hingen die „Anfänge der modernen rationalen Lebensführung […] mit Überzeugungen und Lebenshaltungen zusammen, die ihre Wurzeln im Christentum“ hätten „und deren moderne Umformung durch die Reformation vorbereitet worden“ sei.782 Auf eine genauere Darstellung des geschichtlichen Zusammenhangs zwischen rationaler Wirtschaftsweise und Christentum verzichtet die Denkschrift, sie bezieht sich aber wohl zumindest implizit auf die These Max Webers, dass vor allem das protestantische Christentum den Nährboden für eine Auffassung wirtschaftlichen Handelns geboten hätte, die dem Erfolgsstreben theologisch sehr viel wohlgesonnener gegenüber stand als es etwa noch die Väter der Reformation taten.783 Die wesentliche Grundlage für die positive Beurteilung ökonomischen Erfolgsstrebens bildet die in der Denkschrift vorgeschlagene Verknüpfung von Eigeninteresse und Nächstenliebe.784 So habe man „statt der Entgegensetzung von Nächstenliebe und Selbsterhaltung […] nach Formen des ‚intelligenten Eigennutzes‘ als intelligenter Nächstenliebe“ zu suchen, „in denen sich Selbsterhaltung und Sorge für sich selbst mit Fürsorge für andere und Rücksicht auf das gemeinsame Leben 779 Vgl. dazu und zum Nachfolgenden Honecker: Moderne wirtschaftsethische Fragestellungen. Evangelische Kirchen, S. 768. 780 Gemeinwohl und Eigennutz, Nr. 172. 781 Gemeinwohl und Eigennutz, Nr. 99. Vgl. Leonhardt: Verlautbarungen, S. 201f. 782 Gemeinwohl und Eigennutz, Nr. 99. 783 Vgl. Leonhardt: Verlautbarungen, S. 202f. 784 Vgl. Leonhardt: Verlautbarungen, S. 204.
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verbinden“.785 Eigennutz soll also Gemeinwohl schaffen. Diese Perspektive wird ergänzt durch den Verweis auf die „Macht der Sünde in der Übermacht des Ökonomischen“.786 Eigennutz und Gemeinwohl stünden nicht per se in einem ausgewogenen Verhältnis.787 Eine sich selbst überlassene ökonomische Vernunft kann auch zur Folge haben, dass „das wirtschaftliche Handeln und sein Erfolg selbst zum Inhalt des Handeln werden“.788 Da das Leben „mehr als Ökonomie“ sei, müsse „einer vollständigen Ökonomisierung des Lebens widerstanden werden“.789 Aus diesem Grund und angesichts einiger akuter sozialer und ökologischer Krisenerscheinungen fordert die Denkschrift die „Fortentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft“.790 Dieses Ziel stelle auch „Anforderungen an das politische System“791, wobei hier ökologische Forderungen klar in den Vordergrund rücken: Durch eine Integration ökologischer Elemente in die Ziele der Sozialen Marktwirtschaft erhofft sich die Denkschrift, dass „die Bewahrung der Schöpfung zu einem mitentscheidenden Element der Politik, der Verantwortung auf allen Ebenen wirtschaftlichen Handelns und der Rechtsprechung“ werden könne.792 Diese politische Umorientierung, so wird eingeräumt, müsse jedoch auch „mit dem Kriterium wirtschaftlicher Effizienz und den Verträglichkeitskriterien in einem öffentlichen und überprüfbaren Prozess der Meinungs-, Urteils- und Willensbildung“ in Einklang gebracht werden können. Trotz der einseitigen Fokussierung auf ökologische Ziele enthält die Denkschrift bereits wesentliche Elemente einer Nachhaltigkeitskonzeption und auch die Berücksichtigung von Stakeholderinteressen bzw. die Andeutung der Einflussmöglichkeiten der Stakeholder taucht hier zu einem auffallend frühen Zeitpunkt auf. Diese Ideen sollten in der jüngsten Denkschrift aus dem Jahr 2008 aufgenommen und weiter spezifiziert werden (vgl. unten). 1.3.6.1.1
Das schwierige Verhältnis der Evangelischen Kirche zu Kapitalismus und Sozialer Marktwirtschaft
Die prinzipielle Bejahung der Sozialen Marktwirtschaft in Gemeinwohl und Eigennutz stellte auch zu Beginn der 1990er Jahre noch keineswegs eine Selbstverständlichkeit dar, worauf die teilweise scharfe Kritik an der Denkschrift hindeutet.793 Der Heidelberger Befreiungstheologe und Wissenschaftsethiker Ulrich Duchrow etwa warf dem Schreiben vor, die christlich unumgehbar geforderte „Entschei-
785 Gemeinwohl und Eigennutz, Nr. 147. 786 Gemeinwohl und Eigennutz, Nr. 159–164. 787 Vgl. hierzu und zum Folgenden Leonhardt: Verlautbarungen, S. 204f. 788 Gemeinwohl und Eigennutz, Nr. 180. 789 Gemeinwohl und Eigennutz, Nr. 180. 790 Gemeinwohl und Eigennutz, Nr. 172. 791 Gemeinwohl und Eigennutz, Nr. 183–185. 792 Gemeinwohl und Eigennutz, Nr. 190. 793 Vgl. Leonhardt: Verlautbarungen, S. 201.
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dung zwischen Jahwe und Baal, zwischen Gott und Mammon“ zu verweigern. 794 Noch in der gemeinsamen Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche und der Deutschen Bischofskonferenz Grundwerte und Gottes Gebot aus dem Jahr 1979 vertraten die Kirchen eine vergleichbare Haltung und kritisierten basierend auf einer Aktualisierung des siebten Dekaloggebots und im Namen der biblisch-christlichen Tradition eine an privatem Eigennutz orientierte Lebenseinstellung.795 Damit befand sich die Kirche in einer Tradition der evangelischen Soziallehre, deren Konzeptionen im 20. Jahrhundert „weithin antikapitalistisch oder kapitalismuskritisch angelegt“ waren.796 Bereits während der Weimarer Zeit hatten die Positionen des Religiösen Sozialismus starken Zuspruch erfahren (vgl. oben). 1947 formulierte der Berliner Bischof Otto Dibelius die Ablehnung des Kapitalismus als Wirtschaftsform, „die vor den Forderungen des Evangeliums bestehen könnte“, und plädierte statt dessen für einen „christlichen Sozialismus“, den er aber nicht als Staatssozialismus verstand.797 Andere Vertreter der evangelischen Sozialethik wie Helmut Gollwitzer unterstützten den marxistischen Sozialismus.798 Immer wieder betonten evangelische Sozialethiker auf der Basis eines substantiellen, kommunitären Freiheitsverständnisses deutliche Grenzen für die freie ökonomische Tätigkeit des Einzelnen.799 Nach Graf entspricht dies einer über das 19. und 20. Jahrhundert zu beobachtenden Tendenz in der evangelischen Sozialethik, wonach bürgerlich-liberale Kulturwerte stets sozialkonservativ relativiert wurden. Durch Sozialpflichten gegenüber Familie, Mitarbeitern und dem Gemeinwesen sollten 794 Ulrich Duchrow: Alternativen zur kapitalistischen Weltwirtschaft. Biblische Erinnerung und politische Ansätze zur Überwindung einer lebensbedrohenden Ökonomie. Gütersloh 1994, S. 224. Vgl. zur Kritik an Duchrows Monographie die Rezension von Harry M. de Lange: Alternativen zur kapitalistischen Weltwirtschaft. Biblische Erinnerung und politische Ansatze zur Uberwindung einer lebensbedrohenden Okonomie. In: The Ecumenical Review 47 (1995), S. 112–114. De Lange wirft Duchrow – aber auch der Mehrheit der Christen – vor allem vor, sich nicht konstruktiv an der Nachhaltigkeitsdiskussion zu beteiligen, sondern einseitig lediglich den Markt und seine Mechanismen anzugreifen. Vor allem würde das Gerechtigkeitsproblem und dessen Bedeutung für wirtschaftliches Handeln nicht erfasst: „Why do the great majority of Christians […] still not accept the message formulated clearly in 1967 by Harvey Lox in the words ‚on not leaving it to the snake‘, that it is essential to struggle for justice in economic relations between human beings, between nations, between continents? […] To be sustainable, development has to be economically, socially, culturally and institutionally sustainable …“ (Ebd., S. 113f.) Er plädiert im Gegensatz zu Duchrows verengter Position für eine pragmatische Sichtweise des Marktes: „The question is: can we use markets to achieve solutions to the problems?“ (Ebd., S. 114.) Vgl. dazu ebf. Franz Furger: Duchrow, Ulrich – Alternativen zur kapitalistischen Weltwirtschaft. Biblische Erinnerung und politische Ansätze zur Überwindung einer lebensbedrohenden Ökonomie. In: Theologische Revue 91 (1995), Sp. 061–063. 795 Vgl. Leonhardt: Verlautbarungen, S. 201. 796 Honecker: Moderne wirtschaftsethische Fragestellungen. Evangelische Kirchen, S. 770. 797 Otto Dibelius: Volk, Staat und Wirtschaft aus christlichem Verantwortungsbewußtsein. Ein Wort der Kirche. Berlin-Dahlem 1947, S. 371. 798 Vgl. dazu und zum Folgenden Honecker: Moderne wirtschaftsethische Fragestellungen. Evangelische Kirchen, S. 770. 799 Vgl. dazu und zum Folgenden Graf: Stellenwert der Religion, S. 657.
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etwa die Handlungsspielräume des kapitalistischen Unternehmers beschränkt werden. Während der kapitalistische Unternehmer niemals Leitbildcharakter erlangte, wurden kleine, genossenschaftlich organisierte Händler wertgeschätzt, was sich mit der bis lange ins 20. Jahrhundert hinein gepflegten Kritik an Börsen, Aktiengesellschaften und Spekulationen deckt. Antikapitalistische Kulturkritik findet sich auch noch in zahlreichen kirchlichen Stellungnahmen nach dem Krieg. Nach Graf blieben antikapitalistische Kulturkritik, eine „tiefe mentale Distanz gegenüber der modernen liberalen Ökonomik“ und eine „vage Gemeinwohlrhetorik“ in wirtschaftsethischen Fragen auch nach dem Krieg in sozialethischen Stellungnahmen lange vorherrschend, was sich sowohl an den zivilisationskritischen Debatten über die drohende „Amerikanisierung“ in den 1950er und 1960er Jahren als auch in der erneuten Suche nach gemeinwirtschaftlichen dritten Wegen und in der engen Verbindung mit dem Bund der evangelischen Kirchen der DDR gezeigt habe.800 Auf die Debatten um die negativen Folgewirkungen des Keynesianismus und die Renaissance liberaler Theorien sei in den kirchlichen Verlautbarungen immer nur mit neuen Rufen nach einer besseren staatlichen Rahmenordnung reagiert worden.801 Die evangelische Kirche habe so bis in die Gegenwart hinein eine argumentative Auseinandersetzung mit der neoliberalen Ökonomik verpasst und statt dessen „weithin nur die alte moralische Absage an Egoismus, Eigennutzdenken, harte Konkurrenz und Konsumismus reinszeniert.802 Durch die neuen weltweiten Verteilungskämpfe und die mit der Globalisierung verbundenen Strukturkrisen in den Gesellschaften der alten Industrienationen sei „bei vielen protestantischen Kirchenfunktionären die überkommene Distanz gegenüber der modernen Marktwirtschaft“ noch weiter verstärkt worden.803 Honecker führt für die Nähe zum Sozialismus auch theologische Gründe an: So ergäben sich von einer Höherbewertung der Gemeinschaft gegenüber dem Einzelnen Tendenzen zu einer kollektivistischen Gesellschaftstheorie. Demgegenüber werde die Distanz des christlichen Glaubens zu einem individualistischen Verständnis von Freiheit und zur Souveränität der Entscheidung der Konsumenten als Wirtschaftssubjekte betont.804 Auch die jüngste wirtschaftsethische Denkschrift der EKD wurde vor allem aufgrund ihrer Annäherung an das marktwirtschaftliche Wirtschaftssystem teilweise scharf kritisiert (vgl. unten).
800 Graf: Stellenwert der Religion, S. 658. 801 Vgl. hierzu wie zum Nachfolgenden Graf: Stellenwert der Religion, S. 658. 802 Graf: Stellenwert der Religion, S. 658. 803 Graf: Stellenwert der Religion, S. 659. 804 Vgl. Honecker: Moderne wirtschaftsethische Fragestellungen. Evangelische Kirchen, S. 770.
Wirtschaftsethische Fragestellungen
1.3.6.2
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Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive
Im Juni 2008 veröffentlichte die EKD ihre Denkschrift Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, in der sie sich ausführlich mit den Bedingungen, Herausforderungen und Möglichkeiten des Unternehmertums in einer globalen Welt befasst. Mit der Denkschrift will die Kirche „Analysen und Empfehlungen für verantwortliches wirtschaftliches Handeln in Deutschland“ vorlegen.805 Mit der Konzentration auf die „Frage des ‚unternehmerischen Handelns‘ als eines [sic!] der wichtigsten Triebkräfte marktwirtschaftlicher Ökonomie“ wolle man eine „Problematik in den Blick“ nehmen, „die für die Zukunft sozialer Gerechtigkeit und den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen unseres Planeten von großer Bedeutung“ sei.806 Dies sei gerade aufgrund der kritischen Wahrnehmung unternehmerischen Handelns im Zuge der Globalisierung und ihrer Folgen wie dem „Abbau“ und der „Verlagerung von Arbeitsplätzen“, aber auch angesichts der Diskussionen um Managergehälter, Mindestlöhne sowie Steuer- und Standortprobleme erforderlich.807 Grundlegend unterstreicht die Denkschrift die zentrale Bedeutung „beständige(r) Neuschaffung“ von gesellschaftlichem „Reichtum und seiner Nutzung als Wohlstand für möglichst viele“, da sich „hoher Wohlstand und die Beteiligung möglichst aller an der Gesellschaft nicht durch Verteilung des bereits vorhandenen Vermögens erreichen“ ließe.808 Die bereits in Gemeinwohl und Eigennutz vorgenommene Annäherung und grundsätzliche Bejahung der Sozialen Marktwirtschaft wird in der Denkschrift aufgegriffen und fungiert als Grundlegung und Voraussetzung für die Stellungnahme. Bei der Begründung ihrer Zielsetzung stellt die Denkschrift einen direkten Bezug zu ihrer Vorgängerin aus dem Jahr 1991 her. So sei das „Verhältnis von Protestantismus und Unternehmertum in Deutschland von Spannungen durchzogen“. Aufgrund von Befürchtungen, „dass die notwendige Gewinnorientierung der Unternehmen in Konflikt mit der Solidarität mit den Beschäftigten geraten“ könne, werde „immer wieder […] nach dem Verhältnis von Gemeinwohl und Eigennutz gefragt“.809 Dass es sich die Denkschrift zu einer ihrer wesentlichen Aufgaben gemacht hat, gerade diese Spannungen aufzulösen und „produktiv (zu) wende(n)“, wird gleich zu Beginn deutlich.810 Denn häufig beruhten „solche Spannungen auf Mißverständnissen“, die in „einem neuen Dialog zwischen evangelischer Kirche und Unternehmertum“ überwunden werden müssten, um „eine Verständigung 805 Evangelische Kirche in Deutschland (EKD): Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Gütersloh 2008, Nr. 1. 806 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 1. 807 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 1. 808 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 4. 809 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Vorwort. 810 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 7.
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Wirtschaften und Ethik in der Geschichte der christlichen Religion
über ethische Maßstäbe unternehmerischen Handelns“ zu erwirken.811 Die Denkschrift wolle zeigen, „dass soziale Verantwortung und wirtschaftlicher Erfolg einander nicht ausschließen, sondern wechselseitig aufeinander bezogen“ seien.812 Vor allem aufgrund dieses – Anlage und Inhalt der gesamten Denkschrift prägenden – Versuchs einer Vermittlung zwischen christlich-evangelischen Positionen und kapitalistischem Wirtschaftssystem und seinen Protagonisten sah sich die Kirchenschrift ab dem Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung scharfer Kritik ausgesetzt, worauf unten noch einzugehen sein wird. Dass sich die Kirche möglicher Konflikte durchaus bewusst war, zeigen die vorangestellten Grundaussagen, dass „Menschen nie nur Mittel zum Zweck, sondern immer zugleich Zweck an sich selbst“ seien und als „Maßstab unternehmerischen Handelns“ stets „die soziale Verantwortung“ bestehe, die zu einem Ausgleich zwischen den Interessen einer „Behauptung […] am Markt“ und „gesellschaftliche[r] Verantwortung“ im Sinne einer „Weiterentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft“ verpflichte.813 In ihrer einleitenden Begründung der Zielsetzung und ihren ersten beiden Abschnitten liefert die Denkschrift einige grundlegende Aussagen zur Bedeutung und Beurteilung unternehmerischen Handelns aus „Perspektive des christlichen Glaubens“.814 Die Denkschrift wolle ausgehend vom Leitbild der gerechten Teilhabe aller an den gesellschaftlichen Möglichkeiten zu einer verantwortlichen, an grundlegenden ethischen Maßstäben orientierten Gestaltung der Wirtschaft ermutigen. Dazu wird vor allem die zentrale Bedeutung eines verantwortungsvollen unternehmerischen Handelns für die wirtschaftliche Entwicklung einerseits und somit für Innovation, Wertschöpfung und gesamtgesellschaftlichen Wohlstand andererseits betont. Besonders zur Bewältigung der zunehmenden weltweiten sozialen und ökologischen Probleme komme einem ethisch verwurzeltem unternehmerischem Handeln eine weiter wachsende Bedeutung zu. Unternehmerisches Handeln sei „richtig verstanden – und durch einen klugen staatlichen Rahmen unterstützt – […] auf nachhaltige Wertschöpfung angewiesen“.815 Moderne Gesellschaften benötigten Menschen, die durch gelebtes Unternehmertum bereit wären, „globale gesellschaftliche Verantwortung“ zu übernehmen, „damit die Einhaltung von Menschenrechten sowie sozialen und ökologischen Standards unterstützt und gefördert und nicht durch eine rein ökonomisch dominierte Globalisierung behindert wird“.816
811 812 813 814
Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Vorwort. Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Vorwort. Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Vorwort. Vgl. Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 1–41. Vgl. die Überschrift des zweiten Abschnitts „Unternehmerisches Handeln in der Perspektive christlichen Glaubens“. 815 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 15. Vgl. auch bes. Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 19. 816 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 15.
Wirtschaftsethische Fragestellungen
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Zudem konstatiert die Denkschrift, dass „immer mehr Unternehmer“ erkannten, „dass die Orientierung an ethischen Maßstäben keineswegs zu wirtschaftlichen Nachteilen führen“ müsse, „sondern im Gegenteil auch betriebswirtschaftlich Vorteile bringen“ könne.817 Außerdem würde „in den Unternehmen selbst […] das zunehmende Misstrauen gegenüber unternehmerischem Handeln deutlich wahrgenommen“.818 Wenn die Denkschrift anfügt, dass „eine an ethischen Maßstäben orientierte gelebte Unternehmenskultur“ dazu beitrage, „unternehmerische Anpassungsprozesse konstruktiv und menschenfreundlich zu gestalten“, erweckt sie allerdings mehr den Eindruck, als wolle sie dem modernen Unternehmer die Ethik als Feigenblatt verkaufen, das in Form einer „Unternehmenskultur“ oder eines „Leitbild(es)“, das „auf ethischen Prinzipien“ beruhe, vor allem dem Zweck diene, eine zunehmend kritischere Öffentlichkeit ruhig zu stellen bzw. notwendige Härtefälle zu lindern.819 Dass die Kirche hier mit dem Stakeholder Value und möglichen Reputationsrisiken rein rationell-ökonomistische Begründungen präsentiert und auf ethisch-moralische Begründungsmuster gänzlich verzichtet, überrascht durchaus. Dieser Eindruck wird auch durch die anschließende Ermutigung, „tragfähige ethische Maßstäbe in die Kultur eines Unternehmens zu integrieren“, für welche die „ethischen Traditionen des christlichen Glaubens […] eine nach wie vor kraftvolle Grundlage“ böten, kaum relativiert.820 Merkwürdig schief erscheint so auch die nachfolgende Absichtserklärung, man wolle mit der Denkschrift „dazu beitragen, die in diesen Traditionen liegenden Orientierungsangebote für heutiges unternehmerisches Handeln fruchtbar zu machen“.821 Ebenso verwundert die Aussage, die evangelische Kirche müsse ihr Verhältnis zum unternehmerischen Handeln deshalb präzisieren, weil in „der modernen arbeitsteiligen Wirtschaft […] die öffentliche Sensibilität für die ethische Verantwortung unternehmerischen Handelns“ wachse.822 Fast scheint es bei dieser Formulierung so, als habe die Kirche mit demselben Dilemma wie der moderne Unternehmer zu kämpfen: Lediglich aufgrund der aktuellen Erwartungen einer Fragen stellenden Öffentlichkeit sei nun die Auseinandersetzung mit Ethik und Moral in der Wirtschaft angezeigt. Umso mehr überrascht es dann aber, dass die Denkschrift im direkten Anschluss sowohl auf die Historizität der Verhältnisbestimmung zwischen Wirtschaftsethik und Religion sowie die grundlegende Bedeutung des christlichen Glaubens für unternehmerisches Handeln unter explizitem Einbezug der jüngeren Kirchengeschichte wie auch der biblischen Zeugnisse eingeht als auch die Wichtigkeit der Herausbildung von Vertrauen unterstreicht. Ohne „Vertrauen unter allen
817 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 22. 818 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 22. 819 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 22. 820 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 22. 821 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 22. 822 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 21.
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Beteiligten“ könne „wirtschaftliches Handeln nicht nachhaltig sein“. 823 Eine schlicht ökonomistisch-rationelle Begründung moralischen Verhaltens wird nun verworfen: „Ethische Maßstäbe“ seien „nur dann wirklich tragfähig, wenn sie nicht allein aus taktischen Gründen zur Imagepflege eingesetzt“ würden. 824 „So etwas wie Charakter und Persönlichkeit“ gewännen Unternehmen hingegen, wenn ethische Grundlagen „aus Überzeugung in die Unternehmenskultur“ eingingen „und das Handeln und Verhalten aller Beteiligten“ prägten.825 Die entsprechende Basis dafür böte der Glaube: Unter Rückgriff auf die Barmer Theologische Erklärung der Bekennenden Kirche von 1934 hält die Denkschrift fest, dass sich „christlicher Glaube […] auf alle Lebensbereiche“ beziehe, weshalb „wirtschaftliche Entscheidungen auch dann im Lichte des christlichen Glaubens betrachtet werden“ müssten, „wenn die grundlegenden ethischen Fragen zunächst hinter harten ökonomischen Fakten“ zurückblieben: Die „Achtsamkeit für die auch hinter den so genannten Sachzwängen verborgenen ethischen Grundentscheidungen“ stelle ein „Markenzeichen evangelischen Unternehmertums“ dar.826 Eine „evangelische Ethik unternehmerischen Handelns“ habe es zur „Aufgabe, zur Herausbildung moralischer Achtsamkeit bei denen beizutragen, die jeden Tag Entscheidungen in Unternehmen zu treffen haben“.827 Für solche ethisch fundierten Entscheidungen habe die Bibel einen „zentralen orientierenden Stellenwert“.828 Viele Bibeltexte griffen auf Erfahrungen der Arbeitswelt und der Ökonomie zurück und böten so hilfreiche Grundorientierungen für das unternehmerische Handeln. Auch wenn sie „keine unmittelbaren Handlungsanweisungen für wirtschaftliche Entscheidungen“ lieferten, prägten sie doch die „Grundperspektiven des Lebens und damit auch die Maßstäbe des Handelns“ und brächten „Einsichten zum Ausdruck“, die „für Christinnen und Christen […] besondere verpflichtende Bedeutung“ hätten.829 Entsprechend bedeute unternehmerische Freiheit in evangelischer Perspektive Freiheit in Verantwortung vor Gott und den Menschen.830 Martin Luther habe diese Beziehung 1520 in der Schrift Von der Freiheit des Christenmenschen „auf den Punkt gebracht: ‚Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan – Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.‘“831 Ein solches Freiheitsverständnis, das auch durch philosophische Traditionen gestützt werde, stehe „im Widerspruch zu einer bloßen 823 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 34. 824 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 34. 825 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 34. 826 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 24. 827 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 25. 828 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 25. 829 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 25. 830 Vgl. dazu und zum Folgenden Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 27– 30 sowie Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 31–41. 831 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 31.
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Orientierung an der Nutzenmaximierung“.832 „Evangelische Freiheit“ verbinde vielmehr „die Entscheidungsfreiheit und die schöpferische Kraft des Individuums, die allgemein als Markenzeichen unternehmerischen Handelns gelten, mit der Verantwortung für die Mitmenschen und der Orientierung an der gerechten Teilhabe aller“.833 Entsprechend sei die Würde aller in einem Unternehmen arbeitenden Menschen zu akzeptieren, die niemals bloßes Mittel zum Zweck sein könnten. 834 Grundlegende Maßstäbe für unternehmerische Entscheidungen stellten die Zehn Gebote, die Goldene Regel, das Gebot der Nächstenliebe sowie weitere Glaubensgrundlagen dar.835 Der christliche Glaube befreie so zum vernünftigen, sachgemäßen und verantwortlichen unternehmerischen Handeln sowie zur vertrauensvollen Kooperation mit anderen in wechselseitiger Achtung und gegenseitiger Anerkennung. Die Motivation zu unternehmerischem Handeln und zur Übernahme von Verantwortung für sich und andere erwachse aus Gottes Berufung. Seit der Reformation besitze die Vorstellung vom Beruf als „auftragsgemäße, tätige Entwicklung und Nutzung der von Gott gegebenen Fähigkeiten“ in der protestantischen Tradition einen besonderen Stellenwert.836 Dabei greift die Denkschrift auf die Vorstellungen Martin Luthers vom Beruf als „Gottesdienst im Alltag der Welt“ zurück.837 Im Beruf vereinten sich die „funktionalen Anforderungen der Gesellschaft und die Talente bzw. ‚Neigungen‘ des jeweiligen Unternehmers mit ethischen Prinzipien“.838 In ihrem dritten – und möglicherweise brisantesten (auf die Diskussionen, welche die Denkschrift nach sich zog, soll im Folgenden noch näher eingegangen werden) – Abschnitt liefert die Denkschrift unter der Überschrift „Unternehmertum und Soziale Marktwirtschaft“ ein unumwundenes Bekenntnis zur gesellschaftspolitischen Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft. Hierbei geht die Denkschrift deutlich weiter als ihrer Vorgängerschrift Gemeinwohl und Eigennutz aus dem Jahre 1991. Wurde dort die Bejahung des marktwirtschaftlichen Wirtschaftssystems vor allem damit begründet, dass diese Ordnung diejenigen wesentlichen Rahmenbedingungen sicherstelle, die im Interesse des Gemeinwohls und der Benachteiligten Solidarität gewährleisteten, wird die Soziale Marktwirtschaft nun als eine dem Christentum und der christlichen Ethik notwendigerweise entspringende Konsequenz begriffen. Die Soziale Marktwirtschaft als Gegenkonzept zu Planwirtschaft und reinem Wirtschaftsliberalismus stelle auf Basis des aus dem christlichen Glauben erwachsenen Geistes eine schlüssige Verknüpfung von hoher wirtschaftlicher Dynamik 832 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 32. 833 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 37. 834 Vgl. Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 32f. 835 Vgl. Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 37. 836 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 39. 837 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 39. 838 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 41.
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durch die staatliche Sicherung funktionierenden Wettbewerbs mit sozialer Gerechtigkeit als Voraussetzung für breiten Wohlstand sicher.839 Dementsprechend bestünde das Ziel der gesellschaftspolitischen Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft darin, einen „Ordnungsrahmen zu schaffen“, der „ethische[s] Handeln des Einzelnen in den vielschichtigen Zusammenhängen der Wirtschaft“ ermöglicht sowie „fairen Wettbewerb fördert und unfairen bestraft“.840 In einem solchen „Ordnungsrahmen, der sowohl scharfen Wettbewerb als auch sozialen Ausgleich“ gewährleiste, könne das „Streben nach persönlichem Wohlergehen zugleich zum Wohlstand aller führen“.841 Nach Meinung des Rates der EKD liege ein wesentlicher Vorzug dieses Systemansatzes darin, „auf die Triebkraft des Eigeninteresses und der Selbstverantwortlichkeit des Einzelnen“ zu vertrauen und damit „den Menschen in gewisser Weise so“ zu nehmen, wie er sei und „wie er in der Bibel immer wieder realistisch beschrieben“ werde.842 Auffallend groß ist dabei das Vertrauen in die Potenziale des Wettbewerbs: Funktioniere dieser, würden „weder Konsumenten noch Arbeitnehmer ausgebeutet“, noch gebe es „Diskriminierung, da derjenige, der diskriminiert, einen Wettbewerbsnachteil“ erleide.843 In diesem Fall führten „die wettbewerbsgetriebenen Aktivitäten der Wirtschaftssubjekte nicht nur zu hoher Effizienz“, sondern begrenzten „auch die staatliche Regulierung auf das Notwendigste“ und sorgten „so für mehr Freiheit“.844 Die Kirche bekennt sich dabei ausdrücklich zum Ordoliberalismus der Freiburger Schule um Walter Eucken mit seinen tragenden Elementen der Machtbegrenzung und guten Güterversorgung, der hier ergänzt „um den Gedanken einer staatlichen Einflussnahme auf die Verteilungsergebnisse der Marktprozesse“ zur Gewährleistung von Solidarität und Gerechtigkeit sowie um die „Befähigung zur Übernahme unternehmerischer Verantwortung“ angesichts eines „verschärften Wettbewerb[s] der globalen Wirtschaft“ erscheint.845 Im Sinne einer stetigen Weiterentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft plädiert die Denkschrift für die Eta839 Vgl. Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 42–49. Bei der Gestaltung der Sozialen Marktwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg habe es „insbesondere darum gehen“ müssen, „die sterile Gegenübersetzung von selbstloser Nächstenliebe und eigensüchtiger Wirtschaftsleistung zu überwinden, ohne doch die Ansprüche an den Schutz der Schwachen und das Interesse am sozialen Ausgleich abzuschwächen“. (Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 42.) Bis heute seien diese grundlegenden Akzentuierungen attraktiv. (Vgl. Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 42.) Ein „harter Wettbewerb auf den Märkten“ bedürfe, „um zielgerichtet zu sein, seiner Einbettung in soziale und kulturelle Voraussetzungen“, wozu die „Idee der Gerechtigkeit“ ebenso zähle „wie die der vor Gott rechenschaftspflichtigen und in diesem Sinne selbstverantwortlichen Unternehmerpersönlichkeit“. (Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 42.) 840 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 42. 841 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 43. 842 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 44. 843 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 44. 844 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 44. 845 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 45.
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blierung einer „ökosoziale[n] Marktwirtschaft“, in der unternehmerisches Handeln beständig darauf geprüft werde, „inwieweit es nachhaltig ist und die Interessen kommender Generationen im Blick hat“.846 Auf kurzfristige Gewinnsteigerung zielenden Unternehmensstrategien wird eine klare Absage erteilt.847 Wie bereits in Gemeinwohl und Eigennutz greift die evangelische Kirche damit in ihrer wirtschaftsethischen Konzeption zeitgemäße Nachhaltigkeitskonzeptionen auf, die „alle Stakeholder – also alle Anspruchsgruppen, darunter insbesondere auch die Arbeitnehmer – in der Unternehmenspolitik systematisch berücksichtigt“, um „damit eine auf Langfristigkeit ausgerichtete Perspektive“ zu entwickeln.848 Bereits in der Zielsetzung zu Beginn der Denkschrift wird festgehalten, dass „das Leitbild der Nachhaltigkeit […] einem zentralen Grundzug biblischer Theologie mit der biblischen Verheißung ‚Die Erde ist des Herrn und was drinnen ist, der Erdkreis und die darauf wohnen‘ (Ps 24,1)“ entspreche.849 Die dem Menschen zukommende besondere Verantwortung zur Kultivierung der Erde würde heute so verstanden, dass Gott „den Menschen als Sachwalter für die Welt in die Pflicht“ nehme, „ihr mit Ehrfurcht zu begegnen und schonend, haushälterisch und bewahrend mit ihr umzugehen“.850 Zur Gewährleistung dieses Anspruchs von Nachhaltigkeit und Langfristigkeit in den unternehmerischen Entscheidungen und in Anbetracht der Ablösung des „deutschen Korporatismus“, dessen System der sog. „Deutschland AG“ für die Nachkriegsjahrzehnte prägend war, durch die „verschärfte Konkurrenzsituation der globalisierten Wirtschaft“ sei eine „neue ordnungspolitische Klärung der Rolle von Unternehmen in der Sozialen Marktwirtschaft“ – und zwar explizit auch im Hinblick auf ihre Mitwirkung bei der Gestaltung des Ordnungsrahmens – vonnöten.851 Ebenso gewachsen sei die Verantwortung der Politik, „der Wirtschaft Rahmenbedingungen vorzugeben und ihre Einhaltung zu prüfen“. 852 Führt man sich den ständig schwindenden Einfluss nationaler Politik auf transnational agierende Weltkonzerne vor Augen, erscheint diese Forderung eher wie ein hehrer Wunsch. Auch die Denkschrift führt lediglich an, dass „die nationale Politik“ ihrer Verantwortung „insbesondere mit internationalen Vereinbarungen“ gerecht werden müsse. Wie aber praktisch der vorgeschlagene globale Export des „Konzept(s) der Sozialen Marktwirtschaft als Modell für die Stärkung der sozialen Dimension der Globalisierung“ als Leitbild für Werte wie „Fairness, Gerechtigkeit und Menschlichkeit“ gelingen soll, um gerade in Schwellenländern mit „enorme(m) Nachholbedarf im Bereich des Sozialen“ die dortigen „inneren Verwerfungen“ und Bedro846 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 46. 847 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 46. 848 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 47. 849 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 6. 850 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 6. 851 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 48. 852 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 49.
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hung des „gesellschaftlichen Zusammenhalt(s)“ zu bekämpfen, wird nicht weiter konkretisiert.853 Der vierte Abschnitt der Denkschrift „Unternehmer und Arbeiter“ betont nochmals die besondere Verantwortung, die dem einzelnen Unternehmer aus der ungleichgewichtigen Beziehung zwischen Unternehmern und Arbeitnehmern und deren „unverrechenbare(r) Würde“ erwachse.854 Die Unternehmer seien gehalten, den Prozess der Dynamik und der Arbeitsplatzentwicklung in Unternehmen in fairer Partnerschaft mit allen Betroffenen zu gestalten. An dieser Stelle greift die Denkschrift einige traditionelle Positionen der protestantischen Sozialethik zur Mitbestimmung als Instrument der Kooperation im Unternehmen zur Überwindung des Gegensatzes von Kapital und Arbeit auf: In der Tradition der Sozialpartnerschaft seien Arbeitnehmer zur Mitbestimmung berechtigt, da sie am Wertschöpfungsprozess beteiligt seien. So könne nicht nur notwendiges Vertrauenskapital geschaffen werden, auch sei ihre Mitverantwortung für die Dynamik der Unternehmensexistenz erforderlich. In der Beteiligung der Mitarbeiter am Kapital und besonders am Ertrag, die jedoch auch Risiken berge, werden Chancen für eine gerechtere Vermögensverteilung erkannt. Der wenig spektakulär anmutende Hinweis, dass „die notwendigen Veränderungsprozesse in einem Unternehmen […] nicht gegen die Mitarbeitenden erfolgreich bewältigt werden“ könnten, verbirgt einen weitaus brisanteren Kern.855 Zwar ist die Feststellung, dass „unter ständig wechselnden Rahmenbedingungen […] einer flexibilitätsfördernden und zugleich stabilitätsstiftenden Unternehmenskultur eine wachsende Bedeutung“ zukomme, zweifellos richtig, doch werden in der Denkschrift aus diesem Umstand überraschende Schlussfolgerungen gezogen: Als zentrale Werte einer solchen Kultur werden „Veränderungsbereitschaft“ und „Lernfähigkeit“ identifiziert, die unter anderem dazu beitrügen, „Anpassungsprozesse zu unterstützen“.856 Werte stünden solchen Veränderungsprozessen nicht im Weg. Wenn „ein Unternehmer notwendige Veränderungen ehrlich“ kommuniziere und „die Mitarbeiter sich auf seine Unterstützung verlassen“ könnten und „ihre Bedürfnisse Eingang in die Unternehmenskultur“ fänden, so würden sie auch dazu bereit sein, „solche Prozesse konstruktiv zu unterstützen und damit im Ergebnis effizienter zu gestalten“.857 Nicht ganz deutlich wird, ob hier womöglich nur von Veränderungen im Rahmen eines Change Managements die Rede ist, was aber angesichts der einleitenden Hinweise auf die weitreichenden Veränderungen am Markt und in der Arbeitswelt858 und das wiederholte Pochen auf „Flexibilität im 853 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 49. 854 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 53. Vgl. dazu wie zum Folgenden Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 50–65. 855 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 52. 856 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 52. 857 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 52. 858 Vgl. Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 52, 56.
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Berufsleben“ unwahrscheinlich erscheint.859 Und so muss trotz des freilich begrüßenswerten Plädoyers für eine aufrichtige und transparente Unternehmenskommunikation und einen Einbezug der Mitarbeiter die Frage erlaubt sein, ob eine echte Unternehmenskultur nicht deutlich mehr darstellen und beinhalten sollte, als lediglich die Bereitschaft der Mitarbeiter zu Veränderung und ständigem Lernen. Stünde ein solches Unternehmensleitbild auf einem festen ethischen Fundament, gäbe es mit Sicherheit als ökonomisch notwendig erachtete Veränderungsoder „Anpassungsprozesse“, die vor den Mitarbeitern weder durch „effizientere Ergebnisse“ zu rechtfertigen wären noch ihnen mit den warmen Worten einer ehrlichen Unternehmenskommunikation schmackhaft gemacht werden könnten. Im fünften Abschnitt „Unternehmerisches Handeln und Konsumenten“ hebt die Denkschrift den gestiegenen Einfluss bestimmter Anspruchsgruppen – besonders der Verbraucher – auf Unternehmen hervor und betont in diesem Zusammenhang die Bedeutung einer guten Unternehmenskommunikation.860 Unternehmen nähmen Erwartungen der Verbraucher auf, formten sie aber auch. Immer mehr Verbraucher träfen bewusste Konsumentscheidungen (auf diese Entwicklung wird unten in Kapitel 3.1.3 Ursachen für verantwortliches und nachhaltiges unternehmerisches Handeln näher eingegangen), weshalb den „Konsumenten eine große Entscheidungs- und Marktmacht“ sowie eine gestiegene Verantwortung zuwachse, „an der sich Unternehmen“ auszurichten hätten.861 Daraus resultiere eine stärkere Ausrichtung der Märkte an ethischen und moralischen Orientierungen. So könnten „in dem Maße, in dem Konsumenten Güter und Dienstleistungen nachfragen, bei deren Produktion soziale und ökologische Kriterien erfüllt worden sind, die über gesetzliche Vorgaben hinausgehen, […] die Unternehmen zur Übernahme von mehr gesellschaftlicher Verantwortung veranlasst werden“.862 Ein entsprechendes „erhöhtes Verantwortungsbewusstsein der Konsumenten“ gelte es zu fördern „und durch eine offensive und öffentliche Standardisierungspraxis zu unterstützen“.863 Bei ihren Forderungen nach „höchstmöglicher Transparenz“ setzt die Denkschrift vor allem auf Freiwilligkeit und Einsicht der Unternehmen.864 Über die vorgeschlagene „Selbstregulierung der Wirtschaft“ hinaus, könne aber auch die Politik „Vorgaben machen“, um „den Schutz der Verbraucher vor eigennützigem Verhalten der Unternehmen“ zu verbessern.865 Hier weitgehend ausschließlich auf Transparenz und „aufgeklärte Verbraucher“ zu setzen, bedeutet einen weitreichenden Ver-
859 Vgl. Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 52, 57. 860 Vgl. dazu und zum Folgenden Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 68–74. 861 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 68. Vgl. ebf. Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 71. 862 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 72. 863 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 71. 864 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 74. 865 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 74.
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trauensvorschuss für die Unternehmen.866 Fraglich ist, ob ein solch tiefes Vertrauen in die Kräfte des Marktes – auch eingedenk der weitreichenden Folgen der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise des Jahres 2008 – gerechtfertigt sein kann. Außerdem bleibt vollkommen offen, wie die angestrebte Transparenz und somit die Interessenwahrung gesellschaftlicher Anspruchsgruppen sichergestellt werden kann, sollte ein Unternehmen sich nicht oder nur bedingt einsichtig zeigen. Ein vollkommen transparenter Markt wird realistisch betrachtet zudem wohl immer ein Ideal bleiben. Der sechste Abschnitt der Denkschrift „Unternehmerisches Handeln und Kapitalmarkt“ ist den Veränderungen auf den weltweiten Kapitalmärkten gewidmet, die für Beunruhigung in der Öffentlichkeit sorgten.867 Die Globalisierung habe die „Finanzierung und Kontrolle von Unternehmen verändert“ und zu „einem immer stärker von den Kapitalmärkten beherrschten Finanzsystem geführt“.868 Gut regulierte Kapitalmärkte seien in der Lage, durch Transparenz, Effizienz und eine bessere Risikostreuung einen Beitrag zu erheblichen Wohlfahrtsgewinnen zu leisten. Eingehend widmet sich die Denkschrift dem stark gestiegenen Einfluss von Beteiligungsgesellschaften, der allerdings nur wenig kritisch beurteilt, sondern begrüßt wird, da die „durch den Einfluss der Kapitalmärkte steigende Transparenz“ den in der alten Bundesrepublik „oft beklagten ‚Klüngel‘“ begrenze: „In Einzelfällen“ könne die Geschäftspraxis der Private Equity-Gesellschaften zwar „dem Prinzip nachhaltigen unternehmerischen Handelns widersprechen und destruktive Konsequenzen“ nach sich ziehen, doch sei die Sorge, „dass sich die neuen Investoren generell so verhalten und damit Unternehmenswerte vernichten, […] überzogen“.869 Auch internationale Investoren wollten „ihr Kapital vermehren“, müssten folglich „langfristig den Unternehmenswert steigern“ und könnten „durchaus auch zur Lösung mittelständischer Finanzierungsprobleme beitragen“ und Nachfolgeprobleme lösen.870 Private Equity-Unternehmen engagierten sich „oft über mehrere Jahre in einem Unternehmen“, beteiligten sich „an Chancen und Risiken“ und seien „so als Unternehmer tätig“.871 Durch die Beteiligungsfinanzierung werde „dem Unternehmen Eigenkapital zugeführt, was wiederum die Erschließung weiterer Finanzierungsquellen“ erleichtere.872 Auch wenn die vom damaligen SPD-Bundesvorsitzenden Franz Müntefering im Jahr 2005 angestoßene öffentliche „Heuschreckendebatte“ über die negativen Folgen kurzfristiger Investments von Private Equity-Gesellschaften weitgehend unsachlich und undifferenziert geführt wurde,
866 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 74. 867 Vgl. dazu wie zum Folgenden Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 75–86. 868 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 75f. 869 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 77. 870 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 77, 78. 871 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 77. 872 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 78.
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erscheint doch fragwürdig, aus welchem Grund sich die Denkschrift der Darstellung dieses Geschäftsmodell in solcher Ausführlichkeit widmet. Sollte es auch in der Mehrheit der Fälle zutreffen, dass „selbst Beschäftigung abbauende Umstrukturierungen den langfristigen Unternehmenserfolg und damit die Möglichkeit, mittelfristig neue Stellen zu schaffen“ förderten, so irritiert die Werbung für ein Geschäftsmodell, das den Abbau und vorläufigen Verlust von Arbeitsplätzen als notwendiges Übel allein zum Zwecke zukünftigen Wachstums und einer erhofften Steigerung der Wirtschaftlichkeit und immer größerer Profite gleichsam systematisch verfolgt, in einer Kirchen-Denkschrift doch sehr. Schließlich ist bei Weitem nicht jede aus ökonomischen Aspekten sinnvolle Entscheidung auch ethisch gut oder moralisch vertretbar. Der Hinweis, „die Veränderungen des Wirtschaftsstils durch die Orientierung an den globalen Finanzmärkten – weg von einer Stakeholder- und hin zu einer Shareholderorientierung“ solle „nicht zulasten der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen gehen“, erscheint beinahe zynisch und mag auch nicht recht zu den Aussagen des vorangegangenen Kapitels passen, in dem gerade eine stärkere Stakeholderorientierung eingefordert wurde.873 Auffällig unterscheidet sich diese evangelische Sichtweise von der oben beschriebenen scharfen Kritik der katholischen Kirche, die in ihrer aktuellen Enzyklika mit dem wachsenden Einfluss von Private-Equity-Gesellschaften und Investmentfonds auf Unternehmensentscheidungen hart ins Gericht geht.874 In der katholischen Stellungnahme wird explizit darauf verwiesen, dass Investitionen nicht bloß als rein technische Vorgänge betrachtet werden dürften, sondern auch als menschliche und ethische Handlung gesehen werden müssten.875 Investitionen im Ausland dürften nicht aus rein ökonomisch-rationalem Kalkül oder kurzfristigem Streben nach Gewinnmaximierung erfolgen.876 Dem gestiegenen Wettbewerb auf den Finanzmärkten begegnet die evangelische Kirche vornehmlich mit der Forderung nach „Maßnahmen zur Stärkung der Transparenz“ sowie nach der Selbstverpflichtung der Marktteilnehmer in Form eines „selbst auferlegte[n] Verhaltenskodex“, um die „Risiken zu vermindern“.877 Möglichkeiten der Regulierung insbesondere der Hedgefonds, „die sich einen harten Wettbewerb um […] besonders viel Gewinn versprechende Geschäftspartner“ lieferten – etwa durch eine verbesserte „Aufsicht der Marktteilnehmer“ – werden ebenfalls erwähnt, ohne aber auf deren konkrete Ausgestaltung (abgesehen vom Vorschlag zur Einführung einer weltweit geltenden Regelung über die Eigenkapitalvorhaltung bei der Vergabe von Krediten) näher einzugehen.878
873 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 77. 874 Vgl. Caritas in veritate, Nr. 40. 875 Vgl. Caritas in veritate, Nr. 40. 876 Vgl. Caritas in veritate, Nr. 40. 877 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 82. 878 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 81f.
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Im Anschluss macht die Denkschrift – offensichtlich nicht unbeeinflusst von der öffentlichen Debatte – einige Aussagen zur angemessenen Vergütung von Managern.879 Unverhältnismäßig hohe Gehälter zerstörten das Vertrauen der Menschen in die Wirtschaft. Zudem müsse die Distanz zwischen den Gehältern innerhalb eines Unternehmens vor den Beziehern der geringsten Gehälter zu rechtfertigen sein. Der siebte Abschnitt „Wirtschaftliche und politische Verantwortung in Zeiten der Globalisierung“ liefert eine treffende Analyse der Prozesse der Globalisierung.880 In der Denkschrift wird diagnostiziert, die Globalisierung habe „zu einer Verschärfung des internationalen Wettbewerbs geführt“, die „einen ständigen Kampf um die eigene Wettbewerbsfähigkeit“ zur Folge habe und somit „alle Beteiligten unter Druck“ setze, „ständig besser, günstiger, schneller und innovativer zu sein als die Wettbewerber in aller Welt“.881 Aus dem daraus resultierenden „ständigen strukturellen Wandel“ folgten die „Verlagerung von Arbeitsplätzen und Investitionen ins Ausland“ zur Sicherung der in Deutschland vorhandenen Arbeitsplätze, obschon „gerade Deutschland von der Globalisierung gerade beschäftigungspolitisch“ profitiere.882 „In der Regel für Arbeitnehmer und Öffentlichkeit nicht nachvollziehbar“ sei es, „wenn Unternehmen hohe Gewinne“ erwirtschafteten „und gleichzeitig Produktionsverlagerungen“ vornähmen.883 Da „bei der Verlagerung von Betrieben oder Betriebsteilen“ auch „die Politik vor Ort in die Defensive“ gerate und sich „am Ende nur doch damit konfrontiert“ sehe, „sich auf höhere Transferleistungen für schwer vermittelbare Arbeitslose einzustellen“, bestehe „eine unternehmerische Aufgabe“ darin, „betriebswirtschaftlich begründete Verlagerungen auch öffentlich nachvollziehbar zu vermitteln“.884 „Solche Entscheidungen“ müssten „dann aber umfassend innerhalb des Unternehmens und auch öffentlich begründet werden, damit nicht Ängste und Sorgen sogar in Unternehmen“ mit einer „gute(n) Markt- und Ertragsposition“ um sich griffen.885 Wiederum fällt auf, dass in erster Linie „Transparenz über die Gründe für derartige Unternehmensentscheidungen“ und eine aufrichtige interne und externe Unternehmenskommunikation eingefordert wird, eine ethisch-moralische Reflexion solcher Entscheidungsprozesse und ihrer Folgen hingegen weder von der Denkschrift vorgenommen noch eingefordert oder zumindest angeregt wird.886 Dass von der Denkschrift in seltsamer Zurückhaltung ethische Kriterien lediglich an die Unternehmenskommunikation 879 Vgl. dazu und zum Folgenden Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 87–95. 880 Vgl. dazu und zum Folgenden Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 96–106. 881 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 96. 882 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 96. 883 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 97. 884 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 97. 885 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 97. 886 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 97.
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angelegt werden, die dahinter liegenden strategischen Managementprozesse davon aber gänzlich unberührt bleiben, ist deutlich zu kurz gedacht. Äußerst fragwürdig erscheint es überdies, die Funktion von Unternehmenskommunikation lediglich auf die umfassende Begründung betriebswirtschaftlicher Entscheidungen vor Mitarbeiterschaft und Öffentlichkeit zu reduzieren, um so die – berechtigten – Sorgen der Menschen um ihren Arbeitsplatz, ihre Existenz, die Versorgung ihrer Familien zu lindern. Obgleich die Arbeit vieler Presse- und Kommunikationsabteilungen realiter in solchen, auch für die Pressearbeit nicht alltäglichen Situationen tatsächlich wie von der Denkschrift beschrieben aussehen mag, handelt es sich dabei – trotz aller aus der offenkundigen Verschärfung des internationalen Wettbewerbs und des strukturellen Wandels resultierenden zweifellos vorhandenen ökonomischen Bedingtheiten und ernst zu nehmenden Herausforderungen für die Unternehmen – dennoch nicht um ein unter moralischen Gesichtspunkten und Ansprüchen erstrebenswertes Ideal. Es mutet zudem unwahrscheinlich an, dass auf die vorgeschlagene Weise ein fairer Interessenausgleich zwischen „Arbeitnehmern und Öffentlichkeit“ und dem Unternehmen und dessen „nicht nachvollziehbaren“ Entscheidungen gelingen kann, wie aller Bemühungen fähiger Kommunikationsabteilungen zum Trotz die öffentlichen Reaktionen in Deutschland auf die betriebsbedingten Kündigungen oder Arbeitsplatzverlagerungen großer Konzerne der zurückliegenden Jahre zeigen. Erkennt die Denkschrift trotz der beschriebenen Herausforderungen in Deutschland einen Profiteur der Globalisierung, „auch was Beschäftigung und Wohlstand“ anbelangt, benennt sie aber auch besondere Probleme gerade für den „Niedriglohnsektor“, indem „die schützenden Lohnstrukturen in den nationalen Systemen“ aufgeweicht würden, wodurch die „Löhne der gering Qualifizierten unter Druck gerieten“ und sich „am Ende Arbeitslosigkeit oder das Abdrängen in den informellen Sektor“ ergeben könnten.887 Auch global seien „im Zuge der internationalen Verflechtungen von Unternehmen und des Niedergangs herkömmlicher Arbeitsbeziehungen […] die meisten Länder mit dem Problem des gesellschaftlichen Zusammenhalts konfrontiert“.888 Dabei stießen „nationalstaatliche und europäische Regelungen […] angesichts der globalen Vernetzung der Wirtschaft auf Grenzen“, was zu „heftigen Auseinandersetzungen über die gesellschaftliche und demokratische Kontrolle der Globalisierung“ geführt habe.889 Deshalb und angesichts der „zunehmend[en] Artikulationskraft“ von „‚Anti-Globalisierungs-Initiativen‘ in der weltweiten Zivilgesellschaft“ sei „eine öffentliche Debatte über die Chancen, Risiken und Regelungsmöglichkeiten der wirtschaftlichen Globalisierung […] dringend nötig“.890 Über die Forderung hinaus, dazu müssten „die Interessen der Verlierer der Globalisierung in den Mittelpunkt gerückt werden“, 887 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 98. 888 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 99. 889 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 99. 890 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 99.
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um „gemeinsam neue Wege der Teilhabegerechtigkeit“ zu erarbeiten, nennt die Kirche dabei allerdings weder konkrete Ziele oder Absichten, noch unterbreitet sie konkrete Vorschläge, wie diesen negativen und in den verschiedenen betroffenen Gesellschaften teils stark divergierenden Auswirkungen der Globalisierung in Zukunft wirkungsvoll begegnet werden könnte.891 Statt dessen werden in der Denkschrift die „große[n] Entwicklungschancen“ betont, die sich für die „kostengünstigere[n] Standorte Europas und anderer Kontingente“ durch die „Investitionen aus dem Ausland“ ergäben.892 Dazu zählten „steigendes Wachstum, wachsende[r] Wohlstand, einträgliche Arbeit, höhere Sozialstandards und nachhaltiges Wirtschaften, bessere Bildung und ein höheres Lebensniveau für die Menschen“.893 Die Risiken eines neoliberalen Turbokapitalismus, wie er sich derzeit in einigen Schwellenländern zu entwickeln droht, werden dabei weitgehend übergangen. Es wird lediglich festgehalten, dass „diese wirtschaftliche Entwicklung […] so gesteuert“ werden müsse, „dass sie mit Demokratie und Menschenrechten nicht nur vereinbar ist, sondern zu deren Verwirklichung“ beitrage.894 Die „europäischen Unternehmen“ trügen „bei ihrem internationalen Engagement“ deshalb und „weil die nationalen Regelungsmöglichkeiten und die internationalen Institutionen nur begrenzt die Rahmenbedingungen für die Globalisierung bestimmen“ könnten, einerseits „eine besondere Verantwortung“ dafür, „Freizügigkeit, Meinungsfreiheit und Minderheitenrechte“ ebenso wie „kulturelle(n) Unterschiede“ zu berücksichtigen und dürften andererseits auch „die Auseinandersetzung mit ethischen Fragen nicht scheuen“.895 Neben dem Ergreifen wirtschaftlicher Chancen müssten die Unternehmen auch „ihre Verantwortung für soziale, ökologische und demokratische Entwicklungen“ wahrnehmen und zwar ausdrücklich auch „für die Lebenschancen der kommenden Generationen“, wobei wiederum der Nachhaltigkeitsgedanke aufgegriffen wird.896 Wie schon zuvor setzt die Denkschrift hier stark auf eine freiwillige ethische Selbstverpflichtung der Unternehmen, deren Verantwortung nicht „auf das unmittelbare unternehmerische Handeln beschränkt“ sei, sondern sich „auch auf die verantwortliche Mitwirkung an der Entwicklung wohlgeordneter Rahmenbedingungen“ mit dem Ziel der „Etablierung einer ethisch begründeten globalen Rahmenordnung und entsprechender internationaler Institutionen“ und einer „Globalisierung der Menschenrechte“ erstrecke.897 Von der Politik wird zwar eine Einflussnahme „auf die Gestaltung weltweiter wirtschaftlicher Rahmenbedingungen“ verlangt, doch konkretisiert die Denkschrift in der Folge nur die mögliche Ausformung der Rahmenbedingungen, nicht aber die Rolle des Staates bzw. 891 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 99. 892 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 100. 893 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 100. 894 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 100. 895 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 100f. 896 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 101, 105. 897 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 106.
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der Staaten.898 Zur „sozialen Gestaltung der fortschreitenden Globalisierung“ bedürfe es „weltweit gültiger Spielregeln“, wobei „das Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft die globalisierten Entwicklungen auch international prägen“ sollte, um so „Kriterien der gerechten Teilhabe aller bzw. der sozialen Inklusion weltweit zu verankern“.899 Dies könne beispielsweise über die „Welthandelsorganisation (WTO), internationale Verabredungen zwischen den Industrienationen und die Internationale Arbeitsorganisation (IAO)“ geschehen.900 Konzerne seien zur Einhaltung „wesentliche(r) Standards zum Arbeits- und Gesundheitsschutz“ gehalten, soweit ein Staat etwa die Übereinkommen der IAO nicht ratifiziere und in geltendes nationales Recht umwandle.901 Wie solche grundlegenden Regeln für wirtschaftliches Handeln jedoch international umgesetzt oder transnationale „wirtschaftliche Rahmenbedingungen“ nach dem Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft gestaltet werden könnten, wie die Selbstverpflichtung global agierender Konzerne zur Einhaltung von Menschenrechten sowie Arbeits- und Gesundheitsschutzregelungen kontrolliert und deren Mitwirkung an der Etablierung einer ethisch begründeten globalen Rahmenordnung und entsprechender internationaler Institutionen tatsächlich erreicht werden könnte, wird in keiner Weise thematisiert, auch weil die Rolle der Politik in der Denkschrift gänzlich im Dunkeln bleibt. Es fällt auf, dass die Denkschrift im Globalisierungskapitel trotz einer treffenden Darstellung wesentlicher Entwicklungen vor allem auf einer deskriptiven Ebene verharrt, wobei vor allem die Chancen der Globalisierung gegenüber ihren Risiken und Schattenseiten stark in den Vordergrund treten. Bezüglich der Ausgestaltung wirtschaftlicher und politischer Verantwortung für globales Wirtschaften nach ethischen Maßgaben belässt es die Denkschrift bei gut gemeinten Appellen an die umfassende Verantwortlichkeit global agierender Konzerne, die sich mit einer vagen Hoffnung auf Vernunft und Einsicht in ethische Grundregeln verbindet. Ob ein solch umfassendes Vertrauen in die moralische Integrität des globalen Wirtschaftssystems und seiner Akteure gerechtfertigt ist, darf bezweifelt werden. In ihrem achten Abschnitt „Gesellschaftliche Verantwortung von Wirtschaftsunternehmen – Wirtschaftliches Handeln von Kirche und Diakonie“ weist die Denkschrift auf den angesichts eines weltweit weitgehend ungeregelten Wettbewerbs wachsenden Einfluss globaler Wirtschaftsunternehmen und deren steigende Verantwortung hin, der sie besonders durch die Einhaltung von Sozial- und Umweltstandards im Rahmen langfristiger Strategien gerecht werden müssten. 902 „Nachdem soziale Verantwortung in der Tradition der Sozialen Marktwirtschaft 898 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 101. 899 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 102. 900 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 102. 901 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 102. 902 Vgl. dazu und zum Folgenden Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 107– 114.
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gerade von mittelständischen deutschen Unternehmen schon immer praktiziert worden ist“, sei sie in den zurückliegenden Jahren nun auch „für international operierende Konzerne […] fast obligatorisch geworden“.903 In diesem Zusammenhang mache der Begriff der Corporate Social Responsibility (CSR) in der deutschen Wirtschaftswelt Karriere. Unterschiedliche gesellschaftliche Anspruchsgruppen erscheinen dabei als Hauptadressaten einer verantwortlichen Unternehmenspolitik, die sich durch den Einbezug der Trias aus sozialen, ökologischen und ökonomischen Aspekten an den Kriterien der Nachhaltigkeit orientiert: Die inhaltlichen Schwerpunkte des unternehmerischen Engagements orientierten sich an „Mitarbeiter[n], Gesellschaft und Umwelt“.904 Diese gezielten Bemühungen seien häufig „Teil einer an den Anspruchsgruppen des Unternehmens ausgerichteten Gesamtstrategie“, die verdeutlichen sollten, „dass über die Gewinnerzielung hinaus ein nachhaltiges Interesse an […] der konkreten Unternehmensumwelt“ bestehe.905 CSR stehe „für die soziale und ethische Verantwortung von Unternehmen […] als eine Form des Dialogs, den jedes Unternehmen mit seinem gesellschaftlichen Umfeld führen“ müsse, „um dessen Bedürfnisse wahrnehmen und umsetzen zu können“.906 Die Kirche betont hierbei vor allem das kommunikative Element unternehmerischer Verantwortung. Eine konzertierte, unternehmensweite Managementstrategie verantwortlichen unternehmerischen Handelns wird so in eine direkte Beziehung zu einer entsprechenden umfassenden Kommunikationsstrategie gesetzt – ein interessanter und wichtiger Aspekt, auf den vor allem unten noch näher eingegangen werden soll (Vgl. unten Kapitel 2.2.1 Corporate Social Responsibility als Management- und Kommunikationskonzept verantwortlichen und nachhaltigen unternehmerischen Handelns.). Dass solcherart gesellschaftliches Engagement „trotz seiner das Image fördernden Funktion […] nicht auf strategische Erwägungen reduziert werden dürfe“, ist ein bedeutender Hinweis. Damit CSR ihre Wirkung entfalte, sei „die Glaubwürdigkeit der Aktivitäten das wichtigste Element“.907 Unternehmen sollten dazu in der Lage sein, „die Auswirkungen ihrer Tätigkeit auf Umwelt, Gesellschaft und Mitarbeiter im Rahmen ihrer Managementverfahren zu berücksichtigen und über diese in einer sachgerechten und transparenten Form zu kommunizieren“, was ein „umfassendes, im Unternehmen verankertes CSR-Management“ voraussetze.908 Es überrascht aber, dass die Übernahme unternehmerischer Verantwortung vor allem unter wirtschaftlichen Aspekten als lohnend herausgestellt wird: So erkannten „immer mehr Unternehmen, dass aktives Handeln im Bereich CSR Chancen und damit Wettbewerbsvorteile“
903 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 109. 904 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 110. 905 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 110. 906 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 109. 907 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 112. 908 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 112.
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ermögliche.909 Zweifelsfrei erwachsen aus einer CSR-Strategie auch wirtschaftliche Vorteile und das Abstellen auf ökonomische Rationalität und ein offensichtliches Kosten-Nutzen-Kalkül mag insbesondere unter Shareholderaspekten eines der überzeugendsten Argumente für eine an Aspekten der CSR orientierte Management- und Kommunikationsstrategie darstellen. Dass dabei „ethische Leitlinien“ jedoch lediglich als „wertvolle Orientierung“ für Mitarbeiter und Management hervorgehoben werden, die „moralisches Handeln“ erleichterten, zielt zu kurz und wird den vielfältigen, deutlich weiter reichenden positiven Konsequenzen einer nachhaltigen Unternehmenspolitik gerade im Hinblick auf die Kriterien intra- und intergenerativer Gerechtigkeit und einen ehrlichen Dialog mit allen gesellschaftlichen Anspruchsgruppen einer Unternehmung jedoch nicht gerecht.910 Zudem fällt auf, dass eine ethische Begründung – etwa unter Bezugnahme auf ein christliches Menschenbild oder wesentliche Glaubensgrundsätze – nicht vorgenommen wird. Im Schlusskapitel „Fazit und Empfehlungen“ fordert die Denkschrift von den Verantwortlichen in der Wirtschaft angesichts der weiteren Zunahme der Dynamik wirtschaftlicher Prozesse ein gesteigertes ethisches Bewusstsein und klare Orientierungen sowie eine spirituelle Beheimatung ein.911 „Freies unternehmerisches Handeln“ müsse sich „an ethische Grundsätze gebunden wissen, da es nur so seine Freiheit bewahren“ könne.912 Die Bibel sei dabei für Christen von zentraler orientierender Bedeutung, indem sie „die Grundperspektiven des Lebens“ präge und „Maßstäbe für den Beruf des Unternehmers“ setze.913 Wichtigster Faktor sei das „glaubwürdige Agieren der Verantwortlichen“, „ihre vorgelebte Bindung an christliche Werte und ihre Bereitschaft, auch vor Nachgeborenen Verantwortung zu übernehmen“, da ihnen nicht zuletzt eine wichtige moralische Vorbildfunktion zukäme.914 „In ihrem Kern“ bliebe „die moderne Wirtschaftswelt“ allerdings „angetrieben durch das Eigeninteresse und die Selbstverwertung des Kapitals“. 915 Wo aber die „Shareholdervalue-Orientierung eine solche Bedeutung“ gewinne, „dass die Interessen der Stakeholder wie Arbeitnehmer und Verbraucher in den Hintergrund“ rückten, drohe ein Verlust des Vertrauens, von dem wirtschaftliches Handeln getragen werde.916 Dieser Vertrauensverlust ihrer Anspruchsgruppen stellt – wie im folgenden Abschnitt noch zu zeigen sein wird – ein ernst zu nehmendes Risiko für Unternehmen dar.
909 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 112. 910 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 113. 911 Vgl. Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 125–138. 912 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 127. 913 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 127. 914 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 127. 915 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 128. 916 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 128.
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1.3.6.2.1
Kritik und Würdigung der Denkschrift
Kritik von Teilen der evangelischen Theologie erfuhr vor allem die in der Denkschrift vorgenommene Annäherung und grundsätzliche Bejahung der Sozialen Marktwirtschaft, die als unumschränkte Befürwortung des Kapitalismus gewertet wurde: Der von Ulrich Duchrow und Franz Segbers herausgebene Sammelband Frieden mit dem Kapital? Wider die Anpassung der evangelischen Kirche an die Macht der Wirtschaft enthält neben verschiedenen kritischen Beiträgen auch ein von Wissenschaftlern unterschiedlicher Profession unterzeichnetes, „an Christinnen und Christen, Gemeinden und Kirchen“ gerichtetes Memorandum, das dazu auffordert, „der Unternehmerdenkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland biblisch-theologisch und wirtschaftswissenschaftlich zu widersprechen“.917 Darin wird der Denkschrift neben wiederholter, ausgiebiger Kritik an ihrem Umgang mit der Bibel und der Bestimmung des Verhältnisses zwischen Religion und Ökonomie918 vorgeworfen, die „soziookönomische Realität in grotesker Weise“ zu beschönigen und sich damit von der „Mehrheit der Erdbevölkerung und auch von den Verlierern und Verliererinnen in Deutschland“ abzutrennen, die „zunehmend unter den ausschließenden, verarmenden und ökologisch zerstörerischen Folgen des herrschenden Systems“ zu leiden hätten. 919 Die Evangelische Kirche nehme eine Legitimierung des „neoliberale[n] Kapitalismus“ vor, indem dieser in der Denkschrift zu unrecht als Soziale Marktwirtschaft bezeichnet würde.920 Die geäußerte Kritik ist in ihrer Schärfe überzogen und teilweise auch unsachlich. Unterstellt man der Denkschrift, sie wolle einen neoliberalen Kapitalismus und dessen Auswirkungen verharmlosen und als Soziale Marktwirtschaft verkaufen, wird man ihr nicht gerecht. Ökonomisches Handeln erscheint in der Denkschrift immer auch als ein Prozess, der eingebunden in ein marktwirtschaftliches Gesellschaftssystem Verantwortung für die Grundlagen sozialer Gerechtigkeit und den Schutz der natürlichen Umwelt zu tragen hat. Die Denkschrift stellt eine vielschichtige und differenzierte Auseinandersetzung mit unternehmerischem Handeln in der Gegenwart und den Folgen des Globalisierungsprozesses dar. Allerdings bedingt die von der Denkschrift angestrebte Konzentration auf die Frage des unternehmerischen Handelns als eine „der wichtigsten Triebkräfte marktwirt917 Vgl. Ulrich Duchrow u.a.: Memorandum. An Christinnen und Christen, Gemeinden und Kirchen, der Unternehmerdenkschrift der Evangelischen Kirche biblisch-theologisch und wirtschaftswissenschaftlich zu widersprechen. In: Ders./Franz Segbers (Hg.): Frieden mit dem Kapital? Wider die Anpassung der evangelischen Kirche an die Macht der Wirtschaft. Oberursel 2008, S. 9–27. 918 Auf diese Kritik soll hier nicht näher eingegangen werden. Vgl. bes. Kuno Füssel: Das Ende der prophetischen Kritik. Zum Umgang mit der Bibel in der Denkschrift der EKD über unternehmerisches Handeln. In: Duchrow/Segbers (Hg.): Frieden mit dem Kapital?, S. 150–163. Vgl. zudem Ton Veerkamp: Was ist eigentlich noch evangelisch an der Evangelischen Kirche in Deutschland? In: Ebd., S. 127–137; sowie Frank Crüsemann: Wirtschaftliche Gerechtigkeit als Moment biblischer Theologie. In: Ebd., S. 138–149. 919 Duchrow u.a.: Memorandum, S. 9. 920 Duchrow u.a.: Memorandum, S. 9.
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schaftlicher Ökonomie“ eine starke Perspektivierung auf das System der Wirtschaft und die in ihm handelnden Akteure.921 Es ist unzweifelhaft, dass die Beschäftigung mit dieser „Problematik“, wie von der Denkschrift angegeben, aus deren großer Bedeutung „für die Zukunft sozialer Gerechtigkeit und den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen“ ihre Berechtigung bezieht.922 Doch ist zu bemängeln, dass die Denkschrift bei der Untersuchung der gegenwärtigen Entwicklungen des weltweiten Wirtschaftssystems weitgehend auf einer rein deskriptiven Ebene verharrt und eine Auseinandersetzung und vor allem eine ethische Bewertung der außerökonomischen Konsequenzen des fortschreitenden Globalisierungsprozesses scheut. Lediglich auf die „beständige Neuschaffung“ gesellschaftlichem Reichtums zu pochen, das Ideal eines „Wohlstands für möglichst viele“ hochzuhalten, Nachhaltigkeit und globale Gerechtigkeit einzufordern und an die Rückbesinnung auf wesentlichen Glaubensgrundsätze zu appellieren, ist unzureichend, wenn von den Wirtschaftsakteuren nichts weiter als die freiwillige Einhaltung von Regeln und die größtmögliche Offenheit und Transparenz in ihrem Handeln sowie in ihrer Kommunikation gegenüber den unterschiedlichen Anspruchsgruppen gefordert wird.923 Fragwürdig erscheinen in diesem Zusammenhang besonders das große Vertrauen in die Möglichkeiten der weltweiten Kapitalmärkte einerseits, die transparent und gut reguliert zu erheblichen Wohlfahrtsgewinnen führten, wobei die negativen Folgen ausschließlich positiv umgedeutet werden, und in die Potentiale eines funktionierenden Wettbewerbs als Regulativ andererseits, das im Rahmen eines – wie auch immer gestalteten – Ordnungsrahmens sozialen Ausgleich, Solidarität und Gerechtigkeit gewährleisten könne und zugleich staatliche Eingriffe auf das Nötigste zu reduzieren vermöge. Eine abschließende Würdigung der Denkschrift muss in erster Linie bemängeln, dass die evangelische Kirche darin ihren eigenen Forderungen nach einem ethischen Bewusstsein, klaren Orientierungen und spiritueller Beheimatung nicht gerecht wird. Sie lässt Probleme ungenannt, konkretisiert ihre Forderungen kaum und verharrt vielfach auf einer ausschließlich deskriptiven Ebene. Die Denkschrift weist auf die „kraftvolle Grundlage“ der ethischen Traditionen des christlichen Glaubens für wirtschaftsethische Frage- und Problemstellungen hin.924 Deren Aktualisierung oder zumindest einen fassbaren Bezug auf diese „kraftvolle Grundlage“ hätte man sich gewünscht. So bleibt vieles offen, bzw. in die Verantwortung des Einzelnen gestellt, dem von der Denkschrift zwar in der treffenden Beschreibung gegenwärtiger Entwicklungen und Herausforderungen eine solide Grundlage, aber zu wenig echte Orientierung zur wirtschaftsethischen Problemlösung und Entscheidungsfindung zur Verfügung gestellt wird. Die von der Denkschrift versuchte Versöhnung zwischen kirchlicher Soziallehre und globaler Ökonomik scheitert so vor allem an der fehlenden inhaltlichen Kompe921 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 1. 922 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 1. 923 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 4. 924 Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive, Nr. 22.
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Wirtschaften und Ethik in der Geschichte der christlichen Religion
tenz der Kirche, sich neben und jenseits der deskriptiven Ebene intensiv mit konkreten Fragen auseinander zu setzen und Lösungsansätze anzubieten.
1.4 Wirtschaftsethik in der christlichen Religionsgeschichte: Ein Ausblick Anhand einiger beispielhafter Schlaglichter der Theologie- und Kirchengeschichte konnte gezeigt werden, wie die Entwicklung unserer Kultur von der Suche und der Bestimmung des Verhältnisses zwischen Wirtschaft und Ethik mitbestimmt wurde und dass die beiden großen christlichen Kirchen maßgeblichen Einfluss nahmen auf die Ausgestaltung dieses Prozesses, auf die Herausbildung von Theorien zum Verständnis des Wirtschaftsgeschehens und die daraus abgeleiteten sittlich-moralischen Konsequenzen. Bis heute enthalten religiös fundierte Ethiken immer auch Stellungnahmen zum wirtschaftlichen Handeln des Menschen. Fraglos leistet die christliche Wirtschaftsethik dadurch einen wesentlichen Beitrag zur Normierung und Gestaltung des ökonomischen Handelns der Gläubigen. Dennoch könnte man die Frage aufwerfen, welche Bedeutung aktuelle, allenfalls von Fachmedien rezipierte Enzykliken und Denkschriften für den wirtschafts- und unternehmensethischen Diskurs noch besitzen, wofür die Kirchen in einer globalisierten Wirtschaft, in der die Interessen unterschiedlicher Anspruchsgruppen von einer Vielzahl einflussreicher NGOs wirksam vertreten werden, als normative Instanz überhaupt noch gebraucht werden. Indem die theologische Wirtschaftsethik der Gegenwart eine „ethische Theorie der Moral ähnlich wie andere moderne moralphilosophische Ansätze mit universalistischen, gerechtigkeitstheoretischen oder konsenstheoretischen Methoden“ zu begründen sucht, ist sie wirtschaftsethischen Ansätzen anderer fachwissenschaftlicher Provenienz freilich keineswegs unähnlich.925 Elke Mack weist jedoch zurecht auf ein besonderes Spezifikum einer theologischen Wirtschaftsethik hin: In ihr werde der „‚moral point of view‘“ und die mit ihm „verbundene hermeneutische Reflexion über den Ausgangspunkt, die jeder Moralbegründung noch einmal vorausgeht […], mit einem wesentlichen Unterschied eingenommen und durchge-führt“.926 In der bewussten Einbeziehung transzendenter Bezüge gehe die theologische Ethik grundlegend anders an ihre Forschungsobjekte heran und reflektiere deshalb moralische Probleme so, „dass hermeneutische Zielgrößen nicht im immanenten Möglichkeitsraum stehen bleiben“.927 Auf diese Weise eröffne sie eschatologische Gestaltungsräume, die von langfristigerer Natur seien, als das derzeit Machbare. 928 Eine theologische Begründung von 925 Elke Mack: Theologische Wirtschaftsethik. In: Beschorner, Thomas/Schmidt, Matthias (Hg.): Integritäts- und Umweltmanagement in der Beratungspraxis. München u.a. 2004 (= Schriftenreihe für Wirtschafts- und Unternehmensethik 8), S. 139–149, 139. 926 Mack: Theologische Wirtschaftsethik, S. 140. 927 Mack: Theologische Wirtschaftsethik, S. 140. 928 Vgl. Mack: Theologische Wirtschaftsethik, S. 140.
Wirtschaftsethik in der christlichen Religionsgeschichte: Ein Ausblick
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hermeneutischen Ausgangspunkten der Ethik geschehe in der christlich geprägten Wirtschaftsethik „aus der theologischen Überzeugung heraus, dass der christliche Glaube zutiefst etwas mit ethischer Verantwortung für andere und für die Gesellschaft als Ganze zu tun“ habe.929 Die Einforderung und Übernahme von Verantwortung für diejenigen Anspruchsgruppen, die über keine Lobby verfügen und die leicht überhört würden, kann als das eigentliche Alleinstellungsmerkmal der christlichen Kirchen im gegenwärtigen wirtschaftsethischen Diskurs betrachtet werden. Die Fähigkeit der christlichen Kirchen, aus ihrem historisch gewachsenen Selbstverständnis als unbequeme Mahner für Gerechtigkeit sowie in ihrem Eintreten für die Bewahrung der Schöpfung eine unabhängige Position jenseits von Moden, Trends und Tagespolitik einnehmen zu können, macht sie zum Sachwalter der Interessen jener, die ihre Ansprüche nicht oder noch nicht artikulieren können. Dabei profitieren sie einerseits von einem gewachsenen Vertrauen in ihre Verlässlichkeit und Wahrhaftigkeit, in ihre Un- und Überparteilichkeit über konfessionelle oder parteipolitische Grenzen hinweg sowie der Zeitlosigkeit ihrer Argumente andererseits, denen die Kirchen im Diskurs so eine anschlussfähige und langfristige – und somit eine im eigentlichen Sinne nachhaltige – Perspektive verleihen können. Ihr Glaubwürdigkeitsvorteil kommt ihnen dabei zupass. Zuweilen scheint es heute fast, als hätten sich die Kirchen damit abgefunden, mit ihren sozialethischen Stellungnahmen allenfalls ein interessiertes Fachpublikum zu erreichen, als seien sie sich ihres faktischen normativen Einflusses auf den gesellschaftlichen Diskurs weder recht gewiss noch gewahr. Versteht man, wie zu Beginn dieser Arbeit dargelegt, religiöse Deutungssysteme als „Systeme der Lebensführung“, die Anspruch darauf erheben, „die Lebensvollzüge der in ihnen vergemeinschafteten Menschen“ deshalb „tiefgreifend prägen“, weil sie sich auf das „‚Ganze‘ der Wirklichkeit“ zu beziehen, so sind die Kirchen in der Pflicht, den normativen Anspruch religiöser Ethik offensiv zu vertreten.930 Angesichts der alten und neuen Herausforderungen im Zuge des Globalisierungsprozesses, der latenten Gerechtigkeitsproblematik, des offenkundigen wiederholten Versagens nationaler Politik und der Unmöglichkeit einer verbindlichen transnationalen Rahmenordnung kommt den Kirchen die Rolle einer besonderen NGO zu: Im Sinne inter- und intragenerativer Gerechtigkeit können sie als Stimme der Sprachlosen fungieren. Die Kirchen können so gegenwärtig und in Zukunft eine wichtige Orientierungsleistung – auch, aber nicht nur, in ethischen Konfliktfällen – erbringen. Angesichts des grassierenden Vertrauensverlusts vieler Anspruchsgruppen gegenüber dem marktwirtschaftlichen System, der sich – wie im kommenden Kapitel noch zu zeigen sein wird – im Zuge der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise weiter verschärft hat, darf die kulturelle und politische Bedeutung der beiden großen christlichen Kirchen für die wirtschaftsethische Debatte weder negiert noch unterschätzt werden.
929 Mack: Theologische Wirtschaftsethik, S. 141. 930 Graf: Die geschichtliche Rolle, S. 567f.
Was die Weltwirtschaft angeht, so ist sie verflochten. […] Zusammenfassend kann gesagt werden: die Nationalökonomie ist die Metaphysik des Pokerspielers. (Kurt Tucholsky: Kurzer Abriß der Nationalökonomie [1931])
Hier oben weht ein rauher Wind, keiner hört uns, wenn wir traurig sind, Gott, wenn du mich hörst, sag mir, ob es ein’ Himmel gibt für Bänker, hier oben weht ein rauher Wind, keiner hört uns, wenn wir traurig sind, ich verkauf’ noch dieses Wertpapier, mach’ den Computer aus und spring’ aus dem Fenster! (K.I.Z.: Rauher Wind [2009])
2. Das Verhältnis von Ethik und Ökonomik 2.1 Auf der Suche nach Verantwortung: Wirtschaftskrise als Vertrauenskrise 2.1.1 Von der Finanz- zur globalen Wirtschaftskrise Der 15. September 2008 veränderte die Welt. An diesem Tag, der als „Schwarzer Montag“ als eines der unrühmlichsten Kapitel in die Wirtschaftsgeschichte eingehen wird, meldet die große US-amerikanische Investmentbank Lehman Brothers Insolvenz an und geht mit 200 Milliarden US-Dollar Verbindlichkeiten in den Konkurs, ihr schwer angeschlagener Konkurrent Merrill Lynch wird von der Bank of America aufgekauft und der US-amerikanische Börsenindex Dow Jones erleidet den stärksten Tagesverlust seit den terroristischen Anschlägen vom 11. September 2001.1 Der Montag im September 2008 markierte den vorläufigen negativen Höhepunkt der Finanzmarktkrise und zugleich ihren symbolischen Wendepunkt: Spätestens jetzt war offensichtlich, dass sich aus der zuerst noch schwelenden und dann immer rascher um sich greifenden Krise des (US-amerikanischen) Immobilien- und Finanzmarkts eine Wirtschaftskrise globalen Ausmaßes entwickelt hatte – mit bis heute nicht in Gänze absehbaren und nicht kalkulierbaren Folgen.2 Kein Zweifel besteht indes daran, dass die Konsequenzen aus der Krise kein isoliertes 1
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Vgl. zu den Schulden der insolventen Bank Gewaltiger Uranvorrat. Lehman Brothers und die Atombombe. In: FTD.de v. 14.04.2009, URL: http://www.ftd.de/unternehmen/finanzdienstleister/ :Gewaltiger-Uranvorrat-Lehman-Brothers-und-die-Atombombe/499823.html [aufgerufen am 26.05.2009]. Vgl. ausführlich zur Entstehung der Finanz- und Wirtschaftskrise, auf deren Ursachen an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden soll, bspw. Barry Eichengreen: Thirteen Questions about the Subprime Crisis. University of California, Berkeley. January 2008, URL: http://www.econ.berkeley.edu/~eichengr/13%20questions.pdf [aufgerufen am 12.11.2009]. Vgl. ebf. ders.: Origins and Responses to the Crisis. University of California, Berkeley. October 2008, URL: http://emlab. berkeley.edu/users/webfac/eichengreen/e183_sp07/origins_responses.pdf [aufgerufen am 12.11.2009]; sowie Roger D. Congleton: On the Political Economy of the Financial Crisis and Bailout of 2008– 2009. In: Public Choice 140 (2009), S. 287–317; Bodo Herzog: Die Finanzmarktkrise. Ursachen, Lehren und Lösungsansätze. In: Lehren aus der Finanzmarktkrise. Ein Comeback der Sozialen Marktwirtschaft. Hg. v. d. Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. Bd. 1: Ordnungspolitische und sozialethische Perspektiven. St. Augustin u.a. 2008, S. 9–15, URL: http://www.kas.de/wf/doc/ kas_15172544-1-30.pdf [aufgerufen am 29.11.2009]; Carmen Reinhart/Kenneth Rogoff: This Time Is Different. Eight Centuries of Financial Folly. Princeton, NJ u.a. 2009; sowie F. Gerard Adams: The World Financial Crisis: New Economy, Globalization and Old-Fashioned Philosophy. In: World Economics 10 (2009), S. 45–58; W. Max Corden: The World Credit Crisis: Understanding it, and What to Do. In: The World Economy 32 (2009), S. 385–400; Torben M. Andersen: Fiscal Policy and the Global Financial Crisis. Aarhus 2009 (= Economics working paper 2009,7).
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Das Verhältnis von Ethik und Ökonomik
Phänomen darstellten, das lediglich bestimmte Märkte oder einzelne Volkswirtschaften betroffen hätte. Wie Wirtschaft und Handel waren auch die Krise und ihre konjunkturellen Folgen globale Phänomene, deren Auswirkungen die ganze Welt zu spüren bekam: So litt die Exportnation Deutschland besonders unter der gesunkenen Nachfrage aus dem Ausland.3 Die deutsche Wirtschaft schrumpfte: Über das Jahr 2009 sank das Bruttoinlandsprodukt als umfassender Indikator für die gesamtwirtschaftliche Leistung preisbereinigt gegenüber dem Vorjahr um 5,0 %.4 Das war der mit Abstand größte Rückgang seit Bestehen der Bundesrepublik.5 Dementsprechend beklagte das Statistische Bundesamt den „stärkste[n] wirtschaftliche[n] Einbruch der Nachkriegszeit“.6 Zum ersten Mal seit der Gründung der Bundesrepublik sank auch das Bruttonationaleinkommen in Deutschland.7 Binnen Jahresfrist gingen die Exporte deutscher Waren um 14,7 % zurück. 8 Besonders von der Wirtschaftskrise betroffen war dabei das produzierende Gewerbe (ohne Baugewerbe), dessen Bruttowertschöpfung um 16,9 % gegenüber 2009 fiel.9 Auch Anfang des Jahres 2010 blickte das produzierende Gewerbe in Deutschland wenig optimistisch in die nahe Zukunft: Die stark exportorientierte deutsche Maschinenbaubranche, die zuvor über viele Jahre überdurchschnittliche Wachstumsraten hatte verzeichnen können und als wesentlicher Motor der Konjunktur in Deutschland gilt, erwartete ein weiteres Krisenjahr.10 Der Präsident des Verbandes Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA), Manfred Wittenstein, erklärte in einem Schreiben an die rund 3000 Mitgliedsunternehmen, dass viele Betriebe die Krisenfolgen erst 2010 mit voller Härte zu spüren bekämen. Darin befürchtete er weitere Firmenpleiten und den Abbau von Arbeitsplätzen. Die Ma3
Vgl. dazu beispielhaft Außenhandel. Export-Nationen Deutschland und Japan stürzen ab. In: Welt.de v. 10.03.2009, URL: http://www.welt.de/wirtschaft/article3349884/Export-NationenDeutschland-und-Japan-stuerzen-ab.html [aufgerufen am 29.05.2009]. 4 Vgl. Statistisches Bundesamt: Bruttoinlands-Produkt 2009 für Deutschland. Wiesbaden 2010, S. 6f., URL: http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Presse/pk/2010/ BIP2009/Pressebroschuere__BIP2009,property=file.pdf [aufgerufen am 17.01.2010]. 5 Vgl. Statistisches Bundesamt: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen. Wichtige Zusammenhänge im Überblick 2009. Wiesbaden 2010, S. 12, 15, URL: http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/ Sites/destatis/Internet/DE/Content/Publikationen/Fachveroeffentlichungen/VolkswirtschaftlicheGesamtrechnungen/Zusammenhaenge,property=file.pdf [aufgerufen am 17.01.2010]. 6 Statistisches Bundesamt: Bruttoinlands-Produkt 2009 für Deutschland, S. 26. 7 Die Angaben beziehen sich auf das Bruttonationaleinkommen in jeweiligen Preisen insgesamt. Vgl. Statistisches Bundesamt: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, S. 15. 8 Vgl. Statistisches Bundesamt: Bruttoinlands-Produkt 2009 für Deutschland, S. 10. 9 Statistisches Bundesamt: Bruttoinlands-Produkt 2009 für Deutschland, S. 8. 10 Vgl. dazu und zum Folgenden Maschinenbauer erwarten weiteres Krisenjahr. In: Handelsblatt v. 29.12.2009, URL: http://www.handelsblatt.com/deutschland-maschinenbauer-erwarten-weiteres-krisenjahr;2505623 [aufgerufen am 12.01.2010]. Vgl. zur Bedeutung des Maschinen- und Anlagenbaus für die deutsche Wirtschaft bspw. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hg.): Magazin für Wirtschaft und Finanzen Nr. 46 03/2008. Schwerpunkt: Maschinen und Anlagenbau. Berlin 2008, URL: http://www.bundesregierung.de/nn_774/Content/DE/__Anlagen/2008/03/magazinfuer-wirtschaft-finanzen-56-pdf,property=publicationFile.pdf [aufgerufen am 17.01.2010].
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schinenproduktion werde im Jahr 2010 stagnieren, nachdem sie 2009 um 20 Prozent eingebrochen sei. Die Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf den deutschen Arbeitsmarkt waren laut der Jahresstatistik der Bundesagentur für Arbeit für das Jahr 2009 „deutlich“, wären „aber angesichts des massiven Produktionseinbruchs“ noch „vergleichsweise moderat“ ausgefallen.11 Eine deutliche Abnahme habe es aber bei der Vollzeitbeschäftigung gegeben.12 Für das Jahr 2010 wurde von Konjunkturforschern ein weiterer Anstieg der Arbeitslosigkeit erwartet: Die Konjunkturprognosen aus dem Oktober und November 2009 gingen für 2010 von Arbeitslosenzahlen zwischen 3,88 und 4,49 Millionen aus, was Erwerbslosenquoten zwischen 9,2 und 10,4 Prozent entspricht.13 Noch weit negativere Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise auf die deutsche Wirtschaft und den Arbeitsmarkt im Land konnten nur durch die Einrichtung von Kurzarbeit, von der bei ihrem Höchststand im Mai 2009 über 1,5 Mio. Menschen betroffen waren14, durch staatliche Milliardenhilfen für notleidende Unternehmen sowie die Verabschiedung von Konjunkturpaketen in Höhe von rund 80 Milliarden Euro abgewendet werden.15 Zur Verstaatlichung des Immobilien- und Staatsfinanzierers Hypo Real Estate Group AG beschloss die Bundesregierung eigens das Rettungsübernahmegesetz.16 Am 5. Oktober 2009 wurde schließlich bei der Hauptversammlung der Immobilienbank deren vollständige 11 Bundesagentur für Arbeit: Der Arbeits- und Ausbildungsmarkt in Deutschland. Monatsbericht Dezember und Jahr 2009. Nürnberg 2010, S. 6, URL: http://www.pub.arbeitsagentur.de/hst/services/ statistik/000100/html/monat/200912.pdf [aufgerufen am 17.01.2010]. Die durchschnittliche Arbeitslosenquote – auf Basis aller zivilen Erwerbspersonen – belief sich im Jahr 2009 auf 8,2 Prozent, was einer Zunahme von 0,4 Prozentpunkten im Vergleich zum Vorjahr entspricht. (Vgl. ebd., S. 33.) 12 Bundesagentur für Arbeit: Der Arbeits- und Ausbildungsmarkt in Deutschland. Monatsbericht Dezember und Jahr 2009, S. 6. 13 Vgl. Thieß Petersen: Konjunkturaussichten für Deutschland im Spätherbst 2009. Gütersloh 2009, URL: http://www.bertelsmann-stiftung.de/bst/de/media/xcms_bst_dms_30338_30339_2.pdf [aufgerufen am 12.01.2010]. Die Studie bezieht sich auf einige wichtige Konjunkturprognosen unterschiedlicher seriöser Urheber. Dort findet sich ebf. ein Überblick über die wichtigsten Indikatoren der Wirtschaftsprognosen verschiedener Institute und Einrichtungen für Deutschland seit Januar 2009. 14 Vgl. Bundesagentur für Arbeit (Hg.): Der Arbeitsmarkt in Deutschland. Kurzarbeit. Aktuelle Entwicklungen. Nürnberg 2009, S. 9, URL: http://www.pub.arbeitsagentur.de/hst/services/statistik/ 000100/html/sonder/kurzarbeit_in_deutschland_aktuelle_entwicklungen.pdf [aufgerufen am 17.01.2010]. 15 Vgl. zu den Hilfen der Politik für finanziell angeschlagene Unternehmen Christine Scheel: Wer zähmt die Monster? Die Rolle der Politik bei der Strukturierung der nationalen und internationalen Finanzmärkte. In: Gotlind Ulshöfer/Gesine Bonnet (Hg.): Corporate Social Responsibility auf dem Finanzmarkt. Nachhaltiges Investment – politische Strategien – ethische Grundlagen. Wiesbaden 2009, S. 114–125. 16 Vgl. Hypo Real Estate. Bundestag billigt Banken-Enteignungsgesetz. In: FAZ.net v. 20.03.2009, URL: http://www.faz.net/s/Rub0E9EEF84AC1E4A389A8DC6C23161FE44/Doc~EDEF624961AC 143E0B4227C81FBF6CE76~ATpl~Ecommon~Scontent.html [aufgerufen am 29.05.2009].
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Das Verhältnis von Ethik und Ökonomik
Verstaatlichung beschlossen.17 Die verbliebenen Kleinaktionäre erhielten im Rahmen eines sog. Squeeze-Outs eine Zwangsabfindung. Diese in der Geschichte der Bundesrepublik einmalige Form staatlicher Intervention (und die Schaffung ihrer rechtlichen Grundlage) wurde von Seiten der Politik für notwendig erachtet, um den Kollaps der Bank und einen damit einhergehenden Totalverlust abzuwenden. Während die US-amerikanische Regierung beim Zusammenbruch von Lehman Brothers nicht eingegriffen hatte, betonte die Bundesregierung immer wieder die „Systemrelevanz“ der Hypo Real Estate und unterstrich damit auch, dass von der Krise der Finanzmärkte weit über einzelne Wirtschaftsbereiche und sogar über die gesamte Wirtschaft hinausreichende Folgen herrühren (können), die Gesellschaft und Staat als Ganzes betreffen. Auch in anderen Industriestaaten schützten Konjunkturpakete, hohe staatliche Bürgschaften oder (Teil-)Verstaatlichungen die Wirtschaft vor noch verheerenderen Krisenfolgen, dennoch drohte – auch angesichts der nach Prognosen lediglich langsamen Erholung der Wirtschaft – eine dramatische Erhöhung der Arbeitslosenzahlen in ganz Europa. Im August 2009 hatte die Arbeitslosenquote mit 9,6 % im Euroraum und 9,1 % in der Europäischen Union Werte erreicht, welche die Niedrigstände aus dem Frühjahr 2008 um mehr als zwei Prozentpunkte überstiegen.18 Die EU-Kommission ging in ihrer ausführlichen Herbstprognose aus dem Jahr 2009 davon aus, dass die Arbeitslosigkeit innerhalb der EU bis 2011 voraussichtlich auf 10,25 % und auf 10,75 % im Euroraum steigen würde.19 Zudem nahm sie an, dass die Staatsverschuldung in der EU 7,5 % des BIP erreichen würde.20 OECD und EU-Kommission prognostizierten eine Abnahme des Bruttoinlandsproduktes 2009 im Euroraum um 4 % gegenüber dem Vorjahr. 21 Der OECD-Wirtschaftsausblick aus dem Frühjahr 2009 malte ein schwarzes Bild der weltweiten Wirtschaft. Darin wurde vorausgesagt, dass Ende des Jahres 2010 die Arbeitslosigkeit in vielen Ländern zum ersten Mal seit den frühen 1990er Jahren zweistellige Werte erreichen würde und dass ferner aufgrund der tiefsten und umfassendsten Rezession seit mehr als 50 Jahren der Welthandel im Jahr
17 Vgl. dazu und zum Folgenden HRE-Hauptversammlung. Hypo Real Estate verstaatlicht. In: Sueddeutsche.de v. 05.10.2009, URL: http://www.sueddeutsche.de/finanzen/653/490034/text/ [aufgerufen am 21.10.2009]. 18 Vgl. European Commission: European Economic Forecast – autumn 2009. Brüssel 2009 (= European Economy 10/2009), S. 23, URL: http://ec.europa.eu/economy_finance/publications/publication16055_en.pdf [aufgerufen am 12.01.2010]. 19 Vgl. European Commission: European Economic Forecast – autumn 2009, S. 2. 20 Vgl. European Commission: European Economic Forecast – autumn 2009, S. 2. 21 Vgl. Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD): Economic Outlook. Preliminary version. Nr. 86 – November 2009, URL: http://www.oecd.org/dataoecd/2/29/ 22545260.pdf [aufgerufen am 12.01.2010]; sowie European Commission: European Economic Forecast – autumn 2009, S. 1.
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2009 um mehr als 13 % einbrechen und die weltweite Wirtschaftsleistung um 2,7 % zurückgehen würden.22 Eine Folge des weltweiten Globalisierungsprozesses ist, dass sich die gravierenden ökonomischen Probleme der wirtschaftlich starken Staaten nun direkt auf die schwächeren Staaten auswirken. Gerade für die sog. Least Developed Countries, die ärmsten Volkswirtschaften der Welt, war der Export auf den globalisierten Märkten in den zurückliegenden Jahrzehnten der entscheidende Motor für Wachstum, Entwicklung und steigenden Wohlstand.23 Die Armut sank – vor allem dort, wo Volkswirtschaften mit Erfolg am Weltmarkt partizipierten – und Schwellenländer wie China, Indien, Brasilien sowie viele Staaten in Südostasien erkämpften sich einen Platz im Kreise der starken Wirtschaftsnationen. Die Kehrseite des Wachstums und der engen Verflechtung der Märkte zeigt sich nun, da die Krise die bottom billion, jene Milliarde ärmster Menschen, die in rund 60 besonders armen Staaten leben, in rasender Geschwindigkeit erreicht hat.24 Bereits wenige Wochen nach dem Einbruch der Börsen gingen in China die Bestellungen von Mobiltelefonen zurück und wenige Wochen später wurden im Kongo die ersten Minen geschlossen, in denen die für die Handyproduktion unabdinglichen Metalle gewonnen wurden, während in Bangladesch die ersten Textilarbeiter entlassen wurden, weil in US-amerikanischen Kaufhäusern Kleidung in Folge des eingebrochenen Konsums zum Ladenhüter wurde. Wanderarbeiter, für viele Länder ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, bleiben ohne Arbeit und können die Daheimgebliebenen weniger unterstützen. Kapitalanlagen werden aus den armen Ländern abgezogen. Der Einbruch der Währungskurse vieler Entwicklungsländer verteuert wichtige Nahrungsmittelimporte. Dazu sanken die Preise für Rohstoffe, die für viele Länder ihre wichtigste Einnahmequelle darstellen, am Weltmarkt deutlich, was nicht nur die Arbeitsplätze zahlreicher Menschen bedroht, sondern die Stabilität ganzer Staaten gefährdet.25 In armen Ländern hängen an den Stellen der Arbeiter, die durch ihre knochenharte Arbeit zumindest ein wenig am Aufschwung partizipieren konnten, aber weder über Kündigungsschutz verfügen noch Anspruch auf den 22 Vgl. Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD): OECD-Wirtschaftsausblick. Zwischenausgabe. März 2009 v. 30.03.2009, URL: http://www.oecd.org/dataoecd/ 50/49/42464775.pdf [aufgerufen am 29.05.2009]. 23 Der Anteil der Exporte am Sozialprodukt dieser Länder stieg von 17 Prozent im Jahr 1995 auf 45 Prozent im Jahr 2007. Vgl. dazu Thomas Fischermann: Turboverarmung. Die Weltwirtschaftskrise hat die Ärmsten der Welt schnell erreicht – und niemand schützt sie. In: Die Zeit Nr. 23 v. 28.05.2009, S. 25f., 25. 24 Vgl. ebf. wie auch zum Folgenden Fischermann: Turboverarmung, S. 25f. Vgl. grundlegend zur Situation der „untersten Milliarde“ und zu den Folgen der Globalisierung die Monographie des Direktors des „Centre for the Study of African Economics“ an der Universität Oxford Paul Collier: Die unterste Milliarde. Warum die ärmsten Länder scheitern und was man dagegen tun kann. München 2008. 25 Vgl. dazu Mark Schieritz: Was von den Schätzen bleibt. Jahrelang wuchs die afrikanische Wirtschaft dank hoher Rohstoffpreise. Jetzt warnt die UNO vor Aufständen. In: Die Zeit Nr. 23 v. 28.05.2009, S. 26.
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Bezug von Arbeitslosengeld haben, in der Regel die Existenzen ganzer Familien. Das alles führte vielerorts zu einem rapiden Anstieg der Armut, so dass nach Schätzungen der Weltbank hunderttausende Kinderleben in Gefahr sind, weil sich – wie es die Entwicklungshilfeorganisation Oxfam bezeichnet – eine neue „Hungerkrise“ anbahnt.26 Im Sommer 2009 gab die Welternährungsorganisation FAO bekannt, dass infolge der globalen Wirtschaftskrise die Zahl der Menschen, die weltweit unter Hunger litten, erstmals auf über eine Milliarde gestiegen sei – damit sei jeder sechste Mensch auf der Erde nicht ausreichend mit Lebensmitteln versorgt.27 Das bedeutet einen deutlichen Anstieg von elf Prozent gegenüber dem Vorjahr, von dem besonders die ärmsten Länder der Erde betroffen sind. FAO-Generaldirektor Jacques Diouf beklagt eine „gefährliche Mischung aus wirtschaftlichem Abschwung und anhaltend hohen Lebensmittelpreisen“, die „im Vergleich zum Vorjahr rund hundert Millionen Menschen zusätzlich in Armut und Hunger gestürzt“ hätten.28 In ihren negativen Folgen eint die Krise: Selbst in den USA, immerhin die größte Volkswirtschaft der Erde, müssten Millionen Menschen hungern, würde der Staat nicht eingreifen.29 Zu Jahresbeginn 2009 waren über 31,5 Millionen US-Bürger auf staatliche Lebensmittelhilfe angewiesen – ein Indiz vor allem auch dafür, dass die Wirtschaftskrise für das „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ immer mehr zu einer Armutskrise wird. Die Zahl der Hilfsempfänger ist zuletzt stark angestiegen, größer war ihre Zahl in den zurückliegenden 50 Jahren seit Einführung der sogenannten food stamps nie. Mittlerweile existieren in den USA über 40.000 private Ausgabestellen für Lebensmittelspenden und Suppenküchen. Doch solche Hilfe können sich arme Staaten ebenso wenig leisten wie Rettungsprogramme für die notleidende Wirtschaft. Eine Studie des britischen Institute of Development Studies macht deutlich, dass die Menschen in fünf von der Krise besonders hart
26 Vgl. dazu u.a. Petra Sorge: Ernährungskrise. Entwicklungshelfer vermissen Milliardenpaket gegen Hunger. In: Spiegel Online v. 16.10.2008, URL: http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518, 584128,00.html [aufgerufen am 29.05.2009]. 27 Vgl. dazu und zum Folgenden Food and Agriculture Organization of the United Nations (FAO): 1.02 billion people hungry. One sixth of humanity undernourished – more than ever before. Pressemitteilung v. 19.06.2009, URL: http://www.fao.org/news/story/en/item/20568/icode/ [aufgerufen am 19.06.2009]; vgl. dazu ebf. Lebensmittelnot. Weltweit hungert jeder sechste Mensch. In: Spiegel Online v. 19.06.2009, URL: http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,631284,00.html [aufgerufen am 19.06.2009]. 28 Zit. nach FAO: 1.02 billion people hungry. Pressemitteilung v. 19.06.2009. „A dangerous mix of the global economic slowdown combined with stubbornly high food prices in many countries has pushed some 100 million more people than last year into chronic hunger and poverty,“ so Diouf. 29 Vgl. dazu und zum Nachfolgenden Reymer Klüver: Aufgewacht mit leerem Magen. In der Wirtschaftskrise verkehrt sich der amerikanische Traum ins Gegenteil: Mehr als 30 Millionen Menschen sind schon auf Lebensmittelhilfe angewiesen, und die Zahlen steigen weiter an. Barack Obama übernimmt ein Land der ungebremsten Abstürze. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 7 v. 10.01.2009, S. 3.
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getroffenen Ländern bereits am Nötigsten sparen: Sie essen weniger, nehmen mehr Kinder aus der Schule und nehmen risikoreichere Arbeit auf sich.30 Experten und Politiker aller Couleur warnen daher vor sozialen Unruhen in den armen Teilen der Erde.31 Der Chef der Welternährungsorganisation, Jacques Diouf, sieht in der „stillen Hungerkrise“ eine „ernste Gefahr für Frieden und Sicherheit auf der Welt“.32 So könnte die ökonomischen Krise eine soziale, humanitäre und sicherheitspolitische Katastrophe nach sich ziehen. Sogar in Deutschland wächst die Sorge vor sozialem Unfrieden. Die damalige Bundespräsidentschaftskandidatin Gesine Schwan und der Vorsitzende des DGB, Michael Sommer, brachten im Frühjahr 2009 eine Debatte über die gesellschaftlichen Auswirkungen der Wirtschaftskrise in Gang.33 Dabei wird ein Problem deutlich, das seine Ursachen nicht in der Krise hat, sondern in den seit längerer Zeit zu beobachtenden Entwicklungen, die mit dem fortschreitenden Globalisierungsprozess einhergehen: Es geht um Gerechtigkeit. Unternehmen genießen auf den globalen Märkten eine Bewegungsfreiheit, die den Nationalstaaten und den Konsumenten als Zivilgesellschaften gleichermaßen verwehrt bleibt. Die negativen Folgen dieser Freiheiten haben indes in erster Linie nicht die Unternehmen, sondern vor allem die Menschen zu tragen. Wenn Unternehmen versagen, so sind sie selbst häufig die Ersten, die nach dem Staat rufen, der Lösungen zur Eindämmung der sozialen Folgewirkungen verfehlter Unternehmenspolitik bereitstellen soll. Nach der zeitgenössischen politischen Philosophie liegt Gerechtigkeit dann vor, wenn die von einer Entscheidung am stärksten Benachteiligten ihre daraus folgende Position noch akzeptieren können.34 Dass die 30 Vgl. Institute of Development Studies: IDS Research Reveals the Impact of the Global Financial Crisis on the Developing World: What the G20 need to know. Brighton 2009, URL: http:// www.ids.ac.uk/go/news/ids-research-reveals-the-impact-of-the-global-financial-crisis-on-the-developing-world-what-the-g20-need-to-know [aufgerufen am 29.05.2009]. 31 So befürchtet Dominique Strauss-Kahn, Chef des Internationalen Währungsfonds, „zivile Unruhen, vielleicht sogar […] Krieg“. Zit. nach Fischermann: Turboverarmung, S. 25. 32 Zit. nach FAO: 1.02 billion people hungry. Pressemitteilung v. 19.06.2009. Der Generaldirektor der FAO, Jacques Diouf, sagt darin: „The silent hunger crisis – affecting one sixth of all of humanity – poses a serious risk for world peace and security. We urgently need to forge a broad consensus on the total and rapid eradication of hunger in the world and to take the necessary actions.“ (Ebd.) 33 Vgl. Debatte über soziale Unruhen. CDU-Vize Wulff verteidigt SPD-Kandidatin Schwan. In: Spiegel Online v. 27.04.2009, URL: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,621234,00.html [aufgerufen am 26.05.2009]. 34 Vgl. dazu grundlegend Rawls’ 1971 unter dem Originaltitel A Theory of Justice veröffentlichte Monographie John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a.M. 1979 (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 271), bes. S. 31f. Auf Rawls Theorie kann hier nicht im Einzelnen eingegangen werden. Vgl. dazu, zur von ihm ausgelösten Debatte, zur Rezeption sowie zu den Auswirkungen auf die politische Philosophie bspw. Petra Dobner: Neue soziale Frage und Sozialpolitik. Wiesbaden 2007, S. 49–60; sowie Otfried Ho ffe: U ber John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a.M. 1977 (=Theorie: Theorie-Diskussion); vgl. ebf. Chandran Kukathas/Philip Pettit: Rawls: a theory of justice and its critics. Stanford 1990; sowie Norman Daniels (Hg.): Reading Rawls: critical studies on Rawls’ A theory of justice. Stanford 1989.
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weltweiten Entwicklungen dem kaum noch gerecht werden, hat die Krise in besonders schmerzhafter Weise verdeutlicht. Ohne die im Sinne John Rawls „gefühlte“ Gerechtigkeit geht sowohl in den nationalen Ökonomien als auch in der global kommunizierenden Welt- bzw. Zivilgesellschaft der Konsens über die privatwirtschaftlichen Grundlagen von Produktion und Handel verloren. Die Unternehmen sind in dieser Situation aufgefordert, sich selbst um verantwortliches Handeln zu kümmern. Andernfalls geriete mit der Systemfrage auch ihre eigene Existenzgrundlage in Gefahr. Gerade in Anbetracht dessen ist der allenthalben zu vernehmende Ruf nach gesellschaftlicher Verantwortung von Unternehmen und Managern nachvollziehbar, obgleich manche der in der Debatte vorgebrachten Beiträge eher von Neid denn von Not zeugen. 2.1.2 Die Wiederentdeckung der Moral Die Finanzkrise hat „in aller Welt helle Empörung ausgelöst“, urteilt der Wirtschaftsethiker Karl Homann.35 Im Angesicht der Krise und ihrer Folgen erfuhr die keineswegs neue Frage nach Ethik und Moral in der Wirtschaft eine Aktualisierung: „Der Ruf nach Moral in der Wirtschaft erschallt heute allenthalben“36 – und folgt damit einem Trend: Schon während der zurückliegenden Jahre erlebte die Wirtschafts- und Unternehmensethik eine spürbare Konjunktur, die unter anderem in unzähligen Buchveröffentlichungen über verantwortungsbewusstes Management und einer Vielzahl gut frequentierter Vorträge über Werte in der Wirtschaft auf Konferenzen und Kongressen ihren Niederschlag fand. Losgelöst von den aktuellen Problemen war die verstärkte Hinwendung zu ethischen Fragen als Antwort auf die tiefgreifenden Veränderungen innerhalb der Wirtschaft zu verstehen, bei denen die Folgen einer immer weiter schreitenden Globalisierung aller Wirtschaftsbereiche und einer einseitig auf Steigerung von Gewinnen ausgerichteten Unternehmensführung verstärkt zu Tage traten. Dabei standen steigenden Unternehmensgewinnen der Abbau von Sozialleistungen, sinkende Realeinkommen, eine fortschreitende Belastung und Zerstörung der natürlichen Umwelt (hier sei nur auf die global geführte Debatte um den Klimawandel verwiesen) und die sich immer weiter öffnende Schere zwischen Arm und Reich als Konsequenzen der vorherrschenden Wirtschaftspraxis gegenüber. Gleichwohl konzentrierte sich die Reaktion auf die Krise in der öffentlichen und politischen Debatte auf die Suche nach deren vordergründigen Ursachen. Rasch waren kurzfristige Renditeziele, fehlende Nachhaltigkeit und die Profitgier der handelnden Akteure in der Wirtschaft als Hauptprobleme ausgemacht. „Exzess“, „Gier“, „Rücksichts-“ und „Verantwortungslosigkeit“ wurden zu Lieblingsvo35 Karl Homann: Markt und Moral. Wettbewerb ist janusköpfig. In: Spiegel Online v. 07.03.2009, URL: http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,606901,00.html [aufgerufen am 04.06.2009]. 36 Thomas Schwartz: Wirtschaftsethik in Zeiten der Krise. In: Deutsche Richterzeitung 87 (2009), S. 170–171, 170.
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kabeln der Debatte. Am Pranger standen seitdem „gierige Manager, die ohne Rücksicht auf Verluste ihre eigenen Ziele verfolgten und sich um die Folgen für die Allgemeinheit nicht scherten.“37 In einem Interview mit einem Wirtschaftsmagazin fragte sich der damalige Bundespräsident Horst Köhler, „wem solche Exzesse, wie wir sie in den vergangenen Jahren erlebt haben, eigentlich dienen“ und ergänzte: „Ich selbst habe schon zu Beginn der 90er Jahre erlebt, wie die Frage nach Grenzen, Maß und Mitte der Finanzmärkte auf taube Ohren stieß.“38 Auch die damalige deutsche Justizministerin Brigitte Zypries geißelte die Kurzfristigkeit im Denken vieler handelnder Personen: „Die gegenwärtige Krise beruht auch darauf, dass viele Manager in der Vergangenheit ihre Entscheidungen in unverantwortlicher Weise auf das Erreichen kurzfristiger Ziele ausgerichtet haben.“39 Und im Frühjahr 2009 urteilte der damalige Vorsitzende der SPD, Franz Müntefering, der bereits 2005 für Aufsehen gesorgt hatte, als er internationale Finanzinvestoren als „Heuschrecken“ bezeichnet hatte40, in einem Interview über „die, die die Finanzkrise in den vergangenen Jahren verursacht“ hätten: „Einige Leute da oben – zu viele – hatten kein sittliches Ziel. Manager, die gerne mit diesem Feuer spielen, sind Pyromanen, und Leute, die rücksichtslos mit der Welt umgehen, sind Gangster.“41 37 Homann: Wettbewerb ist janusköpfig. Vgl. dazu differenzierter, mit dem Fokus auf Banken und Bankmanager Benedikt Fehr: Gewinnstreben ist gesund, Gier nicht. Schon Adam Smith warnte davor, lasterhafte Verhaltensweisen als Tugend zu verklären. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Nr. 11 v. 15.03.2009, S. 40. Fehr hält fest, dass die Finanzkrise „Banken und Bankmanager in die Kritik gebracht“ habe. (Ebd.) Es bestehe „weitgehend Einigkeit“ darüber, „dass die internen Anreizsysteme vieler Banken die Mitarbeiter auf die Erzielung kurzfristiger Gewinne orientiert haben – und dass dies bisweilen dazu verleitet hat, übermäßige Risiken einzugehen“. (Ebd.) Die Verantwortung wird hier nicht isoliert auf der individualethischen Mikroebene (beim einzelnen Manager) verortet, sondern auch auf der Mesoebene, der ethischen Einfluss- und Gestaltungsebene des Unternehmens. 38 Horst Köhler: „Ein wirksamer Ordnungsrahmen für das internationale Finanzsystem“. Interview von Bundespräsident Horst Köhler mit dem manager magazin v. 24.10.2008, URL: http:// bundespraesident.de/Reden-und-Interviews-,11057.650176/Ein-wirksamer-Ordnungsrahmen-f.htm? global.back=/-%2c11057%2c7/Reden-und-Interviews.htm%3flink%3dbpr_liste [aufgerufen am 04.06.2009]. 39 Vgl. Bundesministerium der Justiz: Zypries begrüßt Empfehlungen der EU-Kommission zu Managervergütungen. Pressemitteilung v. 29.04.2009, URL: http://bundesjustizministerium.info/enid/ 34e80a3a6c6dbdbfc208abcfa73fe920,195452706d635f6964092d0935383432093a0979656172092d 0932303039093a096d6f6e7468092d093034093a095f7472636964092d0935383432/Pressestelle/Pre ssemitteilungen_58.html [aufgerufen am 29.05.2009]. 40 Müntefering sagte in der Bild am Sonntag vom 17.04.2005 über die Manager von Investmentunternehmen: „Manche Finanzinvestoren verschwenden keinen Gedanken an die Menschen, deren Arbeitsplätze sie vernichten – sie bleiben anonym, haben kein Gesicht, fallen wie Heuschreckenschwärme über Unternehmen her, grasen sie ab und ziehen weiter. Gegen diese Form von Kapitalismus kämpfen wir.“ (Zit. nach: SPD auf Linkskurs. Müntefering nimmt sich Ackermann vor. In: Spiegel Online v. 16.04.2005, URL: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/ 0,1518,351731,00.html [aufgerufen am 29.05.2009].). 41 „25 Prozent Gewinn sind eine moralische Verirrung“. SPD-Chef Franz Müntefering über Manager als Gangster, den Kampf für deutsche Fabriken und einen neuen, sozialen Kapitalismus. In: Frank-
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Entsprechend sahen sich nationale und internationale Politik zum Handeln gezwungen: Es kam zu internationalen Vereinbarungen über eine verstärkte Kontrolle von Ratingagenturen und Hedgefonds sowie zur Regulierung und Überwachung aller Marktteilnehmer, Produkte und Märkte, um eine zukünftige Wiederholung der Krise zu verhindern.42 Im April 2009 einigte sich die deutsche Regierung – wohl auch infolge der andauernden Diskussion über Managergehälter und Bonuszahlungen – auf eine umfassende Neuregelung von Managervergütungen.43 Nach dem Willen der Regierungsparteien sollen Unternehmenslenker nicht mehr nahtlos auf lukrative Aufsichtsratsposten wechseln dürfen, sondern müssen eine Karenzzeit von zwei Jahren einhalten und dürfen zukünftig maximal fünf Aufsichtsratsmandate bekleiden. Das Bonussystem soll strikt geregelt werden, so dass erfolgsabhängige Boni erst nach Ende der Vertragslaufzeit ausgezahlt werden dürfen. Zudem sollen Manager für nachweislich von ihnen verursachte Schäden persönlich Schadenersatz in Höhe von mindestens einem Jahresgehalt leisten. Auch sollen entsprechende Schäden nicht mehr komplett auf spezielle Versicherungen abgewälzt werden können. Zuvor hatte es Bundeskanzlerin Angela Merkel als „unverständlich“ empfunden, dass Banken, deren Pleite mit Milliarden Steuergeldern verhindert werden musste, trotzdem Bonuszahlungen in dreistelliger Millionenhöhe an ihre Mitarbeiter ausschütten wollten.44 Der damalige deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier hatte angekündigt: „Das werden wir nicht länger hinnehmen.“45 In dieselbe Kerbe schlugen die Wirtschaftsexpertinnen der Bundestagsfraktion der Grünen, Christine Scheel und Kerstin Andreae, die in einem Antrag forderten, zukünftig „Exzesse bei Managervergütungen verhindern“, da „unverhältnismäßig hohe und nur auf den kurzfristigen Erfolg ausgerichtete Vergütungen für Manager gepaart mit nur einem sehr geringen persönlichen Haf-
furter Allgemeine Sonntagszeitung Nr. 18 v. 03.05.2009, S. 37. 42 Vgl. zur Einigung der G20 auf eine stärkere Regulierung des Finanzmarkt Lutz Haverkamp/Antje Sirleschtov: Masterplan zur Rettung der Welt. In: Der Tagesspiegel Nr. 93 v. 03.04.2009, S. 1. Vgl. weiterhin zur Einordnung der Ergebnisse der neuerlichen Verhandlungen der G20 zu Regulierungen am Finanzmarkt Oliver Ziegler: EU- und US-Pläne zur Finanzmarktreform. Europa hat die Nase vorn. Hg. v. der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Berlin 2009 (= SWP-aktuell A11/2009), S. 1–4, URL: http://www.swp-berlin.org/common/get_document.php?asset_id=5835 [aufgerufen am 04.06.2009]. Vgl. auch weiterhin die Entschließung des Europäischen Parlaments Europäisches Parlament: Entschließung des Europäischen Parlaments vom 23. September 2008 mit Empfehlungen an die Kommission zu Hedge-Fonds und Private Equity. Brüssel 2008, URL: http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?type=TA&reference=P6-TA-2008-0425&language= DE#BKMD-16 [aufgerufen am 04.06.2009]. 43 Vgl. hierzu und zum Folgenden Regeln für Manager. Große Koalition beschließt Strafen für Bosse. In: Spiegel Online v. 23.04.2009, URL: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/ 0,1518,620826,00.html [aufgerufen am 26.05.2009]. 44 Zit. nach: Katharina Schuler: Managervergütung. Koalition knöpft sich die Banken vor. In: Zeit Online v. 19.02.2009, URL: http://www.zeit.de/online/2009/08/bonuszahlungen [aufgerufen am 29.05.2009]. 45 Zit. nach: Schuler: Managervergütung.
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tungsrisiko der Unternehmenslenker“ die Wirtschaftskrise befördert hätten.46 Manager seien in der Vergangenheit „nicht selten kurzfristige Risiken eingegangen, die in keinem Verhältnis mit den langfristigen Erfolgsaussichten standen“. 47 Bereits Ende 2007 hatte sich Bundeskanzlerin Merkel auf dem Parteitag der CDU in einer Grundsatzrede kritisch über hohe Gehälter und Abfindungen von Managern in Deutschland geäußert: „Warum soll jemand mit Geld überschüttet werden, der auf ganzer Linie versagt hat?“48 Wenn ein Managerabschied vergoldet werde, werde das Vertrauen in das soziale Gleichgewicht des Landes untergraben.49 Auch die Europäische Kommission schlug in ihrer Empfehlung vom 30. April 2009 vor, die Vergütungsstrukturen von Vorständen so auszugestalten, dass Anreize für eine nachhaltige und auf Langfristigkeit ausgerichtete Unternehmensentwicklung geschaffen würden und forderte die Mitgliedstaaten der EU auf, bis zum Ende des Jahres 2009 auf entsprechende Regelungen hinzuwirken.50 Gemäß ihrer Vorschläge sollte das in erster Linie durch eine stärkere Reglementierung von Bonus- und Abfindungszahlungen erfolgen. Zugleich forderte die EU-Kommission eine dreijährige Haltefrist bei Vergütungen in Form von Aktien und eine ebenso lange Frist für die Ausübung von Aktienoptionen. Schließlich sollten die Vergütungsstrukturen und die Gründe für die gewählte Struktur in verständlicher Weise 46 Vgl. Christine Scheel/Kerstin Andreae u.a.: Exzesse bei Managergehältern verhindern. Antrag der Abgeordneten Christine Scheel, Kerstin Andreae, … und der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen v. 06.03.2009, URL: http://kerstin-andreae.de/politik-konkret/wirtschaftspolitik/detail/nachricht/ exzesse-bei-managergehaeltern-verhindern-antrag-der-abgeordneten-christine-scheel-kerstin-andreae.html [aufgerufen am 29.05.2009]. 47 Scheel/Andreae u.a.: Exzesse bei Managergehältern. 48 Vgl. Merkel geißelt hohe Manager-Gehälter. In: Focus Online v. 03.12.2007, URL: http:// www.focus.de/politik/deutschland/hannover_aid_228139.html [aufgerufen am 29.05.2009]. 49 Vgl. Merkel geißelt hohe Manager-Gehälter. 50 Vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Mitteilung der Kommission zur Begleitung der Empfehlung der Kommission zur Ergänzung der Empfehlungen 2004/913/EG und 2005/162/EG zur Regelung der Vergütung von Mitgliedern der Unternehmensleitung börsennotierter Gesellschaften und der Empfehlung der Kommission zur Vergütungspolitik im Finanzdienstleistungssektor v. 30.04.2009. Brüssel 2009, URL: http://ec.europa.eu/internal_market/company/docs/directors-remun/COM(2009)_211_DE.pdf [aufgerufen am 29.05.2009]; vgl. weiterhin Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Empfehlung der Kommission zur Vergütungspolitik im Finanzdienstleistungssektor. Brüssel 2009, URL: http://ec.europa.eu/internal_market/company/docs/directors-remun/financialsector_290409_de.pdf [aufgerufen am 29.05.2009]; Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Empfehlung der Kommission zur Ergänzung der Empfehlungen 2004/913/EG und 2005/162/EG zur Regelung der Vergütung von Mitgliedern der Unternehmensleitung börsennotierter Gesellschaften. Brüssel 2009, URL: http://ec.europa.eu/internal_market/company/docs/directors-remun/directorspay_290409_de.pdf [aufgerufen am 29.05.2009]; sowie Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen zur Begleitung der Empfehlung der Kommission zur Ergänzung der Empfehlungen 2004/913/EG und 2005/162/EG zur Regelung der Vergütung von Mitgliedern der Unternehmensleitung börsennotierter Gesellschaften und der Empfehlung der Kommission zu Vergütungsstrategien im Finanzdienstleistungssektor. Zusammenfassung der Folgenabschätzung. Brüssel 2009, URL: http://ec.europa.eu/internal_market/company/docs/directors-remun/summary_ia_de.pdf [aufgerufen am 29.05.2009]
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offengelegt, die Rechte der Aktionäre bei Vergütungsfragen gestärkt sowie die Qualität der personellen Besetzung und Stellung etwaiger Vergütungsausschüsse verbessert werden. Im Januar 2010 schließlich kündigte der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika und Friedensnobelpreisträger, Barack Obama, an, Großbanken schärfer regulieren zu wollen. Obama erklärte, die Größe der Banken sowie das Ausmaß ihrer risikoreichen Geschäfte künftig beschränken und die Geldhäuser gegebenenfalls zerschlagen zu wollen.51 Um eine Wiederholung der Finanzkrise zu verhindern, dürfte nicht mehr erlaubt werden, dass Banken „sich zu weit von ihrer zentralen Aufgabe entfernen, nämlich ihre Kunden zu bedienen“.52 Noch immer operierte das Finanzsystem der USA unter den Regeln, die beinahe zu ihrem Kollaps geführt hätten. In Folge der durch Fehlspekulationen ausgelösten Krise hatte die Regierung der Vereinigten Staaten die Banken mit einem 700Milliarden-Dollar-Programm stützen müssen. Nie mehr, forderte Obama, dürfe der US-amerikanische Steuerzahler zur „Geisel einer Bank“ werden, die durch ihren Kollaps die gesamte Wirtschaft mit sich reißen könne.53 Die deutsche Bundesregierung begrüßte den Vorstoß.54 Das Finanzministerium in Berlin kündigte daraufhin ein eigenes deutsches Modell zur Bankenregulierung an, das in die Beratungen der G20-Staaten eingehen und zu einer gemeinsamen Lösung führen solle.55 „Was Präsident Obama vorgeschlagen hat, kommt unseren Vorstellungen durchaus nahe. Auch wir wollen, dass der Finanzsektor angemessen an den Kosten der aktuellen Krise und auch künftigen Finanzkrisen beteiligt wird“, äußerte sich der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble.56 Bei der Ursachenfoschung und den aus ihren Ergebnissen abgeleiteten Forderungen, Vorschlägen und Beschlüssen fällt ins Auge, dass sie sich in erster Linie auf die Makroebene – also auf den nationalen bzw. internationalen Rahmen von gesetzlichen Regeln – beziehen. Der „gierige Manager“ hat auf der niedrigsten Ebene des Systems (auf der individuellen) falsch und verantwortungslos gehandelt. Der damalige Bundespräsident Horst Köhler sah im „Fehlverhalten einiger weniger“ die Hauptursache für eine Problematik, die nun der „Steuerzahler“ ausbaden 51 Vgl. dazu und zum Folgenden exemplarisch Moritz Koch: Obama will Großbanken aufspalten. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 17 v. 22.01.2010, S. 1. 52 Zit. nach Lehren aus Finanzkrise: Obama will Banken verzwergen. In: Spiegel Online v. 21.01.2010, URL: http://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/0,1518,673293,00.html [aufgerufen am 22.01.2010]. 53 Zit. nach Lehren aus Finanzkrise: Obama will Banken verzwergen. 54 Vgl. dazu und zum Folgenden Pläne für schärfere Regulierung: Schwarz-Gelb applaudiert Obamas Bankenattacke. In: Spiegel Online v. 22.01.2010, URL: http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/ 0,1518,673453,00.html [aufgerufen am 22.01.2010]. 55 Vgl. Jan Dams/Dorothea Siems: Schäuble will die Banken an die Kandare nehmen. In: Welt am Sonntag Nr. 4 v. 24.01.2010, S. 1; vgl. ebf. Schäuble will Banken an Krisenkosten beteiligen. In: Spiegel Online v. 23.01.2010, URL: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,673677, 00.html [aufgerufen am 23.01.2010]. 56 Wolfgang Schäuble: „Der Finanzsektor muss angemessen an den Kosten der Krise beteiligt werden“. In: Welt am Sonntag Nr. 4 v. 24.01.2010, S. 2.
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müsse: „Das darf nie wieder passieren.“57 Die Politik reagierte auf ihre Diagnose mit einer Regulierung der höchsten Systemebene – mit einer Anpassung der Regeln der Rahmenordnung. Köhler, der von 2000 bis 2004 Geschäftsführender Direktor des Internationalen Währungsfonds war, verlangt: „Die grenzüberschreitend tätigen Finanzinstitute müssen eindeutig enger und wirksamer überwacht werden. Das fängt mit mehr Transparenz bei der Bilanzierung an, es sollte mehr Eigenkapitalunterlegung einschließen und auch hemmungsloser Gier einen Riegel vorschieben durch Überprüfung des Anreiz- und Vergütungssystems.“58 Da es sich bei der globalen Wirtschaftskrise um eine „systemische Krise“ handle, sei „mutiges und überlegtes Handeln des Staates“ erforderlich: „Wir müssen […] einen wirksameren Ordnungsrahmen für das nationale und vor allem für das internationale Finanzsystem schaffen. Dafür sehe ich gute Chancen.“59 Es verwundert, dass bei alledem und eingedenk des oben angeführten augenscheinlichen Gerechtigkeitsproblems ein Aspekt beinahe vollkommen ausgeklammert bleibt: Die Verantwortung, die die Unternehmen als global player und Handelnde auf den Märkten als auch die lenkenden Personen in den Unternehmen für ihr Verhalten übernehmen können und sollten. In der politischen Diskussion sind diesbezügliche Stellungnahmen ein Randthema: Der damalige Bundespräsident Köhler erkannte die Ursachen der Krise „schlicht“ im fehlenden „Verantwortungsbewusstsein“ und folgerte: „Das hat eine moralische Dimension, aus der sich die Finanzbranche nicht davonstehlen darf.“60 Und der damalige SPD-Vorsitzende Franz Müntefering ergänzte im o.g. Interview seine Managerschelte um eine wichtige Feststellung: „Es geht um Nachhaltigkeit, um Verantwortung auch für morgen.“61 Warum nun sollten die Unternehmen ein vitales Eigeninteresse haben, sich gerade in der Krise zu ihrer „Verantwortung auch für morgen“ – im Sinne also einer intra- und intergenerativen Gerechtigkeit – zu bekennen? Dazu muss der Bogen etwas weiter gespannt werden. 2.1.3 Die Krise als Vertrauenskrise Im Jahr 2000 veröffentlichte die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) eine Neufassung ihrer Leitsätze für multinationale Unternehmen. Die Leitsätze stellen eine gemeinsame Empfehlung der teilnehmenden Länder und Regierungen (neben den 30 OECD-Mitgliedsländern zur Zeit auch 57 Köhler: „Ein wirksamer Ordnungsrahmen für das internationale 24.10.2008. 58 Köhler: „Ein wirksamer Ordnungsrahmen für das internationale 24.10.2008. 59 Köhler: „Ein wirksamer Ordnungsrahmen für das internationale 24.10.2008. 60 Köhler: „Ein wirksamer Ordnungsrahmen für das internationale 24.10.2008. 61 „25 Prozent Gewinn sind eine moralische Verirrung“, S. 37.
Finanzsystem“ – Interview v. Finanzsystem“ – Interview v. Finanzsystem“ – Interview v. Finanzsystem“ – Interview v.
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Argentinien, Brasilien, Chile, Estland, Israel, Lettland, Litauen, Rumänien und Slowenien) an die in ihren Ländern oder von ihren Ländern aus operierenden multinationalen Unternehmen für verantwortungsvolles unternehmerisches Verhalten dar. Damit soll nicht nicht nur „gewährleistet werden, dass die Aktivitäten multinationaler Unternehmen im Einklang mit den staatlichen Politiken stehen“, sondern es soll auch „das Klima für ausländische Investitionen verbessert und der Beitrag der multinationalen Unternehmen zur nachhaltigen Entwicklung gesteigert“ und vor allem auch die „Vertrauensbasis zwischen den Unternehmen und dem Gastland gestärkt“ werden.62 Vertrauen erscheint in den Leitsätzen also als elementare Grundlage verantwortungsvollen unternehmerischen Verhaltens. Noch etwas deutlicher formuliert das Peter Costello, der damalige australische Finanzminister und Vorsitzende der OECD-Ministerratstagung in seiner einleitenden Erklärung: „Die grundlegende Prämisse der Leitsätze lautet, dass international vereinbarte Grundsätze dazu beitragen können, Konflikten vorzubeugen und das Vertrauen zwischen den multinationalen Unternehmen und der Gesellschaft der jeweiligen Länder, in denen sie tätig sind, zu festigen.“63 Einer der Schlüssel unternehmerischer Verantwortung liegt im Vertrauen begründet. In der neoklassischen Wirtschaftstheorie, die gegen Mitte des 19. Jahrhunderts ihren Ausgang nahm und bis weit ins 20. Jahrhundert bestimmend für das ökonomische Denken blieb, galt Vertrauen als „quantité négligeable“, auf die man in einem idealen Markt verzichten könne, weil sie sich weder einfach mit Kennziffern belegen noch berechenbar machen ließe.64 Dennoch ist Vertrauen „ein eminent wichtiger ethischer Begriff“.65 Gerade die globale Wirtschaftskrise ist vor allem auch eine Vertrauenskrise: Blicken wir dazu zuerst auf ihre Entstehung und die daraus folgenden Entwicklungen. Ihren Ursprung nahm die Wirtschaftskrise in der US-amerikanischen Finanzkrise, die wiederum ihre Ursache im Kollaps des amerikanischen Immobilienmarktes hatte.66 Bereits 2007 platzte in den Vereinigten Staaten die Immobilienblase. Einkommenssteigerungen, Steuersenkungen, niedrige Geldmarktzinsen und die Auslagerung des Kreditrisikos von Banken und großen Hypothekenfirmen an Dritte – etwa durch die sogenannten mortgage backed securities (MBS) – verursachten in Verbindung mit einem Mangel an funktionierenden Regulierungsmechanismen am Finanzmarkt bzw. durch ein dem Geist der bestehenden Regulierungen widersprechendes Verhalten der Finanzwirtschaft und der sie 62 Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD): Die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen. Neufassung 2000. S. 17, URL: http://www.oecd.org/dataoecd/ 56/40/1922480.pdf [aufgerufen am 19.06.2009]. 63 Peter Costello: Erklärung des Vorsitzenden der Ministerratstagung, Juni 2000. In: OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen. Neufassung 2000, S. 5–7,5, URL: http://www.oecd.org/dataoecd/ 56/40/ 1922480.pdf [aufgerufen am 19.06.2009]. 64 Vgl. dazu auch Schwartz: Wirtschaftsethik in Zeiten der Krise, S. 170. 65 Schwartz: Wirtschaftsethik in Zeiten der Krise, S. 170. 66 Vgl. Schwartz: Wirtschaftsethik in Zeiten der Krise, S. 171.
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zu kontrollierenden Institutionen die prekäre Lage, in der sich die weltweite Wirtschaft anschließend befand. Viele US-Amerikaner kauften ihre Häuser auf Pump, die Kreditwürdigkeit der Kreditnehmer konnte zunehmend schlechter kontrolliert werden, Anleger (auch aus dem Ausland) spekulierten auf die hochriskanten Kreditanleihen. Dennoch schien das Vertrauen der Kreditnehmer, Kreditgeber, aber auch der Anleger in die Stabilität dieses auf tönernen Füßen lastenden Systems, „in das weitere Steigen der Immobilienpreise; […] in die Fähigkeit der Finanzmärkte, den globalen wirtschaftlichen Wachstumsprozess mit genügender Liquidität am Laufen zu halten; […] in die Bonitätsprüfung und die AAA-Benotung der Ratingagenturen; schließlich […], dass im Notfall irgendjemand es schon richten wird“, schier unerschöpflich.67 Der in New York lehrende Ökonom Willi Semmler führte bereits Anfang 2006 im Magazin Der Spiegel Indizien für einen nahenden Zusammenbruch des Marktes an und warnte vor dessen weiterreichenden Folgen: „Hinter der Immobilienblase steht eine Kreditblase.“68 Diese und ähnliche mahnende Worte namhafter Experten blieben ungehört, offensichtlich auch in den Chefetagen und Investmentabteilungen deutscher Bankhäuser, die ihre Spekulationen am US-Markt nicht nur fortsetzten, sondern teilweise noch ihren Kunden den Kauf von Risikozertifikaten als angeblich „sichere Anlage“ schmackhaft machten.69 Spätestens seit dem Zusammenbruch von Lehman Brothers und nachdem viele Anleger die schmerzhafte Erfahrung machten, was „Emittentenrisiko“ tatsächlich bedeutet, ist deutlich geworden: Dieses Vertrauen in die Stabilität von Anlagen, Märkten sowie Wirtschafts- und Finanzsystem wurde enttäuscht. Die „Folgen dieses falschen Vertrauens sind dramatisch“, wie der Augsburger Wirtschaftsethiker Thomas Schwartz konstatiert.70 Die Teil- und sogar Komplettverstaatlichungen von Banken belegen eindrucksvoll das verlorene Vertrauen der Politik und mit ihr das der gesamten Gesellschaft in die Funktionalität des Finanzsektors. Die oben angeführte Managerkritik – die ihre Ursachen neben der Krise freilich auch in den sich häufenden Meldungen über diverse Unternehmensskandale hat – belegt darüber hinaus einen generellen Vertrauensverlust zahlreicher gesellschaftlicher Anspruchsgruppen gegenüber den Lenkern in und 67 Schwartz: Wirtschaftsethik in Zeiten der Krise, S. 171. 68 Vgl. US-Immobilienblase. „Alle Ballons kommen runter“. In: Spiegel Online v. 14.03.2006, URL: http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,405785,00.html [aufgerufen am 04.06.2009]. 69 Vgl. beispielhaft Udo Ludwig: Anatomie einer Pleite. Wie deutsche Senioren in der Lehman-Falle landeten. In: Spiegel Online v. 09.03.2009, URL: http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,612195, 00.html [aufgerufen am 04.06.2009]. Dass einige Banken aus der Krise wenig gelernt haben und trotz eines massiven Vertrauensverlusts vieler Anleger ihren Kunden weiterhin Risikoanlagen anempfehlen, wird von Verbraucherschützern, Politikern und Anlageexperten auch noch im Sommer 2009 beklagt: So spricht Erich Paetz vom Bundesministerium für Verbraucherschutz von einem „eher kreativen Umgang der Branche mit Gesetzen“ und Thomas Jorberg, Vorstandssprecher der gemeinnützigen GLS Bank, beklagt diesbezüglich eine „systemisch angelegte Verantwortungslosigkeit“. Vgl. dazu bzw. zit. nach Nadine Oberhuber: Immer noch beraten und verkauft. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Nr. 24 v. 14.06.2009, S. 37. 70 Schwartz: Wirtschaftsethik in Zeiten der Krise, S. 171.
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der Wirtschaft als Ganzem. Ein großes Problem stellt auch der Vertrauensverlust der Banken untereinander dar, der notwendige Zwischenfinanzierungen erschwert. Niemand kann sagen, was Risikoabsicherungsversprechen noch wert sind und welche Produkte anständig und unbelastet, kurz: vertrauenswürdig sind. Das verlorene Vertrauen in der Finanzbranche hat zur Folge, dass Unternehmen Schwierigkeiten haben, Kredite zu erhalten, was wiederum zu einer verminderten, wenigstens zu einer verteuerten Investitionstätigkeit führt. Am schwersten aber wiegt der Vertrauensverlust der Kunden und Verbraucher, der Allgemeinheit. Der Vertrauensverlust der Verbraucher zeigt sich besonders deutlich gegenüber Finanzunternehmen, nachdem sich der Marktwert der internationalen Finanzbranche in der zweiten Jahreshälfte 2008 halbiert hat und so die gesamten seit dem Jahr 2003 erzielten Gewinne vernichtet wurden. 71 Kunden fragen sich, wem ihr Kredit gehört. In einer im Oktober 2008 von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung beauftragten repräsentativen Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach gaben nur noch 23 Prozent der Befragten an, großes oder sehr großes Vertrauen zu den deutschen Banken zu besitzen; 70 Prozent haben indes wenig oder kein Vertrauen zum Gebaren der Banken.72 Nach einer Studie der Unternehmensberatung Boston Consulting Group, die Ende 2008 unter 6000 Verbrauchern in sechs Ländern durchgeführt wurde, ist durch die Krise bei etwa der Hälfte der Befragten in Deutschland das Vertrauen in Banken und Vermögensverwalter erschüttert, auch Versicherungsunternehmen schneiden kaum besser ab. Dabei sind für das geschwundene Vertrauen aber nicht die Verluste und Probleme, mit denen die Unternehmen zu kämpfen haben, ausschlaggebend. Ursächlich sind vielmehr Fehler und Defizite in der Unternehmenskommunikation: Viele Unternehmen igeln sich in der Krise ein und versäumen es, ihre Kommunikationsstrategie den neuen Herausforderungen anzupassen. Häufig geschieht dies nicht aus Kalkül, sondern aus Unsicherheit darüber, wie und was sie kommunizieren sollen, weil sie die Bedürfnisse ihrer verschiedenen Anspruchsgruppen und hier insbesondere ihrer Kunden nicht ausreichend gut kennen.73 Entsprechend beklagen die Verbraucher, dass sie sich von den Unternehmen nicht ausreichend informiert fühlten und bemängeln vor allem mangelnde Transparenz: Die oben angeführte Allensbach-Befragung ergab, dass 78 Prozent der Bevölkerung davon überzeugt sind, dass „das Finanzsystem so undurchsichtig geworden ist, dass es sich dem Verständnis der Bürger völlig entzieht“.74 Viele Anleger sind verunsichert
71 Vgl. hierzu und zum Folgenden Grit Beecken/Martin Hesse: Wert halbiert, Vertrauen weg. Alle Gewinne der Banken aus den vergangenen fünf Jahren sind vernichtet worden. Ihre Kunden beklagen mangelhafte Kommunikation. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 23 v. 29.01.2009, S. 22. 72 Vgl. Renate Köcher: Wasser auf die Mühlen der Linken. Die Finanzkrise erschüttert nicht nur das Vertrauen in die Finanzwelt, sondern ändert auch das Weltbild der Bürger. Frühere Vorstellungen feiern Urständ. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 247 v. 22.10.2008, S. 5. 73 Vgl. Beecken/Hesse: Vertrauen weg, S. 22. 74 Köcher: Wasser auf die Mühlen, S. 5.
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und wissen nicht, ob sie ihr investiertes Geld zurückbekommen. Und angesichts staatlicher Milliardenprogramme zur Rettung maroder Bankhäuser, bei denen letzten Endes der Steuerzahler jahrelange Misswirtschaft ausgleichen musste, stellen sich immer mehr Menschen die Frage nach der Legitimationsgrundlage vieler Finanzunternehmen und nach dem Beitrag des derzeitigen Banken- und Finanzsystems für das Wohlergehen von Staat und Gesellschaft. „Die augenblickliche Krise kann also mit gutem Recht als weltweite Vertrauenskrise bezeichnet werden. Sie betrifft alle Gruppen, die am Wirtschaftsgeschehen beteiligt sind.“75 Damit drohen die Fehler einzelner Unternehmen in Unternehmenspolitik und -kommunikation zu einem Vertrauensschock gegenüber der gesamten Branche, vielleicht sogar gegenüber dem Markt als Ganzem zu führen. Denn der Vertrauensverlust und die Verunsicherung der Verbraucher betreffen keineswegs nur den Banken- und Finanzsektor, sondern zeitigen auch für andere Wirtschaftsbereiche gravierende Folgen. Das zeigt sich in der breiten öffentlichen Zustimmung, die etwa Forderungen nach Verstaatlichung von Schlüsselindustrien oder nach der Einschränkung von Eigentumsrechten finden.76 Laut o.g. Allensbach-Erhebung stimmen 59 Prozent der Gesamtbevölkerung der – von Politikern der Linkspartei stammenden – Forderung zu: „Im Interesse der Beschäftigten, der Verbraucher und der Umwelt müssen Energiekonzerne in die öffentliche Hand überführt und demokratisch kontrolliert werden.“77 Und jeder zweite Befragte schließt sich sogar der These an, die großen Vermögen vieler Familienunternehmen seien grundgesetzwidrig angeeignet, da niemand in seinem Leben mehrere Milliarden Euro auf verfassungskonforme Weise erwerben könne. In einer neueren Befragung des Instituts für Demoskopie Allensbach für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung zu Beginn des Jahres 2011 äußerten lediglich 34 Prozent der Befragten, in Deutschland die Soziale Marktwirtschaft verwirklicht, 46 Prozent zweifelten (in Ostdeutschland sogar 61 Prozent), ob die deutsche Variante der Marktwirtschaft tatsächlich das Attribut „sozial“ verdiene.78 Eine solche Entwicklung beunruhigt aus zweierlei Gründen: Dass die enorme Verunsicherung der Verbraucher erstens leicht in stärkere Emotionen wie Angst – gemeinhin Nährboden für irrationale Handlungen bis hin zu Panik – umschlagen kann, zeigt ein weiteres Ergebnis der Allensbach-Befragung aus dem Herbst 2008: Die große Mehrheit der Befragten empfindet die Geschehnisse und Ereignisse am Markt „als beängstigend und fragt sich, was noch alles kommt“. 79 Der zweite Grund liegt im Wesen der Kunden und Verbraucher als bedeutsamer Anspruchsgruppe begründet, die nicht nur über einen signifikanten Einfluss verfügt, sondern sich ihrer Einflussmöglichkeiten auch bewusst ist. 75 76 77 78 79
Schwartz: Wirtschaftsethik in Zeiten der Krise, S. 171. Vgl. hierzu und zum Folgenden Köcher: Wasser auf die Mühlen, S. 5. Köcher: Wasser auf die Mühlen, S. 5. Vgl. Sozial oder nicht? In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Nr. 2 v. 16.01.2011, S. 29. Köcher: Wasser auf die Mühlen, S. 5.
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Dafür, dass die Lösung dieser Vertrauenskrise als vordringliches Ziel der Wirtschaft und der Unternehmen als handelnde Akteure betrachtet werden kann, ist maßgeblich die veränderte Rolle der Stakeholder verantwortlich, also jener Anspruchsgruppen, die „als organisierte oder nicht-organisierte Gruppen von Menschen, Organisationen und Institutionen […] von den unternehmerischen Wertschöpfungs- und manchmal auch Schadschöpfungsaktivitäten betroffen sind.“80 Der zunehmenden Macht der Stakeholder und ihrer wachsenden Bereitschaft, von ihrem daraus resultierenden Einfluss auf die Märkte Gebrauch zu machen, ist es geschuldet, dass die Frage, „ob die Unternehmung eine Verantwortung hat, die über die Erbringung wirtschaftlicher Leistungen im Rahmen einer vorgegebenen wirtschaftspolitischen Ordnung hinausgeht“81 als „Grundfrage der Unternehmungsphilosophie“ in den zurückliegenden Jahrzehnten „zunehmend an Raum
80 Johannes Rüegg-Stürm: Das neue St. Galler Management-Modell. In: Rolf Dubs u.a. (Hg.): Einführung in die Managementlehre. Bd. 1. Bern 2005, S. 65–141, 71. Dabei unterscheiden sich die Ansichten darüber, was als relevante Anspruchsgruppe betrachtet wird. Bei einem strategischen Anspruchsgruppenkonzept richtet sich die Auswahl der relevanten Anspruchsgruppen vor allem nach der Wirkmächtigkeit ihrer Ansprüche sowie der Interessen einer Anspruchsgruppe im Hinblick auf die Zukunftssicherung einer Unternehmung. (Vgl. dazu grundlegend R. Edward Freeman: Strategic Management. A Stakeholder Approach. Boston u.a. 1984.) Dabei wird die Frage gestellt, wer – aufgrund der Verfügungsmacht über knappe Ressourcen oder aufgrund von Sanktionsmacht – auf kurze oder lange Sicht in maßgeblicher Weise auf die Lebensfähigkeit einer Unternehmung Einfluss nehmen kann. Entsprechend erschöpft sich das strategische Management eines Unternehmens gegenüber diesen Anspruchsgruppen in der Regel in der Aufrechterhaltung der Kooperationsbereitschaft aller Beteiligten und der Akzeptanzsicherung einflussreicher Betroffener. (Vgl. zu Freemans elementarem Konzept des Stakeholder Managements ausführlich Kap. 3.2.1.1 Die Entwicklung von Begriff und Konzept der CSR.) Demgegenüber werden bei einem normativ-kritischen Unternehmensmanagement gegenüber den Anspruchsgruppen, wie es etwa vom Wirtschaftsethiker Peter Ulrich vorgeschlagen wird, grundsätzlich alle Menschen und zwar unabhängig von ihren Einflussmöglichkeiten, ihrer Stellung und vor allem von der Wirkmächtigkeit ihrer Ansprüche, die entweder potentiell oder faktisch von positiven oder negativen Wirkungen der unternehmerischen Tätigkeit tangiert sind und denen kraft ihres Menschseins Menschenwürde und moralische Rechte zukommen und zustehen als relevante Anspruchsgruppen betrachtet. Entscheidend ist dabei die ethisch begründbare Legitimität ihrer Ansprüche. (Vgl. dazu und zum Folgenden ausführlich Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 438ff.) Dementsprechend strebt ein entsprechendes Stakeholdermanagement ein verständigungsorientiertes Austragen von Interessenkonflikten sowie eine sorgfältige ethische Abwägung und Legitimierung von Ansprüchen an. (Vgl. dazu auch Peter Ulrichs Konzept einer Integrativen Wirtschaftsethik in Kapitel 2.7.2 Ethik als Ausgangsparadigma wie auch 3.1.3.2 Der Einfluss der Stakeholder: Neue Pflicht zur Verantwortung.) Das wirtschaftliche Interesse des Unternehmens oder von Investoren (Wertsteigerung, Gewinnmaximierung) ist dabei nur ein Anspruch im Vergleich zu vielen anderen Interessen, die im Sinne eines fairen Ausgleichs zwischen ihrem jeweiligen Nutzen sowie ihren Lasten und Zumutungen für die jeweilige Anspruchsgruppe gegeneinander abgewogen werden müssen. Vgl. grundlegend zum StakeholderManagement das von Edward Freeman mitverfasste Kapitel Andrew C. Wicks u.a.: Ethics, Stakeholders, Corporate Strategy and Value Creation. In: Diesn.: Business Ethics. A Managerial Approach. Upper Saddle River, N.J. u.a. 2010, S. 68–91. 81 Thomas Dyllick: Management der Umweltbeziehungen. Öffentliche Auseinandersetzungen als Herausforderung. Wiesbaden 1989 (= Neue betriebswirtschaftliche Forschung 54), S. 374.
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und Bedeutung gewonnen“ hat.82 In einer umfassenden Studie stellt der Soziologe Nico Stehr die starke Veränderung des Marktverhaltens von Konsumenten und Produzenten in modernen Gesellschaften dar: Dabei führt er die Verhaltensänderungen insbesondere auf die stark verbesserte Handlungsfähigkeit der Verbraucher als Marktteilnehmer und als wichtige Stakeholdergruppierung zurück.83 Bereits vor über zwanzig Jahren stellte der Wirtschaftswissenschaftler Thomas Dyllick fest, dass sich „Unternehmungen […] in zunehmendem Maße gesellschaftlichen Anliegen und Forderungen gegenübergestellt“ sähen, „die sich nicht auf die traditionellen Marktbeziehungen reduzieren lassen. Insbesondere in den Bereichen Gesundheitsschutz, Umweltschutz, Konsumentenschutz, Sozialpolitik und Beziehungen zur Dritten Welt sähen sie sich unvermittelt in gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen verwickelt, die für ihre Zukunft von bedeutend größerer Bedeutung sein könnten, als das Bestehen im täglichen Kampf um Marktanteile. Neue Anspruchsgruppen wendeten sich immer mehr auch direkt an die Adresse von Unternehmungen und verlangen eine Berücksichtigung ihrer Forderungen“.84 Diese Diagnose trifft in besonderer Weise auf organisierte, nichtstaatliche Interessenvertretungen, die sog. NGOs (Non-Governmental Organizations) zu, auf deren Rolle unten noch näher eingegangen werden soll. Konnte der Ökonom Milton Friedman 1970 noch postulieren, dass Unternehmen für nichts anderes als ihre Profitabilität und Rentabilität Verantwortung trügen85, sehen sich Unternehmen heute mit den Erwartungen ihrer Stakeholder konfrontiert, nicht länger nur Wachstumsziele zu erreichen, sondern sich ihrer ökonomischen, ökologischen und sozialen Verantwortung zu stellen. Die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung unter dem Begriff und Konzept der Corporate Social Responsibility (CSR) oder Corporate Responsibility (CR) hat sich zu einem zentralen Thema der Unternehmensleitung und -führung entwickelt. Hatten Ökonomen den Konsumenten über lange Zeit als fiktives „isoliertes, autonomes und rational handelndes Einzelwesen verstanden“, dessen Kaufentscheidung bzw. Kaufenthaltung das Ergebnis eng umschriebener rationaler, finanzieller Überlegungen und von den Eigenarten der Gesellschaft losgelöster Entscheidungen war86, muss heute konstatiert werden, dass die Wirtschaft zunehmend die Schlüs82 Knut Bleicher: Unternehmungsphilosophie: Visionen und Missionen eines normativen Managements. In: Handbuch der Wirtschaftsethik. Hg. im Auftrag der Görres-Gesellschaft v. Wilhelm Korff u.a. Bd. 3: Ethik wirtschaftlichen Handelns. Gütersloh 1999, S. 163–188, 167. 83 Vgl. Nico Stehr: Die Moralisierung der Märkte. Eine Gesellschaftstheorie. Frankfurt a.M. 2007 (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1831), S. 10f. 84 Dyllick: Management der Umweltbeziehungen, S. 373f. 85 Friedman: The Social Responsibility of Business, S. 32f. Praktisch gleichlautend: „There is one and only one social responsibility of business – to use its resources and engage in activities designed to increase its profits so long as it stays within the rules of the game, which is to say, engages in open and free competition without deception or fraud.“ (Milton Friedman: Capitalism and Freedom. Chicago 1962, S. 32.) 86 Stehr: Moralisierung der Märkte, S. 13.
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selrolle konstatiert, die „kulturelle Werte, umfassenderes Wissen und weit gefächerte Interessen der Akteure“ in der „angeblich kulturfreien Welt und der von der Gesellschaft abgekoppelten Realität der modernen Wirtschaftssysteme“ spielen, weil diese Faktoren die selbstbewusst vorgetragenen und in Entscheidungen umgesetzten Meinungen und Ansichten der Marktteilnehmer verstärken.87 Entsprechend komme es, so Stehr, zu einer einer sich nachhaltig ausweitenden „Konsumentensouveränität“ in entwickelten Volkswirtschaften und zu einer Verschiebung der Machtverhältnisse am Markt zugunsten unterschiedlicher Konsumentengruppen. Dieser Trend manifestiere sich in „am Markt beobachtbaren Handlungsabläufen und Urteilen der Marktteilnehmer“, beziehe sich aber genauso auf „Eigenschaften von Waren und Dienstleistungen wie z.B. die Herkunft der Ware, die Art der Produktionsprozesse oder die sozialen Merkmale der Teilnehmer an der Wertschöpfungskette eines Produktes oder einer Dienstleistung – einschließlich der Reputation anderer Akteure der gleichen Gruppe (Anbieter oder Konsumenten)“.88 Daher komme „Waren und Dienstleistungen […] nicht mehr nur ein ökonomische[r] Wert“ zu, „sondern ihnen wird auch […] ein moralischer Wert zugeschrieben oder […] abgesprochen“.89 Selbst diese Ablehnung ist bereits ein moralisches Urteil. Da sich so in ihnen gesellschaftliche Werte und Normen manifestieren, ist die Ökonomie nicht nur ein Austausch von Waren mit einem bestimmten Wert, sondern auch ein Austausch von Werten (Georg Simmel).90 „Normativ richtiges Handeln“ – oder anders gesprochen: die Übernahme von Verantwortung – wird so in der modernen Gesellschaft zu einer entscheidenden Komponente des Verhaltens aller Marktteilnehmer.91 Da nachhaltiger unternehmerischer Erfolg und der Wert eines Unternehmens wesentlich vom Vertrauen der Kunden und Verbraucher als gesellschaftliche Anspruchsgruppe (und nicht zuletzt auch vom Vertrauen der Investoren) abhängt, bedeutet der schwere Vertrauensverlust im Zuge der weltweiten Wirtschaftskrise für die Unternehmen auch ein ernstes wirtschaftliches Problem. Die Unternehmensberatung Ernst & Young schätzt, dass etwa zwei Drittel des Marktwertes einer bör87 Vgl. hierzu wie zum Folgenden Stehr: Moralisierung der Märkte, S. 11–22. Vor allem der wachsende Wissensstand der Marktteilnehmer verstärkt und steigert nach Stehr dabei ihre Ansprüche. (Vgl. ebd., S. 20. Vgl. dazu auch Albert O. Hirschman: Having opinions – one of the elements of well-being? In: The American Economic Review 79 (1989), S. 75–79. Untersuchungen zu Sparverhalten und Investitionsentscheidungen belegen, dass der Grad der Bildung bei entsprechenden Entscheidungen eine wichtige Rolle spielt. Vgl. dazu B. Douglas Bernheim u.a.: Education and saving. The long-term effects of high school financial curriculum mandates. In: Journal of Public Economics 80 (2001), S. 435–465. Die Vorstellung, dass das Wissen der Verbraucher einen entscheidenden Einfluss auf ihr Konsumverhalten hat, wurde bereits Ende der 1950er Jahre angestoßen vom US-amerikanischen Ökonom John Kenneth Galbraith: Vgl. John K. Galbraith: Die Gesellschaft im Überfluß. München 1963, S. 20.). 88 Stehr: Moralisierung der Märkte, S. 21. 89 Stehr: Moralisierung der Märkte, S. 12. 90 Vgl. Stehr: Moralisierung der Märkte, S. 12. 91 Stehr: Moralisierung der Märkte, S. 10.
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sennotierten Gesellschaft aus den „intangible assets“ Wissen, Image und Beziehungen bestehen.92 Dass diese „nicht greifbaren“, eher weichen Faktoren auch in der Krise eine wesentliche Rolle spielen, zeigen die Ergebnisse einer Ende 2008 durchgeführten Studie des Beratungsunternehmens BBDO Consulting. Dort zeigte sich, dass vom Vertrauensverlust nicht alle Banken in gleicher Weise betroffen sind. 93 Laut Studie vertrauen die Verbraucher etwa öffentlich-rechtlichen Instituten noch in gleicher Weise wie vor der Krise.94 Dass es bei der Verbrauchereinschätzung nicht allein um nackte ökonomische Zahlen und bloße Rationalität geht, verdeutlicht die Tatsache, dass sogar die Universalbanken Deutsche Bank und die zum damaligen Zeitpunkt noch existente Dresdner Bank sich immerhin noch im Vertrauensmittelfeld befinden, obwohl sie von der Finanzkrise stark betroffen sind. Nach den Befragungsergebnissen von BBDO Consulting profitierten beide Unternehmen davon, sich über viele Jahre eine stabile Marke aufgebaut zu haben und damit offensichtlich auch ein verlässliches, vertrauenswürdiges Image, das Gewähr für einen gewissen Vertrauensvorschuss bietet. Die einflussreichen US-amerikanischen Ökonomen George Akerlof, Träger des Wirtschaftsnobelpreises, und Robert Shiller belegen in einer aktuellen Monographie eindrucksvoll, dass der gesellschaftliche Vertrauensverlust nicht bloß diffuse, sondern sehr konkrete Folgen für die Unternehmen zeitigt. 95 Sie beschreiben den Einfluss sog. „animal spirits“ auf die Zusammenhänge in der modernen Ökonomie und erläutern die Bedeutung irrationaler Faktoren für wirtschaftliche Entscheidungen. Unter den animal spirits kommt dem Vertrauen deshalb eine zentrale Rolle zu, da die Rückkopplungsmechanismen zwischen Vertrauen und Ökonomie Störungen verstärken könnten: „The cornerstone of our theory is confidence and the feedback mechanisms between it and the economy that amplify disturbances.“96 Die gegenwärtige Krise sei Vertrauens-(„confidence“) und Kredit-(„credit“)Krise gleichermaßen: Vertrauen erscheint dabei nicht wie in der klassischen Ökonomie nach Adam Smith als ausschließlich rationales Element: „But there is more to the notion of confidence. The very meaning of trust is that we go beyond the rational. Indeed the truly trusting person often discards or discounts certain information. She may not even process the information that is available to her rationally; even if she has processed it rationally, she may still not act on it rationally. She acts according to what she trusts to be true.“97 92 Vgl. Jost Neuwald/Gerd Würzberg: Unternehmenskommunikation als Treiber des Wertmanagements. In: Günter Bentele u.a. (Hg.): Kommunikationsmanagement. Neuwied u.a. 2001ff. (Loseblattsammlung): 2.12 (September 2003), S. 15. 93 Vgl. dazu und zum Folgenden: Beecken/Hesse: Vertrauen weg, S. 22. 94 Wie dieses Urteil indes nach der Krise der deutschen Landesbanken, deren ganzes Ausmaß erst nach der Erstellung der Studie deutlich wurde, ausfallen wird, muss erst noch untersucht werden. 95 Vgl. hierzu und zum Folgenden George A. Akerlof/Robert J. Shiller: Animal Spirits: How Human Psychology Drives the Economy, and Why It Matters for Global Capitalism. Princeton u.a. 2009. 96 Akerlof/Shiller: Animal Spirits, S. 5. 97 Akerlof/Shiller: Animal Spirits, S. 12.
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Entsprechend reicht auch die gegenwärtige Vertrauenskrise tiefer: Das verloren gegangene Vertrauen lässt sich allein mit rationalen Argumenten nicht zurückzugewinnen. Hinzu kommt, dass Vertrauen nicht nur selbst wirkt, sondern auch andere Faktoren beeinflusst: Als Addendum zur Keynesianischen Theorie der Multiplikatoren führen Shiller und Akerlof einen Vertrauens-Multiplikator („Confidence Multiplier“) ein.98 Das hat zur Folge, dass staatliche Anreize kaum noch greifen und der Krise mit herkömmlicher Fiskalpolitik nicht beizukommen ist: Ist das Vertrauen gering, werden die Menschen den größten Teil staatlicher Anreize nicht wie intendiert zum Konsum nutzen, sondern sparen. In gleicher Weise werden beispielsweise auch niedrige Leitzinsen nicht weitergegeben. All das belegt, dass die Unternehmen einen ungleich höheren ökonomischen Schaden, als ihnen durch die eigentliche Krise entstanden ist, aufgrund der Tatsache befürchten müssen, dass das Vertrauensverhältnis zu wichtigen Anspruchsgruppen zerrüttet ist. Ein wesentlicher Schlüssel zur Überwindung der Wirtschaftskrise muss daher die sukzessive Rückgewinnung verloren gegangenen Vertrauens bei verschiedensten Anspruchsgruppen darstellen. Zutrauen und Zuversicht der Verbraucher müssen insbesondere durch transparente, glaubwürdige und ehrliche Kommunikation wieder geweckt und entwickelt werden. Es ist augenscheinlich, dass diese wesentlichen vertrauensbildenden Maßnahmen nicht allein von der Politik geleistet und erst recht nicht auf sie abgewälzt werden können. Die Schaffung eines vernünftigen Regelwerks, das künftig als verbindlicher Rahmen die schlimmsten Verirrungen und Verfehlungen an den Märkten verhindern soll, stellt dafür allenfalls eine notwendige Bedingung dar. Um dem System jedoch wieder nachhaltig Stabilität zu verleihen, um auf einer soliden Basis in Zukunft neues Wachstum zu erzielen, ist es erforderlich, dass sich die Wirtschaft – und damit in erster Linie die handelnden Akteure – selbst in die Pflicht nimmt. Hinreichende Bedingung zur Wiederherstellung des dringend notwendigen Vertrauens aller Stakeholder ist dabei unternehmerisches Handeln, das sich konsequent an den Kriterien Nachhaltigkeit und vor allem Verantwortung ausrichtet. 2.1.4 Die Krise: Krise der Wirtschaftswissenschaften? „The science of economics does not provide simple answers to complex social problems“, mahnte Paul A. Samuelson bereits 1956.99 Auf den Nationalökonomen Samuelson, 1970 erster US-amerikanischer Wirtschaftsnobelpreisträger und von Wirtschaftshistorikern wie Randall E. Parker als „Father of Modern Economics“ bezeichnet100, geht die Integration mathematischer und statistischer Methoden zur 98 Vgl. hierzu Akerlof/Shiller: Animal Spirits, S. 16. 99 Paul A. Samuelson: The New Look in Tax and Fiscal Policy. In: Ders.: The collected scientific papers of Paul A. Samuelson. Bd. 3. Cambridge, Mass. u.a. 1966, S. 1325–1330, 1325. 100 Randall E. Parker: Reflections on the Great Depression. Cheltenham 2002, S. 25.
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Beschreibung der marktwirtschaftlichen Gesetze in die Wirtschaftswissenschaften zurück. Die Mathematik diente Samuelson zur Beschreibung exakter Probleme, doch war sie bei ihm niemals Selbstzweck: „We must warn in the strongest terms against confusing the conditions of real life with those of the scores of analytical articles in the financial journals.“101 Der medienwirksame Aufruf von 83 Wirtschaftsprofessoren, die im Frühjahr 2009 die Entwicklung ihrer Disziplin scharf kritisierten, hat eine teilweise scharf geführte Diskussion über die Rolle der Wirtschaftswissenschaften in einer globalisierten Wirtschaftswelt losgetreten.102 Die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise war dabei freilich nur der aktuelle Aufhänger für einen bereits seit Längerem schwelenden Konflikt: Die meisten Wirtschaftswissenschaftler haben die Entwicklungen, die zur Krise führten, nicht vorhergesehen – und viele Ökonomen tun sich ebenso schwer mit validen Prognosen über deren Folgen.103 Die sich zu einer Wirtschaftskrise ausweitende Finanzkrise spielte so die Rolle eines Katalysators, der zu einem handfesten Richtungs- und Methodenstreit über die Grundlagen der Disziplin und deren gesellschaftlichen Einfluss führte.104 Um „fehlende Realitätsnähe“ ging es da, um Internationalität, um die Modernität und Aktualität von „Wirtschaftspolitik“ und „Ordnungsökonomik“, um das Ansehen der Fachvertreter in der Öffentlichkeit. Dahinter verbirgt sich eine weitaus tiefer reichende Problematik: Sie hat mit dem Prinzip der Wertfreiheit in der Wissenschaft zu tun, das in den vergangenen Jahrzehnten in kaum einer Disziplin so überzeugt und bisweilen verbissen postuliert und verteidigt wurde wie in den Wirtschaftswissenschaften. Viele ernst zu nehmende Fachvertreter mieden Begriffe wie Ethik, Moral oder Werte wie der Teufel das Weihwasser. Vielleicht hatte das mehr mit Wahrhaftigkeit als mit Wahrheit zu tun: Nur davon, dass eine Aussage immer und immer wieder wiederholt wird, wird sie nicht wahrer. Dabei geht es um das Eingeständnis, dass wirtschaftspolitische Aussagen immer auch normative Analysen voraussetzen, die per se ethische Relevanz haben. Mittlerweile wächst das Unbehagen ge101 Paul A. Samuelson/Robert C. Merton: Generalized Mean-variance Tradeoffs for Best Perturbation Corrections to Approximate Portfolio Decisions. In: The Journal of Finance 29 (1974), S. 27–40, 38. 102 Vgl. dazu und zum Folgenden beispielhaft Werner Mussler: Die Lehren der Anderen. Viele tonangebende Ökonomen reagieren bissig auf Kritik. Sie sollten lieber daraus lernen. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Nr. 21 v. 24.05.2009, S. 32; sowie Lisa Nienhaus: Der Krach der Ökonomen. Erst ging es nur um ein paar Lehrstühle in Köln. Jetzt geht es ums Grundsätzliche: Was wird aus unserer Volkswirtschaft? In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Nr. 24 v. 14.06.2009, S. 34; und ebf. die kritische Stellungnahme des St. Galler Volkswirtschaftlers Gebhard Kirchgässner: Typisch deutsch! Die deutsche Nationalökonomie darf keinen nationalen Sonderweg gehen. Eine Außenansicht. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Nr. 24 v. 14.06.2009, S. 34. 103 Vgl. Gebhard Kirchgässner: Die Krise der Wirtschaft: Auch eine Krise der Wirtschaftswissenschaften. In: Perspektiven der Wirtschaftspolitik. Eine Zeitschrift des Vereins für Socialpolitik 10 (2009), S. 436–468, 439, 463. 104 Vgl. ausführlich zum Streit Kirchgässner: Krise der Wirtschaft, S. 436–468. Bei Kirchgässner finden sich auch zahlreiche weitere Belege zur gegenwärtigen Debatte.
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genüber einer rein quantitativ verstandenen Ökonomik und ihren mathematisierten Erklärungsmodellen spürbar. Über dem wissenschaftlichen Methodenkonflikt schwebt dieselbe Frage, die im Grunde genommen alle Stellungnahmen und Lösungsvorschläge zur Krise gleichsam überformt: Kann modernes Wirtschaften überhaupt mit Ethik oder gar mit Moral in Beziehung gesetzt werden?105 Die ablehnende Haltung zahlreicher Fachvertreter gegenüber dieser Fragestellung steht in einem merkwürdigen Gegensatz zur öffentlichen Wahrnehmung, in der sich Fragen nach Ethik und Moral in der Wirtschaft bereits seit vielen Jahren einer hohen Konjunktur erfreuten und zu regelrechten Modethemen avancierten. Kaum eine politische oder wissenschaftliche Diskussion kam in den zurückliegenden Jahren ohne eine Stellungnahme oder entsprechendes „ethisches name dropping“ aus. Darüber hinaus gab es eine Vielzahl wirtschaftsethischer Fachveröffentlichungen, von Kongressen und auch einen florierenden Markt für spezielle Ethikmanagement-Trainings.106 Dieser Trend hält mittlerweile seit einem Vierteljahrhundert an: Ab Mitte der 1980er Jahre kam es zu einem sprunghaften Anstieg wissenschaftlicher Veröffentlichungen auf diesem Gebiet.107 Die Diskussion über Ethik und Moral in der Wirtschaft und die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen reicht dabei von Beiträgen zur Stärkung des gesellschaftlichen Bewusstseins im Verhalten des Unternehmens unter Anwendung von Prinzipien ethischer praktischer Vernunft bis zu konkreten praktischen Ausgestaltungsfragen der Kommunikation mit der Öffentlichkeit.108 Letzlich geht es bei „allen Bemühungen“ immer auch darum, wie der Wirtschaftswissenschaftler Knut Bleicher zurecht anmerkt, „eine Legitimationsbasis für die Sicherung der Autonomie im Handeln der Mitglieder einer Unternehmung zu erreichen“.109 Umso mehr mag es überraschen, dass ausgerechnet in jüngerer Zeit und eingedenk der Folgen der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise die Legitimität wirtschafts- und unternehmensethischer Programme und der Nutzen der Disziplin als Ganzer wiederholt in Frage gestellt wird: „Trotzdem gilt Wirtschaftsethik gerade in Anbetracht der dramatischen wirtschaftlichen Schwierigkeiten, in denen sich viele Unternehmen befinden, als gelehrtes Glasperlenspiel, als philanthropisches Feigenblatt, das man sich nur in prosperierenden Zeiten leisten kann. In Krisenzeiten hingegen könne man darauf gern verzichten. ‚Erst kommt das Fressen, dann die Moral!‘ – Bert Brecht scheint mit seinem Zynismus Recht zu behalten, beschaut man die Sparorgien mancher Unternehmen im Blick auf ethisch fundier-
105 Vgl. Schwartz: Wirtschaftsethik in Zeiten der Krise, S. 170. 106 Vgl. dazu und zugleich als weiteren Beleg Andrea Bittelmeyer: Wie Manager zur Moral finden. Zwischen Ethik und Erfolgsdruck. In: managerSeminare 98 (2006), S. 78–84. 107 Vgl. dazu Eckart Müller/Hans Diefenbacher (Hg.): Wirtschaft und Ethik. Eine kommentierte Bibliographie. Heidelberg 1992. Nachtrag Heidelberg 1994. 108 Bleicher: Visionen und Missionen eines normativen Managements, S. 167. 109 Bleicher: Visionen und Missionen eines normativen Managements, S. 167.
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te Projekte und Programme.“110 Diese Entwicklung ist deshalb umso bedenklicher, da eine solche „Sichtweise […] leider auch von Teilen der Wirtschaftswissenschaften unterstützt“ werde.111 Dabei droht ein Rückfall auf überkommene Antinomiethesen, die, auf der „Annahme“ beruhend, „dass verantwortliches Handeln am Allgemeinen zu höheren Kosten und somit zu einer Schmälerung des Gewinns führe“, davon ausgingen, dass sich das Gewinnziel und das Ziel der sozialen Verantwortung gegenseitig ausschlössen.112 Und bei einigen Wirtschaftslenkern finden entsprechende Ansichten prompt Zuspruch: Alexander Dibelius, Deutschlandchef des Finanzdienstleisters Goldman Sachs Group Inc., ehemals eine der weltweit ältesten Investmentbanken, erklärte Anfang des Jahres 2010 auf einer Veranstaltung der WHU – Otto Beisheim School of Management hinsichtlich der Funktion und Rolle privater Banken innerhalb der Gesellschaft, dass „Banken […] keine Verpflichtung“ hätten, „das Gemeinwohl zu fördern“.113 Vielmehr dienten die Geldinstitute der Gesellschaft am besten, wenn sie unüberlegte Transaktionen und überzogene Risiken vermieden und Geld verdienten.114 Vorstellungen dieser Art, die stark an die Auffassungen Milton Friedmans erinnern, erscheinen – selbst isoliert aus einer rein ökonomischen Sichtweise heraus – so wenig weitsichtig wie zeitgemäß: Schließlich vernachlässigt eine derartige „kurzfristige Sichtweise […] weitgehend die langfristigen Opportunitätskosten einer Nicht-Berücksichtigung von gesellschaftlichen Bezugsgruppen der Unternehmung“.115 In alledem zeigt sich, dass das Verhältnis von Ethik und Ökonomik keineswegs so eindeutig bestimmt ist, wie ein flüchtiger Blicks auf die öffentliche und wissenschaftliche Debatte der zurückliegenden Jahre vermuten ließe. Die wesentlichen Konflikte sind keineswegs gelöst, die Grabenkämpfe um unterschiedliche Theorien sind nicht abschließend ausgefochten und an wesentlichen Streitpunkten scheiden sich noch immer sprichwörtlich die Geister. Der Wirtschafts- und Finanzkrise, in der Manager vielfach als Schuldige ausgemacht wurden und in der zahlreiche Politiker offen die moralische Integrität der wirtschaftlichen Eliten in Frage stellten, in der verbreitet Forderungen nach mehr staatlicher Regulierung und entsprechenden Korrekturen der Wirtschaftsordnung laut wurden und sich eine lebhafte Diskussion über die Tugenden des „ehrbaren Kaufmanns“ bzw. die Werte des Unternehmertums entspannte, fügte dieser Diskussion einen neuen Aspekt hinzu: Hatte die schwierige Klärung des Verhältnisses beider Disziplinen in der Vergan110 111 112 113
Schwartz: Wirtschaftsethik in Zeiten der Krise, S. 170. Schwartz: Wirtschaftsethik in Zeiten der Krise, S. 170. Bleicher: Visionen und Missionen eines normativen Managements, S. 169. Zit. nach Dibelius lost in Translation. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Nr. 2 v. 17.01.2010, S. 24. 114 Vgl. etwa „Banken müssen nicht das Gemeinwohl fördern“. In: Handelsblatt Online v. 14.01.2010, URL: http://www.handelsblatt.com/unternehmen/banken-versicherungen/goldman-deutschland-chefbanken-muessen-nicht-das-gemeinwohl-foerdern;2512975 [aufgerufen am 22.01.2010]. 115 Bleicher: Visionen und Missionen eines normativen Managements, S. 169.
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genheit innerhalb des fachwissenschaftlichen Diskurses – wie noch zu zeigen sein wird – bereits eine wesentliche Rolle gespielt, machten nun die Krise, ihre Folgen und die Debatte um die ethischen Grundlagen des Wirtschaftens nicht nur dessen Aktualität, sondern vor allem dessen erhebliche praktische Relevanz sichtbar. Es hängt weit mehr von der Verhältnisbestimmung zwischen Ethik und Ökonomik ab, als lediglich die Lösung einer gelehrten Diskussion im wissenschaftlichen Elfenbeinturm. Die offenkundig mangelhafte Implementierung wirtschaftsethischer Grundsätze und Leitlinien in der ökonomischen Praxis nimmt insbesondere die Wissenschaft in die Pflicht zu einer wesentlichen Klärung: Wie hast du’s mit dem Verhältnis von Ethik und Ökonomik?, könnte die Gretchenfrage lauten, der sich jeder Diskussionsbeitrag und jeder ambitionierte Ansatz zuallererst zu stellen hätte. Diese Auseinandersetzung nicht zu scheuen, könnte es auch den Wirtschaftswissenschaften erleichtern, die richtigen Antworten auf die komplexen sozialen Probleme der Gegenwart zu finden.
2.2 Entwicklung ethischer Gedanken innerhalb der Wirtschaftswissenschaften Der spektakuläre Shell-Boykott im Jahre 1995, der die Versenkung der Ölspeicherplattform Brent Spar in der atlantischen Tiefsee verhinderte, das demonstrative Victory-Zeichen von Deutsche Bank-Vorstandschef Josef Ackermann vor den Journalisten am Düsseldorfer Landgericht im Januar 2004, die Proteste gegen die Werksschließung des Bochumer Nokia-Werks im Frühjahr 2008, die nicht enden wollenden Negativschlagzeilen um die Korruptionsaffäre beim einstigen deutschen Vorzeigeunternehmen Siemens, unterschiedliche Fälle schweren Datenmissbrauchs und der systematischen Bespitzelung eigener Mitarbeiter (Deutsche Bahn, Deutsche Telekom, Lidl, Deutsche Bank) oder die diversen Skandale um Arbeitsbedingungen oder Kinderarbeit in Fabriken westlicher Konsumgüterproduzenten wie Nike oder Levi Strauss in Asien116: All das sind Ereignisse, die einem unweigerlich in den Sinn kommen, wenn man an das Verhältnis von Wirtschaft und
116 Vgl. dazu auch Manfred Schlund: Corporate Social Responsibility (CSR) – eine Sozialinnovation der Unternehmen für die Gesellschaft? In: Dieter Gramlich u.a. (Hg.): Herausforderungen einer zukunftsorientierten Unternehmenspolitik. Ökonomie, Umwelt, Technik und Gesellschaft als Determinanten. Wiesbaden 2007, S. 65–89, 70; vgl. ebf. Ulrich Steger/Oliver Salzmann: Die soziale Verantwortung von Unternehmen. In: Harvard Business Manager 28 (2006), Nr. 7, S. 6–10; vgl. zum Mannesmann-Fall und dessen (wirtschafts)ethischer Betrachtung auch bes. Cindy Friske u.a.: Einführung in die Unternehmensethik: Erste theoretische, normative und praktische Aspekte. Lehrbuch für Studium und Praxis. München u.a. 2005 (= Schriften zum internationalen Management 12), S. 127–141; vgl. zu den Fällen von Datenmissbrauch, Überwachung und Bespitzelung der Mitarbeiter von Großunternehmen Spitzelaffären ohne Ende. Bahn und andere Unternehmen. In: Handelsblatt v. 18.04.2009, URL: http://www.handelsblatt.com/unternehmen/handel-dienstleister/ spitzelaffaeren-ohne-ende;2243400 [aufgerufen am 26.05.2009].
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Ethik in der Gegenwart denkt. Zugleich sind sie aber auch Beleg dafür, dass die Rolle und das Handeln der Privatwirtschaft in einer globalisierten Welt im öffentlichen und politischen Diskurs verstärkte Aufmerksamkeit genießen. In den zurückliegenden Jahren ist insbesondere das Bemühen der Wirtschaftsunternehmen um nachhaltiges und verantwortliches Verhalten verstärkt in den Fokus der Öffentlichkeit aber auch der Wissenschaft gerückt. Von ethischen Kodizes in Unternehmen bis hin zu grundlegenden Fragen der Wirtschaftsordnung erstrecken sich wirtschaftsethische Aktivitäten über die unterschiedlichsten Ebenen in Ökonomie und Gesellschaft und haben eine Debatte in Gang gesetzt, in der die Aufmerksamkeit für Grundlagenprobleme der Wirtschaftsethik gewachsen ist, wie die Herausgeber des einflussreichen Handbuchs der Wirtschaftsethik 1999 nicht ohne Stolz konstatieren.117 Damit konnte in den vergangenen zwanzig Jahren die Wirtschaftsethik „von einer Randfrage ökonomischer Theorie und Praxis zu einem zentralen Thema öffentlicher und wissenschaftlicher Auseinandersetzung“ avancieren.118 Über die grundsätzliche Relevanz ethischer Fragestellungen und Probleme für Wirtschaft und Gesellschaft besteht in Deutschland, so entsteht der Eindruck, mittlerweile keine Uneinigkeit mehr.119 Umso mehr überrascht es, dass trotz des allgemeinen Booms wirtschaftswissenschaftlicher Studiengänge an deutschen Hochschulen, ganz im Gegensatz zu den angloamerikanischen Ländern, eine eingehendere Beschäftigung mit Wirtschaftsoder Unternehmensethik bis heute nicht zu einem ordentlichen Bestandteil der Curricula geworden ist.120 Dieser Umstand wird verständlich angesichts der Ni117 Wilhelm Korff u.a.: Einführung in das Handbuch der Wirtschaftsethik. In: Handbuch der Wirtschaftsethik. Hg. im Auftrag der Görres-Gesellschaft v. Wilhelm Korff u.a. Bd.1: Verhältnisbestimmung von Wirtschaft und Ethik. Gütersloh 1999, S. 21–26, 21. 118 Korff u.a.: Einführung, S. 21. 119 Vgl. exemplarisch Hans-Ulrich Küpper: Business Ethics in Germany. Problems, concepts, and Functions. In: Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik 8 (2007), Nr. 3, S. 250–269, 250; vgl. außerdem Peter Ulrich: Wirtschaftsethik. In: Handbuch Ethik. Hg. v. Marcus Düwell u.a. Stuttgart u.a. 22006. S. 297–302, bes. 297. Vgl. zudem die Begründung des Bedarfs der Marktwirtschaft an moralischer Verantwortung, moralisch motivierten Normen und Handlungsweisen aus soziologischer Perspektive in Michael Baurmann: Lokale und globale Verantwortung von Unternehmen: Drei Thesen zum Verhältnis von Markt und Moral. In: Ludger Heidbrink u.a. (Hg.): Verantwortung als marktwirtschaftliches Prinzip. Zum Verhältnis von Moral und Ökonomie. Frankfurt a.M. u.a. 2008, S. 117–143, bes. 117–122. 120 Die Anzahl der Betriebswirtschaftslehre-Studierenden an deutschen Hochschulen stieg in den zurückliegenden 30 Jahren von 30.000 auf 160.000. Vgl. Hans-Ulrich Küpper: Entwicklungstendenzen der betriebswirtschaftlichen Ausbildung an einer öffentlichen Hochschule. In: Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung 59 (2007), S. 508–524, 514ff. Die geringe Reputation der Wirtschaftsethik und die ungenügende Präsenz innerhalb der akademischen Lehre beklagt auch Karl Homann. (Vgl. Karl Homann: Wirtschaftsethik: Versuch einer Bilanz und Forschungsaufgaben. In: Thomas Beschorner u.a. (Hg.): Wirtschafts- und Unternehmensethik. Rückblick, Ausblick, Perspektiven. München u.a. 2005 (= Schriftenreihe für Wirtschafts- und Unternehmensethik 10), S. 197– 211, 197.) Vgl. zum im Vergleich mit angloamerikanischen Ländern geringeren Stellenwert der Ethik in wirtschaftswissenschaftlichen Studiengängen an deutschen Hochschulen ebf. Küpper: Business Ethics in Germany, S. 250.
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schenposition, die die Wirtschaftsethik über viele Jahrzehnte in der bundesdeutschen Wissenschaftslandschaft innehatte, in der sie lange um ihre Anerkennung und Reputation als wissenschaftliche Disziplin kämpfen musste. Erst im Sommer 1987 wurde an der Universität (damals: Hochschule) St. Gallen mit dem Lehrstuhl für Wirtschaftsethik der erste seiner Art an einer Wirtschaftsfakultät im deutschsprachigen Raum geschaffen. Wenn der Lehrstuhlinhaber Peter Ulrich seine Tätigkeit in den Anfangsjahren beschreibt, so spricht er rückblickend von „Aufbauarbeit“, die er habe leisten müssen.121 „Überblickt man die Wissenschaftsgeschichte der Betriebswirtschaftslehre in den letzten 100 Jahren, so gewinnt man den Eindruck, dass sie ihr Verhältnis zur Ethik und konkret zur Wirtschaftsethik nie hinreichend aufgearbeitet und geklärt hat“, resümiert Horst Steinmann.122 Zudem weist er darauf hin, dass in der Geschichte der Wirtschaftswissenschaft im vergangenen Jahrhundert einzelne Versuche, ethisch-normative Überlegungen in das Lehrgebäude zu integrieren, überwiegend als gescheitert beurteilt werden.123 Und Jürgen Mittelstraß bezeichnet die wirtschaftswissenschaftliche Theoriegeschichte gar als „Verlustgeschichte aus der Perspektive der Ethik“.124 Dafür, dass sich die Wirtschaftsethik im deutschsprachigen Raum über einen langen Zeitraum so schwer tat, ist sicherlich auch die Dominanz des Konflikts zwischen sozialistischen und marktwirtschaftlichen ökonomischen Konzepten in der politischen und akademischen Diskussion nach dem Zweiten Weltkrieg verantwortlich – weiterreichende normative Fragen rückten ihr gegenüber häufig in den Hintergrund.125 Nach der Stunde Null beeinflusste überdies die Erfahrung der Verstrickung zahlreicher namhafter Ökonomen und deren normativer Konzepte in Wissenschaftsapparat und Propaganda der Nazidiktatur die Haltung vieler Wissenschaftler.126 Besonders die von Hochschullehrern in den 121 Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 5. 122 Horst Steinmann u.a.: Unternehmensethik – 100 Jahre Betriebswirtschaftslehre in Deutschland. In: The Bulletin of Nagaoka University 2 (2003), S. 21–57, S. 23, URL: http://lweb.nagaokauniv.ac.jp/ kiyo/vol02/02paper2.pdf [aufgerufen am 02.01.2010]. 123 Vgl. Horst Steinmann u.a.: Betriebswirtschaftslehre, S. 23; vgl. dazu grundlegend Dieter Schneider: Ethik als Auslöser einzelner Fehlentwicklungen in der Geschichte der Wirtschaftswissenschaft. In: Brij Nino Kumar u.a. (Hg.): Unternehmensethik und die Transformation des Wettbewerbs. Shareholder-Value, Globalisierung, Hyperwettbewerb. Festschrift für Professor Dr. Dr. h.c. Horst Steinmann zum 65. Geburtstag. Stuttgart 1999, S. 637–658. 124 Jürgen Mittelstraß: Wirtschaftsethik als wissenschaftliche Disziplin? In: Georges Enderle (Hg.): Ethik und Wirtschaftswissenschaften. Berlin 1985 (= Schriften des Vereins für Socialpolitik, Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialwissenschaft, N.F. 147), S. 17–32, 17. 125 Vgl. hierzu und zum folgenden Abschnitt Küpper: Business Ethics, S. 250ff. 126 Vgl. Dieter Schneider: Betriebswirtschaftslehre. Vol. 4: Geschichte und Methoden der Wirtschaftswissenschaft. München u.a. 2001, S. 230. Vgl. dazu Steinmann u.a.: Betriebswirtschaftslehre, S. 23. Im Zusammenhang der Verstrickung müssen neben Heinrich Nicklisch insbesondere Walter Le Coutre oder auch Curt Sandig erwähnt werden. Vgl. dazu eingehend Sönke Hundt: Zur Theoriegeschichte der Betriebswirtschaftslehre. Köln 1977 (= Mitbestimmung – Arbeit – Wirtschaft 1), S. 89 ff. Nicklisch hielt bereits im Juli 1933 auf einer öffentlichen Kundgebung eines wirtschaftswissenschaftlichen Verbandes in der Aula der Handelshochschule Berlin sein Grundsatzreferat unter
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1920er und 1930er Jahren durchgeführten Unternehmungen hin zu einer Lehre von der “Betriebsgemeinschaft” als Teil einer übergeordneten Werte- und Lebensordnung entwickelten im Rahmen der nationalsozialistischen Herrschaftsordnung eine fatale Wirkungsgeschichte und wurden nach dem Krieg zum Anlass genommen, allen weiteren Versuchen einer ethischen Orientierung der Betriebswirtschaftslehre skeptisch bis diskreditierend gegenüber zu stehen.127 Das daraus resultierende und kaum hinterfragte Postulat eines Bemühens um größtmögliche wissenschaftliche Objektivität bedingte eine grundlegende Skepsis gegenüber jedweder normativer Position.128 Deshalb beschäftigen sich vor der Mitte der 1980er Jahre nur sehr wenige Wirtschaftswissenschaftler mit dezidiert ethischen Fragestellungen und Problemen.129 Zwar existieren sporadische Äußerungen bekannter Vertreter des Faches zu Fragen der Ethik in der Wirtschaft und zuweilen wurde gar der Brückenschlag zur Philosophie gewagt, doch blieben konzeptionell umfassend angelegte wirtschaftsethische Ansätze in der Betriebswirtschaftslehre sehr lange Außenseiterpositionen.130 Der auf den Prinzipien der katholischen Soziallehre (Personalität, Solidarität und Subsidiarität) basierende Ansatz von Wilhelm Kalveram aus den 1950er Jahren (vgl. ausführlicher dazu unten) konnte sich ebenso wenig wie der Entwurf ebenfalls katholischer Provenienz einer sozialontologischen Grundlegung der Betriebswirtschaftslehre Guido Fischers gegen die in der Nachkriegszeit dominant gewordene Schule einer als nahezu vollkommen wertfrei angenommenen Ökonomik Erich Gutenbergs durchsetzen. Wirtschaftsethische Entwürfe gerieten gegenüber Gutenbergs produktionstheoretischem Paradigma rasch in den Verdacht der Unwissenschaftlichkeit: “Die Verquickung ethischer und ökonomischer Gesichtspunkte bei wissenschaftlichen Untersuchungen ist für das fachliche Resultat in der Regel nicht von Vorteil; die philosophisch-ethischen Darstellungen tragen oft genug dilettantischen Charakter und vermögen deshalb die Lösung der eigentlichen ökonomischen Probleme kaum zu fördern.”131 Karl Hax’ sehr allgemeines und wertendes Grundsatzurteil über die Ethik in der Wirtschaftswissenschaft ist symptomatisch für die implizite Gleichsetzung von
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dem vielsagenden Titel „Die Betriebswirtschaftslehre im nationalsozialistischen Staat“. Dabei richtet er einen „Aufruf an die Betriebswirtschaftler, dem Führer des neuen Deutschland alle ihre Kräfte zur Verfügung zu stellen, die Ziele ihrer Forschung nach den Bedürfnissen der politischen Gestaltung zu setzen und in erster Linie die für diese Maßnahmen maßgebenden Zusammenhänge klären zu helfen“. (Heinrich Nicklisch: Die Betriebswirtschaftslehre im nationalsozialistischen Staat. In: Die Betriebswirtschaft 26 (1933), S. 172–177, 172; vgl. dazu Steinmann u.a.: Betriebswirtschaftlehre, S. 35.) Vgl. dazu Steinmann u.a.: Betriebswirtschaftslehre, S. 23; vgl. ebf. Hundt: Theoriegeschichte, S. 89 ff. Hans-Ulrich Küpper: Unternehmensethik. Ein Gegenstand betriebswirtschaftlicher Forschung und Lehre? In: Betriebswirtschaftliche Forschung und Praxis 44 (1992), S. 498–518, 500. Vgl. Küpper: Unternehmensethik, 500. Vgl. hierzu und zum Folgenden Steinmann u.a.: Betriebswirtschaftslehre, S. 23. Karl Hax: Das Methodenproblem in der Betriebswirtschaftslehre (Rezension). In: Zeitschrift für handelswissenschaftliche Forschung, N.F. 8 (1956), S. 498–502, 502.
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Ethik mit Ideologie in weiten Teilen der Betriebswirtschaftslehre, an der sich zum Teil bis in die Gegenwart wenig geändert hat.132 Ebenso symptomatisch scheint es, dass Hax in seiner moralinsauren Stellungnahme selbst normativ vorgeht, obwohl er doch die absolute Vermeidung von Normativität für seine Disziplin proklamiert. Dieser Konflikt resultiert aus dem Spagat der modernen Ökonomik, als Realwissenschaft empirische Zusammenhänge erklären zu wollen, zugleich aber normative Handlungsorientierung begründen zu wollen.133 Einerseits wird unter dem Mantel strikter Empirie eine absolute Wertfreiheit behauptet, andererseits werden dazu nicht selten normative, dezidiert wertende Begründungen herangezogen; ein augenscheinlich argumentativer Widerspruch, der sich in vergleichbaren Aussagen bis in die Gegenwart findet. So konnte auch die zwar existente, aber recht spärliche Diskussion über die normativen Grundlagen der Disziplin über Jahrzehnte nie einen signifikanten Einfluss auf die herrschende Meinung gewinnen, zu bestimmend war das wuchtige Diktum Max Webers von der wertfreien Wissenschaft134, der zwischen unterschiedlichen analytischen Ebenen in der wissenschaftlichen Praxis unterschied, die strikt voneinander zu trennen seien.135 Damit ließen sich auf einer Ebene Werte und Werturteile objektiv und ohne Vornahme einer Wertung wissenschaftlich analysieren. Wertungen fasst er als „‚praktische Bewertungen‘ einer durch unser Handeln beeinflußbaren Entscheidung“ auf, die „als verwerflich oder billigenswert verstanden werden“ sollen.136 Darüber hinaus existiert eine weitere Ebene der Auseinandersetzung über wissenschaftliche Methoden und Standards oder die Auswahl der Untersuchungsgegenstände einer Disziplin, die notwendigerweise auf Werturteilen basiert. Wissenschaftler müssen diese „‚bewertende[n]‘ Stellungnahme[n]“ zwingend von der wertfreien „Feststellung empirischer Tatsachen“ trennen.137
132 Vgl. Steinmann u.a.: Betriebswirtschaftslehre, S. 23. 133 Dies ist auch ein wesentlicher Bestandteil der Ökonomismus-Kritik Peter Ulrichs, auf die später noch ausführlicher eingegangen werden soll. Vgl. Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 106ff. Vgl. hierzu auch grundlegend Hans Albert: Ökonomische Ideologie und politische Theorie. Das ökonomische Argument in der ordnungspolitischen Debatte [1954]. Göttingen 1972 (= Monographien zur Politik 4), S. 13. 134 So wird in den betriebswirtschaftlichen Standardwerken Adolf Moxters und Günter Wöhes aus den späten 1950er Jahren durchaus die wissenschaftliche Basis der Disziplin thematisiert und reflektiert. 135 Vgl. dazu und zum Folgenden Max Weber: Wissenschaft als Beruf. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Hg. v. Johannes Winckelmann. Tübingen 71988 (= UTB für Wissenschaft 1492), S. 582–613, 600ff. Vgl. außerdem Max Weber: Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Hg. v. Johannes Winckelmann. Tübingen 71988 (= UTB für Wissenschaft 1492), S. 146–214, bes. 146ff.; sowie Max Weber: Der Sinn der ‚Wertfreiheit‘ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Hg. v. Johannes Winckelmann. Tübingen 7 1988 (= UTB für Wissenschaft 1492), S. 489–540. 136 Weber: Der Sinn der ‚Wertfreiheit‘ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, S. 489ff. 137 Weber: Der Sinn der ‚Wertfreiheit‘ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, S. 500.
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Aber nicht nur das Webersche Prinzip der Werturteilsfreiheit und dessen Interpretation durch zahlreiche Ökonomen belasteten das Verhältnis von Ethik und wirtschaftswissenschaftlicher Forschung. Peter Ulrich weist darauf hin, dass auch der weitverbreitete ethische Relativismus als „angeblich ‚postmoderne‘ Reaktion auf die Erschütterung traditioneller ‚fester Werte‘ und autoritativer Morallehren“, der eine objektive Begründung moralischer Verbindlichkeiten für unmöglich halte, die Fundierung der modernen Wirtschaftsethik erschwere.138 Über einen langen Zeitraum des 20. Jahrhunderts erscheinen so Ethik und Ökonomik nicht nur im deutschsprachigen Raum als nahezu gänzlich unvereinbare Gegensätze.
2.3 Ethik und Ökonomik: Unvereinbare Gegensätze? Schon Karl Kraus soll zu einem seiner Studenten gesagt haben, nachdem dieser ihm mitteilte, Wirtschaftsethik studieren zu wollen, dass er sich gezwungenermaßen für das Eine oder Andere entscheiden müsse – beides ginge nicht.139 Mit seiner Bemerkung steht der Satiriker nicht alleine da. Versuche der Etablierung einer Wirtschaftsethik sahen sich stets der handfesten Kritik von neoliberaler und systemtheoretischer Seite ausgesetzt. Der Tenor dabei war eindeutig: Eine theoretische Verbindung aus Ethik und Ökonomik ist deshalb undenkbar, weil keine praktische Verbindung aus Ethik und Ökonomie existiere. So befanden die Einen, die Marktwirtschaft selbst sei Garant genug für eine verantwortliche Zukunft und bedürfe daher keiner moralischen Fixierung durch eine Metawissenschaft wie die Ethik, die Anderen hielten es für ein unmögliches Unterfangen, das System Wirtschaft in der Moderne nach ethischen Kriterien steuern zu wollen. 1970 veröffentlichte der US-Ökonom und Wirtschaftsnobelpreisträger von 1976, Milton Friedman, seinen einflussreichen Artikel „The Social Responsibility of Business is to Increase its Profits“140, in dem er die ausschließliche Ausrichtung der Unternehmen an der Maximierung des Shareholder Value postulierte.141 Nach Auffassung Friedmans sind Unternehmer oder Unternehmen, die jenseits ihrer eigentlichen wirtschaftlichen Geschäftstätigkeit noch andere Präferenzen verfolgen, im Wettbewerb benachteiligt und drohen von kompetitiveren Marktteilnehmern
138 Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 21. 139 Vgl. Hans Lenk/Matthias Maring: Einführung: Wirtschaftsethik – ein Widerspruch in sich selbst? In: Diesn. (Hg.): Wirtschaft und Ethik. Stuttgart 1992, S. 7–30, 7. 140 Milton Friedman: The Social Responsibility of Business is to Increase its Profits. In: New York Times Magazine v. 13.09.1970, S. 32–33, 122–126. 141 Vgl. Johanna Brinkmann: Corporate Citizenship und Public-Private Partnerships – Zum Potential der Kooperation zwischen Privatwirtschaft, Entwicklungszusammenarbeit und Zivilgesellschaft. Hg. v. Forschungsinstitut des Wittenberg-Zentrums für Globale Ethik in Zusammenarbeit mit dem Lehrstuhl für Wirtschaftsethik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und der Sektion Wirtschaftswissenschaften der Stiftung Leucorea in der Lutherstadt Wittenberg. Lutherstadt Wittenberg 2004 (= WZGE-Studien 1/2004), S. 4.
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ausgeschaltet zu werden.142 Für nicht wenige Ökonomen stellt sich die Frage nach Ethik in der Wirtschaft bis heute nicht, solange nur davon ausgegangen werden kann, dass ein funktionsfähiger Markt die einzelnen wirtschaftlichen Akteure in die Pflicht nimmt. Für viele neoliberale Autoren ist die Marktwirtschaft per se ethisch, weshalb sich weiterreichende Ideen wie die einer Zukunftsverantwortung schlichtweg erübrigen.143 Ethik und speziell Wirtschaftsethik erscheinen dabei in starker Verengung als normative Disziplinen, die lediglich Empfehlungen zu Normen und Prinzipien geben, die mit den Grundlagen des Wirtschaftens und der Effizienz des freien Marktes nicht in Einklang zu bringen seien.144 Ökonomen wie Dieter Schneider, Herbert Hax oder – neuer – Horst Albach greifen dazu bereitwillig auf die Vorstellungen Friedrich von Hayeks und Milton Friedmans zurück und können sich zudem die normative Entscheidungstheorie und die breite Akzeptanz ihrer Konzepte zunutze machen.145 Auch angesichts eines solchen unumschränkten Glaubens an die Selbstorganisations- und Selbstregulierungskräfte des Marktes wäre es für viele Intellektuelle und die Ideologiekritik der vergangenen Jahrzehnten wohl undenkbar gewesen, dass Marktwirtschaft und Ethik überhaupt eine Bindung – egal in welcher Form – eingehen könnten.146 Erinnert sei an dieser Stelle nur an den plakativen Pauschalaufruf Carl Amerys zum „totale[n] Kampf gegen die heiligen Kühe der Wirtschaft: ‚Wachstum und Rentabilität‘“.147 Neben dem prominenten Vorwurf fehlender Verbindlichkeit des Versuchs, die Wirtschaft unter eine Verantwortungsethik stellen zu wollen, wurde jedoch auch von systemtheoretischer Seite Kritik am Konzept einer Wirtschaftsethik laut: Ethik wende sich immer an individuelles Verhalten, welches in der modernen Wirtschaft keine Rolle spiele, urteilte Niklas Luhmann. Die „zweitausendjährige Tradition, die unter Ethik die Lehre vom éthos 142 Vgl. dazu Clarence Cyril Walton: Soziale Verantwortung von Unternehmen. München 1999, S. 108f.; vgl. ebf. Thomas Schwartz: Ökonomisierung der Ethik oder „Ethisierung“ der Ökonomie? Überlegungen zur wissenschaftstheoretischen Relevanz von CSR-Konzepten. In: Dieter Gramlich/Manfred Träger (Hg.): Herausforderungen einer zukunftsorientierten Unternehmenspolitik. Ökonomie, Umwelt, Technik und Gesellschaft als Determinanten. Wiesbaden 2007, S. 91– 105, 93. 143 Vgl. Bernd Adam: Marktwirtschaft oder Geldwirtschaft. Die Relevanz ökonomischer Sichtweise für eine Ethik zukunftsverantwortlichen Wirtschaftens. In: Thomas Bausch u.a. (Hg.): Zukunftsverantwortung in der Marktwirtschaft. Münster 2000 (= Ethik und Wirtschaft im Dialog 3), S. 110–123, 110f. Vgl. dazu außerdem Küpper: Business Ethics, S. 253. 144 Vgl. dazu Küpper: Business Ethics, S. 253. 145 Küpper: Business Ethics, S. 253. Vgl. Horst Albach: Betriebswirtschaftslehre ohne Unternehmensethik! In: Zeitschrift für Betriebswirtschaft 75 (2005), S. 809–831, bes. 809. Eine wesentliche Grundlage für zahlreiche wirtschaftsliberale Positionen stellt bis heute das einflussreiche Werk „Studies in Philosophy, Politics, and Economics“ des österreichischen Nationalökonomen und Wirtschaftsnobelpreisträgers Friedrich August von Hayek dar: F.A. von Hayek: Studies in Philosophy, Politics, and Economics. Chicago 1967. 146 Vgl. Bernd Adam: Marktwirtschaft oder Geldwirtschaft, S. 110. 147 Carl Amery: Das Ende der Vorsehung. Die gnadenlosen Folgen des Christentums. Reinbek 1972, S. 247.
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verstand und unter éthos die Perfektionsform des natürlichen Lebens“, musste aufgrund des strukturellen Übergangs zur modernen Gesellschaft als Konzeption unumkehrbar aufgegeben werden.148 Schon die Organisationstheorie habe, „selbst in ihrer wirtschaftswissenschaftlichen Variante“, die Vorstellung der individuellen Unternehmerentscheidung zugunsten von Entscheidungstheorien innerhalb organisierter Systeme fallen gelassen.149 Die im Zuge der sich rasch verdichtenden Internationalität auf Firmenebene auftretenden Strukturprobleme ließen sich nicht „auf die Art und Weise der Ethik“ lösen.150 Zwar sei diese Aufgabe bei den Wirtschaftswissenschaftlern nicht unbedingt in den besten Händen, trotzdem sei eine Orientierung der Wirtschaft an der Wirtschaft selbst und nicht an der Ethik der beste Weg aus der Orientierungskrise.151 Für Luhmann ist Wirtschaftsethik deshalb mit der „englische[n] Küche“ zu vergleichen und gehöre „zu der Sorte von Erscheinungen […], die in der Form eines Geheimnisses auftreten, weil sie geheimhalten müssen, daß sie gar nicht existieren“.152 Dem liegt die systemtheoretische Vorstellung zu Grunde, Funktionssysteme orientierten sich lediglich an symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien. Diese Funktion übernimmt im Funktionssystem Wirtschaft das Geld. Entsprechend handle es sich bei der Wirtschaft um ein mit Hilfe des Mediums Geld ausdifferenziertes System, das sich nach seinem eigenen Code steuere und das dementsprechend nicht empfänglich ist für andere Codes wie ethisch begründete moralische Normen. Wirtschaften sei nur durch diejenigen Operationen zu charakterisieren, die über Zahlungen abgewickelt würden.153 Viele Ansätze, die einen Einfluss der Ethik auf die Ökonomik vollkommen verneinen oder missbilligen, berufen sich bis heute auf die systemtheoretischen Konzepte Luhmanns. Nicht zuletzt darauf beruht die große Zersplitterung der verschiedenen Ansätze zur Wirtschaftsethik im deutschsprachigen Raum, auf die unten noch näher eingegangen werden soll.
148 Niklas Luhmann: Wirtschaftsethik – als Ethik? In: Josef Wieland (Hg.): Wirtschaftsethik und Theorie der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1993 (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1053), S. 134–147, 135. 149 Luhmann: Wirtschaftsethik, S. 145. 150 Luhmann: Wirtschaftsethik, S. 145. 151 Vgl. Luhmann: Wirtschaftsethik, S. 142. 152 Luhmann: Wirtschaftsethik, S. 134. 153 Vgl. Niklas Luhmann: Ökologische Kommunikation. Opladen 1986, S. 101. Luhmann führt nüchtern die Probleme an, die aus der Ausdifferenzierung und der operativen Schließung des Wirtschaftssystems der modernen Gesellschaft mit Hilfe des Mediums Geld resultieren. So sei die Rationalität des wirtschaftlichen Optimierens im Verhältnis von Zweck und Mittel aufs Ganze gesehen gar nicht mehr rational. Das zeige sich vor allem in den Fällen, in denen Wirtschaft das Subsistenzniveau der Bevölkerung nicht mehr halten könne oder die Gesellschaft selbst auf Exklusion großer Teile der Bevölkerung aus nahezu allen Funktionssystemen beruhe. Vgl. dazu Luhmann: Wirtschaftsethik, S. 144f.
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Das Verhältnis von Ethik und Ökonomik
2.4 Die geistesgeschichtliche Entwicklung der Ökonomik Die in der Wirtschaftswissenschaft verbreitete Skepsis gegenüber der Ethik liegt zu einem nicht unwesentlichen Teil in der jüngeren Entwicklung der Disziplin als Ökonomik selbst begründet: Betrachtet man man nämlich die geistesgeschichtliche Entwicklung der Wirtschaftsethik, stellt man fest, dass die Verbindung von Wirtschaft und Ethik alles andere als ein Modethema ist. Historisch gesehen war Wirtschaft nie eine wertfreie Angelegenheit. Die Ökonomie wurde als Wissenschaft von den Gesetzmäßigkeiten wirtschaftlichen Handelns auch in der Vergangenheit zum Reflexionsgegenstand der Ethik erhoben.154 Vom antiken Griechenland bis hin zu den Klassikern der modernen politischen Ökonomie ist Wirtschaften primär unter ethisch-praktischen Gesichtspunkten reflektiert worden, da es in den Ansätzen stets um die instrumentelle Rolle der Ökonomie für das gute Leben und das gerechte Zusammenleben der Menschen ging. 155 Die gedankliche Einbettung der Ökonomie in das übergeordnete Leitbild einer wohl geordneten Gesellschaft bezog von diesem ihre normative Orientierung. Dem entspricht auch die berühmte aristotelische Trias von Ethik, Politik und Ökonomik, in der der antike Philosoph von der Nikomachischen Ethik zur Politik überleitet, in welcher wiederum seine Wirtschaftslehre eingebettet ist. 156 Seit der Einheit von Ethik, Politik und Ökonomie bei Aristoteles wurde die Ökonomie als Teil der Politik und die Politische Ökonomie als Teil der Ethik begriffen. Die Normativität war dabei stets grundlegendes Element dieser Disziplin, ihrem Gegenstand „Wirtschaften“ als elementarer Dimension humaner Praxis entsprechend.157 Adam Smith und John Stuart Mill, die als Begründer der modernen Wirtschaftswissenschaften gelten, waren nicht nur Ökonomen, sondern betrieben politische Ökonomie in moralphilosophischer Absicht.158 Das Streben nach individuellem Nutzen und Gewinn war in den Augen Smith immer durch die individuelle Moral und die staatliche Rahmenordnung begrenzt. Der gesamten „politischen Ökonomie“ des klassischen Liberalismus um Smith, Mill und Thomas Robert Malthus lag die Vorstellung zu Grunde, dass Wirtschaft einer Einbettung in die normative Ordnung der Gesellschaft bedürfe. Erst mit der Ablösung der politischen Ökonomie durch die neoklassische Wirtschaftstheorie ab 1870 erfolgte dann der Schritt zu einer „reinen“ Ökonomik, in der moralische Gesichtspunkte bewusst ausgeklammert wurden. Die frühmoderne 154 Vgl. Ulrich H.J. Körtner: Evangelische Sozialethik. Grundlagen und Themenfelder. Göttingen 1999 (= Uni-Taschenbücher 2107), S. 285f. 155 Vgl. hierzu und zum folgenden Abschnitt Ulrich: Wirtschaftsethik. In: Handbuch Ethik, S. 297. 156 Vgl. Aristoteles: Politik. Übers. u. mit erklärenden Anm. versehen v. Eugen Rolfes. Hamburg 41981. 157 Vgl. hierzu und zum Folgenden Peter Ulrich: Politische Ökonomie, wirtschaftsethisch rekonfiguriert. Funktionale Systemökonomie im Kontext praktischer Sozialökonomie. In: Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik 7 (2006), Nr. 2, S. 164–182, bes. 164ff. 158 Vgl. zum Verständnis Adam Smith Arnold Meyer-Faye/Peter Ulrich (Hg.): Der andere Adam Smith. Beiträge zur Neubestimmung von Ökonomie als Politischer Ökonomie. Bern u.a. 1991.
Die geistesgeschichtliche Entwicklung der Ökonomik
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Moralphilosophie war im Wesentlichen noch eine „Magd der Theologie“, die sich vom scholastischen Philosophieverständnis (noch) nicht gelöst hatte.159 Im Rahmen der „Entzauberung der Welt“, wie es Max Weber nannte, und der Emanzipation der aufstrebenden Naturwissenschaften (mit ihren wertfreien, objektiveren und formalisierbareren Theorien) von schöpfungstheoretischen Traditionen bemühten sich auch zahlreiche Ökonomen um die Überwindung der als überkommen empfundenen metaphysischen Hintergrundannahmen.160 Ziel war die „Purifizierung“ der Politischen Ökonomie von allen ethisch-normativen und politischen Beimischungen zu einer „reinen“ und „angeblich autonomen Ökonomik“.161 So entwickelte sich aus der Political Economy der angelsächsischen Klassiker die moderne Ökonomik, die prägend war für das Selbstverständnis heutiger Mainstream Economics, in der nach Meinung der meisten Ökonomen eine ethischen Grundsätzen verpflichtete Politik und eine der ökonomischen Effizienz verpflichtete Wirtschaft strikt voneinander getrennt ablaufen.162 Daher rührt das vom Philosophen Hans-Martin Sass identifizierte „weitverbreitete und hartnäckige Mißverständnis“, dass „Ethik und Ökonomie nichts mitein159 Hans Albert: Traktat über kritische Vernunft. Tübingen 31975, S. 132. 160 Weber: Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen, S. 564. Vgl. hierzu und zum Folgenden Ulrich: Politische Ökonomie, S. 166. 161 Albert: Ökonomische Ideologie und politische Theorie, S. 3. Der Begriff der „Purifizierung“ findet sich bei Krüsselberg Hans-Günter Krüsselberg: Property Rights-Theorie und Wohlfahrtsökonomik. In: Alfred Schüller (Hg.): Property Rights und ökonomische Theorie. München 1983, S. 45– 77, 58. Schumpeter sprach wohl 1908 als erster von „reiner Ökonomie“ und prägte bis heute die damit verbundene volkswirtschaftliche Vorstellung einer autonomen Wissenschaft Joseph Alois Schumpeter: Das Wesen und der Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie. Berlin 21970 [1908], S. 23ff. 162 Vgl. Ulrich: Politische Ökonomie, S. 164f. Vgl. auch Küpper: Business Ethics, S. 253. Demgegenüber steht eine Hochkonjunktur der Wirtschaftsethik in der philosophischen und soziologischen Literatur in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts.Verwiesen sei nur auf Georg Simmels Philosophie des Geldes (1900), Max Webers Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1905), Othmar Spanns Fundament der Volkswirtschaftslehre (1918), Max Webers Wirtschaft und Gesellschaft (1922), Paul Nartorps Vorlesungen über praktische Philosophie (1925) und Werner Sombarts Die drei Nationalökonomien (1930). Vgl. Kern: Vertrauen als wirtschaftsethische Kategorie, S. 139. Auf jahrzehntelange Vernachlässigung des Themas folgte in den 1990er Jahren die philosophische Wiederentdeckung der Wirtschaftsethik, dann wohl aber schon im Zusammenhang mit der stärkeren Präsenz des Themas in der wirtschaftswissenschaftlichen, aber auch theologischen Forschung. Vgl. Josef Meran: Wirtschaftsethik. Über den Stand der Wiederentdeckung einer philosophischen Disziplin. In: Hans Lenk/Matthias Maring (Hg.): Wirtschaft und Ethik. Stuttgart 1992, S. 45–81, 47. Meran sieht die Wiederentdeckung in erster Linie durch die Social Choice Theory (oder Sozialwahltheorie) und die „vom Utilitarismus beherrschte angewandte Ethik“ befördert, wobei die Social Choice Theory als „allgemeine Theorie rationalen Verhaltens, in der entscheidungs(spiel)theoretische Modelle mit psychologischen und soziologischen Beobachtungen menschlichen Verhaltens als auch mit ethischen Verfahren der Normenbegründung und der theoretischen Analyse von Wissenschaftsstandard eine Verbindung“ eingingen. (Ebd., S. 47f.) Allgemein beschäftigt sich der interdisziplinäre Ansatz der Sozialwahltheorie mit Gruppenentscheidungen durch Aggregation von individuellen Entscheidungen zu einer kollektiven Entscheidung und den dadurch entstehenden Paradoxien, bzw. deren Vermeidung und Auflösung.
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Das Verhältnis von Ethik und Ökonomik
ander zu tun haben und daß moralische Tugenden und erfolgreiches Handeln eher einander widersprechen als sich ergänzen oder einander bedingen“.163 Tatsächlich aber wird die auf diese Weise entstandene „Zwei-Welten-Konzeption“ (Ulrich) aus wertfreier Wirtschaftstheorie und außerökonomischer Ethik in Theorie und Praxis zunehmend als Problem erkannt und die Suche nach ethisch verantwortbaren und zugleich ökonomisch erfolgreichen Wegen des Wirtschaftens tritt wieder stärker in den Vordergrund.164 Mit Ulrich stellt sich die berechtigte Frage, ob weiterhin von einer unpolitischen, ihre eigene Normativität negierenden Ökonomie und von einem akademischen Nebeneinander getrennter Disziplinen oder einem unproblematischen bloßen Ergänzungsverhältnis ausgegangen werden kann, wenn doch umgekehrt der Anspruch erhoben wird, aus ökonomischen Sachzusammenhängen ganz praktische wirtschafts- oder gesellschaftspolitische Konsequenzen abzuleiten. Dementsprechend verdient insbesondere das Zuordnungsverhältnis von Ethik und Ökonomik als Grundproblem der Wirtschaftsethik eine eingehendere Betrachtung.165
2.5 Entwicklung des Zuordnungsverhältnisses von Ethik und Ökonomik Seit den 1980er Jahren kam es im deutschsprachigen Raum zur Herausbildung verschiedener wirtschaftsethischer Schulen, die sich prägnant voneinander abhoben, sich praktisch gar nicht aufeinander zubewegten und noch weniger bereit waren, voneinander zu lernen.166 In den zurückliegenden beiden Jahrzehnten entwickelte sich eine lebhafte Debatte über die Beziehung von wirtschaftswissenschaftlichen Theorien und Ethik, die weitestgehend beherrschend für den gesamten wirtschafts- und unternehmensethischen Wissenschaftsdiskurs im deutschsprachigen Raum war.167 163 Hans-Martin Sass: Ethische Risiken im wirtschaftlichen Risiko. In: Hans Lenk/Matthias Maring (Hg.): Wirtschaft und Ethik. Stuttgart 1992, S. 214–234, 214. 164 Vgl. hierzu und zum Folgenden Ulrich: Politische Ökonomie, S. 165. 165 Vgl. Jochen Gerlach: Das Zuordnungsverhältnis von Ethik und Ökonomik als Grundproblem der Wirtschaftsethik. In: Handbuch der Wirtschaftsethik. Hg. im Auftrag der Görres-Gesellschaft v. Wilhelm Korff u.a. Bd. 1: Verhältnisbestimmung von Wirtschaft und Ethik. Gütersloh 1999, S. 834–883, 834f. 166 Vgl. hierzu und zum Folgenden Kurt Röttgers: Wirtschaftsphilosophische Durchblicke. Korreferat zu den Beiträgen von Karl Homann, Andreas Georg Scherer, Peter Ulrich und Josef Wieland. In: Thomas Beschorner u.a. (Hg.): Wirtschafts- und Unternehmensethik. Rückblick – Ausblick – Perspektiven. München u.a. 2005 (=Schriftenreihe für Wirtschafts- und Unternehmensethik 10), S. 291–305, 291. 167 Vgl. dazu ausführlich Hans-Ulrich Küpper: Unternehmensethik, S. 498–518, bes. 500; Vgl. ferner, u.a. zum Zusammenhang der Diskussion mit der langen Tradition der Ethik in Philosophie und Theologie in der europäischen Kulturgeschichte, Hans-Ulrich Küpper: Unternehmensethik – Hintergründe, Konzepte, Anwendungsbereiche. Stuttgart 2006, S. 4f.
Entwicklung des Zuordnungsverhältnisses von Ethik und Ökonomik
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Die Konfliktpositionen reichen dabei vom völligen Ausschluss der Ethik aus der Ökonomik, wie sie von der traditionellen Volkswirtschaftslehre vertreten wird, bis zu dem Vorschlag, die Ökonomik müsse von der Ethik kontrolliert werden.168 Die prominentesten wirtschaftsethischen Ansätze finden sich in diesem Spektrum zwar nicht an den beiden Polen wieder, divergieren aber dennoch stark voneinander. In der kritischen Abgrenzung der unterschiedlichen wirtschaftsethischen Positionen voneinander spielt das Zuordnungsverhältnis von Ethik und Ökonomik eine herausragende Rolle. An der wechselseitigen Zuordnung von Ethik und Ökonomik lässt sich die Grundschwierigkeit aller wirtschaftsethischen Theorien ablesen. Ursächlich für die weitreichenden Divergenzen ist in erster Linie der Umstand, dass jede Wirtschaftsethik eine explizite oder zumindest implizite Zuordnung der beiden Reflexionsformen vornimmt, die wesentlich vom jeweiligen Vorverständnis von Ethik einerseits sowie von Ökonomik andererseits abhängt, wobei das Verständnis von jeweils einer der beiden Reflexionsformen das Verständnis der jeweils anderen stark beeinflusst. Ethik und Ökonomik können als Bereichsdisziplinen für bestimmte Gegenstandsbereiche aufgefasst werden – Ethik also als Theorie des moralischen Verhaltens oder allgemeiner des Handelns und Ökonomik als Theorie des Wirtschaftens oder allgemeiner des rationalen Entscheidens unter Knappheitsbedingungen.169 Ethik und Ökonomik können jedoch ebenso als unterschiedliche Methodiken verstanden werden, die verschiedene Probleme lösen, obgleich beide sich auf die gleichen Gegenstände beziehen lassen.170
168 Küpper: Business Ethics, S. 253. 169 Vgl. hierzu Gerlach: Zuordnungsverhältnis, S. 834. Die Ökonomik geht von der Annahme einer spezifischen Situation der Knappheit aus, wobei Wirtschaften als Handeln zwecks der Reduzierung von Knappheit sowie zur Überbrückung von Spannungen zwischen menschlichen Bedürfnissen und knappen Gütern verstanden wird. (Vgl. Ekaterina Svetlova: Sinnstiftung in der Ökonomik. Wirtschaftliches Handeln aus sozialphilosophischer Sicht. Bielefeld 2008, S. 9f.) Entsprechend macht sie Mittel und Wege zur Erreichung der Bedürfnisbefriedigung, „Produktion, Distribution, Konsumtion oder allgemeiner: Marktgeschehen“, zu ihrem Untersuchungsobjekt. (Bernd Biervert/Josef Wieland: Gegenstandsbereich und Rationalitätsform der Ökonomie und der Ökonomik. In: Bernd Biervert u.a. (Hg.): Sozialphilosophische Grundlagen ökonomischen Handelns. Frankfurt a.M. 1990 (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 870), S. 7–32, 11.) In den 1970er und 1980er Jahren plädierten einige Ökonomen wie G.S. Becker (1982) sowie McKenzie/Tullock (1978) ausdrücklich dafür, die Ökonomik als Wissenschaft von ihrem approach aus, also ausgehend vom Rationalitätsprinzip als sogenanntem wirtschaftlichen Prinzip, zu bestimmen. Das Prinzip besagt, dass der ökonomische Akteur gezwungen ist zu wählen, will meinen: über die knappen Ressourcen und Güter zu disponieren, da er nicht alle seine Bedürfnisse gleichzeitig befriedigen kann. (Vgl. Svetlova: Sinnstiftung, S. 10. Vgl. zudem Gary Stanley Becker: Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens. Tübingen 1982 (= Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften 32); R.B. McKenzie/G. Tullock: The New World of Economics. Explorations into the Human Experience. Homewood 21978.) 170 Vgl. Karl Homann: Ökonomik und Ethik. In: Günter Baadte u.a. (Hg.): Wirtschaft und Ethik. Graz u.a. 1991 (= Kirche heute 5), S. 9–29, 13 ff.; Karl Homann/Andreas Suchanek: Methodologische Überlegungen zum ökonomischen Imperialismus. In: Analyse und Kritik 11 (1989), S. 70–93.
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Das Verhältnis von Ethik und Ökonomik
Ob dieser grundlegenden Divergenzen machen sich die unterschiedlichen Ansätze fortwährend wechselseitig den Vorwurf, entweder Ethik und Ökonomik unverbunden und unproduktiv nebeinander stehen zu lassen oder Moral und Ethik nur äußerlich und korrektiv auf die Ökonomik anzuwenden oder aber die Funktionsgesetze der Ökonomik entweder gar nicht oder im Übermaß zu berücksichtigen.171 Dementsprechend fürchten die Einen, Ethik könne als Feigenblatt instrumentalisiert werden, während die Anderen eine Moralisierung der Ökonomie beklagen.172 Obwohl allen Ansätzen ein Verständnis des Gegenstandsbezugs von Ethik und von Ökonomik und zugleich der Zuordnung beider gemein ist, unterscheiden sie sich wesentlich in ihren Ausgangsparadigmen: So wird versucht vom jeweils gewählten Ausgangsparadigma (Ethik bzw. Ökonomik) eine bestimmte Zuordnung herzustellen, entweder mit dem Ziel, das jeweils andere Paradigma zu berücksichtigen oder mit der Absicht, dieses sogar ganz zu integrieren. 173 Die Integration erfordert einen in einer beiden Reflexionsformen liegenden oder aus einer übergeordneten Theorie bezogenen Ansatzpunkt. Grundlegend kann unterschieden werden zwischen einer methodischen Zuordnung zweier auch weiterhin voneinander zu unterscheidender Methodiken und einer vollständigen Integration, bei der es zu einer faktischen Neuformulierung einer der beiden oder beider beteiligter Disziplinen kommt. Noch ist der Richtungsstreit und die Frage, ob sich eine einheitliche neue Theorie und Disziplin aus der Integration der beiden Reflexionsformen herausbilden kann, nicht entschieden.
171 Vgl. dazu Gerlach: Zuordnungsverhältnis, S. 834f. Vgl. zur Diskussion ferner ausführlich Jochen Gerlach: Ansätze mit Ökonomik als Ausgangsparadigma. In: Handbuch der Wirtschaftsethik. Hg. im Auftrag der Görres-Gesellschaft v. Wilhelm Korff u.a. Bd.1: Verhältnisbestimmung von Wirtschaft und Ethik. Gütersloh 1999, S. 836–855; bzw. imselben Band Jochen Gerlach: Ansätze mit Ethik als Ausgangsparadigma. In: Handbuch der Wirtschaftsethik. Hg. im Auftrag der Görres-Gesellschaft v. Wilhelm Korff u.a. Bd.1: Verhältnisbestimmung von Wirtschaft und Ethik. Gütersloh 1999, S. 855–871. 172 Ethik soll hier verstanden werden als die wissenschaftliche Reflexionsform der Moral, während Ökonomik die wissenschaftliche Reflexionsform der Ökonomie darstellt. (Vgl. hierzu und zum Folgenden Gerlach: Zuordnungsverhältnis, S. 834.) Als Ökonomie wird dabei allgemein die Gesamtheit aller Einrichtungen und Handlungen bezeichnet, die dazu geeignet sind, der Befriedigung des menschlichen Bedarfs an Waren und Dienstleistungen zu dienen. 173 Vgl. hierzu und zum Folgenden Gerlach: Zuordnungsverhältnis, S. 835.
Unterschiedliche Wirtschaftsethikmodelle und das Selbstverständnis der Disziplin
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2.6 Unterschiedliche Wirtschaftsethikmodelle und das Selbstverständnis der Disziplin Die beiden Pole innerhalb der wissenschaftlichen Diskussion bezüglich der unterschiedlichen Wirtschaftsethikmodelle werden durch die ordnungsethischen Konzepte Josef Wielands und – besonders prominent – Karl Homanns und seiner Schüler mit ihrer Ökonomik als „Ethik mit anderen Mitteln“174 einerseits und die auf der Diskursethik basierenden Konzepte Peter Ulrichs, Horst Steinmanns oder Albert Löhrs auf der anderen Seite markiert.175 Die Vertreter erstgenannter Schule vertrauen dabei auf eine institutionelle Disziplinierung der Ökonomie, letztgenannte eher auf Verständigung und Dialog zur Lösung ökonomisch-ethischer Konflikte. Bis heute werden die – nicht immer fruchtbaren – Auseinandersetzungen der verschiedenen Lager mit zum Teil erheblicher Schärfe geführt. Die vorwurfsvolle Klage Karl Homanns, dass „die schlechte Reputation der Wirtschaftsethik in der Wissenschaft vor allem auf methodische Defizite in der wirtschaftsethischen Diskussion zurückzuführen“ sei, kann zugleich als markiger Fingerzeig in Richtung der Konkurrenz gedeutet werden.176 Die Zerstrittenheit zeigt sich bereits in der Uneinigkeit darüber, welches die geeignete Ausgangsfrage für die Disziplin sei. Röttgers unterscheidet hier zwischen einem begründungsorientiertem Ansatz mit tendenziell eher universalem Bezug und einem problem- oder anwendungsorientiertem Ansatz mit eher lokalem, konkretem Bezug.177 Bei der beiderseitigen Berufung auf Kant und der Betonung der außerordentlichen Bedeutung der Ausgangsfrage erschöpfen sich die Gemeinsamkeiten: Während Ulrich seine Theorie auf der Linie einer „Kritik der ökonomischen Vernunft im Kant’schen Sinn der Reflexion auf die normativen ‚Bedingungen der Möglichkeit‘ ethisch vernünftigen Wirtschaftens“ sieht und daraus einen Anspruch auf „Entfaltung einer ethisch integrierten Idee vernünftigen Wirtschaftens“ ableitet, begreift Homann die Orientierung an einem konkreten Problem als den Anfang wirtschaftsethischen Fragens178: „Anfangsproblem war und ist das Pro174 Karl Homann: Ethik und Ökonomik. Zur Theoriestrategie der Wirtschaftsethik. In: Volker Arnold u.a. (Hg.): Wirtschaftsethische Perspektiven. Bd. 1. Theorie, Ordnungsfragen, internationale Institutionen. Berlin 1994 (= Schriften des Vereins für Socialpolitik, Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, N.F. 228,1), S. 9–30, 13. 175 Vgl. dazu sowie zum Folgenden Michael S. Aßländer: Philosophia Ancilla Oeconomiae? Wirtschaftsethik zwischen Hilfswissenschaft und Orientierungswissenschaft. In: Thomas Beschorner u.a. (Hg.): Wirtschafts- und Unternehmensethik. Rückblick, Ausblick, Perspektiven. München u.a. 2005 (= Schriftenreihe für Wirtschafts- und Unternehmensethik 10), S. 325–338, 331. Vgl. auch Küpper: Business Ethics, S. 253ff. 176 Homann: Wirtschaftsethik: Versuch einer Bilanz und Forschungsaufgaben, S. 197. 177 Vgl. Röttgers: Wirtschaftsphilosophische Durchblicke, S. 291. 178 Peter Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik. Versuch einer (Selbst-)Einschätzung des Entwicklungsund Diskussionsstands. In: Thomas Beschorner u.a. (Hg.): Wirtschafts- und Unternehmensethik. Rückblick, Ausblick, Perspektiven. München u.a. 2005 (= Schriftenreihe für Wirtschafts- und Unternehmensethik 10), S. 233–250, 238; vgl. Homann: Bilanz, bes. S. 199.
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Das Verhältnis von Ethik und Ökonomik
blem Wettbewerb und Moral.“179 Beide Ansätze, ihre wesentlichen Merkmale und Unterschiede sollen im Anschluss an dieses Kapitel ausführlich dargestellt werden. Da die Diskussion ebenso wenig zu einem Abschluss gelangt ist wie die Ausformung der Disziplin, sollte – wie Aßländer völlig zurecht anmahnt – die bestimmende Frage, die angesichts der hitzigen Debatten zuweilen in den Hintergrund zu geraten drohte, indes jene „nach dem Selbstverständnis einer Wirtschaftsethik“ sein, die sich in besonderer Weise in der „Auseinandersetzung mit den praktischen Fragen der Ökonomie“ stelle.180 Will man die Wirtschaftsethik als Vermittlerin zwischen Ethik und Ökonomik begreifen, lassen sich zwei wesentliche Vermittlungsebenen unterscheiden: Einerseits die theoretische Ebene, auf der die Wirtschaftsethik das Verhältnis zwischen ökonomischer Wissenschaft und philosophischer Ethik untersucht; andererseits die Anwendungsebene, auf der sie vor die besondere Herausforderung der Vermittlung zwischen Theorie und Praxis gestellt ist, konkrete Ideen zu entwickeln, wie sich moralische Anforderungen im System Wirtschaft bzw. im einzelnen Unternehmen umsetzen lassen. Dabei muss die junge Disziplin sich und ihren Anspruch an die eigene Arbeit auch dahingehend hinterfragen, ob sie sich künftig als reines Marketinginstrument zur Dokumentation der Glaubwürdigkeit eines Unternehmens nach innen und nach außen verstehen möchte – als den Unternehmenserfolg beflügelnde Sozialtechnologie – oder ob sie die schwierige Zuordnungsdiskussion nicht weiterhin als ernst zu nehmenden „hermeneutischen Prozess wechselseitigen Verstehens“ begreifen will, bei dem die „gleichberechtigte Auseinandersetzung zweier Disziplinen“ mit ihren Methoden und wissenschaftlichen Grundlagen im Mittelpunkt steht.181 Provokativ könnte man weitergehend die Frage stellen, ob die Disziplin und ihre wesentlichen Protagonisten dazu bereit sind, den unzweifelhaften Nutzen des jungen Faches selbstbewusst zu artikulieren oder sich bevorzugt in akademischer Selbstzerfleischung ergehen zu wollen. Die Frage nach dem Selbstverständnis der Disziplin ist richtungsweisend: Glaubwürdigkeit, Verlässlichkeit und Ernsthaftigkeit der Wirtschaftsethik machen sich nicht zuletzt an ihrem Umgang mit der Herausforderung der Anwendungsorientierung fest, die maßgeblichen Einfluss auf den zukünftigen Stellenwert der Disziplin in der wissenschaftlichen Diskussion wie in der öffentlichen und politischen Wahrnehmung haben dürfte. Eine allmähliche Verschiebung des Diskurses auf den Anwendungsbereich lässt sich seit dem Ende der 1990er Jahre beobachten, mittlerweile werden die entsprechenden Forderungen – auch von Seiten der Wirtschaft – lauter, wobei dem 179 Homann: Bilanz, S. 197. Die Problemstellung findet sich so schon ausführlich in Karl Homann: Wettbewerb und Moral. In: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften 31 (1990), S. 34–56. Röttgers plädiert angesichts der fortdauernden Konflikte im Sinne von Hegels „Logik“ für eine Überwindung des Anfangs als entscheidende Frage hin zu einem Übergang zu strategischen und performativen Fragestrukturen: Vgl. Röttgers: Durchblicke, S. 292f. 180 Vgl. hierzu und zum Folgenden Aßländer: Philosophia, S. 330f. 181 Aßländer: Philosophia, S. 330f.
Unterschiedliche Wirtschaftsethikmodelle und das Selbstverständnis der Disziplin
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deutschsprachigen Raum mit seiner theorielastigen Debatte auch international Nachholbedarf attestiert wird.182 Zugleich muss hinsichtlich zukünftiger theoretischer Auseinandersetzungen aber ebenfalls darüber Klarheit geschaffen werden, ob eine Wirtschaftsethik nur zusätzliche Argumente im Rahmen des ökonomischen Diskurses bereitstellen soll – im Zuge einer allenfalls terminologischen Auseinandersetzung mit der Ökonomik, bei welcher ihr nur noch die profane Aufgabe zufiele, schmückendem Beiwerk gleich ökonomisches Handeln zu legitimieren, bzw. mittels einer gekonnten Übersetzung sprachlich zweckgemäß zu verpacken –, oder ob sich eine Wirtschaftsethik in der Diskussion auch künftig der kritischen Auseinandersetzung mit den Grundlagen unseres ökonomischen Weltbildes verpflichtet fühlt.183 Eine solche Auseinandersetzung erfordert kritische Beschäftigung mit den Annahmen der ökonomischen Theorie, die auf ihre normative Gültigkeit und ihren Geltungsbereich hin befragt werden müssen. Zugleich hat sich die Disziplin ihrer eigenen Prinzipien und der Begründung ihrer Normen und Ansprüche zu vergewissern, wenn sie umgekehrt die Ökonomik an diesen messen möchte. Es bedarf zudem einer Grundlagenreflexion des Zuordnungsverhältnisses von Ethik und Wirtschaft, das bestimmend für die Auseinandersetzungen in der zurückliegenden Wirtschafts- und Unternehmensethikdebatte war. Damit ist die Frage nach dem „möglichen Nebeneinander oder Nacheinander beider Disziplinen“ bei der Lösung gesellschaftlicher Probleme aktueller denn je. 184 Nicht geleugnet werden kann, dass auch aufgrund des wachsenden Interesses der Unternehmen an den wissenschaftlichen Erkenntnissen der Wirtschafts- und Unternehmensethik zumindest ein komplizierter Spagat zwischen den divergierenden Interessen notwendig sein wird: Einerseits soll die Wirtschaftsethik Instrumentarien bereitstellen, die es Unternehmen ermöglichen, „flexibel auch auf die moralischen und sozialen Anforderungen der Gesellschaft zu reagieren“, läuft aber andererseits Gefahr, in ein schleichendes Begründungsdefizit zu geraten, da die systematische Reflexion der 182 Vgl. zur Verschiebung des Diskurses den Beitrag Aßländers Michael S. Aßländer: Vom Guten, vom Schönen und vom Baren – Business-Ethics und Ethic-Business in Deutschland. In: Die Sparkassen Zeitung Nr. 21 v. 25.05.2002, S. 15. Vgl. zur internationalen Wahrnehmung die Aufforderung des amerikanischen Wirtschaftsethikers Thomas Donaldsons, die deutschsprachige Wirtschaftsethik in stärkerem Maße mit realen Problemen zu verknüpfen Thomas Donaldson: Should Business be Moral? In: Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik 8 (2007), Nr. 3, S. 270– 274, 270. Vgl. auch Küpper: Business Ethics, bes. S. 264f. Vgl. dazu ferner die Analyse Bettina Palazzos: Bettina Palazzo: The story so far – revisited: Die kulturellen Hintergründe der Business Ethics. In: Thomas Beschorner u.a. (Hg.): Wirtschafts- und Unternehmensethik. Rückblick, Ausblick, Perspektiven. München u.a. 2005 (= Schriftenreihe für Wirtschafts- und Unternehmensethik 10), S. 181–196; sowie die Folgerungen Sonja Grabner-Kräuters aus ihrer Betrachtung der Situation in der amerikanischen Forschung Sonja Grabner-Kräuter: US-Amerikanische Business Ethics-Forschung – the story so far. In: Thomas Beschorner u.a. (Hg.): Wirtschafts- und Unternehmensethik. Rückblick, Ausblick, Perspektiven. München u.a. 2005 (= Schriftenreihe für Wirtschafts- und Unternehmensethik 10), S. 141–180, 165f. 183 Vgl. hierzu und zum Folgenden Aßländer: Philosophia, S. 331. 184 Aßländer: Philosophia, S. 331.
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Das Verhältnis von Ethik und Ökonomik
umgesetzten Normen so gar nicht den Bedürfnissen der praktischen Seite nach möglichst einfachen Lösungen zu entsprechen scheint. Angesichts derartiger Herausforderungen kann der Wirtschafts- und Unternehmensethik im eigenen Interesse der weiteren Etablierung der Disziplin mit Aßländer nur dazu geraten werden, sich und ihren Wurzeln treu zu bleiben und die theoretische Reflexion ihrer Normen und Grundlagen auch in Zukunft nicht zu vernachlässigen.185 Wie dargestellt ist das Zuordnungsverhältnis von Ethik und Ökonomik das wesentliche Problem in der wirtschaftsethischen Theoriedebatte. Dessen besondere Bedeutung leitet sich aus dem Umstand ab, dass sich aus dem wechselseitigen Verhältnis ihrer Zuordnung überhaupt erst begründen lässt, wie und in welcher Weise Wirtschaft und Ethik miteinander verbunden sind, bzw. warum das Postulat einer Unabdingbarkeit der Ethik für die Wirtschaft überhaupt Anspruch auf Gültigkeit erheben darf.186
2.7 Das Zuordnungsverhältnis von Ethik und Ökonomik in der aktuellen wirtschaftsethischen Debatte Wie oben dargestellt markieren die ordnungsethischen Konzepte Karl Homanns und seiner Schüler und das auf der Diskursethik basierende Konzept Peter Ulrichs die beiden prominenten Pole der Wirtschaftsethikdebatte im deutschsprachigen Raum. Die wesentlichen Merkmale und Unterschiede dieser beiden divergierenden Ansätze sollen in diesem Kapitel ausführlich dargestellt werden, wobei besonderes Augenmerk auf das Zuordnungsverhältnis von Ethik und Ökonomik als wesentliche Konstituente der wissenschaftlichen Fundierung und Begründung einer Wirtschaftsethik gelegt werden soll. Zugleich sollen beide Ansätze auf ihre Fähigkeit zur praktischen Vermittlung zwischen Ethik und Ökonomik hin untersucht werden: Welches Potential offenbaren die beiden Ansätze, auf der Anwendungsebene die schwierige Herausforderung der Vermittlung zwischen Theorie und Praxis zu bewältigen, um so den Ansprüchen, Bedürfnissen und Wünschen der Praxis nach Umsetzung und Etablierung moralischer Anforderungen im Wirtschaftssystem genüge zu tun? 2.7.1 Ökonomik als Ausgangsparadigma Die Ansätze Karl Homanns und seiner Schüler haben ihre theoretischen Ursprünge in der traditionellen Volkswirtschaftslehre und können in gewisser Weise als deren wirtschaftsethische Erben angesehen werden. Als beispielhaft für die Stellung und Behandlung normativer Fragen in der traditionellen Volkswirtschaftslehre
185 Vgl. Aßländer: Philosophia, S. 332. 186 Vgl. dazu auch Adam: Marktwirtschaft oder Geldwirtschaft, S. 110ff.
Das Zuordnungsverhältnis von Ethik und Ökonomik
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kann Bruno Molitors Entwurf von 1989 zur Wirtschaftsethik angesehen werden. Charakteristisch ist dabei die Betrachtung der Wirtschaftsethik als positive Erfahrungswissenschaft – und damit als Teil der Wirtschaftswissenschaft und nicht als normative Wissenschaft.187 2.7.1.1
Grundlagen der Ökonomik: Die Stellung normativer Fragen in der traditionellen Volkswirtschaftslehre
Molitor geht es in der Tradition der Ordnungstheorie Walter Euckens (1940) vordergründig um die Unterscheidung zwischen Sachproblemen und moralischen Entscheidungen sowie die Vermeidung einer Moralisierung wirtschaftlicher Sachfragen.188 Die Normen des wirtschaftlichen Verhaltens werden nicht durch eigene ethische Argumentationen begründet, sondern können quasi von innen aus den „Tatbeständen einer Gesellschaftswirtschaft, ihren Zielsetzungen und Funktionserfordernissen“ abgeleitet werden.189 Diese funktionale Betrachtung der Moral fragt vor allem danach, welche Zwecke sich mit der Marktwirtschaftsordnung erreichen lassen, was diese an Wertorientierung voraussetzt und wie sie ihre Effizienz durch eine bestimmte Moral gewinnt oder verliert.190 Dem liegt ein Verständnis von Ethik als Lehre von der Moral der Handlungen und eine primär aus Normen und Regeln bestehende Vorstellung von Moral zugrunde. Gegenstand der Ökonomik ist für ihn einerseits rationales Handeln im Sinne vernunftgetragener freier Willensentscheidungen und andererseits allgemein die Wirtschaft als gesellschaftlicher Funktionsbereich.191 Die Ökonomik erscheint dabei als allgemeine Handlungstheorie, wobei Knappheit zu ihrem zentralen Ansatzpunkt wird, wohingegen alle übrigen Aspekte einer Handlung keine Berücksichtigung finden. Außerdem ignoriert Molitor den Umstand, dass ethische Urteile nicht nur einseitig unter Berücksichtigung des Funktionszusammenhangs Wirtschaft gefällt werden, sondern durchaus eine strukturell interdependente Abwägung mit jenen Erfordernissen erfolgen kann, die sich aus weiteren gesellschaftlichen Subsystemen ergeben.192 Sein Anspruch, aus der ökonomischen Deskription von Funktionszusammenhängen die Präskription moralischer Normen zu gewinnen, bringt die vollkommene Negation der Ethik als eigenständige Reflexionsform mit sich. Auf den Rekurs auch auf außerökonomische, moralische Vorstellungen kann er zwar nicht verzichten, doch ethische Ziele werden dabei gewissermaßen als gegeben vorausgesetzt, weshalb
187 Vgl. Bruno Molitor: Wirtschaftsethik. München 1989, S. 5. Vgl. zu diesem Abschnitt Gerlach: Zuordnungsverhältnis, S. 839. 188 Vgl. Molitor: Wirtschaftsethik, S. 4f. Vgl. auch Walter Eucken: Die Grundlagen der Nationalökonomie. Jena 1940. 189 Molitor: Wirtschaftsethik, V, 1. 190 Vgl. Molitor: Wirtschaftsethik, S. 4. 191 Vgl. Molitor: Wirtschaftsethik, S. 7–12. 192 Vgl. zur Kritik an Molitors Ansatz ebf. Gerlach: Zuordnungsverhältnis, S. 839f.
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Das Verhältnis von Ethik und Ökonomik
Molitor sich nicht mit der Begründung von Normen, also der Ethik, sondern allein mit der Moral in Form faktisch gegebener, allgemein anerkannter Normen auseinandersetzt. Eine genaue Analyse grundlegender ökonomischer Faktoren und Zusammenhänge, aus der sich gesellschaftliche Zielvorstellungen formulieren lassen, wird durch diese Theorie zwar gewährleistet, wie diese Konzepte jedoch ethisch zu begründen sind, bleibt im Dunkeln. 2.7.1.2
Ökonomik als „Ethik mit anderen Mitteln“: Die wirtschaftsethischen Konzepte Karl Homanns und seiner Schüler
Ein in den Ansätzen vergleichbares, aber deutlich weitreichenderes Konzept verfolgen Karl Homann und seine Schüler mit ihrer Theorie der Ökonomik als „Ethik mit anderen Mitteln“.193 Auch für sie ist nicht die Reflexion der Begründung von Normen maßgeblich, vielmehr machen sie deren Durchsetzbarkeit zum Maßstab ihrer Geltung: „Eine moralische Norm hat keine Gültigkeit, solange ihre Durchsetzbarkeit nicht sichergestellt ist.“194 Ziel und selbstdefinierter Anspruch dieser Ansätze ist die Entwicklung einer modernen Wirtschaftsethik, die zur Lösung der komplexen Probleme in modernen Gesellschaften beitragen kann.195 Da sein Modell Lösungen für die Konflikte der Moderne anbiete, fordert Homann nicht weniger, als dass „die ganze Wirtschaftsethik auf die strenge ökonomische Methode umformuliert“ werden müsse.196 Seine Vorstellungen setzen eine bestimmte Sicht moderner Gesellschaften voraus, in der sich Homann der Tradition der Ökonomik
193 Homann: Theoriestrategie, S. 9–30, 13. 194 Karl Homann: Wirtschaftsethik. Die Funktion der Moral in der modernen Wirtschaft. In: Josef Wieland (Hg.): Wirtschaftsethik und Theorie der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1993 (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1053), S. 32–53, 37. 195 Vgl. hierzu und zum Folgenden Gerlach: Zuordnungsverhältnis, S. 836–841. Gerlachs kenntnisreichem Handbuchkapitel verdanke ich auch zahlreiche Anregungen zu den Einzelaufsätzen Homanns. 196 Karl Homann: Sinn und Grenze der ökonomischen Methode in der Wirtschaftsethik. In: Detlef Aufderheide u.a. (Hg.): Wirtschaftsethik und Moralökonomik. Berlin 1997 (= Volkswirtschaftliche Schriften 478), S. 11–42, 27. Ethik wird von ihm formal als „wissenschaftliche Theorie der ‚Moral‘“ bestimmt, der es „um die theoretische Begründung, Systematisierung und um die theoriegeleitete Anwendung der ‚Moral‘“ gehe. (Karl Homann/Franz Blome-Drees: Wirtschafts- und Unternehmensethik. Göttingen 1992 (= Uni-Taschenbücher 1721), S. 16.) Den Anspruch dieses Konzepts verdeutlichen Pies/Sardison: Danach ist Wirtschaftsethik eine „Theorie für die Praxis“, befasst nicht nur mit „Problemen der Begründung von Moral“, sondern vornehmlich mit der Frage, auf welche Weise moralische Normen und Ideale unter den „Bedingungen einer international wettbewerblich gefassten Marktwirtschaft“ geltend gemacht werden können. Im Mittelpunkt stehen dabei die Frage nach der Sorge für „gesellschaftliche Nachhaltigkeit in Gesellschaft und Konsum“, nach den Möglichkeiten sozialer Sicherheit wie nach den notwendigen Handlungen zum Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen für nachfolgende Generationen, gleichermaßen aber auch Themen wie Armutsbekämpfung und gerechter Zugang zu freien Märkten sowie die Partizipation an ökonomischer Prosperität. (Ingo Pies/Martin Sardison: Wirtschaftsethik. In: Nikolaus Knoepffler u.a. (Hg.): Einführung in die Angewandte Ethik. Freiburg u.a. 2006 (= Angewandte Ethik 1), S. 267–298, 267.)
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seit Adam Smith verpflichtet fühlt.197 Die von Smith übernommenen Grundlagen seines Ökonomikkonzepts verbindet er mit der in der modernen Wirtschaftswissenschaft einflussreichen neueren Institutionentheorie, die eng an die Forschung der amerikanischen Ökomomen James Buchanan und Geoffrey Brennan angelehnt ist.198 So übernimmt die Ökonomik in der charakteristischen Ausgestaltung Homanns und seiner Schüler die Aufgaben und Intentionen von Ethik und Moral, wobei gerade die Umsetzung von Normen als das zentrale Problem der Ethik angesehen wird. Dabei wird Moral vor allem in den Rahmenbedingungen verortet und kann nur in ihnen verwirklicht werden. Homann unterscheidet dementsprechend scharf zwischen einer Rahmenordnung des Handelns und den Handlungen innerhalb dieser Rahmenordnung. Das moralische Verhalten des Einzelnen kann dauerhaft nur erhalten werden, wenn es sich für ihn als vorteilhaft erweist. Aus diesem Grund sind die Rahmenbedingungen entsprechend auszugestalten, dass das gewünschte Verhalten zugleich für den Handelnden vorteilhaft ist. Bei diesem Konzept handelt es sich um keine Individual-, sondern um eine Institutions- oder Ordnungsethik, die im Folgenden genauer untersucht werden soll. Das Charakteristikum von Homanns Ansatz ist die Anwendung ökonomischer Modelle und Methoden auf die Ethik.199 Danach hat die Wirtschaftsethik die Möglichkeit und die Aufgabe, „moralische Normen und Ideale als – nichtmonetäre – ‚Vorteile‘ zu rekonstruieren und sie […] als ökonomische Kalkulation ins Spiel zu bringen“.200 Homanns Ansatz wendet ökonomische Rationalität auch auf moralische Probleme an. Seine Theorie gründet auf dem Rational Choice-Prinzip, wonach handelnden Subekten ein rationales und aufgrund bestimmter Präferenzen nutzenmaximierendes Verhalten zugeschrieben wird.201 Nach Homanns Definition verhält sich „rational“, wer „in einem offenen, in die Zukunft gerichteten Prozess systematisch kontrolliert, welche Entscheidungen er aus welchen Gründen (Nutzen) und zu welchen Kosten (Nutzenentgang) trifft“.202 Ziel seiner Theorie ist die Entwicklung einer modernen Wirtschaftsethik, die zur Lösung der komplexen Probleme in modernen Gesellschaften beitragen
197 Vgl. Gerlach: Zuordnungsverhältnis, S. 841. 198 Vgl. dazu grundlegend Geoffrey Brennan/James M. Buchanan: Die Begründung von Regeln. Konstitutionelle politische Ökonomie. Tübingen 1993 (= Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften 83); vgl. hierzu und zum Folgenden Gerlach: Zuordnungsverhältnis, S. 844. 199 Vgl. Homann: Sinn und Grenze, S. 11–42; vgl. auch Karl Homann: Relevanz der Ökonomik für die Implementierung ethischer Zielsetzungen. In: Handbuch der Wirtschaftsethik. Hg. im Auftrag der Görres-Gesellschaft v. Wilhelm Korff u.a. Bd.1: Verhältnisbestimmung von Wirtschaft und Ethik. Gütersloh 1999, S. 322–343; vgl. dazu Küpper: Business Ethics, S. 254f. 200 Homann: Relevanz, S. 334. 201 Vgl. dazu Matthias Karmasin/Michael Litschka: Wirtschaftsethik – Theorien, Strategien, Trends. Wien 2008 (= Einführungen Wirtschaft 8), S. 81ff. 202 Karl Homann: Die ökonomische Dimension von Rationalität. In: Martin Hollis/Wilhelm Vossenkuhl (Hg.): Moralische Entscheidungen und rationale Wahl. München 1992, S. 11–24, 12.
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kann.203 Im Anschluss an Niklas Luhmanns Systemtheorie sind traditionelle Ethiken nach Auffassung der Schule Homanns nicht dazu in der Lage, die systemische Verfasstheit moderner Gesellschaften und deren Ausdifferenzierung in leistungsfähige Subsysteme zu erfassen.204 Die traditionelle Ethik als „Lehre vom moralisch richtigen Handeln“ wird von Homanns Programm einer „Ökonomik als Ethik“ kritisch abgelehnt, da sie die moderne Problemlage aufgrund ihres individualethischen Ansatzes nicht adäquat zu beschreiben vermöge.205 Hinsichtlich der strukturellen Probleme moderner Gesellschaften habe die Ökonomik durch die systematische Unterscheidung zwischen präferenzgeleiteten Handlungen und den Restriktionen der Rahmenordnung, durch die diese Handlungen begrenzt werden, eine Erklärungsleistung vor allem für die systematisch auftretenden Dilemmasituationen in Großgruppen erbracht.206 Ein wesentliches Merkmal dieser Dilemmasituationen ist es, systematisch durch die Defektion, also den Regelverstoß einzelner, ausgebeutet werden zu können. Eine Überwindung der Dilemmata und eine bewusste Gestaltung der entsprechenden Situationen ist nur durch eine Änderung der Rahmenordnung möglich. Dem liegt die Annahme Homanns zugrunde, dass Verhaltensänderungen in modernen Großgesellschaften nicht durch die Motivierung zu veränderten Spielzügen, sondern lediglich durch veränderte Spielregeln erzielt werden können.207 Wie diese sich umsetzen lassen und wie die Ökonomik ihre behauptete Erklärungsleistung im konkreten Fall erbringen kann, erläutern Ingo Pies und Martin Sardison ausführlich in ihrem Grundlagenaufsatz zur Wirtschaftsethik. Die von ihnen vertretene Position kann als paradigmatisch für die Schule Homanns angesehen werden und veranschaulicht die systematische Verortung der Moral in der Rahmenordnung. Als grundlegende wirtschaftsethische Problemstellung gehen die Autoren von einem immer wieder situativ auftretenden Widerspruch zwischen Eigeninteresse 203 Vgl. hierzu und zum Folgenden Gerlach: Zuordnungsverhältnis, S. 841. 204 Vgl. Homann: Funktion, 32ff.; Homann: Theoriestrategie, 22f.; Homann: Sinn und Grenze, 12ff.; vgl. hierzu außerdem grundlegend Homann: Wettbewerb und Moral, S. 34–56; Karl Homann/Ingo Pies: Wie ist Wirtschaftsethik als Wissenschaft möglich? Zur Theoriestrategie einer modernen Wirtschaftsethik. In: Ethik und Sozialwissenschaften 5 (2000), S. 94–108; sowie die beiden Aufsatzbände Karl Homann u.a. (Hg.): Vorteile und Anreize. Zur Grundlegung einer Ethik der Zukunft. Tübingen 2002; sowie Karl Homann u.a. (Hg.): Anreize und Moral. Gesellschaftstheorie – Ethik – Anwendungen. Münster 2003 (= Philosophie und Ökonomik 1); ferner Karl Homann/Andreas Suchanek: Ökonomik. Eine Einführung. 2., überarb. Aufl. Tübingen 2005 (= Neue ökonomische Grundrisse); Karl Homann/Christoph Lütge: Einführung in die Wirtschaftsethik. Münster 2004 (= Einführungen: Philosophie 3); zudem Andreas Suchanek: Ökonomische Ethik. Tübingen 2001 (= UTB für Wissenschaft 2195); sowie Ingo Pies/Franz Blome-Drees: Was leistet die Unternehmensethik? Zur Kontroverse um die Unternehmensethik als wissenschaftliche Disziplin. In: Schmalenbachs Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung 45 (1993), S. 748–768; sowie André Habisch: Corporate Citizenship. Gesellschaftliches Engagement von Unternehmen in Deutschland. Berlin u.a. 2003 (= Unternehmen und Gesellschaft). 205 Homann: Sinn und Grenze, S. 12. 206 Vgl. hierzu und zum Folgenden Gerlach: Zuordnungsverhältnis, S. 841. 207 Vgl. Homann: Theoriestrategie, S. 21–23.
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und Moral und einem daraus resultierenden Spannungsverhältnis zwischen unternehmerischer Gewinnorientierung und gesellschaftlichen Legitimitätsvorstellungen aus.208 Die übrigen wirtschaftsethischen Ansätze könnten deswegen ihr heuristisches Potential nicht ausschöpfen und eigneten sich somit nicht zur Auflösung des Konflikts, da sie permanent die Frage provozierten, wie viel Moral zulasten des Eigeninteresses sich wirtschaftliche Akteure leisten wollten.209 Als Lösung schlagen sie vor, das Eigeninteresse für die verfolgten moralischen Anliegen dienstbar zu machen. Unter Rückgriff auf die schottische Moralphilosophie Adam Smiths (1776) und Thomas Robert Malthus’ (1798) bedienen sie sich zu diesem Zweck der Gedankenfigur der nicht intendierten Wirkungen intentionalen Handelns.210 Mit Smith können soziale Erfolge eines marktlichen Verhaltenssystems mit der sogenannten „unsichtbaren Hand“ erklärt werden: Danach lassen gute Resultate nicht zwingend Rückschlüsse auf ebensolche gute Absichten der handelnden Akteure zu. Die Metapher „unsichtbare Hand“ meint dabei, dass die wirtschaftlichen Akteure der einen Marktseite, der Angebotsseite, aufgrund bestimmter Anreize durch die Verfolgung ihrer je individuellen Interessen und Vorteile dennoch einen Nutzen für die gegenüberliegende Marktseite, die Nachfrageseite, stiften.211 Die sozialen Misserfolge einer systemischen Verhaltenskoordination können nach Thomas Robert Malthus hingegen mit der Metapher der „unsichtbaren Faust“ erklärt werden: So besteht die Möglichkeit, dass schlechte Ergebnisse nicht unbedingt auf schlechte Absichten der handelnden Akteure zurückzuführen sind, sondern unbeabsichtigt sein können.212 Nach Meinung der Autoren lassen sich zahlreiche wirtschaftsethisch relevante soziale und ökologische Probleme der Ge208 Vgl. Pies/Sardison: Wirtschaftsethik, S. 268. 209 Vgl. hierzu und zum Folgenden Pies/Sardison: Wirtschaftsethik, S. 269–273. 210 Vgl. Adam Smith: Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen. Herausgegeben und übersetzt von Horst Claus Recktenwald. München 1983; vgl. Thomas Robert Malthus: Das Bevölkerungsgesetz. Herausgegeben und übersetzt von Christian M. Barth. München 1977. 211 Das klassische Beispiel dafür ist ein funktionierender Markt, bei dem die Konsumenten die Befriedigung ihrer Bedürfnisse – als das Grundprinzip des Wirtschaftens – nicht etwa dem „Wohlwollen“, sondern einem aus dem Konkurrenzdruck resultierenden Leistungswettbewerb der Produzenten verdanken, die dabei zu „ihrem Vorteil“ handeln und ihre „eigenen Interessen wahrnehmen“. (Smith: Wohlstand, S. 17.) Unter geeigneten Marktbedingungen können bei diesem Modell die wirtschaftlichen Akteure ihr eigenes Profitinteresse nur effektiv verfolgen, indem sie die Interessen anderer Marktteilnehmer berücksichtigen und deren Bedürfnisse bedienen. (Vgl. hierzu und zum Folgenden auch Pies/Sardison: Wirtschaftsethik, S. 273f.). Auf diese Weise gelangen breite Bevölkerungsschichten in den Genuss materieller und immaterieller Güter, mit denen große Emanzipationsleistungen verbunden sind: Zwar liegt es den Produzenten näher, geringere Leistung hinsichtlich der Qualität und Quantität ihrer Produkte zu erbringen und einen höheren Preis zu verlangen. Sie tragen als wirtschaftliche Akteure deshalb zu den zivilisatorischen Errungenschaften bei, da sie sich mit einem wettbewerblichen Sachzwang konfrontiert sehen, der zur Folge hat, dass sie sich an institutionellen Anreizen orientieren und die kollektiven Rückwirkungen ihres individuellen Verhaltens außer Acht lassen.
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Das Verhältnis von Ethik und Ökonomik
genwart nach diesem Muster eines sogenannten „race to the bottom“ rekonstruieren.213 Dabei tragen die wirtschaftlichen Akteure selbst zur Entstehung dieser Probleme bei, weil sie sich einem wettbewerblichen Sachzwang ausgesetzt sehen, der zur Orientierung an institutionellen Fehlanreizen führt und deshalb die einzelnen Akteure die kollektiven Folgen ihres je individuellen Verhaltens übersehen lässt. Beide Erklärungsmodelle, das der „unsichtbaren Hand“ wie das der „unsichtbaren Faust“, dienen als Beispiele einer systemischen Verhaltenssteuerung über wettbewerbliche Anreize, bei der es zu einer strukturellen Entkopplung von Motiv und Ergebnis kommt, da sich die Resultate des sozialen Prozesses einer unmittelbaren Ergebniskontrolle durch die beteiligten Akteure entziehen. Pies/Sardison suchen daher nach einer Antwort auf die Frage, wie die strukturelle Entkopplung so gewendet werden kann, dass sich als nicht intendierte Folge intentionalen Verhaltens bessere Resultate für alle beteiligten Akteure einstellen. Sie gelangen zu der Schlussfolgerung, dass sich soziale Dilemmata als Situationen kollektiver Selbstschädigung gerade nicht durch individuell besseres Handeln, sondern ausschließlich durch institutionelle Anreize in Form besserer Regeln überwinden lassen.214 Die Dilemmata entstehen, wenn konfligierende Handlungsinteressen die beteiligten Akteure zu einer wechselseitigen Schlechterstellung veranlassen. Die Ökonomik konstituiert aus diesen konfligierenden Handlungsinteressen ein gemeinsames Regelinteresse: Das Grundmodell für individuelle Selbstbindungen wird dabei als einseitiges Gefangenendilemma bezeichnet, das Grundmodell für kollektive Selbstbindungen als zweiseitiges Gefangenendilemma.215 Konkur212 Das klassische Beispiel hierfür ist die sogenannte Rationalfalle des Bevölkerungswachstums aus Malthus’ 1798 veröffentlichtem Essay on the Principle of Population. Dabei wird der Nutzen aus der Geburt vieler Kinder privatisiert, während die damit einhergehenden Kosten übermäßig sozialisiert werden, was das langfristige Absinken der Löhne auf das Subsistenzniveau zur Folge hat. Im Gegensatz zu vielen seiner aufgeklärten, liberalen Zeitgenossen widersprach er damit der gängigen Vorstellung, dass großes Bevölkerungswachstum auch eine gute Entwicklung des Landes mit sich brächte. Vielmehr entstünde der Gesellschaft auf diese Weise eine erhebliche Belastung, die zu einem Zyklus aus Hungersnöten und Zeiten mit Geburtenüberschüssen führen müsse. (Vgl. dazu auch Pies/Sardison: Wirtschaftsethik, S. 272f.) 213 Vgl. hierzu und zum Folgenden Pies/Sardison: Wirtschaftsethik, S. 273f. 214 Vgl. hierzu wie auch zum Nachfolgenden Pies/Sardison: Wirtschaftsethik, S. 279f. 215 Vgl. dazu grundlegend David M. Kreps: Corporate Culture and Economic Theory. In: James E. Alt u.a. (Hg.): Perspectives on Positive Political Economy. Cambridge 1990, S. 90–143; sowie Karl Homann/Ingo Pies: Wirtschaftsethik und Gefangenendilemma. In: Wirtschaftswissenschaftliches Studium 20 (1991), S. 608–614. Die Auflösung des Dilemmas erfolgt mithilfe der Rationalitätsannahme, wobei Rationalität in diesem Fall eine Aussage über Anpassungsdruck von Situationsstrukturen bedeutet. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass sich bestimmte – bewusste oder unbewusste – Verhaltensweisen in Folge eines Anreizes rekonstruieren lassen, als folgten sie einem Kalkül: Das einseitige Gefangenendilemma modelliert dabei eine asymmetrische Ausbeutungssituation zwischen Spieler A und B, bei der Spieler A die Wahl hat, sich auf eine riskante Vorleistung einzulassen oder nicht. Entscheidet er sich für die Vorleistung, hat Spieler B die Wahl, Spieler A entweder auszubeuten oder nicht. Da es für Spieler B vorteilhaft ist, sich ausbeuterisch zu verhal-
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renz lässt sich dabei als Instrument gesellschaftlicher Kooperation einsetzen: Durch die Kanalisierung der nicht intendierten Wirkungen intentionalen Handelns, indem wettbewerbliches Gegeneinander einem Miteinander und sogar einem Füreinander dienstbar gemacht wird, tritt der Wettbewerb in den Dienst sozialer Ordnung.216 Pies/Sardison weisen ergänzend darauf hin, dass bei der wirtschaftsethischen Verwendung ökonomischer Interaktionsmodelle nur die beteiligten Akteure ökonomisch modelliert würden.217 In ethischer Hinsicht sei jedoch auch deren Einfluss auf die von den Handlungen betroffenen Akteure zu berücksichtigen, was unter bestimmten Bedingungen die Etablierung und Aufrechterhaltung sozialer Dilemmata ebenfalls als wünschenswert erscheinen lässt – man denke hier nur an sozial unerwünschte Interaktionen wie Bestechung und Korruption oder auch Mengen- und Preisabsprachen. Zur Etablierung gesellschaftlicher erwünschter Dilemmata und Überwindung unerwünschter Dilemmata ist ein differenziertes Management individueller und kollektiver Selbstbindungen erforderlich, die im ersten Fall erschwert und im zweiten Fall erleichtert werden müssen, wenn moralischen Anliegen nicht gegen, sondern durch das System wettbewerblicher Anreize zur Kanalisierung eigeninteressierten Verhaltens wirksam zur Geltung verholfen werden soll. Die von den Autoren daraus gezogene Folgerung liest
ten, ist es für A – dies antizipierend – von Vorteil, nicht zu investieren. (Vgl. hierzu und zum Folgenden Pies/Sardison: Wirtschaftsethik, S. 275–278.) Das aber führt für beide Akteure zu einem unerwünschten Ergebnis, da beide eine bessere Position erzielen würden, wenn die Investition zustande käme und die Ausbeutung nicht stattfände. In diesem Fall wird von kollektiver Selbstschädigung gesprochen. Bloße Kommunikation, eine Willenserklärung von Spieler B zur Nichtausbeutung von Spieler A, genügt alleine nicht. Es ist erforderlich, dass Spieler B sich eine bindende Verpflichtung auferlegt, welche Ausbeutung unattraktiv macht. Dies kann über eine entsprechende Sanktionierung erreicht werden, in dem die Ausbeutungsoption verteuert wird und dadurch nicht mehr vorteilhaft ist. So entsteht ein Anreiz zum Nicht-Ausbeuten, woraufhin Spieler A seine Vorleistung durchführt. Die institutionell veränderten Anreize führen auf diese Weise zu einem verändertem Ergebnis: der Auflösung des sozialen Dilemmas mittels individueller Selbstbindung. Beim zweiseitigen Gefangenendilemma wird eine symmetrische Ausbeutungssituation simuliert. Die Lösung des Spiels erfolgt ebenfalls mithilfe der Rationalitätsannahme: Beide Akteure haben die Wahl, sich kooperativ oder unkooperativ zu verhalten. Die dominante Strategie ist es, sich unkooperativ zu verhalten, womit jedoch beide Spieler unter ihren Möglichkeiten zurück bleiben. Die individuelle Selbstbindung ist hierbei nicht geeignet, diese kollektive Selbstschädigung aufzulösen, vielmehr ist eine wechselseitige Besserstellung nur durch simultane, kollektive Selbstbindung zu erzielen, welche die Einhaltung eines Standards für alle Konkurrenten gleichermaßen verbindlich macht und so das moralische Anliegen ausbeutungsresistent und wettbewerbsneutral umsetzt. Eine sanktionsbewehrte Regel könnte dabei unkooperatives Verhalten unter Strafe stellen, um so Kooperation zur dominanten Strategie werden zu lassen. 216 Vgl. Ingo Pies: Ordnungspolitik in der Demokratie: Ein ökonomischer Ansatz diskursiver Politikberatung. Tübingen 2000 (= Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften 116), S. 61. Der Wettbewerb dient dabei nicht als Selbstzweck, sondern erscheint vielmehr als Anreizmechanismus, der hilft, unerwünschte Interaktionen zu destabilisieren, um so dazu beizutragen, dass erwünschte Interaktionen zwischen Tauschpartnern stabilisiert werden. (Vgl. dazu Pies/Sardison: Wirtschaftsethik, S. 284.) 217 Vgl. hierzu sowie zum Folgenden Pies/Sardison: Wirtschaftsethik, S. 284f.
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sich wie ein Programm der Ökonomik: „Damit avancieren die formalen und informalen Institutionen der Rahmenordnung zum systematischen Ort der Moral.“218 Aus diesem Grund fokussiert sich Homann nicht auf das normative Problem, moralische Normen zu begründen, sondern auf deren Implementierung unter den Bedingungen einer modernen Wirtschaft und Gesellschaft.219 Zentrale ökonomische und weitere bedeutende Normen einer Gesellschaft sind nach Auffassung Homanns in Gesetzen und anderen moralischen Normen implementiert. Die meisten Anreize zu ihrer Befolgung werden von diesem institutionellen Rahmen zur Verfügung gestellt, der so die ökonomischen, aber auch alle weiteren Handlungen der Menschen in hohem Maße beeinflusst. In den Augen Homanns besteht die größte Herausforderung darin, zu anerkannten moralischen Normen zu gelangen. Die einzige Möglichkeit zu ihrer Implementierung innerhalb der Gesellschaft sieht er in der Existenz fester Regeln zu deren Befolgung. So besteht das zentrale Problem der Ethik darin, wie ein regulatorischer Rahmen für die Wirtschaft so geschaffen und implementiert werden kann, dass Moralität hervorgerufen und freigesetzt wird. Dabei sei das System der freien Marktwirtschaft das beste bekannte System, um Solidarität unter allen Menschen zu erreichen.220 Fassen wir kurz die auffälligsten Merkmale dieser Wirtschaftsethik als ökonomische Theorie der Moral zusammen, die das Instrumentarium einer ökonomischen Anreizanalyse für die Bearbeitung wirtschaftsethischer Fragestellungen anzuwenden sucht: Der Ansatz widmet sich in erster Linie der Steuerbarkeit von Akteurshandlungen in komplexen Systemen. Die wesentliche Grundannahme ist dabei, dass Verhaltensänderungen nur über die kollektive Änderung der Spielregeln gelingen, durch die bestimmte Anreize gesetzt werden. Das Verhalten der Akteure lässt sich indes nicht durch eine direkte Beeinflussung der individuellen Motivation der Akteure, also durch die Motivierung zu anderen Spielzügen, verändern.221 Die fundamentale Bedeutung dieser Setzung zeigt sich in der Kritik der Vertreter der Schule Homanns an der traditionellen wie der ihr nachgebildeten modernen Ethik: Beide und insbesondere die Diskursethik berücksichtigten diese für moderne Gesellschaften fundamentale Differenz nicht.222 Die von Diskursethik und konstruktivistischer Ethik aus der Pflichtethik Immanuel Kants übernommene Begründung von Regeln und Prinzipien aus der Vernunft ist nach Auffassung Homanns ungeeignet, da die Regelsysteme in modernen Gesellschaften nach dem Ende der metaphysischen und naturrechtlichen Moralbegründung stets kontingent, also gegenüber alternativen Regel-
218 Pies/Sardison: Wirtschaftsethik, S. 285. 219 Vgl. dazu Homann/Blome-Drees: Wirtschafts- und Unternehmensethik, S. 14. 220 Vgl. dazu Homann/Blome-Drees: Wirtschafts- und Unternehmensethik, S. 49. 221 Vgl. hierzu Gerlach: Zuordnungsverhältnis, S. 842f. 222 Vgl. Homann/Blome-Drees: Wirtschafts- und Unternehmensethik, S. 20ff., 44ff.; vgl. ebf. Homann: Theoriestrategie, S. 12ff.
Das Zuordnungsverhältnis von Ethik und Ökonomik
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systemen nicht mehr begründbar seien.223 Während Homann also bezogen auf Regelsysteme einen gewissen ethischen Relativismus betreibt, bekennt er sich auf der Ebene der Moral durchaus zu einem universalen Kern. Ein zugleich auch moralischer Relativismus kann ihm folglich nicht unterstellt werden, wie Gerlach zurecht betont.224 2.7.1.3
Die Begründung der ökonomischen Interpretation der Moral und das Selbstverständnis der Ökonomik
Homann versteht Moral primär als Zusammenstellung normativer Regeln, die dem Menschen dienen und ihre Rechtfertigung in den Vorteilen haben, die sie den Menschen auf lange Sicht gewähren.225 Sowohl für die Ethik als auch für ein Bündel von Normen, das er zum Kernbestand der Moral zählt, formuliert er bestimmte Aufgaben: So entwickelten Moral und Ethik „Ideale und Utopien einer gerechten Gesellschaft und der Selbstverwirklichung des Menschen“226, auf welche die Ökonomik nicht verzichten könne, da sie auf „Visionen wie die Freiheit aller und Menschenwürde, allgemeinen Wohlstand, Demokratie, soziale Sicherung und Selbstentfaltung angewiesen“ sei.227 In der Formel „Solidarität aller Menschen“ besteht für Homann das Grundprinzip aller Moral, gewissermaßen als moderne Version der Goldenen Regel.228 Die Begründung der ökonomischen Interpretation der Moral nimmt er über den Vorteilsbegriff vor. Dabei erscheinen moralische Normen als pragmatische Kurzfassungen langer ökonomischer Kalkulationen, deren Befolgung die individuellen Transaktionskosten senken.229 Erinnert sei hier an Pies/Sardisons bemerkenswerte Zuspitzung ihres wirtschaftsethischen Ansatzes auf die grundlegende Frage, wie viel Moral zulasten des Eigeninteresses sich wirtschaftliche Akteure leisten wollten. Die Unterstellung eines permanenten Geleitetseins aller handelnden Akteure durch bloßes Eigeninteresse entspricht bei Homann der Vorstellung eines „unbändige[n] Vorteilsstreben[s]“ als Kern aller Moral. Wenig mag daher Homanns Schlussfolgerung überraschen, dass „alle Moral auf sozialer Kontrolle gegründet“ sein müsse.230 Basierend auf dieser Moralinterpretation lässt sich auch das Selbstverständnis der Ökonomik näher beschreiben.231 Homann begreift die Disziplin als Einzelwis223 Vgl. Homann: Sinn und Grenze, S. 14f. 224 Vgl. Gerlach: Zuordnungsverhältnis, S. 843. 225 Vgl. Homann: Ökonomik und Ethik, S. 22. 226 Homann/Blome-Drees: Wirtschafts- und Unternehmensethik, S. 99; sowie Homann: Ethik und Ökonomik, S. 24. 227 Homann: Theoriestrategie, S. 19. 228 Homann/Blome-Drees: Wirtschafts- und Unternehmensethik, S. 15. 229 Vgl. Homann: Theoriestrategie, S. 18; vgl. ebenso Homann: Sinn und Grenze, S. 34. 230 Homann: Sinn und Grenze, S. 37; Homann: Theoriestrategie, S. 22, Anm. 14. 231 Vgl. zum Folgenden Gerlach: Zuordnungsverhältnis, S. 843f.
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Das Verhältnis von Ethik und Ökonomik
senschaft, die sich nicht durch einen bestimmten Gegenstandsbereich, sondern durch eine spezifische Methode zur Problemlösung auszeichnet. Die Ökonomik hat die „Erklärung und Gestaltung von Resultaten von Interaktionen in Dilemmastrukturen“ zum Ziel232, wobei sich der erste Aspekt relativ zwingend aus dem zweiten erschließt: Es wird erklärt, um zu gestalten. Dies geschieht durch normative Vorgaben. Die Ökonomik setzt sich aber ebenso als Ziel, ihre Ergebnisse auch umzusetzen. In dieser grundsätzlichen Gestaltungsorientierung ist die normative Fundierung der Ökonomik begründet.233 Ökonomik verfügt zwar mit dem Modell des homo oeconomicus über eine Verhaltensannahme von Einzelakteuren, doch erklärt sie nicht einzelne Handlungen von Akteuren, sondern aggregierte Resultate von Interaktionen, die dabei als Reaktionen von Akteuren auf eine Veränderung der Anreizstruktur in Dilemmasituationen zu verstehen sind.234 Da Dilemmasituationen immer Interaktionssituationen von mehreren Akteuren sind, bezieht sich das Erklärungspotential der Ökonomik als Makrotheorie auf Interaktionen. 235 Homann rechtfertigt das Modell des stets den eigenen Nutzen maximierenden, absolut rational handelnden homo oeconomicus als „problemorientiertes Konstrukt zu Zwecken positiver Theoriebildung“, das sich insofern praktisch anwenden lasse, als Akteure in Dilemmasituationen zu vorteilsorientiertem Handeln angeregt würden, weshalb das ihm zugrundeliegende Menschenbild nicht von einer ethischen Position aus kritisiert werden könne.236 Der homo oeconomicus wird von Homann folglich als Produkt der universal anwendbaren Situationslogik von Dilemmastrukturen verstanden, die gemischt motivierte Menschen dazu zwingen, sich wie homines oeconomici zu verhalten.237 In Homanns Konzept kommt der Dilemmastruktur eine grundlegende, kategoriale Bedeutung zu, weisen doch ausnahmslos alle Interaktionen diese Struktur auf, da ja ein Verstoß gegen die von den anderen Akteuren eingehaltenen Regeln für den einzelnen zu einem spezifischen Vorteil führt.238 Die Überwindung der Dilemmastruktur, beziehungsweise deren bewusste Ausgestaltung im Sinne der Ökonomik ist nur unter dem aktiven Zutun aller Akteure möglich, indem die Regeln derart aufgestellt werden, dass die Kooperation für alle gewinnbringend ist.239
232 Homann: Sinn und Grenze, S. 22. 233 Vgl. Homann: Theoriestrategie, S. 23f. 234 Vgl. Homann: Sinn und Grenze, S. 20–23. Vgl. zum spezifischen Verhaltensmodell des Menschen in der Ökonomik („homo oeconomicus“) Bruno S. Frey: Ökonomie ist Sozialwissenschaft. Die Anwendung der Ökonomie auf neue Gebiete. München 1990, S. 6ff. 235 Vgl. Homann: Sinn und Grenze, S. 24. 236 Homann: Sinn und Grenze, S. 18. 237 Vgl. dazu auch Stephan Panther: Wirtschaftsethik und Ökonomik. In: Thomas Beschorner u.a. (Hg.): Wirtschafts- und Unternehmensethik. Rückblick, Ausblick, Perspektiven. München u.a. 2005 (= Schriftenreihe für Wirtschafts- und Unternehmensethik 10), S. 67–94, 76. 238 Vgl. Homann: Sinn und Grenze, 26. 239 Vgl. Homann: Sinn und Grenze, S. 19.
Das Zuordnungsverhältnis von Ethik und Ökonomik
2.7.1.4
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Das Verhältnis von Ethik und Ökonomik im Konzept Homanns und dessen Bewertung
Homanns Konzept von Wirtschaftsethik als ökonomischer Ordnungs- und Anreizethik nimmt moralische Intentionen auf und setzt diese in Vor- und Nachteilskalküle beziehungsweise Anreizstrukturen um.240 Hierdurch wird die Implementierung erwünschter Normen als Hauptziel der Wirtschaftsethik erreicht. Die Implementierung auf der Strukturebene der Rahmenordnung erfolgt entsprechend der ökonomischen Grunddifferenz von Präferenzen und Restriktionen. Die Strukturen müssen so geschaffen sein, dass Akteure bestimmte Handlungen aus Interesse und Vorteilskalkül und nicht primär aus moralischen Intentionen vollziehen. 241 Zentrale inhaltliche Aussagen dieser Wirtschaftsethik beziehen sich, wie Gerlach mit Recht anmerkt, auf die normative Rechtfertigung der Marktwirtschaft, in der die langfristige Gewinnmaximierung von Unternehmen als deren „sittliche Pflicht“ gilt.242 Der Wettbewerb stellt eine bewusst gestaltete Dilemmasituation dar, die den Nutzen für den Konsumenten maximiert. Moralische Intentionen werden nicht gegen, sondern gerade durch den Wettbewerb erreicht, da das durch ihn initiierte Gewinnstreben der Solidarität aller dient.243 Ethik und Ökonomik fasst Homann als „zwei Diskurse ein und derselben Problematik menschlicher Interaktion“ auf, die in einem Paralleldiskurs stehen.244 Beide verfügen über eine identische Wurzel, obgleich die „Gewinne der theoretischen Ausdifferenzierung“ beider Einzeldisziplinen nur dann realisiert werden können, wenn beide Forschungen methodisch getrennt voneinander ablaufen.245 In Abgrenzung gegenüber anderen betrachteten Zuordnungen in der wirtschaftsethischen Debatte, die er als Varianten eines zu vermeidenden Dualismus von Ethik und Ökonomik deutet, dürfe gerade keine methodische Durchmischung erfolgen, sondern lediglich die Übersetzung moralischer Ansprüche in Vorteilskalküle und umgekehrt.246 Den Identitätsgedanken beider Disziplinen begründet Homann historisch mit der oben beschriebenen Entwicklung der Ökonomik aus der Ethik und verortet ihn philosophisch in Hegels Identitätsphilosophie.247 Deren Grundgedanke bestehe darin, dass zwei Größen, die genuin nichts miteinander zu tun haben, sich nicht im Nachhinein miteinander vermitteln lassen oder sich durchdringen
240 Vgl. Homann/Blome-Drees: Wirtschafts- und Unternehmensethik, S. 35.; vgl. zudem Homann: Theoriestrategie, S. 23; vgl. hierzu und zum Folgenden Gerlach: Zuordnungsverhältnis, S. 844. 241 Vgl. Homann: Sinn und Grenze, S. 27. 242 Homann: Theoriestrategie, S. 14f. 243 Vgl. Homann/Blome-Drees: Wirtschafts- und Unternehmensethik, S. 47ff. 244 Homann: Theoriestrategie, S. 16f. 245 Homann: Theoriestrategie, S. 16ff.; vgl. hierzu und zum Folgenden bes. Gerlach: Zuordnungsverhältnis, S. 845. 246 Vgl. Homann: Theoriestrategie, 10f. 247 Vgl. Homann: Ethik und Ökonomik, S. 12–15; vgl. ebenso Homann/Blome-Drees: Wirtschaftsund Unternehmensethik, S. 20ff.
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Das Verhältnis von Ethik und Ökonomik
können.248 Als Konsequenz daraus ergebe sich, so Homann, dass Konflikte zwischen Ethik und Ökonomik immer nur vermeintliche Differenzen seien, da es sich in Wirklichkeit um Konflikte innerhalb der Einzeldisziplinen handle. 249 Außerdem lasse sich daraus ableiten, warum eine wechselseitige Übersetzung von Begriffen im Paralleldiskurs von Ethik und Ökonomik möglich ist: Dies funktioniert, weil die Grundkategorien in seinem Konzept positiver Ökonomik durch ethische Vorstellungen geprägt sind und die Ökonomik als positive Wissenschaft über ein normatives Fundament verfügt, von dem aus sich Normativität positiv abarbeiten lässt.250 2.7.1.5
Würdigung des wirtschaftsethischen Modells Homanns
Eine Bewertung des ungeheuer einflussreichen Ansatzes von Homann muss dessen präzise Beschreibung der ökonomischen Methode und ihre große Leistungsfähigkeit für die Situationsanalyse betonen.251 Eine Stärke des Ansatzes ist in der deutlichen Unterscheidung von ethischen und ökonomischen Kategorien und den zugehörigen wissenschaftlichen Theorien zu sehen. Sein Verständnis von Ökonomik zielt auf eine klar beschreibbare Methodik. Der beanspruchte Realitätsgehalt der methodischen Annahmen hingegen, insbesondere die empirische Grundannahme, alle Akteure handelten einzig und allein nach Vorteilskalkül, erscheint zweifelhaft und nicht zwingend belegbar. Für Homann ist dieses Modell absoluter Rationalität ja gerade keine rein methodische Annahme, die lediglich als Heuristik zur Analyse institutioneller Arrangements beiträgt, sondern es erhebt den Anspruch, das tatsächliche Verhalten von Menschen in modernen Gesellschaften zu beschreiben. Die Konsequenz dieser direkten Identifizierung von methodischer und empirischer Annahme zeigt sich in der Auslegung des Gefangenendilemmas: Ein einziger potentieller Defektierer macht die Einhaltung nicht sanktionierbarer Regeln für alle anderen Akteure unmöglich. Zwar existieren Handlungsspielräume in Wettbewerbssituationen für individuelle Moral, doch dürfen diese nach dem Modell Homanns keinen systematischen Stellenwert in der Wirtschaftsethik besitzen, da sie den Ruin des moralischen Akteurs zur Folge haben. Dieser Annahme liegt ein statisches neoklassisches Marktmodell zugrunde, in dem alle Märkte auf Gleichgewichtssituationen mit nur geringen Gewinnen abzielen.252 Im Gegensatz 248 Vgl. Karl Homann: Marktwirtschaft und Unternehmensethik. In: Siegfried Blasche u.a. (Hg.): Markt und Moral. Die Diskussion um die Unternehmensethik. Hg. v. Forum für Philosophie, Bad Homburg. Bern u.a. 1994 (= St. Galler Beiträge zur Wirtschaftsethik 13), S. 109–130, 122. 249 Vgl. Homann: Theoriestrategie, S. 17f. 250 Vgl. Homann: Theoriestrategie, S. 25; sowie Homann: Sinn und Grenze, S. 33f. 251 Vgl. hierzu und zum Folgenden Gerlach: Zuordnungsverhältnis, S. 846f. 252 In der sogenannten Standardökonomik, die in den „Economics“ Paul Samuelsons (1948) ihren Höhepunkt erreicht hat, gelangt jede Wirtschaft früher oder später in einen Gleichgewichtszustand. Hierbei wird unterstellt, dass die Akteure immer dazu imstande sind, eine vollständig durchschaubare und widerspruchsfreie Präferenzordnung zu bilden sowie die dazu passende beste Alternative
Das Zuordnungsverhältnis von Ethik und Ökonomik
231
dazu gehen dynamische Markttheorien von der Existenz von Handlungsspielräumen aus, die beispielsweise von first movern für moralische Vorreiterhandlungen genutzt werden können.253 Solche Vorsprungsgewinne stellten im Rahmen eines dynamischen Marktmodells keine Ausnahme dar, sondern wären systematisch zu erwarten. Dass sich durch die Konstituierung des systematischen moralischen Standpunkts im institutionellen und streng regelgeleiteten Rahmen der Wirtschaft Probleme bei der praktischen Anwendbarkeit seiner wirtschaftsethischen Theorie ergeben, ist von Homann nie bestritten worden.254 Doch verlagert er konkrete Anwendungsschwierigkeiten auf die Ebene der Unternehmensethik. So könnten durchaus Probleme aus der systematischen Mangelhaftigkeit der Rahmenordnung entstehen, die durch den kontinuierlichen Wandel der wirtschaftlichen Bedingungen und der Wertvorstellungen der Menschen in einer dynamischen Welt niemals perfekt sein könne. Im globalen Kontext existierten durchaus konkurrierende und konfligierende Regelsysteme, im internationalen Handelsverkehr herrsche teilweise eine Regelungslücke und zudem kranke das Regelsystem auch an den Fehlern, die sowohl Menschen als auch Maschinen unvermeidbar begingen. Im Gegensatz zu den Vertretern eines reinen Ökonomismus wie Horst Albach, Herbert Hax oder Dieter Schneider, mit denen sein Konzept unübersehbare Verwandtschaft aufweist, betont Homann die Notwendigkeit zu und den Bedarf an Unternehmensethik, um moralische Schwierigkeiten in Unternehmen analysieren und lösen zu können.255 Dass er aber die Probleme der Unternehmensethik auf die Unvollkommenheit des institutionellen Rahmens zurückführt, ist fragwürdig. Mithin kann also dieses Regelwerk nicht genügend Anreize für alle Menschen zur Verfügung stellen, sich moralisch zu verhalten. Das wirft zwei Fragen auf: Wäre es erstrebenswert, über ein perfektes Regularium moralischer Leitsätze zu verfügen? Resultiert das Fehlen von ausreichenden Anreizen aus der Unvollkommenheit des Systems der freien Marktwirtschaft oder ist nicht gerade das ein konstitutioneller zu wählen. (Vgl. hierzu und zum Folgenden Svetlova: Sinnstiftung, S. 12.) Eine genaue Kenntnis ihrer Präferenzen und Bedürfnisse wie der zur Befriedigung der Bedürfnisse erforderlichen Güter ist notwendig, damit die Akteure vorab abwägen können, welche Handlung den individuell größten Nutzen stiftet. Die Ökonomik betrachtet also nicht die tatsächlichen Abläufe und Vorgänge im Rahmen menschlichen Handelns, sondern unterstellt für einen bestimmten Typ von Individuum – den homo oeconomicus – „eine apriorische Theorie des menschlichen Handelns, gewissermaßen eine Logik des Handelns und der Tat“. (Hans Albert: Marktsoziologie und Entscheidungslogik. Zur Kritik der reinen Ökonomie. Tübingen 1998, S. 9.) Die tatsächliche individuelle Abwägung von Handlungsalternativen und subjektiven Nutzendefinitionen spielt dabei keine Rolle. Entscheidend ist lediglich, dass der Akteur seine Wahl nach einer bestimmten festgelegten Logik trifft. 253 Vgl. dazu grundlegend Friedrich A. von Hayek: Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren. In: Ders.: Freiburger Studien. Gesammelte Aufsätze. Tübingen 1969 (= Wirtschaftswissenschaftliche u. wirtschaftsrechtliche Untersuchungen 5), S. 249–265; sowie Ernst Heuss: Allgemeine Markttheorie. Tübingen 1965 (= St. Galler wirtschaftswissenschaftliche Forschungen 21). 254 Vgl. hierzu und zum Folgenden Küpper: Business Ethics, S. 254. 255 Vgl. hierzu und zum Folgenden auch Küpper: Business Ethics, S. 255.
232
Das Verhältnis von Ethik und Ökonomik
Bestandteil dieses Systems? Die Freiheit in modernen Gesellschaften bedeutet auch, dass sich jeder Mensch an eigenen, selbst gesetzten Werten orientieren kann und darf. Hier geht es nicht um Relativismus, sondern um die Vielfalt von Meinungen und Entscheidungen. Daraus resultiert für Manager und Unternehmenslenker ein hohes Maß an Freiheit und Handlungsspielräumen, welche durch Innovationen ausgeweitet werden können. Die Entscheider können dabei bewusst ihre Ziele und das in Kauf genommene Risiko spezifizieren. Die Freiheit der Wettbewerber im Markt ist eines der fundamentalen Elemente der freien Marktwirtschaft.256 Ein perfektes Anreizsystem erscheint angesichts dessen in der Praxis genauso wenig wünschenswert wie ein perfekter moralischer Regelrahmen. So resultiert die Notwendigkeit einer Unternehmensethik nicht, wie Homann glaubt, aus der Unvollkommenheit des Regelsystems der freien Marktwirtschaft, sondern ist eine unabdingbare Konsequenz aus ihrer Beschaffenheit. Hier lässt sich eine auffällige Schwäche in der Zuordnung von Ethik und Ökonomik in der Theorie Homanns beobachten. Gerlach merkt an, dass auch sonst die Unterscheidung von ethischen und ökonomischen Kategorien bei Homann einseitig zu einer Abweisung der ethischen Argumentation führt. Die Ethik wird als Konzept gegenüber der Ökonomik kaum entfaltet, so dass die Wirtschaftsethik rein als ökonomische Theorie verstanden wird.257 Eine echte Zuordnung von Ethik und Ökonomik findet also überhaupt nicht statt, lediglich eine einseitige „Transformation ethischer Überlegungen in die Ökonomik“.258 Homann nimmt lediglich eine Zuordnung von Moral, beziehungsweise von Normativität und Ökonomik vor. Ökonomik ist für Homann „Ethik mit anderen Mitteln“ – den Anspruch dieses Programms als Ethiktheorie kann man zumindest hinterfragen. Mit Ulrich (darauf wird später noch zu kommen sein) ließe sich der Ansatz treffender als Moralökonomik bezeichnen. Da die Theorie eines sinnvollen zeitgemäßen Ethikkonzepts ermangelt, fällt der von Homann anderen Ansätzen gegenüber geäußerte Vorwurf einer Dominanz der Ökonomik über die Ethik letztlich auch auf sein eigenes Konzept zurück.259 Für den Fall einer konkreten Anwendung erscheint das in der Theorie postulierte Nebeneinander der beiden Einzelwissenschaften problematisch: Soll ein Entscheidungsprozess theoriegeleitet ablaufen, ist eine Metareflexion über ethisch orientiertes Handeln als die eigentliche Aufgabe der Ethik unabdingbar. Die Ethik muss es ermöglichen, die Ergebnisse der ökonomischen Analyse einzuordnen und den ökonomischen Beitrag kritisch aufzunehmen, und sie soll zudem Orientie256 Vgl. dazu Christian Watrin: Die marktwirtschaftliche Ordnung. In: Wilhelm Korff u.a. (Hg.): Handbuch der Wirtschaftsethik. Bd. 2. Gütersloh 1999, S. 216–261, 216ff.; sowie Otto Schlecht: Prinzipien einer sozialen Marktwirtschaft. In: Korff u.a. (Hg.): Handbuch der Wirtschaftsethik. Bd. 2. Gütersloh 1999, S. 289–303, 289ff. 257 Vgl. hierzu und zum Folgenden Gerlach: Zuordnungsverhältnis, S. 846f. 258 Homann: Theoriestrategie, S. 23. 259 Vgl. Homann: Theoriestrategie, S. 11.
Das Zuordnungsverhältnis von Ethik und Ökonomik
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rungswissen anbieten für Situationen, in denen moralische Ansprüche gerade nicht in Vorteilskalküle transformiert werden können. Zwar erkennt Homann die Notwendigkeit eines solchen übergeordneten Rahmens durchaus an, doch verweigert er der Ethik (und im Übrigen auch jeder anderen Metatheorie) diese Funktion.260 Was Homann und seine Schüler vornehmen, ist also eine Zuordnung von Ökonomik und Moral, während die Ethik isoliert wird und als Gegenüber trotz des postulierten „Paralleldiskurses“ in Wirklichkeit gar nicht existiert. Im Konzept Homanns assimiliert die Ökonomik die Ethik in Gänze und übernimmt deren Aufgaben.261 2.7.2 Ethik als Ausgangsparadigma 2.7.2.1
Peter Ulrichs Konzept einer „Integrativen Wirtschaftsethik“
Der Schweizer Wirtschaftsethiker Peter Ulrich vertritt eine andere wirtschaftsethische Theorie und ist zugleich prominentester Kritiker der ordnungsethischen Konzeption Homanns und seiner Schüler. Ulrichs Konzept basiert ähnlich wie die ebenfalls einflussreichen Theorien Horst Steinmanns oder seines Schülers Albert Löhr auf dem Konzept der Diskursethik vornehmlich Jürgen Habermas’ und Karl-Otto Apels, das innerhalb der akademischen Diskussion der vergangenen Jahrzehnte eine wichtige Rolle spielte.262 Kennzeichnend für den wirtschaftsethischen Ansatz Peter Ulrichs ist die grundlegende gesellschaftskritische Diagnose, dass sich in der Moderne ein Rationalisierungsprozess herausgebildet habe, bei dem die „ökonomische Sachlogik“ in ihrer Ausprägung als „merkwürdig anonyme Sachzwanglogik“ in einen gravierenden Gegensatz zu den Anforderungen der ethischen Vernunft getreten sei.263 Diesem Auseinandertreten von ökonomischer Funktionslogik und ethisch verantwortbaren Folgen leiste die gegenwärtige „Mainstream Economics“ selbst Vorschub,
260 Vgl. Homann: Theoriestrategie, S. 19f. 261 Vgl. dazu auch Gerlach: Zuordnungsverhältnis, S. 848. 262 Vgl. Küpper: Business Ethics, S. 255f. Vgl. zu den Grundlagen der Diskursethik Karl-Otto Apel: Grenzen der Diskursethik? Versuch einer Zwischenbilanz. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 40 (1986), S. 3–31; vgl. zudem Karl-Otto Apel: Is the Ethics of the Ideal Communication Community a Utopia? On the Relationship between Ethics, Utopia and Critique of Utopia. In: Seyla Benhabib/Fred Dallmayr (Hg.): The Communicative Ethics Controversy. Cambridge, Mass. 1990, S. 23–59; vgl. ebenso Jürgen Habermas: Discourse Ethics: Notes on a Program of Philosophical Justification. In: Ders.: Moral Consciousness and Communicative Action. Cambridge, Mass. 1990, S. 43–115; vgl. ferner Jürgen Habermas (Hg.): Justification and Application. Remarks on Discourse Ethics. Cambridge, Mass. 1993; vgl. darüber hinaus grundlegend Jürgen Habermas: Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt a.M. 92006 (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 422). 263 Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 11. Vgl. dazu und zum Folgenden Gerlach: Zuordnungsverhältnis, S. 863f.
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indem sie sich als wertfreie reine Ökonomik verstehe und die ethisch-praktischen Probleme der gesellschaftlichen Ökonomie in nichts als ökonomischer ‚Systemrationalität‘ aufzuheben“ suche.264 Dieses Selbstverständnis beschreibt der Volkswirtschaftler Christian von Weizsäcker einem Glauben gleich: „Der Ökonom glaubt daran, dass Effizienz erwünscht ist.“265 Durch die „paradigmatische Beschränkung auf Kategorien ökonomischer Rationalität“ herrsche in dieser „reinen Ökonomik“ ein eklatanter Mangel an „unentbehrlichen philosophisch-ethischen Kategorien“, so Ulrich.266 An diesem Zustand seien die Wirtschaftswissenschaften nicht unschuldig: Bar jeder Einsicht in die Mehrdimensionalität humaner Rationalitätsperspektiven finde sich in jedem betriebs- und volkswirtschaftlichen Lehrbuch bis heute die Vorstellung, dass die ökonomische Idee vernünftigen Wirtschaftens, also die aus dem Erfahrungshorizont produktiver Arbeit stammende Vorstellung eines effizienten Umgangs mit knappen Gütern und Ressourcen, den Inbegriff von Rationalität oder Vernunft überhaupt darstelle.267 Da seit Beginn der Industriegesellschaft die Steigerung der wirtschaftlichen Effizienz und die damit verbundene Wohlstandsvermehrung als das entscheidende Prinzip menschlichen und gesellschaftlichen Fortschritts angesehen würden, seien die Ökonomen im Namen der ökonomischen Vernunft dazu bereit, „fast alle lebenspraktischen Folgen des entsprechend betriebenen ökonomischen Rationalisierungsprozesses“ in Kauf zu nehmen.268 Die verstärkte Einmischung der Philosophie als angewandte Ethik indes in die großen lebenspraktischen Diskussionen der Gegenwart begrüßt Ulrich ausdrücklich, doch reiche eine bloße Anwendung der Ethik auf die Sphäre des Wirtschaftens als das Andere oder als Korrektiv nicht aus.269 Dieser aus seiner Sicht verkürzten Ökonomik setzt Ulrich sein Konzept integrativer Wirtschaftsethik entgegen, mit dem „eine ethisch-vernünftige Orientierung im politisch-ökonomischen Denken“ erreicht werden könne. Das Konzept sei deshalb integrativ, weil die Ethik nicht von außen auf die Ökonomie angewandt werde, sondern weil die Normativität, die „in der ökonomischen ‚Sachlogik‘ immer schon drin“ sei, nur kritisch aufgedeckt werden müsse.270 Ein grundlegend verändertes Denken ist für Ulrich konstitutive Voraussetzung für eine ethisch-vernünftige Wirtschaftspraxis, in der die Wirtschaft wieder ihr Ziel, die Lebensdienlichkeit, erfüllt.271 Dem entspricht eine Vorstellung der Wirtschaft nicht als „Selbst-
264 Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 12. 265 C. Christian von Weizsäcker: Logik der Globalisierung. Göttingen 1999 (= Kleine Reihe V & R 4010), S. 5. 266 Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 13. 267 Vgl. Peter Ulrich: Zivilisierte Marktwirtschaft. Eine wissenschaftsethische Orientierung. Freiburg i.Br. u.a. 22005 (= Herder Spektrum 5579), S. 22. 268 Ulrich: Zivilisierte Marktwirtschaft, S. 23. 269 Vgl. Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 13. 270 Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 13; vgl. beinahe gleichlautend in Ulrich: Entgrenzte Marktwirtschaft, S. 45.
Das Zuordnungsverhältnis von Ethik und Ökonomik
235
zweck“, sondern als „Mittel für das gute Leben und das gerechte Zusammenleben freier und gleicher Bürger“.272 2.7.2.2
Vernunftethik des Wirtschaftens: Moralität und Moralprinzip im Ethikkonzept Peter Ulrichs
Damit sieht Ulrich das Wirtschaften in den Kontext der beiden klassischen ethischen Grundfragen gestellt. Aus dem Anspruch, „die Form des vernünftigen Denkens über wirtschaftsethische Grundfragen klären“ zu wollen, resultiert seine Absicht zur systematischen Erarbeitung und Vermittlung von wirtschaftsethischem Orientierungswissen.273 Die Sinnfrage entspricht nach Ulrich der aristotelischen Perspektive einer teleologischen Ethik, welche „unsere Wirtschaftsform auf die Wertorientierungen eines kulturellen Lebensentwurfs“ bezieht.274 Demgegenüber entspricht die Legitimationsfrage der kantischen Dimension deontologischer Ethik, die „unsere Wirtschaftsordnung ebenso wie die einzelnen Handlungsweisen unter das politisch-ethische Leitbild einer wohlgeordneten Gesellschaft“ aus freien und gleichen Bürgern stellt.275 Ein so verstandenes vernünftiges Wirtschaften bedürfe unabdingbar einer Wertorientierung und normativer Vorgaben.276 Dieses Postulat richte sich nicht gegen einen effizienten Umsatz mit knappen Ressourcen und Gütern, sondern kläre grundsätzlich, „wofür und für wen eine lebensdienliche (Markt-) Wirtschaft effizient funktionieren soll“ – obschon die Kategorie der Effizienz für ihn ein systematisch nachrangiges Kriterium darstellt.277 Wirtschaftsethik wird so von Ulrich als „die Interdisziplin“ verstanden, die „das ökonomische ‚Werteschaffen‘ hartnäckig hinsichtlich seiner Vernünftigkeit im Lebenszusammenhang der Menschen reflektiert“ im Gegensatz zur „Mainstream Economics“, die das Wirtschaften nurmehr aus der Perspektive der marktwirtschaftlichen Systemlogik betrachte.278 In dieser Lo271 Vgl. Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 11f., 203f. Mit Bezug auf den Theologen und Sozialethiker Arthur Rich sieht Ulrich nicht in der „Schaffung von Marktwerten […] das entscheidende Mass der Wirtschaft“, sondern „allen Sachzwängen zum Trotz“ die „Lebensdienslichkeit“ (vgl. oben). (Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 204.) Vgl. Rich: Wirtschaftsethik II, S. 23; im Anschluss an den theologischen Sozialethiker Emil Brunner: Emil Brunner: Das Gebot und die Ordnungen. Entwurf einer protestantisch-theologischen Ethik [1932]. Zürich 41978, S. 387. 272 Ulrich: Entgrenzte Marktwirtschaft, S. 41; vgl. ähnlich auch Ulrich: Der entzauberte Markt, S. 9; sowie Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 204; vgl. dazu auch Dietrich Burger/Claudia Mayer: Ernst machen mit nachhaltiger Entwicklung. Die Rolle von Sozial- und Ökostandards. Eschborn 2003, S. 43f., URL: http://www.gtz.de/de/dokumente/de-ernstmachen-mit-nachhaltiger-entwicklung- neu-gesamt.pdf [aufgerufen am 27.12.2009]. 273 Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 14. 274 Ulrich: Entgrenzte Marktwirtschaft, S. 41. 275 Ulrich: Entgrenzte Marktwirtschaft, S. 41f. 276 Vgl. Ulrich: Entgrenzte Marktwirtschaft, S. 42. 277 Ulrich: Entgrenzte Marktwirtschaft, S. 42f.; vgl. ähnlich Ulrich: Zivilisierte Marktwirtschaft, S. 23. 278 Ulrich: Entgrenzte Marktwirtschaft, S. 43.
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Das Verhältnis von Ethik und Ökonomik
gik zähle allein die rein ökonomische Effizienz, weshalb sie sich „immer mehr menschlichen Sinnorientierungen und normativen Legitimitätsvorgaben“ entziehe und sich die Lebensbedingungen der Menschen und die Realpolitik untertan mache.279 Diese Umkehrung des Primats der Ethik, auch der politischen Ethik, diesen Kotau vor der Logik des Marktes, hat der Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi bereits 1944 beschrieben: „Die Wirtschaft ist nicht mehr in die sozialen Beziehungen eingebettet, sondern die sozialen Beziehungen sind in das Wirtschaftssystem eingebettet.“280 Die Mainstream-Ökonomik betreibe die idealtypische Modellierung der „voranschreitenden Durchökonomisierung aller Lebensbereiche, der ganzen Welt und auch des Zeitgeistes“ ins Reine. 281 Nicht zuletzt deshalb mehrten sich die Zweifel an der lebenspraktischen Vernünftigkeit des ökonomischen Rationalisierungsprozesses282, wie sie schon Max Horkheimer in seiner „Kritik der instrumentellen Vernunft“ geäußert hat: „Wie sie in unserer Zivilisation verstanden und praktiziert wird, tendiert die fortschreitende Rationalisierung dazu, eben jene Substanz der Vernunft zu vernichten, in deren Namen für den Fortschritt eingetreten wird.“283 Dem setzt Ulrich seine „Vernunftethik des Wirtschaftens“ entgegen, als die sich sein Konzept einer integrativen Wirtschaftsethik versteht, das „immer auch vorbehaltlose und allseitige Ideologiekritik“ sein müsse.284 Seine „Kritik der ‚reinen‘ ökonomischen Vernunft“ versteht er als pointiertes Bekenntnis zur Tradition kantischer Vernunftethik, das zugleich die „Erneuerung des ethischen Fundaments einer zeitgemäßen Politischen Ökonomie“ anstrebe.285 Damit sieht er sich in die Tradition der ökonomischen Klassik eingereiht, die seiner Auffassung von den Aufgaben der Ökonomik näher komme als deren Ausgestaltung in der Gegenwart, die sich nicht mehr mit grundlegenden Wertfragen beschäftige.286 Dementsprechend kennzeichnet er seinen Ansatz unter Rekurs auf Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten von 1785 als „humanistische Vernunftethik“, die „als Teil einer aufgeklärten ‚Kultur der Vernunft‘“ die „Reflexion auf die allgemeinen, für alle Menschen ‚guten Willens‘ einsichtigen normativen Voraussetzungen des guten Lebens und gerechten Zusammenlebens freier und mündiger Personen“ betreibe.287 Kantisch mutet auch seine Formulierung seiner damit verknüpften Zielsetzung an: „In der Möglichkeit, die vorgefundenen Ver279 Ulrich: Entgrenzte Marktwirtschaft, S. 43f. 280 Karl Polanyi: The great transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen. Frankfurt a.M. 1978 (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 260). 281 Ulrich: Entgrenzte Marktwirtschaft, S. 44. 282 Vgl. Ulrich: Zivilisierte Marktwirtschaft, S. 23. 283 Max Horkheimer: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. Aus d. Vorträgen u. Aufzeichnungen seit Kriegsende. Hg. v. Alfred Schmidt. Frankfurt a.M. 1967, S. 14. 284 Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 14. 285 Peter Ulrich: Der entzauberte Markt. Eine wirtschaftsethische Orientierung. Freiburg i. Br. u.a. 2002, S. 20ff. 286 Vgl. Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 17.
Das Zuordnungsverhältnis von Ethik und Ökonomik
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hältnisse nicht einfach kritiklos hinzunehmen, sondern sie auf ihre ethisch-vernünftige Begründbarkeit zu hinterfragen, kommt die vornehmste Aufgabe moderner Vernunftethik zum Ausdruck: die Freiheit des Menschen zur praktischen Selbstbestimmung zum Ausdruck zu bringen.“288 Seinen vernunftethischen Ansatz hat Ulrich im Wesentlichen in der Rezeption und Auseinandersetzung mit der von Apel und Habermas entwickelten Diskursethik gewonnen.289 Die Selbstkennzeichnung seines Ansatzes dient einerseits der Abgrenzung gegenüber einer sich auf metaphysische oder religiöse Annahmen berufenden Ethik, dient zum anderen zur Angabe seiner grundlegenden anthropologischen Annahme, der humanen Moralität. Moralität ist für Ulrich eine drei Aspekte umfassende Disposition des Menschen: den Selbstanspruch auf moralische Selbstbestimmung (Autonomie), die moralische Empfindsamkeit (affektives Moment) und das moralische Urteilsvermögen (kognitives Moment).290 Die Moralität umfasst ein affektives und ein kognitives Moment und kommt in einem moralischen Bewusstsein zum Ausdruck. Als Disposition ist sie nicht naturhaft gegeben, sondern muss durch einen gelingenden Sozialisationsprozess erworben und ausgeformt werden: Konkret wird diese mögliche Anlage im „guten Willen zur autonomen moralischen Selbstverpflichtung aus Einsicht in deren menschliche Bedeutung für uns selbst und für andere“.291 Moralität und guter Wille stellen für Ulrich keine idealen Postulate dar, weil ihre Ausbildung im Rahmen der Sozialisation in der Regel zu erwarten sind.292 Ulrich bezieht sich dabei auf Ernst Tugendhat, wonach die Sozialisation dazu führe, dass Menschen in ihrer Identität ein Interesse mitbringen, sich als Mitglieder einer Gemeinschaft zu verstehen und nach deren moralischen Grundsätzen handeln zu wollen.293 Moralität ist nach Ulrichs Verständnis eine kulturübergreifende Kategorie, während Moral und Ethos nur in kulturspezifischen Formen auftreten.294 Moral erscheint als die in einer Gemeinschaft überwiegend geltenden Regeln, die ein solidarisches Miteinander ermöglichen, während Ethos das subjektive moralische Selbstverständnis von Personen beschreibt, das eine bestimmte Grundhaltung (Tu-
287 Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 21; 25; Peter Ulrich: Transformation der ökonomischen Vernunft. Fortschrittsperspektiven der modernen Industriegesellschaft. Bern u.a. 31993, S. 275; vgl. zum Rückgriff auf die Kantische Vernunftvorstellung Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten [1785]. In: Ders.: Werkausgabe. Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Bd. 7. Frankfurt a.M. 41978, S. 7–102, 22. 288 Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 14. 289 Vgl. hierzu und zum Folgenden Gerlach: Zuordnungsverhältnis, S. 864f. 290 Vgl. Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 43, 23f. 291 Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 25. 292 Vgl. Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 25. 293 Vgl. Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 25; vgl. dazu Ernst Tugendhat: Vorlesungen über Ethik. Frankfurt a.M. 31995 (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1100), S. 96f. 294 Vgl. Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 30ff.; vgl. hierzu und zum Folgenden Gerlach: Zuordnungsverhältnis, S. 864f.
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Das Verhältnis von Ethik und Ökonomik
gend) und eine Idee des guten Lebens impliziert. 295 Ethos und Moral sind insofern wechselseitig miteinander verschränkt, als das Ethos den motivationalen Hintergrund für ethisches Handeln bildet, während die Moral die normativen Verbindlichkeiten begründet, die einzuhalten sind, innerhalb derer aber eine individuelle Selbstverwirklichung im Sinne des personalen Ethos freigestellt ist. Bezüglich ihrer Begründungsbedürftigkeit unterscheiden sie sich jedoch, da verschiedene Ethosformen durchaus nebeneinander bestehen können und nicht eigens intersubjektiv normativ begründet werden müssen noch können. Nur die aus Ethosformen abzuleitenden moralischen Regeln des Zusammenlebens müssen nach Ulrich durch eine kritische Ethik reflektiert werden, um ein gerechtes und solidarisches Zusammenleben zu ermöglichen. Den Maßstab dafür bildet ein kulturübergreifendes, durch allgemeinmenschliche Vernunft begründetes Moralprinzip, das sich aus der normativen Logik der Zwischenmenschlichkeit ableitet.296 Dieses ist ein Vernunftprinzip, das keiner extern vorgegebenen ethischen Norm bedarf, sondern lediglich die in einer moralischen Gemeinschaft geltenden Beziehungen in ihrem ethischen Gehalt transparent macht.297 Auf diese Weise begründet die Vernunft-ethik die „rational nicht abweisbaren normativen Verbindlichkeiten einer kulturübergreifenden humanistischen Minimalethik“ als „mögliche Ausgangsidee eines für alle Menschen als gültig und verbindlich einsehbaren, da vernünftig begründbaren Standpunkts der Moral“.298 Die Autonomie des Menschen ist bei diesem Moralprinzip nicht durch externe Normen eingeschränkt, setzt aber die von Ulrich postulierte, durch Sozialisation ausgebildete Moralität des Menschen voraus.299 Grundlegende Bedeutung für die Begründung seines Moralprinzips hat die Diskursethik. 2.7.2.3
Die Diskursethik als Grundlage prozessorientierter Wirtschaftsethik
Wie oben bereits knapp beschrieben bildet das auf Habermas und Apel zurückgehende Konzept der Diskursethik die Basis für die wirtschaftsethischen Ansätze Peter Ulrichs, Horst Steinmanns sowie dessen Schülern.300 Die Ansätze Ulrichs und Steinmanns gelten als formale wirtschaftsethische Ansätze, die sich mit der Entwicklung von Regeln für den Prozess der Normenfindung befassen. Dass die Betroffenen an der Bestimmung der Normen partizipieren, ist für beide Konzepte
295 Vgl. wie auch zum Folgenden Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 30–36. 296 Vgl. Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 44. 297 Vgl. Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 49. 298 Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 49. 299 Vgl. Gerlach: Zuordnungsverhältnis, S. 865. 300 Vgl. dazu sowie zum Folgenden Aßländer: Philosophia, S. 331.Vgl. auch Küpper: Business Ethics, S. 253ff.
Das Zuordnungsverhältnis von Ethik und Ökonomik
239
charakteristisch, weshalb Kreikebaum die beiden prominenten Positionen als kommunikationsorientierte Ansätze bezeichnet.301 2.7.2.3.1
Der Ansatz Horst Steinmanns
Horst Steinmann und seine Schüler sehen im Anschluss an Habermas und Friedrich Kambartel in der Unvoreingenommenheit, der Nicht-Persuasivität, also dem Verzicht auf Appelle, der Zwanglosigkeit und der Sachverständigkeit die Kriterien eines idealen Dialogs.302 Ihr Konzept einer Dialogethik für Unternehmungen verstehen sie als „prozessuale Anleitung zur Entwicklung von Normen“.303 Die Wirtschafts- und Unternehmensethiktheorie Horst Steinmanns nimmt vor allem Bezug auf die konstruktivistischen Philosophen Paul Lorenzen und Oswald Schwemmer.304 Steinmann adaptiert deren Ideen eines transsubjektiven Diskurses, nach dem die Normen in einem Kommunikationsprozess durch Argumentation in einer Gruppe oder Gemeinschaft installiert und angewendet werden, auf seine Wirtschaftsethikkonzeption.305 Im Sinne einer dialogischen Ethik fordert er eine argumentative Verständigung im Dialog zwischen den Betroffenen. Horst Steinmann und Albert Löhr schlagen dementsprechend eine „herrschaftsfreie“ Verständigung über konfligierende Ansprüche als Lösung ökonomisch-sozialer Probleme im Rahmen von „ad-hoc“-Diskursen vor.306 Normatives Ziel des Ansatzes, der „nicht auf Autoritäten rekurriert, sondern nur auf die Vernunft vertraut“, ist es, „die pluralis-
301 Vgl. dazu auch Hans-Ulrich Küpper/Arnold Picot: Ethische Aspekte wirtschaftlichen Handelns im Rahmen von Unternehmungen. Gegenstand der Unternehmensethik. In: Wilhelm Korff u.a. (Hg.): Handbuch der Wirtschaftsethik. Bd. 3: Ethik wirtschaftlichen Handelns. Gütersloh 1999, S. 132–148, 139f.; vgl. Hartmut Kreikebaum: Grundlagen der Unternehmensethik. Stuttgart 1996 (= UTB für Wissenschaft/Große Reihe), 132ff. 302 Horst Steinmann/Albert Löhr: Grundlagen der Unternehmensethik. 2., überarb. und erw. Aufl. Stuttgart 1994 (= Sammlung Poeschel 131), S. 78ff.; vgl. dazu Küpper/Picot: Ethische Aspekte, 142. 303 Steinmann/Löhr: Grundlagen, S. 84. 304 Vgl. Paul Lorenzen: Philosophische Fundierungsprobleme einer Wirtschafts- und Unternehmensethik. In: Horst Steinmann/Albert Löhr (Hg.): Unternehmensethik. Stuttgart 21992, S. 35–67; sowie grundlegend Paul Lorenzen/Oswald Schwemmer: Konstruktive Logik, Ethik und Wissenschaftstheorie. Mannheim u.a. 1973 (= B. I.-Hochschultaschenbücher 700); vgl. grundlegend zu Steinmanns Ethik-Ansatz Steinmann/Löhr: Grundlagen. 305 Vgl. Küpper: Business Ethics, S. 255; vgl. zur Abgrenzung zwischen Habermas und den Vertretern des Konstruktivismus und deren unterschiedlichem Erkenntnisinteresse Rüdiger Pieper: Diskursive Organisationsentwicklung. Ansätze einer sozialen Kontrolle von Wandel. Berlin u.a. 1988, S. 213–228. 306 Horst Steinmann/Albert Löhr: Einleitung: Grundfragen und Problembestände einer Unternehmensethik. In: Diesn. (Hg.): Unternehmensethik. Stuttgart 21991, S. 14; Steinmann/Löhr: Grundlagen, S. 102f; Horst Steinmann/Albert Löhr: Zehn Jahre Unternehmensethik – Eine Bestandsaufnahme der Kernprobleme. In: Karl Albrecht Schachtschneider (Hg.): Wirtschaft, Gesellschaft und Staat im Umbruch – Festschrift der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg 75 Jahre nach der Errichtung der Handelshochschule Nürnberg. Berlin 1995, S. 225–241, 226f.; vgl. auch Aßländer: Philosophia, S. 328f.
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Das Verhältnis von Ethik und Ökonomik
tischen Lebensformen in friedlicher Weise verträglich zu machen“.307 Danach ist im Rahmen der freien Marktwirtschaft auch das Ziel der Profitmaximierung ethisch legitim. So erkennt Steinmann an, dass Unternehmen Profit erwirtschaften müssen, solange diese Ziele nicht mit dem von ihm verfolgten Friedensprinzip in Konflikt geraten.308 Ulrich nimmt demgegenüber, wie zu zeigen sein wird, eine weiter reichendere und radikalere Position ein. 2.7.2.3.2
Diskursethische Grundlagen der integrativen Wirtschaftsethik
Die Begründung des oben dargestellten Moralprinzips Peter Ulrichs gelingt überhaupt erst aus der Diskursethik als moderner Theorie der Moral, deren Explikation des allgemeinen Moralprinzips nach Auffassung Ulrichs eine hinreichende Begründung enthält.309 In seinen Augen bietet die Diskursethik die „bisher elaborierteste Explikation des vernunftethischen Standpunkts als der normativen Logik der Zwischenmenschlichkeit“, die konsequent als universale argumentative Reziprozität sich wechselseitig als mündig anerkennender Bürger entfaltet werde, wodurch sie insbesondere auch weitreichende kritisch-normative Orientierungskraft auf der Ebene personaler Verantwortung gewänne.310 Ihr Spezifikum ist die Deutung der gegenseitigen Anrede als wesentliches Merkmal der Struktur des Zusammenlebens sowie die Offenlegung des impliziten ethischen Gehalts des rationalen Argumentierens. Dabei lautet Ulrichs Hauptargument unter Bezug auf Apel, die normative Bedingung des Argumentierens sei die „wechselseitige Anerkennung von Gesprächspartnern als mündige (münd-ige) Personen“.311 Genauso liegt dem aber das Diktum Adornos zugrunde, dass derjenige, der seinen Mund zu vernünftigem Reden gebrauche, indem er „für sich selbst spricht, weil er für sich selbst gedacht hat und nicht bloß nachredet“, eine mündige Person sei.312 Die Grundlage dafür hat Immanuel Kant gelegt, der die Unabhängigkeit des eigenen, an selbst gewählten Grundsätzen orientierten moralischen Urteils als Autonomie bezeichnet und als konstitutives Vermögen „vernünftiger Wesen“ bestimmt hat.313 Der Reflexionsweg zur Mündigkeit und zur autonomen Orientierung im Denken wird von 307 Steinmann/Löhr: Grundlagen, S. 84. 308 Vgl. hierzu und zum Folgenden Küpper: Business Ethics, S. 255f.; vgl. zur Begründung des Friedensprinzip exemplarisch Horst Steinmann: Unternehmensethik und Globalisierung – Globale Regeln und private Akteure. In: Ludger Heidbrink u.a. (Hg.): Verantwortung als marktwirtschaftliches Prinzip. Zum Verhältnis von Moral und Ökonomie. Frankfurt a.M. u.a. 2008, S. 145–174, 148f. 309 Vgl. Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 57, 78ff; vgl. ebf. Ulrich: Transformation, 15f., 269ff.; vgl. hierzu und zum Folgenden Gerlach: Zuordnungsverhältnis, S. 265f. 310 Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 94. 311 Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 79; mit Bezug auf Karl-Otto Apel: Diskurs und Verantwortung. Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral. Frankfurt a.M. 1988, S. 101. 312 Theodor W. Adorno: Kritik. In: Ders.: Kleine Schriften zur Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1971, S. 10–19, 10. 313 Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 89.
Das Zuordnungsverhältnis von Ethik und Ökonomik
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Kant als „Aufklärung“ oder eben auch als „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ bezeichnet.314 Dementsprechend ist bei Ulrich autonomes, aufgeklärtes Denken und mündiges Reden in dem Sinne kritisch, als es sich vorbehaltlos den Ansprüchen der argumentativen Begründung der eigenen Position stelle.315 Wer argumentiert, der erkennt auch an, dass Menschen als freie Subjekte ansprechbar sind. Da darin potentiell alle Menschen eingeschlossen sind, besteht die Idee einer idealen Argumentationssituation. Dieser Ansatz ist für Ulrich begründet, da er nicht bestreitbar sei, ohne in einen pragmatischen Selbstwiderspruch zu geraten.316 Das Moralprinzip, also die universale Reziprozität moralischer Ansprüche, lautet in diskursethischer Interpretation, dass in der „unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft aller mündigen Personen guten Willens normative Geltungsansprüche gegenüber jedermann argumentativ begründbar und insofern konsensfähig sein sollen“.317 Entgegen einem landläufigen Missverständnis dürfe die Diskursethik nicht konkretistisch missverstanden werden als eine besondere materielle Ethik mit einem speziellen Moralprinzip in Form eines „Konsensprinzips“.318 Sie ist kein gesellschaftliches Koordinationsprinzip, sondern eine besondere Ausformung der Explikation des allgemeinen moral point of view in der Form des idealen Diskurses.
314 Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? [1784]. In: Ders.: Werkausgabe. Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik. Bd. 11. Frankfurt a.M. 4 1982, S. 51–66, 53. 315 Vgl. Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 14. 316 Ein solcher pragmatischer Selbstwiderspruch bestünde darin, dass man durch das Bestreiten rational argumentiert und das Gegenüber zu überzeugen versucht und damit durch die Anerkennung des anderen als Gesprächspartner und so auch als Person geradewegs das Hauptargument der Diskursethik bestätigt. Vgl. dazu Gerlach: Zuordnungsverhältnis, S. 865f. 317 Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 80f. In der Diskursethik gehe es – wie stets in der Ethik – allein um praktische Ansprüche. Diese erhöben eine normative Richtigkeitsbehauptung, deren ethische Gültigkeit zu rechtfertigen ist – im Gegensatz zu theoretischen Geltungsansprüchen, die sich auf eine Tatsachenbehauptung bezögen, deren Wahrheit zu prüfen ist. (Vgl. Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 81.) 318 Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 81. Das konkretistische Missverständnis der Diskursethik zeige sich etwa in der Rede von angeblichen „rigorosen diskursethischen Forderungen“ dahingehend, dass als gesellschaftliches Organisationsprinzip unmittelbar „eine vorwiegend diskursgestützte Koordination“ postuliert werde. (Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 81; die Zitate stammen aus Margit Osterloh: Vom Nirwana-Ansatz zum überlappenden Konsens. Konzepte der Unternehmensethik im Vergleich. In: Volker Arnold u.a. (Hg.): Wirtschaftsethische Perspektiven. Bd. 3: Unternehmensethik, Verteilungsprobleme, methodische Ansätze. Berlin 1996 (= Schriften des Vereins für Socialpolitik, Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, N.F. 228,3), S. 203–229, 214; sowie Margit Osterloh u.a.: Konzepte der Wirtschafts- und Unternehmensethik. Das Beispiel der Brent Spar. In: Die Unternehmung 49 (1995), S. 321–338, 332; dazu existiert eine kritische Replik Ulrichs Peter Ulrich: Brent Spar und der „moral point of view“. Reinterpretation eines unternehmerischen Realfalls. In: Die Unternehmung 50 (1996), S. 27–46.) An eine auf diese Weise fehlgedeutete Konsensethik könne man den Vorwurf des „Nirwana-Approach“, also der Arbeit mit zu starken Idealisierungen durchaus richten, doch verfehle dieser die Diskursethik. (Vgl. Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 81.)
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Das Verhältnis von Ethik und Ökonomik
Die Diskursethik expliziere den Vernunftstandpunkt der Moral nicht mehr wie bei Kant in der Kategorie der „reinen praktischen Vernunft“, sondern in der einer universalen transzendentalen Sprachpragmatik.319 Im Unterschied zu Kants Transzendentalphilosophie werde die metaphysische Idee einer absoluten Vernunft und eines objektiven moralischen Gesetzes nicht mehr vorausgesetzt.320 Die Diskursethik nimmt nach Ulrich den immer nur praktisch zu führenden Diskurs nicht theoretisch vorweg, sondern hält kritisch-regulativ fest, Menschen als von moralischen Fragen betroffene, argumentierende und ansprechbare Subjekte zu sehen.321 Die diskursethische Formulierung des Moralprinzips konkretisiert Ulrich durch vier „normative Leitideen“: „(1) die gebotene verständigungsorientierte Einstellung aller Beteiligten, (2) deren vorbehaltloses Interesse an legitimem Handeln, (3) ein differenziertes Konzept von Verantwortungsethik sowie last not least (4) eine politisch-ethische Leitidee vom ‚Ort‘ der Moral in einer modernen Gesellschaft“.322 Diese Leitideen verdeutlichen, dass Ulrich mit dem diskursethischen Ansatz gerade kein pragmatisches Konzept einer normativen Institutionentheorie verfolgt, sondern eine „regulative Idee ethisch-rationaler Politik: die regulative Idee der politischen Ordnung als zwangloser [sic!] Verständigungsordnung mündiger Staatsbür-
319 Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 81. Ulrich bezieht sich hierbei auf Karl-Otto Apel: Transformation der Philosophie. Bd. 2: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft. Frankfurt a.M. 1976 (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 165), S. 409.), der damit an die Kantische Tradition der empirisch voraussetzungslosen „transzendentalen Reflexion“ anknüpft und den Anspruch der „Letztbegründung“ der Diskursethik erhebt. Habermas zieht im Gegensatz dazu den Begriff der Universal- oder Formalpragmatik vor und lehnt die Qualifikation als transzendentale Letztbegründung ab. Vgl. Jürgen Habermas: Was heißt Universalpragmatik? In: Ders.: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt a.M. 1984, S. 353–440; sowie Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung. Frankfurt a.M. 41981, S. 199, 440ff. 320 Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 81f. 321 Vgl. Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 82; vgl. hierzu auch Gerlach: Zuordnungsverhältnis, S. 866. 322 Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 82. Die verständigungsorientierte Einstellung zeichnet sich dadurch aus, dass sie auf rationale Argumentation setzt. Sie basiert auf der dreigliedrigen Differenz von instrumentellem, strategischem und kommunikativem Handeln. Das Interesse an legitimem Handeln schließt das Interesse am eigenen Erfolg nicht aus, sondern setzt es gerade als Gegenstand ethischer Verantwortung und kommunikativer Auseinandersetzung voraus, wenngleich das Primat der intersubjektiv ausgewiesenen Legitimität vor dem reinen Streben nach Erfolg gilt. Die dreistufige Verantwortungkonzeption unterscheidet zwischen verschiedenen Diskurssituationen: dem offenen Diskurs, dem stellvertretenden Diskurs oder Situationen, in denen aus pragmatischen Gründen keine Verständigungsgegenseitigkeit besteht, in denen jedoch trotzdem eine einseitige ethische Verantwortung getragen werden muss und eine politische Mitverantwortung zur Herstellung möglichst entschränkter Kommunikationsverhältnisse besteht. Der öffentliche Diskurs als „Ort“ der Moral in der modernen Gesellschaft ist zwar kein Ort des idealen Diskurses, ist jedoch systematisch notwendig, um die Ausgestaltung aller notwendigen Institutionen einer Gesellschaft zum Gegenstand kritischer Reflexion zu machen. Vgl. dazu Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 82ff.; sowie bes. Gerlach: Zuordnungsverhältnis, S. 866f.
Das Zuordnungsverhältnis von Ethik und Ökonomik
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ger“ ausdrückt und begründet.323 Diese Leitidee konkretisiert sich in den Persönlichkeits-, Freiheits- und Partizipationsrechten der modernen Demokratien: Dies geschieht dergestalt, dass „dem allgemeinen Vorrang konsensueller“, also auf dem gesellschaftlichen Basiskonsens (in Form der Verfassung) fußender „Legitimation vor dem privaten Erfolgsstreben“, der „institutionenethische Primat universaler Kommunikationsrechte und -chancen aller mündiger Bürger vor allen weiteren Verfügungsrechten einzelner Akteure“ entspricht.324 Die Diskursethik zielt daher auf die Umsetzung als Prozess- oder Verfahrensethik. 2.7.2.3.3
Peter Ulrich und die Modelle angewandter (Diskurs-)Ethik
Obwohl Ulrichs Theorie einer „integrativen Wirtschaftsethik“ mit Steinmann und seinen Schülern die diskursethischen Grundlagen teilt, unterscheiden sich doch einige seiner Ansichten signifikant von ihnen. In Teilen seiner Theorie grenzt er sich sogar ausdrücklich von den Konzepten Habermas’ und Apels ab. In besonderer Weise stört sich Ulrich an deren jüngeren Vorschlägen zur „Anwendung der Diskursethik“.325 Das von Apel und Habermas in ihren neueren Arbeiten ins Spiel gebrachte Anwendungsmodell der Diskursethik wirft nach Meinung Ulrichs erhebliche Probleme auf.326 Sowohl Habermas als auch Apel haben seit den späten 1980er Jahren – sicherlich auch unter dem Einfluss der Herausbildung verschiedener Bereichsethiken – verstärkt auf ein Anwendungsproblem ihrer Theorie hingewiesen. Habermas schlägt deshalb eine Unterscheidung zwischen Anwendungsdiskursen und Begründungsdiskursen vor.327 Dementgegen will Ulrich nicht systematisch zwischen Begründungs- und Anwendungsdiskurs unterschieden wissen, da es schließlich in jedem Diskurs „um die argumentative Verständigung über gute Gründe für alternative Handlungsvorschläge“ ginge.328 Legitimationsdiskurse seien „immer 323 Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 94; vgl. überdies wie auch zum Folgenden Gerlach: Zuordnungsverhältnis, S. 866f. 324 Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 94; vgl. dazu ähnlich auch Ulrich: Transformation, S. 305ff., 371ff. 325 Karl-Otto Apel u.a.: Vorwort. In: Diesn. (Hg.): Zur Anwendung der Diskursethik in Politik, Recht und Wissenschaft. Frankfurt a.M. 1992, S. 7. 326 Vgl. Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 98–105, hier 98. 327 Vgl. Jürgen Habermas: Erläuterungen zur Diskursethik. Frankfurt a.M. 1991 (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 975), S. 85, 95ff., 137ff. Habermas vertritt darin die These, Anwendungsdiskurse erforderten „andere Informationen und andere Grundsätze als Begründungsdiskurse“ und zwar ein zusätzliches „Prinzip der Angemessenheit und der Erschöpfung aller relevanten Kontextmerkmale“. (So Habermas: Erläuterungen, S. 95f.) Apel macht ein spezifisches „geschichtsbezogenes Anwendungsproblem der Diskurstethik“ aus. (Vgl. Apel: Diskurs und Verantwortung, S. 110ff.) 328 Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 99; vgl. dazu auch Ulrich Thielemann: Integrative Wirtschafts- und Unternehmensethik als Reflexion des spannungsreichen Verhältnisses von Einkommensstreben und Moral. Zum Verhältnis von Wirtschaftsethik und philosophischer
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schon ‚Anwendungsdiskurse‘“.329 Ulrich folgert, dass es die Vernunftethik „in konkreten Handlungssituationen immer nur mit der vorbehaltlosen Begründung situationsgerechter Handlungsorientierungen vom Standpunkt der Moral aus zu tun“ habe, nicht aber mit pragmatischen Problemen der Anwendung oder der Implementierung vorweg begründeter Handlungsorientierungen, weshalb es keine Verantwortungsprobleme geben könne, „die ausserhalb diskursiv zu lösender Begründungsprobleme definierbar wären“.330 Doch nicht nur das Anwendungsmodell der Diskursethik wird von Ulrich verworfen. In gleicher Weise kritisiert er das Modell einer Wirtschaftsethik als angewandte Ethik unter wirtschaftlichen Bedingungen. Das Verständnis von Wirtschaftsethik als angewandte Ethik beruhe auf der Annahme, dass der Praxisbereich Wirtschaft, die Ökonomie, ebenso wie die ihn modellierende Wirtschaftstheorie, die Ökonomik, durch eine von normativen Ansprüchen unberührte, wertfreie oder zumindest ethisch neutrale ökonomische Sachlogik konstituiert sei.331 Ein solches „Komplementaritätssystem“332, dem eine „Zwei-Welten-Konzeption von wertfreier Ökonomik und ausserökonomischer Wirtschaftsethik“ zugrunde liege, lasse sich jedoch nicht auf die Wirtschaftsethik übertragen.333 Die Wirtschaftsethik sieht er nicht – vergleichbar mit anderen Bereichsethiken – als klassische Bindestrich-Ethik im Sinne eines „praxisorientierte[n] Kompensationsphänomen[s]“, das nur zum Füllen der von den Fachdisziplinen bezüglich der ethischen Dimension praktischer Probleme hinterlassenen Lücken herangezogen (Diskurs-)Ethik. St. Gallen 1994 (= Beiträge und Berichte des Instituts für Wirtschaftsethik), S. 1ff.; sowie gleichlautend Peter Ulrich: Wie liberal ist die Diskurstethik? Der ethische Universalismus und die Freiheit der Andersdenkenden. Postskriptum. In: Günther Ortmann: Formen der Produktion. Organisation und Rekursivität. Opladen 1995, S. 241–249, 247. 329 Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S.99. Eine Trennung von Begründung und Anwendung mache allenfalls in Bezug auf Normen Sinn. Habermas’ und Günthers systematischen Fehler erkennt er in dem Umstand, dass sie den Fall der Begründung allgemeiner Normen und ihrer Anwendung in konkreten Situationen als paradigmatisch für moralische Diskurse schlechthin betrachten. Dies sei dem grundlegenden Problem der diskursiven Klärung der moralischen Rechte von Personen und dementsprechender Fragen legitimen Handelns nicht angemessen. 330 Ulrich, S. 101; entgegen Apel: Diskurs und Verantwortung, S. 121. 331 Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 102; unter Bezug auf den diskursethischen Ansatz des ApelSchülers Böhler. Vgl. Dietrich Böhler: Über Diskursethik und (Markt-) Wirtschaftstheorie. Bemerkungen zu Brune und zu Homann/Blome-Drees. In: Jens Peter Brune u.a. (Hg.): Moral und Sachzwang in der Marktwirtschaft. Setzen ökonomische „Sachzwänge“ der Anwendung moralischer Normen legitime Grenzen? Eine Abhandlung und kritische Beiträge mit dem Ziel, den wirtschaftsethischen Diskurs zu lernen. Münster u.a. 1995 (= Ethik und Wirtschaft im Dialog 8), S. 125–143, S. 129f. 332 In kritischer Absicht in Karl-Otto Apel: Die Konflikte unserer Zeit und das Erfordernis einer ethisch-politischen Grundorientierung. In: Ders. u.a. (Hg.): Funk-Kolleg Praktische Philosophie, Ethik/Reader. Frankfurt a.M. 1980, S. 267–292, S. 297f. 333 Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 102; vgl. zudem Ulrich: Transformation der ökonomischen Vernunft, S. 343f; vgl. dazu eingehend Peter Ulrich: Die Weiterentwicklung der ökonomischen Rationalität – Zur Grundlegung der Ethik der Unternehmung. In: Bernd Biervert u.a. (Hg.): Ökonomische Theorie und Ethik. Frankfurt a.M. u.a. 1987, S. 122–149.
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werde.334 Denn in so einem Fall komme der Ethik nurmehr die Aufgabe zu, als gewissermaßen externe Ergänzung als „Hüterin der Moral“ im Anwendungszusammenhang einer außerethischen, wissenschaftlichen Sachlogik zu fungieren und die moralischen Grenzen der zulässigen Anwendung des jeweiligen Sachwissens zu reflektieren.335 Der Vorsitzende des Forums für Wirtschaftsethik und Wirtschaftskultur der Deutschen Gesellschaft für Philosophie, Peter Koslowski, etwa fasst Wirtschaftsethik im Sinne einer „Ethik als Korrektiv von Ökonomieversagen“ auf.336 Einer solchen Sichtweise widerspricht Ulrich entschieden: Die Notwendigkeit von Ethik 334 Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 97. 335 Vgl. hierzu und zum Folgenden Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 102. 336 Peter Koslowski: Prinzipien der ethischen Ökonomie. Grundlegung der Wirtschaftsethik und der auf die Ökonomie bezogenen Ethik. Tübingen 1988, S. 31ff; sowie Peter Koslowski: Grundlinien der Wirtschaftsethik. In: Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften 109 (1989), S. 345–383, 353ff; vgl. dazu ebf. wie zum Folgenden Gerlach: Zuordnungsverhältnis, S. 858–862. Gerlach weist jedoch darauf hin, dass Koslowski mit seinem Konzept keine schlichte „Verkürzung der Wirtschaftsethik auf eine (korrumpierbare) Anwendungsethik für Konfliktfälle“ vornehme, sondern den weltanschaulichen Horizont wie die ontologische Dimension der Ethik und der Ökonomik offen halte, obschon die Reichweite dieses Anspruchs zugleich auch Schwäche seines Konzepts sei. (Gerlach: Zuordnungsverhältnis, S. 863.) Koslowski hat mit seiner Abhandlung „Ethik des Kapitalismus“ von 1982 die jüngere Diskussion um die Wirtschaftsethik im deutschsprachigen Raum wesentlich angestoßen. Er konzipiert Wirtschaftsethik dem klassischen Begriff der Politischen Ökonomie nachgestaltet als Ethische Ökonomie. In seiner Zielbestimmung der Ethik nimmt er eine Verbindung ihres individuellen und ihres institutionellen Aspekts vor. Sie diene nicht nur der Analyse von „Haltungen, Vorzugshandlungen und Regeln für die Koordination von Handlungen“ und mache präskriptive Aussagen über deren „Gesolltheit“, sie ziele auch ab auf die „Klärung und Verbesserung der Gewohnheiten der Individuen, ihrer Präferenzen und der Regeln, durch die sie ihre Handlungen mit denen anderer koordinieren“. (Peter Koslowski: Ethik der Banken und der Börse. Finanzinstitutionen, Finanzmärkte, Insider-Handel. Tübingen 1997 (= Beiträge zur Ordnungstheorie und Ordnungspolitik 154), S. 16.) Damit ordnet er sich in die klassische Ethiktradition mit ihrem Verständnis des Zusammenhangs von Tugend-, Pflichten- und Güterlehre ein. (Vgl. auch Koslowski: Prinzipien, S. 129ff.) In der Begründung der normativ-ethischen Aussagen vertritt er eine Art naturrechtliche Position: Eine Handlung oder Handlungsregel ist ethisch gut, wenn sie der sie betreffenden „Natur der Sache“ umfassend und bezüglich aller Aspekte „gerecht“ wird. (Koslowski: Prinzipien, S. 128, 136; Koslowski: Ethik der Banken, S. 18, 20.) Koslowskis Ökonomikverständnis leitet sich von der spezifischen Gegenstandsbestimmung ab, dass Wirtschaft neben Kunst und Wissenschaft der dritte große „Kultursachbereich“ der Gesellschaft sei, in dem Gebrauchsgüter produziert und ausgetauscht würden. (Peter Koslowski: Gesellschaftliche Koordination. Eine ontologische und kulturwissenschaftliche Theorie der Marktwirtschaft. Tübingen 1991, S. 83.) Die Hauptmethodik der Ökonomik, Koslowski selbst spricht durchgehend von „Ökonomie“, besteht für ihn in der mikroökonomischen Theorie der rationalen Handlung, mit der die Allokation knapper Mittel für gegebene Zwecke erklärt wird. (Koslowski: Gesellschaftliche Koordination, S. 63; Koslowski: Ethik der Banken, S. 22.) Doch kann die Methodik der „reinen Theorie“ nicht alleinige Anwendung finden, da wirtschaftliche Handlungen auch immer kulturgeprägt seien. (Koslowski: Gesellschaftliche Koordination, S. 81.) Die Volkswirtschaftslehre Gustav Schmollers betrachtet er als Vorbild für dieses umfassende Verständnis von Ökonomik, obschon Schmoller die Psychologie als deren Grundwissenschaft ansah, während Koslowski sie in ein von ihm entworfenes Gesamtkonzept von Wirtschaftsphilosophie, bestehend aus Wirtschaftsontologie und Ethischer Ökonomie mit ihren beiden Teilen der deskriptiven Kulturwissenschaft und der norma-
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dürfe nicht erst an die Bedingung des Marktversagens geknüpft werden. Es mag überraschen, dass sich eine der Koslowskis recht ähnliche Definition – trotz gänzlich verschiedener wissenschaftlicher Grundlegung – auch bei Horst Steinmann findet, der die Unternehmensethik als situationales Korrektiv des Gewinnprinzips beschreibt, wobei letzteres in der Tradition der sich als wertfrei verstehenden Betriebswirtschaftslehre als ethisch neutrales Formalziel begriffen wird.337 Ulrich kritisiert, dass der Wirtschaftsethik dabei immer die systematische Rolle eines Korrektivs gegen zuviel ökonomische Rationalität zukomme.338 Freilich stört er sich nicht daran, dem Geltungsanspruch und Wirkungsraum „einer entfesselten ökonomischen Sachlogik Grenzen zu setzen“.339 Sein systematischer Einwand gegen eine ausschließlich korrektive Wirtschaftsethik betrifft den „Reflexionsstopp vor den vorgefundenen ‚marktwirtschaftlichen Bedingungen‘ und dem ökonomischen Rationalitätsverständnis“, das nicht weiter hinterfragt würde.340 So komme der Verzicht auf kritische Reflexion einer „stillschweigenden Affirmation des Status quo“ gegebener marktwirtschaftlicher Systembedingungen gleich.341 Als Beispiel dafür führt er die „gängige Behauptung“ an, von der auch Apel auszugehen scheine342, tiven Wirtschaftsethik, einordnet. (Vgl. Peter Koslowski: Wirtschaftsphilosophie und Wirtschaftsethik. In: Ders. (Hg.): Orientierung durch Philosophie. Ein Lehrbuch nach Teilgebieten. Tübingen 1991 (= Uni-Taschenbücher 1608), S. 146–174, 149ff.; vgl. auch Peter Koslowski: Die Ordnung der Wirtschaft. Studien zur Praktischen Philosophie und Politischen Ökonomie. Tübingen 1994, 4ff.) Die Grundfrage der Wirtschaftsontologie zielt ab auf das Verständnis der wirtschaftlichen Akteure, die er mittels einer Auseinandersetzung mit dem Ökonomie-Prinzip klärt, das auf der Minimierung des Mitteleinsatzes, beziehungsweise der Maximierung der Zielerreichung besteht. (Vgl. Koslowski: Wirtschaftsphilosophie, S. 154; vgl. überdies Koslowski: Gesellschaftliche Koordination, S. 31f.) Dieses Prinzip deutet er personal: Zwar wird die Maximierung von den Individuen in ihren intentionalen Akten angestrebt, doch kann sie einerseits aufgrund von Irrtum verfehlt und andererseits nicht objektiv bestimmt werden. (Vgl. Koslowski: Wirtschaftsphilosophie, S. 154ff.; Koslowski: Gesellschaftliche Koordination, S. 41.) Wichtigste Konsequenz dieser ontologischen Grundbestimmung ist für ihn das Verständnis der wirtschaftlichen Koordination und damit des Marktprozesses. Terminologisch versteht er unter Wirtschaftsethik den normativen Teil der Ethischen Ökonomie, deren Aufgabe so die Entwicklung formaler und materialer Normen für den Kulturbereich Wirtschaft ist. Seinem naturrechtlichen Verständnis von Wirtschaft entsprechend lautet der wirtschaftsethische Imperativ „Handle wirtschaftsgemäß!“ oder eben „Handle nach der Sachgerechtigkeit der Wirtschaft!“ (Koslowski: Prinzipien, S. 225; vgl. zudem Koslowski: Ethik der Banken, S. 23.) 337 Vgl. Horst Steinmann u.a.: Brauchen wir eine Unternehmensethik? In: Die Betriebswirtschaft 45 (1985), S. 170–183; Horst Steinmann u.a.: Unternehmensethik – eine „realistische Idee“. In: Schmalenbachs Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung 40 (1988), S. 299–317; sowie Horst Steinmann/Albert Löhr: Einleitung: Grundfragen und Problembestände einer Unternehmensethik. In: Dies. (Hg.): Unternehmensethik. Stuttgart 21991, S. 3–32. 338 Vgl. Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 103. 339 Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 103. 340 Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 103. 341 Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 103. 342 Vgl. Apel: Diskurs und Verantwortung, S. 134. So geht Apel vom Problem der „Realisierung der geschichtlich-gesellschaftlichen Bedingungen der Anwendung einer Diskursethik in einer Welt des primär strategischen Handelns der Selbstbehauptungssysteme“ aus. (Ebd.)
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dass sich Wirtschaftssubjekte unter marktwirtschaftlichen Bedingungen nur strikt erfolgsrational und strategisch verhalten könnten und eine Wirtschaftsethik dieser Bedingung Rechnung zu tragen habe.343 Darin sieht Ulrich einen massiven Widerspruch zur Theorie der Diskursethik: Schließlich sei kein Diskurs möglich, wenn den Subjekten von vornherein normativ zugebilligt würde, dass sie zu primär strategischem statt verständigungsorientiertem Handeln prädestiniert seien. In solch einem Modell gebe es gar keine Ethik mehr anzuwenden, da die normative Entscheidung bereits vorab gefallen sei. Ein weiterer, symptomatischer innerer Widerspruch ergebe sich infolge des Reflexionsstopps bei einem bloß korrektiven Ansatz von Wirtschaftsethik: Einerseits werde von einer Zwei-Welten-Konzeption ausgegangen und damit unterstellt, dass ein definierbarer Bereich der Gesellschaft existiere, in dem die Selbstkoordination von Wirtschaftssubjekten, die sich strikt ökonomisch rational verhalten, ethisch gänzlich unproblematisch funktioniere, so dass man sie getrost dem freien Markt überlassen könne. Die idealtypische Vorstellung eines solchen perfekt funktionierenden, durchrationalisierten Marktsystems, das frei von jeder externen Normativität bestehen kann, ist für sich genommen schon äußerst fragwürdig, denn sie lässt letztlich doch nur die Schlussfolgerung Koslowskis zu: „Ethik ist bei vollständiger Konkurrenz überflüssig.“344 Andererseits werde dem ökonomischen Rationalitätsprinzip implizit normative Kraft und in sich – als gesellschaftliches Koordinationsprinzip – ein ethisch-normativer Gehalt zugebilligt.345 Damit werde unterstellt, dass Marktlösungen überall dort vorzüglich seien, wo sich funktionierende Märkte etablieren ließen. Die korrektive Wirtschaftsethik verkenne folglich, dass Ordnungsentscheidungen für Marktlösungen ebenso einer wirtschaftsethischen Begründung bedürften wie Entscheidungen gegen sie. So zeige sich, dass der korrektive Ansatz als systematische Konsequenz angewandter Wirtschaftsethik den marktwirtschaftlichen Bedingungen wie der ökonomischen Rationalität eine normative Kraft zuspreche. Dabei gerate der Ansatz unter Ökonomismusverdacht: Zumindest teilweise nehme er zudem immer auch die „zweite ‚angewandte‘ Konzeption von Wirtschaftsethik“ in Anspruch: die „normative Ökonomik“.346
343 Vgl. hierzu und zum Folgenden Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 104. 344 Peter Koslowski: Über die Notwendigkeit von ethischen und zugleich ökonomischen Urteilen. In: Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 9 (1987), H. 33, S. 7–13, 7. Aufgrund der Fähigkeit des Marktes, Präferenzen über den Preismechanismus miteinander abzustimmen und zu koordinieren, erkennt Koslowski im Markt die bedeutendste Form gesellschaftlicher Entscheidungsprozesse. (Vgl. Koslowski: Gesellschaftliche Koordination, S. 52.) Er geht in seinem Konzept einer gegenseitigen Durchdringung von Ethik und Ökonomik davon aus, dass die Ethik das ökonomische Effizienzkriterium enthält, vermag aber nicht zu verdeutlichen, inwieweit die ökonomische Theorie rationaler Entscheidung mit philosophischer und kulturwissenschaftlicher Wertlehre vermittelt oder ergänzt werden soll. (Vgl. dazu sowie zur kritischen Würdigung der Position Koslowskis Gerlach: Zuordnungsverhältnis, S. 861ff.) 345 Vgl. hierzu und zum Folgenden Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 105. 346 Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 105.
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Das Verhältnis von Ethik und Ökonomik
Peter Ulrichs Kritik der Ökonomik
Ökonomik wird bei Peter Ulrich beinahe ausschließlich in negativer Konnotation als „reine Ökonomik“ der neoliberalen Mainstream Economics thematisiert.347 „Die heutige Mainstream Economics ist […] in gewisser Weise eher ein Teil des Problems als eine tragfähige Basis für seine Lösung.“348 Entsprechend unterzieht er die Ökonomik – basierend auf seinem diskursethischen Ansatz – einer ausführlichen Grundlagenkritik. Dabei deckt er die normative Logik der reinen Ökonomik auf, die für ihn in Konkurrenz zum Moralprinzip steht. Der „heute gelehrte[n] Mainstream Economics“ macht er zum Vorwurf, „das Wirtschaften nurmehr aus der Perspektive der marktwirtschaftlichen Systemlogik“ zu betrachten.349 Diese sei heute „die Logik des globalen Marktes, auf dem mit dem so genannten ‚Standortwettbewerb‘ zugleich auch die ganzen staatlichen Rahmenordnungen der nationalen Märkte miteinander im Wettbewerb stehen“.350 Rationalität sei, unerheblich wie sie begrifflich gefasst werde, eine Orientierungsidee dahingehend, „wie vernünftige Personen die Vorzüglichkeit einer Handlungsweise begründen können und wie sie daher vernünftigerweise handeln sollen“.351 Die Problematik vernünftigen Wirtschaftens in ihrer unverkürzten Form als ökonomische Rationalitätsproblematik umfasse grundsätzlich immer eine ethische und eine technische Rationalitätsdimension: Einerseits gehe es um die Bestimmung ethisch vernünftiger Zwecke und Grundsätze des Wirtschaftens angesichts alternativer Nutzungsmöglichkeiten knapper Ressourcen. Zum anderen habe man sich damit zu beschäftigen, wie die als knapp angenommenen Ressourcen zweckrational, also effizient unter Beachtung der Legitimitätsbedingungen, eingesetzt werden können. Aus diesem Grund habe sich die Politische Ökonomie als klassische Lehre vom Wirtschaften von Aristoteles über Adam Smith bis hin zu den Vätern moderner ökonomischer Theorie als Teil der Moralphilosophie begriffen. Erst dann setzte der – oben im geistesgeschichtlichen Teil angeschnittene – Entkopplungsprozess ein, der die Reflexion der Moral durch die Erklärung moralischen Verhaltens ersetzen möchte. So habe die „neoklassische“ reine Ökonomik (ab etwa 1870) diese „Einheitskonzeption von (Politischer) Ökonomie als Moralphilosophie“ nicht mehr für sich gelten lassen, sondern habe dem naturwissenschaftlichen Vorbild einer wertfreien, objektiven Wissenschaft nachgeeifert.352 Die Konsequenz daraus sei die angesprochene Zwei-Welten-Konzeption reiner Ökonomik einerseits und einer ihr sachfremd gegenüberstehenden Ethik andererseits. Das schlage notwendigerweise auf 347 Vgl. dazu und zum Folgenden Gerlach: Zuordnungsverhältnis, S. 867. 348 Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 12. 349 Ulrich: Wider die entgrenzte Marktwirtschaft, S. 43. 350 Ulrich: Wider die entgrenzte Marktwirtschaft, S. 43. 351 Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 106. Vgl. zum Folgenden Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 106. 352 Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 106.
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das neoklassische Verständnis ökonomischer Rationalität durch: Rationalität werde gleichgesetzt mit Effizienz, die ethische Vernunftdimension finde in ihr keinen Platz mehr.353 Daher erscheint es umso erstaunlicher, dass die moderne Ökonomik trotzdem bis heute an ihrer traditionellen normativen und explikativen Doppelbedeutung festhält.354 Einerseits möchte sie als Realwissenschaft empirische Zusammenhänge erklären und andererseits als Idealtheorie rationalen wirtschaftlichen Handelns gleichzeitig normative Handlungsorientierung begründen. Das ist aber nur dann noch möglich, wenn in der angeblich „reinen“ Ökonomik normative Momente zurückgeblieben sind und ihre angestrebte Purifizierung von allen ethischen Aspekten folglich nicht erfolgreich zum Abschluss gebracht wurde. Ulrich sieht den Ansatz Homanns in dieser Tradition stehend. Die von ihm begründete Moralökonomik als ökonomische Theorie der Moral ließe sich entsprechend der normativ-explikativen Doppelfunktion der Ökonomik in zwei Weisen ausdeuten: als funktionale Erklärung moralischen Verhaltens und als normative Ökonomik.355 In explikativer Absicht ziele eine ökonomische Theorie der Moral auf die funktionale Analyse von Moral unter der Kosten-Nutzen-Perspektive ökonomisch rationaler Wirtschaftssubjekte.356 Dabei gehe es nicht um eine interne Begründung moralisch motivierten Handelns, sondern um die Erklärung, Prognose und sozialtechnische Nutzung seiner externen Wirkungen. Moralische Handlungsmotive seien zur Erklärung empirisch beobachtbaren Verhaltens relevant. Ob und inwieweit erklärende Motive allerdings über eine moralische Qualität verfügen, könne von der moralökonomischen Analyse nicht erkannt werden. Eine solche funktionalistische Erklärung ohne Berücksichtigung der Handlungsbegründung im moral point of view könne schlichtweg nicht ausreichen.357 Doch existiere ein anderer praktischer Zweck einer ökonomischen Analyse oder „Erklärung“ der „Funktion der Moral in der modernen Wirtschaft“.358 Dafür 353 Vgl. Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 106. 354 Vgl. Albert: Ökonomische Ideologie, S. 14; vgl. auch Ulrich: Transformation, S. 197ff. 355 Vgl. grundlegend zum Modell der „ökonomischen Theorie der Moral“ Karl Homann/Ingo Pies: Wirtschaftsethik in der Moderne. Zur ökonomischen Theorie der Moral. In: Ethik und Sozialwissenschaften 5 (1994), S. 3–12. Die zwei Deutungsweisen werden nicht in allen Stellungnahmen Homanns und seiner Schüler durchweg sauber getrennt. Vgl. zur mitunter nicht ganz eindeutigen Unterscheidung der Perspektiven der „Erklärung des moralischen Verhaltens“, der „Nützlichkeit der Moral für die Gesellschaft“, der „Motivation menschlichen Handelns“ und der „Moralbegründung aus Interessen“ Karl Homann: Entstehung, Befolgung und Wandel moralischer Normen. Neuere Erklärungsansätze. In: Franz Urban Pappi (Hg.): Wirtschaftsethik. Gesellschaftswissenschaftliche Perspektiven. Kiel 1989, S. 47–64. 356 Vgl. hierzu und zum Folgenden Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 107f. 357 Vgl. Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 108 358 So Homann: Wirtschaftsethik. Die Funktion der Moral in der modernen Wirtschaft, S. 32–53. Homann beschreibt eine krisenhafte Weltsituation, in der sich große Erwartungen an die Moral und die Ethik richteten. (Vgl. ebd., S. 32.) Wirtschaftsethik sei mit der Frage befasst, welche moralischen Normen und Ideale unter den Bedingungen der modernen Wirtschaft und Gesellschaft zur
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führt er zwei Varianten erklärender Moralökonomik an: Im ersten Fall gehe es um die Analyse objektiver Funktionszusammenhänge tradierter Moralkonventionen, die hinter dem subjektiven Moralbewusstsein der Akteure wirksam sind.359 Moral werde dabei als kulturell vermittelter, funktionaler Problemlösungsmechanismus zur Bewältigung sozioökonomischer Steuerungsprobleme in der Gesellschaft betrachtet. In einer an ökonomische Kosten-Nutzen-Argumente anschlussfähigen funktionalen Weise solle das „Erfordernis einer Mindestmoral in der Wirtschaft“ erklärt werden.360 Ulrich verweist darauf, dass gemäßigte Moralökonomen dabei durchaus einen deontologischen Eigenwert der Moral gelten ließen und hervorhöben, dass „moralische Werte […] nicht ohne Rest in Ökonomie aufgehen“.361 Demgegenüber werde der deontologische Eigenwert der Moral von Vertretern positiver Moralökonomik zum Teil gänzlich bestritten.362 In merkwürdiger Verengung wird dabei eine funktionale Moralerklärung mit Wirtschaftsethik gleichgesetzt: „‚Wirtschaftsethik‘ […] dreht sich um die Frage, ob für das Überleben unseres politischen und/oder wirtschaftlichen Systems die Internalisierung bestimmter Normen durch die (Mehrheit der) Individuen notwendig ist.“363 Es wirkt befremdlich, dass hier die biologistische Kategorie des Überlebens eines politisch-ökonomischen Systems zum normativ-analytisch maßgeblichen Gesichtspunkt erklärt wird.364 Bei der zweiten Variante erklärender Moralökonomik beziehe sich die Erklärungsaufgabe nicht auf die objektive kulturelle Funktion von Moral, sondern auf die Möglichkeit der gezielten subjektiven Nutzung von Moral für außermoralische Zwecke: „Moralisches Verhalten wird selbst zu einer Strategie im Kalkül rationaler Akteure.“365 Moralische Selbstbegrenzung wird von funktionalistischer Unternehmensethik zur Steigerung der Mitarbeiterleistungsmotivation genutzt oder zur Sicherung der Akzeptanz der potenziell kritischen Öffentlichkeit; sie wirkt so gleichGeltung gebracht werden könnten. (Vgl. ebd., S. 33.) „Das Programm“ bestehe daher in der positiven Abarbeitung von Normativität: „Für dieses Programm ist jede Re-Moralisierung von Handeln in ausdifferenzierten Teilsystemen nicht nur störend, sie führt sogar zu einer Erosion der Moral.“ (Ebd., S. 33. Homann beruft sich dabei insbesondere auf Hermann Krings: Norm und Praxis. Zum Problem der Vermittlung moralischer Gebote. In: Herder Korrespondenz 45 (1991), S. 228–233, 230; sowie Garrett Hardin: The Tragedy of the Commons. The population problem has no technical solution. It requires a fundamental extension in morality. In: Science 162 (1968), S. 1243–1248, 1246. 359 Vgl. hierzu und zum Folgenden Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 108. 360 Josef Wieland: Die Ethik der Wirtschaft als Problem lokaler und konstitutioneller Gerechtigkeit. In: Ders. (Hg.): Wirtschaftsethik und Theorie der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1993 (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1053), S. 7–31, 25. 361 Wieland: Ethik der Wirtschaft, S. 17. 362 Vgl. Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 108. 363 Gebhard Kirchgässner: Homo oeconomicus. Das ökonomische Modell individuellen Verhaltens und seine Anwendung in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Tübingen 1991 (= Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften 74), S. 44. 364 Vgl. dazu auch Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 109. 365 Homann: Entstehung, Befolgung und Wandel, S. 50.
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sam als Schmiermittel zur Steigerung der ökonomischen Rationalität der Geschäftspolitik.366 Dabei erweist sich Moral als „Kostensenkungsprogramm“367 oder wie es beinahe formelhaft von Vertretern der Moralökonomik formuliert wird: Ethik senkt Transaktionskosten.368 Ulrich weist zurecht darauf hin, dass dabei mit Ethik nur ein vorgebliches, scheinbares ethisches Handeln gemeint sein könne.369 Während eine ethische Begründung eine verständigungsorientierte Grundhaltung voraussetze, werde in der moralökonomischen Analyse den Akteuren als homines oeconomici modelltheoretisch eine strikte Erfolgsorientierung unterstellt. Es handle sich bei den Modellen nicht um eine Wirtschaftsethik, sondern „bestenfalls um eine Sozialtechnik für ‚gute Zwecke‘“, kritisiert Ulrich.370 Der normative Anspruch der „normativen Ökonomik“ reiche indes weiter. 2.7.2.5
Kritik der normativen Ökonomik Homanns
Ulrich weitet seine Ökonomismuskritik auf das „moralökonomisch ansetzende Forschungsprogramm“ Karl Homanns und dessen Schüler aus, das sich schließlich „ausdrücklich als ‚Wirtschaftsethik‘“ bezeichne und für sich „unmittelbare normative Kraft“ beanspruche.371 Homanns Ansatz postuliere „die Möglichkeit der restlosen Entlastung der Individuen von unmittelbaren Moralansprüchen und deren vollständiger Substitution durch ‚funktionale Äquivalente‘ auf dem […] Weg der Gestaltung institutioneller Anreize“.372 Diese sollen, wie dargestellt wurde, im Rahmen der normativen Institutionenökonomik ganz ohne ethische Kategorien der Normenbegründung hergeleitet werden im Sinne einer „Entwicklung der Moral aus einer allgemeinen Theorie von Rationalität“.373 Ulrich bemängelt, dass ein entsprechendes „Programm der Moralbegründung aus Interessen“374 einer „Reduktion von Moralität auf ökonomische Rationalität“
366 Vgl. Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 109. Ulrich verweist auf die Problematik der Instrumentalisierung moralischer Empfindungen anderer Personen durch einen selbst nicht moralisch, sondern strikt strategisch orientierten Akteur. Dies stelle einen „geradezu zynische[n] Umgang mit anderen Menschen“ dar. (Ebd.) Auf solchem zweckrationalen Umgang beruhten teilweise betriebswirtschaftliche Strategien eines „symbolischen“ Kulturmanagements. Vgl. zur Kritik Peter Ulrich: „Symbolisches Management“. Ethisch-kritische Anmerkungen zur gegenwärtigen Diskussion über Unternehmenskultur. In: Charles Lattmann (Hg.): Die Unternehmenskultur. Heidelberg 1990, S. 277–302. 367 Wieland: Ethik der Wirtschaft, S. 24. 368 In diesem Sinne Homann: Ethik und Ökonomik, S. 18. 369 Vgl. hierzu wie zum Folgenden Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 110. 370 Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 111. 371 Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 111. 372 Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 111; unter Bezug auf Homann: Die Funktion der Moral, S. 41. 373 Karl Homann: Philosophie und Ökonomik. Bemerkungen zur Interdisziplinarität. In: Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie. Bd. 7. Tübingen 1988, S. 99–127, 120. 374 Karl Homann: Entstehung, Befolgung und Wandel, S. 48.
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gleichkäme.375 Das Modell mute den Wirtschaftssubjekten keine anderen Rationalitätsansprüche zu als die Verfolgung ihrer privaten Eigeninteressen, die in keiner Weise ethisch-kritisch auf ihre Legitimität reflektiert würden.376 Eine solche Wirtschaftsethik ohne Moral verfalle immer einem methodologischen Dilemma: Einerseits wolle sie ohne ethisch-moralische Kategorien auskommen, andererseits bleibe sie „ohne ein deontologisch-ethisches Minimum“ normativ leer, womit dem von Homann postulierten „Programm der Moralbegründung aus Interessen“ sein eigentlicher Gegenstand abhanden komme.377 Aus diesem Grunde bemühten sich die Moralökonomen darum, die methodologische Vorentscheidung für eine prinzipiell unkritische Haltung gegenüber allen individuellen Präferenzen oder Ansprüchen, die gleichbedeutend mit der systematischen Ausgrenzung der ethischen Legitimitätsfrage sei, als ethisch neutral auszugeben und funktionalistisch zu redefinieren: „Der Ökonomik geht es um das Gemeinwohl, um die Solidarität aller Menschen, um die Entwicklung der individuellen Freiheit aller in Gemeinschaft mit anderen: Über das Ziel gibt es keinen Dissens. Unter den Bedingungen der modernen Wirtschaft und Gesellschaft bedarf die Implementation dieses Ziels jedoch besonderer Vorkehrungen …“378 Ulrich vermisst eine Aufschlüsselung von Stichworten wie Gemeinwohl oder Solidarität.379 Nirgends werde entfaltet, was sie in Bezug auf wirtschaftliches Handeln bedeuteten und auf welchem explizit begründeten deontologischen Mininum ihre normative Verbindlichkeit beruhe. Die Theorie verstehe sich als ein sich selbst genügendes Begründungskonzept.380 Die Frage nach den grundlegenden normativen Orientierungen der Theorie bleibe unbeantwortet. So stecke deren normativer Gehalt nirgendwo anders als in der Logik des idealen marktwirtschaftlichen Systems, wie auch Homann einräumt: „Markt und Wettbewerb erhalten die moralische Qualität ausschließlich deswegen zugesprochen, weil sie ‚effizient‘ sind.“381
375 376 377 378
Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 111. Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 111f. Vgl. hierzu und zum Folgenden Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 112. Homann/Blome-Drees: Wirtschafts- und Unternehmensethik, S. 96. Ulrich verweist auf die „merkwürdige Inkonsistenz zu ihrer ansonsten moralskeptischen, nonkognivistischen Position“ mit der sie sogar „im allgemeinen vom Grundprinzip aller Moral“ ausgingen, „das man heute als Solidarität aller Menschen formulieren kann“. (Ebd., S. 15; vgl. Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 112.) Vgl. zur Kritik ebf. Hans-Balz Peter: Auf der Suche nach Kriterien für die Wirtschaftsethik. In: Volker Arnold u.a. (Hg.): Gesellschaftsethische Perspektiven. Bd. 3: Unternehmensethik, Verteilungsprobleme, methodische Ansätze. Berlin 1996 (= Schriften des Vereins für Socialpolitik, Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, N.F. 228,3), S. 13–60, 22ff. 379 Vgl. hierzu und zum Folgenden Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 112f. 380 Vgl. hierzu und zum Folgenden Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 113; vgl. dazu auch Kerstings Vermutung Wolfgang Kersting: Moralphilosophie, angewandte Ethik und Ökonomismus. Bemerkungen zur wirtschaftsethischen Topologie. In: Zeitschrift für Politik 43 (1996), S. 183–194, 194. 381 Homann: Wettbewerb und Moral, S. 41.
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Dass sich für die Ökonomik das Normative immer schon im Funktionalen finde, ist einer der Hauptkritikpunkte Ulrichs an Homanns Theorie. Nur den Normen und Idealen, die ökonomisch zur Geltung gebracht werden können, wird auch ein normativer Geltungsanspruch zuerkannt.382 Fassen wir mit Ulrich die Kritik am Ökonomikmodell Homanns zusammen: Die normative Ökonomik kann sich als Ethik ohne Moral verstehen, soweit für sie die reine Ökonomik, basierend auf der Grundnorm eines strikten normativen Individualismus, selbst schon als normative Idealtheorie gilt.383 Indem die normative Ökonomik den faktisch gegebenen Präferenzen der Individuen selbst den Status der letzten, nicht weiter hinterfragbaren normativen Verbindlichkeit zuspricht, modelliert sie das Modell einer Gesellschaft, in der die Lösung aller Probleme der sozialen Handlungskoordination vollkommen der normativen Sachlogik des Marktes überantwortet wird. Die Moralität der Personen ist daher nicht mehr erforderlich, es genügt, wenn sie ihre ökonomische Rationalität in Form des strikt erfolgsorientierten, eigennutzenmaximierenden Handelns voll zur Geltung bringen. Das Marktprinzip selbst fungiert dabei als Gewährsinstanz für das ethisch-normativ richtige Handeln.384 Demgegenüber vertritt Ulrich ein grundlegend verschiedenes Modell der Ökonomik. Zwar reklamiert er den Begriff „Ökonomik“ nur selten für seine eigene Position, nach der die „Ökonomik […] im Kern selbst immer schon eine normative Idealtheorie vernünftigen Wirtschaftens“ sei.385 Dennoch entwickelt Ulrich ein erneuertes und normatives Verständnis der Ökonomie und des Wirtschaftens, also des Gegenstands seiner Idealtheorie Ökonomik.386 Dabei ist Wirtschaft bei ihm gerade kein moralfreier Raum, in dem die Akteure nur durch die Rahmenordnung beschränkt sind und ansonsten rein strategisch und eigeninteressiert handeln können. Wie oben dargestellt fordert er entsprechend der normativen Leitideen seines Ansatzes von den Akteuren stets das Einnehmen einer „verständigungsorientierte[n] Grundhaltung“.387 Diese ist die „normative Bedingung der Legitimation der Interessen“, die „sie in gerechtfertigter Weise verfolgen dürfen“. 388 Auf der Ebene der Individuen existiert durchaus ein legitimiertes Verfolgen von Eigenin-
382 Vgl. hierzu und zum Folgenden Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 114. Dem entspricht die Definition Homann/Blome-Drees’, wonach Wirtschaftsethik befasst sei „mit der Frage, welche moralischen Normen und Ideale unter den Bedingungen der modernen Wirtschaft und Gesellschaft […] zur Geltung gebracht werden können“. (Homann/Blome-Drees: Wirtschafts- und Unternehmensethik, S. 14; sinnentsprechend Homann/Pies: Wirtschaftsethik in der Moderne, S. 4.) 383 Vgl. dazu sowie zum Folgenden Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 115. 384 Ulrichs Vorwurf lautet: „Das ‚Marktprinzip‘ wird zum obersten gesellschaftlichen Organisationsprinzip schlechthin verklärt – es geht nicht mehr um eine ethisch-politisch eingebundene Marktwirtschaft, sondern um die totale Marktgesellschaft.“ (Ulrich: Der entzauberte Markt 2002, S. 59.) 385 Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 116. 386 Vgl. Gerlach: Zuordnungsverhältnis, S. 867. 387 Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 104. 388 Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 104.
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teressen, dem auf der Ebene der Wirtschaftsordnung ebenso ein Raum für eine legitimierte, also bewusst gesetzte und begrenzte Marktsteuerung entspricht, die eine Lenkungs- und Anreizfunktion übernimmt.389 Arbeitsteiliges Wirtschaften stellt für Ulrich „eine gesellschaftliche Veranstaltung zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse der Lebenserhaltung und der Lebensqualität“ dar.390 Der vernünftige Vollzug der Wirtschaft sei – wie anfangs des Kapitels vorweggenommen – vornehmlich am Kriterium der Lebensdienlichkeit zu messen.391 Ulrich spricht sich dabei nicht grundsätzlich gegen einen effizienten Umgang mit knappen Ressourcen und Gütern aus, sondern will klären, „wofür und für wen eine lebensdienliche (Markt-)Wirtschaft effizient funktionieren soll: Der Markt kann von sich aus nicht ‚wissen‘, wofür er ‚effizient‘ sein soll“.392 Jeder denkbare Begriff eines guten, vernünftigen oder effizienten Wirtschaftens ist für ihn also per se mit bestimmten normativen Hintergrundannahmen verknüpft: „Wirtschaften heißt Werte schaffen – aber was für Werte sollen für wen konkret geschaffen werden?“393 Das gute Leben im Ganzen übersteige wesensgemäß alle materiellen Bewertungsmöglichkeiten – entgegen dem ökonomistischen Moment der Standardökonomik ließe es sich nicht auf bloße Tauschwerte verengen.394 „Im Reich der Zwecke hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde“, bringt Immanuel Kant diese Sichtweise auf den Punkt.395 Ulrich vertritt eine „instrumentelle Sicht der Wirtschaft“: Sie ist nur „Mittel im Dienst höherer, buchstäblich vitaler Zwecke“.396 Wirtschaften vollzieht sich im Rahmen bestimmter Institutionen, besonders der Wirtschafts- und Unternehmensordnung. 397 In ihnen sollen die Beteiligungsrechte der Betroffenen zwar so umfassend wie möglich berücksichtigt werden, da die Diskurse aber aus pragmatischen Erwägungen durch Verfahrensregeln bestimmt sind, müssen diese die Diskurse begrenzen. Die Ökonomie, der Prozess des Wirtschaftens, wird von Ulrich immer schon normativ bestimmt. Dabei unterscheidet er zwei Stufen, die eine Interpretation des Kriteriums der Lebensdienlichkeit darstellen: Die Ökonomie des Lebensnotwendigen, die die Bereitstellung und Sicherung elementarer Versorgungsgüter zum In-
389 Vgl. Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 334. 390 Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 11. 391 Ebd.; mit Bezug auf Rich: Wirtschaftsethik, S.23. 392 Ulrich: Entgrenzte Marktwirtschaft, S. 42. 393 Peter Ulrich: Was ist „gute“ sozioökonomische Entwicklung? Eine wirtschaftsethische Perspektive. In: Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik 5 (2004), Nr. 1, S. 8–22, 9. 394 Ulrich: Entwicklung, S. 10. 395 Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 68. 396 Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 208. 397 Vgl. hierzu und zum Folgenden Gerlach: Zuordnungsverhältnis, S. 867.
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halt hat, und die Ökonomie der Lebensfülle, in der die Bedürfnisse nicht nur hingenommen werden, sondern eine kritische Reflexion erfahren.398 2.7.2.6
Abgrenzung des wirtschaftsethischen Modells Peter Ulrichs
Ulrich vertritt eine integrative Wirtschaftsethik, die er als Vernunftethik des Wirtschaftens versteht.399 Er beansprucht, den von ihm explizierten ethischen Vernunftanspruch mit dem ökonomischen Rationalitätsanspruch zusammenzudenken.400 Wie dargestellt grenzt er sein Modell gegen zwei Alternativen ab: Zum einen gegen Konzepte angewandter Ethik wie jene Koslowskis oder Steinmann/Löhrs, bei denen die Ethik von außen an eine als moralfrei gedachte ökonomische Rationalität herangetragen wird.401 Er argumentiert, dass die Ethik hier einem Reflexionsstopp vor dem „Marktprinzip“ erliege und scheinbare Grundbedingungen der Wirtschaft und der „ökonomischen Rationalität“ akzeptiere, ohne sie zum Gegenstand ihrer Reflexion zu machen.402 Zum anderen grenzt Ulrich sein Konzept gegenüber einer normativen Ökonomik ab, in der die Moral ausschließlich mit ökonomischen Methoden erklärt werde. Einen solchen Ansatz sieht er besonders bei Homann und seinen Mitstreitern verwirklicht. Zwar reflektierten sie Moral und handlungsbeschränkende Institutionen, doch verträten sie dabei einen normativen Individualismus und begründeten keinen normativen Standpunkt mehr.403 2.7.2.7
Die Integration von Ethik und Ökonomik und ihre Zuordnung
Die Integration von Ethik und Ökonomik entfaltet Ulrich in drei Schritten.404 Den Sachgrund für die Integrierbarkeit erkennt er darin, dass die ökonomische Ratio-
398 Vgl. Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 209ff. 399 Peter Ulrich: Integrative Wirtschafts- und Unternehmensethik – ein Rahmenkonzept. In: Forum für Philosophie Bad Homburg (Hg.): Markt und Moral. Die Diskussion um die Unternehmensethik. Bern u.a. 1994, S. 75–107, 75ff.; Peter Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik als kritische Institutionenethik. Wider die normative Überhöhung der Sachzwänge des Wirtschaftssystems. St. Gallen 1994 (= Beiträge und Berichte des Instituts für Wirtschaftsethik an der Hochschule St. Gallen 62), 11ff.; Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, 95ff. 400 Vgl. hierzu und zum Folgenden Gerlach: Zuordnungsverhältnis, S. 868. 401 Vgl. Koslowski: Grundlinien, 351; Peter Koslowski: Die postmoderne Kultur. Gesellschaftlich-kulturelle Konsequenzen der technischen Entwicklung. Perspektiven und Orientierungen. München 1987, S. 7–13, bes. 7, 11; vgl. zur weiteren Kritik an Koslowski Peter Ulrich: Wirtschaftsethik als Kritik der „reinen“ ökonomischen Vernunft. In: Christian Matthiessen (Hg.): Ökonomie und Ethik. Moral des Marktes oder Kritik der reinen ökonomischen Vernunft. Freiburg i.Br. 1990, S. 111–138, S. 119f. 402 Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 102–105, hier 105. 403 Vgl. Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 106–116. 404 Vgl. hierzu und zum Folgenden Gerlach: Zuordnungsverhältnis, S. 868.
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nalität selbst schon über einen normativen Gehalt verfüge.405 Zur Aufdeckung dieses Gehalts müssen ökonomischer Ansatz und ökonomische Theoriegeschichte einer Grundlagenkritik („Ökonomismuskritik“) unterzogen werden, was er konsequent vom moral point of view einer Vernunftethik des Wirtschaftens aus vollzieht.406 Mit dieser Aufgabe mischt sich die Wirtschaftsethik in das paradigmatische Selbstverständnis der heutigen Mainstream Economics ein und unternimmt den Versuch, es zu verändern.407 Als zweiten Schritt entfaltet er eine sozialökonomische Rationalitätsidee als erweiterte ökonomische Rationalitätsidee einer ökonomischen Vernunft, in der die für die Ökonomie notwendige Frage der Effizienz mit der Legitimität verbunden ist. Die Effizienzfrage nach dem rationalen Umgang mit der Knappheit von Ressourcen und Gütern wird ergänzt zur Frage: „Effizient für wen konkret?“, die unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit beantwortet werden muss.408 Auf diese Weise wird Ulrich seinem diskursethischen Anliegen gerecht, dass auch in wirtschaftlichen Handlungssituationen eine „argumentative Verständigung über die legitimen Ansprüche“ zu erfolgen hat. Demnach lautet die sozialökonomische Rationalitätsidee: „Als sozialökonomisch rational kann jede Handlung oder jede Institution gelten, die freie und mündige Bürger in der vernunftgeleiteten Verständigung unter allen Betroffenen als legitime Form der Wertschöpfung bestimmt haben (könnten).“409 Im Unterschied zum neoklassisch-ökonomischen Rationalitätsprinzip handelt es sich dabei um kein rein analytisch anwendbares Entscheidungskriterium, sondern um die grundlegende regulative Idee des wirtschaftsethischen Diskurses, den „moral point of view einer Vernunftethik des Wirtschaftens“.410 In einem letzten Schritt erörtert Ulrich mögliche Orte der Moral des Wirtschaftens in der Gesellschaft und zieht die institutionentheoretischen Konsequenzen, die sein Ansatz als Verfahrensethik notwendig macht.411 Sein Ziel ist die Verwirklichung möglichst offener Verständigungsmöglichkeiten und weit reichender Mitentscheidungsrechte. Dabei unterscheidet er drei Ebenen, auf denen die Orte der Moral auszumachen sind: Die Ebene der Wirtschaftsbürger, die als politische, 405 Ulrich: Integrative Wirtschaftstethik, S. 114f. 406 Vgl. Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 123. Als erste Aufgabe seines wirtschaftsethischen Programms begreift er es, „den Schein der Wertfreiheit oder ethischen Neutralität der ökonomischen Sachlogik im Sinne der reinen Ökonomik zu durchschauen, indem ihr ethisch-kritisch auf den normativen Grund geleuchtet wird“. (Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 117.) Die „neoliberale Sachzwang- und Gemeinwohl-Rhetorik“ behaupte eine „Wertfreiheit“, die die Sinn- und Legitimitätsfragen des Wirtschaftens ignoriere. Auch das Sachzwangargument müsse hinterfragt werden, da der Zwang zur Ausblendung anderer normativer Gesichtspunkte häufig erst aufgrund der Zielsetzung der Gewinnmaximierung entstehe. (Vgl. Ulrich: Entgrenzte Marktwirtschaft, S. 41.) 407 Vgl. dazu wie zum Folgenden Gerlach: Zuordnungsverhältnis, S. 868. 408 Ulrich: Integrative Wirtschaftstethik, S. 123. 409 Ulrich: Integrative Wirtschaftstethik, S. 123. 410 Ulrich: Integrative Wirtschaftstethik, S. 123. 411 Vgl. dazu wie zum Folgenden Gerlach: Zuordnungsverhältnis, S. 869.
Das Zuordnungsverhältnis von Ethik und Ökonomik
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wirtschaftliche und private Akteure moralisch orientiert handeln sollen. Dazu die Ebene der Rahmenordnung, die auf nationaler und internationaler Ebene den „Primat der Politik vor der Logik des Marktes“ durchsetzen soll. 412 Damit wird, wie erwähnt, eine begrenzte und kontrollierte Lenkungs- und Anreizfunktion der Marktsteuerung nicht ausgeschlossen, doch muss diese im Hinblick auf übergeordnete ethisch-politische Gesichtspunkte zweckdienlich und verantwortbar sein.413 Dritter Ort der Moral des Wirtschaftens in der Gesellschaft ist die Unternehmensordnung, nach der das Gewinnprinzip nicht fallweise, sondern prinzipiell der Forderung nach öffentlich verantworteter Legitimität der Unternehmenstätigkeit unterliegt. Entsprechend diesem Dreischritt lässt sich die Zuordnung von Ethik und Ökonomik bei Ulrich zusammenfassen: Zuerst bedeutet die Zuordnung für ihn die Veränderung und Fortentwicklung der Ökonomik und das Vereinbarmachen ihres Paradigmas mit den Grundannahmen der Diskursethik. Konkret bedeutet dies die Aufgabe des Modells des homo oeconomicus und die Überwindung des damit verbundenen Menschenbildes: „Die reine Ökonomik ist nichts anderes als die Explikation eines Menschenbilds – des ‚berechnenden‘ Eigennutzmaximierers von Hobbes, dessen Bedürfnisnatur seine Vernunft restlos instrumentalisiert und zur ‚rein‘ ökonomischen Rationalität schrumpfen lässt.“414 Die Zuordnung von Ethik und Ökonomik, die er in der Verhältnisbestimmung von Effizienz und Legitimität vornimmt, bedeutet für ihn zweitens einen „Primat der Ethik“ über die Ökonomik – allerdings nur im reduzierten Sinn, wenn unter Ökonomik die Kooperation von lediglich eigennutz- und effizienzorientierten Akteuren verstanden wird.415 Die Zuordnung von Ethik und Ökonomik, realisiert über ein vielschichtiges und von der Diskursethik maßgeblich beeinflusstes Konzept von Orten der Moral des Wirtschaftens, zeigt, dass deren Integration bei Ulrich letzten Endes über eine politische Ethik gedacht wird. Er strebt einen Primat der Politik an, um die Kommunikationsrechte der Bürger zu sichern.416
412 Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 334; vgl. dazu sehr ähnlich ebf. Ulrich: Entwicklung, S. 10. 413 Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 334. 414 Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 187–191, hier 191; vgl. auch Ulrich: Transformation, S. 249f. Damit wendet sich Ulrich – zum wiederholten Male – grundsätzlich gegen die von Homann und dessen Mitarbeitern vertretene Position. Dieser postuliert, dass sich das Modell des stets den eigenen Nutzen maximierenden, rational handelnden homo oeconomicus als „problemorientiertes Konstrukt zu Zwecken positiver Theoriebildung“ sich insofern praktisch anwenden ließe, dass Akteure in Dilemmasituationen zu vorteilsorientiertem Handeln angeregt würden, weshalb das dem Modell inhärente Menschenbild nicht von einer ethischen Position aus kritisiert werden könne. (Homann: Sinn und Grenze, S. 18.) 415 Vgl. Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 121. 416 Vgl. Gerlach: Zuordnungsverhältnis, S. 869.
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2.7.2.8
Das Verhältnis von Ethik und Ökonomik
Kritik des Modells der integrativen Wirtschaftsethik
Ulrich nimmt mit der Annahme der Moralität des Menschen eine bewusste Wesensbestimmung der conditio humana vor. Auf diese Setzung kann er in seinem Ansatz von Wirtschaftsethik nicht verzichten, da sie der theoretischen Absicherung der für die Diskursethik benötigten Voraussetzung der Ansprechbarkeit dient.417 Zwar will sich Ulrich von einer ökonomischen Verkürzung der Wirtschaftsethik abgrenzen, doch bezieht er sich in der Begründung der Moralität auf den Interessenbegriff, nach dem sich durch die Sozialisation unter den Mitgliedern einer Gemeinschaft ein Interesse ausbildet, an der Gemeinschaft und ihren Regeln zu partizipieren.418 Es erscheint daher legitim, die Frage aufzuwerfen, ob Ulrichs Begründung des Moralprinzips keinen Zirkelschluss darstellt, da doch das Moralprinzip in der Annahme moralischer Gemeinschaften und des guten Willens seiner Mitglieder schon vorausgesetzt wird.419 Und auch die diskursethische Interpretation der Gemeinschaft als rationale Argumentationsgemeinschaft kann man kritisieren: Dass jemand argumentiert, bedeutet noch nicht, dass er die Rechte des Anderen auch tatsächlich in aller Konsequenz anerkennt.420 Hinsichtlich der praktischen Probleme der Ökonomie offenbart Ulrich eine auffallend optimistische Sichtweise. Bezüglich des Knappheitsproblems stellt er fest, dass „mit der fast grenzenlosen Produktivität der heute verfügbaren Produktionsmittel die frühere Knappheit der ‚Lebensmittel‘ im Prinzip für alle Menschen überwunden werden“ könne.421 So hat er keinen Zweifel daran, dass in der modernen Marktwirtschaft „mit Keynes die Wirtschaft zur Nebensache“ zu machen wäre.422 Womöglich beschäftigt sich Ulrich auch deshalb nicht umfassender mit Fragen der praktischen Systemorganisation von Wirtschaft und nimmt keine Problematisierung der Folgen seiner normativen Vorgaben vor. Dies und sein Optimismus führen zu einer Harmoniekonzeption des Verhältnisses von Effizienz und Gerechtigkeit. Wie auch der Ansatz Steinmanns ist das Konzept Ulrichs explizit normativ und macht sich für eine Begrenzung der Profitorientierung stark. Beide empfehlen den Eintritt in einen Dialog mit den Personen, die in die Prozesse innerhalb eines Unternehmens eingebunden sind. Ulrich weitet das Argument auf die Stakeholder des Unternehmens aus. Diese begründeten ihre Einstellungen eher auf Basis normativer Argumente denn auf empirischen Daten.423 Aus diesem Grunde erörterten sie die empirischen Folgen ihrer Vorschläge nicht, so beispielsweise die Konsequenzen aus einem offenen Dialog und Mitbestimmungsmöglichkeiten auf die Er417 Vgl. hierzu und zum Folgenden Gerlach: Zuordnungsverhältnis, S. 869f. 418 Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 26. 419 So Gerlach: Zuordnungsverhältnis, S. 869. 420 Vgl. ebd., S. 870. 421 Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 221. 422 Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 224; vgl. zudem Ulrich: Transformation, S. 454. 423 Vgl. dazu und zum Folgenden Küpper: Business Ethics, S. 256f.
Das Zuordnungsverhältnis von Ethik und Ökonomik
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gebnisse und Dauer der Entscheidungsprozesse in einem Unternehmen wie auch auf dessen Profit. Küppers bemängelt, dass Ulrich die Hypothese praktischer Zwänge in einem Unternehmen hinterfrage, aber nicht die empirischen Zwänge analysiere, die aus der Knappheit der Ressourcen oder den Herausforderungen globaler Märkte resultieren.424 Auch in dieser Hinsicht scheint Ulrichs diskursethisches Konzept sehr oder möglicherweise sogar zu optimistisch. Es ignoriert mitunter die realen Verhältnisse, unter denen es oft sehr schwierig und bisweilen sogar unmöglich ist, einen Konsens zu erzielen, da die Grundwerte und Einstellungen der verschiedenen Diskurspartner so stark differieren, dass ein anderer Weg zur Konfliktlösung gefunden werden muss. Ein Hauptproblem des Ansatzes kann mit Gerlach in der mangelnden Reichweite der diskursethisch explizierten Wirtschaftsethik zur Klärung wirtschaftsethischer Fragen gesehen werden: Ulrich betont immer wieder, dass sich praktische Diskurse nicht theoretisch vorwegnehmen und sich aus der Diskursethik keine konkreten Normen ableiten ließen.425 Der Schwerpunkt der Diskursethik liegt in der Begründung des moral point of view, in den aus ihm abgeleiteten normativen Leitideen sowie in ersten Vorschlägen für Verfahrensfragen. Doch bleibt die Frage offen, worauf sich die Argumentationsteilnehmer in einem Diskurs inhaltlich berufen sollen und wie sich die Legitimität der eigenen Interessen prüfen lässt. Zwar betont die Diskursethik die Notwendigkeit eines solidarischen Interessenausgleichs, allerdings mangelt es ihr an einem Konzept, wie inhaltlich begründete Normen in den Diskurs eingebracht werden können, die notwendig wären, damit Konflikte nicht als reine Sachdiskussionen geführt werden. Gerlach diagnostiziert die Ursache für das materiale Defizit der von Ulrich entfalteten Diskursethik in der Differenzierung zwischen subjektivem, unbegründbarem Ethos und rationaler und somit begründbarer Moral, deren Zusammenhang nicht ausreichend berücksichtigt werde.426 Das Zuordnungsverhältnis von Ethik und Ökonomik in Ulrichs integrativer Wirtschaftsethik lässt sich als Assimilationsmodell beschreiben: Dabei wird die Ökonomik nicht mit der, sondern in die Ethik integriert.427 Breitere Rezeption fand der verfahrensethische Ansatz Ulrichs in der Unternehmensethik, so beispielsweise bei Hartmut Kreikebaum.428 Trotz einiger Leerstellen in der Theorie Ulrichs, insbesondere was die praktische Anwendung seiner diskursethischen Grundsätze anbelangt, erweist sich der 424 Vgl. Küpper: Business Ethics, S. 257. 425 Vgl. hierzu und zum Folgenden Gerlach: Zuordnungsverhältnis, S. 870f. 426 Vgl. Gerlach: Zuordnungsverhältnis, S. 870. 427 Vgl. hierzu wie zum Folgenden Gerlach: Zuordnungsverhältnis, S. 871. 428 Vgl. Kreikebaum: Unternehmensethik, S. 213ff., 237ff. Kreikebaum expliziert die christliche Tradition als Hintergrund für die normativen Basisentscheidungen. Er nimmt maßgeblich Ulrichs Verfahrensethik auf, arbeitet jedoch die Notwendigkeit einer materialen Ethik heraus. Materialethische Fragen müssen besonders im Normenfindungsprozess innerhalb des Entscheidungsprozesses geklärt werden, bei dem die einzelnen Akteure ihre materialen Wertvorstellungen einbringen.
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Ansatz als tauglich – und zwar in seinem eigentlichen Wortsinn: Ulrich möchte die „Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie“ darstellen.429 Dass diese weniger auf ihre Tauglichkeit in der alltäglichen Praxis geprüft werden, darf man dem Ansatz nicht vorwerfen, da er nie den Anspruch einer Handlungsanleitung erhebt. Eine ganz entscheidende Leistung des Konzeptes darf nicht übersehen werden: Ulrich weist mit seiner integrativen Wirtschaftsethik nicht zuletzt hinaus aus einer sich immer schneller drehenden Spirale stetig fortschreitender Rationalisierung, die den Menschen und den eigentlichen Zweck des Wirtschaftens, die Lebensdienlichkeit430, mehr und mehr aus dem Blick zu verlieren droht. Um schließlich dem eigentlichen (auch normativen!) Anspruch der Diskurs-ethik auf Umsetzung als Prozess- oder Verfahrensethik gerecht zu werden, müsste im konkreten Einzelfall ein taugliches Konzept zu ihrer Anwendung entwickelt werden. Dies soll ansatzweise am Ende der vorliegenden Arbeit in Bezug auf die kommunikative Vermittlung unternehmensethischer Maßnahmen im Sinne des von Ulrich explizierten „praktischen Diskurses“ versucht werden.
2.8 Wirtschaftsethik als Brückendisziplin Ökonomik lässt sich nicht ohne Ethik denken. So wie sich ihre wissenschaftlichen Reflexionsformen nicht voneinander trennen lassen, sind auch Ökonomie und Moral untrennbare Komplemente. Wirtschaften ist kein moralfreier Raum. Eine rein rechtliche Steuerung richtigen Verhaltens der wirtschaftlichen Akteure ist nicht ausreichend.431 Und unternehmerisches Profitstreben stellt zwar ein notwendiges, aber kein hinreichendes und legitimierendes Formalziel des Wirtschaftens dar. Wirtschaften ist kein Selbstzweck und bleibt in den Kontext der ethischen Grundfragen gestellt432, die damit die Unternehmen als Akteure betreffen. Es zeigt sich, dass eine auf rein ökonomischer Rationalität gründende Theorie gesellschaftlicher Verantwortung von Unternehmen zu kurz greift433: „Ein zeitgemäßes Verständnis 429 So der Untertitel seines 2008 in vierter Auflage erschienenen Standardwerks Integrative Wirtschaftsethik. 430 Die Forderung der Lebensdienlichkeit findet sich in zahlreichen neueren Stellungnahmen, so auch im Schlussfazit bei Petersen, der hier stellvertretend angeführt sei: „Was ein Unternehmen produziert und für was es öffentlich einsteht, muss im letzten ein Beitrag zum guten Leben der Gesellschaft sein, in der es steht.“ (Thomas Petersen: Zur gesellschaftlichen Verantwortung eines korporativen Bürgers. Begriffe, Zusammenhänge und offene Fragen. In: Matthias Schmidt/Thomas Beschorner u.a. (Hg.): Corporate Social Responsibility und Corporate Citizenship. München u.a. 2007 (= Schriftenreihe für Wirtschafts- und Unternehmensethik 17), S. 37–50, 49.) 431 Vgl. hierzu und zum Folgenden Aßländer: Philosophia, S. 329. 432 Vgl. Ulrich: Entgrenzte Marktwirtschaft, S. 41; vgl. dazu weiterhin Hans-Ulrich Küpper/Arnold Picot: Ethische Aspekte wirtschaftlichen Handelns im Rahmen von Unternehmungen. Gegenstand der Unternehmensethik. In: Wilhelm Korff u.a. (Hg.): Handbuch der Wirtschaftsethik. Bd. 3: Ethik wirtschaftlichen Handelns. Gütersloh 1999, S. 132–148, S. 133f. 433 Vgl. Schwartz: Ökonomisierung, S. 97.
Wirtschaftsethik als Brückendisziplin
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unternehmerischer Verantwortung muss weit über Gewinnsteigerung hinaus gehen, wenngleich die Gewinnerzielung ohne Frage eine grundlegende Notwendigkeit bleibt.“434 Gerade auch in Anbetracht einer wachsenden „Überformung lebensweltlicher Kategorien durch die Ökonomie“435, eines regelrechten „Trend[s] zur Ökonomisierung aller Lebensbereiche“436 gehört es daher zu den wesentlichen Aufgaben einer Wirtschaftsethik, als Brückendisziplin zwischen der instrumentellen Rationalität der Ökonomie und den moralischen Anforderungen der Gesellschaft an die Ökonomie zu vermitteln und die unterschiedlichen Geltungsansprüche beider Handlungssphären in Einklang zu bringen.437 Die von Erfolg und Konkurrenz bestimmten Imperative wirtschaftlichen Handelns stehen in Wechselwirkung mit den Imperativen gesellschaftlichen Gemeinwohls und humaner Lebensverhältnisse.438 Die Wirtschaftsethik umfasst die Summe der Aufgaben und Ziele wirtschaftlichen Handelns sowie der Ordnungen und Regeln, kraft derer die Ökonomie mit den Aufgaben und Zielen einer menschenwürdigen politischen Kultur verkoppelt ist. Die Ethik hat es mit Konsens zu tun, ihr konkreter Stoff aber sind Konflikte, die aus der Neuartigkeit und Komplexität der Weltsituation aus der Perspektive der Wirtschaft resultieren. Anliegen einer Wirtschaftsethik muss es sein, die Diskrepanzen zwischen den beiden Wissenschaften, denen sie ihren Namen verdankt, zu überbrücken. Nur als Brückenwissenschaft hat sie die Chance, echtes Orientierungswissen zur Verfügung zu stellen und in den Dialog zwischen Ökonomik und Ethik einzubringen.439 Gegen eine praktische Verwertbarkeit wirtschaftsethischer Erkenntnisse ist nichts vorzubringen, die Wirtschaftsethik darf aber im Vollzug ihrer praktischen Anwendung nicht ihre originär ethische Orientierung aufgeben. Wenn sie zwischen Ökonomik und Ethik sowie zwischen Wissenschaft und Praxis erfolgreich vermitteln will und zudem ihre Eigenständigkeit als akademische Disziplin gegenüber der 434 Thomas Beschorner/Matthias Schmidt: Unternehmerische Verantwortung in Zeiten kulturellen Wandels – zur Einführung. In: Diesn. (Hg.): Unternehmerische Verantwortung in Zeiten kulturellen Wandels. München u.a. 2006 (= Schriftenreihe für Wirtschafts- und Unternehmensethik 15), S. 5–13, 5. 435 Vgl. Aßländer: Philosophia, S. 324–327, hier 325. Nach Aßländer habe sich die Ökonomie in der Gegenwart zur neuen Leitwissenschaft entwickelt, zu deren zentralen Dogmen die mediale Steuerung auch lebensweltlicher Prozesse, die konsequente Ausrichtung des eigenen Ichs an den marktlichen Anforderungen und das ökonomische Kalkulieren aller individuellen Wahlhandlungen geworden seien. Seine These wird durch Alltagserfahrungen gestützt: Auch hier ist die Dominanz ökonomischer Forderungen mittlerweile prägend für unsere Sichtweise alltäglicher Zusammenhänge – man denke nur an die fortwährenden Effizienz- und Rationalitätsforderungen beispielsweise im Bildungs-, oder Gesundheitsweisen. 436 Schwartz: Ökonomisierung, S. 100. 437 Vgl. hierzu wie auch zum Nachfolgenden Aßländer: Philosophia, S. 329. 438 Vgl. hierzu und zum Folgenden Korff u.a.: Einführung in das Handbuch der Wirtschaftsethik. In: Handbuch der Wirtschaftsethik 1, S. 21. 439 Vgl. dazu und zum Folgenden Aßländer: Philosophia, S. 335f.
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Dominanz der klassischen Wirtschaftswissenschaften behaupten möchte, muss es ihr gelingen, ihre eigenen normativen Geltungsansprüche zu begründen und eigenständige Ziele und Visionen zu entwickeln.440 Diese Essenz kann aus der eingehenderen Betrachtung des Zuordnungsverhältnisses von Ethik und Ökonomik und der theoretischen Grundlagendiskussion zur Disziplin gewonnen werden. In Zukunft sollte sich die Wirtschaftsethik auch um die weitere Reflexion des Verhältnisses von Ethik und Ökonomik als ein produktives und für beide Seiten fruchtbares Miteinander bemühen. Ebenfalls als fruchtbar dürfte sich erweisen, bei der Betrachtung praktischer und konkreter wirtschaftlicher Problemstellungen die ihnen inhärente Ethik nicht aus dem Blick zu verlieren, sondern diese vielmehr produktiv und gewinnbringend nutzbar zu machen. Dabei geht es nicht bloß um einen Erkenntnisgewinn, sondern auch um sehr handfeste ökonomische Vorteile. Gerade in der Orientierungsleistung, die eine solche Disziplin erbringen kann, ist ihr herausragender Nutzwert und ihr Alleinstellungsmerkmal für die Gesellschaft wie für die Wirtschaft zu sehen. Welche Rolle Wirtschaftsethik für das konkrete Handeln eines Unternehmens spielt, inwieweit dadurch das Bewusstsein und die Einstellungen der Menschen innerhalb, aber auch außerhalb des Unternehmens verändert werden, das soll Inhalt der weiteren Teile dieser Arbeit sein.
2.9 Bedarf einer Wirtschafts- und Unternehmensethik Wirtschaft stellt die „Gesamtheit aller Tätigkeiten“ dar, die den „materiellen Lebensunterhalt der Menschen sichern sollen“.441 Sie ist deshalb unbedingt notwendig, weil der Mensch von Natur aus ein Mängelwesen ist und seine Grundbedürfnisse wie Nahrung, Wohnung und Kleidung sowie weitere nachgeordnete Bedürfnisse ständig neu befriedigt werden müssen. Die Befriedigung dieser materiellen Bedürfnisse ist also oberstes Ziel der Wirtschaft, wobei die dafür benötigten Güter relativ knapp sind.442 Die These von der völligen Eigengesetzlichkeit der 440 Vgl. zu diesen Forderungen bes. auch Aßländer: Philosophia, S. 336. 441 Meckenstock: Wirtschaftsethik, S. 5; vgl. dort ebf. zum Folgenden S. 4ff. Vgl. zudem Körtner: Evangelische Sozialethik, S. 284f. Mit Arthur Rich lassen sich zwei Ebenen wirtschaftsethischer Urteilsbildung unterscheiden. (Vgl. Rich: Wirtschaftsethik I; sowie ders.: Wirtschaftsethik II.) Die eine Ebene fragt nach der Produktion von Gütern, die Andere nach der Verteilung des Produzierten. (Vgl. Rich: Wirtschaftsethik II, S. 28, 132.) Als zentraler ethischer Begriff erscheint dabei auf beiden Seiten die Gerechtigkeit, wobei er den Begriff der gesellschaftlichen Gerechtigkeit zu den Kriterien des Menschengerechten, welches dasjenige des Umweltgerechten notwendigerweise einschließt (Vgl. ebd., S. 20.) und des Sachgemäßen in Beziehung setzt. (Vgl. Rich: Wirtschaftsethik I, S. 172ff.) 442 Je höher der Grad an Vergesellschaftung des Menschen ist, desto wichtiger wird das Wirtschaften als Form des gemeinschaftlichen Handelns. In komplexen Gesellschaften erfolgt die materielle Bedürfnisbefriedigung nicht nach dem Prinzip der Selbstversorgung, sondern durch gemeinschaftli-
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Ökonomie ist unhaltbar, allerdings erscheint die Forderung, dass sich wirtschaftliche Entscheidungen unmittelbar an ethischen Normen zu orientieren haben, ebenfalls fragwürdig.443 Aufgabe einer Wirtschaftsethik ist daher die Verknüpfung einer deskriptiven Problemanalyse mit einer normativen Wertung im Sinne einer „Verbindung von Sachgerechtem mit Menschengerechtem“.444 Zwei Haupttendenzen prägen die Entwicklung der Wirtschaft in der modernen Gesellschaft: Zum Einen lässt sich ihre fortschreitende Expansion über lokale und nationalstaatliche Grenzen hinaus beobachten.445 Dabei erlangen wirtschaftliches Handeln und mit ihm die zunehmend arbeitsteilige Produktion sowie Waren- und Geldströme eine transnationale und immer häufiger sogar globale Dimension, womit auch eine relative Emanzipation der Wirtschaft von der Politik einhergeht. So bedingt die Tendenz zur Globalisierung eine Verschiebung ordnungspolitischer Aufgaben auf die supranationale Ebene, wo jedoch noch keine hinreichende Institutionalisierung auf der politischen Ebene existiert.446 „Das grundlegende Defizit der heutigen globalisierten Gesellschaften besteht nicht darin, dass der Einfluss der Unternehmungen (Corporations) zu groß ist; es ist vielmehr darin zu sehen, dass unsere Fähigkeit zur Steuerung oder Regierung (Governance) zu begrenzt ist. Wir sehen uns hier mit Lücken und Misserfolgen größten Ausmaßes konfrontiert“, beschreibt John Ruggie, seit 2005 UN-Sonderbeauftragter für Menschenrechts-, Wirtschafts- und Unternehmensfragen, die Schwierigkeiten, die aus dem Umstand erwachsen, dass sich Unternehmen als global player der rechtsstaatlichen Einbindung einzelner Staaten entziehen können.447 che Produktion und Gütertausch, wobei nicht nur Waren für den unmittelbaren Verbrauch getauscht werden, sondern auch Güter für nachfolgende Tauschgeschäfte. So wurde der Weg zur Erwerbs- und zur Geldwirtschaft eingeschlagen. Die Güterknappheit steigt, je mehr Selbständigkeit der Einzelne gegenüber der Gesellschaft erlangt und je mehr Rechte und Handlungsspielräume anderer eingeschränkt werden. Die menschliche Lebenswelt ist gesellschaftlich bearbeitet und kulturell überformt – genauso wie die Natur, deren Ressourcen zur Befriedigung materieller Bedürfnisse erschlossen und genutzt werden. Ohne eine räumliche Expansion und Erschließung neuer Ressourcen müssen die Tauschbeziehungen intensiviert werden, gleichzeitig kommt es zu einer Zunahme an Arbeitsteiligkeit und Kommerzialisierung. In einer vollständig arbeitsteiligen, also kommerzialisierten Gesellschaft sind alle Mitglieder Wirtschaftssubjekte, wobei die Mitglieder mehrere Rollen gleichzeitig einnehmen und sowohl Produzenten als auch Konsumenten, Dienstleister als auch Dienstleistungsnehmer sind. Vgl. Körtner: Evangelische Sozialethik, S. 285; vgl. auch Meckenstock: Wirtschaftsethik, S. 4ff. 443 Vgl. hierzu und zum Nachfolgenden Körtner: Evangelische Sozialethik, S. 286. 444 Martin Honecker: Grundriß der Sozialethik. Berlin u.a. 1995, S. 432. 445 Vgl. hierzu und zum Folgenden Körtner: Evangelische Sozialethik, S. 285. 446 Vgl. hierzu wie auch zum Folgenden Ulrich: Wirtschaftsethik, S. 301. 447 John G. Ruggie: Voluntary Initiatives and Global Economic Governance. Ansprache beim Internationalen Symposium Gütersloh anlässlich der Verleihung des Carl Bertelsmann Preises 2002, Deutschland 4 September 2002 (Manuskript). Zit. nach: Horst Steinmann: Unternehmensethik und Globalisierung – Globale Regeln und private Akteure. In: Heidbrink u.a. (Hg.): Verantwortung, S. 145–174, 145. Der Harvard-Professor Ruggie hatte maßgeblichen Einfluss auf Entstehung und Ausgestaltung des UN Global Compact. Die Unternehmen sind deshalb in der Lage, sich der staatlichen Überwachung der Normeneinhaltung zu entziehen, weil nach derzeitigem Staatsver-
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Auf der anderen Seite kommt es zur Ausdifferenzierung von relativ selbstständig funktionierenden Teil- und Subsystemen der Wirtschaft, die eine Eigendynamik ausbilden und sich schrittweise emanzipieren.448 Daher scheint mit Ulrich besonders auch in der Einflusssphäre der Unternehmen eine neue grundlegende Verhältnisbestimmung zwischen ökonomischer Sachlogik und ethischer Vernunft vonnöten.449 Nationale und internationale Firmenskandale haben seit Mitte der 1990er Jahre den Bedarf einer Unternehmensethik auch einer breiten Öffentlichkeit vor Augen geführt.450 Die mit dem Globalisierungsprozess einhergehenden oben beschriebenen Entwicklungen, dazu die als Konsolidierung oder Rationalisierung umschriebenen Umstrukturierungen großer Konzerne und vielfach auch das als fragwürdig empfundene Handeln einzelner ökonomischer Akteure haben das oft zitierte Spannungsverhältnis zwischen Markt und Moral wieder in den Blick gerückt.451 Das Wirtschaftssystem und seine Protagonisten sehen sich verstärkt dem Vorwurf ausgesetzt, sich blind und bar jeder Moral am Shareholder Value zu orientieren. Unternehmen müssen sich die Anschuldigung gefallen lassen, den Menschen zugunsten ihres Aktienkurses außer Acht zu lassen und schlicht unsittlich und verantwortungslos zu handeln. Angesichts einer wachsenden „Verselbständigung der mittlerweile weltumspannend entfesselten Kräfte des freien Marktes“ steht die Wirtschafts- und Unternehmensethik im Brennpunkt einer „epochalen Herausforderung“.452 „Symptome einer moralischen Verunsicherung von Wirtschaftsunternehmen liegen offen zutage“, so der Stuttgarter Philosoph und Informationsethiker Rafael Capurro.453 Er verweist auf eine Negativbilanz, die „von skandalträchtigem bis zum Bankrott führenden Verhalten großer Unternehmen, über die zweifelhaften Praktiken von Managerabfindungen bis hin zu einer zur Medienschau getragenen Gewissheit, dass Gewinne das entscheidende Qualitätskriterium des Unterneh-
ständnis die Sanktionsmöglichkeit eines Staates an dessen Staatsgrenze endet. Ein Unternehmen kann sich also den Sanktionsmöglichkeiten eines Staates, der Normenverstöße streng bestraft, relativ einfach entziehen, in dem es sich in einem Staat niederlässt, der die Nichteinhaltung von Normen weniger hart oder gar nicht bestraft. (Vgl. dazu Loitlsberger: Geschichte der ökonomischen Theorien, 524f.) 448 Vgl. dazu Körtner: Evangelische Sozialethik, S. 285. 449 Vgl. Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 12. 450 Vgl. hierzu wie zum Folgenden Küpper: Business Ethics, S. 250f. 451 Einige Beispiele zu den mit der Globalisierung einhergehenden Veränderungen finden sich bei Andreas Suchanek/Nick Lin-Hi: Die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen in der Marktwirtschaft. In: Ludger Heidbrink u.a. (Hg.): Verantwortung als marktwirtschaftliches Prinzip. Zum Verhältnis von Moral und Ökonomie. Frankfurt a.M. u.a. 2008, S. 69–96, 72. Vgl. dazu ebf. Steinmann: Unternehmensethik und Globalisierung, S. 145–174. 452 Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 12. 453 Petra Grimm/Rafael Capurro: Unternehmensethik in der Diskussion. In: Diesn. (Hg.): Wirtschaftsethik in der Informationsgesellschaft. Eine Frage des Vertrauens? Stuttgart 2007 (= Medienethik 6), S. 11–22, 11.
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menshandelns darstellen“, reiche.454 Capurro vernimmt einen „Ruf nach Unternehmensethik“, den er als Krisenzeichen wertet und als Ausdruck des Wunsches nach einer „expliziten und kritischen Prüfung überlieferter (impliziter) moralischer Gewissheiten von individuellen Akteuren und Institutionen der Wirtschaft“. Dies deutet er nach dem französischen Philosophen Jean-François Lyotard als augenscheinlich postmodernes Symptom des „Ende[s] der großen Erzählungen“. 455 Aufgrund der „unübersehbaren negativen Auswirkungen ihres Handelns“ sei das „moralische Guthaben vieler Unternehmen aufgebraucht“.456 Zweifelsohne vertritt Capurro damit eine recht radikale Position. Mit vollem Recht kann aber die Frage gestellt werden, inwieweit die Unternehmen im Lichte der sozialen Verpflichtung zum Eigentum ihrer Verantwortlichkeit für die Gesellschaft nachkommen und damit zu deren Zukunftsfähigkeit beitragen.457 In nicht wenigen Darstellungen wird die Auffassung vertreten, dass der subjektiv empfundene Ausstieg der Unternehmen aus ihrer Verantwortlichkeit dazu beigetragen habe, dass besonders in den letzten Jahren das Vertrauen der Menschen in Gesellschaft, politische Institutionen und die Unternehmen spürbar gesunken sei.458 Wenn lebenspraktische Verhältnisse derart zum Reflexionsgegenstand über „Zusammenhänge des guten Lebens, gerechten Zusammenlebens und verantwortlichen Handelns“ werden und allgemein das Bedürfnis nach einer Bereichsethik 454 Grimm/Capurro: Unternehmensethik in der Diskussion, S. 11. 455 So die Kernthese des Namensgebers der Postmoderne in seinem 1979 erschienenen Hauptwerk Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Hg. v. Peter Engelmann. Wien 52005 (= Edition Passagen 7). Für ihn bedeutet das Ende der großen Erzählungen das Ende jener Projekte wie Liberalismus oder Sozialismus, die eine totale Emanzipation zum Ziel hatten. Lyotard zeichnet ein Bild des Postmodernismus, in der dieser als nichts weiter als der Ausdruck und die Bestätigung eines jeweiligen Zeitgeistes erscheint. Jeder geht seinen eigenen Weg und ist unkritisch mit dem Zeitgeist konform. In der Tat liest sich seine Beschreibung einer solchen Gesellschaftsordnung in ihrer pointierten Austauschbarkeit wie die Vorwegnahme der globalisierten Moderne: „Man hört Reggae, schaut Western an, ißt Mittag bei McDonald und kostet zu Abend die heimische Küche, trägt französisches Parfum in Tokyo, kleidet sich nostalgisch in Hong Kong, und als Erkenntnis tritt auf, wonach das Fernsehquiz fragt. […] Dieser Realismus passt sich allen Tendenzen an, wie das Kapital, das sich allen ‚Bedürfnissen‘ anpaßt, unter der alleinigen Voraussetzung, daß Tendenzen und Bedürfnisse über die nötige Kaufkraft verfügen.“ (Jean-François Lyotard: Postmoderne für Kinder. Briefe aus den Jahren 1982 – 1985. Hg. v. Peter Engelmann. Wien 1987 (= Edition Passagen 13), S. 20f.) Vgl. dazu auch Dick Boer: „ … etwas ausser und über der Menschheit …“ Schleiermachers Religionsbegriff in den „Reden“. Postmodernismus avant la lettre? In: Nico F.M. Schreurs (Hg.): „welche unendliche Fülle offenbart sich da …“ Die Wirkungsgeschichte von Schleiermachers „Reden über die Religion“. Papers read at the symposium of the Theological Faculty Tilburg, Tilburg, 15 April 1999. Assen 2003 (= Studies in Theology and Religion 7), S. 105–123, 105f.; vgl. auch Max Preglau: Postmoderne Soziologie. In: Julius Morel u.a.: Soziologische Theorie. Abriß der Ansätze ihrer Hauptvertreter. München u.a. 72001, S. 283–306, 285f.) 456 Grimm/Capurro: Unternehmensethik in der Diskussion, S. 11. 457 Vgl. Schlund: Corporate Social Responsibility (CSR) – eine Sozialinnovation der Unternehmen für die Gesellschaft? S. 67. Vgl. zur Verpflichtung durch Eigentum Art. 14 Abs. 2 Satz 1f. GG. 458 Vgl. dazu kritisch abwägend Schlund: Corporate Social Responsibility, S. 67. Dort finden sich auch entsprechende Belege und Literaturhinweise.
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wächst, ist dies nach Ulrich zugleich immer auch ein Indiz für objektive Veränderungen oder eine gestiegene subjektive Problemwahrnehmung.459 Demgemäß hat die aufkeimende Unternehmensethikdebatte ihren Ursprung – und ihre Notwendigkeit – im verstärkten Aufkommen von Fragen nach dem lebenspraktischen Sinn, der Legitimität und dem Wert einer „zunehmend sachzwanghaft und eigensinnig wirkenden“ Wirtschaftsdynamik und deren sichtbarer Einflüsse auf die natürliche Umwelt, die soziale Lebenswelt sowie die kulturelle Innenwelt.460 Der Ökonom Erich Loitlsberger hat sich in seinen späten Arbeiten für die „Volleinbeziehungsthese“ stark gemacht und mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass „ohne Ethik Betriebe im Sinn der Betriebswirtschaftslehre nicht nur nicht existieren können, sondern auch nicht denkbar sind.“461 Festhalten lässt sich in jedem Fall, dass das viel zitierte Spannungsverhältnis zwischen Markt und Moral, zwischen dem Streben der Unternehmen nach einer Maximierung ihrer Gewinne einerseits und sittlichem Handeln andererseits, das die Verwirklichung ökonomischer, ökologischer wie sozialer Anliegen einschließt, in Öffentlichkeit, Politik, Wissenschaft aber auch in der Wirtschaft selbst verstärkt als Problem wahrgenommen wird, das es zu lösen gilt.462 Getreu der Forderung Max Webers, dass der Gesinnungsethik eine Verantwortungsethik zu folgen habe, ertönt der Ruf nach Ethik, nach Verantwortung und Nachhaltigkeit.463 Allenthalben kursieren Schlagwörter und Modelle wie Corporate Governance, Corporate Citizenship und Corporate Social Responsibility, und in Politik und Wirtschaft wurden diverse Gremien eingerichtet und unterschiedlichste Kodizes diskutiert und auch umgesetzt – eindeutige Belege für eine sich intensivierende Debatte über nachhaltiges und verantwortliches unternehmerisches Handeln.464 „Es gibt landauf, landab sehr viele Unternehmensführer, die auf vielfältige Art und Weise ein beredtes Zeugnis dafür ablegen, dass neben Profit auch noch etwas anderes vom Unternehmen ausgehen muss, wenn es sich weiterhin als Teil dieser Gesellschaft trotz vielfältiger Ausweichmöglichkeiten und -erfordernisse bzw. Sachzwänge einer globalisierten Weltwirtschaft (Stichwort: Standortverlagerung) versteht.“465
459 Ulrich: Wirtschaftsethik. In: Handbuch Ethik, S. 297. 460 Ebd., S. 297; vgl. ebf. Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 98. 461 Loitlsberger: Geschichte der ökonomischen Theorien. In: Handbuch der Wirtschaftsethik 1, S. 563. Die Betriebswirtschaftslehre beschäftige sich nach ihrem Selbstverständnis mit Do-ut-des-Systemen mit mehrfach wechselseitiger Nutzenstiftung – eine einseitige Nutzenstiftung sei schlicht unmöglich. Deshalb sei Ethik für die Betriebswirtschaftslehre ein systemimmanenter Tatbestand. (Vgl. ebd.) 462 Vgl. dazu auch Pies/Sardison: Wirtschaftsethik, S. 268. 463 Vgl. hierzu grundlegend Max Weber: Politik als Beruf. Berlin 51968. 464 Capurro erkennt darin sogar schon einen sich anbahnenden „paradigmatischen Wandel“ in der Managementtheorie und in der Unternehmenspraxis. Vgl. Grimm/Capurro: Unternehmensethik in der Diskussion, S. 11. 465 Schlund: Corporate Social Responsibility, S. 69.
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Der Spagat ist für die Unternehmen dabei nicht immer einfach zu bewerkstelligen: Müssen sich die Unternehmen doch der permanenten Herausforderung stellen, einerseits in einem sich ständig wandelnden, globalen Wettbewerb zu bestehen, gleichzeitig aber auch den zunehmenden Forderungen wie dem eigenen Anspruch nach größerer gesellschaftlicher Verantwortungsübernahme gerecht zu werden.466 Dabei wird deutlich, dass für den zukünftigen Erfolg andere Steuerungsmodelle der Unternehmenspolitik und -führung vonnöten sind. Fassen wir zusammen und blicken wir voraus: Die Entwicklung der Ökonomie in der Moderne, die Möglichkeiten globaler Märkte, aber auch die veränderten gesellschaftlichen Ansprüche machen die Entwicklung, Etablierung und konkrete Anwendung einer zeitgemäßen Wirtschafts- und Unternehmensethik, aber auch die Diskussion ihrer ethischen Begründung unabdingbar.467 Viele Unternehmen sind dazu bereit, ihre soziale Verantwortung zu thematisieren und ihr Handeln an Leitbildern wie Nachhaltigkeit und Verantwortung auszurichten – freilich auch als Reaktion auf konkrete Forderungen nach einer freiwilligen, autonomen Selbstbindung an Grundsätze der Geschäftsintegrität im Umgang mit allen gesellschaftlichen Anspruchsgruppen und der ethischen Mitverantwortung für das Gemeinwohl.468 Auch ist ganz grundsätzlich das Bewusstsein dafür gewachsen, dass unternehmerisches Handeln ethische Folgen zeitigt. Die Forderung an die Unternehmen nach Ethik und Moral belegt die veränderte Erwartungshaltung und das veränderte Kommunikationsverhalten bestimmter Anspruchsgruppen, was wiederum ein verändertes Kommunikationsverhalten der Unternehmen nach sich zieht. Dieses Verständnis deckt sich im Übrigen auch mit den obigen Ergebnissen, wonach eine Wirtschaftsethik nur dann als sinnvolle Disziplin der Ethik erscheint, wenn ökonomische Prozesse nicht ausschließlich als quasi naturgesetzlich ablaufende Mechanismen verstanden werden, sondern als Resultat verantwortlicher 466 Vgl. Schlund: Corporate Social Responsibility, S. 68f. 467 Vgl. hierzu und zum Folgenden auch die Gedanken in Schwartz: Ökonomisierung, S. 93. 468 Vgl. Ulrich: Wirtschaftsethik. In: Handbuch Ethik, S. 301; vgl. zudem Loitlsberger: Geschichte der ökonomischen Theorien, S. 525; vgl. außerdem Brigitta Herrmann: Wirtschaftsethik – Stand der Forschung. In: Zeitschrift für Betriebswirtschaft – Ergänzungsheft 1 (1992), S. 1–33; vgl. grundlegend zu dieser Entwicklung im Zusammenhang mit der Globalisierung auch den Bericht des Club of Rome Alexander King u.a.: Die globale Revolution. Ein Bericht des Rates des Club of Rome. Bericht zur Lage der Welt. 20 Jahre nach ‚Die Grenzen des Wachstums‘. Hamburg 1991. An der Entwicklung umfassender unternehmerischer Ethikprogramme zur pragmatischen Umsetzung dieser unternehmensethischen Leitideen in Wissenschaft und Praxis wird zunehmend gearbeitet. (Vgl. dazu grundlegend Peter Ulrich/Josef Wieland (Hg.): Unternehmensethik in der Praxis. Impulse aus den USA, Deutschland und der Schweiz. Bern u.a. 21999.) Ein mögliches Ziel könnte eine intelligente rechtsstaatliche Einbindung sein, wie sie speziell die US-amerikanischen Federal Sentencing Guidelines darstellen. (Vgl. Horst Steinmann/Thomas Olbrich: Business Ethics in U.S.Corporations. Results from an Interview Series. In: Peter Ulrich/Josef Wieland (Hg.): Unternehmensethik in der Praxis. Impulse aus den USA, Deutschland und der Schweiz. Bern u.a. 21999, S. 63–89.) Ulrich weist darauf hin, dass durch entsprechende Verankerungen die unternehmenspolitische Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme enorm gefördert werden kann. (Vgl. Ulrich: Wirtschaftsethik. In: Handbuch Ethik, S. 302.)
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Das Verhältnis von Ethik und Ökonomik
Entscheidungen und somit moralisch beurteilbarer Handlungen betrachtet werden.469 Eine solche Wirtschafts- und Unternehmensethik geht dabei von der Prämisse aus, dass Wirtschaft kein „vollständig determinierter Funktionszusammenhang“, sondern ein „höchst verschlungenes Interaktionsfeld mannigfaltiger Wirtschaftssubjekte“ ist, „die ihr wirksames Handeln verantwortlich gestalten müssen“.470 Mit Sicherheit ist der aktuelle Ruf nach Wirtschafts- und Unternehmensethik keine intellektuelle, idealistische Modeerscheinung, sondern Ausdruck der Existenz und Wahrnehmung ethisch-praktischer Probleme.471 Als regelrechtes „Allheilmittel gegen erodierendes Vertrauen und stagnierendes Wachstum“ wird dabei von der Fachliteratur die Corporate Social Responsibility gepriesen.472 Sie steht im Mittelpunkt der anschließenden Teile dieser Arbeit.
469 Vgl. Körtner: Evangelische Sozialethik, S. 286. 470 Meckenstock: Wirtschaftsethik, S. 4. 471 Vgl. Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik, S. 98. 472 Mario Schranz: Wirtschaft zwischen Profit und Moral. Die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen im Rahmen der öffentlichen Kommunikation. Wiesbaden 2007, S. 13.
„Wer nur um des Geldes willen Gutes tut, wartet nur darauf, besser bezahlt zu werden, um Schlechteres zu tun.“ (Jean-Jacques Rousseau)
„Der Kaufmann hat in der ganzen Welt dieselbe Religion.“ (Heinrich Heine, Briefe aus Berlin, 16.3.1822)
3. Nachhaltiges und verantwortliches Handeln in der unternehmerischen Praxis 3.1 Unternehmerische Verantwortung als ethisches Konzept 3.1.1 Entwicklung unternehmerischer Verantwortung Erinnern wir uns an Milton Friedmans Diktum aus dem Jahr 1970, „The Social Responsibility of Business is to increase its Profits“, wonach Unternehmen für nichts anderes als ihre Profitabilität und Rentabilität Verantwortung trügen.1 Friedman machte keinen Hehl daraus, was er von Unternehmern hält, die neben dem Profitstreben auch „wünschenswerte soziale Zwecke“ und ein „soziales Gewissen“ des Wirtschaftens anpreisen oder dessen Verantwortlichkeit für „das Anbieten von Beschäftigung, das Eliminieren von Diskriminierung, die Vermeidung von Umweltverschmutzung“ behaupten.2 Sie und alle, die sie ernst nähmen, propagierten puren und reinen Sozialismus.3 Im Engagement von Unternehmensführern für soziale Interessen sieht Friedman eine Gefährdung der gesamtgesellschaftlichen Freiheit.4 Die große Konkurrenz zwischen den beiden Wirtschaftssystemen ist deutlich zu spüren in einer Zeit, in welcher an die Wirtschaft immer mehr Gemeinwohlaufgaben delegiert wurden, die nach Auffassung zahlreicher Ökonomen im Verantwortungsbereich des Staates lagen.5 Danach ist es dessen Aufgabe, soziale Missstände zu identifizieren und zu beseitigen. Er verfügt über die notwendigen Informationen und das Steuersystem, mit dessen Hilfe er eine allokativ effiziente Distribution der Gelder erwirken kann. Manager, die solche Aufgaben übernehmen, bewegen sich auf dem Aufgabengebiet des Staates und laufen Gefahr, aufgrund begrenzter Informationen die Gelder ineffizient zu verwenden. Außerdem befürchtet Friedman, dass gewissermaßen als Staatsbeamte handelnde Manager 1
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Friedman: The Social Responsibility of Business, S. 32f. Praktisch gleichlautend: „There is one and only one social responsibility of business – to use its resources and engage in activities designed to increase its profits so long as it stays within the rules of the game, which is to say, engages in open and free competition without deception or fraud.“ (Milton Friedman: Capitalism and Freedom. Chicago 1962, S. 32.) Ebd., dem ist auch das nachfolgende Zitat entnommen. (Alle Zitate: eigene Übersetzung.) Das Originalzitat lautet: „The businessmen believe that they are defending free enterprise when they declaim that business is not concerned ‚merely‘ with profit but also with promoting desirable ‚social‘ ends; that business has a ‚social conscience‘ and takes seriously its responsibilities for providing employment, eliminating discrimination, avoiding pollution and whatever else may be the catchwords of the contemporary crop of reformers. In fact they are–or would be if they or anyone else took them seriously–preaching pure and unadulterated socialism.“ Vgl. hierzu und zum Folgenden Friedman: Freedom, S. 175f. Vgl. dazu wie zum Folgenden Schranz: Profit und Moral, S. 13.
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Nachhaltiges und verantwortliches Handeln in der unternehmerischen Praxis
den staatlichen Einfluss innerhalb der Unternehmen vergrößern könnten. Friedman und seine Mitstreiter wurden erhört, als nur wenige Jahre später während der Regierungszeiten Ronald Reagans in den USA und Margaret Thatchers in Großbritannien die staatliche Interventionspolitik zugunsten einer deutlich freiheitlicheren Gesellschaftsordnung aufgegeben wurde. Kritik an der ökonomisch liberalen Position, die das Unternehmen als unselbständiges, lediglich rechtliches Konstrukt innerhalb eines von außen vorgegebenen, institutionellen Rahmen betrachtete, mehrte sich schon früh.6 Paul A. Samuelson, ebenfalls Nobelpreisträger und wohl prominentester Opponent Friedmans, steht stellvertretend für eine Vielzahl von Positionen, die – bereits ab den frühen 1960er Jahren – die Zugehörigkeit des Unternehmens zur Gesellschaft und deren Abhängigkeit von ihrer Entwicklung betonten.7 Überhaupt erst durch die Gesellschaft, die überdies mit ihrem freiheitlichen System für ein günstiges Wettbewerbsumfeld sorge, werde unternehmerisches Handeln legitimiert. Vor allem mit der wachsenden Größe vieler Konzerne und ihrem damit steigenden gesellschaftlichen Einfluss ginge die Verpflichtung einher, Weiterentwicklungen und Veränderungen der gesellschaftlichen Anliegen anzunehmen und zu unterstützen. Auffallend deutlich wird hier das Pflichtenmodell einer „Corporate Social Responsibility“ formuliert.8 Bis sich eine solche Vorstellung erweiterter unternehmerischer Verantwortung allerdings durchsetzen konnte, dauerte es noch eine Weile. Lange blieb das traditionelle unternehmerische Selbstverständnis beherrschend, wonach Verantwortung in der Marktwirtschaft dadurch positiv ausgefüllt wird, dass die Unternehmen die ihnen in der liberalen Konzeption von Marktwirtschaft zugedachte Rolle möglichst gut ausfüllen: durch eine erfolgreiche Realisierung des eigenen Rentabilitätsstreben, um vornehmlich der Funktion marktwirtschaftlichen Wettbewerbs
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Vgl. hierzu und zum Folgenden auch Oliver Falck/Stephan Heblich: Corporate Social Responsibility: Einbettung des Unternehmens in das Wirtschaftssystem. Passau 2006 (= Passauer Diskussionspapiere, Volkswirtschaftliche Reihe 45), S. 5. So stellt Samuelson unmissverständlich klar: „A large corporation these days not only may engage in social responsibility, it had damn well better try to do so.“ (Paul A. Samuelson: Love that corporation. In: Mountain Bell Magazine 1971, S. 24; Zit. nach: Keith Davis: The Case for and against Business Assumption of Social Responsibilities. In: The Academy of Management Journal 16 (1973), Nr. 2, S. 312–322, 312.) Eine Extremposition nahmen Manne/Wallich ein. Sie forderten im Sinne eines moralischen Imperativs von Unternehmen ein gänzlich uneigennütziges Verhalten. (Vgl. Henry G. Manne/Henry C. Wallich: The modern corporation and social responsibility. Washington, DC 1972 (= Rational Debate Seminars, Series 6, 3), S. 8.) So unterstreichen Eells und Walton: „In its broadest sense, corporate social responsibility represents a concern with the needs and goals of society which goes beyond the merely economic. Insofar as the business systems as it exists today can only survive in an effective functioning free society, the corporate social responsibility movement represents a broad concern with business’s role in supporting and improving that social order.“ (Richard Eells/Clarence Walton: Conceptual foundations of business [1969]. Rev. ed. Homewood 31974, S. 247.)
Unternehmerische Verantwortung als ethisches Konzept
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Rechnung zu tragen.9 Dass diese klassisch neoliberale Ablehnung jeder Form von Verantwortung und der ehedem populäre Slogan „The Business of Business is Business“ heute – wie im vorangegangenen Kapitel dargestellt – weder in Praxis noch in Theorie weiterhin Gültigkeit beanspruchen können, hängt wesentlich mit der veränderten öffentlichen Meinung zusammen. So wird heutzutage die Übernahme sozialer Verantwortung normativ-philosophisch als eine genuin unternehmensethische Verpflichtung angesehen.10 Diese zu ignorieren, würde von einer breiten Öffentlichkeit mittlerweile als Provokation empfunden werden.11 Die an die Unternehmen gerichtete Forderung nach Ethik und Moral sind Beleg für die veränderte Erwartung aber auch das veränderte Kommunikationsverhalten bestimmter Anspruchsgruppen. Dass von den Unternehmen nun in aller Deutlichkeit konkrete Problemlösungen eingefordert werden, ist dabei eine Reaktion auf die Wahrnehmung ethisch-praktischer Probleme: Staatliche Fürsorgeleistungen wurden in den meisten entwickelten Staaten in der näheren Vergangenheit tendenziell zurückgefahren. So sorgen der fortschreitende Rückzug des Staates aus der sozialen Verantwortung ebenso wie die Folgen einer ungehemmten, politisch auf einer translateralen Ebene noch nicht eingedämmten Globalisierung wie der Wertewandel in den Gesellschaften und damit einhergehend eine wachsende Anzahl wirtschaftlicher und wirtschaftskrimineller Skandale für eine gestiegene Erwartungshaltung der Bevölkerung an die Unternehmen12: „Wenn sich im Ruf nach Verantwortung ein Symptom für den Mangel an ihr zeigt, drückt sich damit ein wachsendes Orientierungsbedürfnis für ein zeitgemäßes verantwortliches Handeln aus.“13 Womöglich musste das Kind erst in den Brunnen fallen: So betonen auch Thomas Beschorner und Matthias Schmidt, dass „allen voran die großen Unternehmensskandale der vergangenen Jahre“ ursächlich dafür gewesen seien, dass die Unternehmen nicht mehr umhin kommen, sich verstärkt mit Fragen unternehme-
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Vgl. Reinhard Pfriem: Kulturelle Bildung als mögliche Herausforderung für Unternehmensstrategien. In: Ludger Heidbrink u.a. (Hg.): Verantwortung als marktwirtschaftliches Prinzip. Zum Verhältnis von Moral und Ökonomie. Frankfurt a.M. u.a. 2008, S. 457–477, 457. Vgl. dazu die Abwägung bei Thomas Schwartz: Corporate Social Responsibility: Kontrolle ist gut – Vertrauen ist besser! Stärken und Schwächen zeitgenössischer Management-Konzepte am Beispiel der CSR. In: BA Dialog 5 (2007), Nr. 7, S. 7–12, 7. Vgl. auch Schranz: Profit und Moral, S. 13. Vgl. Schwartz: Corporate Social Responsibility, S. 7; vgl. zu den einschlägigen Skandalen der zurückliegenden Jahre ebf. Carmen Wieser: „Corporate Social Responsibility“ – Ethik, Kosmetik oder Strategie? Über die Relevanz der sozialen Verantwortung in der strategischen Unternehmensführung. Wien 2005 (= Wirtschaftswissenschaften 11), S. 34f.; vgl. zu den gestiegenen Erwartungen der Bevölkerung bes. die aufschlussreichen empirischen Ergebnisse in der Studie des Instituts für Markt-Umwelt-Gesellschaft: Institut für ökologische Wirtschaftsforschung/Institut für Markt-Umwelt-Gesellschaft (Hg.): Nachhaltigkeitsberichterstattung – die Praxis glaubwürdiger Kommunikation zukunftsfähiger Unternehmen. Berlin 2002, S. 14f. Wendelin Küpers: Perspektiven responsiver und integraler „Ver-Antwortung“ in Organisationen und der Wirtschaft. In: Ludger Heidbrink u.a. (Hg.): Verantwortung als marktwirtschaftliches Prinzip. Zum Verhältnis von Moral und Ökonomie. Frankfurt a.M. u.a. 2008, S. 307–337, 308.
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Nachhaltiges und verantwortliches Handeln in der unternehmerischen Praxis
rischer Verantwortung zu beschäftigen.14 Wer heute nachhaltiges und verantwortliches unternehmerisches Handeln erwartet und fordert, ist also kein einsamer Rufer im Walde mehr. Die Unternehmensethik, in Deutschland bis vor wenigen Jahren fast ausschließlich eine Spielwiese für eine kleine Schar von Fachwissenschaftlern, wird populär.15 Während die Praxis von der möglicherweise als etwas sperrig und unbequem empfundenen Unternehmensethik lange Zeit nichts wissen wollte, erhalten jetzt die unter wohlklingenden Namen firmierenden Corporate Social Responsibility (CSR) und Corporate Citizenship (CC) in zunehmendem Maße Einzug in die unternehmerische Praxis.16 Freilich müssen aber erst die Art und Weise ihrer tagtäglichen konkreten Umsetzung in den Unternehmen und aus ihr resultierende mess- und bewertbare Erfolge den Beweis erbringen, dass diese Begriffe mehr sind als eine bloße Management-Mode.17 Zumal sich die Frage aufdrängt, warum plötzlich in der unternehmerischen Praxis allerorts von der Unternehmensverantwortung gesprochen wird. Bevor allerdings dieser Frage nachgegangen werden soll, ist zuerst zu klären, ob und inwieweit Unternehmen überhaupt dazu in der Lage sind, als moralische Akteure Verantwortung zu übernehmen. 3.1.2 Unternehmen als Akteure – das Problem der Verantwortung Die Diskussion über die Verantwortung von Unternehmen hat in den zurückliegenden Jahren in Theorie und Praxis stark an Bedeutung gewonnen, wobei das Konzept von den analytischen Beiträgen der Wissenschaft, vom Input der Kommunikations- und Beratungsbranche, aber auch durch die aktive Bearbeitung der Begrifflichkeit durch die Unternehmen selbst vorangetrieben wurde.18 In der deutschen unternehmensethischen Literatur ist die Frage nach der moralischen Verantwortung von Unternehmen im Gegensatz zu den nordamerikanischen Business Ethics lange Zeit praktisch gar nicht diskutiert worden.19 So muss der zuvor an die Wirtschaft gerichtete Vorwurf auch ein Stück weit auf die Wissenschaft übertragen werden: Die Frage nach der ethischen Verantwortung von Unternehmen wurde 14 Thomas Beschorner/Matthias Schmidt: Corporate Social Responsibility und Corporate Citizenship – zur Einführung. In: Diesn (Hg.): Corporate Social Responsibility und Corporate Citizenship. München u.a. 22008 (= Schriftenreihe für Wirtschafts- und Unternehmensethik 17), S. 9–15, 9. 15 Thomas Beschorner/Kristin Vorbohle: Neue Spielregeln für eine (verantwortliche) Unternehmensführung. In: Matthias Schmidt/Thomas Beschorner u.a. (Hg.): Corporate Social Responsibility und Corporate Citizenship. München u.a. 22008 (= Schriftenreihe für Wirtschafts- und Unternehmensethik 17), S. 105–112, 105. 16 Beschorner/Schmidt: Corporate Social Responsibility und Corporate Citizenship – zur Einführung, S. 9. 17 Vgl. dazu grundlegend Alfred Kieser: Moden und Mythen des Organisierens. In: Die Betriebswirtschaft 56 (1996), S. 21–39. 18 Vgl. Schranz: Profit und Moral, S. 19. 19 Vgl. dazu und zum Folgenden Georges Enderle: Handlungsorientierte Wirtschaftsethik. Grundlagen und Anwendungen. Bern u.a. 1993 (= St. Galler Beiträge zur Wirtschaftsethik 8), S. 199.
Unternehmerische Verantwortung als ethisches Konzept
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erst thematisiert, als Umweltkatastrophen oder – aktueller – die sozialen Folgen der Globalisierung sie virulent machten. Bis heute wird bei der Konkretisierung von Unternehmensverantwortung indes oft genug mit einem wenig reflektierten Konzept von Verantwortung operiert.20 Und so erwachsen aus begrifflichen Diffusitäten häufig auch Schwierigkeiten bei der konkreten konzeptionellen Anwendung und Umsetzung.21 Würde man soweit gehen müssen, für diesen Umstand einen Schuldigen zu benennen, so wäre er sicher nicht allein in der Wirtschaftsund Unternehmensethik zu suchen. Nähern wir uns deshalb zunächst grundsätzlich dem ethischen Grundbegriff und dem Konzept der Verantwortung an.22 3.1.2.1
Die Entwicklung des Verantwortungsbegriffs
Fachvertreter sind der Auffassung, dass es gegenwärtig auf vielen Diskussionfeldern der praktischen Philosophie zu einer regelrechten „Inflationierung des Verantwortungsbegriffs“ kommt.23 Bereits vor gut zwanzig Jahren stellte Heinz Hülsmann fest, dass Verantwortung „en vogue“ sei, doch erweckte die wachsende Inflation des Begriffs bei ihm zugleich Misstrauen: „Dass die Lösung sozialer Konflikte und Antagonismen in einer Ethik der Verantwortung zu suchen sei, kann misstrauisch machen.“24 Als hauptverantwortlich für die bemerkenswerte Karriere von Verantwortungsbegriff und -konzept kann Hans Jonas’ Hauptwerk Das Prinzip Verantwortung von 1979 angesehen werden, in dem er eine „Ethik für die technologische Zivilisation“ zu entwickeln sucht.25 „Die Sorge um die Verantwortlichkeit 20 Vgl. zur Kritik Suchanek/Lin-Hi: Marktwirtschaft, S. 69–96, 69. 21 Vgl. dazu auch Chris Marsden: In Defence of Corporate Responsibility. In: Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik 6 (2005), Nr. 5, S. 359–373, 359. 22 Vgl. grundlegend zum Verantwortungsbegriff Kurt Bayertz: Eine kurze Geschichte der Herkunft der Verantwortung. In: Ders. (Hg.): Verantwortung. Prinzip oder Problem? Darmstadt 1995, S. 3– 71; Hans Lenk/Martin Maring: Verantwortung – Normatives Interpretationskonstrukt und empirische Beschreibung. In: Lutz H. Eckensberger u.a. (Hg.): Ethische Norm und empirische Hypothese. Frankfurt a.M. 1993 (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1088), S. 222–243; Dieter Birnbacher: Grenzen der Verantwortung. In: Kurt Bayertz (Hg.): Verantwortung. Prinzip oder Problem? Darmstadt 1995, S. 143–183; Hans Lenk: Konkrete Humanität. Vorlesungen über Verantwortung und Menschlichkeit. Frankfurt a.M. 1998 (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1250). 23 Walter Reese-Schäfer: Autonomiepostulat als Verantwortungszumutung: Jeder ein Unternehmer? In: Ludger Heidbrink u.a. (Hg.): Verantwortung als marktwirtschaftliches Prinzip. Zum Verhältnis von Moral und Ökonomie. Frankfurt a.M. u.a. 2008, S. 395–418, 395. 24 Heinz Hülsmann: Soziale Verantwortung von Technik und Wissenschaft heute. Oder: Was können und sollen Techniker/innen und Wissenschaftler/innen angesichts der neuen Technologien und ihrer Auswirkungen verantworten? In: Dialektik 14 (1987), S. 110–129, 112. 25 Vgl. Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt a.M. 1979. Das einflussreiche ethische Hauptwerk des Philosophen beginnt mit einer Analyse des veränderten Wesens menschlichen Handelns unter den Bedingungen der modernen Technik. Dabei vertritt er die These, dass die klassischen und tradierten Ethiken den veränderten Bedingungen der gegenwärtigen Welt nicht mehr gerecht werden. Prinzip der bisherigen Ethik sei eine Konzentration auf den unmittelbaren Nahbereich menschlicher Verantwortung. Ihr mangele es an einer Verantwortung sowohl gegenüber vergangenen als auch gegenüber zukünftigen Gene-
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Nachhaltiges und verantwortliches Handeln in der unternehmerischen Praxis
steht im Zentrum der dekonstruktiven Erfahrung“, erklärte der französische Philosoph Derrida und vertritt damit eine durchaus neue Sicht der Dinge.26 Zwar lässt sich der deutsche Begriff „Verantwortung“ seit dem 15. Jahrhundert nachweisen, in der langen Geschichte der Philosophie aber ist die Karriere des Verantwortungsbegriffs nicht älter als 100 Jahre.27 In der Geschichte philosophischer Theorien spielte der erstaunlich junge Begriff nur sporadisch eine Rolle.28 Möglicherweise hängt das auch mit der bisherigen (Geistes-)Geschichte der Menschen zusammen: Die von oben oktroyierten Weltanschauungen bildeten sehr lange einen weltanschaulichen und gesellschaftlichen Kontext, in dem Begriffe wie Schuld, Sollen und Pflicht einen eindeutigeren Nutzen darzustellen vermochten als der der Verantwortung.29 Der Begriff „Verantwortung“ in seiner heutigen Verwendung verweist unverkennbar auf die Praxis des „Für-etwas-Rede-und-Antwort-Stehens“.30 „Verantwortung“ wird so heute in der Regel als mehrstelliger kontextabhängiger Relationsbegriff verstanden.31 In seiner Kernbedeutung drückt er die Verpflichtungen eines Verantwortungssubjekts für etwas, den Verantwortungsgegenstand, vor oder gegenüber Personen, Gegenständen oder Zuständen (Verantwortungsinstanz) aufgrund bestimmter normativer Standards (Normhintergrund) aus.32 Da die Frage
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rationen oder fremden und entfernten Kulturen. Mit dem Wandel der Technik müsse die Ethik zur „Fernstenliebe“ erweitert werden. Vor diesem Hintergrund formuliert Jonas in Anknüpfung an Immanuel Kant einen neuen ethischen Imperativ, der als „ökologischer Imperativ“ bekannt ist und bei dem die gesamte gefährdete Natur zum Gegenstand menschlicher Verantwortung erhoben wird: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“ (Jonas: Das Prinzip Verantwortung, S. 36; vgl. dazu Jan Rohls: Protestantische Theologie der Neuzeit. Bd. 2: Das 20. Jahrhundert. Tübingen 1997, S. 743; vgl. ferner Holger Rogall: Neue Umweltökonomie – Ökologische Ökonomie. Ökonomische und ethische Grundlagen der Nachhaltigkeit, Instrumente zu ihrer Durchsetzung. Opladen 2002, S. 131f.) Jonas wird gleichlautend in verschiedenen Stellungnahmen als Verursacher der Verantwortungs-Inflation genannt; vgl. Kurt Röttgers: Verantwortung nach der Moderne in sozialphilosophischer Perspektive. In: Thomas Beschorner u.a. (Hg.): Unternehmensverantwortung aus kulturalistischer Sicht. Marburg 2007 (= Theorie der Unternehmung 37), S. 17–32, S. 17; vgl. auch Reinhard Schulz: Äquivokationen bei der Zuschreibung moralischer Verantwortung in Unternehmen. In: Thomas Beschorner u.a. (Hg.): Unternehmensverantwortung aus kulturalistischer Sicht. Marburg 2007 (= Theorie der Unternehmung 37), S. 33–43, 33f. Jacques Derrida: Interview. In: Florian Rötzer: Französische Philosophen im Gespräch. München 1986, S. 67–87, 77f. Vgl. Röttgers: Verantwortung nach der Moderne, S. 17f. Dort finden sich auch entsprechende (z.T. historische) Belege. Vgl. dazu wie zum Folgenden überdies Micha H. Werner: Verantwortung. In: Handbuch Ethik. Hg. v. Marcus Düwell u.a. Stuttgart u.a. 22006, S. 541–548, 543. Vgl. Röttgers: Verantwortung nach der Moderne, S. 20. Vgl. Pfriem: Bildung als Herausforderung, S. 458. Die Entwicklung dieser Begriffe in der philosophischen Ethik können hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden. Vgl. dazu Werner: Verantwortung, S. 543f. Vgl. dazu und zum Folgenden ausführlich mit entsprechenden Belegen Werner: Verantwortung, S. 541f. Vgl. dazu und zum Folgenden Werner: Verantwortung, S. 542. Vgl. Küpers: Ver-Antwortung, S. 312f.
Unternehmerische Verantwortung als ethisches Konzept
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nach der Rechtfertigung von Handlungen und Handlungsnormen im Mittelpunkt der normativen Ethik steht, kommt in ihr dem Verantwortungsbegriff eine zentrale Stellung zu.33 Bei einer genaueren Betrachtung der Verwendungsweisen des Verantwortungsbegriffs stößt man zwar auf unterschiedliche Bedeutungen, die jedoch stets in einer Beziehung zur Kernbedeutung stehen. Grundlegend ist eine Gruppe von Bedeutungen, in denen der Verantwortungsbegriff als sogenannter Zuschreibungsbegriff fungiert.34 Dabei findet der Verantwortungsbegriff in zwei nicht unmittelbar aufeinander abbildbaren Weisen Verwendung: in prospektiver und retrospektiver Bedeutung.35 Retrospektive Bedeutung meint ein zur Verantwortung gezogen werden – man soll Antworten auf Fragen geben oder wird sogar dazu genötigt. Prospektive Bedeutung meint die Übernahme von Verantwortung: Dabei wird eine Frageinstanz fingiert, die über die Befragung durch die unmittelbar Betroffenen hinausgeht. Dieses Übernehmen bestimmter Verpflichtungen gegenüber Personen, Gegenständen oder Zuständen ist oft mit der Position eines Funktionsträgers verbunden gedacht. Häufig verfügt es auch über einen Vernetzungsaspekt im Sinne einer Verantwortungsübernahme für andere Positionen im Netz sozialer Funktionen. Dabei kann es sich um rechtliche, politische, berufliche oder in einer anderen Weise konventionelle Verpflichtungen handeln.36 Im Begriff und Konzept der Eigenverantwortung tritt dieser doppelte Verantwortungsbegriff kombiniert auf und entspricht einem Gezogenwerden durch einen eigenen, inneren Anderen.37 Ein solches Konzept, bei dem das sich als moralisch und autonom erklärende Subjekt aus eigener Verantwortung handelt, taucht in der Philosophie im 19. Jahrhundert auf.38 Durch Iterierung, Futurisierung und Moralisierung der Verantwortungsprozesse erlangt der Verantwortungsbegriff eine Universalität, die ihn im 20. Jahrhun33 Vgl. dazu wie zum Folgenden Werner: Verantwortung, S. 542. 34 Vgl. hierzu Konrad Ott: Ipso facto. Zur ethischen Begründung normativer Implikate wissenschaftlicher Praxis. Frankfurt a.M. 1997, S. 252. 35 Vgl. hierzu wie zum Folgenden Kurt Röttgers: Verantwortung für Innovationen. In: Ludger Heidbrink u.a. (Hg.): Verantwortung als marktwirtschaftliches Prinzip. Zum Verhältnis von Moral und Ökonomie. Frankfurt a.M. u.a. 2008, S. 433–455, 433; vgl. dazu grundlegend R. Antony Duff: Responsibility. In: Routledge Encyclopedia of Philosophy. Bd. 8. London u.a. 1998, S. 290–294; vgl. dazu ebf. Michael J. Zimmermann: Responsibility. In: Lawrence C. Becker u.a. (Hg.): Encyclopedia of Ethics. Bd. 2. New York u.a. 1992, S. 1089–1095. 36 Vgl. Werner: Verantwortung, S. 542. 37 Vgl. Röttgers: Verantwortung für Innovationen, S. 433f. 38 Vgl. hierzu Röttgers: Verantwortung für Innovationen, S. 434. Dabei wird der kommunikative Prozess zwischen Selbst und Anderem in einem einzigen und darin repräsentativem Subjekt simuliert, das sich selbst die Fragen stellt, auf die es dann aus Pflicht antwortet. Nimmt man die Verantwortungsübernahme für Funktionspositionen im Netz der Gesellschaft ernst, so heißt nach Röttgers „aus eigener Verantwortung“ zunächst einmal nichts anderes, als die zugeschriebene Position mitsamt der damit verbundenen Verantwortungszuschreibung aktiv und gestalterisch auszufüllen. Röttgers merkt an, dass erst, wenn man Eigenverantwortung von Funktions- und Positionszuschreibungen löse, um sie an ursprüngliche Autonomie des Menschen als Vernunftwesen zu knüpfen, der Begriff mitunter widersinnig werde.
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Nachhaltiges und verantwortliches Handeln in der unternehmerischen Praxis
dert geeignet machte, zum funktionalen Äquivalent für den bis ins erste Drittel des Jahrhunderts dominanten Pflichtbegriff zu werden und letzteren als Orientierungsbegriff abzulösen.39 Der Pflichtbegriff, wie er vor allem in der kantischen Ethik formuliert vorliegt, vereinigt die beiden Komponenten des späteren Verantwortungsbegriffs des Gezogenwerdens und des Übernehmens.40 Für die Theorie der moralischen Verantwortung kommt der Philosophie Immanuel Kants zentrale Bedeutung zu.41 Kant konzipiert die Autonomie als Fähigkeit zur vernünftigen Selbstbestimmung, womit Freiheit und moralische Verantwortlichkeit (im prospektiven Sinne) zu gleichursprünglichen Konzepten werden: Durch die Selbstbestimmung als autonomes Vernunftwesen erfolgt eine Selbstzuschreibung moralischer Verantwortung, nämlich die Verpflichtung, das eigene Handeln an allgemein akzeptablen Gesetzen zu orientieren.42 Damit ist in der kantischen Ethik nicht nur Freiheit Voraussetzung der Verantwortlichkeit, sondern umgekehrt Verantwortlichkeit auch Grund der Freiheit. Die Zuschreibung moralischer Verantwortung geschieht nicht nur von außen in einer sozialen Konstruktion, sondern gründet letzten Endes in der notwendigen Selbstzuschreibung freier, aber endlicher Vernunftwesen.43 Aus diesen Grundsätzen leitet sich auch der Schluss ab, dass „sowohl prospektive als auch retropesktive Verantwortung […] – im eigentlichen Sinne – nur handlungsfähigen Wesen (Personen) zugeschrieben werden“ kann.44 Entsprechend ist es umstritten, ob auch Korporationen wie beispielsweise Unternehmen moralische Verantwortung zugeschrieben werden kann. Gerade die Frage nach der moralischen Verantwortung von Unternehmen ist deshalb von derart herausragender Bedeutung, weil jede Konzeption einer Unternehmensethik doch immer auch implizit oder explizit ein gewisses Verständnis für den moralischen Status des Unternehmens voraussetzt, wie bereits Enderle zurecht anmerkt.45
39 Vgl. Röttgers: Verantwortung nach der Moderne, S. 20f. Gerade die Rigorosität des kantischen Handelns aus Pflicht hat den Pflichtbegriff aber im 20. Jahrhundert verdächtig werden lassen. Auch ließen sich bestimmte Probleme nicht befriedigend mit der Pflichtethik lösen, ohne nach ihr schuldig zu werden. Demgegenüber habe sich der Verantwortungsbegriff in der Moderne schlicht als flexibler erwiesen. (Vgl. Röttgers: Verantwortung für Innovationen, S. 436.) 40 Vgl. dazu wie zum Nachfolgenden Röttgers: Verantwortung für Innovationen, S. 434f. 41 Von grundlegender Bedeutung sind dabei Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und seine Kritik der praktischen Vernunft. Vgl. Immanuel Kant: Werkausgabe. Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Bd. 7. Frankfurt a.M. 41978. 42 Vgl. hierzu und zum Folgenden Werner: Verantwortung, S. 543f. 43 Vgl. auch Ralf-Peter Koschut: Strukturen der Verantwortung. Eine kritische Auseinandersetzung mit Theorien über den Begriff der Verantwortung unter besonderer Berücksichtigung des Spannungsfeldes zwischen der ethisch-personalen und der kollektiv-sozialen Dimension menschlichen Handelns. Frankfurt a.M. 1989 (= Europäische Hochschulschriften: Reihe 23, 373), S. 36ff. 44 Werner: Verantwortung, S. 542. 45 Vgl. dazu und zum Folgenden Enderle: Handlungsorientierte Wirtschaftsethik, S. 199.
Unternehmerische Verantwortung als ethisches Konzept
3.1.2.2
279
Unternehmen als korporative Akteure
Es handelt sich um ein grundlegendes theoretisches Problem, in welchem Günter Ulrich Sinne Unternehmen als real existierende gesellschaftliche Akteure anzusehen sind, ob sie ebenso wie menschliche Akteure verantwortungsbewusst handeln können und moralfähig sind, ob sie also ihr Handeln nicht bloß an externen Sanktionen, sondern auch an internen moralischen Spielregeln auszurichten vermögen.46 Immer wieder werden Zweifel laut, ob die Verantwortung von Korporationen denselben Sinn haben kann wie die moralische Verantwortung von Personen, weil die Verantwortung von Korporationen stets an personale Verantwortung rückgebunden sein müsse, was umgekehrt nicht gelte.47 Nur in indirektem Sinn könnten Unternehmen, zum Beispiel als juristische Personen, Verantwortungsträger sein. Die Problematik dieser herkömmlichen Verantwortungslogik und ihrer moraltheoretischen wie -praktischen Verwendung kann mit Küpers in einer monologischen Zentrierung der Verantwortung auf den Logos einer Einheitsinstanz gesehen werden.48 Er merkt an, dass Ansprüche des Anderen dabei gemäß den Konventionen einer moralisch-rechtlichen Ordnung als berechtigt oder unberechtigt zugeordnet würden. Wenn auch die Ethik in der Beziehung zwischen Menschen, insbesondere im Verhältnis zum konkreten Anderen ansetze, so sei deren integrativer Verantwortungssinn doch immer auf eine Gemeinschaft und ein Kollektiv, mithin auf einen Systemzusammenhang bezogen. Das werfe die Frage nach einer möglichen Ergänzung individueller personaler Verantwortung in Form einer moralanalogen korporativen Verantwortlichkeit von ganzen Organisationen auf.49 Bereits 1902 plädiert der Jurist und Rechtshistoriker Otto von Gierke in der Debatte um das soziale Substrat der juristischen Person für eine holistisch-ganzheitliche Sichtweise: Korporative Akteure seien kein juristisches Konstrukt, sondern hätten als „leiblich-geistige Einheit“ der Verbandspersönlichkeit ihr Fundament in der gesellschaftlichen Wirklichkeit selbst.50 Steinmann/Löhr können mit ihrem Entwurf zur Unternehmensethik als die prominentesten (gegenwärtigen) 46 Vgl. hierzu und zum Folgenden Günter Ulrich: Können Unternehmen sozial verantwortungsvoll handeln? In: Thomas Beschorner u.a. (Hg.): Unternehmensverantwortung aus kulturalistischer Sicht. Marburg 2007 (= Theorie der Unternehmung 37), S. 69–97, 71; vgl. dazu grundlegend Josef Wieland: Die Tugend kollektiver Akteure. In: Ders.: Die moralische Verantwortung kollektiver Akteure. Heidelberg 2001, S. 22–40. Schon bei der Grundsatzfrage nach dem ontologischen Status von Kollektivgebilden – die hier freilich nicht diskutiert werden kann – bewegt man sich auf vermintem Terrain: Existieren Organisationen wie zum Beispiel Unternehmen überhaupt in derselben Weise wie menschliche Akteure? (Vgl. dazu Günter Ulrich: Können Unternehmen, S. 71.) 47 Vgl. hierzu und zum Folgenden Werner: Verantwortung, S. 545f. 48 Vgl. wie auch zum Folgenden Küpers: Ver-Antwortung, S. 313. Als Einsheitsinstanz können dabei ein allgemeines Vernunftssubjekt, eine intersubjektive Diskursgemeinschaft oder vorgegebene Ordnungsimperative fungieren. 49 Vgl. Küpers: Ver-Antwortung, S. 319f. 50 Vgl. Günter Ulrich: Können Unternehmen, S. 71.
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Nachhaltiges und verantwortliches Handeln in der unternehmerischen Praxis
Fürsprecher der Möglichkeit einer unternehmerischen Verantwortungsübernahme gelten. Ihre Bestimmung des Unternehmens als korporativer Bürger, der dazu in der Lage ist, in der Gesellschaft eine verantwortungsvolle Rolle zu spielen, ist bis heute sehr einflussreich.51 Ein korporativer Akteur ist dabei wie ein natürlicher Akteur oder ein Individuum zu betrachten, dem ein einheitlicher Wille zugesprochen werden kann: „In dieser Perspektive handelt der Akteur dann diesem Willen gemäß, er hat Prinzipien, denen sein Handeln […] entsprechen oder widersprechen kann.“52 Eine Organisation kann dann als korporativer Akteur einem Individuum gleich „ein ganz bestimmtes Ziel“ verfolgen, „so dass jedes Mitglied dieser Organisation, insofern es Mitglied ist, so angesehen wird, als verfolge es zuerst dieses Organisationsziel“.53 Nach Georges Enderle ist „das Unternehmen nicht als bloße Summe individueller Akteure, aber auch nicht als hypostasierte, ‚moralische Person‘, sondern als ‚moralischer Akteur‘, als überindividueller Akteur ‚sui generis‘ zu begreifen“.54 Die Einwände gegen ein solches Modell sollen keineswegs verschwiegen werden: Schon Max Weber warnt vor einer begriffsrealistisch argumentierenden Soziologie, wenn diese soziale Gebilde zu Kollektivpersönlichkeiten stilisiere: „Für die verstehende Deutung des Handelns durch die Soziologie sind […] diese Gebilde lediglich Abläufe und Zusammenhänge spezifischen Handelns einzelner Menschen.“55 Entsprechend erachtet der methodologische Individualismus im Gefolge der Weberschen Soziologie überindividuelle Akteure lediglich als Fiktionen zum Zwecke der Komplexitätsreduktion.56 Ein solcher individualistischer Bias, bei dem der Mensch als geistig-organische und nicht weiter dekomponierbare Gesamtheit und nicht hinterfragbarer Fixpunkt eine Zentralstellung im Reich des Sozialen besitzt, prägt große Teile der modernen Sozialtheorie und Ethik.57 Diese ontologische Prämisse findet ihren Niederschlag schließlich auch in der Semantik des korporativen Akteurs, dem man nur dann soziale Realität zugestehen möchte, wenn ihm eine wie auch immer beschaffene Körperlichkeit und Zielgerichtetheit attestiert werden kann. Auch von systemtheoretischer Seite regt sich Widerspruch. So gehörten Unternehmen als marktwirtschaftliche Akteure in das soziale Teilsystem der Wirtschaft.58 Aus Sicht der Systemtheorie sind soziale Funktionssysteme – wie oben dargestellt – operativ geschlossene Einheiten, die sich nach eigenen Programmen 51 Vgl. grundlegend Steinmann/Löhr: Grundlagen. Die Vorstellung wurde so bspw. auch von Vertretern der Ökonomik übernommen, für die hier Andreas Suchanek stellvertretend angeführt sei: Vgl. Suchanek: Ökonomische Ethik, S. 97f. 52 Petersen: Zur gesellschaftlichen Verantwortung eines korporativen Bürgers, S. 39. 53 Petersen: Zur gesellschaftlichen Verantwortung eines korporativen Bürgers, S. 38. 54 Enderle: Handlungsorientierte Wirtschaftsethik, S. 199. 55 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 51980, S. 6. 56 Uwe Schimank: Handeln und Strukturen. Einführung in die akteurtheoretische Soziologie. Weinheim u.a. 2000, S. 307. 57 Vgl. hierzu wie zum Nachfolgenden Günter Ulrich: Können Unternehmen, S. 72.
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und spezifischen Codes selbst organisieren und reproduzieren. Entsprechend ist es aussichtslos, mit einem fremden Code in ein Funktionssystem wie die Wirtschaft einzudringen und es durch moralische Kommunikation zu Kursänderungen oder sogar zu einem Umschalten auf ethische Selbstbeobachtung zu bewegen. Aus Sicht der Systemtheorie ist es somit im Grunde genommen unmöglich, soziale Teilsysteme zur Verantwortung zu ziehen. Demensprechend hat Niklas Luhmann den Versuch, die Verantwortungskategorie auf funktionale gesellschaftliche Prozesse zu übertragen, als „Verzweiflungsgeste“ bezeichnet.59 Günter Ulrich plädiert daher für ein Weiterdenken des soziologischen Neoinstitutionalismus.60 Zum einen ist es erforderlich, anstelle einer einseitigen Determination der Organisation durch die Gesellschaft, die rekursiven Beziehungen zwischen Organisation und Gesellschaft herauszuarbeiten.61 Zum anderen muss eine genauere Analyse der Unterschiede zwischen individuellen und korporativen Akteuren vorgenommen werden. Die Differenzen zwischen menschlichen Akteuren und Organisationen sind evident62, da etwa die rechtlichen und moralischen Sanktionsmöglichkeiten einem Unternehmen gegenüber beschränkt sind, weil es weder über Körper noch Gewissen verfügt.63 Doch fällt es Unternehmen umgekehrt mit den ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen leichter, sich im Sinne des soziolo58 Vgl. hierzu und zum Nachfolgenden Ludger Heidbrink: Systemverantwortung, Selbstbindung und Ethik der wirtschaftlichen Organisation. In: Thomas Beschorner u.a. (Hg.): Unternehmensverantwortung aus kulturalistischer Sicht. Marburg 2007 (= Theorie der Unternehmung 37), S. 45–66, 45. In ganz ähnlicher Weise wie Heidbrink argumentiert auch Reinhard Schulz: Schulz: Äquivokationen, bes. S. 33f. 59 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1997, S. 133. 60 Vgl. hierzu wie zum Folgenden Günter Ulrich: Können Unternehmen, S. 72f. Vgl. zur bes. auf John Meyer, Richard Scott und Walter Powell zurückgehenden Theorie des soziologischen Neoinstitutionalismus, die im Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht dargestellt und diskutiert werden kann: Stefan Süß: Soziologischer Neoinstitutionalismus. Aussagen, Anwendungsbereiche, Kritik. In: Wirtschaftswissenschaftliches Studium, 37 (2008), S. 63–68; sowie grundlegend Walter W. Powell/Paul J. DiMaggio: Introduction. In: Diesn. (Hg.): The New Institutionalism in Organizational Analysis. Chicago u.a. 1991, S. 1–38; wie auch Diesn.: The Iron Cage Revisited. Institutional Isomorphism and collective Rationality. In: Diesn (Hg.): The New Institutionalism in Organizational Analysis. Chicago u.a. 1991, S. 63–82. 61 Vgl. Günter Ulrich: Können Unternehmen, S. 72f.; vgl. ebf. Thomas Beschorner u.a.: Unternehmenskultur II – Zur kulturellen Einbettung von Unternehmen. In: Forschungsgruppe Unternehmen und Gesellschaftliche Organisation (FUGO) (Hg.): Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Theorie der Unternehmung. Marburg 2004 (= Theorie der Unternehmung 23), S. 273–307; sowie grundlegend zu diesem Ansinnen den Sammelband Günther Ortmann u.a. (Hg.): Theorien der Organisation. Die Rückkehr der Gesellschaft. Opladen 1997. 62 Vgl. dazu auch Michael C. Jensen/William H. Meckling: Theory of the Firm. Managerial Behavior, Agency Cost and Ownership Structure. In: Journal of Financial Economics 3 (1976), Nr. 4, S. 305– 360, 311; Wiederabdr. in Michael C. Jensen: A Theory of the Firm. Governance, Residual Claims and Organizational Forms. Cambridge, Mass. u.a. 2000. Die Autoren halten bereits in den 1970er Jahren fest: „The firm is not an individual […] but we often make this error by thinking about organizations as if they were persons with motivations and intentions.“ (Ebd.) 63 Vgl. Klaus M. Leisinger: Whistleblowing und Corporate Reputation Marketing. München u.a. 2003 (= Schriftenreihe für Wirtschafts- und Unternehmensethik 6), S. 129.
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Nachhaltiges und verantwortliches Handeln in der unternehmerischen Praxis
gischen Neoinstitutionalismus als legitime Akteure zu profilieren: Dazu zählen das Verfolgen zweckrationaler Kalküle, Berechenbarkeit, Affektkontrolle sowie Offenheit gegenüber beratenden Instanzen.64 Daraus resultiert eine „erhöhte Fähigkeit zu selbstverantwortlichem, normgeleiteten Handeln“.65 Zugleich ist Unternehmen der Weg versperrt, sich „unter Verweis auf Willensschwäche, verminderte Zurechnungsfähigkeit oder Unwissenheit aus der Affäre zu ziehen“.66 Das zeigt zugleich, dass Unternehmen über emergente Eigenschaften verfügen, die sich von den Eigenschaften ihrer Konstituenten unterscheiden.67 Zuerst aber stellt sich die Frage, ob sie auch als handlungsfähige Einheiten angesehen werden können und welche Eigenschaften ihnen gegebenenfalls Handlungsfähigkeit ermöglichen.68 3.1.2.3
Handlungsfähigkeit korporativer Akteure
In der Semantik des deutschen Rechtssystems gehen Ethik und Recht getrennte Wege: „Haftung“ tritt terminologisch an die Stelle der Verantwortung.69 Die Haftung von Unternehmen als juristische Personen ergibt sich aus der gesetzlichen Rahmenordnung und ist unzweifelhaft. Sind Unternehmen aber deshalb auch notwendigerweise moralfähige Akteure, die für die Folgen ihres Tuns einzustehen haben? Diese Frage ist für die Begründung unternehmerischer Verantwortung von entscheidender Bedeutung. Besondere Aktualität besitzt sie aufgrund der Tatsache, dass Unternehmen sich in einer globalisierten (Wirtschafts-)Welt – wie oben bereits knapp skizziert – immer häufiger außerhalb gesetzlicher Rahmenordnungen bewegen und ihr Handeln so dem Einfluss und der Kontrolle der Politik zu entziehen vermögen. Doch ist die Frage der Moralfähigkeit unmittelbar mit dem Problem der Handlungsfähigkeit verknüpft: „Moralische Verantwortung läßt sich bestimmen als Eintreten(-Müssen) für moralisch relevante Folgen von Handlungen (z.B. Schädigungen anderer), als moralische Handlungsverantwortung also.“70 Beide Fähigkeiten bedingen sich gegenseitig und können nicht ohne die jeweils andere verstanden werden – unabhängig von der Spezifizierung des Handlungsträgers.71 Von wesentlichem Interesse für die Frage nach dem Unternehmen als 64 Vgl. John W. Meyer/Ronald Jepperson: Die „Akteure“ der modernen Gesellschaft: Die kulturelle Konstruktion sozialer Agentschaft. In: John W. Meyer (Hg.): Weltkultur. Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen. Hg. v. Georg Krücken. Aus d. Amerikan. v. Barbara Kuchler. Frankfurt a.M. 2005, S. 47–84. 65 Hans Geser: Organisationen als soziale Akteure. In: Zeitschrift für Soziologie 19 (1990), S. 401–417, 406. 66 Günter Ulrich: Können Unternehmen, S. 73. 67 Vgl. Günter Ulrich: Können Unternehmen, S. 73. 68 Vgl. Günter Ulrich: Können Unternehmen, S. 78. 69 Vgl. hierzu und zum Folgenden Günter Ulrich: Können Unternehmen, S. 82. 70 Matthias Maring: Kollektive und korporative Verantwortung. Begriffs- und Fallstudien aus Wirtschaft, Technik und Alltag. Münster u.a. 2001 (= Forum Humanität und Ethik 2), S. 297. 71 Vgl. Matthias Maring: Modelle korporativer Verantwortung. In: Conceptus 23 (1989), S. 25–41, 38. Maring hält fest, dass „die Zuschreibung moralischer und anderer Verantwortung […] an das Krite-
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moralischer Akteur ist daher, inwieweit Unternehmen überhaupt Handlungsfähigkeit zugesprochen werden kann oder muss. Um diese Frage zu erhellen, muss zunächst geklärt werden, was unter einer Handlung zu verstehen ist. Handeln wird in der Philosophie als ein kausaler Prozess verstanden, der von mentalen Zuständen und Ereignissen zur Handlung führt und vier wesentliche Elemente umfasst: Subjekt des Handelns ist eine handelnde Person, die eine bestimmte autonome und rationale Intention bildet oder hat, die es durch ein bestimmtes Tun realisiert oder zu realisieren versucht.72 Das Tun oder Handeln wiederum führt dazu, dass eine Handlungswirkung eintritt. Dabei wird davon ausgegangen, dass sowohl die Bildung der Intention wie auch die Realisierung des Tuns und das Eintreten der Wirkung inneren und äußeren sogenannten Handlungsbedingungen unterliegen, die allerdings den Handlungsfreiraum des Handlungssubjekts nicht vollständig zu determinieren vermögen. Ein diskretionärer Handlungsspielraum wird also prinzipiell vorausgesetzt, allerdings kann dieser im Extremfall verschwinden – in so einem Fall kann jedoch nicht mehr von eigentlichem Handeln gesprochen werden.73 Durch Subjekthaftigkeit und Intentionalität ist der Handlungsbegriff im Übrigen wesentlich von dem des Verhaltens unterschieden.74 Die kausale Handlungstheorie beschränkt den Handlungsbegriff auf das körperliche, durch mentale Antezedenzien verursachte Tun natürlicher Personen.75 Die Theorie folgt damit einer langen abendländischen Tradition, die Handeln essentiell als Tätigkeit eines Individuums modelliert. Immanuel Kant definiert in seiner Metaphysik der Sitten auch die Person als „dasjenige Subjekt, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind“.76 Verantwortung ist dabei eng mit Freiheit als Freiheit der Entscheidung verknüpft: Wenn wir jemanden für sein Tun verantwortlich machen, gehen wir davon aus, „daß er aus Freiheit handelte in dem Sinn, daß er die Regeln kannte, die Wahl hatte und sich zu seiner Tat entschied“.77 Die Frage, ob auch Wirtschaftsunternehmen eine entsprechende Handlungsfreiheit besitzen, wird hier freilich nicht thematisiert.
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rium der Handlungsfähigkeit gekoppelt“ wird. Dieses Kriterium sei „schwächer als das Kriterium, eine (moralische) Person zu sein, aber dennoch ausreichend.“ Vgl. dazu und zum Folgenden Oswald Schwemmer: Handlung und Struktur. Zur Wissenschaftstheorie der Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M. 1987 (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 669), S. 194. Vgl. Enderle: Handlungsorientierte Wirtschaftsethik, S. 218. Vgl. Enderle: Handlungsorientierte Wirtschaftsethik, S. 218, FN 23. Geert Keil: Handeln und Verursachen. Frankfurt a.M. 2000 (= Philosophische Abhandlungen 79), S. 49, 13ff.; vgl. ebenso Donald Davidson: Handlung und Ereignis. Frankfurt a.M. 1990 (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 895), S. 81; vgl. hierzu wie zum Folgenden auch Günter Ulrich: Können Unternehmen, S. 80. Immanuel Kant: Werke in sechs Bänden. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Bd. 4: Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie. Darmstadt 1983, S. 329. Peter Bieri: Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens. München u.a. 2001, S. 203; vgl. auch Günter Ulrich: Können Unternehmen, S. 84.
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Nachhaltiges und verantwortliches Handeln in der unternehmerischen Praxis
Folgt man der von Max Weber geprägten und vom methodologischen Individualismus vertretenen Auffassung vom Handlungsbegriff, stellt eine Handlung ein zweckrationales und zielgerichtetes Tätigsein dar.78 Die Folgenorientierung gehört dabei selbstverständlich zu den Attributen des Handlungsakts. An dieses Prinzip knüpft auch die utilitaristische Ethik an: Entscheidungen gelten dann als normativ gerechtfertigt, wenn sie verglichen mit alternativen Handlungsoptionen eine Optimierung der Handlungsfolgen im Sinne der Beförderung des Nutzens aller erwarten lassen. Der in der neuen soziologischen Theorie sehr einflussreiche Begriff der „doppelten Kontingenz“ verdeutlicht indes, dass eine kalkulatorische Berechnung der Handlungsfolgen schon bei einfachen sozialen Interaktionen an ihre Grenzen stößt, weil – spieltheoretisch formuliert – die „Auszahlungen“ von den Strategien der Interaktionspartner abhängen.79 Aus diesem Grund erscheint es ratsam, die „Erwartungen und Erwartungserwartungen der Interaktionspartner in die Handlungsplanung“ einzubeziehen – so zum Beispiel bei der Implementierung verantwortungsvollen unternehmerischen Handelns im Rahmen eines Dialogs des Unternehmens mit relevanten Anspruchsgruppen.80 Transintentionale Handlungseffekte ließen sich angesichts der wachsenden Komplexität der sozialen Systeme und Netzwerke in einer globalisierten Welt dennoch nicht vermeiden, was auch für Unternehmen gelte. Das wird damit begründet, dass Unternehmen schlicht nicht voraussehen könnten, welche Herausforderungen die Zukunft mit sich bringe.81 Entsprechend gehen Vertreter utilitaristischer Ethiktheorien davon aus, dass es weder einen Königsweg bei strategischen Unternehmensentscheidungen gebe, noch dass ein Unternehmen umfassende Verantwortung für die langfristigen Folgen des eigenen Tuns tragen könne.82 Wenig Einigkeit über die Handlungsfähigkeit von Unternehmen herrscht unter den Vertretern eines methodologischen Individualismus in Soziologie und Wirtschaftswissenschaften. So wird in einigen Stellungnahmen bezweifelt, dass Organisationen überhaupt aus sich heraus handeln oder über entsprechende dahingehen-
78 Vgl. wie auch zum Folgenden Günter Ulrich: Können Unternehmen, S. 83. Max Weber führt den Begriff der moralischen Verantwortung in seiner Vorlesung über Politik und Beruf ein, in der er zwischen Verantwortungs- und Gesinnungsethik unterscheidet. Verantwortung erscheint für ihn darin als ethisches Prinzip, das von jedem Einzelnen verlangt, die erwartbaren Folgen seines Tuns zu antizipieren und seinen Handlungsentscheidungen zugrunde zu legen. (Vgl. Günter Ulrich: Können Unternehmen, S. 82.) 79 Vgl. grundlegend Talcott Parsons/Edward A. Shils: Toward a General Theory of Action. Theoretical Foundations for the Social Sciences. New Brunswick u.a. 22005, S. 16; sowie Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a.M. 1984, S. 148ff. 80 Günter Ulrich: Können Unternehmen, S. 83; vgl. Leisinger: Whistleblowing, S. 233ff; vgl. ebf. Andrew Crane/Dirk Matten: Business Ethics. A European Perspective. Managing Corporate Citizenship and Sustainability in the Age of Globalization. Oxford u.a. 2004, S. 50ff. 81 Vgl. Constantinos C. Markides: In Search of Strategy. In: Sloan Management Review 40 (1999), Nr. 3, S. 6–7, 7.; vgl. auch Günter Ulrich: Können Unternehmen, S. 83. 82 Vgl. Günter Ulrich: Können Unternehmen, S. 84.
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de Intentionen verfügen können.83 Auf der anderen Seite wird Organisationen uneingeschränkt Handlungsfähigkeit zugebilligt. Coleman stellt Unternehmen beinahe auf dieselbe Stufe wie natürliche Personen und stellt fest: „Beide weisen die wesentlichen Eigenschaften von Akteuren auf: Kontrolle über Ressourcen und Ereignisse, Interesse an Ressourcen und Ereignissen und die Fähigkeit, Handlungen zu ergreifen, um diese Interessen durch eine solche Kontrolle wahrzunehmen“.84 Dennoch stellt sich auch Coleman die Frage, auf welche Weise Organisationen als „ungreifbare Gebilde“ Handlungsfähigkeit sicherstellen.85 Als Lösung dieses Dilemmas wird eine für Arbeitsorganisationen typische Zentralisierung der Entscheidungsproduktion vorgeschlagen, welche die Nutzungsrechte an den organisationalen Ressourcen auf Personen überträgt, die in ihrem Namen handeln können.86 Damit erscheint das organisationale Handeln im methodologischen Individualismus letztlich als „Zwei-Ebenen-Phänomen“.87 Organisationen nutzten die Handlungsfähigkeit von „Personen-in-Positionen“, um daraus eigene Handlungsfähigkeit zu generieren. Sie erscheinen so als „Akteure zweiter Ordnung“88, deren „sekundäre Handlungen […] von den primären Handlungen rationaler Erwachsener konstituiert werden“.89 Der soziologische Neoinstitutionalismus nimmt eine solche Unterscheidung zwischen Akteuren erster und zweiter Ordnung nicht vor.90 Aus dessen Perspektive einer „Konstitution von oben“ erscheint Handlung als „die Inszenierung übergreifender institutioneller Drehbücher“ und nicht als „das Pro-
83 Vgl. dazu Fritz W. Scharpf: Interaktionsformen. Akteurzentrierter Institutionalismus in der Politikforschung. Opladen 2000 (= UTB für Wissenschaft 2136), S. 97. 84 James Samuel Coleman: Grundlagen der Sozialtheorie. Bd. 2: Körperschaften und die moderne Gesellschaft. München 1992 (= Scientia nova), S. 285. Coleman setzt in seinem einflussreichen Ansatz, der gemeinhin der Rational-Choice-Theorie zugeordnet wird, bei der Erklärung gesellschaftlicher Makrophänomene auf der Individualebene an. Dazu erklärt er gesellschaftliche Phänomene über das Verhalten ihrer Akteure. Er unterscheidet dabei zwischen Individuen und korporativen Akteuren, bei denen es sich um Unternehmen, Gewerkschaften, aber auch Staaten und NGOs handeln kann. In seiner Theorie behandelt er beide Akteurstypen nahezu gleich, stellt jedoch zwischen ihnen eine Machtungleichheit zu Ungunsten der Individuen aufgrund der unterschiedlichen Verfügungsgewalt über Ressourcen fest. Letztlich resultieren daraus für die Individuen geringere Handlungsmöglichkeiten. 85 Coleman: Grundlagen der Sozialtheorie 2, S. 180. 86 Vgl. ebd.; vgl. gleichfalls und zum Folgenden Günter Ulrich: Können Unternehmen, S. 80f. 87 Raymund Werle: Technik als Akteur? In: Ders./Uwe Schimank (Hg.): Gesellschaftliche Komplexität und kollektive Handlungsfähigkeit. Frankfurt a.M. u.a. 2000 (= Schriften des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, Köln 39), S. 74–94, 77. 88 Jutta Allmendinger/Thomas Hinz: Perspektiven der Organisationssoziologie. In: Diesn. (Hg.): Organisationssoziologie. Wiesbaden 2002 (= Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderhefte 42), S. 9–28, 10. 89 Patricia Werhane: Rechte und Verantwortungen von Korporationen. In: Hans Lenk/Matthias Maring (Hg.): Technikethik und Wirtschaftsethik. Fragen der praktischen Philosophie. Opladen 1998, S. 329–336, 330. 90 Vgl. dazu und zum Nachfolgenden Günter Ulrich: Können Unternehmen, S. 81.
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dukt intern erzeugter, autonomer Entscheidungen, Motive und Zwecke“.91 Alle Akteure, unabhängig, ob individuelle, korporative oder staatliche, müssen diesen standardisierten Skripts folgen und sich zweckrational, berechenbar und verantwortungsbewusst präsentieren, um als handlungsfähig angesehen zu werden. Dieser Aspekt einer Konstitution von Handlung durch Kommunikation in Form von Beschreibung und Zuschreibung wird im Übrigen auch von der Luhmannschen Systemtheorie hervorgehoben, obgleich – dem Modell der Autopoiesis folgend – bei ihr die mit den Mitteln des Sozialsystems vorgenommene Selbstbeschreibung im Zentrum steht.92 So werden Organisationen weniger durch externe Drehbücher zu Handlungssystemen, sondern durch interne, zum Zweck der Komplexitätsreduktion verfertigte Selbstbeschreibungen.93 Anstelle der Unterscheidung zwischen primären und sekundären Akteuren wird zwischen Kommunikations- und Handlungssystemen differenziert. Schon die wenigen angeführten Anregungen aus der Luhmannschen Organisationstheorie werfen weitergehende Fragen auf: Wie können Organisationen als operativ geschlossene Systeme überhaupt mit ihrer Umwelt kommunizieren? Dieser „neuralgische Punkt der Theorie“ (Drepper) kann im Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht weiter verfolgt werden.94 3.1.2.4
Moralfähigkeit korporativer Akteure
Die Frage nach der Moralfähigkeit von Unternehmen als korporative Akteure lässt verschiedene, von den zugrunde liegenden Normierungskonzepten abhängende Antworten zu.95 Erinnern wir uns an den zweiten Teil der vorliegenden Arbeit, so erschienen Unternehmen in der von Homann entwickelten Wirtschaftsethik unter utilitaristischen Vorzeichen perspektivisch als zweckrational operierende Gebilde, welche sich konsequentialistisch an einem vorgegebenen Leitwert (beispielsweise kollektive und korporative Rentabilität) orientieren und daraus die Legitimität ihres Handelns ableiten: „Das systemkonforme Gewinnstreben wird der Idee nach […] durch die Rahmenordnung so kanalisiert, dass es als moralisch legitim angesehen werden kann.“96 Die Moralität unternehmerischen Handelns erwuchs aus der Einbettung in die von normativen Kriterien bestimmte Wirtschaftsordnung, was allerdings nach Meinung der Autoren eine darüber hinausgehende moralische Verantwortungsübernahme nicht ganz ausschließt. So denken Homann/Blome-Drees etwa an Initiativen zu entsprechenden gesetzlichen Regeln oder Bran91 John W. Meyer u.a.: Ontologie und Rationalisierung im Zurechnungssystem der westlichen Kultur. In: Ders. (Hg.): Weltkultur. Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen. Hg. v. Georg Krücken. Aus d. Amerikan. v. Barbara Kuchler. Frankfurt a.M. 2005, S. 17–46, 18. 92 Vgl. Luhmann: Soziale Systeme, S. 227f. 93 Vgl. hierzu und zum Folgenden Günter Ulrich: Können Unternehmen, S. 81f. 94 Vgl. Thomas Drepper: Organisationen der Gesellschaft. Gesellschaft und Organisation in der Systemtheorie Niklas Luhmanns. Wiesbaden 2003, S. 249. 95 Vgl. hierzu und zum Folgenden Günter Ulrich: Können Unternehmen, S. 84f. 96 Homann/Blome-Drees: Wirtschafts- und Unternehmensethik, S. 114.
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chenvereinbarungen – aber immer mit dem Ziel, dadurch eine entsprechende Rahmenordnung zu etablieren, die solche Initiativen überflüssig macht.97 Aus der Perspektive einer deontologischen Ethik hingegen erscheinen Unternehmen zumindest potentiell als moralische Gebilde, die jenseits des Rentabilitätsprinzips nach dem Sinn und der Legitimation des Wirtschaftens fragen und an der Verbindlichkeit von Werten festhalten, welche sich einer bloßen Bilanzierung und Güterabwägung entziehen.98 Hier knüpft das Konzept Peter Ulrichs an: „Insbesondere ist es die moralische Pflicht der Unternehmensleitung […], die legitimen Ansprüche und moralischen Rechte aller vom unternehmerischen Handeln Betroffenen […] zu wahren.“99 Dahinter steht ein umfassenderer Verantwortungsgedanke, bei dem sich Unternehmen als moralische Gebilde gegen die Alleinherrschaft des Rentabilitätsprinzips profilieren und auf diese Weise versuchen, wirtschafts- und unternehmensintern eine über das Sachzwangdenken hinausweisende ökonomische Vernunft zu verwirklichen. Die Frage, was Unternehmen als korporative Akteure zu verantwortlichem Handeln befähigt, stellt sich in jedem Fall unabhängig davon, wie das Verhältnis von Ethik und Ökonomik gedacht wird. Georges Enderle vertritt in seiner Unternehmensethiktheorie entschieden die Position, dass das Charakteristikum der Ganzheit des Unternehmens die Grundlage dafür bilde, dass das Unternehmen aus ethischer Sicht als moralischer Akteur zu betrachten ist.100 Entsprechend verwirft er die Ansätze des methodologischen Individualismus, da diese die organisationale Ganzheit des Unternehmens in Frage stellten. Enderle wendet ein, dass sich Unternehmen nicht als moralische Akteure verstehen ließen, wenn „in der einen oder anderen Weise die Einheit des Unternehmens als ökonomischer Organisation und dessen [sic!] Abgrenzbarkeit gegenüber ‚außen‘ […] bestritten“ werde.101 Enderle führt in seiner umfangreichen Monographie vier verschiedene Ansätze an, die seine Vorstellung vom Unternehmen als „zielorientierte und zugleich sich 97 98 99 100
Vgl. Homann/Blome-Drees: Wirtschafts- und Unternehmensethik, S. 116f. Vgl. dazu wie zum Folgenden Günter Ulrich: Können Unternehmen 85. Ulrich: Zivilisierte Marktwirtschaft, S. 146. Vgl. Enderle: Handlungsorientierte Wirtschaftsethik, S. 211f.; vgl. ferner grundlegend die einschlägigen Forschungen zur Organisationstheorie und -entwicklung – aus ethischer Perspektive bes. Maring: Modelle korporativer Verantwortung, S. 25–41. 101 Enderle: Handlungsorientierte Wirtschaftsethik, S. 211. Die Infragestellung ist danach von zwei Seiten möglich. Enderle spricht damit die oben schon aufgeführten Theorien an. So käme es einerseits gleichsam zu einer Zersetzung und Auflösung der ökonomischen Einheit des Unternehmes durch die Vielzahl von Güter-, Arbeits-, Kapital- und anderen Märkten. Dabei würden Unternehmen nur noch als von den einzelnen Märkten, also von außen gesteuerte unterschiedliche Reaktionsmuster betrachtet. Andererseits würde eine Gleichsetzung des Unternehmens mit dem Unternehmer oder der Unternehmensleitung vogenommen und dessen Einheit als ökonomische Organisation auf ein bestimmtes Individuum oder eine Gruppe von Individuen zurückgeführt. Zwar gebe es dafür eine gewisse Berechtigung besonders bei kleinen und mittelständischen Unternehmen. Dennoch käme das einer Reduzierung der „Unternehmensethik […] auf eine Unternehmerethik“ gleich. (Enderle: Handlungsorientierte Wirtschaftsethik, S. 212.)
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selbst organisierende Einheit“ stützen sollen.102 Danach bildet das Unternehmen eine Einheit, in der „die Individuen zwar handeln“, deren „eigenes Handeln aber nicht mit dem Handeln der Individuen voll identisch ist“.103 Er fordert, die Moralfähigkeit des Unternehmens dürfe nicht nur an die in ihm handelnden Individuen geknüpft werden. Dies „käme einer Blindheit für die Relevanz moderner Organisationen in der heutigen Wirtschaft gleich“.104 Setzte man die Unternehmensethik und die Ethik des Managements oder der Manager gleich, stellte das „in den meisten Fällen“, in dem „das Unternehmen eine gewisse Größe erreicht hat […], eine eindeutige Überforderung beziehungsweise Selbstüberschätzung des Unternehmers und Managers“ dar.105 Wichtig ist sein Hinweis, dass unternehmensethische Überlegungen wesentlich das Unternehmen als Organisation betreffen. Daraus leitet er eine moralische Verantwortung ab: So dürfe etwa „ein schuldhaftes Versagen eines Unternehmens als ganzes nicht in einer Alibi-Übung nur einzelnen Angehörigen des Unternehmens […] angelastet werden“.106 Auch eine vollständige Determinierung des Unternehmens und seines Handelns durch die Rahmenordnung des Gesamtsystems hält Enderle für nicht vorstellbar: „Das Unternehmen kann die Verantwortung für sein Tun und Lassen im eigenen Handlungsspielraum nicht auf die Makroebene des Gesamtsystems abschieben.“107 Damit wird also auch die bloße Verortung der Moral im System, wie sie von Vertretern der modernen Ökonomik postuliert wird, abgelehnt. Indem das Modell der Ökonomik davon ausgeht, dass aufgrund der Marktgegebenheiten keine andere Möglichkeit besteht, als alle Unternehmensziele dem übergeordneten Ziel der Gewinnmaximierung unterzuordnen, negiert es jedwede Handlungsfreiheit. Wird die Handlungsfreiheit in solcher Weise geradezu aufgehoben, ist die Übernahme von Verantwortung durch einen einzelnen korporativen Akteur ausgeschlossen. Entsprechend kritisch äußert sich auch Günter Ulrich, wenn er dem „neoklassische[n] Modell“ vorwirft, „nur einen begrenzten Ausschnitt der organisationalen und ökonomischen Realität“ zu erfassen.108 Dass die ökonomische Realität durchaus „Abweichungen vom Pfad der unternehmerischen Selbsterhaltung“ vorsehe, werde als dysfunktional und sogar moralisch fragwürdig diskreditiert.109 Doch dürfe gerade die „proaktive Rolle strategischer Unternehmensentscheidungen“ nicht unterschlagen werden.110 Tatsächlich seien Unternehmen nicht hilflos einer objektiv fassbaren Marktrealität ausgeliefert, sondern schafften und gestalteten Märkte, die dann ihrerseits eine Dynamik entwickelten, die sich in einem neoklassi102 103 104 105 106 107 108 109 110
Enderle: Handlungsorientierte Wirtschaftsethik, S. 211; vgl. ausführlich ebd., S. 213–221. Enderle: Handlungsorientierte Wirtschaftsethik, S. 211. Enderle: Handlungsorientierte Wirtschaftsethik, S. 201. Enderle: Handlungsorientierte Wirtschaftsethik, S. 203. Enderle: Handlungsorientierte Wirtschaftsethik, S. 203. Enderle: Handlungsorientierte Wirtschaftsethik, S. 202. Günter Ulrich: Können Unternehmen, S. 88. Günter Ulrich: Können Unternehmen, S. 88. Vgl. hierzu und zum Folgenden Günter Ulrich: Können Unternehmen, S. 89.
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schen Marktmodell nicht mehr einfangen ließe.111 Unter Bezugnahme auf Herbert Simon – den er jedoch nicht explizit anführt – macht er sich für die Anwendung eines Modells begrenzter Rationalität stark: Es sei „gerade die ‚bounded rationality‘ der Unternehmensentscheidung, die auf diesem Felde Handlungsfähigkeit“ generiere.112 Der methodologische Individualismus und die von der Ökonomik vorgebrachte Idee einer Rahmenordnung werden von Enderle auch deswegen in aller Deutlichkeit abgelehnt, da er in ihnen die Möglichkeit einer Unternehmensethik grundsätzlich in Frage gestellt sieht. Deren Grundlage knüpft er in seinem Modell in recht radikaler Weise direkt an den moralischen Status des Unternehmens beziehungsweise an dessen Moralfähigkeit als notwendige Bedingung: „Wenn es in der Wirtschafts- ethik nur um die Gestaltung der Rahmenordnung und das verantwortliche Handeln einzelner Individuen ginge, dann wäre wohl die Rede von Unternehmensethik mit Recht ‚bloßes Gesäusel‘“.113 Aus soziologischer Perspektive lässt sich Enderles Sichtweise von sechs Beobachtungen Hans Gesers stützen.114 Danach haben Unternehmen aufgrund ihrer inneren Strukturen und Technologien einerseits und ihrer äußeren Umweltsituationen und Ressourcenabhängigkeiten andererseits eigene Bedürfnisse, Interessen und Ziele, die nicht mit denjenigen von Individuen (Führungspersonen, Eigentümern, Eliten, Mitgliederbasis u.a.) koinzidieren müssen. Zudem sind Mitglieder aller Hierarchiestufen, die im Auftrag des Unternehmens handeln, durch ihre Handlungen (beispielsweise Prokura) dazu in der Lage, die Gesamtorganisation zu binden. Aus dem arbeitsteiligen Zusammenwirken der Mitglieder emergieren weiterhin komplexe Makrohandlungen (wie Güterproduktionen, Projektausführungen oder Vollzugsprogramme), die nur dem Unternehmen als Ganzem zugerechnet werden können. Weiterhin ist das Unternehmen als „juristische Person“ Träger selbstständiger, juristischer Handlungsrechte und -pflichten, und es verfügt über eine von ihren Mitgliedern (und deren privaten Verhältnissen) unabhängige Existenz. Gesers womöglich wichtigstes Argument ist die Beobachtung, dass Unternehmen von der Öffentlichkeit als selbstständige Akteure aufgefasst werden, die ähnlich wie Individuen über bestimmte Personeneigenschaften verfügten – zu denken wäre an Charakteristika wie Glaub- und Vertrauenswürdigkeit, Zuverlässigkeit oder Fairness. Unternehmen werden als Adressaten normativer Zumutungen betrachtet, weil sie als Akteure für die von ihnen verursachten Ereignisse nicht nur im kausalen, sondern auch im ethischen Sinn Verantwortung tragen – eine Verantwortung, die wahrgenommen oder nicht wahrgenommen werden kann. Zuletzt 111 Vgl. dazu grundlegend Karl E. Weick: Sensemaking in Organizations. Thousand Oaks u.a. 1995. 112 Günter Ulrich: Können Unternehmen, S. 89; vgl. grundlegend Herbert A. Simon: Theories of decision making in economics and behavioural Science. In: American Economic Review 49 (1959), S. 253–283. 113 Enderle: Handlungsorientierte Wirtschaftsethik, S. 220; vgl. ähnlich ebd., S. 225. 114 Vgl. hierzu und zum Folgenden Hans Geser: Organisationen als moralische Akteure. In: Schweizerische Arbeitsblätter für ethische Forschung (1989), Nr. 21, S. 28–37.
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weist Geser auf das vermehrte Auftreten interaktiver Situationen hin (zu denken wäre an Gerichtsprozesse, Vertragsabschlüsse oder öffentliche Diskussionen), in denen sich Individuen und Organisationen als Partner – oder Opponenten – gegenübertreten, wobei eine kategoriale Ungleichheit zwischen individuellen und überindividuellen Akteuren besteht. Die wesentliche Unterscheidung zu den Theorien des methodologischen Individualismus ist darin zu sehen, dass Unternehmen hier nicht nur die Handlungsfähigkeit von den „Personen-in-Positionen“ nutzen. Unternehmerisches Handeln erscheint nicht als bloße Addition individueller Handlungen. Deswegen bildet das Unternehmen „nicht nur eine rechtliche Einheit, sondern eine produktive und soziale Ganzheit. Als zielorientiertes und zugleich sich selbst organisierendes Gebilde weist es eine spezifische Eigenständigkeit auf“. 115 Aus diesem Grund könnte es mit Enderle zurecht als moralischer Akteur bezeichnet werden: „Mit der ‚Handlungsfähigkeit‘ ist auch eine entsprechende ‚Moralfähigkeit‘ gegeben.“116 Die Anwendung der philosophischen Handlungstheorie vermag dieses Postulat zu stützen. Das oben dargelegte strukturierte Handlungsverständnis lässt sich auch auf Unternehmen als Akteure anwenden. Das Unternehmen wird dann im Sinne eines „überindividuelle[n] Akteur[s] sui generis“ als ein „zu Handlungen fähiges System“ (Maring) verstanden, jedoch nicht als eine irgendwie geartete Person aufgefasst, da sich seine Ziele, sein Handeln und seine Handlungswirkung nicht vollkommen auf isoliert Handelnde im Unternehmen reduzieren lassen.117 Als Handlungsziel des Unternehmens lässt sich die Intentionalität beschreiben, durch die das Unternehmen formell und informell gekennzeichnet ist.118 Dazu zählen die faktisch vorhandene wie die normativ vorgegebene Zielsetzung des Unternehmens, Unternehmensphilosophie und -kultur sowie dessen Leitbild. Ohne diese Intentionalität kann es weder unternehmerische Strategien geben, noch ließe sich deren Effektivität beurteilen. Das Tun des Unternehmens umfasst die Gesamtheit der Entscheidungsprozesse, Interaktionen und der sie bestimmenden Unternehmensstrukturen, insofern sie über eine Form von Eigenständigkeit verfügen, die weder auf einzelne Individuen oder Gruppen innerhalb noch auf Handlungssysteme außerhalb des Unternehmens – wie etwa makroökonomische, gesetzliche oder andere Rahmenbedingungen – zurückgeführt werden können. Wie beim Handeln personaler Akteure gehört auch zum eigenständigen Agieren des Unternehmens konstitutiv eine – zumindest beschränkte – Steuerungsfähigkeit mit diskretionärem Handlungsspielraum. Dass dieser Handlungstheorie ebenfalls praktische Relevanz zugeschrieben werden kann, lässt sich durch einige Beispiele verdeutlichen: So können etwa Un115 Enderle: Handlungsorientierte Wirtschaftsethik, S. 200. 116 Enderle: Handlungsorientierte Wirtschaftsethik, S. 200. 117 Enderle: Handlungsorientierte Wirtschaftsethik, S. 218 unter Berufung auf Maring: Modelle korporativer Verantwortung. 118 Vgl. dazu und zum Folgenden Enderle: Handlungsorientierte Wirtschaftsethik, S. 219.
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ternehmenskultur und -philosophie, die von praktisch allen größeren Unternehmen nach innen und außen kommuniziert werden, keineswegs von heute auf morgen von einem einzelnen personalen Akteur umgeworfen werden. An den zumeist äußerst komplexen Prozessen in der Organisationsentwicklung von Unternehmungen lässt sich ebenfalls ablesen, dass sich maßgebliche Richtungsentscheidungen nicht ausschließlich auf das Handeln einzelner Individuen zurückführen lassen. Für die praktische Anschlussfähigkeit der Theorie liefert die Handlungswirkung den deutlichsten Beleg: Es kann nicht bezweifelt werden, dass Unternehmen entsprechend ihres wirtschaftlichen Potentials auf Gesellschaft, Menschen und natürliche Umwelt einwirken.119 Dieser Zusammenhang von Moralfähigkeit und Macht wird von zahlreichen Stellungnahmen ähnlich lautend betont: So schreibt Küpers, dass sich die Wirksamkeit von Korporationen als Akteure in ihrer (Entscheidungs-)Macht und in der Reichweite ihres Tuns verdeutliche, weshalb sie notwendigerweise über Verantwortung verfügen müssten120: „Als eine der gestaltenden Kräfte und machtvollen Wirkungssphären haben die (Markt-)Wirtschaft und ihre Institutionen eine spezifische Verantwortung in der Gesellschaft.“121 Wenn Verantwortung mit Hans Jonas eine Funktion von Macht und Wissen sei, so müssten die Mächtigkeiten und das Wissen ökonomischer Korporationen in besonderer Weise mit Verantwortung verbunden sein, urteilt Enderle.122 Eine entsprechende (Selbst-)Verpflichtung ergibt sich zwingend schon aus den gewachsenen Handlungsfreiräumen (vgl. dazu auch die weitere Darstellung unten), über die das Unternehmen analog zu natürlichen Personen verfügt: „Je größer sein Handlungsfreiraum, desto größer seine ethische Verantwortung.“123 Und Enderles Projektion unternehmerischer Verantwortung scheint beinahe schon gänzlich losgelöst von zeitlichen und institutionellen Grenzen, wenn er folgert, dass den „Unternehmen als Motoren der Wirtschaft“ eine „führende Bedeutung“ bei der Lösung gegenwärtiger und zukünftiger Herausforderungen und Probleme zukomme.124 Unternehmen müssten notwendigerweise als verantwortliche Akteure begriffen werden, da ihr moralisch reflektiertes Handeln von maßgeblicher Bedeutung für die Welt von morgen sei. Sie seien zu einer „aktiven, nicht bloß re-agierenden
119 Vgl. auch Enderle: Handlungsorientierte Wirtschaftsethik, S. 219. 120 Vgl. hierzu wie zum Folgenden Küpers: Ver-Antwortung. In: Heidbrink u.a. (Hg.): Verantwortung, S. 320. 121 Küpers: Ver-Antwortung. In: Heidbrink u.a. (Hg.): Verantwortung, S. 307. 122 Jonas: Das Prinzip Verantwortung, S. 222. Enderle weist ergänzend zurecht daraufhin, dass die Problematik der Zuordnung der Verantwortung auf bestimmte Handlungsträger, die von Jonas nicht diskutiert wird, von großer Bedeutung ist. Ohne sie muss eine entsprechende Zuordnung der Rede von der Verantwortung notwendigerweise unvollständig erscheinen. (Vgl. Enderle: Handlungsorientierte Wirtschaftsethik, S. 219f.) 123 Steinmann/Löhr: Grundlagen, S. 201. 124 Enderle: Handlungsorientierte Wirtschaftsethik, S. 205; vgl. dazu ausführlich auch bereits Georges Enderle: Ethik als unternehmerische Herausforderung. In: Die Unternehmung 41 (1987), S. 433– 450.
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Unternehmenspolitik“ sowie zur beständigen Reflexion von „deren ethische[r] Dimension“ gezwungen: „Mit der Macht und dem Einfluß großer Organisationen und Unternehmen ist deren Verantwortung, auch im ethischen Sinn, unlösbar verbunden.“125 Ingo Pies – als Vertreter einer normativen Ökonomik – argumentiert, dass korporative Akteure in besonderer Weise dazu prädestiniert seien, Verantwortung zu übernehmen, weil sie über einen sehr langen Zeithorizont verfügten und ihren durch die Organisationsverfassung festgelegten Charakter wesentlich transparenter als Menschen programmieren oder umprogrammieren könnten.126 Der ergänzende Hinweis sei gestattet, dass dieses Argument zugleich bedeutet, dass sich Unternehmen durch Änderungen in der Programmstruktur dann aber auch ebenso schnell wieder aus moralischen Bindungen lösen können, wenn es ihnen opportun erscheint.127 Dennoch regt sich – insbesondere im deutschsprachigen Raum – immer wieder Widerspruch gegen ein solches Modell.128 Allein die Tatsache korporativen Handelns – deren Eingeständnis keine Selbstverständlichkeit ist – reiche nicht aus, so die Philosophen Walther Zimmerli und Guido Palazzo, um Unternehmen auch Moralfähigkeit zu bescheinigen: „Selbst wenn sich immer mehr Kollektive als eigentliche Handlungssubjekte erweisen, bleibt das Verantwortungssubjekt doch immer das Individuum. Nur im Sinne einer schlechten Metaphysik […] kann gesagt werden, Unternehmen […] hätten ein ‚Gewissen‘ oder seien ‚moralische Subjekte‘“.129 Ähnlich argumentiert Michael Aßländer. Unternehmen könnten nicht als vollwertige Verantwortungssubjekte betrachtet werden, da sie nicht in der Lage seien, sich für ihr Handeln verantwortlich zu fühlen.130 Dabei wird der Verantwortungsbegriff wieder strikt und im Einklang mit dem traditionellen ethischen Diskurs an das Individuum gebunden.131 Das hat zur Konsequenz, dass sich unternehmerische Verant125 Enderle: Handlungsorientierte Wirtschaftsethik, S. 205. 126 Vgl. Ingo Pies: Können Unternehmen Verantwortung tragen? – Ein ökonomisches Kooperationsgebot an die philosophische Ethik. In: Josef Wieland (Hg.): Die moralische Verantwortung kollektiver Akteure. Heidelberg 2001, S. 171–199, 187. 127 Vgl. auch Günter Ulrich: Können Unternehmen, S. 87 128 Vgl. dazu Walther Ch. Zimmerli/Michael S. Aßländer: Wirtschaftsethik. In: Julian Nida-Rümelin (Hg.): Angewandte Ethik. Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung. Ein Handbuch. Stuttgart 1996, S. 290–344, bes. 303–307. 129 Walther Ch. Zimmerli/Guido Palazzo: Interne und externe Technikverantwortung des Individuums und der Unternehmen. Zwischen Technik- und Wirtschaftsethik. In: Hans Lenk/Matthias Maring (Hg.): Technikethik und Wirtschaftsethik. Fragen der praktischen Philosophie. Opladen 1998, S. 185–204, 188. 130 Michael S. Aßländer: Unternehmerische Verantwortung und Kultur. In: Thomas Beschorner/Matthias Schmidt (Hg.): Unternehmerische Verantwortung in Zeiten kulturellen Wandels. München u.a. 2006 (= Schriftenreihe für Wirtschafts- und Unternehmensethik 15), S. 17–39, 25. 131 Autoren, die eine kollektive oder korporative Verantwortungszuschreibung für nicht zu rechtfertigen halten, befürworten oft eine Erweiterung der individuellen Erwartung. So exemplarisch Walther Ch. Zimmerli: Wandelt sich Verantwortung mit dem technischen Wandel? In: Hans Lenk/Günter Ropohl (Hg.): Technik und Ethik. Stuttgart 1987 (= Reclams Universal-Bibliothek 8395),
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wortungsübernahme auf Managementethik und die Ausformung organisatorischer Rahmenbedingungen reduziert. Es stellt sich darüber hinaus die Frage, ob die Moralfähigkeit korporativer Akteure tatsächlich von der Fähigkeit, Gefühle zu empfinden, abhängig gemacht werden kann. Von weit größerer Relevanz erscheint indes die Frage, ob Organisationen eine Identität ausbilden, die ihnen neben der Fähigkeit zu intentionalem und folgenorientiertem Handeln auch die moralische (Selbst-)Zurechnung dieses Handelns ermöglicht.132 Peter French verweist dazu auf die interne Entscheidungsstruktur von Korporationen, die die Handlungen und Absichten der Organisationsmitglieder zu einer korporativen Entscheidung synthetisiert, aufgrund derer sie als vollwertige moralische Personen angesehen werden könnten.133 Aus systemtheoretischer Sicht untermauert dies Josef Wieland: Die Moralfähigkeit der Unternehmung sei durch deren vertragliche Konstitution verbürgt.134 Individuen bildeten einen Zusammenschluss und schüfen durch die Einschränkung ihrer individuellen Handlungspräferenzen eine repräsentative Person, die eine Zuschreibung moralischer Verantwortung von Seiten der Gesellschaft erlaube. Die Manifestation der moralischen Identität erfolge dann in Form einer Selbstbeschreibung, als „Code of Ethics“ oder informell in Gestalt moralischer unternehmenskulturell verankerter Spielregeln. Halten wir fest: Die Frage nach der Verantwortung für Folgen ihres Handelns stellt sich Unternehmen unausweichlich und darf keineswegs negiert oder auf eine Makro-, sprich Systemebene, bzw. Mikroebene, will heißen auf die personale Verantwortungsebene einzelner Individuen abgeschoben werden. Die Frage individueller Verantwortung kann gegenüber der korporativen Verantwortungsübernahme sogar gänzlich in den Hintergrund treten.135 Freilich sind mit dem Konzept des Unternehmens als moralischer Akteur weitreichende Konsequenzen sowohl für die theoretische Situierung der Unternehmensethik innerhalb der Wirtschaftsethik als auch für deren Umsetzung in der unter-
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S. 92–111, bes. auch 103, 106. Vgl. zu den m.E. berechtigten Einwänden gegen eine solche Konzeption, die die Zuschreibung von individueller Verantwortung erheblich erweitert Weyma Lübbe: Verantwortung in komplexen kulturellen Prozessen. Freiburg u.a. 1998 (= Alber-Reihe praktische Philosophie 55), S. 31–34, 155; sowie auch Stefan Kyora: Grenzen individueller Verantwortung. In: Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik 1 (2000), Nr. 1, S. 34–44. Vgl. hierzu und zum Folgenden Günter Ulrich: Können Unternehmen, S. 86. Vgl. Peter A. French: Die Korporation als moralische Person. In: Hans Lenk/Matthias Maring (Hg.): Wirtschaft und Ethik. Stuttgart 1992, S. 317–328. Vgl. dazu wie zum Nachstehenden Josef Wieland: Tugend kollektiver Akteure, S. 32ff. Kurt Röttgers argumentiert in dieser Weise, obgleich er dem individuellen Akteur einen „kollektiven Akteur“ gegenüberstellt, der aber unserem „korporativen Akteur“ vergleichbare Eigenschaften verfügt. Er betont, dass angesichts der Verantwortung des kollektiven Akteurs die Frage individueller Verantwortung im Sinne einer pragmatischen Lösung aufgehoben werden könne. Dafür sorgten diejenigen Prozesse eines kollektiven Akteurs, die als der innere Andere eines kollektiven Akteurs bestimmt werden könnten. Individuen spielten dabei dann nur noch in repräsentativer Funktion für den kollektiven Akteur eine Rolle. (Vgl. Röttgers: Verantwortung nach der Moderne, S. 30.)
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Nachhaltiges und verantwortliches Handeln in der unternehmerischen Praxis
nehmerischen Praxis verbunden.136 Hierin kann eine der entscheidenden Grundlegungen für die Berechtigung und Bedeutung der CSR, also der Verantwortungsübernahme von Unternehmen, gesehen werden. Umgekehrt lässt sich aber auch festhalten, dass die Moralfähigkeit des Unternehmens auch an das Vorhandensein ausreichender Handlungsspielräume geknüpft ist – andernfalls wäre Corporate Social Responsibility bloße Rhetorik.137 Die Moralfähigkeit global agierender Unternehmen ist weitaus weniger skeptisch zu betrachten, als es in der Vergangenheit vielfach geschehen ist: Wenn es mit Nietzsche richtig ist, dass der moralische Verantwortungsdiskurs überhaupt erst das moralische Subjekt konstituiert138, so wird man heute konstatieren können, dass dieser Diskurs inzwischen über Gemeinde- und Ländergrenzen hinausreicht und allmählich unter dem Druck der NGOs und der Verbraucher „herrschende Rationalitätsstandards infiziert und so auch global tätige Unternehmen zwingt, sich als Träger sozialer Verantwortung zu positionieren“.139 3.1.3 Ursachen für verantwortliches und nachhaltiges unternehmerisches Handeln Nachdem dargestellt wurde, inwieweit Unternehmen dazu in der Lage sind, als moralische Akteure Verantwortung zu übernehmen, sollen nun die Ursachen für den Aufschwung, den die Frage nach der Übernahme unternehmerischer Verantwortung in der wirtschaftlichen Praxis erfuhr, näher untersucht werden. Dazu greift der folgende Abschnitt die offenen Fragen der vorangegangenen Kapitel auf: Aus welchen Gründen sind viele Unternehmen mittlerweile dazu bereit, ihre soziale Verantwortung zu thematisieren und ihr Handeln an Leitbildern wie Nachhaltigkeit und Verantwortung auszurichten? Warum konnte sich in ihnen überhaupt das Bewusstsein dafür ausprägen, dass unternehmerisches Handeln ethische Folgen zeitigt? Und wieso fordert das Konzept des korporativen Akteurs von den Unternehmen eine sichtbare Reaktion auf die Herausforderungen unserer Zeit ein? 3.1.3.1
Veränderung der Rahmenbedingungen
Zu Beginn dieses Kapitels wurde Verantwortung als die Verpflichtung zu einem „Für-etwas-Rede-und-Antwort-Stehen“ definiert. Wenn sich Unternehmen heute mit Corporate Social Responsibility (oder kürzer: Corporate Responsibility) beschäftigen, so tun sie das, um als korporativer Akteur der Forderung nach Rechenschaft für das eigene Tun, aber auch dem selbst gesetzten Anspruch nach Vernunft, Transparenz und Zielorientierung des eigenen Handelns gerecht zu werden. 136 137 138 139
Vgl. dazu grundlegend auch Enderle: Handlungsorientierte Wirtschaftsethik, Kap. 1 und 4. Vgl. auch Günter Ulrich: Können Unternehmen, S. 87. Vgl. Judith Butler: Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Berlin 1998, S. 67ff. Günter Ulrich: Können Unternehmen, S. 91.
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Dass unternehmerisches Handeln innerhalb von Rahmenbedingungen stattfindet, ist keine neue Einsicht. Gerade diese Rahmenbedingungen unterlagen jedoch in den vergangenen 20 Jahren einem großen Wandel.140 Besonders das Verhältnis von Wirtschaft, Staat und Zivilgesellschaft und der öffentliche Diskurs darüber veränderten sich sehr.141 Die Komplexität der Systeme in Wirtschaft und Gesellschaft ist angewachsen und lässt sich mit den traditionellen Steuerungsmechanismen staatlicher Regulierung nicht mehr fassen.142 Damit einher geht der schwindende Einfluss der Nationalstaaten – wiewohl sich umgekehrt den global agierenden Wirtschaftsakteuren vollkommen neue Möglichkeiten eröffnen. In der Sphäre der Ökonomie kam es in den zurückliegenden Jahren zu zahlreichen Veränderungen, die einerseits die Einflussmöglichkeiten der Politik reduzierten, andererseits aber auch die Komplexität des wirtschaftlichen Systems enorm erhöhten: Anzuführen wären die vergrößerte Mobilität von Arbeit und Kapital, die enorme Weiterentwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologien, die Intensivierung der Verflechtungen zwischen den einzelnen Akteuren auf dem Markt, aber gerade auch die großen Veränderungen in den Eigentümerstrukturen von Aktiengesellschaften, die durch die Beteiligung von Investmentfonds und Private-Equity-Gesellschaften einem viel rascheren Wandel als früher unterliegen, um nur die wichtigsten Prozesse zu nennen. Speziell die teilweise dramatischen Veränderungen in den Eigentümerstrukturen von Unternehmen wirken sich auf das deutsche Wirtschaftssystem in besonderer Weise aus. 143 Fanden sich noch bis Ende der 1980er Jahre unter den Großaktionären deutscher Kapitalgesellschaften hauptsächlich Banken und Versicherungen, so handelt es sich bei den heutigen Anteilseignern vielfach um Investmentgesellschaften und Hedgefonds, die (zumeist) kurzfristige Renditeziele verfolgen. In der Regel, so sei unterstellt, überwiegt hier das Interesse an schnellen Spekulationsgewinnen die Wünsche nach langfristiger und nachhaltiger Entwicklung eines Unternehmens. Aufgrund der Konsolidierung ganzer Märkte nehmen außerdem Fusionen und Unternehmensaufkäufe zu, eine Internationalisierung ganzer Wertschöpfungsketten geht vonstatten.144
140 Vgl. hierzu und zum Folgenden Beschorner/Vorbohle: Neue Spielregeln für eine (verantwortliche) Unternehmensführung, S. 105. 141 Vgl. Ariane Berthoin Antal u.a.: Zur Zukunft der Wirtschaft in der Gesellschaft. Sozial verantwortliche Unternehmensführung als Experimentierfeld. In: Jürgen Kocka (Hg.): Zukunftsfähigkeit Deutschlands. Sozialwissenschaftliche Essays. Bonn 2008 (= Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe 693), S. 251–273, 255. 142 Vgl. hierzu und zum Folgenden Beschorner/Vorbohle: Neue Spielregeln, S. 106. 143 Vgl. Thomas Schwartz: Der Ruf nach gesellschaftlicher Verantwortung – Herausforderung für Unternehmen, Staat und Gesellschaft. In: Argumentation Kompakt. Ein Service der Hanns-SeidelStiftung für politische Entscheidungsträger v. 15.05.2008, S. 1–5, 2f. 144 Vgl. dazu ausführlich Josef Wieland: Die Ethik der Governance. Marburg 1999 (= Institutionelle und evolutorische Ökonomik 9), S. 11ff.
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Darüber hinaus lässt sich auch ein fortschreitender Rückzug des Staates aus der sozialen Verantwortung konstatieren.145 Insbesondere Deutschland mit seinem Modell des „Rheinischen Kapitalismus“ (Michel Albert) kam über viele Jahre eine Vorbildfunktion hinsichtlich Beschäftigungsstandards, Arbeitsbedingungen, sozialer Sicherung, aber auch Umweltschutz zu.146 Diese Standards trugen wesentlich zur gesellschaftlichen Wohlfahrt und wirtschaftlichen Prosperität bei.147 Der verstärkte weltweite Wettbewerb führte im Zuge der Globalisierung neben einer Absenkung der Sozialstandards auch zu weiteren Problemen wie Arbeitslosigkeit und sinkender sozialer Sicherheit. Um diese Herausforderungen zu meistern, sind angesichts des schwindenden Einflusses nationaler Institutionen auf Unternehmen transnationale Lösungen erforderlich.148 Denn gerade multinational agierenden Unternehmen erwachsen heute angesichts der Vielzahl unterschiedlicher institutioneller Rahmenbedingungen weit reichende Möglichkeit, ein sogenanntes race to the bottom zu forcieren, sich also aus der Verantwortung zu stehlen und auf diese Weise aus den Freiräumen und politischen Leerstellen Profit zu ziehen.149 So sind internationale Konzerne heute dazu in der Lage, fast alle Elemente der Wertschöpfungskette dort zu platzieren, wo sie entweder die geringsten Kosten tragen müssen oder den höchsten Profit generieren können.150 Unternehmen verfügen an den globalen Märkten über eine Bewegungsfreiheit, die Staat und Zivilgesellschaft gleichermaßen verwehrt bleibt. Die Konsequenz daraus ist ein offenkundiges „Gerechtigkeitsproblem“ (Schwartz), das sich auf die gesamte Gesellschaft auswirkt. Angesichts der Unvollständigkeit der internationalen Rahmenordnung und der Unmöglichkeit der Politik, auf die sich beschleunigenden und immer komplexeren Prozesse in der Wirtschaft Einfluss zu nehmen, begründet sich also die Verantwortung korporativer Akteure normativ aus den steigenden Handlungsspielräumen und ihrer Einflussfähigkeit auf gesellschaftliche Entwicklungen. Da sich die historisch gewachsene Teilung von Aufgaben und Verantwortung zwischen den unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteuren ständig verändert und staatliches Handeln allein sowohl aus Mittelknappheit als auch aus Mangel an Sachverstand den Erfordernissen nicht mehr genügend Rechnung tragen kann,
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Vgl. dazu und zum Folgenden Schwartz: Corporate Social Responsibility, S. 7. Vgl. Berthoin Antal u.a.: Zukunft der Wirtschaft, 251f. Vgl. hierzu und zum Folgenden Berthoin Antal u.a.: Zukunft der Wirtschaft, S. 252. Vgl. Wolfgang H. Reinicke/Jan Martin Witte: Globalisierung, Souveränität und internationale Ordnungspolitik. In: Andreas Busch/Thomas Plümper (Hg.): Nationaler Staat und internationale Wirtschaft. Anmerkungen zum Thema Globalisierung. Baden-Baden 1999, S. 339–366. Mit den Verschiebungen der globalen Rahmenbedingungen ist auch eine Veränderung der zu bearbeitenden Probleme verbunden. Probleme, die im Zusammenhang mit Armut, Migration oder Klimawandel stehen, machen nicht vor Landesgrenzen halt. Um zu einer Lösung dieser schwierigen Sachverhalte zu gelangen, ist der Einbezug einer immer größeren Anzahl von Akteuren erforderlich. (Vgl. Berthoin Antal u.a.: Zukunft der Wirtschaft, S. 252.) 149 Vgl. Falck/Heblich: Corporate Social Responsibility, S. 2. 150 Vgl. hierzu und zum Folgenden Schwartz: Ruf nach Verantwortung, S. 3.
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wird an die Unternehmen die Erwartung gerichtet, „dass sie über die Sicherung ihrer eigenen ökonomischen Interessen hinaus soziale Verantwortung übernehmen und sich an Problemlösungsprozessen beteiligen“.151 Ein profundes Beispiel dafür ist das bereits um die Jahrtausendwende veröffentlichte Grünbuch „Europäische Rahmenbedingungen für die soziale Verantwortung von Unternehmen“ der Europäischen Kommission.152 In Ermangelung einer global governance, die einen supranationalen institutionellen Rahmen einzuführen und durchzusetzen vermochte, können die Unternehmen selbst einen Beitrag leisten, die Regulierungs- und die Gerechtigkeitslücke zu füllen. Dem liegt die Einsicht zugrunde, dass ihr Handeln nie reiner Selbstzweck sein kann, sondern sie als korporativer Akteur untrennbar in gesellschaftliche und politische Systeme integriert sind. 3.1.3.2
Der Einfluss der Stakeholder: Neue Pflicht zur Verantwortung
Im Zuge der Globalisierung haben sich jedoch nicht nur die Interaktionen von Wirtschaftsakteuren quantitativ und qualitativ verändert, auch ist die Öffentlichkeit besonders durch wirtschaftliche und wirtschaftskriminelle Skandale und deren mediale Präsenz – wie oben bereits knapp dargestellt – weitaus kritischer und sensibler für das Verhalten der Wirtschaftsakteure geworden153: „Beispiele von multinationalen Konzernen, die durch ihre betrügerischen Machenschaften in aller Munde sind, haben nicht nur den Shareholder-Value zutiefst verletzt und zerstört, sondern auch tausende entlassene Mitarbeiter zu Verlierern gemacht. Investoren, Aktionäre, Mitarbeiter, Konsumenten und Bürger fragen sich nun, wem sie noch trauen können. Es wird nach mehr Dialog und Transparenz verlangt, denn die Konsumenten sind sensibilisiert und in ihrem Verhalten kritischer geworden.“154 151 Berthoin Antal u.a.: Zukunft der Wirtschaft, S. 252. 152 „Promoting a European Framework for Corporate Social Responsibility“ lautet der englischsprachige Titel des Grünbuchs. Die EU übersetzt CSR also als soziale Verantwortung von Unternehmen. Vgl. Europäische Kommission: Grünbuch. Europäische Rahmenbedingungen für die soziale Verantwortung von Unternehmen. Brüssel 2001, URL: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:2001:0366:FIN:DE:PDF [aufgerufen am 20.01.2010]. 153 Der Vertrauensverlust großer Unternehmen unter den Bürgern ist enorm: So meinen nach einer Umfrage des „Wall Street Journals“ aus dem Jahr 2002 83 Prozent der europäischen Bürger/innen, dass Manager nur ihre eigenen Interessen verfolgten. (Vgl. Ulrich Thielemann: Nun reden Manager wieder von Ethik. Erst kommen die betrügerischen Gross-Pleiten à la Worldcom, dann folgt der neue, opportunistische Ethik-Boom. In: Zürcher Tagesanzeiger v. 08.07.2002, S. 42.) 154 Wieser: Relevanz der sozialen Verantwortung, S. 41. Eine Studie des britischen Meinungsforschungsinstituts Ipsos MORI belegt diese Diagnose: „Three-quarters of the public (73%) feel that industry and commerce does not pay enough attention to its responsibilities. There is also a rising trend in the influence of corporate responsibility on purchasing behaviour. Compared with five years ago, the proportion saying corporate responsibility is very important in their purchasing has almost doubled, from a quarter (24%) in 1997 to more than two in five (44%) this year.“ (So die Zusammenfassung der Studienergebnisse bei Ipsos MORI: Is Industry Socially Responsible? [London
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Professionelle Strukturen der Zivilgesellschaft, wie sie etwa die NGOs darstellen, ermöglichen es, Ansprüche der Allgemeinheit gegenüber Unternehmen zu formulieren und einen entsprechenden Legitimitätsdruck auf sie auszuüben.155 Besonders in angloamerikanischen Ländern haben NGOs – darunter werden nicht auf Gewinn gerichtete und von staatlichen Stellen weder organisierte noch abhängige oder finanzierte und zumeist gemeinnützige Verbände und Interessengruppierungen verstanden – bereits eine wesentliche Bedeutung als kritische Begleiter unternehmenspolitischer Maßnahmen erlangen können. So setzen sich NGOs beispielsweise gezielt für die Berücksichtigung von ökologischen Aspekten oder die Gleichberechtigung von Minderheiten ein. Dazu bedienen sie sich gezielter Boykottaufrufe oder Kaufempfehlungen, die werbewirksam – häufig auch unter Hinzuziehung prominenter Fürsprecher – verbreitet werden und zu sog. ShamingKampagnen ausgeweitet werden können. Für die Unternehmen stellen solche Aktionen ein nicht unerhebliches Reputationsrisiko dar.156 Der auf diese Weise aufgebaute ökonomische Druck kann korporative Akteure zu einem Umdenken bewegen. Der wachsende Einfluss der NGOs ist Ausdruck einer allgemeinen Entwicklung, bei der Wirtschaftsunternehmen mittlerweile von gesellschaftlichen Anspruchsgruppen, den sogenannten Stakeholdern, eine license to operate abverlangt wird, die ihr Handeln moralisch legitimieren soll.157 Die überkommene, ökonomis2002], URL: http://www.ipsos-mori.com/researchpublications/researcharchive/poll.aspx?oItemId= 1033 [aufgerufen am 22.01.2010].) Eine andere Studie desselben Instituts belegt, dass immerhin 20 Prozent der Europäer dazu bereit sind, mehr für ein Produkt zu bezahlen, das unter sozial und ökologisch verträglichen Bedingungen erzeugt wurde. (Vgl. Wieser: Relevanz der sozialen Verantwortung, S. 41.) 155 Vgl. auch Wieser: Relevanz der sozialen Verantwortung, S. 42. 156 Vgl. Lance J. Ewing/Ryan B. Lee: Surviving the Age of Risk. A Call for Ethical Risk Management. In: Risk Management 51 (2004), S. 56–58; sowie Ronald Francis/Anona Armstrong: Ethics as a Risk Management Strategy. The Australian Experience. In: Journal of Business Ethics 45 (2003), S. 375–385. Vgl. zu den Konsequenzen negativer Publicity für eine Unternehmensmarke bes. auch Alokparna Basu Monga/Deborah Roedder John: When does negative brand publicity hurt? The moderating influence of analytic versus holistic thinking. In: Journal of Consumer Psychology 18 (2008), S. 320–332. Vgl. dazu ebf. den zwar sehr wirtschaftsnahen, aber dennoch aufschlussreichen Artikel von Wolfgang Schiller/Michael Quell: Brand Riskmanagement – Marke als Gegenstand des ganzheitlichen Risiko-Managements. In: Frank Romeike/Robert Finke (Hg.): Erfolgsfaktor Risikomanagement: Chance für Industrie und Handel. Wiesbaden 2003, S. 117–146. Vgl. dazu grundlegend ebf. Mark Eisenegger: Reputationskonstitution in der Mediengesellschaft. In: Kurt Imhof u.a. (Hg.): Mediengesellschaft. Strukturen, Merkmale, Entwicklungsdynamiken. Wiesbaden 2004 (= Mediensymposium Luzern 8), S. 262–292. 157 Vgl. Beschorner/Vorbohle: Neue Spielregeln, S. 105f. Als Stakeholder, also Anspruchsgruppen eines Unternehmens, gelten neben den klassischen Shareholdern (die Eigentümer, Aktionäre) die Mitarbeiter, die Kunden, die Lieferanten, aber auch die Kapitalmärkte sowie der Staat, die Natur und die Öffentlichkeit (repräsentiert durch Parteien, NGOs, Verbände, Kirchen, Medien etc.). Theorie und Praxis haben keine ganz einheitliche Vorstellung, wer alles als Stakeholder in Betracht zu ziehen ist. Staat, Natur und Öffentlichkeit sind sogenannte nichtmarktliche Anspruchsgruppen. Kapital-, Arbeits-, Beschaffungs- und Absatzmärkte bezeichnet der Stakeholder-Ansatz als
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tische Maxime „the business of business is business“ ist nicht nur unzureichend, sie ignoriert auch den Umstand, dass verantwortliches unternehmerisches Handeln inzwischen zu einer Grundbedingung erfolgreichen Managements geworden ist.158 So sind die Unternehmen in stärkerem Maße dazu angehalten, sich um die Entwicklung von Antworten auf die aus den Folgen des gesellschaftlichen Wertewandels einerseits und einer ungehemmten, politisch auf einer translateralen Ebene noch nicht eingedämmten Globalisierung andererseits resultierenden Fragen zu bemühen.159 Unter Verweis auf das Verursacherprinzip werden global agierende Unternehmen verstärkt in die Pflicht genommen.160 Da beispielsweise ein wesentlicher Anteil der weltweiten Klimaemissionen von großen Unternehmen verantwortet werden, müssen sich multinationale Konzerne in der aktuellen umweltpolitischen Debatte mehr denn je die Frage gefallen lassen, welchen Beitrag sie zur Reduzierung ihrer Emissionen und somit zum Klimaschutz leisten.161 Themen wie Umwelt-
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marktliche Gruppen und Beziehungen (Leistung und Gegenleistung). Die Anspruchsgruppen können auch unterschieden werden in Gruppen aus dem engeren Umfeld des Unternehmens, also Mitarbeiter, Lieferanten, Kunden, etc., die direkt von den Handlungen des Unternehmens betroffen sind, und Gruppen aus dem weiteren Umfeld, also etwa die Politik (z.B. Kommunen), Nichtstaatliche Organisationen (NGOs), einzelne Bürger usw., die indirekte Auswirkungen der Unternehmenstätigkeit wahrnehmen. Im Gegensatz zum Shareholder-Value-Prinzip, das Bedürfnisse und Erwartungen der Anteilseigner eines Unternehmens in den Mittelpunkt des Interesses stellt, versucht das Prinzip der Stakeholder das Unternehmen in seinem gesamten sozialökonomischen Kontext zu erfassen und einen Ausgleich zwischen den Bedürfnissen der unterschiedlichen Anspruchsgruppen zu erzielen. Das Stakeholder-Relationship-Management (SRM) stellt eine entsprechende Erweiterung des Customer-Relationship-Managements (CRM) dar: Es versucht die Beziehungen eines Unternehmens mit allen seinen, beziehungsweise den wichtigsten Anspruchsgruppen in Einklang zu bringen. Von überragender Bedeutung für die heutige Vorstellung war Freemans Monographie von 1984: R. Edward Freeman: Strategic Management. A Stakeholder Approach. Boston u.a. 1984. Mitchell u.a. liefern einen geschlossenen Ansatz zur Identifikation und Priorisierung der Anspruchsgruppen: Ronald K. Mitchell u.a.: Toward a Theory of Stakeholder Identification and Salience: Defining the Principle of Who and What Really Counts. In: The Academy of Management Review 22 (1997), S. 853–886. Rowley versucht den Ansatz um Erkenntnisse aus der Theorie sozialer Netzwerke zu erweitern: Timothy R. Rowley: Moving beyond dyadic ties. A network theory of stakeholder influences. In: The Academy of Management Review 22 (1997), S. 887–910; vgl. zudem grundlegend zur Stakeholder-Theorie, insbes. im Hinblick auf die unternehmerische Performance, Bradford Cornell/Alan C. Shapiro: Corporate Stakeholders and Corporate Finance. In: Financial Management 16 (1987), S. 5–14. Vgl. zum Stakeholderansatz außerdem den von Alexander Brink und Thomas Beschorner herausgegebenen Sammelband: Thomas Beschorner, Alexander Brink (Hrsg.): Stakeholdermanagement und Ethik. In: Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik 4 (2004), Nr. 3; sowie Monika Janisch: Das strategische Anspruchsgruppenmanagement – vom Shareholder Value zum Stakeholder Value. Bern u.a. 1993. Vgl. hierzu und zum Folgenden Beschorner/Vorbohle: Neue Spielregeln, S. 106. Vgl. Schwartz: Corporate Social Responsibility, S. 7. Vgl. Anna Glombitza: Corporate Social Responsibility in der Unternehmenskommunikation. Berlin u.a. 2005 (= J+K Wissen 2), S. 12. Vgl. Silke Riedel: CSR als Risikotreiber in Unternehmen? Oder was der Klimawandel mit der Börse zu tun hat! In: Glocalist Magazine 15 (2007), S. 25.
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schutz, Klimawandel, Endlichkeit von Ressourcen, steigende Energiepreise wie auch Produkt- und Arbeitssicherheit, Produktionsbedingungen, Sozialleistungen und allgemein der Umgang mit den eigenen Mitarbeitern ebenso wie der Einsatz für die Gesellschaft haben bereits heute einen erheblichen Einfluss auf die Umsätze, die Kostenstrukturen wie auch auf das Chancen-Risikoprofil des jeweiligen Unternehmens. Solche über die reine Ökonomie weit hinausreichenden Fragen, so sind institutionelle Investoren überzeugt, beeinflussen mittlerweile „neben Aspekten der sozialen Verantwortung eines Unternehmens […] den Unternehmenswert in einem nicht unbeträchtlichen Maße“ – und ihr Einfluss wird zukünftig noch weiter steigen.162 Unternehmen, die den gestiegenen gesellschaftlichen Anforderungen nicht genügen (wollen), können beispielsweise durch öffentliche Demonstrationen, Shareholder-Resolutionen oder Boykotte in gleicher Weise abgestraft werden wie bei Gesetzesverstößen oder ökonomischem Versagen im Wettbewerb, zuweilen sogar in massiverer Form, wie die großen Unternehmensskandale der Vergangenheit zeigen.163 Grundsätzlich lässt sich festellen, dass Unternehmen, die als unverantwortlich wahrgenommen werden, „vermehrt, schneller und vehementer“ von Stakeholdern „‚belästigt‘“ werden.164 An dieser Stelle seien nur einige eindrückliche Fallbeispiele aufgeführt, die vergegenwärtigen sollen, wie eine selbstbewusst auftretende Allgemeinheit ihre Erwartung an verantwortliches Wirtschaften gegenüber korporativen Akteuren nicht nur artikuliert, sondern auch durchsetzt. Ein prominentes Beispiel für die erfolgreiche Einflussnahme einer NGO auf einen Großkonzern war der Streit zwischen der Umweltschutzorganisation Rainforest Action Network (RAN) und der US-amerikanischen Citigroup Inc., dem weltweit größten Finanzdienstleister, im Jahre 2003.165 Ursache für die Auseinandersetzungen war die Kreditvergabepraxis der Großbank gegenüber Energieunternehmen. Als größter Kreditgeber der Energiebranche hatte die Citigroup zur damaligen Zeit in einem Zeitraum von zwei Jahren Kredite, Anleihen- und Aktienemissionen mit einem Volumen von 169 Mrd. US-Dollar arrangiert und so Kohle-, Öl-, Gas-, Pipeline- und Stromkonzerne finanziert. Die Umweltschützer warfen der Bank vor, dabei vollkommen unkritisch auch solche Projekte zu finanzieren, die im großen Maße die Umwelt zerstörten. Deshalb schaltete die Regenwaldschutzorganisation 162 Riedel: Risikotreiber, S. 25. Vgl. zum Einfluss unternehmerischer Verantwortung auf den Unternehmenswert Paul C. Godfrey u.a.: The Relationship Between Corporate Social Responsibility and Shareholder Value: An Empirical Test of the Risk Management Hypothesis. In: Strategic Management Journal 30 (2009), S. 425–445, 425–427. 163 Vgl. Wieser: Relevanz der sozialen Verantwortung, S. 45f. 164 Wieser: Relevanz der sozialen Verantwortung, S. 45. 165 Vgl. hierzu und zum Folgenden Citigroup kapituliert im Öko-Streit. Größter Kreditgeber der Energiebranche will jetzt Umwelt-Aspekte beachten. In: Welt Online v. 17.04.2003, URL: http://www. welt.de/print-welt/article683001/Citigroup_kapituliert_im_Oeko-Streit.html [aufgerufen am 29.10.2009].
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Fernsehwerbespots, in denen Bilder von Umweltkatastrophen gezeigt wurden und die Kunden der Bank von bekannten Schauspielern dazu aufgefordert wurden, die Kreditkarten der Citigroup nicht länger zu verwenden und zu zerschneiden. Die US-amerikanische Schauspielerin und Oscar-Preisträgerin Susan Sarandon äußerte sich in einem der Beiträge: „Citi finanziert die Zerstörung des Regenwalds. Wenn Sie mit einer Kreditkarte von Citibank zahlen, finanzieren Sie diese Zerstörung mit.“ Die Großbank reagierte schließlich auf den öffentlichen Druck und einigte sich mit den mit den Umweltschützern darauf, neue Kriterien für die Kreditvergabe zu entwickeln. Auf der Jahreshauptversammlung räumte der damalige Vorstandsvorsitzende Sanford I. Weill ein: „Wir haben erkannt, dass es ernste Herausforderungen für die Umwelt gibt“ und gab an, man wolle zukünftig Umweltaspekten Beachtung schenken. Daraufhin wurden die Werbespots eingestellt. Als eines der eindrücklichsten Beispiele für die Macht und Einflussmöglichkeiten der Stakeholder gilt bis heute der Fall Brent Spar. Im Frühsommer 1995 gelang es der Naturschutzorganisation Greenpeace, den weltweit größten Ölkonzern Royal Dutch Shell so erfolgreich unter Druck zu setzen, dass dieser schließlich nachgab. Beim Streitobjekt handelte es sich um die Ölspeicherplattform Brent Spar: Shell wollte die Plattform mitsamt der in ihr verbliebenen Ölreste in der atlantischen Tiefsee versenken, woraufhin Greenpeace-Aktivisten die Plattform in der Nordsee besetzten. Weshalb die Besetzung bis heute Symbolcharakter im Kampf gegen Umweltverschmutzung besitzt, liegt jedoch daran, dass es den Umweltschützern gelang, mit ihrer medienwirksamen Aktion weltweit Aufsehen zu erregen und die Verbraucher zu mobilisieren. Zahlreiche Kunden boykottierten den Ölproduzenten, so dass dieser schließlich nachgab und die zwar teurere, wohl aber umweltfreundlichere Demontage der Brent Spar an Land veranlasste. Damals wurden in der öffentlichen Diskussion neben der Frage nach den Kosten und dem offensichtlichen Konflikt zwischen Ökonomie und Ökologie auch vielfach ethische Bedenken geäußert. Immer wieder wurde angesichts der fortdauernden Verschmutzung der Weltmeere (gemäß der Amerikanischen Akademie der Wissenschaften fließen bis heute jährlich rund dreieinhalb Millionen Tonnen Öl aus verschiedensten Quellen in die Weltmeere) die Frage nach dem moralischen Recht des Menschen auf Verschmutzung seiner Umwelt aufgeworfen; zudem kam es auch zur verstärkten Diskussion über sozialethische Aspekte der Umweltschädigung: Wer muss in Fällen wie der Brent Spar-Demontage die Kosten für eine umweltgerechte Entsorgung übernehmen?166 Eine Frage von großer Aktualität, erinnert sie doch stark an gegenwärtige Forderungen, den Ausstoß des Klimagases Kohlenstoffdioxid mit einem bestimmten Preis zu belegen – wobei dabei keineswegs nur eine symbolische Absicht verfolgt wird. Es geht nicht nur darum, ein Bewusstsein für augenscheinliche Umweltschädigungen zu wecken, sondern gerade auch darum zu verdeutli166 Vgl. Fridolin Stähli/Fritz Gassmann: Umweltethik. Die Wissenschaft führt zurück zur Natur. Aarau u.a. 2000, S. 13.
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chen, dass eine Beeinträchtigung der Umwelt und deren Folgen für die Weltgemeinschaft nie kostenneutral sein können. Es gelang den Umweltschützern von Greenpeace zwar nicht, einen Standard zu setzen, auch trug diese Einzelaktion nur in sehr geringem Maße zum Umweltschutz bei – auch, weil die von der Brent Spar ausgehende Gefahr damals übertrieben dargestellt wurde –, eines aber verdeutlichte der Vorfall: Er zeigte die Möglichkeiten, die gesellschaftliche Interessengruppen auch in Deutschland haben können, ihre berechtigten Interessen gegenüber der Wirtschaft und ihren Akteuren durchzusetzen. In zwei jüngeren Fällen aus Deutschland zeigt sich ebenfalls, wie Verbraucher als Stakeholder gezielt auf die Politik eines Unternehmens Einfluss nehmen können: So verzeichnete der drittgrößte deutsche Energieversorger Vattenfall bis zum Jahresende 2007 einen dramatischen und ökonomisch äußerst schmerzvollen Kundenschwund, nachdem im Laufe des Jahres mehrere Pannen in den Atomkraftwerken Krümmel und Brunsbüttel an die Öffentlichkeit gedrungen waren.167 Und der weltweit führende Mobiltelefonhersteller Nokia verzeichnet im deutschen Markt Umsatzeinbußen, nachdem öffentlich Boykottaufrufe gegen das Unternehmen laut wurden, weil es die Schließung eines großen Werkes in Bochum ankündigte.168 Der Philosoph Rafael Capurro hebt hervor, dass Unternehmen die Forderungen gesellschaftlicher Anspruchsgruppen nicht übersehen könnten: „Ein Unternehmer, der über die sozialen und ökologischen Auswirkungen seines Handelns nicht reflektiert, leidet unter akuter ethischer Kurzsichtigkeit.“169 Schließlich müsse er diesen Mangel von der „massenmedial vermittelten Fremdbeobachtung“ täglich zu spüren bekommen.170 Indem viele Stakeholder von den Unternehmen „mittlerweile entsprechende Anstrengungen und Leistungen in den verschiedenen Bereichen der Unternehmerischen Nachhaltigkeit“ erwarten und „diese auch zur Meinungsbildung über das jeweilige Unternehmen“ heranziehen, schlagen sich die Leistungen verantwortlichen unternehmerischen Handelns „letztendlich in der Unternehmensreputation“ nieder.171 Auf die vermehrten Forderungen der Kunden, Investoren, aber auch der Handelspartner, Kommunen und Verbraucher nach detaillierten Informationen zu den sozialen und ökologischen unternehmerischen Anstrengungen und Leistungen antworten die Unternehmen mit einer stark angewachsenen Kommunikation über 167 Vgl. Sparprogramm. Vattenfall will 100 Millionen sparen – Arbeitsplätze bedroht. In: Spiegel Online v. 30.12.2007, URL: http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,525900,00.html [aufgerufen am 29.10.2009]. 168 Vgl. dazu sowie allgemein zum Stakeholdereinfluss Ulrich Thielemann: System Error: Warum der freie Markt zur Unfreiheit führt. Frankfurt am Main 2009, S. 80f. Vgl. zudem Boykott-Aufruf. Nokia verliert Marktanteile in Deutschland. In: Spiegel Online v. 28.08.2008, URL: http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,550060,00.html [aufgerufen am 29.10.2009]. 169 Grimm/Capurro: Unternehmensethik in der Diskussion, S. 11. 170 Vgl. Grimm/Capurro: Unternehmensethik in der Diskussion, S. 11. 171 Steffen P. Hermann: Corporate Sustainability Branding. In: Forum Wirtschaftsethik 17 (2009), Heft 3, S. 18–27, 18.
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Maßnahmen verantwortlichen Handelns.172 Auffallend sind die gestiegene Menge und Vielfalt entsprechender Berichte und Audits, aber auch die fortschreitende Integration von Themen wie Verantwortung und Nachhaltigkeit in die übrigen, klassischen Kommunikationsmaßnahmen der Unternehmen. 3.1.3.3
3.1.3.3.1
Verantwortliches und nachhaltiges unternehmerisches Handeln als Vorteil im Wettbewerb Sozial verantwortliches Investieren: Paradigmenwechsel an den Finanzmärkten
Doch nicht nur vor NGOs oder einer sensibilisierten und vermehrt kritischen Öffentlichkeit müssen Unternehmen ihre Handlungen legitimieren und verantworten können. Auch an den Finanzmärkten wird verantwortliches und nachhaltiges unternehmerisches Handeln zunehmend als handfester Wettbewerbsvorteil verstanden – so etwa im Risikomanagement.173 Investoren, Anleger und Analysten begreifen die Übernahme unternehmerischer Verantwortung mittlerweile als wichtige Komponente der langfristigen Sicherung des ökonomischen Erfolgs und als wesentlichen Faktor für die Vertrauenswürdigkeit eines Unternehmens.174
172 Vgl. Wieser: Relevanz der sozialen Verantwortung, S. 47; vgl. zu den Motiven für die zunehmende Menge an entsprechenden Kommunikationsmaßnahmen besonders auch in mittelständischen Unternehmen Institut für ökologische Wirtschaftsforschung/Institut für Markt-Umwelt-Gesellschaft (Hg.): Nachhaltigkeitsberichterstattung, S. 9ff. 173 Vgl. Godfrey u.a.: The Relationship Between Corporate Social Responsibility and Shareholder Value, S. 425–445. Die Wirtschaftswissenschaftler Godfrey, Craig B. Merrill und Jared M. Hansen kommen in ihrer Studie auf Basis empirischer Daten von 178 negativen rechtlichen, bzw. regulativen Maßnahmen gegen Firmen zwischen 1993 und 2003 zu dem Ergebnis, dass verantwortliches unternehmerisches Handeln gegenüber den externen Stakeholdern und der Gesellschaft als Ganzer die Funktion einer Versicherung gegen unternehmerische Risiken übernimmt. (Vgl. ebd.) In der Studie findet sich auch ein Verweis auf die Socially Responsible Investing Studies Website (http://www.sristudies.org), die über 225 Studien zur Beziehung zwischen der Übernahme unternehmerischer Verantwortung (CSR) und der Corporate Financial Performance (CFP), der finanziellen Performance eines Unternehmens, auflistet. (Vgl. ebd., S. 426.) Vgl. dazu ebf. Joshua D. Margolis/James P. Walsh: People and Profits: The Search for a Link Between a Company’s Social and Financial Performance. Mahwah, NJ 2001. Vgl. zur Debatte über den Zusammenhang zwischen CSR und CFP grundlegend Jennifer J. Griffin/John F. Mahon: The Corporate Social Performance and Corporate Financial Performance Debate. Twenty-Five Years of Incomparable Research. In: Business & Society 36 (1997), S. 5–31. 174 Vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Mitteilung der Kommission betreffend die soziale Verantwortung der Unternehmen: ein Unternehmensbeitrag zur nachhaltigen Entwicklung. Brüssel 2002, S. 4–8, URL: http://trade.ec.europa.eu/doclib/docs/2006/february/tradoc_127376.pdf [aufgerufen am 10.01.2010]. Vgl. zum Einfluss der NGOs auf die Entstehung nachhaltiger Investments Antje Schneeweiß: Welche Strategien können zivilgesellschaftliche Akteure ergreifen, damit Geldanlagen eine nachhaltige Entwicklung befördern? In: Gotlind Ulshöfer/Gesine Bonnet (Hg.): Corporate Social Responsibility auf dem Finanzmarkt: nachhaltiges Investment; politische Strategien; ethische Grundlagen. Wiesbaden 2009, S. 126–132.
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Nachhaltiges und verantwortliches Handeln in der unternehmerischen Praxis
Mit dem Asset Management, der wertschöpfungsorientierten Vermögensverwaltung, zeigt ein sehr renditeorientiertes Marktsegment wachsendes Interesse an Kapitalanlagen, die an Kriterien der Nachhaltigkeit und Verantwortung orientiert sind.175 Wurden früher verantwortliches und nachhaltiges unternehmerisches Handeln von Seiten der Anleger und Analysten – und wohl auch oft genug von den Entscheidungsträgern im Unternehmen – als mögliches Kostenrisiko kritisch oder zumindest mit einigem Bauchgrimmen beäugt, setzt sich heute zunehmend die Einsicht durch, dass ethisch integeres unternehmerisches Handeln nicht mit Performanceverlusten bei der Kursentwicklung einhergehen muss, sondern dass sich eine verantwortliche Unternehmenspolitik vielmehr längerfristig positiv auf die Kapitalmarktperformance auswirkt.176 Grundsätzlich lässt sich dabei eine wachsende Bereitschaft der Kapitalmärkte konstatieren, „die Bewertung von Unternehmen auf zukunftsorientierte, wertbasierte Kennzahlen zu stützen“. 177 Die entscheidende Botschaft scheint viele Unternehmenslenker erreicht zu haben: Gelebte Unternehmensethik macht sich bezahlt, in jedem Fall ist sie kein Zuschussgeschäft.178 175 Vgl. bspw. Henry Schäfer: Verantwortliches investieren: Zur wachsenden ökonomischen Relevanz von Corporate Social Responsibility auf den internationalen Finanzmärkten. In: Gotlind Ulshöfer/Gesine Bonnet (Hg.): Corporate Social Responsibility auf dem Finanzmarkt: nachhaltiges Investment; politische Strategien; ethische Grundlagen. Wiesbaden 2009, S. 64–80. Weitere Belege vgl. unten. 176 Vgl. Gotlind Ulshöfer: Corporate Social Responsibility auf den Finanzmärkten: Ebenen der Verantwortung. In: Dies./Gesine Bonnet (Hg.): Corporate Social Responsibility auf dem Finanzmarkt: nachhaltiges Investment; politische Strategien; ethische Grundlagen. Wiesbaden 2009, S. 27–44, 30. Vgl. dazu wie zum Folgenden ebf. bes. Kirein Franck u.a.: Der Markt für nachhaltiges und ethisches Investment in Deutschland und Europa. In: Elisabeth Hehn (Hg.): Asset Management in Kapitalanlage- und Versicherungsgesellschaften. Wiesbaden 2002, S. 33–48, 34f.; vgl. z.B. auch Christian Armbruster: Entwicklung ökologieorientierter Fonds. Eine Untersuchung im deutschsprachigen Raum und in Großbritannien. Lohmar u.a. 2000, S. 144. 177 Adolf G. Coenenberg/Rainer Salfeld: Wertorientierte Unternehmensführung. Stuttgart 2003, S. 7. 178 Als maßgebliches Beispiel unter den zahlreichen jüngeren Studien mag dabei vor allem die Untersuchung Porters und Kramers dienen Michael E. Porter/Mark R. Kramer: Strategy & Society. The Link Between Competitive Advantage and Corporate Social Responsibility. In: Harvard Business Review 84 (2006), Nr. 12, S. 78–92. Aus unternehmerischer Perspektive beschreibt eine Studie des IT- und Beratungsunternehmens International Business Machines Corporation (IBM), dem weltweit zweitgrößten Softwareproduzenten, anschaulich den Zusammenhang zwischen Unternehmenswachstum und CSR IBM Institute for Business Value: Attaining Sustainable Growth Through Corporate Social Responsibility. Somers, NY 2008, URL: http://www-935.ibm.com/ services/de/gbs/pdf/2008/growth_through_csr.pdf [aufgerufen am 05.03.2011]. Einen weiteren aktuellen Beleg für die positiven wirtschaftlichen Auswirkungen einer nachhaltigen Managementstrategie liefert eine im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales erstellte Studie. Die Autoren gelangen in ihrer Studie zu dem Ergebnis, dass die Integration von CSR in die Geschäftsstrategie sowie in die operativen Funktionen, die Implementierung einer offenen Informationsstrategie gegenüber allen Stakeholdern und schließlich die Förderung von Transparenz, um das Engagement bzw. die Bindung von Kunden und Schlüsselfiguren zu erhöhen, zu einer Verbesserung der Wettbewerbsposition eines Unternehmens führten Thomas Loew/Jens Clausen: Wettbewerbsvorteile durch CSR. Eine Metastudie zu den Wettbewerbsvorteilen von CSR und Empfehlun-
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Die wachsende Anzahl spezieller, auf ethischen Kriterien beruhender Börsenindizes zeigt die veränderten Präferenzen von Investoren und Analysten, die verantwortliches und nachhaltiges Handeln von Unternehmen nicht nur goutieren, sondern immer häufiger voraussetzen.179 Verantwortliche und nachhaltige Investments, sog. Socially Responsible Investments (SRI), gewinnen immer stärker an Bedeutung. 180 Bereits 2001 wurde mit dem European Social Investment Forum (Eurosif) ein paneuropäisches Stakeholder-Netzwerk als Dachorganisation für die Planung und Entwicklung nachhaltiger und verantwortungsvoller Investments gegründet. Eurosif definiert SRI als „generic term covering ethical investments, responsible investments, sustainable investments, and any other investment process that combines investors’ financial objectives with their concerns about environmental, social and governance (ESG) issues“.181 Der Markt für solche nachhaltigen Geldanlagen hat sich in den zurückliegenden Jahren rasant entwickelt.182 Vermehrt treten Anleger und Investoren auf, „die ihr Vermögen ganz bewusst in solche Unternehmen investieren, die ihre Verantwortung für die Umwelt und soziale Belange ebenso ernst nehmen wie ihre Gewinnorientierung“.183
gen zur Kommunikation an Unternehmen. Berlin u.a. 2010. 179 Vgl. dazu auch Wieser: Relevanz der sozialen Verantwortung, S. 60. 180 Wieser: Relevanz der sozialen Verantwortung, S. 46. Schon seit Beginn der 1990er Jahre wurden Indizes wie der Domini 400 Social Index (DSI) und die Dow Jones Sustainability Indizes (DJSI) eingeführt, die ihren Wert jeweils stärker steigern konnten als die entsprechenden Vergleichsindizes. Der DSI spiegelt die Performance von über 400 US-amerikanischen Unternehmen wider, auch die DJSI messen die Nachhaltigkeits-Perfomance. Entsprechende Belege finden sich bei Wieser: Relevanz der sozialen Verantwortung, S. 46f., 60f.; sowie ebd., Appendix C, S. IVff.; vgl. zur auch in Deutschland wachsenden Bedeutung der SRI Brigitte Hamm: Maßnahmen zur Stärkung von sozial verantwortlichem Investieren (SRI). Vorschläge für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit. Bonn 2006 (= Deutsches Institut für Entwicklungspolitik, Discussion Paper 6/2006), bes. S. 25ff., URL: http://www.die-gdi.de/CMS-Homepage/openwebcms3.nsf/%28ynDK_contentByKey%29/ADMR-7BRM2T/$FILE/6-2006.pdf [aufgerufen am 28.12.2009]. 181 Eurosif: European SRI Study 2008. Paris 2008, S. 6, URL: http://www.eurosif.org/media/files/ eurosif_sristudy_2008_global_01 [aufgerufen am 02.01.2010]. Vgl. grundlegend zu SRI, dem internationalen SRI-Markt, seiner Entwicklung sowie Anlagemotive ebf. die aufschlussreiche Zusammenfassung bei Ingeborg Schumacher-Hummel: Die Rolle von Pensionskassen im Bereich Socially Responsible Investments – Einflussfaktoren eines aktiven Aktionärstums. Diss. St. Gallen 2004, S. 76–158, URL: http://www.unisg.ch/www/edis.nsf/wwwDisplayIdentifier/2958/$FILE/dis2958.pdf [aufgerufen am 02.01.2010]. 182 Vgl. Rüdiger von Rosen: Nachhaltige Geldanlagen als Innovationstreiber. In: Gotlind Ulshöfer/Gesine Bonnet (Hg.): Corporate Social Responsibility auf dem Finanzmarkt: nachhaltiges Investment; politische Strategien; ethische Grundlagen. Wiesbaden 2009, S. 83–98, 85. Vgl. zur Entwicklung ethischer Investments ebf. Russell Sparkes: Ethical investment: whose ethics, which investment? In: Business Ethics: A European Review 10 (2002), S. 194–205; sowie ders.: Socially responsible investment: a global revolution. Chichester u.a. 2002 (= Society of Investment Professions 3). Russell liefert darin u.a. einen nützlichen (auch historischen) Überblick über die Entwicklung sozial verantwortlicher Investments in verschiedenen Ländern sowie über die unterschiedlichen Interessen der Investoren. Vgl. zur Performance nachhaltiger Fondsanlagen Petra Delbeck: Ethikbasierte Investmentfonds. Ein Performancevergleich mit traditionellen Investmentfonds. Hamburg 2008.
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Von 2005 bis zum Ende des Jahres 2007 wuchs der europäische SRI-Markt laut Eurosif von 1,033 Billionen Euro auf 2,665 Billionen Euro an, was einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate von 42 Prozent entspricht.184 Besonders schnell wuchs der Markt in Deutschland, Frankreich und der Schweiz. 185 Allerdings spielen die nachhaltigen Investments in Deutschland bei Weitem noch nicht so eine große Rolle wie in anderen Ländern, wo sie mittlerweile acht bis zehn Prozent der sog. Assets under Management ausmachen. 186 Über die größten SRI-Märkte verfügen Großbritannien und die Niederlande; den größten Anteil innerhalb des Asset Managements des jeweiligen Landes haben sozial verantwortliche Investments in Belgien und den Niederlanden. In der von der UN getragenen Initiative Principles for Responsible Investment (UN PRI) haben sich mittlerweile über 560 Fonds, Versicherungen und Banken mit einem verwalteten Anlagevermögen von insgesamt über 18 Billionen US-Dollar zusammengeschlossen.187 Die Mitglieder haben sich dazu verpflichtet, bei Investmententscheidungen sechs Prinzipien der nachhaltigen Entwicklung zu berücksichtigen und für diese darüber hinaus in den Unternehmen, in welche sie investieren, zu werben. Laut ihres aktuellen Jahresberichts hat die PRI alleine im Zeitraum von Oktober 2008 bis Mai 2009 160 neue Unterstützer gewonnen. Der Vorstandsvorsitzende der Initiative, Donald MacDonaldson, unterstreicht die wachsende Bedeutung nachhaltiger Investments und weist darauf hin, dass insbesondere die Finanzkrise diese Entwicklung befördert hätte – entgegen der Aussagen einiger Experten, die für dieses Marktsegment in wirtschaftlich schweren Zeiten keine Zukunft gesehen hätten: „This crisis has catalysed additional investor interest in responsible investment. […] Responsible investment is now starting to be driven by asset owners, and when times get tough, investment managers get responsive to the needs of clients.“188 Verantwortliches Investment sei nun auch von zentraler Bedeutung, um die Folgen der Finanzkrise zu überwinden, so MacDo183 Gotlind Ulshöfer/Gesine Bonnet: Finanzmärkte und gesellschaftliche Verantwortung – eine Einführung. In: Diesn. (Hg.): Corporate Social Responsibility auf dem Finanzmarkt. Nachhaltiges Investment – politische Strategien – ethische Grundlagen. Wiesbaden 2009, S. 9–24, 13. 184 Vgl. dazu und zu den folgenden Angaben Eurosif: European SRI Study 2008, S. 10. Bei der Prozentangabe wurden nur die Länder berücksichtigt, für die über den entsprechenden Zeitraum valide Daten vorliegen. Das erklärt die Abweichung der angegebenen Prozentzahl von den vorliegenden Investitionssummen. 185 Eurosif erfasst dabei allerdings nicht alle europäischen Länder, sondern lediglich die größten Märkte. Zudem sind nur diejenigen Länder berücksichtigt, für die bereits Vergleichsdaten vorheriger Studien vorliegen. 186 Vgl. Schäfer: Zur wachsenden ökonomischen Relevanz von CSR. In: Ulshöfer/Bonnet: Corporate Social Responsibility auf dem Finanzmarkt, S. 78. 187 Vgl. dazu und zum Folgenden Principles for Responsible Investment (PRI): Annual Report of the PRI Initiative 2009. New York 2009, S. 1–6, URL: http://www.unpri.org/files/PRI%20Annual %20Report%2009.pdf [aufgerufen am 04.01.2010]. 188 Donald MacDonaldson: Responsible investment more relevant than ever. In: Principles for Responsible Investment (PRI): Annual Report of the PRI Initiative 2009, S. 1.
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naldson.189 Das UN-Umweltprogramm UNEP kommt in einer aktuellen Studie zu dem Schluss, dass für Großanleger künftig schon aus Haftungsgründen keine Alternative mehr zu einer Festlegung auf Grundsätze der nachhaltigen Entwicklung bestünde.190 Bereits vor fünf Jahren konstatierten Russell Sparkes und Christopher Cowton nicht nur ein signifikantes Wachstum verantwortlicher Investments, sondern auch eine Reifung des Marktes: Von einer Randerscheinung habe sich SRI zu einer bedeutenden Investmentphilosophie entwickelt, die von großen Investoren wie Pensionskassen oder Versicherungsgesellschaften verstärkt übernommen werde: „SRI […] has become an investment philosophy adopted by a growing proportion of large investment institutions. This shift in SRI from margin to mainstream and the position in which institutional investors find themselves is leading to a new form of SRI shareholder pressure.“191 Dieser Veränderung könne eine entscheidende Rolle dabei zukommen, börsennotierte Unternehmen zur Auseinandersetzung mit verantwortlichem Handeln zu bewegen: „We argue, with support from other recent authors, that this shift in SRI from margin to mainstream could play a crucial role in obliging or influencing quoted companies to address CSR issues. For most corporate executives could ignore SRI issues when they were limited to a fringe minority, but this is no longer possible when they are raised by institutional investors …“192 Der New Yorker Managementprofessor S. Prakash Sethi wertet es als eindeutiges Indiz für die Alternativlosigkeit verantwortlicher Investments, dass auch die großen und einflussreichen US-amerikanischen Pensionsfonds mit einem Anlagevermögen von über einer Billion US-Dollar unternehmerische Langzeitrisiken wie Umweltschutz, Nachhaltigkeit und soziale Verantwortung und deren Einfluss auf die unternehmerische Performance in ihre Risikoprognosen einbezögen: „More recently, these funds have been expanding their investment strategy by considering a corporations long-term risks on issues such as environmental protection, sustainability, and good corporate citizenship, and how these factors impact a company’s long-term performance.“193 Diese Entwicklungen scheinen auf einen echten Paradigmenwechsel hinzudeuten: Neben den traditionellen Anlagezielen Rendite, Risiko und Liquidität wird 189 MacDonaldson: Responsible investment more relevant than ever, S. 1. 190 United Nations Environment Programme Finance Initiative (UNEP FI): Fiduciary responsibility. Legal and practical aspects of integrating environmental, social and governance issues into institutional investment. A report by the Asset Management Working Group of the United Nations Environment Programme Finance Initiative. July 2009. Genf 2009, URL: http://www.unepfi.org/ fileadmin/documents/fiduciaryII.pdf [aufgerufen am 04.01.2010]. 191 Russell Sparkes/Christopher J. Cowton: The Maturing Of Socially Responsible Investment: A Review Of The Developing Link With Corporate Social Responsibility. In: Journal of Business Ethics 52 (2004), S. 45–57, 45. 192 Sparkes/Cowton: The Maturing Of Socially Responsible Investment, S. 45. 193 S. Prakash Sethi: Investing in Socially Responsible Companies is a Must for Public Pension Funds – Because There is no Better Alternative. In: Journal of Business Ethics 56 (2005), S. 99–129, 99.
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mittlerweile auch die ethische Komponente eines Investments als ein wesentlicher Erfolgsfaktor im Vermögensmanagement berücksichtigt.194 Das sog. magische Dreieck der Kapitalanlage wird dabei um den Aspekt der Nachhaltigkeit zu einem „magischen Viereck“ ergänzt. Kreditinstitute und Investoren machen im Rahmen eines sogenannten ethical screening im wachsenden Maße Gebrauch von Prüflisten, die die Bewertung des unternehmerischen Engagements für soziale und ökologische Belange unterstützen.195 Auf diese Weise kann einerseits verantwortliches Handeln eines Unternehmens durch die Aufnahme in einen auf ethischen Kriterien basierenden Börsenindex honoriert werden196: Sozial verantwortliches Investieren stellt damit einen pragmatischen Ansatz dar, die finanziellen Ziele der Investoren mit der Wahrnehmung sozialer und ökologischer Verantwortung zu kombinieren.197 Andererseits wird Investoren durch entsprechende Aktienindizes die gezielte Auswahl von Aktienportfolios ermöglicht, die nur verantwortungsvoll handelnde Unternehmen einschließen, wodurch der Druck auf die übrigen Unternehmen erhöht wird, sich ebenfalls zu einer verantwortlichen Strategie zu bekennen.198 Drei unterschiedliche Strategien spielen in der Praxis nachhaltiger Kapitalanlagen aktuell eine herausragende Rolle199: Zum einen das Prinzip der Ausschlusskriterien (ethical exclusions), bei dem nicht in Unternehmen investiert wird, die in ethisch kontroversen Geschäftsfeldern (dazu zählen beispielsweise Atomenergie und Rüstungsgüter, Biozide, grüne Gentechnik oder chlororganische Massenprodukte) tätig sind oder bestimmten Mindeststandards an die Unternehmensführung nicht genügen (so zum Beispiel in ihrem Umgang mit ihren Mitarbeitern oder der Umwelt).200 Zum anderen das positive screening: Hierbei werden Aktien derjenigen Unternehmen ausgewählt, deren Performance – gemessen an einer festen Zusammenstellung von sozialen, ökologischen und Governancekriterien – am Besten ist. Dabei können sowohl sog. Best-in-Class- als auch sog. SRI-Themenfonds Teil dieser Strategie sein. Beim Best-in-Class-Ansatz werden speziell diejenigen Unternehmen allokiert, die innerhalb ihrer Branche zu Vorreitern bezüglich Verantwortungsbewusstsein und der Berücksichtigung von Nachhaltigkeitskriterien zählen. SRI-The194 195 196 197 198 199
Vgl. ebf. Rosen: Nachhaltige Geldanlagen als Innovationstreiber, S. 83. Vgl. Wieser: Relevanz der sozialen Verantwortung, S. 46f. Vgl. auch Europäische Kommission: Grünbuch, S. 9. Vgl. Wieser: Relevanz der sozialen Verantwortung, S. 59f. Vgl. auch Wieser: Relevanz der sozialen Verantwortung, S. 60. Vgl. grundlegend zu nachhaltigen Geldanlagen und Ethikfonds neben den Beiträgen im von Ulshöfer/Bonnet herausgegebenen Sammelband Stefan Ruenzi: Stichwort: Ethikfonds. In: Die Betriebswirtschaft 65 (2005), S. 101–104; sowie Klaus Gabriel: Nachhaltigkeit am Finanzmarkt. Mit ökologisch und sozial verantwortlichen Geldanlagen die Wirtschaft gestalten. München 2007; wie auch den Sammelband Martin Faust/Stefan Scholz (Hg.): Nachhaltige Geldanlagen – Produkte, Strategien und Beratungskonzepte. Frankfurt a.M. 2008. 200 Vgl. dazu und zum Folgenden Eurosif: European SRI Study 2008, S. 7, 54.
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menfonds können sowohl auf einzelne Sektoren wie Wasser oder Energie fokussiert sein als auch auf Themen wie „Wandel zu nachhaltiger Entwicklung“ oder „CO2-emissionsarmes Wirtschaften“. Um als „sozial verantwortliches Investment“ in Frage zu kommen, muss ein Themenfonds bereits während seiner Konstruktion speziellen, strengen Kriterien der Verantwortung und der Nachhaltigkeit genügen.201 Die dritte prominente Anlagestrategie kombiniert das Prinzip der Ausschlusskriterien mit dem positive screening. 3.1.3.3.2
Wettbewerbsvorteile und Wertschöpfung: Wirtschaftliche Aspekte verantwortlichen und nachhaltigen unternehmerischen Handelns
Das gestiegene Interesse der Finanzmärkte und ihrer Akteure an verantwortlichem und nachhaltigem unternehmerischen Handeln ist zweifelsohne vor allem Ausdruck einer Erwartung in die konkrete Wertschöpfung, die Unternehmen aus einer an den Kriterien der Verantwortung und Nachhaltigkeit orientierten Managementstrategie generieren können. Die Zusammenhänge zwischen der Übernahme unternehmerischer Verantwortung und der finanziellen Performance eines Unternehmens sind schon früh untersucht und bestätigt worden: „Results show that a firm’s prior performance, assessed by both stock-market returns and accounting-based measures, is more closely related to corporate social responsibility than is subsequent performance. Results also show that measures of risk are more closely associated with corporate social responsibility than previous studies have suggested.“202 Jüngst hat die Bank of Finland anhand eines der etabliertesten Nachhaltigkseitsindizes, des Domini 400 Social Index, eine empirische Untersuchung der Relevanz von verantwortlichem unternehmerischen Handeln für den Kapitalmarkt vorgenommen. In der Studie erscheint die Übernahme unternehmerischer Verantwortung als „core component of corporate strategy“ in der globalen Wirtschaftswelt der Gegenwart.203 Aufgrund von „financial scandals, losses, and the diminished reputation of the affected listed companies“ entwickle sich verantwortliches und nachhaltiges unternehmerisches Handeln zu einem „crucial instrument for mini201 Eurosif schreibt dazu: „To be considered SRI, a theme fund must show an explicit SRI motivation, taking into account ESG considerations in the fund construction process. This requires the existence of specific mechanisms, such as the involvement of SRI expertise in stock analysis selection, the application of an ESG screen, or the management of the product by the SRI team.“ (Eurosif: European SRI Study 2008, S. 7.) 202 Jean B. McGuire u.a.: Corporate Social Responsibility. Firm Financial Performance. In: Academy of Management Journal 31 (1988), S. 854–872, 854. Die Debatte kann hier nicht weiter nachverfolgt werden. Entsprechende Verweise finden sich ebd., S. 854f. 203 Leonardo Becchetti u.a.: Corporate social responsibility and shareholder’s value: an empirical analysis. Helsinki 2009 (= Bank of Finland Research Discussion Papers 1/2009), S. 3, URL: http://www.bof.fi/NR/rdonlyres/2D39D03F-9F57-4618-B1C2-F91A221B2438/0/0901netti.pdf [aufgerufen am 31.12.2009].
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Nachhaltiges und verantwortliches Handeln in der unternehmerischen Praxis
mizing conflicts with stakeholders“.204 Dieser Einsicht hätten sich auch die Unternehmensstrategien anzupassen, so das abschließende Ergebnis und die Empfehlung der Studie: „The findings establish that CSR leads corporations to refocus their strategic goals from the maximization of shareholder value, to the maximization of the goals of a broader set of stakeholders.“205 Dass Unternehmen aus einer an den Kriterien der Verantwortung und Nachhaltigkeit orientierten Managementstrategie konkrete wirtschaftliche Vorteile ziehen können, wird durch die Ergebnisse verschiedener Studien unterstrichen: So belegt die Gemeinschaftsstudie der Beratungsgesellschaft SustainAbility Ltd. und des United Nations Environment Programme mit dem klingenden Namen Buried Treasure – Uncovering the business case for corporate sustainability eine moderate bis starke positive Korrelation zwischen der Umweltperformance eines Unternehmens und dessen Shareholder Value sowie eine schwache bis moderate Korrelation zwischen Sozialperformance und Shareholder Value.206 Auch die Unternehmensberatungsgesellschaft Ernst & Young – laut eigener Aussage Marktführer in der Management- und Risikoberatung – hebt hervor, dass die Integration von Kriterien der Verantwortung und der Nachhaltigkeit in ihre Managementstrategie Unternehmen die Möglichkeit eröffne, sich konkrete „Wettbewerbsvorteile zu sichern und sich dadurch langfristig erfolgreich am Markt zu positionieren“. 207 Die „verbesserte finanzielle Leistungsfähigkeit“ stelle neben „verbesserter Stakeholderbeziehungen“ einen wesentlichen Wettbewerbsvorteil dar, der sich durch „die Senkung operativer Kosten“ ergebe.208 Ein weiterer Vorteil sei ein „verbessertes Risiko- und Reputationsmanagement“.209 Der Zusammenhang zwischen verantwortlichem und nachhaltigem unternehmerischen Handeln, dem Aufbau von Reputation und der finanziellen Performance eines Unternehmens wird von zahlreichen Untersuchungen bestätigt.210 Direkte Folgen des Aufbaus positiver Reputation sind größere 204 Becchetti u.a.: Corporate social responsibility and shareholder’s value, S. 3. 205 Becchetti u.a.: Corporate social responsibility and shareholder’s value, S. 20. 206 Vgl. SustainAbility Ltd./United Nations Environment Programme: Buried Treasure – Uncovering the business case for corporate sustainability. London 2001. 207 Ernst & Young GmbH: Wertschöpfung durch Corporate Responsibility. In: Ernst & Young SAAS News (2009), Nr. 11, S. 5–7, 5. 208 Ernst & Young GmbH: Wertschöpfung durch Corporate Responsibility, S. 5. 209 Ernst & Young GmbH: Wertschöpfung durch Corporate Responsibility, S. 5. 210 Vgl. Michael V. Russo/Paul A. Fouts: A Resource-Based Perspective on Corporate Environmental Performance and Profitability. In: Academy of Management Journal 40 (1997), S. 534–559. Dort finden sich auch zahlreiche Verweise auf vorherige Studien und deren Ergebnisse. (Vgl. ebd., S. 534f.) Vgl. zudem Marc Orlitzky: Social responsibility and financial performance: Trade-off or virtuous circle? In: University of Auckland Business Review 29 (2005), S. 37–43, bes. S. 38; sowie ders. u.a.: Corporate social responsibility and financial performance: A meta-analysis. In: Organization Studies 24 (2003), S. 403–441; vgl. ebf. Margolis/Walsh: People and Profits: The Search for a Link Between a Company’s Social and Financial Performance; vgl. zu den Auswirkungen auf kleine und mittelständische Unternehmen bes. auch J. Alberto Aragón-Correa u.a.: Environmental strategy and performance in small firms: A resource-based perspective. In: Journal of Environmental Management 86 (2008), S. 88–103.
Unternehmerische Verantwortung als ethisches Konzept
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Loyalität und höhere Zahlungsbereitschaft der Kunden eines Unternehmens.211 Nachhaltiges und verantwortungsvolles unternehmerisches Handeln kann dabei einen direkten Beitrag zum Image eines Unternehmens leisten und so die Strategien von Unternehmensmarketing und -kommunikation unterstützen.212 Überdies lassen sich durch die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung Reputationsrisiken wie beispielsweise Boykottaufrufe oder Shamingkampagnen mindern bzw. vermeiden, was im Rahmen des Risikomanagements eine wesentliche Rolle spielt (vgl. oben).213 Glaubwürdigkeit und moralische Reputation stellen nach Josef Wieland sogar notwendige Bedingungen für den Erfolg eines Unternehmens bei seinen Kunden dar.214 Und die St. Galler Wirtschaftsethiker Ulrich Thielemann und Florian Wettstein betonen, dass die Stakeholder verantwortungsvolles unternehmerisches Handeln belohnten und unterstützten.215 Sie berufen sich dabei auf die Theorie des Wettbewerbsvorteils, wonach ein Unternehmen durch sein Handeln Differenzierungsmerkmale gegenüber Wettbewerbern schaffen könne, die insbesondere in gesättigten Märkten von entscheidender Bedeutung sein könnten. Daneben gibt es eine Reihe weiterer Argumente, die verantwortliches und nachhaltiges Handeln für Unternehmen vorteilhaft erscheinen lassen. Neben Kaufentscheidungen der Verbraucher hängen auch Kooperationen zwischen Geschäftspartnern immer stärker von Kriterien der Verantwortung und Nachhaltigkeit ab.216 Dabei spielt verantwortliches Handeln für zahlreiche Unternehmen in ihrer gesamten Lieferkette eine wesentliche Rolle: Die gewachsene Sensibilität der Stakeholder hat auch seitens der Unternehmen das Bewusstsein dafür wachsen lassen, nicht nur für das eigene Handeln Verantwortung zu tragen, sondern auch für das Ver211 Vgl. Markus Eberl/Manfred Schwaiger: Segmentspezifischer Aufbau von Unternehmensreputation durch Übernahme gesellschaftlicher Verantwortu