Der Wandel politischer Systeme in Lateinamerika 9783964564511

Der Sammelband beinhaltet Analysen zu den Transformationen der politischen Systeme in Argentinien, Bolivien, Brasilien,

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German Pages 484 [482] Year 2019

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Der Wandel politischer Systeme in Lateinamerika
 9783964564511

Table of contents :
Inhalt
I. Einleitung
Einleitung
II. Fallstudien
Von der “langen Agonie des peronistischen Argentiniens” zur “menemistischen Rekonversion”
Bolivien: Die Reform der Revolution
Brasilien: Von der Krise der achtziger Jahre zu den Perspektiven politischer Stabilität und wirtschaftlicher Reformen der neunziger Jahre
Der Wandel des politischen Systems in Chile seit 1990
Transitionsprozeß und Bildung des politischen Systems in El Salvador
Politische Transformation in Mexiko
Der Wandel des politischen Systems in Nicaragua
Der Fall Paraguay im Kontext des politischen Systemwandels in Lateinamerika
Transformation des politischen Systems in Peru
Krise und Wandel des politischen Systems in Venezuela
III. Bewertungen
Die parlamentarische Elite in Lateinamerika und das Kontinuum von links bis rechts
Politische Regime in Lateinamerika - ein Semipräsidialsystem als Lösung?
Politischer Systemwandel in Lateinamerika: Zusammenfassende Beobachtungen und Schlußfolgerungen für die internationale Zusammenarbeit
Die Autoren

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Wilhelm Hofmeister, Josef Thesing (Hrsg.) Der Wandel politischer Systeme in Lateinamerika

Wilhelm Hofmeister, Josef Thesing (Hrsg.)

Der Wandel politischer Systeme in Lateinamerika

Vervuert Verlag • Frankfurt am Main 1996

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Der Wandel politischer Systeme in Lateinamerika / Wilhelm Hofmeister ; Josef Thesing (Hrsg.) - Frankfurt am Main : Vervuert, 1996 ISBN 3-89354-090-3 NE: Hofmeister, Wilhelm [Hrsg.]

© Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1996 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Michael Ackermann Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier Printed in Germany

Inhalt

5

Inhalt

I.

Einleitung Wilhelm Hofmeister, Josef Thesing

II.

9

Fallstudien Detlef Nolte Von der "langen Agonie des peronistischen Argentiniens" zur "menemistischen Rekonversion" Wilhelm

Hofmeister

Bolivien: Die Reform der Revolution Bolívar

15

81

Lamounier

Brasilien: Von der Krise der achtziger Jahre zu den Perspektiven politischer Stabilität und wirtschaftlicher Reformen der neunziger Jahre Mario Fernández

141

Baeza

Der Wandel des politischen Systems in Chile seit 1990

173

Rafael Guido Béjar Transitionsprozeß und Bildung des politischen Systems in El Salvador

197

Manfred Mols Politische Transformation in Mexiko

229

René Herrera Zúniga Der Wandel des politischen Systems in Nicaragua

279

Inhalt

Carlota

Jackisch

Der Fall Paraguay im Kontext des politischen Systemwandels in Lateinamerika Raul

Valenzuela

Transformation des politischen Systems in Peru Miriam

333

Kornblith

Krise und Wandel des politischen Systems in Venezuela

III.

301

367

Bewertungen Manuel Alcántara

Sáez

Die parlamentarische Elite in Lateinamerika und das Kontinuum von links bis rechts Gutenberg

Martínez

409

Ocamica

Politische Regime in L a t e i n a m e r i k a ein Semipräsidialsystem als Lösung? Wilhelm

437

Hofmeister

Politischer Systemwandel in Lateinamerika: Zusammenfassende Beobachtungen und Schlußfolgerungen für die internationale Zusammenarbeit

Die Autoren

463

481

I. Einleitung

9

I. Einleitung

Einleitung

Der Wandel politischer Systeme gehört zu den herausragenden Phänomenen unserer Zeit. In nahezu allen Regionen der Erde finden tiefgreifende politische und gesellschaftliche Wandlungsprozesse statt, bei denen sich die kennzeichnenden Merkmale politischer und gesellschaftlicher Systeme verändern. Der politische Systemwandel ist somit weit mehr als der soziale Wandel, der die Entwicklung von Gesellschaften und Politik permanent begleitet. In Europa begannen nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch der Sowjetunion Transformationsprozesse, die in dieser Tragweite niemand erwartet, geschweige denn vorhergesehen hatte. Die Entwicklung dieser Transformationsländer verläuft, wie wir mittlerweile feststellen können, auf unterschiedliche Weise. In Polen, der Tschechischen Republik und Ungarn entstand eine andere Situation und ein anderes politisches System als in Rußland oder der Ukraine. Im Baltikum gestaltet sich die politische Entwicklung anders als in Bulgarien oder Rumänien, und die Länder in Zentralasien erleben wieder andere politische Verhältnisse. Gemeinsam ist allen Ländern aber ein tiefgreifender politischer Transformationsprozeß (den nun eine ganze Generation von Politologen zu verstehen und zu erklären sucht). In Asien hat die wirtschaftliche Entwicklung mit ihren teilweise beeindrukkenden Wachstumsraten eine neue Dynamik auf der Ebene der Gesellschaften in Gang gesetzt, die auch tiefgreifende Wandlungsprozesse der politischen Systeme erwarten läßt - auch wenn es in einigen Ländern noch starken Widerstand gegen die "Einmischung" mit "fremden Ideen" gibt, welche den "asiatischen Werten" und Traditionen entgegenstünden. Abgesehen davon, daß es sich bei solchen Feststellungen um durchsichtige Selbstschutzbehauptungen der Machteliten handelt, sind in einzelnen asiatischen Ländern bereits bemerkenswerte Wandlungsprozesse hinsichtlich der traditionellen Systemkennzeichen festzustellen. Das gilt besonders für Länder wie Südkorea, die Philippinen, Tailand oder Taiwan. Doch auch in anderen Ländern des asiatischen Kontinents sind mittelfristig weitgehende Wandlungsprozesse zu erwarten.

10

I. Einleitung

In Afrika wurde nach dem Ende der Bipolarität des internationalen Systems der Blick frei für die Demokratiebewegungen, die nun eine größere internationale Unterstützung erhielten. Die Diktatoren, die im Schatten des OstWest-Konfliktes die westliche Entwicklungshilfe ohne größere Einschränkungen genossen, waren nun aufgrund der geänderten Haltung der westlichen und internationalen "Geber" reichlich konsterniert. In den meisten Ländern waren es die erstarkenden gesellschaftlichen Organisationen, welche die Demokratieentwicklung vorantrieben. So haben allein zwischen 1992 und 1994 in nicht weniger als 35 der 38 Staaten südlich der Sahara freie Wahlen stattgefunden - zum Teil zum ersten Mal in der Geschichte einzelner Länder; in etlichen Ländern führten die Wahlen sogar zu Regierungswechseln. Auch wenn die Demokratieentwicklung in Afrika noch viele Hindernisse zu überwinden hat - das Thema des Systemwandels steht auch hier auf der politischen Agenda. In Lateinamerika schließlich können wir in nahezu allen Ländern Prozesse des politischen Systemwandels beobachten. Hier setzte, und das ist durchaus bemerkenswert, der Systemwandel bereits in den achtziger Jahren ein, also früher und unabhängig von den Entwicklungen in anderen Regionen. Die Entwicklungen in einzelnen Ländern dieser Region werden in diesem Band eingehend analysiert. Alle Prozesse des politischen Systemwandels der Gegenwart haben ein gemeinsames Ziel: die Verwirklichung von Demokratie. Dazu einen Beitrag zu leisten, das heißt, die Entwicklung von Demokratie zu fördern, ist das zentrale Ziel der internationalen Zusammenarbeit der Konrad-Adenauer-Stiftung. Sie hat daher ein genuines Interesse an den Prozessen des politischen Systemwandels. Deshalb auch hat die Stiftung einige Wissenschaftler aus Lateinamerika und Deutschland gebeten, die Prozesse des politischen Systemwandels in einer Reihe von Ländern Lateinamerikas zu analysieren. Den Analysen lag ein gemeinsames Raster zugrunde, was eine vergleichende Bewertung der einzelnen Entwicklungsprozesse erleichtern sollte. Diese Länderanalysen stehen im Mittelpunkt des vorliegenden Buches. Einige übergreifende Aspekte der politischen Entwicklung der Region werden in den Beiträgen im dritten Teil des Buches aufgegriffen.

11

I. Einleitung

Eine erste Fassung der einzelnen Studien wurde im Rahmen einer Konferenz im November 1995 in Villa de Leyva, Kolumbien, vorgestellt. An dieser Konferenz nahmen nicht nur die Autoren der einzelnen Buchbeiträge, sondern auch Politiker aus den untersuchten Ländern teil. Dadurch entspann sich ein interessanter Dialog zwischen politischer Wissenschaft und politischer Praxis, der mit der Veröffentlichung dieses Buches weiter vertieft werden soll. Der politische Systemwandel zur Verwirklichung von Demokratie in Lateinamerika ist ein faszinierendes Phänomen. Er bedarf freilich nicht nur interessierter Aufmerksamkeit, sondern auch aktiver Förderung und Unterstützung. Dazu will das vorliegende Buch Hinweise und Anregungen geben. Die Herausgeber danken allen, die an der Entstehung dieses Buches beteiligt waren: den Autoren der einzelnen Beiträge, aber auch denen, die in Villa de Leyva die Analysen mit ihren praktischen Erfahrungen bereicherten.

Die Herausgeber

Wilhelm Hofmeister Josef Thesing

II. Fallstudien

15

II. Argentinien

Detlef Nolte Von der "langen Agonie des peronistischen Argentiniens" zur "menemistischen Rekonversion"1

Argentinien hat in den vergangenen zwölf Jahren tiefgreifende wirtschaftliche und politische Veränderungen durchlaufen, die von außen betrachtet und aus komparativer Perspektive in vielerlei Hinsicht bemerkenswert sind. Es scheint, als habe das Land, das seit 1930 immer wieder Zyklen militärischer Intervention in die Politik erlebt hat, schließlich dieses autoritäre Erbe abgestreift. 1989 gab es erstmals in der argentinischen Geschichte in der Aufeinanderfolge zweier demokratisch legitimierter Regierungen einen friedlichen Machtwechsel zwischen Regierung und Opposition. Zugleich kam es zu interessanten Verschiebungen hinsichtlich des politischen Einflusses und der doktrinären Ausrichtung wichtiger politischer und sozialer Akteure. Ein kürzlich veröffentlichtes Buch postuliert bereits ein "neues Raster der argentinischen Politik."2 Nach Dekaden ökonomischer Dekadenz und einer Phase der Hyperinflation (1989) gibt es zudem Anzeichen für eine wirtschaftliche Erholung als Folge eines wirtschaftspolitischen Kurswechsels. Es scheint, als widerlege die Regierung von Carlos Menem die weitverbreitete These, daß tiefgreifende wirt-

Die Begriffe wurden Arbeiten von Halperin Donghi 1994 und Adrogué 1995 entlehnt. Der Autor bedankt sich bei den Mitarbeitern von CIEDLA, insbesondere bei Carlota Jackisch und Horst Schönbohm, für die Unterstützung, die ihm während eines Forschungsaufenthaltes für die vorliegende Studie in Buenos Aires zuteil wurde. Unter den Personen, die mir Interviews gewährten, möchte ich mich vor allem bei folgenden bedanken: Osvaldo Bayer, Werner Böhler, Cecilia Braslavsky, Pablo Bustos, Liliana de Riz, Carlos Escudé, Delia M. Ferreira Rubio, Brigadegeneral i.R. Antonio Fichera, Carlos Floria, Rosendo Fraga, Helge Freudendorff, Daniel García Delgado, Leonardo Hekimian, Jorge Horacio Lavopa, Manuel Mora y Araujo, Maria Rigat-Pflaum, Roberto Russell, Héctor Palomino, Juan Carlos Portantiero, Jorge Schvarzer, Marcelo Stubrin, Rodolfo H. Terragno, Juan Carlos Torre und Rubén Zorrilla. 2

Acuña 1995.

Detlef Nolte

16

schaftliche Transformationspolitiken nur (oder mit größeren Erfolgsaussichten) unter autoritären Rahmenbedingungen ("der chilenische Weg zum Neoliberalismus") durchgesetzt werden können. In Argentinien wurden diese neoliberalen Reformen von einer demokratisch legitimierten Regierung durchgeführt, die sich zudem - aufgrund des nach der argentinischen Verfassung vorgegebenen Wahlzyklus - alle zwei Jahre bei den Parlamentsteilwahlen dem Wählervotum stellen mußte und jeweils eindeutig bestätigt wurde. Nach sechs Jahren wurde Präsident Menem mit einem höheren Stimmenanteil (49,9 %) wiedergewählt als bei seiner ersten Wahl (47,4 %), obgleich auch in Argentinien die neoliberalen Transformationen mit sozialen Kosten verbunden waren. Seine beiden Hauptkonkurrenten, José Octavio Bordón vom Mitte-Links-Bündnis Frepaso [Frente para un país solidario (Front für ein solidarisches Land)] und Horacio Massaccesi von der Radikalen Partei, endeten mit 29,3 % und 17% deutlich abgeschlagen. Menem gewann in 23 von 24 Wahlkreisen, und die Peronistische Partei verfugt in beiden Kammern des Kongresses über eine absolute Mehrheit. Mit der wirtschaftlichen Stabilisierung hat Präsident Menem ohne Zweifel einen wichtigen Beitrag zur Konsolidierung der Demokratie geleistet. Ein wirtschaftspolitisches Scheitern auch der zweiten demokratischen Regierung nach dem Ende der Militärherrschaft hätte sicherlich destabilisierend auf die politische Ordnung gewirkt. Was die wirtschaftliche Entwicklung betrifft, konnte die Regierung Menem zumindest bis Ende 1994 mit einer beeindruckenden Bilanz aufwarten. Eine Weltbankstudie trägt deshalb auch den plakativen Titel "Argentinien - Vom Bankrott zum Wachstum"3. Nachdem das BIP während der achtziger Jahre (1981-1990) kumulativ um 8,7% zurückgegangen war, wuchs die Wirtschaft nach Angaben der argentinischen Zentralbank zwischen 1991 und 1994 um 34,4 %. 1995 war dann allerdings ein wirtschaftlicher Einbruch zu verzeichnen - das BIP ging um -4,4 % zurück - , der allerdings für die Wahlen im Mai noch keine Relevanz hatte. Noch beachtlicher fallt die Bilanz an der Inflationsfront aus. Nach einer Hyperinflation von fast 5.000 % (4.923 %) zum Jahresende 1989 (bei einem Defizit des öffentlichen Sektors in Höhe von -10,5 % des BIP)4 konnte der Preisanstieg bis 1992 unter 20 % und 3

World Bank 1993.

4

Ebda., S. 7.

II. Argentinien

17

1993 unter 10 % (jeweils Jahresende) gedrückt werden. Mit einer Preissteigerungsrate von 3,9 % zum Jahresende schloß das Jahr 1994 mit der niedrigsten Inflationsrate seit 41 Jahren ab, 1995 lag sie mit 1,6 % noch einmal darunter, und Argentinien erreichte in puncto Preisstabilität weltweit den fünften Platz.

1.

Vom Militärregime zum menemistischen Argentinien

Der Weg, den Argentinien seit der Rückkehr zur Demokratie im Jahr 1983 bis zur Präsidentschaftswahl von 1989 beschritten hat, entspricht dem Titel und Leitmotiv eines Interviews mit Juan Carlos Torre "von der demokratischen Utopie zur argentinischen Demokratie" 5 . Die Euphorie nach dem Wahlsieg Alfonsins nährte den Glauben, daß die Demokratie für sich allein alle politischen Probleme des Landes lösen werde. Am Ende seiner Amtszeit mußte Alfonsin vor der harten Realität einer durch die Hyperinflation hervorgerufenen sozialen und wirtschaftlichen Krise kapitulieren. Nachfolgend werden nur einige Markierungspunkte der politischen Entwicklung zwischen 1983 und 1989 aufgelistet: -

Im Vergleich mit den Streitkräften in der Mehrheit der übrigen lateinamerikanischen Länder hatten die argentinischen Streitkräfte vor dem Hintergrund des Debakels des Malwinen-Krieges und starker interner Konflikte nicht die Macht, Bedingungen für den Übergangsprozeß zu stellen und diesen zu dominieren.

-

1983 besiegten die Radikalen erstmals die Peronisten in sauberen Wahlen, ohne daß wichtige Gruppierungen vom politischen Prozeß ausgeschlossen waren.

-

Die Regierung Alfonsin verfugte nie über eine Mehrheit in beiden Kammern des Kongresses. Ab 1987 befand sie sich in einer eindeutigen Minderheitsposition. Diese Konstellation schränkte ihren Handlungsspielraum ein und zwang den Präsidenten zu häufig "teuren" Kompromissen mit Regionalparteien und peronistischen Abgeordneten aus bestimmten Provinzen. 6

-

Hauptaufgabe der Regierung Alfonsin war die Konsolidierung der demokratischen Institutionen. Wirtschaftliche Fragen wurden oft als zweitrangig

5

Torre 1995b.

6

Siehe Halperin Donghi 1994, S. 126-127.

Detlef Nolte

18

behandelt. Zudem gehorchte die Politik (aufgrund der Minderheitsposition der Regierung und der Notwendigkeit, Kompromisse mit Teilen der Opposition zu suchen) einer anderen Logik als die Wirtschaft. Es fehlte vielleicht auch ein Wirtschaftsminister mit der starken Persönlichkeit eines Domingo Cavallo. -

Die Regierung Alfonsin wurde von Problemen in den zivil-militärischen Beziehungen erschüttert: den Prozessen gegen die Militärjuntas, den anderen Verfahren wegen Menschenrechtsverletzungen, drei Meutereien von Militäreinheiten und der Notwendigkeit, dem militärischen Druck nachzugeben. Ein Großteil der Konflikte war aufgrund der Besonderheiten des argentinischen Übergangsprozesses vorgegeben und unausweichlich, ein Teil der Konflikte war die Folge einer schlecht konzipierten und/oder exekutierten Militärpolitik.

-

In der Opposition kam es zu einer Erneuerung der Peronistischen Partei 7 , wenngleich am Ende ein ehemaliger "Erneuerer", Carlos Menem, die Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten gegen den Erneuerungsflügel und mit der Unterstützung traditioneller Sektoren, einschließlich vieler Gewerkschafter, durchsetzte.

-

Die Endphase der Regierung Alfonsin war gekennzeichnet von Hyperinflation, einer Volkswirtschaft am Rande des Zusammenbruchs und sozialen Unruhen. Alfonsin mußte sein Amt noch vor Ablauf der offiziellen Amtszeit an seinen designierten Nachfolger abgeben. Dieses unrühmliche Ende der Präsidentschaft von Alfonsin hat die kollektive Erinnerung an seine Regierung geprägt und beeinflußt immer noch die Wahlchancen der Radikalen Partei (als einer Partei, der es an ökonomischer Kompetenz ermangelt). Aber die traumatische Erfahrung der Hyperinflation erhöhte gleichzeitig die Bereitschaft in der Bevölkerung, einen chirurgischen Eingriff in die Wirtschaft ohne Anästhesie zu akzeptieren, den die menemistische Regierung angekündigt hatte.

7

Siehe Cavarozzi/Grossi 1992, S. 187-194.

II. Argentinien

2.

19

Eine konsolidierte Demokratie?

Kann das politische System Argentiniens nach 12 Jahren Demokratie als konsolidiert angesehen werden? Um diese Frage zu beantworten, gilt es, zwischen der Funktionsweise der demokratischen Institutionen - hier gibt es immer noch bzw. emeut Defizite zu beklagen - und der Verwurzelung der Demokratie in der politischen Kultur zu unterscheiden. Als vorläufiges Resümee kann man vorausschicken, daß nicht mehr das Überleben der demokratischen Ordnung in Frage steht, die Diskussion zielt heute vielmehr auf die Qualität der Demokratie. Nach einer kürzlich veröffentlichten vergleichenden Analyse zum Demokratisierungsprozeß im Cono Sur und in Brasilien war seit 1990 ein gewisser Qualitätsverlust der Demokratie in Argentinien zu verzeichnen, weil Präsident Menem "häufig die Mechanismen der Verantwortlichkeit unterminiert hat. Institutionen, die nach der Verfassung der Gewaltenteilung und -kontrolle dienen sollten, haben sich statt dessen zu unterwürfigen Ablegern der persönlichen Macht des Präsidenten entwickelt. Die Presse- und die Redefreiheit wurden nicht immer voll respektiert oder geschützt" 8 . Aus diesem Grund wurde Argentinien in den Jahresberichten von Freedom House in den vergangenen Jahren schlechter als Uruguay und Chile (aber besser als Brasilien) klassifiziert. 9 Auch andere Beobachter der argentinischen Entwicklung nehmen in den vergangenen Jahren im politischen Bereich mehr Rück- als Fortschritte wahr 1 0 : auf der einen Seite ist eine Tendenz zur Konzentration von Entscheidungsmacht in der Exekutive (im Sinne einer "delegativen Demokratie" 11 ) zu verzeichnen, auf der anderen Seite gibt es viele "graue Zonen" 12 oder Zonen einer "ciudadanía de baja intensidad" nach der Terminologie von O'Donnell, in denen "man die partizipativen und demokratischen Rechte eines pluralistischen

8

9

Mainwaring 1995, S. 118. Siehe die Synopse ebda., S. 152.

10 11

Siehe O'Donnell 1995, S. 165. O'Donnell 1992.

12

O'Donnell 1993 spricht von "braunen Zonen" (zonas marrones), an anderer Stelle (O'Donnell 1995) aber auch von "grauen Systemen" (sistemas grises).

20

Detlef Nolte

Systems (Polyarchie) respektiert, aber die liberale Komponente der Demokratie verletzt."13 So hatte die Regierung Menem von Anfang an die erklärte Intention, politisch die Ausrichtung der Justiz zu kontrollieren und einen hörigen Justizapparat zu schaffen. 14 Im April 1990 verabschiedete der Kongreß eine Gesetzesinitiative der Regierung, mit der die Zahl der Richter am Obersten Gerichtshof von fünf auf neun erhöht wurde. Nachfolgend wurden regierungsnahe Richter ernannt. Schon im August 1989 hatte auf Druck der Regierung der Bundesanwalt (procurador de la nación) zurücktreten müssen. Durch präsidentielle Dekrete abgesetzt wurden die Mitglieder des Rechnungshofs (tribunal de cuentas de la nación) und der Generalstaatsanwalt für Verwaltungsvergehen (fiscal nacional de investigaciones

administrativas).

Andere Richter, die für die Regierung

"sensible" Prozesse leiteten, wurden "befördert". 15 Zuletzt setzte die Regierung im Dezember 1995 unter Mißachtung der Geschäftsordnung des Senats und wenige Tage vor dessen (Teil-)Erneuerung einen Kandidaten zur Besetzung einer Vakanz am Obersten Gerichtshof durch, dessen Hauptqualifikation die Freundschaft mit Präsident Menem war. Die Haltung der Regierung zu einer unabhängigen Justiz läßt sich gut an einer Stellungnahme von Präsident Menem zur umstrittenen Ernennungspraxis für die Richter zum Obersten Gerichtshof ablesen: "Es gibt keinen Obersten Gerichtshof in der Welt, dessen Mitglieder nicht mit der politischen Macht befreundet wären. Falls sie mir ein Beispiel bringen, wäre ich ein bißchen überzeugt." 16 In der Presse wurde immer wieder über Bestrebungen innerhalb der Regierung berichtet, auf laufende Verfahren Einfluß zu nehmen. Insgesamt hat sich die Judikative in ihrer Mehrheit als regierungshörig erwiesen. Dies gilt in besonderer Weise für den Obersten Gerichtshof. Nur selten wurden die extensiven Verfassungsauslegungen der Exekutive in Frage gestellt. Keiner der großen Korruptionsprozesse gegen Regierungsbedienstete führte zu Verurteilungen.

13

O'Donnell 1993, S. 173.

14

15 16

Siehe die entsprechenden Erklärungen von Regierungsvertretern, zitiert in: Smulovitz 1995a, S. 99. Nino 1992a, S. 717; Smulovitz 1995a, S. 96. Zitiert in: Pägina 12, 9.12.1995, S. 10.

II. Argentinien

21

Die genannten Faktoren erklären das geringe Prestige, das die Justiz nach Meinungsumfragen genießt.17 Konfliktiv gestalteten sich auch die Beziehungen zur Presse. Es gab mehrfach Bestrebungen der Regierung, gegen kritische Presseorgane vorzugehen. Immer wieder wurde ein Pressegesetz angekündigt, das im Falle von Verleumdungen oder falschen Beschuldigungen prohibitive Entschädigungszahlungen und im Vergleich mit normalen Straftatbeständen unverhältnismäßig hohe Strafen androhte. Vereinzelt kam es im Umfeld der Peronistischen Partei auch zu Übergriffen und Tätlichkeiten gegen Journalisten. Dies war darauf zurückzuführen, daß sich die argentinische Presse - hervorzuheben sind die beiden Tageszeitungen Clarin und Pägina 12 - während der Amtszeit von Präsident Menem als "vierte Gewalt" etabliert hat, die mit ihrer kritischen Berichterstattung Schwächen in der Justiz und in der Opposition zu kompensieren trachtete und von Präsident Menem und seiner Anhängerschaft als Hemmschuh bei den Bemühungen um eine Wiederwahl betrachtet wurde. Unbeschadet dieser bedenklichen Tendenzen offenbaren die Ergebnisse von Meinungsumfragen eine tiefe Verwurzelung demokratischer Werte in der argentinischen Gesellschaft. 18 Nach einer Umfrage in acht lateinamerikanischen Ländern vom Mai 199519 zeigten die Argentinier und Uruguayer ausgeprägtere demokratische Einstellungen als die Befragten in den übrigen sechs Ländern. Auf die Frage "Mit welcher Aussage stimmen sie mehr überein?" wählten die

17

Dies ist eine durchgehende Tendenz in allen Meinungsumfragen. Ende 1995 äußerten sogar 70 % (1993: 63 %; 1994: 59 %) der Befragten in einer Umfrage (Demoskopia) - zu der leider keine technischen Daten vorliegen - Zweifel daran, daß Argentinien ein Rechtsstaat sei (bejahend 12,2 %; w.n. 17,3 %). Clarín 5.1.1996, S. 10. Umfragen von Gallup zeigen, daß der Anteil der Befragten, die Vertrauen in die Justiz haben, zwischen 1984 und 1995 von 5 7 % auf 2 7 % zurückgegangen ist. (Latin American Weekly Report WR-96-03, S. 34).

18

Meinungsumfragen, die in den achtziger Jahren durchgeführt wurden (Catterberg 1991), zeigen eine stärkere Unterstützung der partizipativen Aspekte der Demokratie (regelmäßige Wahlen etc.) als ihrer liberalen Komponenten (Pluralismus, Toleranz, 19 Minderheitenschutz etc.). Die Umfrage der Corporación Latinobarómetro basiert auf einer Stichprobe von 1.200 Personen, die zwischen dem 1. und 15. Mai 1995 befragt wurden. Parallel dazu wurden Umfragen in sieben weiteren lateinamerikanischen Ländern durchgeführt (Clarín 13.10.1995, S. 18).

22

Detlef Nolte

Vorgabe "Die Demokratie ist jeglicher anderen Regierungsform vorzuziehen" in: Argentinien Brasilien Chile Mexiko Paraguay Peru Uruguay Venezuela

76% 41 % 52% 49% 52% 52% 80% 60 %•

Im argentinischen Fall antworteten darüber hinaus: Manchmal ist eine autoritäre Regierung vorzuziehen

11 %

Es ist mir gleichgültig, ob sie demokratisch ist oder nicht

6 %

weiß nicht/keine Angabe

7%

Nach einer anderen vergleichenden Umfrage 21 zeigten sich 67 % der Befragten in Argentinien (in Chile waren es 74 %; in El Salvador 61 %, in Mexiko 50 %, in Kolumbien 37 % und in Peru 38 %) mit der Demokratie zufrieden - unbeschadet der Kritik an den Leistungen der Mehrheit der politischen Institutionen 22 und Akteure. 23

20 21

Quelle: Latinobarómetro, zitiert in: Clarín 13.10.1995, S. 18. NDI/Römer 1995, S.2.

22

23

So ging nach Gallup-Umfragen beispielsweise das Vertrauen in den Kongreß deutlich zurück: Äußerten 1984 noch 7 2 % der Befragten Vertrauen in die Arbeit des Kongresses, so waren es 1995 nur noch 15 % (Latin American Weekly Report WR-96-03, S. 34). Die Ergebnisse von Meinungsumfragen aus Argentinien zeigen zugleich, daß "in Übereinstimmung mit der positiven Bewertung der Demokratie, sich die Enttäuschung und Entfremdung im Hinblick auf die Politik auch nicht in der Unterstützung von autoritären Lösungen niederschlägt. In Argentinien bevorzugt die öffentliche Meinung, in ihrer Mehrheit, die Freiheit gegenüber der Ordnung (61 %) als die beste Form sicherzustellen, daß die Wirtschaft wächst und das Land besser funktioniert. Sie glaubt nicht, daß die Demokratie Chaos erzeugt, ist nicht von der größeren Effizienz von Militärregierungen im Vergleich mit Zivilregierungen überzeugt (70 %), und hält es auch für richtig, daß - in einer Situation politischer Anarchie - der Kongreß eine Lösung herbeiführen und die Kontrolle übernehmen soll (51 %)" (NDI/Römer 1995, S. 3).

II. Argentinien

23

Allerdings gibt es auch in Argentinien Anzeichen für ein wachsendes politisches Desinteresse.24 In den sechziger und siebziger Jahren wurde die Demokratie in Lateinamerika von Konflikten über die angestrebte sozioökonomische Ordnung erschüttert, die oftmals zum Zusammenbruch demokratischer Systeme beitrugen. Was das sozioökonomische Ordnungsmodell betrifft, so war die argentinische Gesellschaft - nach Meinungsumfragen 25 - in den achtziger Jahren durch starke Erwartungen sozialer Mobilität geprägt, die gleichzeitig eine Legitimierung der bestehenden Ordnung implizierten. Gleichzeitig wurde der Staat als Beschützer und als Garant der individuellen Bestrebungen wahrgenommen, und aus dieser Perspektive

wurden

die

staatlichen

Interventionen

in

die

Wirtschaft

(Preiskontrollen, Arbeitsschutzgesetze etc.) begrüßt. In der zweiten Hälfte der achtziger und zu Beginn der neunziger Jahre wurden diese Einstellungen in zweierlei Hinsicht in Frage gestellt: Die finanzielle Krise und vor allem die Hyperinflation untergruben das Vertrauen in den Staat 26 , und die "Hyperarbeitslosigkeit" beeinträchtigte die Erwartungen sozialen Aufstiegs. Nach Umfrageergebnissen 27 kam es im Verlauf der achtziger Jahre zu mehreren grundlegenden Veränderungen in den soziokulturellen Einstellungen der Argentinier: 1990 zeigten mehr als 70 % der Befragten in Meinungsumfragen eine positive Einstellung gegenüber der Privatinitiative (statt staatlicher Interventionen), eine höhere Bewertung der Produktion als der Umverteilung und eine Präferenz für eine weniger korporativistische Demokratie. 28 Nach dem gleichen Autor erkannten Sektoren des Peronismus und später auch die Regierung Carlos Menem diese Einstellungsänderungen: "In einigen Teilen der

24

25 26

27 28

Nach einer Umfrage vom Mai 1996 in der Hauptstadt und im Großraum Buenos Aires äußerten gerade 23,4 % (1992: 29,4 %) der Befragten Interesse an der Politik (kein Interesse 1996: 54,6 %; 1992: 36,7 %; gleichgültig 1996: 20,0; 1992: 33,4 %) (Pägina 12, 26.5.1996, S. 25). Catterberg 1991. Dies ist u.a. die These von Mora y Araujo 1991, S. 71: "Das wichtigste Element der Erfahrungen, die einen Einstellungswandel der Argentinier induzierten, war die Finanzkrise mit ihren Folgeerscheinungen von Ineffizienz bei den staatlichen Dienstleistungen und Inflation." Mora y Araujo 1991. Ebda., S. 74.

24

Detlef Nolte

peronistischen Führung begann man wahrzunehmen, daß Argentinien eine 'Partei des Marktes1 benötigt, die Radikale Partei diese Rolle nicht ausfüllt und die Mitte-Rechts-Kräfte über ein beachtliches Wachstumspotential verfügen, falls es ihnen gelingen sollte, diesen Raum zu besetzen." 29 Rückblickend kann man sagen, daß diese strategische Entscheidung richtig war und durch den überwältigenden Sieg der Peronistischen Partei bei den Wahlen von 1995 und dem gleichzeitigen Einbruch der Radikalen Partei bestätigt wurde. Im Wahlkampf von 1995 blieb überdies das Spektrum der wirtschaftspolitischen Optionen eher begrenzt (sieht man von kleinen Parteien auf der Rechten oder der Linken des Parteienspektrums ab). Es zeichnet sich eine Art Grundkonsens über die neue Ausrichtung der Wirtschaftspolitik ab. Die Opposition äußert keine Generalkritik mehr, sondern partielle Altemativvorschläge. Während des Wahlkampfes unterschieden sich, was die Hauptthemen "Stabilität" und "Arbeitslosigkeit" betrifft, die Versprechungen der drei wichtigsten Präsidentschaftskandidaten nur wenig. Bei einer Bestandsaufnahme der argentinischen Demokratie Mitte der neunziger Jahre kommt man nicht umhin, die beachtlichen Veränderungen und Fortschritte festzuhalten. Argentinien kann seit 1930 fast als Prototyp einer "blockierten Demokratie" angesehen werden. Das Land blieb, was die Entwicklung seiner politischen Institutionen im Sinne einer pluralistischen Demokratie betrifft, über Jahrzehnte hinter seinem sozioökonomischen Entwicklungsniveau zurück. Unter Menem und seinem Amtsvorgänger Alfonsin wurden einige der "Blockadesyndrome" überwunden und auf diese Weise die Aussichten für eine dauerhafte Konsolidierung der Demokratie verbessert: -

Das argentinische Militär, das die Entwicklung des Landes seit 1930 entscheidend geprägt und immer wieder in den politischen Prozeß interveniert hatte, verlor an Einfluß und ist zur Zeit kein Machtfaktor in der argentinischen Politik.

-

Während der Präsidentschaft von Menem hat sich die Handlungsautonomie der Regierung und der politischen Institutionen gegenüber den gesellschaftlichen und politischen "corporaciones" und den "poderes fäcticos" vergrößert - vielleicht auf Kosten einer größeren Abhängigkeit von externen

29

Ebda., S. 124.

II. Argentinien

25

Faktoren, die der Prozeß der Globalisierung nach sich zieht. Die Verringerung des Einflusses des Militärs wurde bereits erwähnt. Gleiches gilt für die Untemehmerverbänden und Gewerkschaften. Damit wurde ein weiterer Schritt zur Überwindung des traditionellen "Prätorianismus" in der argentinischen Politik getan, zu dessen Merkmalen es gehörte, daß gesellschaftliche Machtgruppen und politische Akteure ihre Interessen an den politischen Vermittlungsstrukturen vorbei durch direkten Druck auf die Regierung durchzusetzen versuchten. Es sei an dieser Stelle daran erinnert, daß der peronistische Gewerkschaftsdachverband CGT noch 13 Generalstreiks gegen die Politik der Regierung Alfonsin ausgerufen hatte. Es gibt Anzeichen dafür, daß die Parteipolitik in großen Teilen der Bevölkerung und von den Hauptprotagonisten nicht mehr als Widerstreit antagonistischer Lager mit säkularem Erlösungsanspruch wahrgenommen wird, mit dem Drang, bei einem Regierungswechsel die Politik der Vorgänger umkehren zu wollen. Parteipolitik beschränkt sich heute mehr und mehr auf den Wettbewerb um politische Machtpositionen im Rahmen eines begrenzten Spektrums inhaltlicher Optionen. Während unter Perön die Integration der organisierten Arbeiterschaft in das politische System und in das damals praktizierte wirtschaftspolitische Ordnungsmodell der Importsubstituierung gelang, vollzog sich unter Menem eine Resozialisation der peronistischen Basis im Gewerkschaftsbereich in das neue Wirtschaftsmodell der Weltmarktöffnung bei gleichzeitiger Reduzierung des Staatseinflusses. Unter Menem wurde ein weiterer Schritt getan, den Antagonismus zwischen der peronistischen Bewegung und großen Sektoren der argentinischen Wirtschaftselite zu überwinden. Die argentinische Oberschicht, traditionell gegenüber Militärinterventionen offen, sieht heute größere Möglichkeiten, ihre Interessen unter demokratischen Rahmenbedingungen zu artikulieren und durchzusetzen. Das fehlende politische Gewicht der Wirtschaftselite im demokratischen Kräftespiel galt vormals als ein Destabilisierungsfaktor für die argentinische Demokratie. Die Rechte verfügte nur über eine sehr schwache Wählerbasis. Dies war aus der Sicht des argentinischen Soziologen Torcuato S. Di Telia die "Achillesferse" 30 demokratischer Sy-

30

Di Telia 1972, S. 323.

Detlef Nolte

26

steme in Argentinien und führte dazu, daß die Militärs zeitweilig das Fehlen einer starken und modernen Mitte-Rechts-Partei kompensierten. 31 Vor diesem historischen Hintergrund läßt sich verkürzt die These aufstellen, daß es Menem gelang, durch die ideologisch-programmatische Neuverortung der Peronistischen Partei traditionelle Konflikt- und Trennungslinien der argentinischen Politik zu verschieben. Aus der Sicht des argentischen Wirtschaftsestablishments "hat der Peronismus aufgehört, ein Problem zu sein."32

3.

Politische Akteure

3.1.

Die Unterordnung des argentinischen Militärs unter die zivile Suprematie

Zentral für jede Bewertung der Konsolidierung der argentinischen Demokratie ist die Rolle des Militärs. Noch 1987, als sich die letzte große Militärrebellion gegen die Regierung Alfonsin ereignete, hätten wenige Beobachter vorauszusagen gewagt, daß nur acht Jahre später die Frage der politischen Rolle des Militärs, eine der zentralen Fragen seit 1930, von der politischen Tagesordnung verschwunden sein bzw. ihren Inhalt radikal verändert haben würde. Zu Beginn der zweiten Präsidentschaft von Carlos Menem war das Risiko einer militärischen Intervention kein Thema mehr, und die argentinische Demokratie hat viele Nachbarländer hinter sich gelassen, was die Integration des Militärs in ein demokratisches System betrifft. Argentinien teilt damit einen weltweiten Trend - wie er vom bekannten Militärspezialisten Samuel Huntington postuliert wurde - , daß die neuen Demokratien im Bereich der zivil-militärischen Beziehungen häufig größere Fortschritte erreichten als in anderen Bereichen. Neben anderen bietet Huntington die folgende Erklärung an, der auch für den argentinischen Fall Gültigkeit zukommt: "Im Gegensatz zu wirtschaftlichen Reformen belasten die zivil-militärischen Reformen die Gesellschaft mit wenig Kosten, sie schaffen vielmehr breitgestreute Vorteile: eine Veringerung des Militärdienstes, Kürzungen bei den Rüstungsausgaben, eine Eindämmung von militärischen Menschenrechtsverletzungen und den Transfer von Unternehmen, die vom Militär gefuhrt wurden, in private Hände. Diese Maßnahmen sind 31

32

Moray Araujo 1982, S. 225. Alsogaray 1995.

II. Argentinien

27

augenscheinlich populär und rufen in Gruppen außerhalb des Militärs kaum oder nur geringen Widerstand hervor."33 Trotz der Fortschritte in den zivil-militärischen Beziehungen in Argentinien war der Weg dorthin schwierig, von Widersprüchen gekennzeichnet, und es gab auch Rückschläge. Ausgangspunkt für den tiefgreifenden Wandel in den zivil-militärischen Beziehungen war die militärische (durch die erniedrigende Niederlage im Malvinen-Krieg), wirtschaftliche (durch das wirtschaftliche Desaster) und moralische (durch den schmutzigen Krieg) Diskreditierung des Militärregimes, das 1983 die Macht abgeben mußte. Im Gegensatz zu ihren Waffenbrüdern in den Nachbarländern konnten die argentinischen Militärs den Übergangsprozeß nicht strukturieren und der ersten Zivilregierung keine Bedingungen stellen. Deshalb war es möglich - und auch eine Notwendigkeit für die argentinische Gesellschaft - die Militärjuntas vor Gericht zu stellen. Die nachfolgende Entwicklung der zivil-militärischen Beziehungen war häufig widersprüchlich, und man muß die unmittelbaren Ergebnisse von den langfristigen Auswirkungen unterscheiden. Der militärische Widerstand (einschließlich dreier Rebellionen gegen die Regierung Alfonsin) zwang die Regierung, bei der juristischen Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen während der Militärherrschaft nachzugeben. Die Rückschläge der Regierung Alfonsin wurden als destabilisierend für die Demokratie interpretiert. Aber gleichzeitig sähten die Gerichtsverfahren und die Rebellionen den Samen der Zwietracht in den Streitkräften (z.B. zwischen den Generälen und nachgeordneten Offizieren) als Grundlage für die Fortschritte in den zivil-militärischen Beziehungen während der Präsidentschaft von Carlos Menem. Zugleich hatten die Prozesse wegen der Menschenrechtsverletzungen und die Militärrebellionen unter Alfonsin in der Gesellschaft die Antikörper gegen den Bazillus militärischer Interventionen vermehrt. Man muß die Militärpolitik von Menem vor allem auf der Basis ihres Beitrags zur Konsolidierung der Demokratie und weniger unter gesinnungsethischen Gesichtspunkten (im Sinne von Max Weber) beurteilen. Würde man nur ethische Kriterien anlegen, so könnte man die Begnadigungen der Teilnehmer an den Militärrebellionen gegen Alfonsin, der einsitzenden Juntageneräle und

33

Huntington 1995, S. 13.

Detlef Nolte

28

anderer mit Menschenrechtsverletzungen belasteter Militärs durch Präsident Menem kritisieren. Aber auf diese Weise erweiterte Menem seinen Handlungsspielraum, um entschiedener gegen zukünftige Rebellionen vorgehen zu können und in anderen für die militärisch-zivilen Beziehungen wichtigen Bereichen den Einfluß der Streitkräfte zu reduzieren. Das Hauptmotiv war möglicherweise das Anliegen, seine persönliche Macht gegenüber Akteuren mit Störpotential zu konsolidieren - allerdings mit für die Demokratie positiven Nebeneffekten. Zudem

sei daran

erinnert,

daß die

1989

begnadigten

"carapintadas" innerhalb der Streitkräfte bestraft wurden. Nur wenige Wochen nach ihrer Begnadigung durch den Präsidenten (8. Oktober 1989) mußten mehrere Offiziere, die an den Meutereien beteiligt waren - unter ihnen die Rädelsführer Rico und Seineldin scheiden.

34

aus dem aktiven Dienst in den Streitkräften aus-

Aufgrund der Ergebnisse (siehe unten) kann man behaupten, daß

sich "Menem fiir einen Tauschhandel entschied: seine Bereitschaft zu einer Begnadigung aller wegen Menschenrechtsverletzungen oder Meuterei Angeklagten oder Verurteilten im Ausgleich für eine Verpflichtung des Militärs, der zivilen Gewalt zu gehorchen." 35 Unter den Ergebnissen der Militärpolitik von Menem lassen sich hervorheben: -

Die Niederschlagung der letzten Militärrebellion der "carapintadas" und die juristische und disziplinarische Bestrafung der Beteiligten 36 . Damit wurde die menemistische Strategie bestätigt, "die Rebellionen der Vergangenheit zu verzeihen, aber gegenwärtigen und zukünftigen Ungehorsam zu bestrafen." 37 Mit diesem Akt fand die Bewegung der "carapintadas" in den Streitkräften ein Ende, und zur Zeit besteht kein Risiko einer militärischen Intervention in die argentinische Politik.

-

Die Demontage des Projekts einer Mittelstreckenrakete ("Condor II") und die Akzeptierung von Kontrollmaßnahmen im Hinblick auf die Herstellung und Verbreitung von Atomwaffen (einschließlich der Ratifizierung des Vertrages von Tlatelolco und des Atomwaffensperrvertrages).

34

Acufia/Smulovitz 1995, S. 182.

35

Ebda., S. 190.

36

Der Anführer der Rebellion, Oberst Seineldin, wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Die anderen Rädelsführer erhielten Strafen von bis zu 20 Jahren.

37

Acufia/Smulovitz 1995, S. 186.

II. Argentinien -

Die Demontage der argentinischen Rüstungsindustrie. 38

-

Die Abschaffung des obligatorischen Wehrdienstes (ab 1995).

-

29

Eine Verringerung der Mannschaftsstärke. Zum Jahresanfang 1995 verfugten die argentinischen Streitkräfte nur über 70.000 Mann im aktiven Dienst gegenüber 93.000 der chilenischen Streitkräfte. 39

-

Eine drastische Reduzierung der Militärausgaben, die 1995 nur noch ein Drittel des Wertes von 1986 erreichten. Ihr Anteil am BIP ging in den vergangenen 12 Jahren von 3,6 % (1983) auf 1,8 % (1995) zurück. 40

-

Die Beteiligung argentinischer Einheiten an friedenserhaltenden und friedenssichernden Maßnahmen der Vereinten Nationen, die einerseits das Bild Argentiniens in den USA und Europa verändert hat, und andererseits einen Beitrag zum Prozeß der Neubestimmung der Mission der argentinischen Streitkräfte leistet.

-

Eine Außen- und Sicherheitspolitik, die Maßnahmen zur einseitigen Abrüstung ("Condor II", Reduzierung der Mannschaftstärke etc.) mit Anstrengungen kombiniert, vertrauensbildende Maßnahmen und Mechanismen kollektiver Sicherheit in der Region zu institutionalisieren.41

-

Eine Selbstkritik hinsichtlich der Repression während der Militärherrschaft und die Substituierung in der militärischen Doktrin der "Gehorsamspflicht" durch die "Pflicht zum Ungehorsam" bei unmoralischen Befehlen.

In der Mehrzahl der anderen lateinamerikanischen Staaten wäre es immer noch undenkbar, daß der Oberkommmandierende des Heeres in einer öffentlichen Ansprache vor Fernsehkameras die gleichen Erklärungen abgeben würde wie der Stabschef des argentinischen Heeres, General Martin Balza: -

"Niemand ist verpflichtet, einen unmoralischen Befehl oder einen Befehl, der von den Gesetzen oder den militärischen Dienstvorschriften abweicht, zu befolgen. Wer es trotzdem tut, begeht eine rechtliche Verfehlung, die entsprechend ihrer Schwere bestraft wird. Ohne Euphemismus erkläre ich mit aller Deutlichkeit:

38

Siehe den Uberblick über die Situation der verschiedenen Unternehmen bis März 1995 bei Escudé/Fontana 1995, S. 7. 39

Ebda., S. 14.

40

Morales 1995.

41

Siehe Escudé/Fontana 1995.

Detlef Nolte

30 -

Es begeht eine Straftat, wer die Verfassung verletzt.

-

Es begeht eine Straftat, wer unmoralische Befehl erteilt.

-

Es begeht eine Straftat, wer unmoralische Befehle befolgt.

-

Es begeht eine Straftat, wer zur Erreichung eines bestimmten Zieles, das er für gerechtfertigt hält, ungerechtfertigte, unmoralische Mittel anwendet."

In einem Gespräch mit dem uruguayischen Senator Rafael Michelini, dessen Vater 1976 in Argentinien ermordet worden war, hatte General Balza die Tötungsmethode der argentinischen Militärs, betäubte Gefangene über dem offenen Meer aus Flugzeugen zu stürzen, mit den Gaskammern der Nazis verglichen. 42 In gewisser Weise kommt General Balza für die zivil-militärischen Beziehungen ähnliche Bedeutung für den Erfolg der Regierung Menem zu wie Domingo Cavallo für die Wirtschaftspolitik: Während letzterer die Wirtschaft "bändigte", "disziplinierte" der General das Heer.43 Dessenungeachtet fallen immer noch Schatten der Vergangenheit auf die zivilmilitärischen Beziehungen. Im März 1995 veröffentlichte die Tageszeitung Pägina 12 Auszüge aus einem Interview mit dem ehemaligen Korvettenkapitän Adolfo Francisco Scilingo, im dem dieser detailliert die Repressionspraktiken während

der

Militärherrschaft beschrieb,

die

mit

dem

Schicksal

der

"Verschwundenen" in Zusammenhang standen. Das Interview war für einige Wochen Referenzpunkt für eine Diskussion der Vergangenheit, die breite Sektoren der öffentlichen Meinung und wichtige politische und soziale Akteure einbezog. Nach der bereits erwähnten öffentlichen Erklärung von General Balza, in der er sich vom Militärputsch und den Repressionsmethoden distanzierte, sowie ähnlichen Erklärungen der Kommandeure der anderen Teilstreitkräfte, verlor das Thema an Interesse, und es scheint wenig wahrscheinlich, daß sich die öffentliche Diskussion noch einmal ähnlich wiederbeleben läßt (nicht einmal mit neuen Geständnissen). Das Thema der Menschenrechtsverletzungen bleibt allerdings für die Opfer der Repression oder ihre Angehörigen (im Falle der Verschwundenen) aktuell. Möglicherweise ermangelt es auf seiten der

42

Pàgina 12,28.10.1995, S. 10.

43

Vgl. Morales 1996.

31

II. Argentinien

Regierung immer noch an ausreichender politischer Sensibilität für die Problematik, wie man mit der Vergangenheit umgehen soll.44 Soweit es in Argentinien noch ein "Militärproblem" gibt, hat sich dessen Inhalt verändert. Unabhängig von der Tatsache, daß die Klage über mangelnde finanzielle Mittel den Militärs in der ganzen Welt gemeinsam ist, kann im argentinischen Fall doch konstatiert werden, daß die Militärausgaben drastisch reduziert wurden: von 3,6 % des BIP (1983) auf 1,8 % (1995) bzw. auf ein Drittel des Niveaus von 1986.

Trotz einer drastischen Truppenreduzierung, die im

Vergleich mit den Nachbarländern einer einseitigen Abrüstung gleichkommt, werden immer noch 85 % des Budgets des Heeres für Personalausgaben aufgewendet und nur 15 % für die operative Maßnahmen - Mitte der achtziger Jahre (1985-1988) hatte das Verhältnis 6 0 % : 4 0 % gelautet.46 So mußten zwangsweise Einsparungen in den Ausbildungsprogrammen und bei der Wartung und Neuanschaffung von Waffensystemem vorgenommen werden. Der Sold ist weiterhin sehr niedrig; viele Offiziere gehen Nebenbeschäftigungen nach, oder wandern - wie in der Luftwaffe - auf lukrativere Posten in der Privatwirtschaft ab.

3.2.

Eine Parteiendemokratie

Ohne in eine Grundsatzdebatte über das Gewicht und den Einfluß der politischen Parteien in den verschiedenen lateinamerikanischen Ländern eintreten zu wollen 47 , kann man feststellen, daß die Parteien in Argentinien von zentraler Bedeutung sind. Das politische System Argentiniens funktioniert wie eine Parteiendemokratie. Die politischen Parteien sind der wichtigste politische Artikulationskanal für die Bürger und das wichtigste Vehikel, um politische Positionen zu besetzen und Regierungspersonal zu rekrutieren. Die argentinischen Parteien verfügen noch immer über eine starke Verwurzelung in der Gesellschaft: nach Umfragen aus der zweiten Hälfte der achtziger Jahre waren rund 20 % der Wähler Mitglieder der Peronistischen oder der Radikalen Partei, rund 44

Vgl. Bayer 1995.

45

Morales 1995.

46 47

Quelle: Angaben des Verteidigungsministeriums. Siehe Cansino 1995.

Detlef Nolte

32

50 % der Wähler waren Mitglieder oder Anhänger der beiden genannten Parteien - 30 % der Peronisten und 20 % der Radikalen Partei.48 Nach Statistiken des Innenministeriums hatten die beiden wichtigsten argentinischen Parteien Ende 1994 als Mitglieder registriert: die Radikale Partei 2,8 Millionen und die Peronistische Partei 3,9 Millionen - davon 1,7 Millionen in der Provinz Buenos Aires. In den ersten Jahren nach der Rückkehr zur Demokratie - bis 1988/89 - wurden die politischen Parteien immer von 70 % der Bevölkerung positiv bewertet.49 Anfang der neunziger Jahre war ein gewisser Rückgang der Unterstützung zu verzeichnen, aber immer noch zwischen 40 und 50 % der Bevölkerung äußerten Vertrauen in die Parteien:50 Tab. l:Grad der Unterstützung für die politischen Parteien 1989-1995 ("tragen zum Wohlergehen des Landes bei"): Oktober

September

Juli

März

November

Dezember

August

1989

1990

1991

1992

1993

1994

1995

68%

51 %

45%

60%

49%

47%

42%

Quelle: Umfrageergebnisse von Mora y Araujo, Noguera y Asoc., die dem Verfasser zur Verfugung gestellt wurden. Die neue Verfassung von 1994 enthält eine eindeutige Wertschätzung der Rolle der Parteien (in der alten Fassung wurden sie nicht erwähnt). Im neu eingefügten Artikel 38 heißt es dazu: "Die Parteien sind für die Demokratie grundlegende Institutionen. Ihre Gründung und die Entfaltung ihrer Aktivitäten sind unter Respektierung der Vorgaben dieser Verfassung frei, die ihre demokratische Organisation und Funktionsweise, die Repräsentation der Minderheit, den

48

Catterberg 1991, S. 50/96.

49

Ebda., S. 56.

50

Andere Umfragen dokumentieren ein wachsendes Mißtrauen gegenüber den politischen Parteien. Dies gilt nicht nur für Argentinien, sondern für nahezu alle lateinamerikanischen Länder (siehe NDI/Römer 1995). Die abweichenden Ergebnisse sind sicherlich auf Unterschiede in der Fragestellung bei den Umfragen zurückzuführen. Mit Blick auf die Ergebnisse anderer Umfragen, auch zu anderen Themen, läßt sich der Schluß ziehen, daß es sich weniger um eine Kritik am Instrument politische Partei handelt, sondern an dessen Funktionsweise. Auch wird die Demokratie selbst nicht in Frage gestellt.

II. Argentinien

33

Wettbewerb bei der Nominierung der Kandidaten für öffentliche Wahlämter, den Zugang zur Öffentlichkeit und die Verbreitung ihrer Ideen garantiert. Der Staat trägt zur ökonomischen Aufrechterhaltung ihrer Aktivitäten und zur Fortbildung ihrer Führer bei. Die Parteien müssen die Herkunft ihrer Finanzmittel und ihres Vermögens offenlegen." Mit diesen Vorgaben verleiht die argentinische Verfassung den politischen Parteien mehr Legitimität und Gewicht als die Verfassungen in der Mehrzahl der anderen lateinamerikanischen Länder und schreibt ihnen eine wichtige Rolle im demokratischen Prozeß zu. Um diese Aufgabe zu erfüllen, werden die argentinischen Parteien vom Staat finanziell unterstützt.51 Haben die Parteien die ihnen nach der Verfassung zugeschriebenen Funktionen erfüllt? Eine Untersuchung, die zu Beginn der neunziger Jahre veröffentlicht wurde 52 , listet u.a. folgende Defizite der argentinische Parteien auf, die immer noch vorhanden sind: -

das Fehlen einer genuinen nationalen Organisation (es dominieren die Wahlkreisorganisationen);

-

der Personalismus und die innere Fraktionalisierung der Parteien;

-

eine große ideologische Ambivalenz;

-

eine zunehmende Krise der Partizipation, weil trotz einer hohen Mitgliederzahl diese nicht mit einem starken parteipolitischen Engagement einhergeht. 53

Schon Ende der fünfziger Jahre war Argentinien eines der ersten Länder in Lateinamerika, das Zuwendungen aus öffentlichen Geldern für die Wahlkämpfe der politischen Parteien gewährte (Ferreira/Goretti 1993, S. 13). Zur Zeit erhalten die Parteien für ihre dauerhaften Aktivitäten und für die Wahlkämpfe Gelder aus dem Fondo Partidario Permanente, der vom Innenministerium verwaltet wird. Der Betrag hängt von der Zahl der Parlamentssitze und von der Anzahl der Stimmen bei der vorausgegangenen Wahl ab. 1993 stand jeder Partei ein Peso (= 1 US-$) pro Stimme zu. Auf diesem Wege erhielten die Parteien im gleichen Jahr 14 Mio. Pesos zugewiesen (Ferreira/Goretti 1993, S. 19-20). 52

53

Marcelo Alegre, Investigaciones sobre presidencialismo y gobernabilidad en la Argentina, Centro de Estudios Institucionales 1991, zitiert in: Niño 1992a, S. 548. Nach einer Umfrage vom Mai 1996 (Hugo Haime y Asoc.) in der Hauptstadt und im Großraum Buenos Aires waren gerade 2 % (1992: 2,6 %) der Befragten in Parteien aktiv (Página 12, 26.5.1996, S. 24).

Detlef Nolte

34

In dem von Mainwaring/Scully herausgegebenen Sammelband über Parteiensysteme in Lateinamerika, der Analysen zu 12 Ländern enthält, wird Argentinien als sechstes und letztes Land in die Gruppe der Länder mit "institutionalisierten Parteiensystemen" (institutionalized party systems)54 eingeordnet. Im argentinischen Fall sind es vor allem zwei Aspekte, die nach Mainwaring/Scully auf Defizite im Grad der Institutionalisierung hinweisen 55 : -

Die Dominanz der Parteiführer in der Peronistischen Partei. Heute ist dies Präsident Menem, wobei daran zu erinnern ist, daß Menem 1989 seine Nominierung gegen den Widerstand des Parteiapparates durchsetzte. In der Radikalen Partei zeigten sich ähnliche Tendenzen, vor allem im Hinblick auf die Führungsrolle von Ex-Präsident Alfonsin. Sowohl während seiner Präsidentschaft als auch während der Präsidentschaft von Menem mußten die Regierungsparteien jeweils einen Einflußverlust hinnehmen. Der "Pakt von Olivos" war symptomatisch für die Dominanz der Parteiführer über die Parteistrukturen.

-

Eine große Volatilität der Wählerstimmen. Diese Volatilität zeigen die gängigen Indikatoren über das Wählerverhalten an. Näher betrachtet, wird aber eine komplexere Konstellation sichtbar. Einerseits existiert eine Partei mit einer stabilen und starken Wählerbasis, die Peronistische Partei, die bei Parlamentswahlen in den vergangenen Jahren auf 38 bis 45 % der Stimmen kam. Auf der anderen Seite gibt es starke Schwankungen in den Wahlergebnissen der übrigen Parteien. Die Radikale Partei erlebte seit 1983 zunächst eine kurze Phase des Aufschwungs, um danach einen stetigen Prozeß von Stimmenverlusten zu erleiden - von 51,7 % bei den Präsidentschaftswahlen von 1983 fiel ihr Anteil auf 17 % bei den Präsidentschaftswahlen im Mai 1995. Auch die liberal-konservative UCeDe verzeichnete eine Phase

54

55

Derartige Systeme sind charakterisiert durch: "stability in interparty competition, the existence of parties that have somewhat stabel roots in society, acceptance of parties and elections as the legitimate institutions that determine who governs, and party organizations with reasonably stable rules and structures" (Mainwaring/Scully 1995b, S. 1). Die Kriterien für ein nur gering institutionalisiertes Parteiensystem sind: "The notion of weak institutionalization (im Hinblick auf die Parteien; D.N.) suggests that the organization is weak, that power is personalized, and that the parties have little autonomy vis-a-vis social actors" (Mainwaring/Scully 1995c, S. 480, Anm. 26). Mainwaring/Scully 1995b, S. 17ff.

II. Argentinien

35

des Aufschwungs (1989: 10%) und nachfolgende Verluste (1995: 3 %). Gleiches gilt für den rechtspopulistischen MODIN (1994: 9,2%; 1995: 1,8 %) und mehrere Regionalparteien. Bei den letzten Wahlen im Mai 1995 erzielte ein Mitte-Links-Bündnis, der Frepaso, einen spektakulären Zuwachs (Parlamentswahl 21 %; Präsidentenwahl 29%). Es bleibt abzuwarten, ob die Gruppierung (oder eine mögliche Nachfolgeorganisation) diesen Stimmenanteil bei den nächsten Parlamentswahlen 1997 halten kann.

3.3.

Veränderungen im Parteiensystem: Tendenzen und Ursachen

Aus einer vergleichenden Perspektive ist der argentinische Fall außerordentlich interessant. In den vergangenen Jahren waren in Lateinamerika tiefgreifende wirtschaftliche, politische und ideologische Veränderungen zu verzeichnen: der Zusammenbruch des realen Sozialismus als eines Referenzpunktes für die lateinamerikanische Linke; die wirtschaftliche Krise der achtziger Jahre, die auch eine Krise des bis dahin dominierenden Wirtschaftsmodells der Importsubstituierung war und zur Etablierung neoliberaler Politiken führte; das Aufkommen neuer Bewegungen oder Führer, wie beispielsweise Fujimori in Peru, und der dramatische Bedeutungsverlust von Parteien mit einer langen Tradition, wie der APRA (gleichfalls in Peru). In der Regel mußten sich die politischen Parteien, die unter anderen sozialen und politischen Bedingungen entstanden waren, an ein neues soziopolitisches Umfeld anpassen, in dem die tradierten politischen Formeln auf keine Resonanz mehr stießen. Dies stellte Parteien auf eine harte Probe: einige Parteien bestanden diese Prüfung mit Erfolg, andere nicht. Auch in Argentinien wurde die kognitive politische Landkarte neu vermessen. Wie bereits ausgeführt wurde, haben sich nach den Umfrageergebnissen in der zweiten Häfte der achtziger Jahre die Orientierungspunkte und auch die Erwartungen der Wähler verändert.56 Die politischen Parteien Argentiniens haben diesen Wandel nicht immer erkannt und verstanden. Das Fehlen einer programmatischen Anpassung erklärt einen Teil der Volatilität der Wählerschaft.

56

SieheMorayAraujo 1991.

Detlef Nolte

36

Im Hinblick auf die Peronistische Partei scheint das Urteil von Mainwaring/ Scully nicht zutreffend: "... the degree to which the party system is institutionalized in a given country has shaped the ability of key institutions and leaders to respond effectively to a rapidly changing environment. In the absence of reasonably coherent parties and an institutionalized party system, the capacity for response is weakened." 57 Aufgrund der Entwicklung, die die Peronistische Partei während der Präsidentschaft von Carlos Menem genommen hat, könnte man die Gegenthese aufstellen, daß einige der traditionellen Eigenarten oder spezifischen Schwächen der lateinamerikanischen Parteien, die in der wissenschaftlichen Literatur regelmäßig aufgelistet werden, diesen - in Anlehnung an das berühmte "blessing in disguise" von Albert O. Hirschman - möglicherweise eine programmatische Anpassung an ein verändertes sozioökonomisches Umfeld und politische Innovationen erleichtern.58 In einer Periode, in der tradierte politische und wirtschaftliche Konzeptionen an Wert verlieren und in der sich der soziale Unterbau der Politik verändert, erleichtern der Mangel einer klaren Programmatik, die soziale Heterogenität der Anhängerschaft, die Konzentrierung der Entscheidungsmacht in den Führungsstäben der Parteien und die Bedeutung von Führungspersönlichkeit, die zuweilen über Charisma verfügen, einen Kurswechsel der Parteien, ohne daß es zu größeren organisatorischen Brüchen oder Abspaltungen kommt. Außerdem gibt es Anzeichen dafür, daß auch bestimmte politische Laster, wie der Klientiiismus - vielleicht mit anderen Akteuren - sich an ein verändertes soziopolitisches Umfeld anpassen lassen und mit der neoliberalen Politik nicht verschwinden. Die Bedeutung, die dem politischen Führer im Peronismus zukommt, und die ideologische Ambivalenz der Bewegung erleichterten den Kurswechsel der Partei während der Präsidentschaft von Carlos Menem, der daneben aber auch - selektiv - auf korporativistische Strukturen und klientilistische Praktiken zurückgriff, um den Wandlungsprozeß abzusichern. In diesem Zusammenhang sind die Ausführungen sehr interessant, die der Gouverneur der Provinz Buenos Aires und mögliche zukünftige Präsidentschaftskandidat der Peronistischen Partei, Eduardo Duhalde, Mitte 1995 in einem Interview machte. Auf die Frage nach den politischen Herausforderun-

57

58

Mainwaring/Scully 1995c, S. 473. Siehe hierzu ausführlicher: Nolte 1994.

II. Argentinien

37

gen, die in der Zukunft anstehen, und den tradierten Konzepten des Peronismus führte er aus: "... wir können keines der Instrumente aus den fünfziger Jahren benutzen. Es gibt nichts, was sich seitdem nicht verändert hätte. Wir haben die großen zeitgenössischen Bewegungen zum Peronismus in der Welt verschwinden sehen. Unsere Überlebensfähigkeit gründete auf der Fähigkeit, die Instrumente auszutauschen. Es gab niemals eine justizialistische Wirtschaftsideologie. Deswegen hat man uns sehr kritisiert. Aber es war unsere Tugend." 59 Es wäre von Interesse, den Erfolg der Peronistischen Partei bei der Anpassung an die Veränderungen in ihrem soziokulturellen Umfeld mit dem Scheitern der Radikalen Partei noch detaillierter zu vergleichen. Die Leichtigkeit, mit der die Peronistische Partei ihre politischen Positionen veränderte, erklärt sich auch aus einer anderen Besonderheit des argentinischen Parteiensystems. Ende der achtziger Jahre (1988) verortete die Hälfte der Wähler weder sich selbst noch die beiden wichtigsten Parteien (Radikale und Peronisten) auf einer Links-Rechts-Skala. Die Wähler, die sich auf der Skala einordneten, taten dies im mittleren Skalenbereich. 60 Vielleicht sind dies Anzeichen für eine größere programmatische Flexibilität in der Wählerschaft und das Vorherrschen von moderaten Positionen.61 Nimmt man eine komprimierte Analyse der sozialen Basis der beiden wichtigsten Parteien, der Peronistischen und der Radikalen Partei, vor, so zeigen sich im Zeitraum von den Wahlen 1983 bis Mai 1995 interessante Veränderungen. Die Wahlen von 1983 zeichneten sich dadurch aus, daß die Peronisten erstmals bei freien Wahlen (ohne Proskriptionen) geschlagen wurden. Eine Analyse der sozialen Zusammensetzung der Wählerschaft zeigt, daß die Radikale Partei

59

Página 12, 29.7.1995, S. 3.

60

Catterberg 1991, S. 66-70. Eine Meinungsumfrage (Graciela Römer), die in der Hauptstadt und im Großraum Buenos Aires im Februar 1993 durchgeführt worden war, kam zum gleichen Ergebnis: nur 53 % der Befragten ordneten sich auf der Links-Rechts-Skala ein, und das Profil der Anhänger von Radikaler Partei und Peronisten unterschied sich nur wenig.

61

In einer vergleichenden Meinungsumfrage unter den Abgeordneten in fünf lateinamerikanischen Ländern ergab die Selbsteinstufung auf einer numerischen Skala von 1 (extrem links) bis 10 (extrem rechts) der Abgeordneten von Radikaler Partei und Peronisten nur geringe Unterschiede (Mittelwerte: Peronisten 4.89, Radikale 4.75) (Alcántara 1995).

38

Detlef Nolte

nicht nur in der Oberschicht und in den Mittelschichten in Front lag (was zu erwarten war), sondern auch in einigen Unterschichtssegmenten, vor allem unter Angestellten und Facharbeitern. Die Peronisten sahen demgegenüber ihre dominante Position in den marginalen Sektoren bestätigt.62 Bei den Wahlen 1989 gelang es den Peronisten, ihre traditionelle Hegemonie in allen Unterschichtssegmenten wiederherzustellen. 63 Bei den Wahlen 1995 konnte sie diesen Rückhalt konservieren und zudem eine Mehrheit in der Oberschicht gewinnen. Nach Schätzungen von Di Telia ist von einem Wählerpotential von rund 20 % für Rechtsparteien in Argentinien auszugehen. 64 Davon hätte 1995 bei der Präsidentenwahl rund die Hälfte für die Peronisten gestimmt, deren genuiner Stimmenanteil bei rund 40 % liege. Trotz eines gewissen Rückhaltes der Peronisten in den Mittelschichten war dies eine Wählerschicht, die eher für die Oppositionsparteien votierte. Der entscheidende Faktor bei allen Wahlen nach 1983 war die wirtschaftliche Situation und insbesondere die Inflationsrate. Nimmt man eine statistische Analyse im Hinblick auf die Inflationsentwicklung und die Popularität der Regierungen (in Meinungsumfragen) vor, "dann ergibt sich ... eine sehr hohe Korrelation: es zeigt sich eine sichtbare Tendenz zum Anstieg der Popularität der Regierung, wenn die Inflation zurückgeht... keine andere Variable zeigt für sich allein eine stärkere Beziehung zur Popularität der Regierung." 65 Diese Tendenz wurde bei den letzten Wahlen im Mai 1995 bestätigt. "Die Wiederwahl Menems ist der Preis, den die argentinische Bevölkerung für die wirtschaftliche Stabilisierung bezahlte", lautete kurz und bündig der Kommentar des französischen Soziologen Alain Touraine zum Wahlausgang. 66 In einer Meinungsumfrage im Großraum Buenos Aires am Wahltag (CEOP) erklärte rund die Hälfte der Wähler von Menem, für den peronistischen Kandidaten gestimmt zu haben, weil er eine Fortsetzung der Wirtschaftspolitik und wirtschaftliche Stabilität garantiere. 67

62

Siehe Catterberg 1991, S. 75-84.

63

Ebda., S. 97-99.

64

Di Telia 1995.

65

Mora y Araujo 1991, S. 46.

66

Pàgina 12,21.5.1995, S. 8.

67

Clarin, 21.5.1995, S. 2.

II. Argentinien

39

Der Erfolg der peronistischen Regierung bei den Wahlen von 1995 entsprach der allgemeinen Tendenz im dritten Wahlzyklus in Lateinamerika seit der Rückkehr zur Demokratie: im allgemeinen wurden die Regierungsparteien bestätigt, falls sie - vor allem bei der Inflationsbekämpfung - wirtschaftliche Erfolge vorweisen konnten, selbst wenn die Stabilisierungspolitiken mit hohen sozialen Kosten verbunden waren. Dies gilt für die Wahlen in Peru, bei denen Alberto Fujimori im April 1995 mit 64 % der Stimmen bestätigt wurde, für die Wahlen in Brasilien, bei denen Fernando Henrique Cardoso bereits im ersten Wahlgang mit 54 % (Oktober 1994) deutlich siegte, und in gewisser Weise auch für den Wahlsieg von Ernesto Zedillo (August 1994) in Mexiko. Aus einer breiteren Sichtweise hängen die wirtschaftlichen und politischen Erfolge "von der Fähigkeit der Parteien ab, die Abneigung gegen Ungewißheit, die mit der wirtschaftlichen Instabilität verknüpft ist, zu kanalisieren". 68 Deshalb war es notwendig, daß die Regierungen ein Bild von Autorität vermittelten, das manchmal sogar autoritäre Züge aufwies. "Die Ursachen für die politischen Erfolge der neunziger Jahre ... stehen in Zusammenhang mit der Effektivität, mit der die Regierungen im Prozeß der Wiederherstellung der Staatsautorität voranschritten. Die Mechanismen der Autorität waren in der vorausgegangenen Periode durch mehrere Entwicklungen korrodiert worden, unter denen der wirtschaftlichen Desorganisation besondere Bedeutung zukam. ... Deshalb bestand das erste Element, auf dem der Erfolg der Regierungsparteien im dritten Wahlzyklus basierte, gerade in der Fähigkeit, sich als die Hauptprotagonisten des Prozesses der Rekonstruktion der Staatsautorität zu präsentieren, die wiederum als Achse zur Reorganisation kollektiver Verhaltensweisen begriffen wurde. Der Prozeß der Wiederherstellung der staatlichen Autorität war mit zwei großen Aufgaben verknüpft, die diese Regierungen durchführten. Als erstes, auch wenn dies ein etwas schockierender Ausdruck ist, das, was man als effiziente Verwaltung der Angst definieren kann ... vor der Rückkehr zu Situationen großer Unsicherheit." 69 Darin war Carlos Menem ein Meister 70 , und in der Wahlkampfphase profitierte er von den Anzeichen einer wirtschaftlichen

68

Cavarozzi 1994, S. 90.

69

Ebda., S. 94f.

70

Siehe auch die Überlegungen von Torre (1995b) hinsichtlich der Drohung als Regierungsinstrument und -Strategie.

Detlef Nolte

40

Krise als Folgewirkung des "Tequila-Effektes": Viele noch unentschiedene Wähler befolgten - auch in Erinnerung des traumatischen Endes der Regierung Alfonsin - die Maxime, bei aufkommendem Sturm nicht den Kapitän zu wechseln. Aber der Prozeß der Wiederherstellung der staatlichen Autorität hat im menemistischen Argentinien zwei Gesichter: Einerseits hat die wirtschaftliche Stabilität dazu beigetragen, Unsicherheit abzubauen und die staatliche Autorität zu stärken. Andererseits ist das politische System durch Korruption und Skandale charakterisiert, die erneut die staatliche Autorität unterminieren. In diesem Zusammenhang ist es wichtig darauf hinzuweisen, daß es nach Mora y Araujo augenblicklich zwei "Koordinaten" gibt, die die kognitive politische Landkarte der argentinischen Wähler strukturieren: die Wirtschaftsreformen und die Erwartung an einen neuen politischen Stil. Die Dimension "politischer Stil" beinhaltet: "(a) die Forderung, die Korruption unter Kontrolle zu bringen, und nach der vollen Geltung des Prinzips der Gleichheit vor dem Gesetz für Regierende, Abgeordnete und Gouverneure; (b) eine Antiparteienhaltung, die in den Apparaten, die die Parteien steuern, kein Vertrauen erweckendes Element sehen; (c) die Präferenz für einen Führungsstil mit weniger Erlösungsanspruch, weniger Ideologie, der Attribute von Anstand und Fachkompetenz aufweist." 71 Nach diesem Schema kombinierte Alfonsin einen alten Stil, Politik zu betreiben, mit Vorbehalten gegenüber wirtschaftlichen Reformen. Menem symbolisiert wirtschaftliche Reformen und einen traditionellen Politikstil. Insofern bleibt politischer Raum für zukünftige Kandidaten, die in ihrem Profil einen Reformimpetus im wirtschaftlichen Bereich mit einem neuen politischen Stil verbinden. Möglicherweise ist das relativ gute Ergebnis von Bordön bei den Präsidentschaftswahlen vom Mai 1995 auf diese Kombination zurückzuführen. Zudem manifestierte sich bei den letzten Wahlen eine zunehmende Unabhängigkeit der Wähler. Dem Profil der Kandidaten und lokalen Faktoren kam wachsendes Gewicht zu. Bei den Wahlen von 1995 entschied sich rund ein Drittel der Wähler zu einer differenzierten Stimmabgabe ("corte de boleta") bei den parallel abgehaltenen Präsidenten-, Kongreß-, Gouverneurs- und Bürgermeisterwahlen, d.h. sie kreuzten nicht durchgehend die gleiche Partei an. Der

71

Mora y Araujo 1995, S. 64.

41

II. Argentinien

historische Durchschnitt hatte bei 5 bis 7 % gelegen, 1989 waren es 9 % der Wähler gewesen. 72 Bei den am 14. Mai 1995 in 14 Provinzen durchgeführten Gouverneurswahlen erhielten die Kandidaten der Peronistischen und der Radikalen Partei in der Regel mehr Stimmen als ihre jeweiligen Präsidentschaftskandidaten. Auch diese Tatsache spiegelt die Bedeutung lokaler Faktoren bei der Stimmabgabe wider. 73 Das argentinische Parteiensystem befindet sich immer noch in einer Phase der Neuformierung seines Profils und der Neuausrichtung der Wählerschaft. Zwischen 1983 und 1989 funktionierte auf nationaler Ebene ein Zweiparteiensystem mit Parteien, die eine lange Geschichte aufweisen, der Radikalen Partei [Unión Cívica Radical (UCR)] und der Peronistischen Partei [Partido

Justicia-

lista (PJ)]. Beide konnten bei den vier Parlamentswahlen im Zeitraum von 1983 bis 1989 zwischen 86 % (1983) und 73 % (1989) der Stimmen auf sich vereinen. Beide besaßen reale Chancen, bei Präsidentschaftswahlen zu siegen. Das Zweiparteiensystem hatte bis 1993 Bestand, aber seit 1989 mit einer ungefährdeten Dominanz der Peronisten. Danach hat sich das Parteiensystem in ein System mit einer dominierenden Partei, der Peronistischen Partei, transformiert, die über einen festen Wählersockel von rund 40 % verfügt und einer gespaltenen Opposition gegenübersteht, die starken Wählerschwankungen unterliegt. Die beiden wichtigsten Oppositionsparteien, der Frepaso und die Radikale Partei, erreichten bei den letzten Parlamentswahlen (Mai 1995) mit 21 % bzw. 22 % nahezu den gleichen Stimmenanteil. Seit 1983 gab es immer "dritte" Parteien, die über eine parlamentarische Vertretung verfügten, aber im Gegensatz zu den großen Parteien nur einen geographisch eingeschränkten politischen Rückhalt bei Wahlen aufwiesen 74 und das Zweiparteiensystem auf nationaler Ebene nicht in Frage stellten. Allerdings waren diese "dritten Kräfte" auf Wahlkreisebene häufig die stärkste Partei. Nur der Peronistischen Partei und der Radikalen Partei gelang es, sich in verschiedenen soziopolitischen Milieus der politischen Geographie Argentiniens festzusetzen. In der Regel hatte das Wachstum "dritter Kräfte" der Radikalen Partei mehr geschadet als den Peronisten. Der MODIN und der Frente Grande waren 72

De Riz 1995b, S. 5/11; La Nación. Internationale Ausgabe, 3.-10.10.1995, S. 5.

73

De Riz 1995b, S. 9.

74

Siehe hierzu Adrogué 1995.

42

Detlef Nolte

politische Gruppierungen, die das Schema einer regional begrenzten Wählerbasis zeitweilig durchbrechen konnten. Der MODIN hat bei den Wahlen 1995 kräftige Einbußen hinnehmen müssen, der Frente Grande hat sich dem Frepaso angeschlossen. Unbeschadet der guten Ergebnisse, die der Präsidentschaftskandidat des Frepaso, Octavio Bordón, im Mai 1995 in verschiedenen Regionen des Landes verzeichnen konnte, bestehen immer noch Zweifel, ob sich die Partei außerhalb der Hauptstadt Buenos Aires fest verankern kann. Dort hatte sie im Oktober 1995 die Senatorenwahl gewonnen. Das gesamte Jahr 1995 war durch die für die Opposition paradoxe Konstellation gekennzeichnet, daß es auf der einen Seite eine Parteiengruppierung, den Frepaso, gab, die auf nationaler Ebene über ein für die Wähler attraktives Profil, in der Mehrzahl der Provinzen aber über keine organisatorische Basis verfügte. Wichtigster Widerpart im Oppositionslager war die Radikale Partei, die eine flächendeckende Parteiorganisation im gesamten Land aufweist 75 , in den vergangenen Jahren aber mit großen Defiziten ihrer nationalen Führung konfrontiert war.

3.4.

Gewerkschaften und Unternehmerorganisationen

Die Entwicklung der argentinischen Gewerkschaftsbewegung spiegelt den tiefgreifenden Umbruch in Wirtschaft und Politik der vergangenen Jahre wider. Es veränderten sich das politische Umfeld, das wirtschaftliche Ordnungsmodell und die Sozialstruktur. Die Konsolidierung der Demokratie und des Parteiensystems verringerten das politische Gewicht der Gewerkschaften, die in anderen Perioden die Peronistische Partei "ersetzten", als diese verboten war, und die immer dann größeren politischen Einfluß ausübten, wenn der politische Flügel der peronistischen Bewegung geschwächt und/oder durch interne Konflikte gelähmt war, wie beispielsweise während der Präsidentschaft von Raúl Alfonsin. 76 Die politische Repräsentation der Gewerkschaftsbewegung redu-

75

Es muß in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen werden, daß die Radikale Partei unbeschadet des katastrophalen Ergebnisses ihres Präsidentschaftskandidaten am 14. Mai 1995 gleichzeitig bei 353 Bürgermeisterwahlen gewann - darunter in sieben Provinzhauptstädten und in zehn Städten mit mehr als 100.000 Einwohnern (Clarin, 4.6.1995, S. 16/17).

76

Palomino 1995, S. 216-218.

43

II. Argentinien

zierte sich in zehn Jahren von 35 (1983) auf acht (1993) Abgeordnete im Nationalkongreß. Der Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik veränderte zugleich die Rolle des Staates in den Arbeitsbeziehungen: er verzichtete auf eine aktive Beteiligung, weil es keine Vergünstigungen mehr zu verteilen gab. Jetzt entscheidet die Marktmacht der Gewerkschaften (und die Wettbewerbsposition der Unternehmen) über ihre Verhandlungsstärke. Die Hegemonie, die Präsident Menem in der Peronistischen Partei ausübt, und sein starker Rückhalt im Kongreß haben die Bedeutung der Gewerkschaften als Unterstützungsfaktor der Regierung verringert. Die wirtschaftlichen Veränderungen haben ihr Störpotential unterminiert. Zudem hat Präsident Menem auf eine Strategie des "teile und herrsche" zurückgegriffen, indem er die internen Konflikte im Gewerkschaftsdachverband CGT ausnutzte - zwischen Oktober 1989 und März 1992 gab es zwei CGTs - und eine Strategie der Kooptierung umsetzte. Trotz der negativen Auswirkungen der "Flexibilisierungspolitiken" im Hinblick auf die Arbeitsgesetzgebung, mußten die Gewerkschaftsmitglieder diese Veränderungen mit geringem Widerstand ihrer Funktionäre hinnehmen. Zur Schwächung der Gewerkschaften hat auch ihre ausgesprochen negative Wahrnehmung in der öffentlichen Meinung beigetragen. 77 Im Vergleich zu den 13 Generalstreiks, die die CGT gegen die Regierung von Alfonsin ausrief, gab es nur einen während der ersten Präsidentschaft von Menem. Auseinandersetzungen hinsichtlich der adäquaten Strategie zur Anpassung an das veränderte ökonomische Umfeld und interne Machtkämpfe führten zu einer erneuten Spaltung der Gewerkschaftsbewegung. Nach ihrer Wiedervereinigung im Jahr 1992 hat die CGT, die immer noch der einzig rechtlich anerkannte Dachverband ist, ein devotes Verhalten gegenüber der Regierung an den Tag gelegt und versucht, sich auf diese Weise an das neue soziopolitische Umfeld anzupassen. Ein anderer Sektor - der Movimiento de los Trabajadores Argentinos (MTA)

der traditionelle Positionen des Peronismus repräsentiert und

weiterhin Teil der CGT ist, hat diese Anpassungsstrategie der Gewerkschaftsfiihrung in Frage gestellt. Ein dritter Gewerkschaftssektor steht in Opposition

77

Nach Gallup-Umfragen ging die bereits geringe Glaubwürdigkeit der Gewerkschaften bei gerade 30 % der Befragten im Jahr 1984 bis 1995 weiter bis auf 10 % zurück (Latin American Weekly Report WR-96-03, S. 34).

44

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zum neuen wirtschaftspolitischen Kurs und zur peronistischen Regierung. Dieser Sektor gründete 1992 den Congreso de Trabajadores Argentinos (CTA), der im Gegensatz zur CGT (die sich aus Branchengewerkschaften zusammensetzt), Einzelmitglieder aufnimmt. Der CTA verfugt unter den Gewerkschaften im öffentlichen Dienst (z.B. unter den Lehrern) und in den öffentlichen Dienstleistungsunternehmen über Rückhalt. Den neuen Dachverband kennzeichnet ein wesentlich konfrontativerer Stil ("sindicalismo combativo") als die CGT. So hat der CTA seine Anhänger mehrfach gegen die Regierungspolitik mobilisiert (Demonstrationen, Arbeitsniederlegungen etc.). Der Widerhall dieser Aktionen blieb jedoch begrenzt und konnte die Regierung nicht emsthaft in Schwierigkeiten bringen. Die organisatorische Entwicklung der Gewerkschaften verlief in den vergangenen Jahren sehr unterschiedlich 78 : in den von der wirtschaftspolitischen Umorientierung negativ betroffenen Wirtschaftsbranchen (z.B. in vielen Industriesparten) verloren die Gewerkschaften an Bedeutung und Einfluß; in anderen Branchen, die einen gewissen Aufschwung erlebten (z.B. im Baugewerbe), gibt es Gewerkschaften, deren Mitgliederzahl zunahm; und schließlich gibt es einen Gewerkschaftssektor mit ganz besonderen Zügen, die "sindicatos de negocios": die Gewerkschaften werden zu Dienstleistungsunternehmen für ihre Mitglieder und das Publikum im allgemeinen. 79 Einige dieser Gewerkschaften beteiligten sich am Privatisierungsprozeß - über den Kauf von Aktien oder die Verwaltung der Belegschaftsaktien (im Rahmen des "Programmes zur Beteiligung am Unternehmenskapital"). Es gibt außerdem Gewerkschaften, die sich am neuen Sozialversicherungssystem (das jetzt teilweise privatisiert ist) beteiligen. In einigen Fällen mußten die Gewerkschaften, die unternehmerisch tätig wurden (indem sie in unterschiedlichen Sparten investierten), mit anderen Gewerkschaften, die die Beschäftigten der betreffenden Unternehmen repräsentierten, Tarifverhandlungen führten.

78

79

1991 hatten die argentinischen Gewerkschaften zwischen 3 Mio. (Schätzwert) und 4 Mio. (Angaben des Arbeitsministeriums) Mitglieder (= 24,4 % der erwerbstätigen Bevölkerung) (ILO 1994, S. 14). Zur Zeit gibt es rund 1.400 anerkannte und registrierte Gewerkschaften, von denen ca. 25 mehr als 50.000 Mitglieder aufweisen, der Rest verfügt über deutlich weniger (Palomino 1995, S. 220-221). Ebda., S. 227.

II. Argentinien

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In einer interessanten Studie wird das Verhalten der Hauptströmung in der CGT als eine erfolgreiche Anpassungsstrategie gegenüber der peronistischen Regierung interpretiert.80 Demzufolge boten die Gewerkschaftsführer ihre Unterstützung und Zustimmung im Hinblick auf die Reformen in Wirtschaft und Arbeitsbeziehungen an, um auf diese Weise das Überleben der Organisation sicherzustellen. Dazu wurden das Profil und die Ziele der gewerkschaftlichen Strukturen verändert. Die erfolgreiche Anpassung weiter Sektoren der Gewerkschaftsbewegung wurde durch zwei historische Legate erleichtert: -

"Die sektorale Tradition der argentinischen Gewerkschaftsbewegung nach Branchen, die sich gegenüber dem allgemeinen Vertretungsanspruch des Dach Verbandes CGT durchsetzt."81 Diese Tradition ermöglichte unterschiedliche Anpassungsstrategien je nach Wirtschaftsbranche.

-

"Ihre Erfahrung bei der Erbringung von Dienstleistungen sozialer Art und im Gesundheitsbereich (über die Sozialwerke; D. N.) an ihre Mitglieder, die zur Herausbildung großer organisatorischer Strukturen führte sowie ein Vermächtnis

an

Kenntnissen

zur

Führung

derartiger

Einrichtungen

schuf." 82 Anders ausgedrückt: die beiden Säulen der argentinischen Gewerkschaftsbewegung - die Akteur bei den Tarifverhandlungen und Anbieter sozialer Dienstleistungen war - erleichterten es ihr, Einbußen in einem Bereich (dem der Arbeitsbeziehungen) hinzunehmen, um Positionen im anderen Bereich zu konsolidieren und auf diese Weise eine Überlebensgrundlage für die Gewerkschaftsbürokratie sicherzustellen. Diese Strategie bildete den Hintergrund für die wiederkehrenden Diskussionen zwischen Regierung und Gewerkschaften über die Sozialwerke. Bei diesem Thema hat sich die Regierung bewußt ambivalent verhalten und auf diese Weise die Gewerkschaften unter Druck gesetzt, damit diese ihre Positionen im Bereich der Arbeitsbeziehungen flexibilisieren, und zugleich deren Hoffnung genährt, sie könnten ihren Einfluß in anderen Bereichen (Gewerkschaftsunternehmen, Sozialwerke etc.) konservieren, die zur Finanzierung ihrer Verwaltungsstrukturen und zur Gewährung selektiver Anreize an die Mitglieder notwendig sind. 80

Murillo 1995.

81

Ebda, S. 1.

82

E b d a , S. 10.

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46

Die Aussichten für eine offensivere Verteidigung gewerkschaftlicher Positionen im Bereich der Arbeitsbeziehungen sind begrenzt. Langfristige Veränderungen in der Beschäftigungsstruktur beeinflußten die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften negativ und veränderten die soziale Zusammensetzung der argentinischen Gewerkschaftsbewegung. So sind die Verringerung der relativen Bedeutung der Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt (von 1980: 72 % auf 1991: 65 % der erwerbstätigen Bevölkerung) und der geringere Anteil der Arbeitnehmer, die in größeren Unternehmen arbeiten, zu erwähnen: Zwischen 1980 und 1991 nahm der Anteil der Arbeitnehmer in Unternehmen mit mehr als 5 Beschäftigten - eine sehr niedrige Schwelle - an der erwerbstätigen Bevölkerung von 31 auf 2 6 % ab.

Einer von vier Arbeitnehmern arbeitete darüber

hinaus in prekären Arbeitsverhältnissen, d.h. ohne Sozialversicherung etc.84 Zugleich muß auf den Anstieg (+7 %) der Beschäftigtenzahl im öffentlichen Sektor - 31 % der Arbeitnehmer und 18 % der Erwerbstätigen im Jahr 1991 — während der achtziger Jahre hingewiesen werden, einem Sektor, in dem ein gewerkschaftliches Organisierungspotential besteht und der während der neunziger Jahre ein größeres Konfliktpotential aufwies als traditionelle Kernsektoren (z.B. in der Metallindustrie) der argentinischen Gewerkschaftsbewegung. Diese waren besonders stark von den beschriebenen strukturellen Veränderungen und dem explosiven Anstieg der Arbeitslosigkeit in den Jahren 1994/95 betroffen. Aber auch die öffentliche Verwaltung wurde von der Sparpolitik der nationalen und provinzialen Regierungen erfaßt (Entlassungen, Lohnabsenkungen etc.). Deshalb waren die Aktionen der Gewerkschaften in diesem Sektor in der Regel defensiv - mit begrenztem Erfolg. Als generelle Tendenz läßt sich festhalten: das nationale und zentralisierte System von Tarifverhandlungen mit Abkommen zwischen nationalen Branchengewerkschaften, der Regierung und Untemehmerverbänden hat sich überlebt. Statt dessen haben die Verhandlungen und Übereinkommen zwischen Unternehmern und Arbeitnehmern auf Unternehmensebene an Zahl und Bedeutung zugenommen. Im Ergebnis gibt es heute eine Vielzahl von partikularen Subsy-

83 84

Siehe Palomino/Schvarzer 1995. Torrado 1995, S. 82.

II. Argentinien

47

stemen der Arbeitsbeziehungen 85 , die ihrerseits die beträchtlichen Unterschiede zwischen Unternehmen und Sparten widerspiegeln und deren Grundmerkmale letztlich davon abhängen, inwieweit die Gewerkschaften aktiv an ihrer Ausgestaltung mitwirken konnten. 86 Die Unternehmerschaft 87 war mit dem Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik während der Präsidentschaft von Carlos Menem im allgemeinen einverstanden und zog Nutzen aus der Flexibilisierung der Arbeitsgesetzgebung. Es gab Klagen einzelner Unternehmersektoren über den mangelnden Schutz der nationalen Industrie und die deprimierende finanzielle Situation kleiner und mittlerer Landwirte. Als allgemeine Tendenz besitzt die Regierung heute mehr wirtschaftspolitischen Handlungsspielraum und fühlt sich weniger genötigt, dem Druck sektorialer Interessen der Unternehmerschaft und ihrer Verbände nachzugeben. Demgegenüber hat die Verwundbarkeit gegenüber dem Druck internationaler Finanzorganisationen (BID, Weltbank, IWF etc.) zugenommen, und es besteht eine größere Abhängigkeit vom Wohlwollen internationaler Anleger und Investoren.

4.

Politische Veränderungen

4.1.

Wirtschaftpolitik: radikale Veränderungen und dringende Herausforderungen

Bevor kurz auf die wirtschaftlichen Transformationen während der Präsidentschaft von Carlos Menem eingegangen wird, ist es notwendig, einige Anmerkungen im Hinblick auf die Unterschiede zur Präsidentschaft von Raul Alfonsin vorauszuschicken. Möglicherweise wären die Unterschiede zwischen einem Präsidenten Menem im Jahr 1983 und der Politik der Regierung AI-

85

86

Es gibt eine immer mehr zunehmende Ausdifferenzierung der Arbeitsbeziehungen auf Unternehmensebene und zwischen den Unternehmen. Nach mehreren Arbeitsrechtsreformen existierten im Mai 1995 insgesamt 20 verschiedene Arten von rechtlichen Beschäftigungsverhältnissen (siehe Capón Filas/Capón Filas 1995, S. 117). Palomino/Señen 1994.

87

Zur Politik der Unternehmerverbände während der Präsidentschaften von Alfonsin und Menem siehe Birle 1995.

48

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fonsín nicht allzu groß ausgefallen. Das gleiche läßt sich hinsichtlich der Politik eines Präsidenten Alfonsin im Jahre 1989 behaupten. Vemutlich hätte es Alfonsin an der politischen Flexibilität von Menem und seiner Fähigkeit gemangelt, sich schnell an neue politische und ökonomische Gegebenheiten anzupassen. Aber es sei daran erinnert, daß sich bereits während der Präsidentschaft von Alfonsin Politiker der Radikalen Partei mit ausgesprochen liberalen Positionen (in wirtschaftlichen Fragen) profilierten und es immer noch peronistische Politiker mit etatistischen Nostalgien gibt. Die Unterschiede im wirtschaftspolitischen Ansatz zwischen Menem und seinem radikalen Kontrahenten im Wahlkampf von 1989, Eduardo Angeloz, waren nie sehr tiefgreifend. Zudem hatten die Peronisten und insbesondere ihr Gewerkschaftsflügel viele wirtschaftliche Reformen während der Präsidentschaft von Alfonsin blockiert. Auch läßt sich nicht behaupten, daß Menem in seiner Funktion als Gouverneur der Provinz La Rioja ein Beispiel an wirtschaftlicher Innovationsfähigkeit oder gar von Haushaltsdisziplin gewesen wäre. Der Weg zur wirtschaftlichen Erneuerung war nicht einfach, und der Kurswechsel kam für viele Beobachter überraschend. Vor seiner Wahl hatte Menem im Ausland eher Befürchtungen hinsichtlich einer unverantwortlichen populistischen Politik erweckt. Die konsekutive Ernennung zweier Topmanager des argentinischen multinationalen Unternehmens Bunge & Born als Wirtschaftsminister zeigte aber schnell den Kurs an, den die Wirtschaftspolitik nehmen sollte. Die Wirtschaft sollte stabilisiert und liberalisiert werden, die Reduzierung des Staatseinflusses und eine Außenöffnung zur besseren Integration in die Weltwirtschaft waren Schlüsselelemente. Unter dem Wirtschaftsminister Domingo Cavallo, der sein Amt im Januar 1991 antrat, wurden die neoliberalen Reformen, die bereits 1989 eingeleitet worden waren, vorangetrieben und vertieft. Dazu gehörten: die Aufhebung aller Preisindexierungsklauseln bei Verträgen; die Privatisierung von Staatsunternehmen wie der argentinischen Fluglinie "Aerolíneas Argentinas", der staatlichen Telefongesellschaft (ENTel), des Erdölunternehmens YPF, von Elektrizitätswerken, Gaswerken, Stahlwerken, Wasserwerken, Straßenabschnitten und Eisenbahnlinien (in Konzession); eine Reduzierung der Auslandsschulden über die Privatisierung von Staatsunternehmen und ein Umschuldungsabkommen im Rahmen des Brady-Plans; eine Abschaffung der Ausfuhrzölle und eine deutliche Senkung der Einfuhrzölle, um die argentinischen Unternehmen wettbewerbsfähig zu machen und den Preis-

II. Argentinien

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anstieg zu kontrollieren; die Reduzierung der Zahl der Staatsbediensteten (um mehr als 5 0 % bei der Zentralregierung zwischen 1990 und 1992) 88 ; eine Erhöhung des Steueraufkommens durch eine Vereinfachung des Steuersystems und größere Kontrollen; eine Teilprivatisierung der Rentenversicherung, um das staatliche Defizit bei den Sozialausgaben zu reduzieren. Daneben wurde versucht, die Lohnkosten zu senken: zum einen wurden Arbeitsschutzgesetze aufgehoben oder abgemildert, zum anderen die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer durch die Schwächung der Gewerkschaften verringert. Auf die Erfolge bei der Inflationsbekämpfung, die eng mit dem Konvertibilitätsgesetz vom Februar 1991 verbunden sind, wurde bereits eingegangen. Um dem Triumphalismus in der Außendarstellung der argentinischen Regierung etwas entgegenzutreten, sei allerdings daran erinnert, daß vor dem Amtsantritt von Domingo Cavallo bereits drei Wirtschaftsminister (in 19 Monaten) mit neun weniger erfolgreichen "Wirtschaftsplänen" einander abgelöst hatten. Ohne auf weitere Details der Wirtschaftspolitik einzugehen, kann man festhalten, daß in Argentinien heute ein breiter Grundkonsens vorherrscht, Wirtschaftsminister Cavallo habe eine erfolgreiche Stabilisierungspolitik durchgeführt. Es besteht aber kein Konsens darüber, ob mit der erfolgreichen Bewältigung der Wirtschaftskrise zu Beginn der neunziger Jahre bereits die Grundlagen für ein dauerhaftes Wachstum geschaffen wurden. Aus einer kritischen Perspektive wird das Fehlen einer strategischen Ausrichtung der Wirtschaftspolitik mit Blick auf die Zukunft beklagt, "más allá de la estabilidad." 89 Zugleich wird bezweifelt, ob das augenblickliche Wirtschaftsmodell ein Wachstum mit Verteilungsgerechtigkeit garantieren kann. In den vergangenen Jahren verschlechterte sich die soziale Lage breiter Bevölkerungsschichten. Bereits während der achtziger Jahre waren die Durchschnittseinkommen der abhängig Beschäftigten (im Großraum Buenos Aires) um rund 4 0 % (1980-1992: - 2 4 % ) zurückgegangen, im produzierenden Gewerbe waren es 20-30 %. 90 Das wirtschaftliche Wachstum der Jahre 1991-1994 wurde nicht von einem vergleichbaren Anstieg der Löhne und Gehälter beglei-

88

World Bank 1993, S. 14

89

Bustos 1995.

90

CEPAL 1995, S. 53; Torrado 1995, S. 86.

50

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tet. So blieb beispielsweise in der Industrie der Anstieg der Reallöhne deutlich unter der Wachstumsrate des BIP (in Klammer gesetzt) zurück: 1991: 1,3% (8,9%); 1992: 1,4% (8,7%); 1993: - 1 , 7 % (6,1 %); 1994: 1,0% (7,4 %). 91 Die Verteilung der Haushaltseinkommen (im Großraum Buenos Aires) veschlechterte sich während der siebziger und achtziger Jahre und veränderte sich zu Beginn der neunziger Jahre nur wenig. So entfielen 1993 auf die oberen 20 % der Haushalte 51 % der Einkommen, auf die nächsten 30 % der Haushalte 29 % und auf die untere Hälfte der Haushalte 20 %. 92 Der Anteil der armen Haushalte (Großraum Buenos Aires) stieg in der Phase der Hyperinflation von 24,2% im Oktober 1988 auf 38,3 % im Oktober 1989, um danach bis auf 13,1 % im Oktober 1993 zurückzugehen. 93 Bis Oktober 1995 erhöhte sich der Anteil der armen Haushalte im Großraum Buenos Aires wieder auf 18,2 % (Okt. 1994: 14,2 %) bzw. 24,8 % der Bevölkerung. Dies sind rund drei Millionen Personen. Die Zunahme der Armut steht in engem Zusammenhang mit dem dramatischen Anstieg der Arbeitslosigkeit im ersten Halbjahr 1995: Nach einem Jahresdurchschnitt von 6,2 % im Zeitraum 1981-90 stieg die Arbeitslosenquote von 6,0 % (1991) auf 7,0 % (1992), 9,3 % (1993), 12,2 % (1994) und 18,4 % (Mai 1995), um dann leicht auf 16,6 % (Oktober 1995) zurückzugehen. Die Arbeitslosigkeit ist allerdings nicht allein eine Folge der wirtschaftlichen Stabilisierungs- und Umstrukturierungspolitiken sowie des konjunkturellen Einbruchs von 1995, sondern hat weiter zurückreichende Ursachen, die im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Stagnation vergangener Jahre und Veränderungen langfristiger Natur auf dem Arbeitsmarkt stehen: -

Ein Anstieg der Erwerbsquote (definiert als Anteil der Erwerbsbevölkerung im Alter ab 14 Jahren an der Gesamtbevölkerung) von 36 % im Jahr 1980 auf 40,5 % im Jahr 1991. In dieser Zunahme spiegelt sich insbesondere eine stärkere Erwerbstätigkeit von älteren Personen (über 55 Jahren) und von Frauen wider. 94

91

CEPAL 1995, S. 49/53.

92

Minujin/Kessler 1995, S. 72-73.

93

Llach 1994.

94

Dies ist zum Teil auf Veränderungen bei den im Zensus zur Messung der Erwerbstätigkeit verwendeten Kriterien zurückzuführen.

II. Argentinien -

51

Veränderungen in der Beschäftigungstruktur 95 : Im Zeitraum 1980-91 entfielen 65 % der Zunahme der erwerbstätigen Bevölkerung auf nicht abhängig Beschäftigte, insbesondere auf die "Selbständigen" (trabajadores por cuenta propia), die Beschäftigungskategorie, die zwischen 1980 und 1991 am stärksten wuchs (auf 23 % der erwerbstätigen Bev. 1991). Unter den abhängig Beschäftigten konzentrierte sich die Zunahme zwischen 1980 und 1991 (um 35 %) auf Arbeitnehmer in sehr kleinen Unternehmen (mit bis zu fünf Beschäftigten) (17 %) und Hausbedienstete (10 %). Im Ergebnis kann man festhalten: "92 % des Zuwachses an Arbeitsplätzen, der während der achtziger Jahre registriert wurde, verteilten sich in unterschiedlichem Umfang auf Arbeitnehmer in Kleinstunternehmen, Hausangestellte, kleine Selbständige sowie Kleinstunternehmer und ihre Familienangehörigen. Auf die Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst entfielen 7 % des Zuwachses an Arbeitsplätzen, und nach großzügigen Schätzungen kann man 1 % der Zunahme den Arbeitnehmern in großen Unternehmen (mehr als 5 Beschäftigte) zuschreiben." 96

Die geschilderten strukturellen Veränderungen wurden von der wirtschaftlichen Anpassungspolitik der neunziger Jahre und ihren Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt überlagert. Es scheint, daß freigesetzte Arbeitskräfte während der achtziger Jahre und auch noch zu Beginn der neunziger Jahre zunächst in den informellen Sektor abwanderten, bevor sie die Kategorie der Arbeitslosen anschwellen ließen. Augenblicklich überlagern sich verschiedene Entwicklungen: eine Erhöhung des Angebots an Arbeitskräften, eine schwache Nachfrage nach Arbeitskräften für formale Arbeitsverhältnisse, eine gewisse "Sättigung" des informellen Sektors und eine rezessive Phase der Wirtschaft. Aus diesem Grund leidet Argentinien heute doppelt unter "einer Anpassung durch Arbeitslosigkeit" und "einer Anpassung über informelle Arbeitsverhältnisse", die sich sowohl in der oben beschriebenen Beschäftigungstruktur als auch in einer Unterbeschäftigtenquote von 11,3% im Mai 1995 widerspiegelt. Aufgrund der langfristigen strukturellen Veränderungen ist es nicht verwunderlich, daß in

95

Zu den Veränderungen in der Beschäftigungsstruktur während der achtziger Jahre 96

siehe Torrado 1995. Palomino/Schvarzer 1995, S. 12.

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worst case-Szenarien mit einer durchschnittlichen Arbeitslosenquote von über 20 % für den Rest der Dekade gerechnet wird.97 Nach Aussagen von Alain Touraine führte Menem das notwendige "liberale Reinemachen" durch, in dem er einen Prozeß der Außenöffnung und der Freisetzung der Wirtschaft von politischen, sozialen, klientilistischen und parteipolitischen Kontrollen einleitete, die sie blockierten und Ursache für die chronische Inflation waren.98 Die Herausforderung für die Zukunft lautet, das wirtschaftliche Wachstum mit mehr Verteilungsgerechtigkeit zu verbinden. Dazu gilt es, auch das Thema Steuergerechtigkeit anzugehen. Mit einer Steuerquote von 27,6 % des BIP hat Argentinien ein den Industrieländern wie der Schweiz oder den USA vergleichbares Niveau erreicht.99 Der große Unterschied zu den Industrieländern besteht darin, daß fast die Hälfte der Steuereinnahmen (48,7 %) Konsumsteuern sind, eine Steuer mit tendenziell regressiven Auswirkungen. Nur 13,1 % sind Einkommens- und 1,3 % Vermögenssteuern.100 Das Thema wurde auch von der Weltbank kommentiert, die in einem Bericht aus dem Jahr 1993 schreibt: "Argentinien stützt sich sehr viel weniger auf direkte Steuern als andere Länder. Die Einnahmen aus direkten Steuern gingen von 1,9 % des BIP im Jahr 1987 auf 0,8 % des BIP im Jahr 1991 zurück. In Ländern mit einem vergleichbaren Pro-Kopf-Einkommen lag das durchschnittliche Verhältnis zwischen Einkommenssteuer und BIP bei 8,1 % ... Der Rückgang des Anteils der direkten Steuern am gesamten Steueraufkommen hat die Progression des Steuersystems im Hinblick auf die Einkommen negativ beeinflußt."101 Nach dem "liberalen Reinemachen", das die Voraussetzung für den wirtschaftlichen Aufschwung schuf, gilt es nun, eine aktive Sozialpolitik zu betreiben und den Staat zu stärken, damit dieser die Rahmenbedingungen für ein dauerhaftes wirtschaftliches Wachstum (z.B. über Industrie-, Technologie-, Bildungs- und 97

OD 99

Siehe Laborda 1995. Interview mit Pagina 12, 21.5.1995, S. 8-9. Serrichio 1995, S. 2.

100

Das Steuersystem erklärt, warum die Nettoeinkommen argentinischer Manager in der Regel höher sind als die der Manager in vergleichbaren Funktionen in den führenden Industrieländern (Daten in: Pàgina 12, 12.2.1995, S. 2/3). 101

World Bank 1993, S. 44-45.

II. Argentinien

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Forschungspolitiken) verbessern kann. Der Staat muß seine Rolle im Rahmen des neuen Ordnungsmodells neu definieren: notwendig sind institutionelle Regelungsmechanismen, um über die Regeln einer Marktwirtschaft zu wachen - wie z.B. eine wirksame Antimonopol- und Kartellgesetzgebung - und um dort für Abhilfe zu sorgen, wo es Defizite gibt (z.B. Umwelt- und Verbraucherschutz). Einige Staatsunternehmen wurden privatisiert, indem man ein staatliches durch ein privates Monopol ersetzte (z.B. im Telekommunikationssektor).102 Für diese Sektoren müssen Kontroll- und Überwachungsinstitutionen geschaffen oder gestärkt werden. Das gleiche gilt für andere Bereiche, in denen Mängel auftreten (wie z.B. im Banksektor). 103 Das föderale System durchläuft eine schwere wirtschaftliche und finanzpolitische Krise, die das gesamte politische System belastet: "Während man 1983 die Demokratie wiederherstellte und 1991 zur Geldwertstabilität zurückkehrte, so muß man von heute an den wirtschaftlichen Föderalismus wiederherstellen." 104 Die finanzielle Krise der Provinzen hat verschiedene Ursachen, und es gibt keine einfache Lösung. Um das Problem zu verdeutlichen, seien einige Zahlen wiedergegeben 105 : Im Durchschnitt wendeten die Provinzen 1994 61,1 % ihrer laufenden Ausgaben für Gehälter auf - von einem Minimum von 50,1 % in Tierra de Fuego bis zu einem Maximum von 76,5 % in Formosa. Die Eigeneinnahmen der Provinzen belaufen sich auf 45,8 % ihrer Haushaltsmittel von einem Anteil von 92,9 % in der Hauptstadt Buenos Aires bis zu 8,4 % in der Provinz Catamarca. Diese Zahlen dokumentieren die Bedeutung der Überweisungen der Bundesregierung im Rahmen des Finanzausgleichs (régimen de coparticipación) für die Mehrheit der Provinzregierungen. Sechs Provinzen 102

103

Die Privatisierungen waren mehr vom Motiv beflügelt, die Staatseinnahmen zu verbessern und ausländische Investoren anzuziehen, als davon, den Konsumenten bessere Leistungen durch die privatisierten Unternehmen zukommen zu lassen. Dies ist ein Sektor, in dem in vielen lateinamerikanischen Ländern Probleme auftreten. In einem Artikel der Financial Times (17.8.1995, S. 2/3) mit dem Titel "Latin American Bank Failures" heißt es dazu: "The failure of banking supervisors to forestall widespread collapses is not suprising given the politicisation of banks in many countrie. More broadly, most governments have been unwilling or unable to establish powerful, effective and independent regulators. A s privatisation continues in Latin America, this issue will grow in importance."

104

Goldin 1995, S. 3.

105

Aus: CASH. Suplemento económico de Página 12, 9.7.1995, S. 2.

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Detlef Nolte

Río Negro, Catamarca, Córdoba, Mendoza, Jujuy und Tucumán - weisen ein Haushaltsdefizit von über 10 % ihrer laufenden Ausgaben auf und müssen rund 1 0 % ihrer Einnahmen für die Bedienung der Schulden aufwenden. 106 Das größte und am schwersten zu lösende Problem - in einer rezessiven Phase der Wirtschaft und mit schwachen Regionalökonomien - ist der hohe Anteil von Staatsbediensteten. Während der Präsidentschaft von Alfonsin (1983-1989) nahm die Zahl der Staatsbediensteten in den Provinzen von 753.000 auf 924.000 zu. 107 1995 gab es rund eine Million Staatsbedienstete in den Provinzen.

108

Dies bedeutet, daß im Durchschnitt auf 30 Einwohner ein Provinzbediensteter kommt, mit Extremen wie die Provinzen La Rioja und Catamarca, in denen auf elf Einwohner ein Angestellter der Provinz kommt. 109 Nach Schätzungen der Weltbank könnte die Zahl der Staatsbediensteten in den Provinzen auf die Hälfte reduziert werden." 0 Die ökonomischen Zwänge - Ausgabenkürzungen, Entlassungen, Gehaltskürzungen, verspätete Gehaltszahlungen etc. - führten bereits in verschiedenen Provinzen zu gewaltsamen sozialen Protesten.

4.2.

Der "periphere Realismus": ein neuer Ansatz in der argentinischen Außenpolitik

Wie in der Wirtschaftspolitik nahm die argentinische Regierung während der ersten Präsidentschaft von Carlos Menem auch in der Außenpolitik einen Kurswechsel vor. Zwischen beiden Politikbereichen besteht eine enge Verbindung. Sowohl der erste Außenminister und heutige Wirtschaftsminister, Domingo Cavallo, als auch sein Nachfolger im Außenministerium, Guido Di Telia, sind Ökonomen. Diese Tatsache (wie auch die Ernennung beider Fachleute) erklärt bereits einen Teil der Vorherrschaft wirtschaftlicher Gesichtspunkte in der 106

La Nación. Internationale Ausgabe, 27.6.1995.

107

World Bank 1993, S. 308.

108

109 110

Nach Zahlen des Zensus von 1991 gab es 1,1 Mio. Bedienstete im öffentlichen Sektor der Provinzen (nationaler öffentlicher Sektor 759.000, Gemeinden 369.000) bei einer erwerbstätigen Bevölkerung von 13,3 Mio. Personen (Torrado 1995, S. 83). CASH, 9.7.1995, S. 4. World Bank 1993, S. 137.

55

II. Argentinien

Außenpolitik. Die Außen- dient heute der Wirtschaftspolitik. Mit dieser Umorientierung seiner Außenpolitik steht Argentinien allerdings nicht allein. Auch in der Außenpolitik der USA - insbesondere im Verhältnis zu Lateinamerika 111

-

kommt der wirtschaftlichen Komponente heute größere Bedeutung zu. Das gleiche gilt für die Länder der EU, einschließlich der Bundesrepublik Deutschland." 2 Wie in der Wirtschaftspolitik bildete auch in der Außenpolitik die Erfahrung der Hyperinflation der Jahre 1989/90 den Schlüsselfaktor für den Kurswechsel, weil die außenpolitischen Optionen für die Regierung eingeschränkt wurden. Die

Dominanz

wirtschaftlicher

Interessen

verkleinert

die

argentinische

"Weltkarte" 1 1 3 : Die Außenpolitik konzentriert sich auf wenige Weltregionen, denen wirtschaftliche Bedeutung zukommt, wie die Vereinigten Staaten, die Staaten des "erweiterten" MERCOSUR (einschließlich Chiles und Boliviens), die Europäische Union, Japan, die Industrieländer Südostasiens und in der Zukunft China. Die konzeptionellen Grundlagen der neuen Außenpolitik Argentiniens lassen sich in den folgenden Prämissen zusammenfassen, die Bestandteil dessen sind, was einer der Theoretiker dieser Politik als "peripheren Realismus" oder als "Realismus der schwachen Staaten" bezeichnet hat 1 1 4 : "1. In einer liberalen Demokratie ... muß die Hauptfunktion der Außenpolitik darin bestehen, dem einzelnen Bürger zu dienen, und dies wird in der Hauptsache dadurch erreicht, daß wirtschaftliches Wachstum ermöglicht wird; 2. deshalb stellt die wirtschaftliche Entwicklung die eigentliche Definition des 'nationalen' Interesses dar, insbesondere im Fall eines Entwicklungslandes, das, wie Argentinien, mit keiner glaubhaften äußeren Bedrohung konfrontiert wird; und 3. die Vereinigten Staaten bilden die wichtigste einzelne externe Begrenzung der Außenpolitik der Staaten der lateinamerikanischen Region, und folglich

111 112

Siehe Nolte 1995. Siehe Krumwiede/Nolte 1994.

113

Russell 1994, S. 13-16.

114

Escude 1995.

Detlef Nolte

56

liegt es im besten Interesse eines Landes wie Argentinien, gute Beziehungen mit dieser Großmacht zu pflegen, immer vorausgesetzt, daß diese guten Beziehungen nicht auf Kosten der materiellen Interessen Argentiniens gehen." 115 Der neue Ansatz in der Außenpolitik versucht, Schaden zu begrenzen und die Kosten politischer Konfrontationen zu vermeiden, die in keiner Beziehung zu den materiellen Interessen des Landes stehen und in der Regel von den Bürgern im allgemeinen und weniger von den politischen Eliten, die sich in ihrer Politik irrten, zu tragen sind (deshalb definiert sich dieser Ansatz auch

als

"bürgerzentriert"). Aus dieser Perspektive rechtfertigen sich Konflikte mit Großmächten wie den Vereinigten Staaten - nach einer Kosten-Nutzen-Kalkulation - nur, wenn es sich um bedeutende Themen handelt, denen Einfluß auf die Entwicklung und das Wirtschaftswachstum des Landes zukommt. 116 Während der ersten Präsidentschaft von Menem wurde ein deutlich erkennbarer Kurswechsel im Vergleich mit der Außenpolitik der Vorgängerregierung vorgenommen, die aus der Sicht der neuen Herren im Außenministerium häufig zu "idealistisch" und "konfrontativ" gewesen war und für Argentinien Kosten ohne Nutzwert (Malvinen, Condor II, Bewegung der Blockfreien etc.) nach sich gezogen hatte. Möglicherweise hätte auch eine radikale Regierung unter den Bedingungen der Jahre 1989/90 ihr außenpolitisches Profil verändert, wahrscheinlich aber weniger radikal als die Regierung Menem. Richtig ist, daß die Unterschiede, die man zwischen der Außenpolitik der Regierungen Alfonsin und Menem feststellen kann, in engem Zusammenhang zu den Veränderungen im internationalen Umfeld und in der Innenpolitik stehen, die die Handlungsoptionen beider Regierungen einschränkten. 117 Es sei daran erinnert, daß die Ausfuhrungen von Menem im Wahlkampf zu außenpolitischen Themen unklar und widersprüchlich waren und keine Hinweise auf die zukünftige Politik enthielten. 118 Während der ersten Präsidentschaft von Carlos Menem richtete Argentinien seine Außenpolitik explizit an den USA aus und nahm eindeutig prowestliche

115

Escudé/Fontana 1995, S. 5.

116

Vgl. Escudé 1995, S. 232.

117

Russell 1994, S. 22-26.

118

Siehe Vacs 1995, S. 308-309.

II. Argentinien

57

Positionen ein (nach dem Selbstverständnis der Regierung ist Argentinien Teil der "Ersten Welt"), einschließlich einer Normalisierung der Beziehungen zu Großbritannien. So veränderte Argentinien sein Abstimmungsverhalten in internationalen Organisationen (wie den Vereinten Nationen oder der OAS), trat im September 1991 aus der Blockfreienbewegung aus, nahm an friedensstiftenden Missionen im Rahmen der VN (Kroatien, Zypern, Haiti etc.) teil 119 und entsandte als symbolischen Beitrag zwei Kriegsschiffe in den Persischen Golf, um an den Aktionen der USA und ihrer Verbündeten (unter dem Mandat der VN) gegen den Irak teilzunehmen. Zugleich beendete Präsident Menem vor dem Hintergrund der Nichtverbreitungspolitik der USA von Atomwaffen und ballistischen Trägersystemen - das Projekt einer Mittelstreckenrakete (Condor II), ratifizierte den Vertrag von Tlatelolco und den Atomwaffensperrvertrag und unterzeichnete ein Abkommen mit Brasilien, das eine wechselseitige Kontrolle der Atomenergieprogramme (unter Aufsicht der Internationalen Atomenergieagentur) vorsieht. Am meisten Kontinuität mit der Außenpolitik von Alfonsin gab es hinsichtlich der politischen und wirtschaftlichen Annäherung an Chile und im Hinblick auf die wirtschaftliche Integration mit Brasilien im Rahmen des MERCOSUR. Unbeschadet vieler Kontroversen in den vergangenen Jahren wurden Fortschritte in Richtung auf einen außenpolitischen Grundkonsens gemacht. 120 Auf mittlere Sicht scheint ein erneuter Kurswechsel in der argentinischen Außenpolitik eher unwahrscheinlich.

4.3.

Was bleibt vom Peronismus?

Ausgehend von den beschriebenen Umbrüchen in der Wirtschafts- und der Außenpolitik sowie dem Bedeutungsverlust der Gewerkschaften als ehemaligem "Rückgrat" der peronistischen Bewegung stellt sich die Frage: Was bleibt vom peronistischen Erbe in der Regierung von Carlos Menem? Bevor eine 119

120

Mitte 1995 hatte Argentinien rund 1.600 Militärs und 104 Gendarmen zu friedensstiftenden Aktionen der V N abgestellt. Nach einer anderen Berechnung stellte Argentinien im September 1994 rund 60 % der lateinamerikanischen Teilnehmer an multilateralen Friedensmissionen (Escudé/Fontana 1995, S. 9/38 Anm. 9). Russell 1994, S. 22-26.

DetlefNolte

58

Antwort gegeben wird, gilt es festzuhalten, daß es bei einer derart facettenreichen politischen Bewegung wie der peronistischen, die eine lange und widersprüchliche Geschichte aufweist, immer möglich ist, Elemente herauszufiltern, um Kontinuitätslinien zu konstruieren. Der folgende Kommentar von Floria ist äußerst zutreffend: "Es gab nicht einen Peronismus, sondern mehrere. Es gibt keinen Peronismus, sondern mehrere. Die erste Diskontinuität entspringt der Tatsache, daß Perón er und sein Umfeld waren. Und es gibt weder ihn noch das nationale und internationale Umfeld der vierziger und fünfziger Jahre." 121 Die gleichen Überlegungen lassen sich auf Menem beziehen, der die peronistische Programmatik - falls es überhaupt noch eine gab - an das Umfeld der Jahre 1989/90 anpaßte, aber zugleich den Zeitläuften seinen persönlichen Stempel aufdrückte. Der Mehrheit der Beobachter, die eine Kontinuität zwischen Perón und Menem wahrnehmen, beziehen sich mehr auf den politischen Handlungsstil als auf die politischen Inhalte. Die Kontinuität im politischen Stil und in einigen Aspekten der peronistischen Liturgie (ihres Sinnes entleert) war wichtig, um die Identifikation der Wähler mit der Partei zu konservieren. 122 Falls außerdem - wie vielfach behauptet - der politische Pragmatismus eines der charakteristischen Elemente des Peronismus darstellt, dann ist wenig programmatische Kontinuität zu erwarten. Schon Mitte der fünfziger Jahre hatte Perón seine Wirtschaftspolitik modifiziert und eine Annäherung an die Vereinigten Staaten gesucht. Auch die zweite peronistische Regierung (1973-1976) wies im Vergleich mit der peronistischen Politik der vierziger Jahre unterschiedliche Züge auf. 123 Die vielleicht beste Charakterisierung der spezifischen Züge des Menemismus und der Kontinuitätslinien mit dem traditionellen Peronismus bieten Carlos Floria bzw. Juan Carlos Portantiero:

121

Floria 1995, S. 183.

122

Portantiero 1995, S. 106-107; Sidicaro 1995, S. 129-130.

123

Auch hatte sich die soziale Wählerbasis bei der Rückkehr Peröns aus dem Exil 1973 erstmals verbreitert. In der damaligen politischen Konstellation stimmten große Sektoren der Mittelschichten und einzelne Gruppen der Oberschicht für Perön, der als nationaler Friedensstifter angesehen wurde (Waldmann 1992, S. 19).

II. Argentinien -

59

"der Menemismus ist eine Fortsetzung der starken Tradition, die aus meiner Sicht Perón und der Peronismus als eine Form des Konservatismus mit Rückhalt in den Unterschichten (conservadorismo popular) ausdrückten. Er hält eine pragmatische Art der Führung aufrecht, mit einem Sinn für sich bietende Gelegenheiten bis zum Extrem des Opportunismus, mit einer machiavellistischen Sichtweise der Macht. Er konserviert die 'inkorporierende' Fähigkeit des traditionellen Peronismus und seine Tendenz, sich in eine 'dominierende' Partei mit hegemonialen Neigungen zu verwandeln." 124

-

"der konservative Populismus von Menem ist nichts anderes als eine Fortsetzung des klassischen Peronismus, was sein Verhältnis zu den politischen Institutionen und sein pragmatisches Vermächtnis, Politik zu betreiben, betrifft. Er ist verwachsen mit dezisionistischen Formen der Machtausübung und feindlich gegenüber dem demokratisch republikanischen Stil."125

Menem selbst sieht die programmatischen Veränderungen im Peronismus eher gelassen und pragmatisch. Erst jüngst bezeichnete er sich in einem Interview mit der spanischen Presse einmal mehr als "Schüler von Perón, wenn auch selbstverständlich auf den neuesten Stand gebracht." 126 Es handelt sich um eine postmoderne Form des Peronismus - nach dem Motto, daß alle Kombinationen von Stilformen erlaubt sind und die Form mehr als der Inhalt zählt - , bei der die für Argentinien neuartige Architektur des Wirtschaftsliberalismus mit traditionellen Stilelementen der peronistischen Bewegung verziert und gleichzeitig auf Teile des wirtschaftpolitischen Fundamentes der vorperonistischen Ära zurückgegriffen wurde.

5.

Politische Institutionen: Kontinuität und Wandel

5.1.

Das politische System Argentiniens: "Hyperpräsidentialismus" und "präsidentieller Dezisionismus"

Jede Analyse der politischen Institutionen in Argentinien und ihrer Funktionsweise in der ersten Hälfte der neunziger Jahre muß drei Aspekte berücksichti124

Floria 1995, S. 184.

125

Portantiero 1995, S. 107.

126

Página 12, 15.12.1995, S. 10.

Detlef Nolte

60

gen: die institutionelle Ordnung, den politischen Stil von Menem und die wirtschaftliche Krise der Jahre 1989/1990. Zu Beginn der neunziger Jahre hatte Nino das politische System Argentiniens als ein "hyperpräsidentialistisches System" oder als "absolut hypertrophierten Präsidentialismus" bezeichnet. 127 In den vergangenen Jahren haben sich kritische Kommentare hinsichtlich der Funktionsweise des Präsidialsystems auf zwei Themen konzentriert: die "Notverordnungen" (decretos de necesidad y urgencia) und das präsidentielle Vetorecht. Nach den Ergebnissen einer kürzlich veröffentlichten Studie hat Präsident Menem gegen 109 oder 13 % der 835 Gesetze, die während seiner ersten Präsidentschaft vom Kongreß verabschiedet worden waren, sein Veto eingelegt (Alfonsin 49/8%). 1 2 8

Von diesen Vetos waren 61 (56%)

Teilvetos 129

(Alfonsin 12/25 %). 30 dieser Teilvetos bezogen sich auf Gesetze, die von der Exekutive eingebracht worden waren. 60 % aller Gesetze, die mit einem Veto belegt wurden, waren von der Regierungspartei oder unter Beteiligung der Regierungspartei initiiert worden. 130 Während der Präsidentschaft von Alfonsin wurde nur ein Veto durch den Kongreß (mit einer 2/3-Mehrheit in beiden Kammern) überstimmt, unter Menem war dies bei zehn Vetos der Fall. Nach den Folgerungen von Mustapic/Ferretti "hat im Hinblick auf die Beziehungen zwischen Exekutive und Kongreß ... die Konfliktivität zwischen beiden Staatsgewalten während der Präsidentschaft von Menem zugenommen." 131 Eine genaue Analyse der Vetos (Gesetzesinhalte, Begründung der Vetos, Initiatoren der Gesetze etc.) während der ersten Präsidentschaft von Menem zeigt, daß die Vetos dazu benutzt wurden, die Kontroll- und Gesetzgebungskompetenzen des Kongresses einzuschränken. 132 Bei dieser Strategie spielten die Teilvetos des Präsidenten gegen von ihm initiierte und im Gesetzgebungsprozeß modifizierte Gesetze eine wichtige Rolle. Sie hatten die Funktion, die ihnen 127 11«

129

Nino 1992a, S. 504/523. Mustapic/Ferretti 1995. Bei einem Teilveto (oder line-item veto in den USA) lehnt der Präsident nur einen

130 131

132

Teil einer Gesetzesvorlage ab und setzt den Rest in Kraft. Mustapic/Ferretti 1995, S. 13. Ebda., S. 2.

CLJ Ebda.

II. Argentinien

61

von Sartori zugeschrieben wird: "The partial veto ... is ... very much an active power. The partial veto allows a president to carve into a bill with partial deletions, by cancelling Single provisions - and this is an active remaking of that bill." 133 In einigen Fällen hat Präsident Menem zudem in einem verfassungsmäßig zweifelhaften Manöver die Veröffentlichung von bereits verabschiedeten Gesetzen verzögert 134 - eine Praxis, die sich dem amerikanischen "pocket veto" annähert. Mehr als an den präsidentiellen Vetos hat sich die Kritik am Regierungsstil Präsident Menems am "Dekretismus" (decretismo) entzündet, der sich auf den "excessive use, and indeed abuse, of legislating by decree" 135 bezieht. Dabei konnte sich Präsident Menem einerseits auf seine Stellung als oberster Verwaltungschef (Rationalierungsmaßnahmen im öffentlichen Sektor) oder seine Kompetenz berufen, Durchfuhrungsbestimmungen zu Gesetzen zu erlassen. Andererseits hatte ihm der Kongreß über Ermächtigungsgesetze zeitlich und inhaltlich begrenzt das Recht eingeräumt, Dekrete mit Gesetzeskraft zu erlassen. So wurden im August und im September 1989 mit dem "Staatsreformgesetz" und dem "Gesetz über den wirtschaftlichen Notstand" der Handlungsspielraum der Exekutive in der Wirtschaftspolitik, bei den öffentlichen Ausgaben und hinsichtlich der Privatisierung von Staatsunternehmen erweitert. Auf dieser Grundlage konnten geltende Gesetze modifiziert werden, ohne daß der Kongreß im Einzelfall diesen Veränderungen zustimmen mußte. Nach dem wirtschaftlichen Einbruch 1995, als das BIP um -4,4 % zurückging, suchte die Regierung zum Anfang 1996 erneut um die Delegierung gesetzgeberischer Kompetenzen durch das Parlament nach. Die umstrittenste präsidentielle Befugnis sind die "Notverordnungen" (decretos de necesidad y urgencia). Es handelt sich - nach einem Kommentar - um "von der Exekutive verabschiedete Normen, aufgrund derer Maßnahmen ergriffen werden, die normalerweise ein vom Kongreß verabschiedetes Gesetz voraussetzen. Indem er Notverordnungen verabschiedet wird der Präsident 'gesetzgeberisch' tätig, er übt Funktionen des Kongresses aus, modifiziert oder widerruft Gesetze oder verabschiedet Normen, denen Gesetzeskraft zukommt. Bei den 133

H4

Sartori 1994, S. 162. Mustapic/Ferretti 1995, S. 18-19.

135

Sartori 1994, S. 1 7 1 , A n m . 4 .

62

Detlef Nolte

Notverordnungen handelt es sich um Normen, die in der Regel in Ausnahmesituationen oder Notsituationen verabschiedet werden." 136 In der Praxis wurde auf dieses Verfahren zurückgegriffen, um auch politisch marginale Angelegenheiten zu regeln und den Gesetzgebungsprozeß zu ersetzen. Es handelte sich um "eine Politik des fait accompli" 137 , die die Gewaltenteilung mißachtete und politische Kontrollen weitgehend ausschaltete. Nach den Ergebnissen einer häufig zitierten und kommentierten Studie "griffen in den 130 Jahren zwischen 1853 und dem Beginn der Präsidentschaft von Alfonsin im Jahr 1983 die verfassungsmäßigen Regierungen nur bei 20 Gelegenheiten auf Notverordnungen zurück. ... Die Regierung Alfonsin (Dezember 1983 bis Juli 1989) erließ zehn Notverordnungen ... Zwischen Juli 1989 und Dezember 1993 verabschiedete Präsident Menem 308 Notverordnungen." 138 Die Ausweitung der gesetzgeberischen Macht des Präsidenten korrelierte mit der Willens- und Entscheidungsschwäche auf Seiten des Kongresses, dieser Kompetenzausweitung entgegenzuwirken und wichtige politische Themen konstruktiv und schnell anzugehen. Von den 308 "Notverordnungen" wurden gerade 28 (9 %) vom Kongreß per Gesetz ratifiziert.139 Drei (1 %) wurden vom Kongreß als Ganzes oder in Teilen aufgehoben.

140

Die zurückhaltende Reakti-

on des Kongresses auf die "Notverordnungen" scheinen den generellen Kommentar von Sartori für den argentinischen Fall zu bestätigen: "decretismo is ... a dysfunctional response of, or to, non-fiinctioning systems."141 Bei aller Kritik,

136

Ferreira/Goretti 1995b, S. 77.

137

Ferreira/Goretti 1994, S. 6.

138

139

140 141

Ferrera/Goretti 1994, S. 4. Nur 159 von 308 Notverordnungen wurden von der Exekutive als solche anerkannt. Aus diesem Grund gibt es Einwände gegen die von Ferreira/Goretti (1994) errechnete Zahl der Notverordnungen. So akzeptiert beispielsweise Molinelli (1995, S. 9) nur die erwähnten "offiziellen" 159 Notverordnungen als echte Notverordnungen, aber er stellt nicht die Interpretation des Mißbrauchs dieses Instruments in Frage. Nach einer anderen Quelle unterzeichnete Präsident Menem während seiner gesamten ersten Amtsperiode insgesamt 250 Notverordnungen (darin, 9.7.1995, S. 12). Palermo (1995, S. 102-103) interpretiert die Weigerung, die Gültigkeit der Notverordnungen per Gesetz zu bestätigen, als eine in gewissem Umfang wirkungsvolle Abwehrstrategie des Kongresses. Ferreira/Goretti 1994, S. 6. Sartori 1994, S. 164.

II. Argentinien

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die gegen die Konzentration von Entscheidungsmacht im Präsidentenamt vorgebracht werden kann, gilt es festzustellen, daß dieser Prozeß in der schwierigen wirtschaftlichen und politischen Konstellation der Jahre 1989-91 der politischen Notwendigkeit entsprach, Handlungsfähigkeit der Regierung zu beweisen, um die Legimitation des politischen Systems zu stärken.142 Danach hat sich diese Entscheidungsstruktur, die für eine Ausnahmesituation gerechtfertigt sein mag, aber verfestigt und verselbständigt. Mit der Zentralisierung politischer Entscheidungskompetenzen in der Exekutive als Reaktion auf die wirtschaftliche Krise und als Voraussetzung für wirtschaftliche Reformen ist Argentinien kein Einzelfall in Lateinamerika. In einer vergleichenden Studie über die wirtschaftlichen Reformpolitiken in acht lateinamerikanischen Ländern verweist Philip auf die Bedeutung zentralisierter politischer Institutionen für den Erfolg dieser Politiken. Dazu gehört die Fähigkeit der Präsidenten, die Reformen per Dekret statt durch Gesetze, die von der Legislative verabschiedet werden, durchzusetzen. Philip kommt zu dem provozierenden Ergebnis: "When looking at these eight countries, there is a simple and effective correlation between presidential dominance of the political system and effective neoliberal policymaking." 143

5.2. Der schwierige Weg zu einer Verfassungsreform 1994 wurde die argentinische Verfassung reformiert. Die neue Verfassung trat am 24. August 1994 in Kraft. Wie kam es zu dieser Verfassungsreform? Welche Auswirkungen hatte sie im Hinblick auf einige der zuvor angesprochenen Themen? Bereits während der Präsidentschaft von Alfonsin gab es Initiativen und Expertengespräche (im Rahmen des "Consejo para la Consolidación de la Democracia") über eine Verfassungsreform, einschließlich Verhandlungen zwischen der Radikalen und der Peronistischen Partei. Veränderungen in der politischen Konstellation und die Dominanz anderer - wirtschaftlicher - Themen führten dazu, daß der Reformprozeß nicht vorankam. Während der Präsident-

142

Palermo 1995, S. 108-109.

143

Philip 1993, S. 568.

64

Detlef Nolte

schaft von Menem waren die Initiativen zu einer Verfassungsreform aufs engste mit dem Interesse des Präsidenten verknüpft, die Voraussetzungen für seine Wiederwahl zu schaffen. Ohne dieses Motiv wäre die Verfassungsreform sicherlich nicht zustande gekommen. Bereits zu Beginn seiner Präsidentschaft brachte Menem das Thema in die Diskussion ein. Aus taktischen Gründen negierte er von Zeit zu Zeit sein Interesse an einer Wiederwahl, um das Thema später wieder aufzugreifen. Als ersten Schritt auf dem Weg zu einer Verfassungsreform mußten beide Kammern des Kongresses mit 2/3-Mehrheit den Reformbedarf feststellen und die Themen festlegen, über die von einer noch zu wählenden Verfassunggebenden Versammlung debattiert und entschieden werden sollte. Da ihr die notwendige 2/3-Mehrheit fehlte, war die Peronistische Partei auf die Unterstützung der Radikalen Partei angewiesen. Nach dem deutlichen Sieg der Peronisten bei den Parlaments(teil)wahlen im Oktober 1993 - als sie 43,1 % der Stimmen auf sich ziehen konnten - kündigte Präsident Menem für Ende November ein Plebiszit über das Ziel der Verfassungsreform an. Dies war eine deutliche Drohung, notfalls die Verfassung zu umgehen. Gleichzeitig erreichten die Peronisten im Senat mit der Unterstützung kleinerer Parteien die notwendige 2/3-Mehrheit, um den Reformbedarf festzustellen. In dieser schwierigen und angespannten Situation trafen sich Anfang November Präsident Menem und sein Amtsvorgänger Alfonsin zu Geheimgesprächen, um nach einer Konsenslösung im Hinblick auf die Verfassungsreform zu suchen. Die Verhandlungen wurden am 14. November mit dem sogenannten "Pakt von Olivos" (benannt nach der Residenz des argentinischen Präsidenten) erfolgreich abgeschlossen und die Themen für die Verfassungsreform festgelegt. Ende 1993 stimmten beide Kammern des Kongresses dem Verhandlungsergebnis zu und schrieben Wahlen zu einer Verfassunggebenden Versammlung aus, die dann am 10. April 1994 gewählt wurde. Der "Pakt von Olivos" war sowohl wegen seines Inhaltes als auch wegen der gewählten Vorgehensweise von Geheimgesprächen zweier "ParteifUrsten" umstritten. In Teilen der öffentlichen Meinung wie auch in der Radikalen Partei regte sich heftiger Widerstand gegen die Reformen. Als Nebenprodukt des Paktes spielte Alfonsin erneut eine Hauptrolle in der Radikalen Partei und in

II. Argentinien

65

der nationalen Politik nach seinem wenig ehrenvollen Abgang aus dem Präsidentenamt. Alfonsin (1994) verteidigte den "Pakt von Olivos" als Beitrag zur Konsolidierung der Demokratie (weil er unilaterale Maßnahmen der Regierungspartei verhinderte) und als das Beste, was in einer für die Radikale Partei ungünstigen politischen Konstellation zu erreichen war. Viele Beobachter teilen diese Meinung. Liliana de Riz verweist darauf, daß es in einem Land mit der politischen und kulturellen Tradition Argentiniens schon einen Fortschritt bedeute, falls es zu Verhandlungen über den Inhalt von Verfassungsreformen und zu politischen Vereinbarungen kommt - unbeschadet der Eigeninteressen der beteiligten Akteure. Zudem wurde eine gefährliche Konfrontations- und Blokkadekonstellation vermieden. 144 Die Wähler bestraften beide Unterzeichner des "Paktes von Olivos". Bei den Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung erzielte die Peronistische Partei mit 37,7 % ihr schlechtestes Ergebnis seit 1983, die Radikale Partei verlor 10 Prozentpunkte (!) im Vergleich zu den letzten Parlamentswahlen vom Oktober 1993 und kam nur noch auf 19,8 %. Stimmen hinzu gewannen kleinere Regionalparteien, der rechtspopulistische MODIN (9,2 %) und der linke Frente Grande (12,6 %). Die Wahlbeteiligung war mit 76 % für argentinische Verhältnisse niedrig. Nach häufig interessanten und fruchtbaren Debatten in der Verfassunggebenden Versammlung wurde der Text der reformierten Verfassung am 2. August 1995 einstimmig angenommen. Damit verfügt die neue Verfassung über ein hohes Ausmaß an Legitimität. Der Kern (nucleo bäsico) des "Paktes von Olivos" wurde nicht verändert 145 , aber bei anderen Themen waren die Parteifron-

144

145

De Riz 1994b. "The political pact, which emerged from the presidential ambition to remain in power and the impotence of the opposition, meant, first and foremost, an end to the situation of confrontation between a government which was obsessed with obtaining reelection and an opposition that lacked any other goal than to block it." (De Riz 1995a, S. 9). Im "Pakt von Olivos" gab es einen Kern grundsätzlicher Vereinbarungen, der u.a. Regelungen wie die Ermöglichung der Wiederwahl, die Direktwahl mit Stichwahl des Präsidenten, das neue Amt eines Kabinettchefs, drei (statt bisher zwei) Senatoren für jede Provinz und die Wahl (statt Ernennung durch den Präsidenten) des Bürgermeisters (intendente) von Buenos Aires enthielt. Über dieses Paket von Vereinbarungen durfte nur als Ganzes abgestimmt werden. Zugleich war es der Ver-

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ten weniger starr und die Abstimmungsergebnisse über verschiedene Verfassungsartikel häufig nicht voraussehbar. 146 Es ist unbestreitbar, daß der Verfassungstext umfassend modernisiert wurde (z.B. hinsichtlich der Rolle der Parteien). Häufig hat der neue Text bereits vorhandene politische Praktiken bestätigt (wie das System des Finanzausgleichs zwischen der Zentralregierung und den Provinzen). Auf der Grundlage der neuen Verfassung lassen sich weitreichende Reformen legitimieren. Nach einem Kommentar kann die neue Verfassung als "Verfassung Alfonsins" bezeichnet werden, weil der Ex-Präsident einerseits eine zentrale Rolle auf dem Weg zur Verfassungsreform spielte ("Pakt von Olivos") und zugleich auch entscheidend auf die Beratungen der Verfassunggebenden Versammlung einwirkte.147 Andererseits enthält die Verfassung - sieht man von der Klausel ab, die die Wiederwahl Menems ermöglicht - Anliegen Alfonsins, einige durch die Notwendigkeit der Kompromißfindung mit der Peronistischen Partei allerdings nur in verwässerter Form. Ein Jahr nach der Verabschiedung der neuen Verfassung, d.h. im August 1995, zeigten sich allerdings schwerwiegende Defizite in der Verfassungspraxis, weil die Mehrzahl der Gesetze zur Umsetzung der neuen Verfassungsbestimmungen noch nicht verabschiedet waren. Nach einer journalistischen Analyse war bis zu diesem Zeitpunkt von den 23 notwendigen Ausführungsgesetzen der reformierten Verfassung erst eines von beiden Kammern verabschiedet worden, mit dem das Wahlrecht modifiziert wurde, um die Stichwahl bei den Präsidentschaftswahlen zu regeln. 148 Bis Mai 1996 wurden drei weitere Ausfuhrungsgesetze

146

147 148

fassungsgebenden Versammlung erlaubt, über weitere Themen zu diskutieren und offen zu entscheiden. Es bestand Ubereinstimmung darüber, den "dogmatischen Teil" (Artikel 1 bis 35) nicht zu modifizieren, aber diesen Teil um neue Rechte und Garantien zu ergänzen (Artikel 36 bis 43), die zweifellos die Menschen- und Bürgerrechte stärken. Zu erwähnen sind der Verbraucherschutz (Art. 42) - u.a. gegen Marktverzerrungen und Monopole - , der Umweltschutz (Art. 41) und die politische Chancengleicheit von Männern und Frauen, die durch Positivmaßnahmen gefördert werden soll (Art. 37). Außerdem wurden Elemente der direkten Demokratie eingeführt, wie das Volksbegehren (Art. 39) und der bindende oder nicht-bindende Volksentscheid (Art. 40). Molinelli 1995, S. 12, Anm. 7. Clarin, 14.8.1995, S. 11.

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verabschiedet. 149 Aus diesem Grund ist die neue Verfassung auch die Verfassung von Menem, der seine Kompetenzen zur Gestaltung der Verfassungspraxis ausschöpft, in dem er seinen Interessen Vorrang gibt und andere Themen verschleppt (wie z.B. die nach der Verfassung vorgeschriebene Direktwahl des Bürgermeisters von Buenos Aires). Es gibt Verfassungsrechtler, die die These vertreten - darauf verweist Smulovitz 150 - , die neue Verfassung sei erst noch im Entstehen.

5.3. Das Thema der Wiederwahl Die Modalitäten der Wahl des Präsidenten wurden in wichtigen Aspekten modifiziert. Einerseits wurden einige anachronistische Bestimmungen ersetzt. Die Voraussetzung der Zugehörigkeit zur katholischen Glaubensgemeinschaft wurde gestrichen und die indirekte Wahl durch ein Wahlmännergremium oder den Kongreß ersetzt. Der Präsident wird jetzt direkt vom Volk gewählt. Falls im ersten Wahlgang kein Kandidat mehr als 45 % der gültigen Stimmen erreicht oder der Sieger im ersten Wahlgang nicht mindestens 40 % der Stimmen erreicht und gleichzeitig 10 Prozentpunkte vor dem zweitstärksten Kandidaten liegt, kommt es zwischen beiden zu einer Stichwahl. Es handelt sich hierbei um eine Regelung, die in der politischen Konjunktur der neunziger Jahre die Peronisrische Partei begünstigt, die seit 1987 bei allen Parlaments(teil-)wahlen - mit Ausnahme der Wahl zur Verfassunggebenden Versammlung im April 1994 immer zwischen 41 % und 46 % der Wählerstimmen auf sich ziehen konnte. Die wichtigste und umstrittenste Veränderung war die Verkürzung der Amtszeit des Präsidenten von sechs auf vier Jahre, mit der Möglichkeit der direkten Wiederwahl für eine weitere Periode. Nach zwei konsekutiven Amtsperioden kann sich ein ausscheidender Präsident erst nach Ablauf der nachfolgenden Präsidentschaftsperiode erneut zur Wahl stellen. Es gibt viele Kritiker dieser Reform 151 , weil sie aus ihrer Sicht den Personalismus, autokratische Tendenzen, die Verewigung an der Macht begünstige und die Demokratie gefährde. Außerdem stelle sie eine Abweichung vom Grundprinzip der Nichtwiederwahl 149

Clarin, 14.5.1996, S. 9.

150

Smulovitz 1995b, S. 85.

151

Siehe z.B. Sabsay/Onaindia 1994, S. 271-278.

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68

dar, das in der Mehrheit der lateinamerikanischen Verfassungen festgeschrieben sei. Sieht man von der Problematik einer Verfassungsreform ab, die den aktuellen Amtsinhaber begünstigt, neigt der Verfasser eher der Position der Befürworter einer Wiederwahlmöglichkeit zu. Als Richtlinie bei der Bewertung dieser Verfassungsreform können dabei die Überlegungen von Sartori dienen: "How can constitutional mechanisms promote good government and obstruct bad government?". 152 In bezug auf die Diskussion über die Wiederwahl oder NichtWiederwahl (nach der Verfassung) in Präsidialsystemen fuhrt er aus: Falls nicht ein reales Risiko autoritärer Rückschritte bestehe, "the winning argument becomes ... that any office deprived of rewards, o f ' d o well' incentives, is a wrongly conceived office." 153 Ohne tatsächliche Erfolge in der Wirtschaftspolitik wäre das Thema der Wiederwahl sicherlich nicht mit dem gleichen Nachdruck von Menem verfolgt worden. Das Votum für eine zweite Amtsperiode Menems war die Belohnung für die wirtschaftspolitischen Erfolge, die bis zu diesem Zeitpunkt zu verzeichnen waren. Außerdem war die Möglichkeit der Wiederwahl ein politischer und wirtschaftlicher Stabilisierungsfaktor. Andernfalls wären in der Peronistischen Partei und in der Regierung möglicherweise "internas salvajes" 154 um die Präsidentschaftsnachfolge entbrannt, die den Erfolg und die Kontinuität des Wirtschaftsprogramms gefährdet hätten.

5.4.

Ein semipräsidentielles System?

Eine der Neuerungen der reformierten Verfassung ist das Amt des Kabinettschefs (jefe de gabinete de ministros), das mit dem Ziel geschaffen wurde, "die Funktionen im Inneren der Exekutive zu dezentralisieren und das Handeln des Präsidenten zu kontrollieren ..., um den Präsidentialismus abzuschwächen." 155 Es stellt sich die Frage, ob diese Reform zu einem qualitativen Wandel des politischen Systems von einem Präsidial- zu einem semipräsidentiellen System gefuhrt haben. 152

Sartori 1994, S. 154.

153

Sartori 1994, S. 176.

154

De Riz 1994b.

155

Sabsay/Onaindia 1994, S. 334.

II. Argentinien

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Das zentrale Kennzeichen eines semipräsidentiellen Systems 156 besteht in der Existenz einer dualen Machtstruktur, mit einer Machtteilung zwischen zwei Akteuren: dem Präsidenten und dem Regierungschef. Nach diesem Kriterium ist das politische System Argentiniens kein semipräsidentielles System. Der Präsident figuriert in der Verfassung (Art. 99. 1.) als "Regierungschef' (jefe de gobiemo), und "er allein ernennt und entläßt den Kabinettschef und die anderen Minister" (Art. 99. 7.). Der Kabinettschef kann außerdem "mit der absoluten Mehrheit der Mitglieder in beiden Kammern abgelöst werden" (Art. 110). Nach einem Kommentar zur neuen Verfassung "ist der Kabinettschef in letzter Instanz ein weiterer Minister, und unabhängig vom Umfang seiner Kompetenzen besteht eine kategorische und absolute Abhängigkeit vom Willen des Präsidenten, auf die gleiche Weise wie bei den übrigen Ministern." 157 In der augenblicklichen politischen Konjunktur (und auf mittlere Sicht) ist das argentinische politische System kein semipräsidentielles System, aber es sind andere politische Konstellationen vorstellbar mit einem schwachen Präsidenten, der mit einer oppositionellen Mehrheit im Parlament konfrontiert ist. Dann könnte möglicherweise das Präsidialsystem durch semipräsidentielle Elemente

156

Sartori (1994, S. 132) nennt die folgenden Merkmale eines semipräsidentiellen Systems: "i) The head of state (president) is elected by popular vote - either directly or indirectly - for a fixed term of office. ii) The head of state shares the executive power with a prime minister, thus entering a dual authority structure whose three defining criteria are: iii) The president is independent from parliament, but is not entitled to govern alone or directly and therefore his will must be conveyed and processed via his government. iv) Conversely, the prime minister and his cabinet are president-independent in that they are parliament-dependent: they are subject to either parliamentary confidence or no-confidence (or both), and in either case need the support of a parliamentary majority. v) The dual authority structure of semi-presidentialism allows for different balances and also for shifting prevalences of power within the executive, under the strict condition that the 'autonomy potential' of each component unit of the executive does subsist."

157

Sabsay/Onaindia 1994, S. 335. Im Verhältnis zu den anderen Ministern kommt dem Kabinettschef nur eine Koordinierungsfunktion zu. Der Präsident ernennt und entläßt sie ohne Einschaltung des Kabinettschefs (Ferreira/Goretti 1995a, S. 30).

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70

modifiziert werden. 158 Dies würde vom Willen des Präsidenten abhängen, Kompetenzen an den Kabinettschef abzutreten.

5.5. Das Gewicht des Kongresses Unbeschadet der Dominanz des Präsidenten wäre der Eindruck falsch, daß der Kongreß machtlos ist.159 Nach einer empirischen Studie hatten im Zeitraum von 1989 bis 1996 nur 46 % der vom Kongreß verabschiedeten Gesetze ihren Ausgang in der Exekutive. Zwischen Mai 1992 und Dezember 1994 wurden 58 % der wichtigsten Gesetze von der Exekutive eingebracht. Läßt man aber die internationalen Abkommen außer acht, so wurden nur 29 % der verabschiedeten wichtigen Gesetze vom Präsidenten initiiert, und von diesen wurde wiederum über die Hälfte (!) im Gesetzgebungsverfahren modifiziert. 160 In den vergangenen Jahren kam es, wie bereits erwähnt, zu einer Erweiterung der präsidentiellen Kompetenzen im Gesetzgebungsprozeß durch den extensiven Gebrauch von Teilvetos (die in der neuen Verfassung verankert wurden, Art. 80) und - wichtiger noch - durch die Notverordnungen, die als politisches Instrument während der Präsidentschaft von Alfonsin in Gebrauch kamen, während der ersten Präsidentschaft von Menem in ausufernder Weise zur Umgehung der ordentlichen Gesetzgebung eingesetzt wurden und schließlich Eingang in die neue Verfassung fanden (Art. 99. 3).161 Genauso wurde die Dele158

Hierzu skeptisch Serrafero 1995.

159

160 161

Zur Rolle des Kongresses während der Präsidentschaft von Alfonsin siehe Goretti/ Mustapic 1993; De Riz 1994c. Molinelli 1995, S. 3-4. Wenn auch die Verankerung der Notverordnungen in der Verfassung in gewisser Weise eine politische Praxis absegnet (als Teil der gelebten Verfassung), gibt es Kommentare, die darin eine Stärkung dieses Instruments und der Macht des Präsidenten sehen (Sabsay/Onaindia 1994, S. 299; Ferreira/Goretti 1995b, S. 89). Der Verfassungstext schränkt den Gebrauch von Notverordnungen formal ein. Der Präsident kann keine Notverordnung erlassen, "die Gegenstände des Strafrechts, des Steuersystems, des Wahlrechts und das System der politischen Parteien" betreffen. Außerdem wird über die Notverordnungen mit Zustimmung der Minister entschieden, die sie zusammen mit dem Kabinettschef gegenzeichnen müssen. Die Kontrollmöglichkeiten des Kongresses wurden erweitert. Aber es fehlt ein Gesetz, das diese Kompetenzen regelt. Ausgehend von der vorherigen Praxis - ohne verfassungsrechtliche Absicherung - des Rückgriffs auf Notverordnungen und der

II. Argentinien

71

gierung von gesetzgeberischen Kompetenzen durch den Kongreß in der Verfassung verankert (Art. 76). Nach Molinelli 162 hat der Kongreß nach der reformierten Verfassung mehr Einfluß bei nichtlegislativen Angelegenheiten (z.B. bei Emennungen) und weniger Einfluß im Gesetzgebungsprozeß selbst, vor allem, weil die Notverordnungen und das Teilveto heute in der Verfassung verankert sind. Insofern scheint das Urteil zutreffend zu sein, wonach die reformierte Verfassung nicht zu dem im "Pakt von Olivos" ausgedrückten Ziel beigetragen hat, die Machtfülle des Präsidenten einzuschränken. 163 In gewisser Weise ratifiziert die neue Verfassung eine in der politischen Klasse und unter Juristen (Verfassungsrechtlern) vorherrschende Prädisposition, für eine stärkere Konzentration von Macht in der Exekutive einzutreten. 164 Die neue Verfassung spiegelt auch die öffentliche Meinung wider, in der normalerweise die Exekutive sehr viel positiver als der Kongreß bewertet wird. 165

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Möglichkeiten hinsichtlich einer Interpretation der Verfassung scheint Skepsis in bezug auf die tatsächlichen Auswirkungen der erwähnten Einschränkungen gerechtfertigt (Molinelli 1995, S. 12-13). 162

Molinelli 1995, S. 14.

163

Ferreira/Goretti 1995a, S. 83-86.

164

Molinelli 1995, S. 9-11.

165

Siehe z.B. die bei Lhoest (1995, S. 159) wiedergegebenen Umfrageergebnisse.

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II. Bolivien

Wilhelm Hofmeister

Bolivien: Die Reform der Revolution

Bolivien erlebt seit 1985 einen tiefgreifenden wirtschaftlichen und politischen Transformationsprozeß, der mittlerweile eine beachtliche Konsistenz erreicht hat. Das bedeutet zwar nicht, daß damit die Transformation zur Demokratie und die Konsolidierung des demokratischen Systems schon erreicht sind. Dazu bedarf es eines größeren Zeitraumes. Doch die Entwicklungen und Veränderungen der letzten Jahre haben insgesamt eine bemerkenswerte Festigung demokratischer Verhältnisse gefördert. Die wichtigsten Aspekte dieses Transformationssprozesses sind: -

die Initiierung eines umfassenden wirtschaftlichen Strukturanpassungsprozesses, der 1985 begann und seither wiederholt bestätigt wurde, aber immer noch nicht zu einem "Endpunkt" im Sinne der Errichtung oder gar Konsolidierung einer neuen Wirtschaftsordnung mit befriedigenden ökonomischen und sozialen Resultaten gekommen wäre;

-

der Bedeutungsrückgang der traditionellen antisystemischen Kräfte und insbesondere der Gewerkschaften, der allerdings mit dem Aufstieg neuer politischer Kräfte verbunden ist, deren systemstützende oder destabilisierende Wirkung bislang nur schwer einzuschätzen ist;

-

der Bedeutungszuwachs der politischen Parteien als den wichtigsten Institutionen der politischen Interessenvertretung und der Besetzung von Herrschaftspositionen, auch wenn die Parteien intern, hinsichtlich ihrer Funktion im politischen System und in ihrem Verhältnis zur Gesellschaft noch eine ganze Reihe von Defiziten aufweisen, welche die politische Entwicklung belasten;

-

die dreimaligen demokratischen Regierungswechsel (1985, 1989, 1993), was es seit der Unabhängigkeit noch nicht gegeben hatte;

-

die Verständigung auf neue Muster der Konsensbildung, des politischen Wettbewerbs und politischen Interessenausgleichs, was insbesondere in

Wilhelm Hofmeister

82

der Fähigkeit zur Bildung dauerhafter Regierungsbündnisse zum Ausdruck kommt; -

der breite Konsens für die Durchführung wichtiger institutioneller Reformen zur Modernisierung von politischem System, Staat, Wirtschaft und Gesellschaft und das Festhalten an einzelnen Reformprojekten auch über Regierungswechsel hinweg;

-

die weitgehende Unterwerfung der Militärs unter eine zivile Kontrolle und ihre Integration in den demokratischen Staat.

Das alles vollzog und vollzieht sich innerhalb weiterhin äußerst schwieriger wirtschaftlicher und sozialer Rahmenbedingungen. Bolivien ist nach wie vor neben Haiti das ärmste Land des amerikanischen Kontinents. Zudem werden sowohl die innenpolitische Entwicklung als auch die für das Land so ungemein wichtigen Außenbeziehungen zusätzlich belastet von einem Problem sui generis, dem Koka-/Kokainsektor. Angesichts der durchaus positiven Entwicklungen im politischen und der Defizite im sozioökonomischen Bereich ergeben sich eine Reihe von Fragen im Hinblick auf den Systemwandel des vergangenen Jahrzehnts: ist der Wandel so tiefgreifend, daß ein Rückfall in traditionelle und/oder andere antidemokratische Muster verhindert werden kann? Welche Elemente des Wandels sind auszumachen, die den Prozeß der Systemtransformation weiter stützen und stabilisieren können? Welche Reformen wurden durchgeführt, um den Wandel zu institutionalisieren? Welche Maßnahmen erscheinen in der Zukunft als sinnvoll und notwendig, um den Transformationsprozeß weiter voranzubringen? Wie können solche Reformen im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit gefördert werden? Auf diese Fragen wird im folgenden eine Antwort gesucht. Zunächst aber ist es unverzichtbar, noch einmal die wichtigsten Aspekte der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung des Landes in Erinnerung zu rufen. Denn die Ausgangsbedingungen und die tatsächliche Dimension des Wandels werden erst deutlich vor dem Hintergrund der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung, welche seit 1952 ganz im Zeichen der "nationalen Revolution" stand.

II. Bolivien

83

1.

Politische Entwicklung, Tradition und Kultur

1.1.

Bolivien im Zeichen der unvollendeten "nationalen" Revolution

Bolivien galt lange Zeit als das politisch instabilste Land des amerikanischen Kontinents. Mehr als 200 Putsche und gewaltsame Regierungswechsel waren bis dahin seit der Unabhängigkeit im Jahre 1825 gezählt worden. 1 Bis zu dem Umbruch des Jahres 1985 stand die Entwicklung Boliviens unter dem Signum der "unvollendeten Revolution" und des "poder dual". Die "unvollendete Revolution" - das bezieht sich auf die "nationale Revolution" vom April 1952, die damals zwar eine grundlegende Veränderung der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse mit sich brachte, aber bei der Verwirklichung ihrer (letztlich nie ganz klaren) Ideen und Ideale steckenblieb. "Poder dual" - das meint die im Gefolge der Revolution entstandene Rivalität zwischen Staat und Gesellschaft, verkörpert vor allem durch den Antagonismus zwischen der "Staatspartei" MNR bzw. den Militärs einerseits und den Gewerkschaften und ihrer Dachorganisation

Central

Obrera Boliviana (COB) andererseits, welcher maßgeblich für eine Vielzahl von Konflikten war. 2 Die "nationale Revolution" von 1952 leitete eine neue Periode in der bolivianischen Geschichte ein. Ihre unmittelbaren und mittelbaren Ergebnisse charakterisierten und begleiteten die Entwicklung des Landes über die vielfaltigen Regimewechsel hinweg Uber mehr als 30 Jahre und sind selbst heute noch spürbar. Erst seit 1985 wird versucht, die von der Revolution tradierten Formen der Wirtschaftsverfassung und des gesellschaftlichen Interessenausgleichs zu ändern. Auch das macht die Dimension Wandlungsprozeß ab 1985 so wichtig. Die wichtigsten Ergebnisse oder Errungenschaften der Revolution im wirtschaftlichen und politischen Bereich waren:

Zur politischen Geschichte vgl. Klein 1982; zur Revolution von 1952 und den Entwicklungen danach bes. Malloy 1970 und 1971; zur Ereignisgeschichte Dunkerley 1984. Thematisiert wurde das Phänomen des "poder dual" vor allem von Zavaleta M. 1974.

Wilhelm Hofmeister

84 -

mit der Nationalisierung der drei größten Minenunternehmen des Landes, der Agrarreform und der Einsetzung des Staates als der wichtigsten Entwicklungsagentur wurde eine grundlegende Änderung der bestehenden Wirtschaftsordnung erreicht;

-

mit der Agrarreform und der Gewährung von Bürgerrechten wurde die bis dahin weitgehend außerhalb der politischen Strukturen lebende indianische Bevölkerungsmehrheit - wenn auch zunächst nur formal - in die nationale politische Gemeinschaft integriert; zugleich wurde ein Beziehungsverhältnis zwischen den politischen Protagonisten der Revolution und den campesinos

geschaffen, das jenen ein wichtiges Massenun-

terstützungspotential zuführte, aus dem der MNR selbst heute noch schöpft; -

mit den Verstaatlichungen im Minensektor ging die Stärkung der Gewerkschaftsbewegung einher, die für sich in Anspruch nahm, den entscheidenden Beitrag für den Sieg der Revolution geleistet zu haben, und die in der COB ihre wichtigste Dachorganisation fand, wobei die Organisation der Minenarbeiter, Federación

de Mineros (FSTMB), als einfluß-

reichste Einzelorganisation hervortrat; -

mit dem Movimiento

Nacionalista

Revolucionario

(MNR) führte eine

Partei junger Angehöriger der Mittelschichten die Revolution an und brachte einen Wandel der führenden Eliten/Schichten zustande, die bis heute die Politik des Landes dominieren. 3 Der MNR und die COB bestimmten ab 1952 die Politik des Landes. Das politische System organisierte sich um diese zwei Protagonisten der nationalen Revolution. Zwar konstruierte der MNR ein politisches und Regierungssystem entlang der formalen Institutionen eines demokratischen Verfassungsstaates einschließlich der Zulassung eines Mehrparteiensystems, doch neben dieser institutionalisierten, legalen Verfassung des politischen Systems stand das tatsächliche politische System mit der eindeutigen Dominanz von MNR und COB. Ihre Legitimität beruhte in erster Linie nicht auf Wahlen, sondern entsprang anderen Quellen: im Falle des MNR war dies der Sieg in der Revolution (und das ist bis zu dem Moment, als der MNR 1985 mit seiner eigenen Tradition brach, immer wieder der Referenzpunkt für seinen 3

Vgl. Lazarte 1989.

II. Bolivien

85

Herrschaftsanspruch gewesen); im Fall der COB war es neben dem nach eigenem Selbstverständnis entscheidenden Beitrag für den Sieg der Revolution vor allem die "Verfügungsgewalt" über den bei weitem wichtigsten Wirtschaftszweig des Landes, den staatlichen Minensektor. Angesichts dieser Situation dienten Wahlen vornehmlich dazu, die revolutionäre Legitimität zu stärken, aber nicht zu begründen. Arbeiteten diese beiden Kräfte ab 1952 zunächst in einer Art Regierungsallianz (co-gobierno) zusammen, so standen sie sich, nachdem diese Allianz Ende der fünfziger Jahre zerbrach und die Arbeiter in ihrem Loyalitätskonflikt zwischen MNR und COB zur Gewerkschaftsorganisation hielten, nahezu unversöhnlich gegenüber. Die Trennung aber war der Beginn für neue Instabilität: das ursprüngliche Konzept des "poder dual" im Sinne einer Gemeinsamkeit zwischen politischer und Arbeiterklasse wurde nun quasi auf den Kopf gestellt und stand fürderhin für den Gegensatz zwischen beiden Bereichen - mit allen Konsequenzen für das politische System. Die COB war einerseits nie stark und einig genug, um tatsächlich ihre politischen Interessen bündeln und durchsetzen zu können; der MNR aber stützte sich mit zunehmendem Verlust seiner gesellschaftlichen Basis auf die schon 1953 reorganisierten Streitkräfte - bis diese 1964 selbst die Macht übernahmen und die Auseinandersetzungen fortsetzten. Einer Parteiendemokratie bot dieses System kein Platz. Vielmehr "war der politische Raum ein Überbau zwischen dem legalen Parteiensystem und dem politischen System, das um zwei Institutionen herum konstituiert war, welche nicht unmittelbar politische Institutionen waren, aber tatsächlich als entscheidende politische Akteure und Repräsentationsstrukturen funktionierten. Diese Situation zwang die Parteien dazu, neben - wenn nicht hinter - diesen 'funktionalen Ersatzkräften' zu marschieren, wenn sie ihr Ziel an die Macht zu kommen in einem Moment verwirklichen wollten. Genau das passierte zwischen 1964 und 1980: in dieser ganzen Zeit gab es keine Parteienregierung, sondern Regierungen mit Unterstützung durch Parteien. Die Existenz der Parteien war in mehr als einem Sinn dem Gewerkschafts- und Militär-

Wilhelm Hofmeister

86

apparat unterlegen, welche in ihrem Konflikt über die Besetzung der Macht entschieden." 4 Begleitet war dieser Prozeß der kontinuierlichen Auseinandersetzung von einer starken Ideologisierung des politischen Diskurses, die gleichzeitig sowohl symbolischer Ausdruck als auch Rechtfertigung für die Polarisierung war. Obwohl die Revolution und insbesondere der MNR auf einer eher diffusen ideologischen Grundlage standen, 5 haben doch sowohl der MNR als auch die COB schon sehr früh ideologische Positionen bezogen, welche den politischen Diskurs 30 Jahre lang prägten. Im Fall des MNR war dies die Idee des "revolutionären Nationalismus", die lange Jahre den Diskurs der "bürgerlichen" Gesellschaft beherrschte, so daß auch andere Parteien und die Militärs diesem Konzept huldigten. Die COB hingegen war einem Marxismus/Leninismus einschließlich der starken Rezeption trotzkistischer Vorstellungen verhaftet, was eine Versöhnung mit der "bürgerlichen" Demokratie verhinderte und den Konflikt aufrechterhielt. Vielleicht kann man behaupten, daß ein Ausbrechen aus dem circulus vitiosus zwischen Militärintervention und kurzlebigen zivilen Regierungen, 6 die dem revolutionären Nationalismus huldigten, erst dann möglich war, als beide Regimetypen jeweils an ihr Extrem gelangten und damit deutlich wurde, daß jede dieser Alternativen zum Chaos führte. Der Regimetyp des militärischen Autoritarismus erreichte unter dem General Garcia Meza 1980/81 seine grausame Perversion, so daß dieses Beispiel vorerst einmal weitere Gelüste der Militärs zur Intervention in den politischen Prozeß abschreckte. Während der anschließenden Regierung von Präsident Siles Zuazo zeigte sich ab 1982, daß die Konzepte des revolutionären Nationalismus und des "poder dual" in ihrer ursprünglichen Form 7 erschöpft waren und die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Krise nur weiter verschärften. In diesem Zustand der Agonie des bisherigen Systems - nicht nur der Regierung Siles Zuazo - waren Neuwahlen der einzige Ausweg. Und es erscheint

4

Lazarte 1992, S. 66.

5

J.F. Mayorga 1985.

6

Vgl. noch einmal Dunkerley 1984. Vgl. die verschiedenen Beiträge in Mayorga 1987 und Krempin 1989.

II. Bolivien

87

schon fast wie eine Ironie der bolivianischen Geschichte, daß ausgerechnet die Person und die Partei nun als Überwinder des traditionellen Systems und Gründer einer neuen Zeit zur Stelle waren, die jenes traditionelle System wesentlich geschaffen hatten: Victor Paz Estenssoro und der MNR. Nicht beteiligt an der Regierung von Siles Zuazo und daher unbeschädigt von dessen Desaster aus ständigen Auseinandersetzungen mit der Gewerkschaftsbewegung, eigener Konzeptionslosigkeit, regierungsinternen Auseinandersetzungen und einer sich dramatisch verschlechternden Wirtschaftslage mit einer galoppierenden Inflation im fünfstelligen Bereich machten sich Victor Paz und der MNR nun an die Reform der Revolution, welche das bisherige Entwicklungsparadigma grundlegend änderte.

1.2. Die Reform der Revolution Die Reform der Revolution begann mit dem ersten demokratischen Machtwechsel in der bolivianischen Geschichte. 8 Gewiß kein ungünstiger Ausgangspunkt. Drei Wochen nach seiner Wahl überraschte Präsident Victor Paz die bolivianische Gesellschaft mit der Verkündung eines Dekrets, das eine vollkommene Umkehr des bisherigen Entwicklungsparadigmas bedeutete. Unter dem Druck der dramatischen Wirtschaftskrise und des Internationalen Währungsfonds verfügte das Dekret 21060 vom 29. August 1985 die Einführung eines neoliberalen Strukturanpassungsprogramms. War diese Absicht schon bemerkenswert, so brachte der feste Wille zur Durchsetzung und Aufrechterhaltung dieser Reform und zur Beseitigung jeden Widerstandes dagegen jene Veränderungen mit sich, auf die bereits eingangs hingewiesen worden ist. Am Beginn der bolivianischen Transformation stand somit die "Neue Wirtschaftspolitik", an der seither über die Regierungswechsel hinweg festgehalten wird. Wurden viele Reformen zunächst eher in Funktion des neuen Wirtschaftsliberalismus entschieden, gewann der politische Bereich doch bald eine Eigendynamik, so daß heute auch wichtige Reformen im politischen Bereich zu verzeichnen sind.

8

Vgl. Hofmeister 1985.

88

Wilhelm Hofmeister

A u f der Suche nach einer parlamentarischen Mehrheit fanden Victor Paz und der MNR die Unterstützung derjenigen Partei, die das Wirtschaftsmodell mitzutragen bereit war und dafür alte, auch persönliche Animositäten zwischen den Parteiführern hintanstellte. Ausgerechnet mit ADN, der Partei des früheren Diktators Banzer, schloß der MNR einen "Paktfür die Demokratie". Das war keine Koalition, denn A D N beteiligte sich nicht an der Regierung. Aber es war die Vereinbarung, alle wichtigen Entscheidungen miteinander abzustimmen und ihnen eine parlamentarische Mehrheit zu verschaffen. Bolivien wurde damit wohl zum ersten Land Lateinamerikas, in dem eine neoliberale Strukturanpassungspolitik unter formal demokratischen Bedingungen eingeführt und durchgesetzt wurde. Der "Pakt für die Demokratie" steht am Beginn eines strukturellen Wandels der bolivianischen Politik, der verschiedene Bereiche betrifft: die wichtigsten Akteure der bolivianischen Politik und ihr Verhältnis zueinander wandelten sich; den politischen Parteien fiel eine neue Funktion zu und sie begannen im Grunde zum ersten Mal, die Funktion eines Mediators zwischen Staat und Gesellschaft zu übernehmen; parallel dazu verlor die Gewerkschaftsbewegung zunehmend an Bedeutung, da sie mit der Restrukturierung der staatlichen Minengesellschaft COMIBOL und der Entlassung von tausenden von Minenarbeitern ihre wirtschaftliche Grundlage verlor und mit der Verhängung des Ausnahmezustandes und der Verbannung der wichtigsten Gewerkschaftsführer jeglicher Widerstand gegen die neue Wirtschaftspolitik gebrochen wurde - ein Schlag, von dem sich die einst so mächtige C O B bis heute nicht erholte; damit wurde zugleich die Bipolarität im Rahmen des "poder dual" endgültig überwunden; zudem setzte mit dem "Pakt für die Demokratie" ein neuer Stil des Dialogs und Interessenausgleichs zwischen Parteien und politischen Gruppen ein, der in der hergebrachten Konfrontation eher unbekannt war.

89

II. Bolivien

Tab. 1: Ergebnisse der bolivianischen Präsidentschafts und Parlamentswahlen, 1985-1993 Wahl 1985 Kandidat/ StimParteien men % V. Paz 30,4 Estenssoro MNR H. Banzer 32,8 ADN J. Paz Za10,2 mora MIR A. Arrani2,5 bar FPU

andere: = 14 Kand. Kandidaten und Parteien/ Allianzen insges: 18

24,1

Mandate % 37,6

32,5 10,2 2,5

17,2

Wahl 1989 Kandidat/ StimParteien men % G. Sánchez 25,8 MNR H. Banzer ADN J. Paz Zamora MIR A. ArranibarlU C. Palenque CONDEPA

andere: = 4 Kand. Kandidaten und Parteien/ Allianzen insges: 10

Man date % 31,2

25,2

29,3

21,8

26,1

8,1

6,4

12,3

7,0

6,3

7,0

Wahl 1993 Kandidat/ StimParteien men % G.Sánchez 35,6 MNR/ MRTKL H. Banzer AP 21,1 unterst. Banzer A.Arrani- 4,8 bar MBL C. Palen14,3 que CONDEPA M.Fernán- 13,8 dez UCS andere: 15,2 = 7 Kand. Kandidaten und Parteien/ Allianzen insges: 12

Mandate % 43,9

27,4

4,5 8,9

13,4 1,9

Quelle: Hofmeister 1993; Mayorga 1994c. Nach den Wahlen von 1989 kam es zu einem bemerkenswerten Regierungsbündnis. 9 Die beiden Parteien A D N und MIR, dessen führende Mitglieder unter dem Banzer-Regime

der siebziger Jahre verfolgt und exiliert worden

waren, bildeten eine formale Koalition unter dem Titel "Acuerdo de Unidad Nacional",

und der Führer des MIR, Jaime Paz Zamora,

Patriótico obwohl

nur mit dem drittbesten Stimmergebnis aus den Wahlen gegangen, wurde vom Parlament zum Präsidenten gewählt. Unabhängig von den etwas zwei-

9

Zu den Wahlen und der Regierungsbildung 1989 vgl. Laserna 1990 und Krempin 1990.

Wilhelm Hofmeister

90

feihaften Vorgängen um die Wahl von 198910 war der Acuerdo

Patriótico

ein weiterer Schritt in Richtung einer politischen Kultur des Dialogs und Kompromisses und einer Formalisierung neuer Stilelemente in der bolivianischen Politik. So schuf man beispielsweise Mechanismen der Parität bei der Führung des Staatsapparates und der Konsensfindung in Entscheidungsprozessen innerhalb der Koalition. 11 Allerdings zeigte sich die Regierungskoalition weitgehend unfähig zu substantiellen Absprachen mit der Opposition. Die Versuche zur Durchsetzung der "eigenen" Mehrheit im Parlament ohne Rücksicht auf die Opposition sind vielfach gescheitert. Die Auseinandersetzungen im Kongreß führten vor allem zu einem Ansehensverlust des Parlaments; zudem kam es zu einer Reihe von Konflikten mit anderen Staatsorganen. Die Idee des Dialogs und der Konsensbildung war somit von der Regierung des AP zwar im Grundsatz bestätigt, aber in der politischen Praxis nicht recht geübt worden. Trug das schon zu einem neuerlichen Ansehensverlust der Politik bei, nachdem die Umfragen in den Vorjahren einen deutlichen Ansehenszuwachs verzeichnet hatten, 12 dann um so mehr sowohl die schamlose Korruption, der sich vor allem Mitglieder des MIR schuldig machten, 13 als auch die ausbleibenden Erfolge der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Lediglich bei drei Gelegenheiten kam es zu einer gemeinsamen Initiative unter Einbeziehung des MNR. Wegen der notwendigen Zweitdrittelmehrheit bei verfassungsändernden Maßnahmen brauchte man die Unterstützung der wichtigsten Oppositionspartei. Im Februar 1991 unterzeichneten die im Parlament vertretenen Parteien eine politische Absichtserklärung für die Durchführung einer Reihe von institutionellen Reformen; im Juli 1992 wurde das bestätigt durch einen "Acuerdo para la Modernización del Estado y el Forta10

Bei der Stimmenauszählung wurde der MNR ganz offensichtlich von dem Wahlgericht, in dem MIR und ADN-Anhänger dominierten, benachteiligt, indem eindeutig mehr MNR-Stimmen als "ungültig" aussortiert wurden als bei den übrigen Parteien.

11

Ein "Consejo Politico Suprapartidario" (COPAP) sollte unter der Leitung von Banzer die Regierungspolitik koordinieren, was in der Praxis jedoch nicht gelang. Zur politischen Entwicklung vgl. auch Mayorga 1994a.

12

Vgl. dazu verschiedene Umfragen von ILDIS. A m spektakulärsten ist der Fall des Vizepräsidenten von 1989-93, Oscar Eid, der nach dem Regierungswechsel ebenso wie andere führende MIR-Repräsentanten wegen Korruption inhaftiert wurde.

91

II. Bolivien

lecimiento de la Democracia". Dessen wichtigste Ziele waren: die Reform und Modernisierung der Justiz, eine Verfassungsreform, eine Wahlrechtsreform, die Inangriffnahme einer politisch-administrativen Dezentralisierung, die Einfuhrung eines neuen Verfahrens bei der Auswahl hoher Funktionsträger des Staates, die Verabschiedung eines Parteiengesetzes und eine umfassende Bildungsreform. Die Regierung des Acuerdo Patriótico war allerdings zu schwach und zu konzeptionslos, um die angekündigten Reformen tatsächlich auf den Weg zu bringen. Man erreichte lediglich, daß sich die wichtigsten Parteien in einer gemeinsamen Anstrengung wenige Monate vor den Wahlen vom August 1993 am 1. April dieses Jahres auf ein "Gesetz über die Notwendigkeit einer Verfassungsreform" ("Ley de Necesidad de la Reforma Constitucional") verständigten, womit man wenigstens die Voraussetzungen schuf, um den Prozeß der Verfassungsreform in der nächsten Wahlperiode ohne größere zeitliche Belastungen durchfuhren zu können. 14 Dieses Gesetz sah zudem die Möglichkeit einer Revision der Stellung des Parlaments (Art. 90 der Verfassung) sowie die Schaffung eines Verfassungsgerichts und eines Ombudsmanns für Menschenrechtsfragen (Defensor del Pueblo) vor. Die Wahlen im August 1993 hatten einen eindeutigen Gewinner: Gonzalo Sánchez de Lozada, der auf 35,6 % der Stimmen kam. 15 Die bisherige Koalition, die auch gemeinsam in die Wahlen ging, erhielt nur 21,1 % der Stimmen und erlitt damit eine bemerkenswerte Niederlage. Als Planungsminister unter Víctor Paz Estenssoro

einer der wichtigsten Architekten der

Neuen Wirtschaftspolitik, als Privatunternehmer erfolgreich, persönlich integer und innerhalb des MNR ein Modernisierer, hatte Sánchez de

Lozada,

nachdem er sich 1989 um den Wahlsieg betrogen fühlte, den Wahlkampf 1993 ernsthaft vorbereitet und bot mit seinem "Plan für alle" ein überzeugendes Programm an. Die Wahlplattform ist die Basis für ein umfassendes Reformprogramm, das er nach seinem Regierungsantritt im August 1993 in die Wege leitete. Nach den Wahlen brachte er die anderen Parteien rasch dazu, seinen Sieg anzuerkennen. Ausgestattet mit einer absoluten Mehrheit 14

15

Bei Verfassungsänderungen war die zweifache Bestätigung des Parlaments in zwei aufeinanderfolgenden Wahlperioden notwendig; erst das Verfassungsgesetz v o m März 1993 schuf die Möglichkeit, künftige Verfassungsreformen sofort in Kraft zu setzen. Zu den Wahlen von 1993 vgl. Mayorga 1994b.

Wilhelm Hofmeister

92

im Senat (17 von 27 Senatoren entfielen auf das Bündnis MNR/MRTKL) fand er nach kurzen Verhandlungen in der Unión Cívica Solidaridad dem Movimiento

und

Bolivia Libre (MBL) Koalitionspartner. Er besaß damit

zwar eine große parlamentarische Mehrheit in beiden Kammern des Kongresses, aber nicht die für eine Verfassungsänderung notwendige Zweidrittelmehrheit. Deshalb mußte er sich auf eine schwierige Diskussion über die zweite Stufe der Verfassungsreform einlassen, was seinen Reformelan zunächst einmal bremste. Dennoch gelang der Regierung von Sánchez de hozada die Verabschiedung wichtiger Reformprojekte, welche die politische Entwicklung Boliviens nachhaltig beeinflussen werden.

2.

Rahmenbedingungen des politischen Wandlungsprozesses

Auch wenn es keinen eindeutigen, empirisch nachgewiesenen Zusammenhang zwischen Konsolidierung eines demokratischen Systems und der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung gibt, ist davon auszugehen, daß die Stabilität von Demokratie leichter und schneller erreicht werden kann, wenn ein entsprechender politischer Transformationsprozeß mit gesteigerter ökonomischer Leistungsfähigkeit und sozialer Gerechtigkeit einhergeht. Demokratie ist in Lateinamerika vor allem als soziale Demokratie denkbar und durchsetzbar. Das gilt selbstverständlich auch für Bolivien, wo die Notwendigkeit wirtschaftlicher Reformen ja überhaupt den Ausschlag für die Einleitung des umfassenderen politischen Transformationsprozesses gab.

2.1. Zur Wirtschaftsentwicklung seit 1985 Das bolivianische Entwicklungsmodell war Mitte der achtziger Jahre erschöpft. Der Minensektor, der wichtigste Wirtschaftszweig des Landes, befand sich aufgrund seiner Struktur, Produktionsmethoden und nicht zuletzt auch aufgrund rückläufiger Weltmarktpreise für das Hauptexportprodukt Zinn in Agonie; das Inlandsprodukt ging zurück, das Land war überschuldet. Spektakulärster Ausdruck der Wirtschaftskrise war die Hyperinflation, die im August 1985 den Rekordstand von über 20.000 Prozent erreichte. Alles zusammen führte zu einer beträchtlichen Verschlechterung der wirtschaftlichen

II. Bolivien

93

Situation für die Mehrheit der Bevölkerung, die unter dem Rückgang des Pro-Kopf-Einkommens und dem Zusammenbruch der sozialen Leistungssysteme litt.16 Angesichts dieser Krise und wachsender sozialer und politischer Spannungen wurde im August 1985 die Entscheidung für eine Strukturanpassung getroffen. Die Nueva Politica Econömica, die mit dem Dekret 21060 eingeführt wurde, bestand aus einem Bündel von Maßnahmen sowohl zur Eindämmung der Inflation als auch zur Einleitung von Strukturreformen mit dem Ziel der Errichtung einer marktwirtschaftlichen Ordnung. Zur Inflationsbekämpfung griff man auf orthodoxe Instrumente zurück, d.h. eine restriktive Geld- und Fiskalpolitik, eine Abwertung des Peso, die mit einer Währungsreform verbunden wurde, sowie die Freigabe der Preise und der Arbeits- und Finanzmärkte als Stabilisierungsmaßnahmen. Die verschiedenen Maßnahmen müssen hier nicht referiert werden. 17 Festzuhalten ist, daß es zwar gelang, die Inflation deutlich zurückzufuhren, doch gleichzeitig war diese Schockpolitik mit einer Rezession und einem Anstieg der Arbeitslosigkeit verbunden. Besonders der Minensektor war durch die Maßnahmen und den extremen Preisverfall drastisch betroffen: quasi über Nacht wurden mehr als 20.000 Minenarbeiter entlassen. Die Zahl der Beschäftigten in der traditionell überdimensionierten staatlichen Verwaltung blieb dagegen weitgehend konstant, obwohl dieser Bereich einen maßgeblichen Anteil am Haushaltsdefizit hatte. Allerdings gab es auch gerade im Bereich der staatlichen Einnahmen die ersten und deutlichsten Verbesserungen, zunächst vor allem durch die Anpassung der Rohstoffpreise an die internationalen Margen sowie die Anhebung der Steuern für ihre Kommerzialisierung sowohl auf dem internen wie auch auf externen Märkten. Das und die Übertragung der Überschüsse der nationalen Erdölgesellschaft an den Staatshaushalt trugen zu einer deutlichen Verbesserung der Staatseinnahmen und einer Verringerung des Defizits der öffentlichen Hand bei. Die Maßnahmen der Handelsliberalisierung führten zu einer Verbesserung der Versorgungslage, da nun Güter wieder auf dem Markt auftauchten, die vorher angesichts der Inflation aus Gründen der Spekulation zurückgehalten worden waren. Die Deregulierung des Arbeitsmark-

16 17

Zur Wirtschaftsentwicklung zwischen 1982 und 1985 vgl. Lazarte/Pacheco 1992. Vgl. CEDLA/ILDIS 1994, S. 10 ff. und Morales 1992, S. 99 ff.

Wilhelm Hofmeister

94

tes trug zu einer Flexibilisierung der Arbeitskosten bei und engte zudem den Handlungsspielraum der Gewerkschaften bei ihrem Protest gegen die Anpassungspolitik ein. Tab. 2: Daten zur Wirtschaftsentwicklung in Bolivien, 1985-1995 1985

1987

1989

1991

1993

91,1

91,1

96,7

105,8

114,1

BIP in % zum Vorjahr

-1,0

2,6

3,2

4,6

4,1

BIP pro Kopf, Index-

80,1

76,3

77,1

80,4

82,6

-3,5

0,1

0,7

2,1

1,6

1,2

8170,5°

10,7

16,6

14,5

9,4

10,7

97,6

93,4

103,6

115,2

BIP Indexwerte (1980

1995*

= 100) 3,5

werte (1980=100) BIP pro Kopf, in % zum Vorjahr Inflation in % Durchschn. Lohnent-

64,9

wicklung, 1990=100 Exporte in Mio. US $

623

519

724

777

716

1.030

Importe in Mio. US $

463

646

513

859

1.112

1.210

Handelsbil. Mio. US $

160

-127

211

-82

-396

-180

67

58

69

78

69

90

3.294

4.162

3.492

3.582

3.777

4.425

Kaufleistung der Exporte von Gütern, Index 1980=100 Auslandsschulden in Mio US $

Quelle: CEPAL; * Vorläufige Zahlen, ° im August 1985 erreichte die Inflation den Rekordwert von 20.560 %! Als besonders wichtig sollte sich die Einführung eines neuen Steuersystems erweisen, das durch die Einführung einer Mehrwertsteuer insbesondere auf eine Anhebung der indirekten Steuern abstellte und daneben gleichzeitig eine allgemeine Geltung und Transparenz anstrebte. Die notwendige Vereinfachung des Steuersystems ging allerdings auf Kosten einer größeren Steuergerechtigkeit, insofern es den Kapitaleignern entgegenkam und insbesondere die Arbeiter und Konsumenten belastete. Den Unternehmen kam man mit einer Vereinfachung des Systems der Steuererhebung entgegen, so daß diese

II. Bolivien

95

einheitlich drei Prozent auf die Nettoerträge zu zahlen hatten. Ungeachtet der neuen Ungerechtigkeiten erwies sich die Steuerreform als effizient für den Staat, der zwischen 1987 und 1992 seine Steuereinnahmen verdoppeln konnte. Mehr als 50 % davon entfielen auf die Mehrwertsteuer. An diesen grundlegenden Entscheidungen gab es auch in den kommenden Jahren keine substantiellen Veränderungen. 18 Sowohl die Regierung von Präsident Jaime Paz Zamora als auch die von Präsident Gonzalo Sánchez de Lozada hielten an dem einmal eingeschlagenen Weg fest. Allerdings zeigten sich wiederholt Probleme in einzelnen Bereichen der Fiskal- und Geldpolitik, zu denen auch noch strukturelle Probleme im Bankensektor traten. 19 Dennoch trugen die Maßnahmen dazu bei, die Inflation auf einem niedrigen Stand zu halten. Die Abhängigkeit von externen Ressourcen konnte jedoch nicht abgebaut werden. Gravierend aber ist, daß zentrale Ziele des Strukturanpassungsprogramms wie die Wiederbelebung der Produktivkräfte, die Schaffung neuer und stabiler Arbeitsplätze und vor allem auch der Aufbau des Privatsektors als Motor der wirtschaftlichen Entwicklung bislang weitgehend noch nicht verwirklicht wurden. Ganz zu schweigen von den Zielen der Verbesserung der Lebensverhältnisse der Bevölkerungsmehrheit und der Verringerung der Armut. Trotz der Strukturanpassungsmaßnahmen hat sich die wirtschaftliche Situation des Landes noch nicht entscheidend verbessert.

2.2.

Zur sozialen Situation

Nach den Angaben des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen steht Bolivien in Lateinamerika an drittletzter Stelle des "Human Devlopment Index"; nur in Honduras und Haiti sind die Lebensverhältnisse der Menschen noch schlechter. 20 1992 fielen 7 0 % der gesamten bolivianischen Haushalte unter die Armutsgrenze, in den ländlichen Gebieten waren es sogar 94 %. Das führte zu einer zunehmenden Migration in die Städte, so daß 1992 der städtische Bevölkerungsanteil bereits bei 58 % lag und sich dadurch die Ar18

19 20

A b 1987 mußten wiederum Maßnahmen zur Kontrolle des Geldmengenwachstums, des Staatsdefizits und der Wechselkurspolitik ergriffen werden. Dazu gehört z.B. der oligopolistische Charakter des Bankenwesens. Vgl. U N D P 1994. Vgl. auch zum folgenden ILDIS/CEDLA 1994 und B1D 1995.

96

Wilhelm Hofmeister

mut in den städtischen Randzonen vergrößerte. Besonders betroffen ist von dieser Entwicklung die Stadt El Alto oberhalb von La Paz, von der große Teile mittlerweise von den hergebrachten staatlichen Institutionen gar nicht mehr penetriert werden können und in der sich ein politisches Milieu sui generis zu entwickeln scheint. Das Pro-Kopf-Einkommen lag 1993 bei 710 US-Dollar, etwa viereinhalb der sieben Millionen Bolivianer galten als absolut arm, 286.000 schulpflichtige Kinder gingen nicht zur Schule, etwa 175.000 Kinder unter fünf Jahren starben an Unterernährung. Trotz dieser ernüchternden Bestandsaufnahme soll nicht übersehen werden, daß sich in manchen Bereichen in den vergangenen Jahren die soziale Situation verbessert hat, etwa bei der Kindersterblichkeit, die auf dem Land seit 1976 von 170 pro Tausend auf 100 pro Tausend gesenkt werden konnte, der durchschnittlichen Lebenserwartung (1990: 60 Jahre), dem Zugang zu Bildung oder der Alphabetisierung. Allerdings ist dieser Fortschritt begrenzt geblieben, und die bolivianischen Daten liegen noch immer näher an SubSahara-Afrika als am lateinamerikanischen Durchschnitt; dabei fällt die erwähnte Ungleichheit zwischen der Lebenssituation der städtischen und der ländlichen Bevölkerung besonders ins Gewicht. Die Tatsache aber, daß Bolivien bislang kaum von den positiven Entwicklungen seiner Nachbarn Chile, Argentinien und Brasilien profitieren konnte, mag ein Indiz dafür sein, daß das Land gegenüber seinen Nachbarn an Entscheidungsautonomie zu verlieren droht. Ein wichtiger Indikator für das Entwicklungspotential in einem Land ist der Zustand seines Bildungswesens. Damit ist es in Bolivien nicht gut bestellt. Noch immer ist die Analphabetenrate mit 35 % der über 15-jährigen vergleichsweise hoch. Innerhalb der bäuerlichen Bevölkerung liegt sie sogar bei 70 %. Das schließt den funktionalen Analphabetismus ein. Die Einschulung bzw. die Ausdehnung des Schulsystems hat jedoch in den letzten Jahren merklich zugenommen. Dagegen wird mit Sorge die geringer werdende Zahl der Hochschulabsolventen beobachtet. Problematisch ist vor allem die Ausstattung der Schulen und Universitäten. Daran zeigt sich, wie stark das ohnehin defizitäre Bildungswesen unter der Rezession der vergangenen Jahre zusätzlich gelitten hat. Eine Reform der anachronistischen Situation des Schulwesens wird jedoch vor allem von der trotzkistischen Lehrergewerk-

II. Bolivien

97

schaft behindert, die sich in Verteidigung ihres Besitzstandes vehement gegen notwendige Reformen wehrt. Die indianischen Bevölkerungsgruppen sind von der Armutssituation besonders betroffen. Mit der Revolution von 1952 und der Agrarreform zwar in das politische System integriert, waren sie seither viele Jahre einem System der politischen Entmündigung unterworfen, das die früheren Formen der Unterdrückung und Ausgrenzung strukturell nicht wesentlich veränderte. Die große Masse der indianischen Bevölkerung - und das meint insbesondere die campesinos - war ab 1952 mittels neuer klientelistischer und paternalistischer Dominanzmuster mit den "staatstragenden" Gruppen verbunden - ein Phänomen, das während der verschiedenen Militärregierungen ab 1964 sogar noch in dem wiederholt erneuerten "Pacto Militar-Campesino"

institutiona-

lisiert worden war. 21 Zugunsten verschiedener Modernisierungsleistungen auf dem Lande hatten die campesinos in den Verlust ihrer Autonomie eingewilligt und wuchsen zu einer wesentlichen Stütze des (autoritären) Staates (u.a. bei der Niederschlagung von Arbeiterstreiks) heran. Erst nach dem Ende der Banzer-Regierung

kam es 1979 zur Gründung eines unabhängigen Dach-

verbandes, der Confederación Sindical Unica de Trabajadores

Campesinos

de Bolivia (CSUTCB), die - eng verbunden mit der katarismo-Bewegung22

-

sich der COB anschloß. Doch die Integration der campesinos in den traditionell von Bergleuten und Industriearbeitern geprägten Verband erwies sich als höchst kompliziert, wenngleich die campesinos heute mittlerweile - aufgrund der gestiegenen Bedeutung des Koka-/Kokainsektors (!) - das Erscheinungsbild der COB maßgeblich mitbestimmen. Angesichts der elenden Lebensbedingungen in den Dörfern des altiplano und den düsteren Perspektiven in den Städten orientiert sich seit einigen Jahren ein nicht unbedeutender Teil des Migrationsstromes der campesinos und der arbeitslosen mineros in die Gebiete der Yungas und vor allem des Chapare, um dort Koka anzubauen. Das weist auf die eigentliche Ursache der komplexen Kokaproblematik: "Das Koka-Problem des Landes" - so stellte jüngst eine Mission der interamerikanischen Entwicklungsbank fest - "ist, mehr als

21

Vgl. Rivera C. 1984, S. 117 ff.

22

Vgl. Hurtado 1986.

Wilhelm Hofmeister

98

alles andere, ein Problem der extremen Armut." 23 Das ist gewiß eine zutreffende Analyse. Sie müßte vor allem auch von denen zur Kenntnis genommen werden, die dieses Problem an den Symptomen und nicht an der Wurzel bekämpfen. Die Vernichtung von Kokapflanzen beseitigt nicht die Ursachen des Kokaanbaus und wird diesen daher letztlich nicht eindämmen können. Deshalb bleiben Maßnahmen der Armutsbekämpfung von zentraler Bedeutung, um das Kokaproblem langfristig in den Griff zu bekommen. Zusammenfassend ist mit Blick auf die soziale Situation wohl festzustellen, daß die aktuelle und gewiß auch noch manche künftige bolivianische Regierung einem schwierigen Dilemma gegenübersteht. Einerseits ist der soziale Wandel und der sozioökonomische Fortschritt nur langfristig zu erreichen. Andererseits erwarten die Menschen angesichts ihrer so oft frustrierten Erwartungen mit zunehmender Ungeduld sichtbare Resultate der neuen Politik in Form von spürbaren Verbesserungen ihrer Lebensverhältnisse. Ob das erreicht werden kann, hängt im Augenblick nicht nur von der Regierung ab, obwohl diese sicherlich eine maßgebliche Rolle im Hinblick auf die Festsetzung des Ordnungsrahmens spielt. Für die Entwicklung der Demokratie kann es entscheidend sein, wie sie die sozialen und wirtschaftlichen Probleme des Landes und seiner Menschen löst.

2.3.

Anmerkungen zur politischen Kultur

Die bisher aufgezählten Probleme erscheinen bereits schwierig genug und erschweren gewiß für sich selbst die Konsolidierung von Demokratie. Doch es sind noch weitere ernsthafte Probleme hinzuzufügen, die subtiler, schwerer faßbar sind, aber darum nicht weniger insbesondere die Entwicklung von Demokratie beeinflussen und belasten. Diese Probleme entstammen der politischen Kultur, oder, besser gesagt: den verschiedenen politischen Kulturen einzelner Bevölkerungsteile. Auf seiten der ärmeren, und insbesondere der indianischen Bevölkerung gehört zu diesen Elementen einer belastenden Tradition oder politischen Kultur die Enttäuschung und das Mißtrauen des Volkes. Dieser Teil der Ge-

23

Banco Interamericano de Desarrollo 1995, S. 36.

99

II. Bolivien

sellschaft hat wiederholt Momente großer Erwartungen erlebt: die Revolution von 1952, sicher auch die Versprechungen mancher Militärs im Rahmen des "Pacto Militar Campesino" ab 1964, gewiß die Rückkehr zur Demokratie ab 1982 und dann das Versprechen des Wohlstands für alle mit der Neuen Wirtschaftspolitik ab 1985. Doch bisher wurden all diese Erwartungen noch stets enttäuscht. "Die Regierung", das heißt die oberste Autorität, und letztlich auch der Staat haben ihre Glaubwürdigkeit in 40 Jahren unerfüllter Versprechungen eingebüßt. Außer neuen Frustrationen und Enttäuschungen, welche die Menschen mit immer mehr Bitterkeit erfüllten, ist nichts geblieben. Das ist eine schwierige Barriere für die Regierung von Sánchez de Lozada, der man den Willen zu Reformen sicherlich nicht absprechen darf. Und so haben manche schon ihr abschließendes Urteil über einzelne gesellschaftspolitische Reformprojekte gefällt, noch ehe sie in Gang gekommen sind. Wie jener Bauernführer

vom

Titicacasee,

"participación

popular"

der

meinte,

das

Reformprojekt

der

sei nur "ein neues übles Spiel der Regierung." 24

Unverkennbar ist seit Beginn der neunziger Jahre die Enttäuschung über den schleppenden Reformverlauf angestiegen und drückt sich u.a. in einer Unterstützung für populistische Parteien aus. Die Skepsis hat ihre Ursache. Denn auf der anderen Seite der Gesellschaft stehen diejenigen, die seit Jahrzehnten die Politik, d.h. die Gestaltung der Lebensverhältnisse der gesamten nationalen Gemeinschaft, nur allzu oft als die Erschließung und Ausdehnung der eigenen Macht- und Einnahmequellen interpretierten. Stilelemente der Politik, wie sie für Lateinamerika allgemein gelegentlich festgestellt wurden - Klientelschaftsverhältnisse und

compa-

drazgo, der hohe Grad der Personalisierung von Politik mit der Bedeutung der Figur des caudillo, die Wahrnehmung des Staates als Beute, Korruption und soziale Gewissenlosigkeit vor allem der politischen Elite, eine Tradition der Straffreiheit gerade bei Vergehen gegen die Gemeinschaft und die Gewißheit, daß es schon einen Ausweg gibt, um unbequeme Gesetze zu umgehen - "donde se hace la ley, se hace la trampa" - oder auch die Unfähigkeit zum Kompromiß, wo er nicht Komplizenschaft bedeutet, sind Elemente einer politischen Kultur, die in der Vergangenheit maßgeblich zur politischen

24

BID 1995, S. 73.

Wilhelm Hofmeister

100

Instabilität und der Behinderung einer demokratischen Entwicklung beigetragen haben. Manches ist dabei, sich zu verändern. Doch gewiß benötigt die Veränderung der Einstellungen mindestens ebenso viel Zeit wie die Errichtung und Bewährung neuer Institutionen.

2.4. Die Rolle der Militärs Die Rahmenbedingungen des politischen Transformationsprozesses zu beschreiben, ist nicht möglich, ohne die Rolle der Militärs zu erwähnen. Diese haben den politischen Prozeß des Landes lange Jahre beherrscht, bis sie nach dem grausamen und kriminellen Regime von General Garcia Meza die Macht aus den Händen geben mußten. Doch so lange die Militärs auch den politischen Prozeß beherrschten und so sehr ihre Regierung durch Repression und Machtmißbrauch auch gekennzeichnet war, so wenig ist das Militär und seine Einordnung in den politisch-institutionellen Prozeß seit 1982/85 ein Thema auf der politischen Agenda gewesen. Möglicherweise besteht bei Politikern und in der Öffentlichkeit noch immer die Furcht, daß eine kritische Hinterfragung der Militärs destabilisierende Effekte für das demokratische System haben könnte.25 Die Präsidenten Siles Zuazo und Paz Estenssoro wagten nicht, eine Reform des Militärapparates auch nur anzusprechen. Vielmehr bestätigten sie den Streitkräften ihre in diffusen Konzepten beschriebene Aufgabe der "Verteidigung der nationalen Sicherheit". Victor Paz setzte sogar das Militär ein, um den Widerstand gegen die neue Wirtschaftspolitik zu brechen. Präsident Jaime Paz Zamora versuchte zwar 1991, die Struktur der Streitkräfte zu ändern. Da er aber die Militärs selbst mit der Ausarbeitung entsprechender Vorschläge beauftragt hatte, war das Ergebnis eher eine Konsolidierung der Autonomie der Streitkräfte als eine Integration in oder Unterwerfung unter die zivile Gesellschaft bzw. Regierung. Im Hinblick auf die Rolle und die Reaktion der Militärs gegenüber dem politischen Wandlungsprozeß kann man zusammenfassend feststellen: 25

Vgl., auch zum folgenden, besonders Barrios 1994.

II. Bolivien -

101

Die Einführung des neoliberalen Wirtschaftsmodells hat auch drastische Einschnitte bei den Militärausgaben mit sich gebracht, 26 so daß die Streitkräfte ihre privilegierte Stellung einbüßten; das führte nicht nur zu einer Krise ihrer institutionellen und bürokratischen Strukturen, sondern auch ihres Selbstverständnisses und Selbstbewußtseins.

-

Die Integration der Militärs in die demokratische Gesellschaft ist keine aktive, und die zivil-militärischen Beziehungen sind im wesentlichen informell und wenig institutionalisiert; noch immer verfügen die Militärs über große Autonomiespielräume gegenüber der zivilen Regierung.

-

Es gibt anhaltende Reibereien und bürokratische Auseinandersetzungen zwischen Streitkräften und der Polizei über Fragen der internen Sicherheit besonders im Hinblick auf den Rauschgifthandel und terroristische Gewaltakte.

Eine abschließende Bewertung über die künftige Rolle der Streitkräfte kann im bolivianischen Fall 27 noch nicht gemacht werden. Zumindest zwei Szenarien lassen sich bezüglich der künftigen Rolle der Militärs und ihres Einflusses auf die Stabilität des demokratischen Systems entwerfen: 28 -

eine "bürokratisch-professionelle Option", die davon ausgeht, daß sich die Militärs den gegenwärtigen Möglichkeiten und Aufgaben, welche die bolivianische Situation bietet, anpassen, und

-

die "bürokratisch-politische Option", die unterstellt, daß die Militärs ihre Interessen mit Nachdruck vertreten und dabei auch nicht vor subversiven Aktionen zurückschrecken.

Für welche dieser Optionen sich die Militärs letztlich entscheiden werden, muß offenbleiben. Möglicherweise gilt auch für ihre Einstellung: je länger der demokratische Prozeß dauert, desto eher werden die Militärs auch bereit sein, sich diesem Prozeß anzupassen.

26

Beispielsweise verringerten sich die staatlichen Militärausgaben von 393 Mio. U S

27

Anders etwa als in Argentinien, vgl. dazu den Beitrag von Nolte in diesem Band.

28

Vgl. Barrios 1994, S. 107 ff.

$ 1980 auf 133 Mio. US $ 1990. Vgl. ebda., S. 80.

102

3.

Wilhelm Hofmeister

Politische und gesellschaftliche Akteure im Kontext des Transformationsprozesses

Die Veränderungen im Verhalten, den Einstellungen und der realen Machtposition verschiedener politischer und gesellschaftlicher Akteure haben den Spielraum für die notwendigen Reformen zur Institutionalisierung des politischen Transformationsprozesses geschaffen. Zu den wichtigsten Akteuren zählen die politischen Parteien, die Gewerkschaften, die Bauern, die regionalen Bewegungen und die Unternehmer. Große Bedeutung besitzen daneben die Katholische Kirche sowie die Massenmedien.

3.1. Das Parteiensystem Das bolivianische Parteiensystem erlebt seit 1985 einen tiefgreifenden Wandel. Das betrifft die Funktion und Perzeption der Parteien insgesamt, die Komposition des Parteiensystems und die Korrelation der Kräfte zueinander sowie - wenn auch in geringerem Umfang - die internen Strukturen der Parteien. Wichtige Aspekte im Hinblick auf die Funktion und Perzeption des Parteiensystems sind:29 -

erstmals in der Geschichte Boliviens haben die politischen Parteien die Gelegenheit, die Funktion der Aggregation und Artikulation gesellschaftlicher Interessen und ihre Kanalisierung mit der politischen/staatlichen Ebene wahrzunehmen;

-

wie nie zuvor werden Parteien heute - trotz ihrer Defizite und des großen Mißtrauens ihnen gegenüber - allgemein als wichtig für das Funktionieren von Demokratie angesehen;

-

die Reformprozesse der vergangenen Jahre, die in vielen Sektoren eine große Akzeptanz finden, sind von Parteien in Gang gebracht worden;

-

für die Entwicklung einer demokratischen politischen Kultur haben die Parteien einen wichtigen Beitrag geleistet durch ihre in früheren Jahren kaum vorhandene Fähigkeit zu Kompromiß- und Konsenslösungen sowie zur Bildung von Regierungs- und parlamentarischen Koalitionen. Vgl. auch Mayorga 1994a, S. 35 f.

103

II. Bolivien

Gleichzeitig sind aber auch Einschränkungen zu machen. Diese betreffen einerseits die ungenügenden programmatischen und organisatorischen Kapazitäten - ganz zu schweigen von dem Fortbestehen traditioneller Einstellungen und Verhaltensmuster vieler Parteiführer und -mitglieder. Andererseits haben sich die Parteien (bisher) als unfähig erwiesen zur Lösung der wirtschaftlichen und sozialen Probleme. Zudem haben die Parteien andere Agenturen der Zivilgesellschaft eher an den Rand des politischen Geschehens gedrängt, wodurch es nun von dieser Seite zu einer Einschränkung des politischen und gesellschaftlichen Pluralismus und der Artikulation gesellschaftlicher Interessen zu kommen droht. Trotz aller Probleme ist jedoch auf seiten der Parteien ein Lernprozeß zu beobachten, der in früheren Jahren beim Versuch der Einfuhrung einer demokratischen Ordnung noch vermißt wurde. 30 Besonders hervorzuheben ist die seit 1985 stark gewachsene Fähigkeit zu parteiübergreifenden Kompromissen bis hin zu der Bildung von stabilen parlamentarischen und Regierungskoalitionen. Der "Pacto por la Democracia"

vom August 1985 zwi-

schen M N R und ADN besitzt in diesem Kontext eine herausragende Bedeutung, weil er eine neue Form der politischen Zusammenarbeit, die zunächst noch auf die parlamentarische Ebene beschränkt blieb, begründete. Wichtig war danach die Fähigkeit zur Bildung formaler Koalitionen. 31 Dadurch wurden die politische Konsensfindung und Kompromißfähigkeit als neue Elemente in der politischen Kultur des Landes bekräftigt. Allerdings zeigte auch gerade der Acuerdo

Patriótico

zwischen MIR und ADN 1989 das Behar-

rungsvermögen traditioneller Stilelemente der bolivianischen Politik: denn (natürlich) bot die Zusammenarbeit Gelegenheit für traditionelle Formen der Macht- und Ämterpatronage. Das, zusammen mit den permanenten Ausein-

30

31

Vgl. Whitehead 1986, S. 69, der dieses Defizit besonders für die Jahre 1978-80 feststellt. In anderen Ländern war diese Lernfähigkeit der Parteien eine maßgebliche Grundlage für die Konsolidierung von Demokratieprozessen, für Chile vgl. Hofmeister 1995. Der Pacto por la Democracia war ursprünglich wohl auch als ein dauerhaftes Bündnis angelegt, das eine Art Alteration in der Macht zwischen M N R und A D N vorsah; die Verlängerung dieses Bündnisses scheiterte wohl hauptsächlich an den Ambitionen des MNR - und nicht zuletzt seines Kandidaten Sánchez de Lozada die Präsidentschaft unmittelbar in den eigenen Reihen zu halten. Der "Acuerdo Patriótico" brach nach der verlorenen Wahl zusammen.

Wilhelm Hofmeister

104

andersetzungen im Parlament bereits während der vorhergehenden Regierungsperiode, hat den Verdruß über die Parteien wieder anwachsen lassen. Zudem setzte sich insbesondere während der Regierung von Jaime Paz 2amora die Meinung durch, Parteien gehorchten doch mehr wirtschaftlichen und partikularen Machtinteressen. Andere Institutionen wie die Katholische Kirche oder auch die Medien genossen ein höheres Ansehen. 32 Die Zusammensetzung des Parteiensystems spielt im Hinblick auf die Funktionsfähigkeit der Parteien natürlich eine maßgebliche Rolle. Hinsichtlich der Komposition des Parteiensystems und der Korrelation der Kräfte zueinander ist festzustellen: -

trotz der traditionellen Proliferation politischer Parteien scheint sich ein System des "gemäßigten Pluralismus" 33 herauszubilden, d.h. es sind etwa fünf Parteien, die auch im Parlament vertreten sind, tatsächlich "relevant";

-

die antisystemischen, d.h. insbesondere die marxistischen Parteien bleiben weiterhin relativ bedeutungslos, und die anhaltenden sozialen Probleme geben keinen Nährboden für das Anwachsen solcher Parteien;

-

die Defizite der "etablierten" Parteien haben das Entstehen eines neuen Parteientypus mit deutlich populistischen Charakterzügen begünstigt; 34

-

"indigenistische" Parteien haben - so weit zu sehen ist - auch mittelfristig keine Chance innerhalb des Parteiensystems; das Problem der politischen Repräsentation der indios ist damit freilich noch nicht gelöst.

Die wichtigsten Parteien in Bolivien sind seit mehr als zehn Jahren der MNR und ADN. Der MIR ist trotz seines Wahldebakels von 1993 vorerst weiterhin zu den wichtigeren Parteien zu zählen, ebenso die Partei MBL, die sich vor Jahren bereits vom MIR abspaltete. Daneben gewinnt die Partei CONDEPA seit einigen Jahren ein zunehmendes Gewicht. Andere Parteien haben (mit einer Ausnahme) bereits seit Jahren kein größeres Eigengewicht innerhalb

32

Vgl. die erwähnten Umfragen von ILDIS. Zur Rolle der Medien vgl. auch Cajias 33

1995. Vgl. Sartori 1976.

34

Vgl. die verschiedenen Beiträge in der Zeitschrift Temas en la crisis, Mayo/Junio 1993, zum Schwerpunktthema "El Neopopulismo".

No. 45,

II. Bolivien

105

des Parteiensystems, auch wenn sie gelegentlich für Allianzen benötigt werden. Das ist ein bemerkenswerter Konzentrationsprozeß, der noch dadurch an Bedeutung hinzugewinnt, daß sich dieses gemäßigte Vielparteiensystem um das politische Zentrum gruppiert. Damit hat sich zum ersten Mal in der Geschichte Boliviens ein Parteiensystem dieses Zuschnitts etabliert. Vor der Revolution bestand formal ein Vielparteiensystem mit geringer Repräsentativität, von 1952 bis 1964 dominierte der MNR als Staatspartei, und in den kurzen Etappen zwischen den Militärregierungen ab 1964 und auch in der Zeit von 1982 bis 1984 bestand ein Vielparteiensystem oder ein "polarisierter Pluralismus." 35 Allein der MNR besitzt im Kontext dieser wichtigen Parteien eine Tradition von mehr als einem halben Jahrhundert. Alle anderen Parteien sind erst in den siebziger Jahren oder später entstanden. Besonders bemerkenswert ist das Zusammenschmelzen des großen Spektrums von Linksparteien seit 1985, ohne daß eine Partei stark genug wäre, die vor allem im Gewerkschaftsbereich noch immer vorhandene antisystemische Tradition deutlich zu repräsentieren. Das ist ein Hinweis auf die isolierte Position der marxistischen oder trotzkistischen Parteien. Dennoch gibt es innerhalb des Parteiensystems einen Ausdruck für systemfeindliche oder zumindest systemfremde Tendenzen. Diese werden von den populistischen Parteien CONDEPA und UCR repräsentiert. Die wiederholten Versuche zur Gründung von indigenistischen oder IndioParteien sind bisher stets mehr oder weniger kläglich gescheitert. 36 Diese Parteigründungen waren in der Regel "Kopfgeburten" von indianischen Intellektuellen. Doch die soziale Basis folgte ihnen nicht. Möglicherweise sind die Formen politischer Repräsentation im Rahmen einer politischen Partei und innerhalb eines Parteiensystems nur schwer vereinbar mit den Traditionen der Partizipation und des Interessenausgleichs der comunidades

indíge-

nas. Die Organisationsform der Gewerkschaft, d.h. die gemeinsame Vertretung sektoraler Interessen, trifft womöglich eher mit den hergebrachten Par-

35

Vgl. ebda., S. 140.

36

Vgl. Mayorga 1995.

106

Wilhelm Hofmeister

tizipationsformen zusammen. Deshalb sind die campesinos zwar in Gewerkschaften organisiert und benutzen diese Organisationsform als Basis für die Verhandlung ihrer Interessen im politischen Raum. Doch die Etablierung einer politischen Partei von Gewicht gelang bislang noch nicht. Auch der katarismo, eine in den siebziger Jahren im gewerkschaftlichen Bereich entstandene Bewegung, konnte auf der parteipolitischen Ebene nicht reüssieren. Nachdem extremistische Ausdrucksformen des katarismo bereits früher keine Unterstützung erhielten, blieb auch die gemäßigte Richtung unter Führung des Vizepräsidenten Víctor Hugo Cárdenos bei den Kommunalwahlen 1995 mit landesweit einem Prozent deutlich hinter ihren Erwartungen zurück. Andere, nicht zuletzt populistische Parteien haben es verstanden, indianische Forderungen zu adaptieren. Zudem entstand durch die Öffnung neuer Partizipationsformen auf der lokalen/kommunalen Ebene im Rahmen der "participación popular" seit 1994 neuer Raum für indigenistische Parteien. Im Hinblick auf die einzelnen Parteien gelten sicherlich mit einigem Recht weiterhin die für bolivianische und lateinamerikanische Parteien gemachten Beobachtungen, wonach diese durch die Dominanz eines caudillo, mangelnde innerparteiliche Demokratie und einen geringen Kontakt zur Bevölkerung geprägt und zu sehr auf die Verteilung von Macht und Pfründen bedacht, weniger einem ausgearbeiteten Programm verpflichtet als vielmehr einer opportunistischen Neigung verhaftet sind, ganz zu schweigen von dem Problem der Korruption, das natürlich auch die Parteien tangiert. Die aktuelle Position der einzelnen Parteien wurde bei den Kommunalwahlen im Dezember 1995 deutlich. Die wichtigeren Parteien werden nach der Darstellung des Kommunalwahlergebnisses kurz vorgestellt. 37

37

Für eine "Wahlgeographie" und die Beschreibung einzelner Parteien besonders unter wahlpolitischen Gesichtspunkten vgl. auch Romero B. 1993.

107

II. Bolivien

Tab. 3: Ergebnis der bolivianischen Kommunalwahlen vom 5. Dezember 1995. Eingeschriebene Wähler: 2.784.601; abgegebene Stimmen: 1.805.635 = 64,8 %; gültige Stimmen: 1.716.007. Stimmen MNR ADN MIR MBL CONDEPA

ucs andere 7 Parteien

365.854 196.159 159.512 227.801 265.533 299.460 201.688

% 21,32 11,43 9,30 13,28 15,47 17,45 11,76

Quelle: Informe R, Nr. 324 vom 26.01.1996.

3.1.1. Movimiento Nacionalista Revolucionario - M N R Der M N R ist die älteste Partei Boliviens und seit mehr als einem halben Jahrhundert einer der wesentlichen Protagonisten der Politik und des politischen Wandels - was aber nicht gleichzusetzen ist mit einem bedingungslosen Eintreten für die Werte einer repräsentativen Demokratie. Nach dem Sieg in der Revolution von 1952 beherrschte der M N R als de facto Staatspartei bis 1964 die Politik des Landes und schreckte während dieser Zeit auch nicht davon ab, sein Herrschaftsmonopol mit weniger demokratischen Mitteln zu verteidigen. Das Entwicklungsmodell des M N R folgte nationalistischen, staatszentrierten und korporativistischen Vorstellungen, die sich u.a. in dem Ausbau der staatlichen Verfugungsrechte über die wichtigsten Unternehmen und Wirtschaftszweige niederschlug. Zwar wurde der M N R , der seit Beginn der sechziger Jahre viele Spaltungen erlebte, 1964 von Militärs aus der Macht verdrängt, doch die Ideologie des "revolutionären Nationalismus" und das daraus abgeleitete Entwicklungsmodell

steckten

weiterhin den politischen Horizont der verschiedenen Militärregierungen ab.

Wilhelm Hofmeister

108

Nicht von ungefähr waren der MNR bzw. wichtige Repräsentanten dieser Partei bei allen Putschen ab 1964 beteiligt. 38 Der MNR selbst brach 1985 mit seinem hergebrachten Entwicklungsmodell und machte sich zum Anführer eines liberalen Politikmodells. Wohl erst mit diesem Einstellungswandel des MNR hat sich das Modell des "revolutionären Nationalismus" endgültig überlebt, so daß auch andere Parteien, die ebenfalls in der Tradition des "revolutionären Nationalismus" standen, diesen Einstellungswandel nachvollziehen konnten. Der MNR hat dadurch zum zweiten Mal in der Geschichte Boliviens maßgeblich zur Durchsetzung eines neuen Entwicklungsmodells und zur Einführung der neuen Stilelemente in die bolivianischen Politik beigetragen. Das Bemühen um Erneuerung ist in der Entwicklung des MNR auch in anderer Hinsicht erkennbar. So hat sich die Partei beispielsweise 1992 einer Prozedur der internen Demokratisierung unterworfen und auch den Präsidentschaftskandidaten in einem demokratischen Verfahren bestimmt. Vor allem aber hat der MNR 1993 ein seriöses Wahlprogramm, den "Plan de Todos", erarbeitet, 39 der zwar an der marktwirtschaftlichen Grundorientierung im allgemeinen festhält, gleichzeitig aber auch auf die wachsenden sozialen Probleme und die dadurch ebenfalls wachsende Skepsis gegenüber dem demokratischen Prozeß zu reagieren versucht, indem er dem Staat eine wichtige Rolle bei der Regulierung des Wettbewerbs, der Kapitalisierung der Staatsunternehmen und in der Wahrnehmung sozialpolitischer Aufgaben zuweist. 1993 schloß der MNR ein Wahlbündnis mit der indigenistischen Partei MRTKL, vor allem um die Wählerstimmen in den Ursprungsregionen des katarismo40

zu gewinnen. Im Gegenzug nahm der MNR die Hauptforderun-

gen der MRTKL in sein Regierungsprogramm auf: die Forderung nach multikultureller und mehrsprachiger Erziehung, die Anerkennung der comunidades indígenas und deren Beteiligung an der staatlichen Verwaltung. Zwar 38

39 40

Wichtigster Führer des MNR war seit den vierziger Jahren Victor Paz Estenssoro, dessen Nimbus als Revolutionsfuhrer auch nach der Beteiligung an dem BanzerPutsch 1971 und seiner nicht sehr transparenten Rolle in den Jahren 1978-80 nicht wesentlich zerstört wurde. Vgl. "Plan de Todos", La Paz 1993. Vgl. Hurtado 1986.

109

II. Bolivien

konnte dieses Bündnis einen deutlichen Sieg erringen, doch die Schwierigkeiten bei der Umsetzung des anspruchsvollen "Plan de Todos" führte zu einer Ernüchterung bei den Anhängern des MNR und einem Wiedererstarken der schon dauerhaft besiegt geglaubten Vertreter des konservativen Flügels innerhalb der Partei. Bei den Kommunalwahlen im Dezember 1995 wurde die fuhrende Position des MNR, wenn auch auf einem niederen Niveau, bestätigt. Die Partei konnte zwar landesweit die meisten Stimmen gewinnen, doch machte sich generell auch Unbehagen über die unzureichenden sozialen und wirtschaftlichen Fortschritte breit.

3.1.2. A c c i ó n Democrática Nacionalista - A D N ADN ist seit ihrer Gründung 1979 das Instrument des Generals Banzer, um sein Image des Militärdiktators abzulegen und sich als ziviler politischer Führer, der auch über demokratische Wahlen die Zustimmung des Volkes gewinnt, zu legitimieren. So sehr ADN durch die starke Abhängigkeit von der Person Banzers eher eine Partei traditionellen Zuschnitts ist, hat sie doch im bisherigen Verlauf des politischen Transformationsprozesses eine herausragende Rolle gespielt. Einem konservativen und wirtschaftsliberalen Programm verpflichtet, hat sie seit ihrer Gründung nicht nur die Interessen der Privatunternehmer und der arrivierten Mittelschicht vertreten, sondern auch unter Inkaufnahme schwer zu kalkulierender politischer Kosten - maßgeblich an der Herausbildung der Kultur des politischen Konsenses und Kompromisses mitgewirkt. Das gilt besonders für das Eingehen und die Einhaltung des "Pactopor la Democracia" ab 1985. Aus Enttäuschung über den MNR unterstützte ADN 1989 den drittplazierten Präsidentschaftsbewerber und trug damit zur Beilegung eines Konfliktes bei, der seit den siebziger Jahren zwischen Banzer und dem MIR bestand. Das Bündnis

konnte

allerdings

nicht

reüssieren

und

Banzers

Präsident-

schaftsambitionen scheiterten 1993 einmal mehr. Er kündigte daraufhin enttäuscht seinen Rückzug aus der Politik an - und stürzte ADN damit in eine tiefe Krise, aus der sie sich durch einen Prozeß der internen Demokratisierung und die Neuwahl ihrer Führung im Frühjahr 1995 zu befreien suchte. Zwar hat das die internen Auseinandersetzungen zunächst nur weiter angeheizt, welche allein durch eine Intervention Banzers wieder zu beruhigen

Wilhelm Hofmeister

110

waren, doch scheint sich die Partei insgesamt auf die Zeit nach Banzer einzustellen. Wie schwer es ADN fällt, sich mit einer gemäßigten Oppositionshaltung landesweit wenigstens als urbane konservative Partei zu etablieren, zeigte das Kommunalwahlergebnis von 1995.

3.1.3. Movimiento de la Izquierda Revolucionario - MIR Der MIR galt einige Zeit als Partei der jungen Hoffnungsträger der bolivianischen Politik.41 Doch nach der Erfahrung der Regierungszeit von Präsident Jaime Paz Zamora ist davon nur noch wenig übriggeblieben. 1971 als Widerstandsbewegung gegen die Banzer-Diktatur gegründet, vertrat der MIR eine jugendliche und sozialdemokratische Variante des "revolutionären Nationalismus". Vorübergehend an der UDP-Regierung beteiligt, unterstützte der MIR 1985 die Wahl von Victor Paz im Parlament, war aber noch nicht bereit, die neue Wirtschaftspolitik von Anfang an mitzutragen. Erst 1989, als man das denkwürdige Bündnis mit dem alten Gegner Banzer schloß, versöhnte sich der MIR auch mit dem neuen Entwicklungsmodell. Der MIR hat dadurch gleich zwei wichtige Beiträge zur Versöhnung und Konsensbildung in Bolivien geleistet. Die Regierungsführung von Präsident Paz Zamorra, vor allem seine mangelnde Entscheidungsfähigkeit und die ständigen Auseinandersetzungen mit dem Parlament, insbesondere aber die Verwicklung führender Repräsentanten des MIR in Korruptionsskandale, führten zu der verheerenden Wahlniederlage von 1993. Ob die Partei, zumal angesichts des neuen Wahlrechts für die Abgeordnetenkammer, sich wieder erholen kann, bleibt auch nach den Kommunalwahlen von 1995 vorerst dahingestellt.

3.1.4. Movimiento Bolivia Libre - MBL Der 1987 gegründete MBL ist eine Reformpartei mit Wurzeln in verschiedenen linken und marxistischen Gruppierungen. Seine antisystemische Haltung hat der MBL zu Ende der achtziger Jahre abgestreift, und er hat heute ein

41

Vgl. Pénaranda/Chàvez 1992.

II. Bolivien

111

sozialreformerisches Profil. Der Kampf für die Anliegen der indianischen Gemeinschaften und gegen Armut und Korruption steht im Mittelpunkt des MBL-Programms. Ohne eine grundsätzliche Ablehnung der Marktwirtschaft setzt sich die Partei für eine zweite Agrarreform und eine stärkere Rolle des Staates in der Wirtschafts- und Sozialpolitik ein. Als Koalitionspartner hat sich der MBL als ein wichtiger Stabilitätsfaktor der Regierung erwiesen. Frei von spektakulären Skandalen repräsentiert der MBL eine Schicht junger Politiker, die neues Vertrauen in das politische System begründen können. Sein Rückhalt in der Bevölkerung war jedoch lange Zeit gering. Zumindest 1993 profitierte der MBL noch nicht von der Krise des MIR und anderer Linksparteien. Dagegen konnte sich die Partei bei den Kommunalwahlen 1995 weiter konsolidieren.

3.1.5. Unión Cívica Solidaridad - UCS Die UCS ist eine neue, 1988 gegründete Partei, die selbst für die an populistischen Beispielen nicht arme bolivianische Parteiengeschichte eine pittoreske Sonderrolle einnimmt.42 Parteigründer und Patriarch war bis zu seinem plötzlichen Unfalltod 1995 Max Fernández, Präsident und Mehrheitsaktionär der größten Brauerei des Landes, dessen unternehmerischer Erfolg in erstaunlichem Gegensatz zu seiner politischen Unberechenbarkeit und Unzurechnungsfähigkeit stand. Mit einer Mischung aus marktwirtschaftlichen, sozialfürsorglichen und populistischen Äußerungen und massiven Wahlgeschenken gelang es ihm immerhin, bei den Kommunalwahlen im Dezember 1989 und den Präsidentschaftswahlen 1993 jeweils ca. 14 % der Stimmen zu gewinnen. Mit 20 (von 130) Abgeordneten ist die UCS zwar eine feste, aber unberechenbare Größe der Regierungskoalition. Bei den Kommunalwahlen 1995 konnte die UCS ihr Stimmenpotential sogar noch etwas weiter ausbauen. Dennoch ist abzuwarten, ob sich die Partei weiter konsolidieren kann.

42

Vgl. Mayorga 1995.

Wilhelm Hofmeister

112

3.1.6. Conciencia de Patria - CONDEPA Ebenfalls unberechenbar, aber wesentlich konsolidierter ist CONDEPA, die eine andere Variante des populistischen Parteientypus repräsentiert. 1988 gegründet von Carlos Palenque, einem vor allem im Hochland bekannten Journalisten und Besitzer einer Radio- und Fernsehkette, ist diese Partei ganz auf die Person des "compadre" - wie er sich in seinen Radio- und Fernsehsendungen gerne bezeichnet - zugeschnitten. Seine Wählerbasis hat er bisher vor allem im informellen Sektor, unter den Armen und in der marginalisierten Bevölkerung in der Stadt und dem departamento von La Paz. Sein politischer Diskurs ist geprägt von einem korporativistischen Populismus, durchsetzt mit ethnischen Elementen, die aus der Lebenswelt und Kultur der Aymara stammen und angeblich auf die Verteidigung der traditionellen indianischen Kultur gerichtet sind. Die politische und wirtschaftliche Modernisierung der vergangenen Jahre lehnt er ab; statt dessen versucht er, die antisystemischen Kräfte für sein "endogenes Modell" eines Staatsinterventionismus zu gewinnen. Vor dem Hintergrund dieses diffusen Diskurses ihres caudillo zeigt CONDEPA, die von 1993 bis 1995 die Bürgermeister von La Paz und El Alto stellte, einen bemerkenswerten Pragmatismus. 43 Ob Palenque

versuchen

wird, die heute dispersen antisystemischen Kräfte zu sammeln und als caudillo von nationaler Bedeutung anzutreten, ist nach dem für CONDEPA enttäuschenden Kommunalwahlergebnis unwahrscheinlicher geworden; CONDEPA hat weiterhin nur im departamento

La Paz eine herausragende Bedeu-

tung. Auf jeden Fall befürchten manche Parteien und Beobachter, daß das Gewicht von CONDEPA und Palenque so zunehmen könnte, daß er einen maßgeblichen Einfluß auf die nächste Regierungsbildung erhält. Ob das die Berechenbarkeit der politischen Entwicklung erhöhen würde, muß offen bleiben.

43

Die Ehefrau von Palenque hatte sich seit 1995 als Bürgermeisterin von La Paz über die Stadt- und Landesgrenzen hinaus einen Ruf als politische "Macherin" erworben. Sie wurde 1994 von dem Magazin "Time" zu den 100 politischen Zukunftspersönlichkeiten der Welt gezählt. In La Paz gewann sie zwar 1995 eine relative Mehrheit (38 %), doch scheiterte ihre Wiederwahl im Stadtrat, so daß sie dem ADN-Kandidaten Platz machen mußte.

113

II. Bolivien

3.2. Die Gewerkschaften Der Bedeutungszuwachs der politischen Parteien seit 1985 ist eng verbunden mit dem Bedeutungsverlust der Gewerkschaften und ihrer wichtigsten Dachorganisation, der Central Obrera Boliviana (COB). Die Veränderungen der Position und der Funktion der COB gehören gewiß zu den wichtigsten gesellschaftspolitischen Entwicklungen seit 1985. Ohne diese Veränderung wäre der Transformationsprozeß weder in seiner ökonomischen und sozialen noch in seiner politischen Dimension möglich gewesen. Die COB ist 1952 kurz nach der Revolution gegründet worden und wurde für einige Jahre wichtigster Bestandteil der Allianz zwischen Arbeitern, Bauern und Mittelschichten, welche in Folge der Revolution die politische, wirtschaftliche und soziale Struktur des Landes veränderte. Wichtigste Einzelgewerkschaft innerhalb der COB war die schon 1944 gegründete

Federación

Sindical de Trabajadores Mineros de Bolivia (FSTMB), welche die Arbeiter des wichtigsten Wirtschaftszweiges repräsentierte und bis heute - d.h. selbst nach dem Kollaps des Minensektors - das Rückgrat der Gewerkschaftsbewegung bildet. Ideologisch war die FSTMB und dadurch auch die COB seit der Revolution durch extreme Positionen geprägt. "Die hohe Bevölkerungsdichte im Minengebiet, die harten und rauhen Arbeits- und Lebensbedingungen der Minenarbeiter und ihrer Familien, ihre Zugehörigkeit zu den stark diskriminierten indianischen Bevölkerungsgruppen sowie die andauernde Agitation trotzkistischer und kommunistischer Zirkel schufen dort ein kollektives Bewußtsein von Unterdrückung und Ausbeutung, was ihnen aber auch die Notwendigkeit eines radikalen Kampfes gegen die bestehende Gesellschaftsordnung verdeutlichte." 44 Das hat dazu beigetragen, daß die Gewerkschaftsbewegung seit der Wiedereinführung der Demokratie 1982 und erst recht seit Beginn der Transformation 1985 keinen entscheidenden Beitrag zur Einführung oder Durchsetzung des Wandlungsprozesses geleistet hat. Vielmehr mußte die Demokratie - und nicht nur die Wirtschaftsreform - wiederholt gegen die COB verteidigt werden. Für die COB und die ihr nahestehenden Linksparteien waren Konzepte wie Rechtsstaat, Parlament und repräsentative Demokratie nur vorrübergehende 44

Mansilla 1994, S. 133. Vgl. auch Magill 1974, Volk 1975 und Nash 1979.

114

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Phänomene oder gar Barrieren gegen eine "wahre" Demokratie. Deshalb lehnte man es ab, sich auf Formen des politischen Verhandeins und Interessenausgleichs einzulassen, welche der repräsentativen Demokratie zu eigen sind. So trug die COB, nachdem sei sich beim Widerstand gegen das Regime von Garcia Meza und zur Einführung einer demokratischen Ordnung große Verdienste erworben hatte, mit ihren Streiks und Mobilisierungsaktionen maßgeblich zur Schwächung der Regierung Siles Zuazo und zur Verschärfung der Wirtschaftskrise - und damit zu den vorgezogenen Wahlen, welche den Weg für den Regierungswechsel und den Wandel öffneten - bei. Diese Wahlen bestätigten einmal mehr, daß die radikalen Positionen der COB und der ihr nahestehenden Parteien keine größere Unterstützung in der Bevölkerung hatten. Der Protest der COB gegen die neue Wirtschaftspolitik wurde bereits in seinen Ansätzen energisch gebrochen, weil sie sich aufgrund ihrer extremen Positionen selbst isolierte. Seither finden die großen gesellschaftspolitischen Diskussionen ohne Einbeziehung der Gewerkschaftsbewegung statt. Parteien, Regierung und Unternehmer, die noch in den Jahren 1983-85 sehr stark unter dem Druck der Gewerkschaften handelten, haben seit 1985 kaum noch Rücksicht auf die COB genommen. Allerdings haben die sozioökonomischen Strukturveränderungen vor und nach 1985 das Fundament der COB stark erschüttert. Die Wirtschaftskrise, der Verlust der Arbeitsplätze in der Industrie, das Anwachsen des informellen Sektors sowie vor allem die sinkende Bedeutung des Minensektors durch die Verkleinerung der staatlichen Minengesellschaft COMIBOL und die massiven Entlassungen in der verarbeitenden Industrie führten zu einer Verringerung der Mitglieder und gleichzeitig zu einer Verschiebung der Mitgliederstruktur. Zudem wurde der Widerspruch im offiziellen Diskurs der COB gegenüber dem Staat immer offensichtlicher. Einerseits erwartete man vom Staat die Lösung aller Probleme, andererseits richteten sich die zentralen Attacken der COB und der meisten Einzelgewerkschaften stets gegen den Staat (der ja u.a. der größte Unternehmer im Lande war). "Als 'Patron' ist der Staat einerseits der Gegner, der Adressat der Forderungen und Kämpfe, andererseits aber auch die Instanz, von der man erwartet, daß sie wie eine Art Übervater für das Wohl seiner Untertanen sorgt und das Funktionieren der

II. Bolivien

115

Wirtschaft und Gesellschaft gewährleistet." 45 Eine rational, auf Ausgleich und Konsens bedachte Position konnte sich wegen der Intransigenz der trotzkistischen und anderer Linksgruppen innerhalb der Gewerkschaftsbewegung nicht durchsetzen. Die heutige Isolierung der COB ist daher zum Teil selbstverschuldet. Trotz der Dominanz der Minenarbeiter war die COB seit ihrer Gründung eine Organisation mit Mitgliedern aus anderen Sektoren, z.B. Bauern, kleinen Handwerkern und Angehörigen der Mittelschichten, besonders aus dem weiten Feld des öffentlichen Sektors. Mit dem Niedergang des Minensektors verlor die COB nicht nur an Mitgliedern, sondern auch an ideologischer Kohärenz. Neue Sektoren gewannen im Erscheinungsbild der COB an Bedeutung - wenn auch noch nicht innerhalb der internen Strukturen, wo weiterhin die mineros dominieren. Von besonderem Gewicht sind heute der informelle Sektor, vor allem aber die Lehrer und die campesinos. Die Lehrergewerkschaft ist eindeutig trotzkistisch geprägt. Im Zuge der angestrebten Bildungsreform gibt es Bestrebungen, den Einfluß der Lehrergewerkschaft auf Lehrpläne und Stellenbesetzungen erheblich einzuschränken. Der dagegen organisierte Protest der Lehrergewerkschaft führte im April 1995 zur Verhängung des Ausnahmezustands. Problematisch für die COB ist dabei, daß die Lehrer, deren Radikalität in der Öffentlichkeit offensichtlich nur eine geringe Unterstützung erhält, das Bild der Gewerkschaftsdachorganisation prägen und ihre Position weiter schwächen. Noch schwieriger ist die Situation im Bereich der campesinos. Hier ist das traditionell problematische Verhältnis in den letzten Jahren nicht einfacher geworden. Obwohl die Bauern den zahlenmäßig weitaus größten Sektor innerhalb der COB repräsentieren, wurde ihnen bisher nur ein relativ geringer Anteil an Delegierten zugestanden. Das bestärkt die campesinos in ihrer Einstellung, einer eigenständigen Kultur anzugehören, welche seit der Kolonialzeit gesellschaftlich diskriminiert wird. Ein zusätzliches Problem ergibt sich für die COB daraus, daß die Bauernorganisationen heute sehr stark durch die Kokaanbauer geprägt sind. So wird die COB als Interessenvertreterin eines Sektors wahrgenommen, dessen Beitrag zur Formalisierung der

45

Krempin 1990, S. 35.

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Wirtschaft und Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit zumindest als problematisch einzuschätzen ist. Für die weitere Demokratieentwicklung ist diese neue Verortung der COB im politischen und gesellschaftlichen Kräftespiel durchaus zwiespältig zu beurteilen. Einerseits hat sich die COB stets nicht (nur) als eine Gewerkschaftsorganisation im klassischen Sinn verstanden, sondern als eine Instanz zur politischen Interessenvertretung; deshalb ist es durchaus positiv, daß die AntiSystem-Kräfte geschwächt sind. Andererseits braucht die Demokratie funktionsfähige Organisationen zur Repräsentation gesellschaftlicher Interessen neben den Parteien; deshalb ist die Schwäche der COB durchaus problematisch im Hinblick auf die weitere Konsolidierung der Demokratie in Bolivien. Angesichts der generellen Schwäche der Gewerkschaftsbewegung in Lateinamerika muß die Möglichkeit der COB, kurzfristig wiederzuerstarken, skeptisch beurteilt werden.

3.3.

Die Bauern

Trotz der Gewährung politischer Grundrechte war das Verhältnis der indianischen Bevölkerung, und das meint hier insbesondere die campesinos, zum Staat auch nach der Revolution von 1952 durch eine Klientelbeziehung gekennzeichnet.46 Nachdem die MNR-Regierung mittels Landreform und Einführung des allgemeinen Wahlrechts die wirtschaftlichen und politischen Interessen der bäuerlichen Landbevölkerung weitgehend befriedigt hatte, gelang es ihr, mit dem Aufbau von Bauerngewerkschaften im ländlichen Raum eine vertikale Organisationsstruktur einzuführen, die mittels neuer klientelistischer und paternalistischer Dominanzmuster die Bauernschaft mit dem Staat verband. Dieses Dominanzverhältnis bestand auch während der Militärregierungen im sogenannten Pacto Militar Campesino weiter und verhinderte nicht nur das Aufkommen neuer Forderungen von seiten der Bauern, sondern sicherte dem Staat auch deren Unterstützung beim Vorgehen gegen die Arbeitergewerkschaften und regionalen Bewegungen zu.

46

Vgl. Dandier 1984 und Rivera 1984.

II. Bolivien

117

Erst mit der Gründung der neuen Bauernorganisation CSUTCB kam es ab 1979 zu der erwähnten Annäherung zwischen den Bauern und der COB, wobei allerdings insbesondere auf der regionalen Ebene konkurrierende Bauernorganisationen weiterbestanden. Die CSUTCB konnte ihre politische Führungsrolle, die sie innerhalb der Bauernschaft vorübergehend eingenommen hatte, jedoch nicht halten. Zudem dominierten auch innerhalb der COB eher patemalistische Einstellungen gegenüber der Bauernbewegung, was sich in der ungenügenden Repräsentation der campesinos im Exekutivkomitee der COB ausdrückte, so daß das Verhältnis immer konfliktiv gewesen ist.47 Allerdings haben die Bauern heute, aufgrund des faktischen Bedeutungsrückgangs der Minenarbeiter, einen wichtigen Einfluß auf das Erscheinungsbild der COB - auch wenn sie nach wie vor in den Führungsgremien der Gewerkschaftsbewegung unterrepräsentiert sind. 48 Die Bauernorganisationen werden seit einigen Jahren sehr stark von den Kokaanbauern beeinflußt. Das bringt neue Probleme mit sich. Die Migration ehemaliger Minenarbeiter in die Kokaanbauregionen hat dazu geführt, daß diese ehemals sehr gut organisierten "Neubauern" zur Radikalisierung der Bauernorganisationen beitrugen. Daraus sind mehrfach verschiedene Konflikte zwischen Bauernorganisationen und Regierung entstanden, was 1995 zur Verhängung des Ausnahmezustandes beitrug. Die Radikalität der lokalen Organisationen aber, die das Erscheinungsbild der campesinos prägt, trägt dazu bei, daß auch berechtigte Forderungen der Bauern von anderen Gesellschaftsschichten eher zurückhaltend aufgegriffen werden bzw. daß die Parteien und andere Gruppen an ihren paternalistischen Einstellungen gegenüber den campesinos eher festhalten, um diesen Sektor weiter zu kontrollieren. 49 Da aber eigene politische Repräsentationsorgane der Bauern bzw. der indianischen Bevölkerung insgesamt an den Partikularinteressen der verschiede-

47

Vgl. z.B. CSUTCB 1993, S. 55 f.

48

Ein deutlicher Hinweis für die Verschiebungen innerhalb der Bauern- und Gewerkschaftsbewegung ist z.B., daß Filemon Escobar, ein früherer bekannter Führer der Minengewerkschaft, heute ein Führer der Bauernorganisation im Chapare ist.

49

Unterschwellig sind zwar Wandlungsprozesse innerhalb der ländlichen Gemeinschaften zu beobachten, doch machen diese sich auf der gesamtstaatlichen Ebene (noch) nicht bemerkbar; vgl. Sánchez 1994.

Wilhelm Hofmeister

118

nen Regionen und Volksgruppen scheitern, wird sich, trotz einiger Zugeständnisse z.B. in der Schul- und Bildungspolitik, an den hergebrachten Beziehungsmustern dieses Sektors zu der übrigen Gesellschaft nur wenig ändern. Das mag zunächst zur Konsolidierung des Systems beitragen, ist aber nicht gleichzeitig auch eine Bestätigung von Demokratie.

3.4. Die regionalen Bewegungen Neben der sozialen Heterogenität und kulturellen Vielfalt und Gebrochenheit ist die regionale Fragmentierung eine wichtiges Merkmal der bolivianischen Entwicklung. Die modernen Sektoren von Wirtschaft und Gesellschaft konzentrierten sich seit der Kolonialzeit auf die Bergbauregionen und die spätere Hauptstadt La Paz. Angesichts der regionalen Ungleichheiten gibt es insbesondere in den östlichen Regionen Boliviens eine lange Tradition von Bewegungen, die - angeführt von lokalen oder regionalen Eliten - für mehr regionale Gleichberechtigung, die Neuverteilung von Ressourcen sowie für die Modernisierung und vor allem auch die Dezentralisierung des Staates kämpften. 50 Der Staat war für diese regionalen Bewegungen das wichtigste Objekt ihrer Ansprüche und Forderungen; seine Legitimität stellten sie um so mehr in Frage, als er zur Befriedigung ihrer Ansprüche nicht in der Lage war. Der Gegensatz zwischen Staat und regionalen Bewegungen führte nach der Revolution von 1952 trotz einiger Projekte zur Regionalentwicklung wiederholt zu schweren Konflikten, insbesondere im östlichen Departement von Santa Cruz. Ihre organisatorische Basis fand die Regionalbewegung in einem "Comité Cívico", das von Vertretern der örtlichen Eliten angeführt wurde. Ab den sechziger Jahren formierten sich auch in anderen departamentos solche regionalen Protestbewegungen und Comités Cívicos. Eine Koalition zwischen diesen und den Gewerkschaften kam allerdings aufgrund der unterschiedlichen sozialen Komposition und der verschiedenartigen Zielsetzungen der beiden Gruppen nicht zustande. Vielmehr entwickelten sich die Comités Cívicos zur Zeit der autoritären Regierungen als wichtige Sektoren gesellschaftlicher Repräsentation. Erst ab 1982 unterstützen auch sie die demokra-

50

Vgl. Roca 1980 und Calderón/Laserna 1983.

119

II. Bolivien

tische Ordnung - und trugen freilich mit ihren Forderungen zur Regionalentwicklung und Dezentralisierung, die sie mit kontinuierlichen Mobilisierungsaktionen verbanden, zur Verschärfung der politischen Krise jener Jahre bei. 51 Zwar hatten sich diese Comités Cívicos seit Beginn der achtziger Jahre gegenüber neuen sozialen Schichten geöffnet und die internen Partizipationsmöglichkeiten erweitert, doch ihre Legitimationsbasis blieb gleichwohl dünn. Das hinderte sie freilich nicht daran, aufgrund der Nichterfüllung ihrer Forderungen die Legitimität der bestehenden Ordnung in Frage zu stellen und auch noch nach dem Regierungswechsel von 1985 mit ihren Mobilisierungsaktionen fortzufahren, da auch die neue Regierung ihr Versprechen einer Dezentralisierung nicht sofort einlösen wollte. In dem Maße allerdings, in dem seit Beginn der neunziger Jahre der Staat sich die Forderungen der regionalen Bewegungen zu eigen machte, die Parteien ihre Funktion als Vertreter der gesellschaftlichen Interessen stärkten und tatsächlich Fortschritte im Bereich der administrativen und sogar auch politischen Dezentralisierung gemacht wurden, haben die regionalen Bewegungen und Comités

Cívicos

an Bedeutung eingebüßt. 52 Dadurch ist ein

wichtiger Faktor, der in früheren Jahren nicht unwesentlich zur politischen Mobilisierung und Instabilität beitrug, ausgeschaltet worden. Im Rahmen des Prozesses der politischen Transformation und Konsolidierung von Demokratie ist das ein wichtiges Element.

3.5.

Die Unternehmer

Die Unternehmer haben erst seit den siebziger Jahren allmählich an wirtschaftlicher Bedeutung hinzugewonnen, als sie in bestimmten

Sektoren

(Bergbau, Agroindustrie, Handel) gegenüber dem Staat allmählich erstarkten. Sie blieben allerdings bis in die Gegenwart von staatlichen Aufträgen und Subventionen abhängig. Erst im Zuge der allmählichen Konsolidierung des marktwirtschaftlichen Systems gewinnen auch die bolivianischen Unternehmer an wirtschaftlicher Bedeutung hinzu, und die Yuppies, die beim Autofahren oder Überqueren der Straße geschäftig und wichtig mit ihren handies 51

Vgl. Laserna 1985 und Hofmeister 1987.

52

Vgl. auch Blanes/Galindo 1993.

Wilhelm Hofmeister

120

hantieren, gehören mittlerweile auch in La Paz und Santa Cruz zum Straßenbild. Die politische Bedeutung der Unternehmer war lange Zeit ebenfalls eher unterentwickelt.53 Ihr wichtigster Dachverband, die Confederación de Empresarios Privados de Bolivia (CEPB) stand vorbehaltlos auf der Seite der Militärregierung. Vor allem in der Regierungszeit von General Banzer wurden die Privatunternehmer bewußt gefordert. Das ist das Fundament der noch immer sehr engen Beziehungen der CEPB zur Partei Banzers, der ADN. Während der Jahre des Übergangs von 1978 bis 1982 und auch während der nachfolgenden drei Jahre spielten die Unternehmer aber wieder eine eher untergeordnete Rolle. Erst am Vorabend des politischen Wandels begannen die Unternehmer eine politisch aktivere Rolle zu spielen. So war es ein Forum der CEPB, auf dem die Präsidentschaftsbewerber 1985 ihre wirtschaftspolitischen Positionen vorstellten und erläuterten. Mit der Einfuhrung der neoliberalen Strukturanpassungspolitik wuchs dann auch der Einfluß der CEPB, die seither in einem permanenten Prozeß der Kommunikation und Konsultation sowohl mit den wichtigsten Parteien als auch der Regierung steht. Die Unternehmer sind damit zu einem wichtigen Faktor zur Unterstützung der marktwirtschaftlichen Reform geworden, obgleich die Früchte dieser Reform noch nicht deutlich erkennbar sind.

4.

Die Institutionalisierung des politischen Wandels

Gesellschaftliche und politische Transformationsprozesse können sich auf Dauer nur dann durchsetzen, wenn sie von entsprechenden Maßnahmen der politischen Institutionalisierung begleitet und abgestützt werden. Diese Erfahrung findet sich im Kontext der Transformationsprozesse der Gegenwart erneut bestätigt.54 Im Falle Boliviens kann seit Beginn der neunziger Jahre auf wichtige politisch-institutionelle Reformen verwiesen werden. Die bislang wichtigsten 53

V g l . M a n s i l l a 1994b.

54

Statt vieler: Merkel 1994.

II. Bolivien

121

Maßnahmen waren bzw. sind einerseits die Verfassungsreform von 1993/94 und dabei insbesondere die Reform des Wahlrechts und des Justizwesens sowie andererseits die Reformprojekte der Regierung von Präsident Sánchez de Lozada.

4.1. Die Verfassungsreform von 1993/94 So wenig die Regierung von Jaime Paz Zamora aus eigener Kraft und mit eigenen Konzepten substantielle politische Reformen verwirklichen konnte, waren doch unterschiedliche politische und gesellschaftliche Sektoren von der Notwendigkeit der Durchführung einiger politischer Reformen zur weiteren Festigung des Demokratieprozesses überzeugt. Tatsächlich gelang noch innerhalb der Amtszeit von Jaime Paz der notwendige erste Schritt für eine Verfassungsreform, indem man kurz vor Ende der Wahlperiode am 1. April 1993 eine "Ley de Necesidad de la Reforma de la Constitución" verabschiedete 55 ; das Reformvorhaben wurde danach - wiederum unter extremer Ausschöpfung der notwendigen Fristen - am 5. August 1994 bestätigt. Die wichtigsten Neubestimmungen betreffen das Wahlrecht und den Justizbereich; daneben sind wichtige, aber noch keine abschließenden Vereinbarungen zur Dezentralisierung getroffen worden. 56

4.1.1. Wahlrecht Die Präsidentenwahlen 1985 und erst recht 1989 durch den Kongreß hatten jeweils zu großen Spannungen zwischen Regierung und Opposition geführt, weil sich die vermeintlichen Wahlsieger, d.h. diejenigen mit dem höchsten relativen Stimmenanteil, um ihren Erfolg betrogen fühlten, als das Parlament in Ausschöpfung seiner verfassungsmäßigen Fakultäten nach entsprechenden Absprachen zwischen den Parteien jeweils den Kandidaten mit dem zweit-

55

In Bolivien kann eine Verfassungsreform nur in Kraft treten, wenn sie in zwei aufeinanderfolgenden Wahlperioden von jeweils zwei Dritteln der Mitglieder des Kongresses bestätigt wird. Deshalb mußte der erste Reformschritt noch während der Amtszeit von Jaime Paz erfolgen.

56

Zum folgenden vgl. besonders Jost 1994.

122

Wilhelm Hofmeister

(1985) bzw. drittbesten (1989) Wahlergebnis zum Präsidenten wählte. Bei allen Parteien gab es daher, aus unterschiedlichen Gründen und mit unterschiedlicher Zielrichtung, ein Interesse an einer Änderung des Wahlrechts. Im Kontext der Verfassungsreform verständigte man sich schließlich auf folgende Punkte: -

die Herabsetzung des aktiven Wahlrechts von 21 auf 18 Jahre;

-

die Verlängerung und Vereinheitlichung der Wahlperioden von Präsident und Vizepräsident, Senatoren, Abgeordneten, Bürgermeistern und Gemeinderäten auf fünf Jahre;

-

die Einfuhrung des konstruktiven Mißtrauensvotums bei Bürgermeistern;

-

die Veränderung der Modalitäten für die Wahl des Staatspräsidenten im Kongreß, so daß künftig nur noch zwischen den zwei (bisher drei) bestplazierten Bewerbern entschieden wird, falls keiner der Kandidaten bei den allgemeinen Wahlen eine absolute Stimmenmehrheit erreicht;

-

die Einführung eines Mischwahlsystems für die Wahl der Abgeordnetenkammer gemäß deutschem Vorbild, so daß nur noch die Hälfte der Abgeordneten über Parteilisten und die andere Hälfte im Rahmen von Mehrheitsentscheidungen gewählt wird.

Besonders der letzte Punkt erscheint mit Blick auf die Demokratieentwicklung interessant. Er könnte dazu beitragen, daß sich Abgeordnete künftig in stärkerem Maße ihren Wählern unmittelbar verpflichtet fühlen und die Macht der Parteiapparate bei der Auswahl der Kandidaten etwas eingeschränkt wird. Die Repräsentativität der bolivianischen Politik könnte dadurch erhöht werden. Zudem wird die Anwendung des neuen Wahlrechts den Konzentrationsprozeß im Parlament bestätigen und vielleicht auch auf der Ebene des Parteiensystems weiter fordern. Ob damit dann auch die Fähigkeit der Parteien zur Bündelung und Artikulation gesellschaftlicher Interessen gestärkt wird, bleibt abzuwarten.

II. Bolivien

123

4.1.2. Justizrefom Die bolivianische Justiz hat einen schlechten Ruf. Ineffizienz, Willkür und Korruption bestimmen ihr Erscheinungsbild. Etwa 80 % der Häftlinge sitzen zum Teil seit Jahren ohne ein Urteil oder gar Gerichtsverfahren ein. Die Forderung nach einer grundlegenden Reform des Justizwesens gehörte daher seit langem zu den Standartthemen bolivianischer Politik. Doch erst durch die Verfassungsreform wurden einige wichtige Neuerungen eingeführt. Dazu gehören vor allem: -

die Einrichtung eines unabhängigen "Tribunal Constitucional" - gegen den Willen der "Corte Suprema", des Obersten Gerichts, das darin eine Beschneidung seiner Befugnisse sah und die Kompetenzen der Verfassungsrechtssprechung selbst wahrnehmen wollte; 57

-

die Einrichtung eines "Consejo de la Judicatura" als Administrativ- und Disziplinarorgan der Judikative;

-

die Schaffung eines "Defensor del Pueblo", der mit zwei Dritteln der Mitglieder des Kongresses gewählt werden und - in der skandinavischen Tradition des Ombudsmanns - besonders für Menschenrechtsfragen zuständig sein soll;

-

die Verlagerung der Entscheidung über die Berufung des Generalstaatsanwalts vom Staatspräsidenten auf den Kongreß.

Die Justizreform gehört sicherlich zu den wichtigsten Reformen in Bolivien, weil sie einerseits die Unabhängigkeit der Justiz gegenüber der Politik und Regierung zu stärken und andererseits die Transparenz und Effizienz des Justizapparates zu erhöhen sucht. Das ist ungemein wichtig für die Durchsetzung der Gewaltenteilung und überhaupt die Stärkung von Rechtsstaatlichkeit in Bolivien. Wie sich zeigt, hat Justizminister Blattmann seit 1993 sehr energisch die Justizreform weiter vorangetrieben und die allgemeinen Verfassungsbestimmungen mittlerweile auch durch entsprechende Gesetze konkretisiert. So betrieb er z.B. eine Reform des Prozeßrechts, womit die Gleichheit vor dem Recht maßgeblich verbessert wurde. Zwar mag die Ein-

57

Es konnte damit sich jedoch vor dem Hintergrund einer Anklage und Verurteilung des Präsidenten und des Sub-Dekans der Corte Suprema wegen Korruption nicht durchsetzen.

124

Wilhelm Hofmeister

führung eines Ombudsmanns mit der gleichzeitigen Errichtung eines Verfassungsgerichts als verzichtbar erscheinen, doch angesichts der nach wie vor schwierigen Menschenrechtslage ist es wohl durchaus zu rechtfertigen, daß sich die Bürger gleich an zwei Instanzen wenden können, wenn sie sich in ihren Grundrechten behindert fühlen - sofern diese Instanzen funktionieren und sich nicht gegenseitig paralysieren.

4.1.3. Dezentralisierung Die seit vielen Jahren währende Dezentralisierungsdebatte wurde im Rahmen der Verfassungsreform nicht entschieden. Zu widersprüchlich waren noch immer die Positionen derjenigen, die wie Staatspräsident Sánchez de Lozada den Verfassungssatz von der "unitarischen Republik" sehr eng auslegen, und denen, die wie die Comités Cívicos demokratische Elemente bei der Bestellung der regionalen Repräsentativorgane verwirklicht sehen wollten. Am Ende verständigte man sich darauf, daß der Staatspräsident weiterhin die Präfekten ernennt, deren Kompetenzen allerdings ebenso wie die Zusammensetzung der regionalen Vertretungsorgane, der Consejos Departamentales, erst noch durch Gesetz zu regeln sind. Gewiß wird es noch einige Zeit dauern, ehe die Debatte darüber zu einer Entscheidung führt.

4.2. Wichtige Reformprojekte der Regierung Sánchez de Lozada Ausgestattet mit einem ambitiösen Reformprogramm, einer soliden parlamentarischen Basis und dem unverkennbaren Willen zur Verwirklichung seiner Projekte trat Präsident Sánchez de Lozada sein Amt unter äußerst günstigen Bedingungen an. Doch sein Start war schlecht, so daß seine Regierung zunächst den selbst entfachten Erwartungen hinterherlief. Dennoch gelang es, nach einigen Startschwierigkeiten wichtige Reformprojekte auf den Weg zu bringen. In dem Regierungsprogramm "Plan de Todos" war ein energisches Vorgehen gegen die gravierendsten Probleme des Landes angekündigt worden.

II. Bolivien

125

Das waren -

der wirtschaftliche Stillstand,

-

die Arbeitslosigkeit und die niedrigen Löhne,

-

die schwere Krise im Erziehungs- und Gesundheitswesen,

-

die dramatische Situation auf dem Land und in den Provinzen sowie

-

die moralische und institutionelle Krise des Staates.

Aufgrund dieser vielschichtigen Krisensituation sollte eine radikale Reform der Rolle und der Strukturen des Staates vorgenommen werden. Die Reform sollte bei der Regierung selbst beginnen; die drei Pfeiler der Regierungspolitik aber sollten die Kapitalisierung der Staatsunternehmen, die Neubestimmung der Partizipationsformen und die Erziehungsreform sein. 58

4.2.1. Reform des Regierungsapparates Schon bei der Regierungsbildung wagte Präsident Sánchez de Lozada die erste Reform - und scheiterte damit ziemlich vollständig. Er reduzierte sein Kabinett und schuf drei Superministerien, denen er die übrigen zehn Ministerien unterordnete. Doch die neue Regierungsstruktur und die Aufgabenverteilung verstand niemand. Konfusion machte sich breit. Erst nach einem knappen Jahr kehrte der Präsident zu einer modifizierten Kabinettsform früherer Jahre zurück. Allerdings beweisen nun die neu geschaffenen Strukturen durchaus Beharrungsvermögen, so daß auch Mitte 1995 noch von viel Konfusion auf der Ebene des Regierungsapparates zu hören war. Damit aber ist wichtige Zeit für die Inangriffnahme anderer Reformprojekte verloren gegangen. Als schwierig gilt zudem der Arbeitsstil des Präsidenten, der sich detaillversessen selbst um viele Einzelfragen einzelner Ressorts zu kümmern scheint. Dadurch aber bleiben zuweilen andere Fragen liegen. Das hat sich wohl vor allem bei der Behandlung der Koka-/Kokainproblematik und den Beziehungen zu den USA ausgewirkt.

58

Zum folgenden vgl. auch Jost 1996.

Wilhelm Hofmeister

126

4.2.2. Ley de Capitalización Die Kapitalisierung der sechs wichtigsten staatlichen Unternehmen ist sicherlich eines der originellsten und ambitiösesten, allerdings auch eines der schwierigsten und gewagtesten Reformvorhaben der Regierung von Präsident Sánchez de Lozada. Das Vorhaben bedeutet einerseits einen tiefen Einschnitt in die hergebrachte Form von Struktur und Verständnis staatlicher Wirtschaftstätigkeit, indem es eine Teilprivatisierung der Unternehmen vorsieht. Gleichzeitig versucht man andererseits, die Hälfte der Unternehmensanteile in den Händen der Bolivianer zu halten. Das kann wirtschaftlich erfolgreich sein. Auf jeden Fall ist es der Versuch, die seit der Revolution von 1952 gepflegte Vorstellung von der staatlichen Verfügungsgewalt über die wichtigsten Unternehmen aufrecht zu erhalten. Konkret sieht die am 21. März 1994 per Gesetz verfugte Kapitalisierung der Unternehmen ENDE, ENFE, ENAF, YPFB, LAB und ENTEL 59 vor, daß diese Unternehmen in Aktiengesellschaften verwandelt und die Hälfte der Aktien an nationale und internationale Investoren verkauft werden, um frisches Kapital für die notwendige Modernisierung dieser Unternehmen zu erhalten. Die in Staatshänden verbleibenden Aktien werden an die volljährigen Bolivianer verteilt - allerdings nicht direkt; vielmehr werden die Aktien in einen Pensionsfonds eingezahlt, so daß jeder Bolivianer, der am 31. Dezember 1995 das 18. Lebensjahr vollendet hat, mit 65 Jahren eine Rente aus diesem Fonds erhalten soll. Das ist ein im lateinamerikanischen Vergleich neuartiges und originelles Verfahren, Privatisierungsmaßnahmen mit dem Aufbau eines sozialen Sicherungssystems zu verbinden. Notwendig ist nur, daß das System funktioniert, die Pensionseinlagen tatsächlich zustande kommen, der Fonds effizient verwaltet wird und die Einlagen nicht durch Rezession, Inflation oder Korruption - einzeln oder zusammen - geraubt werden. Tatsächlich gab es viele skeptische Stimmen gegenüber dieser Form der Kapitalisierung, die bezweifelten, daß sich Investoren fänden, die den von manchen als zu hoch bezeichneten Buchwert der Unternehmen bezahlten; 59

Es handelt sich dabei um die staatlichen Energieversorgungs-, Transport- und Telekommunikationsunternehmen.

II. Bolivien

127

zudem befürchtete man, das frische Kapital könne zur Bereinigung von Altlasten und Altschulden aufgebraucht werden; auch die Schaffung neuer Arbeitsplätze wurde angesichts der notwendigen Modernisierung der Unternehmen eher kritisch gesehen. Gewiß haben solche Einwände Gewicht, zumal die Kapitalisierung sehr schleppend begann und zunächst keine attraktiven Angebote aus dem In- und Ausland eingingen. Allerdings gab es nach dem unerwartet hohen Angebot eines italienischen Unternehmens für die Übernahme von 50 % der Anteile an der Telefongesellschaft ENTEL im Oktober 1995 60 Hinweise darauf, daß die Perspektiven für die Kapitalisierung gar nicht so schlecht sind und Bolivien sich angesichts seiner Lage in der Mitte des Subkontinents doch noch zu einem interessanten Anbieter auf dem Dienstleistungsmarkt entwickeln könnte. Das jedenfalls wird als Entwicklungsleitbild von Politikern, Untermehmern und Ökonomen heute angestrebt.

4.2.3. Ley de Participación Popular Die am 20. April 1994 verabschiedete Ley de Participación

Popular leitete

eine tiefgreifende Reform der Partizipationsmöglichkeiten und Kompetenzen der Kommunen ein. Die Neudefinition der politischen und sozialen Partizipationsmöglichkeiten der Bevölkerung insbesondere im Bereich der Dörfer und Kommunen zielte darauf ab, sowohl die Entwicklung von Eigeninitiative zu fördern als auch dem wachsenden Stadt-Land-Gefälle und der Migration in die Städte Einhalt zu gebieten. 61 Die Reform enthält vor allem vier Komponenten: -

Mit einer Kommunalisierung wurde die territoriale Struktur des Staates verändert; den neu geschaffenen 305 Gemeinden wurde nicht nur Zuständigkeit auch für die Bevölkerung in den ländlichen Regionen in ihrem Einzugsbereich übertragen, sondern auch für Einrichtungen und Aufga-

60

Vgl. Latin American Weekly Report vom 12. Oktober 1995. Vgl. Municipio y Participación 1994, auch Arrieta/Mayorga/Galindo 1995. Zur Beschreibung des gesellschaftspolitischen Hintergrunds vgl. auch Ticona/Rojas/Albo 1995.

128

Wilhelm Hofmeister

ben im Bereich des Erziehungs- und Gesundheitswesens, der Straßen, Bewässerung, des Sports und der Kultur. -

Zugleich wurde den Gemeinden ein fester Anteil an den staatlichen Einnahmen zugesichert; danach gehen seit 1994 20 % der nationalen Steuereinnahmen an die Gemeinden, entsprechend ihrer Bevölkerungszahl. Vor der Reform wurden die Mittel nach ihrer Herkunft verteilt mit der Folge, daß 95 % der Mittel in die Departements-Hauptstädte flössen, allein 86 % in die drei Städte La Paz, Santa Cruz und Cochabamba. Die Neuverteilung der Ressourcen ist ein ganz großer Einschnitt in die bolivianische Finanzverfassung. Die Gemeinden sollen 90 % der Mittel für Gemeinschafts- und Infrastrukturmaßnahmen ausgeben und nur 10% für die Verwaltung.

-

Die Bürgermeister werden künftig direkt gewählt. Der Demokratisierungsimpuls erhielt zusätzlichen Auftrieb durch die rechtliche Anerkennung von etwa 20.000 Organizaciones Territoriales de Base (OTBs), darunter 12.000 comunidades campesinas und 8.000 juntas vecinales. Diese Organisationen erhielten eine Reihe von Rechten und Kompetenzen, welche ihnen die Teilnahme an den Entscheidungen über die Verwendung der kommunalen Ressourcen und deren Kontrolle ermöglichen.

Nach einem Jahr der Praxis ist erkennbar, daß die Ley de Participación Popular insgesamt in bemerkenswerter Weise zur Freisetzung von Kräften und Initiativen auf der kommunalen Ebene beigetragen hat. Gewiß haben mancherorts die lokalen Autoritäten einen Teil der neuen Finanzmittel zunächst fiir Maßnahmen in klientelistischer Tradition eingesetzt. Doch generell überwiegen die positiven Erfahrungen. Überall wissen die Menschen, daß Mittel - wenn auch vielerorts in bescheidenem Maße - vorhanden sind. Ihre sinnvolle Verwendung wird eingefordert. Und so stößt man überall im Land auf Maßnahmen zur Verbesserung der Infrastruktur und andere Aktivitäten. Bezeichnenderweise sind die Kritiker der Participación Popular mittlerweile weitgehend verstummt. Die Participación Popular ist eine wichtige Maßnahme der administrativen und politischen Dezentralisierung. Vielleicht wird es dem Dezentralisierungsprozeß insgesamt zugute kommen, daß damit nun auf der kommunalen Ebene begonnen wurde und sie erst später auf der Ebene der departamentos fortgesetzt wird.

II. Bolivien

129

4.2.4. Entwicklungsreform Angesichts des Ausbildungsstandes und der Situation des Erziehungswesens ist die in Angriff genommene Bildungsreform überfällig. Sie zielt darauf ab, ein einheitliches, dezentralisiertes und interkulturelles Erziehungswesen zu schaffen, die Grundversorgung zu verbessern und ein gleichmäßiges Bildungsangebot zu schaffen. Ein erster Reformschritt wurde im Juli 1994 unternommen, als man den zweisprachigen Unterricht und die Beteiligung der Bevölkerung an der Schulaufsicht einführte und die Überarbeitung der Curricula sowie eine Verbesserung der Lehreraus- und -fortbildung beschloß. Dazu kommt eine Neuorganisation der Schulverwaltung sowie generell die Verbesserung der Infrastruktur. Zudem ist beabsichtigt, die Förderung der Universitäten zugunsten der Grundbildung zu reduzieren. Gegen diese Entscheidung, vor allem aber gegen die beabsichtigte Beschneidung des Einflusses der Lehrergewerkschaft auf die Entscheidung über Anstellung, Versetzung und Beförderung von Lehrern, kam es zu dem erwähnten massiven Widerstand und Protest. Die Erziehungsreform ist zweifellos notwendig. Allerdings ist hier noch nicht deutlich erkennbar, ob die beschlossenen Veränderungen tatsächlich zu einer Verbesserung im Bildungs- und Ausbildungsbereich führen werden. Die Konflikte mit der Lehrergewerkschaft zeigen die Grenzen der Durchsetzungsfähigkeit der Regierung. Grenzen ganz anderer Art werden durch den notwendigen Finanzbedarf für die Reform gesteckt, die vom bolivianischen Staat allein nicht finanziert werden kann. Gerade auch in diesem Bereich zeigt sich die extreme Abhängigkeit Boliviens von externer Hilfe.

5.

Externe Konditionierungen der bolivianischen Entwicklung

Bolivien hängt in mehrerer Hinsicht von externen Konditionierungen ab. Das ist weniger ein Resultat aus der geographischen Lage und dem fehlenden Zugang zum Pazifik als vielmehr ein Ergebnis der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung seit langer Zeit. Hinzu kommt neuerdings der Koka-/Kokainbereich, der seit Beginn der achtziger Jahre die Außenbeziehun-

130

Wilhelm Hofmeister

gen des Landes maßgeblich beeinflußt. Dabei ist ein bemerkenswerter Verlust von Handlungsautonomie festzustellen. Insbesondere im Verhältnis zu den USA, dem wichtigsten Handelspartner des Landes, dominiert seit Jahren das Koka-/Kokainthema. Kompliziert ist dieses Verhältnis deshalb, weil beide Länder eine diametral entgegengesetzte Perzeption von Ursache und Wirkung des Problems haben. Während die USA den Kokaanbau für den wesentlichen Grund des Drogenproblems im eigenen Land halten und deshalb den Anbau um fast jeden Preis einschränken wollen, dabei die Armutsproblematik als den eigentlichen Grund für den Kokaanbau aber weitgehend übersehen, ist für die bolivianische Seite der Kokaanbau ein Resultat der Nachfrage in den USA; ohne diese Nachfrage gäbe es kein Angebot. Da aber die USA die stärkere Position in diesem Konflikt haben, finden sich die bolivianischen Regierungen in einem ständigen Dilemma der Zugeständnisse gegenüber den USA und der Suche nach Verständnis und Verständigung mit den Kokabauem. Alle Maßnahmen zur Substitution des Kokaanbaus durch eine Entschädigung der Bauern für einen Verzicht und die Umstellung ihrer Produktion auf andere Produkte sind bisher gescheitert. Ein Ausweg aus diesem Dilemma ist nicht in Sicht; vielmehr gibt es Hinweise darauf, daß die Lage immer komplizierter wird. So haben die USA ihre Entwicklungshilfe für 1995 bereits gekürzt, weil sie keine Geduld mehr mit der bolivianischen Politik haben. Es scheint zudem, daß Präsident Sánchez de Lozada zu sehr auf den good will der US-Administration gegenüber seiner Person und Regierung vertraute, so daß er die allmähliche Verschlechterung des Verhältnisses zu Washington erst zu spät bemerkte. Es soll hier nicht der Eindruck erweckt werden, als sei das Koka-/Kokainthema nur ein Problem für die USA. Auch in Bolivien selbst hat dieses Problem ein zunehmendes Gewicht. Nicht nur nimmt der Drogenkonsum zu, sondern seit Jahren ist die Penetration des Kokainsektors in den öffentlichen und staatlichen Bereich unverkennbar. Das kann die Grundlagen der demokratischen Institutionen erheblich erschüttern. Als einziger Lichtstreifen an diesem düsteren Horizont erscheinen die Hinweise der jüngsten Zeit, wonach der Anteil der Kokaineinnahmen zwar nicht in absoluten Zahlen, aber immerhin relativ gemessen am Bruttoinlandsprodukt, zurückgeht. Das verweist auf den einzigen Ausweg aus dem Problem:

II. Bolivien

131

die Stärkung der formalen Bereiche der Volkswirtschaft. Das ist vorerst ohne internationale Unterstützung kaum machbar. Ein Abstrafen durch Entzug von Hilfsmitteln ist in diesem Zusammenhang wohl die schlechtere Politik. Die bolivianischen Regierungen versuchen, dieser Beschneidung ihres Handlungsspielraums in anderen Politikfeldern entgegenzuwirken. So hat sich Bolivien in den letzten Jahren deutlich für eine Wiederbelebung von Integrationszusammenschlüssen engagiert. Das gilt besonders für den Andenpakt und das Amazonasabkommen. Daneben hat man die Mitgliedschaft im MERCOSUR beantragt, da die Länder des CONOSUR eine viel größere Bedeutung für die bolivianische Volkswirtschaft besitzen als die Andenstaaten. All dies sind Hinweise für eine neue Einstellung gegenüber den Nachbarn innerhalb der Region. Diese pragmatische Einstellung gilt auch für das Verhältnis zu Chile, zu dem es immer noch keine diplomatischen Beziehungen auf Botschafterebene gibt. Dennoch ist Chile mittlerweile zu einem der wichtigsten Außenhandelspartner geworden, und chilenische Investoren gehören zu den wichtigsten im Land (wogegen sich kaum noch kritische Stimmen erheben). Es ist somit durchaus das Bemühen um eine pragmatische Erweiterung und Diversifizierung der Außenbeziehungen zu beobachten. Allerdings unterliegt der Handlungsspielraum weiterhin starken Konditionierungen - nicht zuletzt durch die großen Nachbarn Brasilien und Argentinien, so daß auch von daher die Entwicklung der bolivianischen Demokratie beeinflußt wird.

6.

Systemwandel in Bolivien - Bewertung, Perspektiven und Ansätze für die internationale Zusammenarbeit

Im Kontext der Prozesse der Demokratisierung und Demokratieentwicklung in Lateinamerika wird seit einiger Zeit das Thema der "gobemabilidad" sehr intensiv diskutiert. Es geht dabei um die Frage, ob die politischen Institutionen in der Lage sind, sowohl die Demokratie als politisches und gesellschaftliches Ordnungsprinzip durchzusetzen als auch die wirtschaftlichen und sozialen Probleme in den Griff zu bekommen. Dahinter steht die Sorge, daß sich eine Einschränkung der gobemabilidad und entsprechend unübersichtliche Situationen ergeben können - wie man sie beispielsweise in Peru

132

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oder Venezuela schon erfahren hat - , wenn es nicht gelingt, politische Demokratie, wirtschaftliche Modernisierung und soziale Gerechtigkeit miteinander zu verbinden. Vorübergehend haben insbesondere die Themen Dezentralisierung und Veränderung der präsidentiellen Regierungssysteme in der politologischen Debatte eine große Rolle gespielt, 62 doch scheint diese wieder an Intensität eingebüßt zu haben, nachdem in vielen Ländern Verfassungsreformen durchgeführt wurden, ohne daß es zu großen Umbrüchen in bezug auf diese beiden Themen gekommen wäre. Das Problem der gobernabilidad ist damit aber noch nicht gelöst. Im Hinblick auf Bolivien sind seit dem Beginn des Transformationsprozesses 1985 wichtige Veränderungen im wirtschaftlichen und politischen Bereich zu beobachten, die nicht zuletzt den Bereich der gobernabilidad

tangieren. Da-

bei sind gerade durch die Reformen der letzten Jahre wichtige Fortschritte im politisch-institutionellen Bereich erzielt worden, die wenigstens von dieser Seite her eine Stärkung der gobernabilidad

nahelegen. Doch die angespro-

chenen "Managementprobleme" der Regierung sowie der noch offene Ausgang der aktuellen Reformbemühungen legen eine vorsichtige Bewertung der politischen Fortschritte nahe. Allerdings stellte sich die Situation um die Jahreswende 1995/96 gewiß positiver dar als einige Jahre zuvor. 63 Dennoch ist sogleich auf die anhaltend schwierige wirtschaftliche und vor allem die sehr komplizierte soziale Situation zu verweisen, die sicherlich noch einige Jahre eine schwierige Hypothek der bolivianischen Entwicklung sein werden - obschon im Hinblick auf diesen Komplex in Bolivien eine interessante Erfahrung gemacht werden konnte: "Ein immer noch unzureichendes Wirtschaftswachstum mit großen Einkommensunterschieden und ein Anwachsen des informellen Sektors sind offensichtlich keine strukturellen Hemmnisse für einen Prozeß der demokratischen Erneuerung, wie auch die sichtbaren Defizite der Parteien nicht automatisch bewirken, daß die bolivianische Gesellschaft nicht repräsentiert werden könnte." 64

62

Vgl. Nohlen/Fernändez 1991, für Bolivien siehe Ferrufino/Mercado/Urioste 1995 und Jost 1995.

63

Vgl. die verschiedenen Beiträge in Mayorga 1992a.

64

Mayorga 1994b, S. 54.

II. Bolivien

133

Für die weitere Konsolidierung des demokratischen Prozesses erscheint es unabhängig von den dringenden Fortschritten im sozioökonomischen Bereich - notwendig, den eingeleiteten Reformprozeß fortzusetzen und zu vertiefen. Stichwortartig können einige Punkte angesprochen werden, die wohl im Rahmen der politischen und gesellschaftlichen Modernisierung aufgegriffen werden sollten. Im Kern muß es dabei um zwei Fragen gehen: einerseits um die weitere Verbesserung der Repräsentativität und andererseits um die Steigerung der Effizienz und Effektivität des demokratischen Rechtsstaates. Die Frage der Repräsentativität betrifft die Legitimität der Regierungsentscheidungen und -maßnahmen; dazu gehört natürlich auch die Frage des Zusammenspiels mit dem Parlament. Zur Frage der Repräsentativität gehört aber auch der Zustand der Parteien und des Parteiensystems sowie die Existenz und Funktionsfahigkeit anderer Organisationen der Zivilgesellschaft. In Bolivien hat sich in den letzten Jahren eine interessante Form der "democracia pactada" eingespielt, die dazu führte, daß die Regierungen über eine breite parlamentarische Basis verfugen. Gleichwohl ist das Verhältnis zwischen Regierung und Parlament noch sehr stark von der Position des Präsidenten geprägt, während die tatsächlichen Einflußmöglichkeiten des Parlaments im Hinblick auf seine Aufgaben der legislación und fiscalización eher eingeschränkt sind. Es wird zwar gewiß so schnell nicht zur Änderung des Regierungssystems in Richtung Parlamentarismus kommen (wobei auch gar nicht ausgemacht ist, daß dies das beste System wäre), doch sollten gewiß die Ansätze in Richtung eines "presidencialismo parlamentarizado" gestärkt werden. Die Anstrengungen zu einer Parlamentsreform sollten weiterhin durch den internationalen Erfahrungsaustausch gerade auch zwischen lateinamerikanischen Ländern unterstützt werden. Wichtig ist es, daß die Parteien dem drohenden weiteren Ansehensverlust und damit einem drohenden Schaden für das demokratische System durch Anstrengungen der innerparteilichen Erneuerung und Demokratisierung entgegenwirken. Auch hier kann der internationale Erfahrungsaustausch eine große Bedeutung haben. Für die weitere Konsolidierung des demokratischen Systems ist der gegenwärtige Zustand der gesellschaftlichen Organisationen bedenklich. Das gilt vor allem für die Organisationen der Arbeiter und Bauern, die eine große

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Tradition besitzen, deren Beitrag für die Herausbildung und Konsolidierung der repräsentativen Demokratie aber eher begrenzt war. Dennoch sind sie wichtig für die Funktionsfähigkeit eines solchen Systems. Zu fragen ist, ob nicht auch in diesem Bereich, gezielter und vielleicht erfolgreicher als bisherige Maßnahmen, ein internationaler Erfahrungsaustausch einsetzen könnte, der diese Organisationen aus ihrer politischen und ideologischen Isolation führt und sie darin unterstützt, einen durchaus kritischen, aber systemkonformen Beitrag zur Schließung der Repräsentationslücke zu leisten. Im Hinblick auf den zweiten Komplex der Effizienz und Effektivität kommt es sicherlich darauf an, alles zu tun, damit die begonnenen Reformen erfolgreich weitergeführt werden können. Das hat nichts mit der Unterstützung einer bestimmten Regierung oder Partei zu tun, da der Konsens für verschiedene Maßnahmen ja erfreulicherweise sehr breit ist. Allerdings geht diese Kooperation über rein "technische" Maßnahmen hinaus. So ist die Fortsetzung der Reformen im Rechtswesen eine politische Aufgabe, die aus einer politischen Persepektive unterstützt werden sollte. Das gilt um so mehr für die Kommunalentwicklung nach der Einführung der participación popular. Wichtig erscheint vor allem, daß der nun eingeschlagene Reformkurs beibehalten wird, nachdem in der vorhergehenden Regierung und auch in der ersten Etappe der gegenwärtigen Administration wichtige Zeit verloren wurde. Die wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen bleiben vorerst extrem schwierig, und die Probleme nach innen und außen, die mit dem Koka-/Kokainsektor verbunden sind, bedeuten eine zusätzliche Belastung. Doch gerade die Erfahrungen der vergangenen Jahre zeigen Bolivien als ein Beispiel dafür, daß es möglich ist, auch in schwierigen Situationen im Rahmen demokratischer Verfahren tiefgreifende Reform- und Transformationsprozesse in die Wege zu leiten. Das sollte zuversichtlich machen für die Zukunft.

II. Bolivien

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141

II. Brasilien

Bolivar Lamounier Brasilien: Von der Krise der achtziger Jahre zu den Perspektiven politischer Stabilität und wirtschaftlicher Reformen der neunziger Jahre* Einführung Mit der Wahl von Fernando Henrique Cardoso zum Präsidenten Brasiliens im Jahre 1994 scheint das lateinamerikanische Land die langanhaltende Krise überwunden zu haben, in die es seit Beginn der achtziger Jahre geraten war. Der hohe Wahlsieg, den Cardoso bereits im ersten Wahlgang errungen hat, und die fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Exekutive und Legislative im ersten Amtsjahr des Präsidenten sind hoffnungsvolle Anzeichen für einen deutlichen Abbau bestehender politischer Spannungen. Aber so wie der im zurückliegenden Jahrzehnt vorherrschende Pessimismus zu vielen Übertreibungen geführt hat, muß jetzt vermieden werden, die gegenwärtige Situation übertrieben optimistisch einzuschätzen. Die zukünftige Entwicklung Brasiliens muß noch immer mit Skepsis betrachtet werden - und zwar aus folgenden Gründen: -

Armut und ungleiche Einkommensverteilung werden noch für lange Zeit verteilungspolitische Forderungen entstehen lassen, die unmöglich zu erfüllen sind und für die sich politisch nur schwer ein Ausgleich finden läßt.

-

Auf kurze Sicht, vielleicht sogar bis zum Ende der Amtszeit von Fernando Henrique Cardoso im Jahre 1998, werden die Tendenz zu einem Defizit im öffentlichen Haushalt, die erheblichen Mängel in der Infrastruktur sowie die nur unzureichende internationale Wettbewerbsfähigkeit die Rückkehr zu ausgeprägtem wirtschaftlichem Wachstum

erschweren;

Brasilien muß daher auch weiterhin mit hohen Arbeitslosenquoten rech-

*

Aus dem Portugiesischen übersetzt von Marie-Louise Sangmeister-Plehn.

Bolívar Lamounier

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nen, ein Problem, das durch die notwendige technologische Modernisierung verschärft wird, die in einigen Wirtschaftszweigen stattfindet. -

Auch in bezug auf die politische Ebene strictu sensu ist die Frage angebracht, ob sich die von Cardoso erzielten Fortschritte als institutionalisierte Gewinne für die Demokratie konsolidieren werden, oder ob sie wieder in Vergessenheit geraten, falls sein Nachfolger im Präsidentenamt keine vergleichbare Glaubwürdigkeit besitzen wird.

Eingedenk dieser drei Vorbehalte wird in der vorliegenden Studie versucht, einige positive und negative Hauptmerkmale der gegenwärtigen politischen Situation Brasiliens konzeptionell und empirisch zu umreißen - in der Erwartung, daß diese Gegenüberstellung für ein komparatives Verständnis der Entwicklung von Demokratie von Nutzen sein kann. Im ersten Teil werden zunächst die begrifflichen Kriterien der Untersuchung erläutert, um anschließend eine erste Einschätzung einer langfristigen Perspektive darzulegen. Im zweiten Teil wird der Übergang von den achtziger zu den neunziger Jahren erörtert; dieser Übergang bildet den Rahmen für eine Interpretation der politischen Maßnahmen, die von der Regierung Cardoso in Gang gesetzt wurden.

1.

Fünf Überlegungen zur Entwicklung der Demokratie

1.1. Die Demokratie bleibt auch künftig "repräsentativ" Die brasilianische Verfassung von 1988 stellte die "direkte" Demokratie praktisch mit der "repräsentativen" Demokratie gleich. Die öffentliche Meinung neigt häufig zu der Auffassung, demokratische Praxis sei nur bei einer direkten Interventionsmöglichkeit der Bürger im politischen Entscheidungsprozeß gewährleistet. Angesichts solcher hohen Ideale in der öffentlichen Debatte scheint es nützlich, eine Trennung der Begriffe repräsentative und direkte Demokratie an den Beginn der Überlegungen zu stellen. 1

Die konzeptionelle Darstellung der politischen Repräsentation in dieser Arbeit stützt sich zum großen Teil auf Pitkin 1972; für die Analyse des Verhältnisses zwischen repräsentativer Demokratie und direkter oder partizipatorischer Demokratie ist hingegen ausschließlich der Verfasser der vorliegenden Arbeit verantwortlich.

143

II. Brasilien

Soweit erkennbar gibt es keine überzeugenden Gründe für die Annahme, daß die Repräsentation des Volkes durch Parlament und Parteien nicht länger Hauptstütze der demokratischen Organisation des politischen Lebens bevölkerungsreicher Gesellschaften sei. In der Tat kann man die These vertreten, daß tendenziell "partizipative" Demokratie immer häufiger mit "repräsentativer" Demokratie koexistiert; diese These ist dahingehend zu verstehen, daß die Welt in unserem Jahrhundert miterlebte, wie sich 1.) die Menge potentieller Teilnehmer am politischen Spiel eindrucksvoll erweiterte und 2.) die Erwartung drastisch verstärkte, daß (wählbare oder ernannnte) politische Funktionsträger für die Forderungen auch jener Kreise empfänglich sein sollten, die weiter von den Zentren des repräsentativen Subsystems - Parteien und Parlament - entfernt sind. Man kann sogar die Meinung vertreten, daß die größere "Durchlässigkeit" der repräsentativen Systeme für Forderungen, die von "entropisch" an soziale Organisationen und Bewegungen gebundenen Führungen artikuliert und zusammengefaßt werden, heute Teil der Bedingungen sind, durch die repräsentative Systeme ihre Legitimität und nicht nur Legalität erhalten. Es wäre offensichtlich eine Übertreibung anzunehmen, daß "partizipative" Demokratie an die Stelle "repräsentativer" Demokratie getreten sei. Die Annahme,

daß

"partizipative"

Demokratie

dazu tendiere,

an die

Stelle

"repräsentativer" Demokratie zu treten, ist eine Zukunftsprojektion, die zwar nicht außer acht gelassen werden sollte, aber auch nicht ohne Diskussion zu akzeptieren ist. Im folgenden werden kurz einige Argumente gegen die unter 1.) und 2.) genannten Thesen angeführt: -

Für die These, derzufolge weltweit immer mehr Menschen am politischen Spiel teilnehmen, ist die Ausdehnung des "franchise", der Einschreibungen in Wählerverzeichnisse, ein klares Indiz, denn es zeigt den steigenden Anteil der Wahlberechtigten an der Gesamtbevölkerung. Folglich nimmt auch die Anzahl der Bürger zu, die am Wahlprozeß teilnehmen können. Damit wird ein kleiner Teil der Bürger autorisiert, im Namen der übrigen bindende Entscheidungen zu treffen. Strenggenommen handelt es sich bei der wachsenden Zahl von Menschen, die am politischen Spiel teilnehmen, nicht um eine Substituierung oder gar um eine "Krise der repräsentativen Demokratie", wie oft behauptet wird, sondern um eine Erweiterung ihrer

144

Bolívar Lamounier

Basis. Diese historische Änderung, die zweifelsohne von großer Bedeutung ist, bringt Schwierigkeiten mit sich, kann aber auch - und das ist sogar wahrscheinlicher - eine Vervollkommnung des repräsentativen Systems bedeuten. Auf diesen Punkt werde ich weiter unten noch zu sprechen kommen. Es ist möglich, aber nicht unstrittig, daß Partizipation auch im empirischen Sinne ausgeweitet wird und die Beteiligung des Durchschnittsbürgers am politischen Geschehen vielfach zunimmt. Strittig ist diese Interpretation allerdings deshalb, da bislang gesicherte statistische Kriterien fehlen, um die Demokratien des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts mit den heutigen Demokratien zu vergleichen - auch nicht mit denen Lateinamerikas. In den Demokratien unserer Zeit besitzt über die Hälfte der Bevölkerung das Wahlrecht, und der Teil, der Partizipation durch Verbände ausübt, ist zwar klein, aber diversifiziert und in der Lage, großen Einfluß auszuüben. Auch in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg deutet die Erfahrung in den am weitesten entwickelten Demokratien nicht auf eine kontinuierliche Ausweitung der effektiven Partizipation hin. Am wahrscheinlichsten ist es, daß Partizipation, die durch Verbände und vor allem diejenige, die durch Bewegungen und Manifestationen ausgeübt wird, ab einem bestimmten Ausmaß einem zyklischen, systolischen und diastolischen Ablaufmuster folgt. Traumatische Situationen - wie der Vietnamkrieg - können zu einer allgemeinen Ausweitung von Partizipation führen, der wiederum eine nicht minder ausgeprägte Abnahme oder "Entspannung" folgt; ein Beispiel hierfür ist im Falle Nordamerikas der "Neokonservatismus" ab der zweiten Hälfte der siebziger Jahre. Mit weitaus größerem theoretischen Interesse soll auf die Hypothese eingegangen werden, das Prinzip der Repräsentativität werde durch die sogenannte "direkte Demokratie" geschwächt oder annulliert - durch Meinungsumfragen, verstärkten Rückgriff auf Plebiszite, wachsende Macht der Presse und insbesondere durch den interaktiven Charakter der elektronischen Kommunikation, die einen sofortigen Austausch zwischen der Öffentlichkeit und den Bürgern als Individuen ermöglicht. Zweifelsohne sehen wir uns einer gewaltigen technologischen Revolution gegen-

II. Brasilien

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über, deren Einwirkung auf das tägliche Leben - und folglich auch auf die institutionellen Mechanismen - nicht unterschätzt werden darf. -

Es kann in einem Zeitraum von zwei oder drei Jahrzehnten möglich sein, daß sich das politische Gefüge der Demokratien - oder sogar das ganze auf dem System der Nationalstaaten basierende internationale System grundlegend verändern wird. Die genannten Auswirkungen der technologischen Revolution beziehen sich auf die Sammlung und Übertragung von Informationen, auf die Möglichkeit, die Präferenzen der Bürger, die häufig unzureichend artikuliert und nahezu immer widersprüchlich oder heterogen sind, für Kandidaturen oder Alternativen zur Regierungspolitik schneller zu erfassen. Die Nutzung der modernen Kommunikationsmittel führt jedoch nicht notwendigerweise zu einem ebenso schnellen Abbau bestehender Schwierigkeiten, politische Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen.

-

Die sofortige Kenntnis von Präferenzen - sei es durch deren Träger, die Bürger, sei es durch Entscheidungsinstanzen - bedeutet nicht automatisch, daß sich die innere Konsistenz (Rationalität) dieser Präferenzen erhöht und noch weniger, daß sich zwischen den Bürgern eine derartige Konvergenz ihrer Präferenzen einstellt, die Entscheidungen entbehrlich macht.

Unmittelbarkeit bedeutet nicht absolute Übereinstimmung von Präferenzen und Zielen. Wäre dies wahrscheinlich, dann hätten wir das "Ende der Ideologie" bereits hinter uns gelassen und näherten uns in der Tat dem Ende der Politik. Aber solange Zielkonflikte bestehen, bleibt Politik notwendig, und Politik wird in erster Linie von Repräsentanten gemacht werden, die dazu formal von der Gesellschaft autorisiert sind. Damit werden auch weiterhin Entscheidungen getroffen und ausgeführt - so wie es heute in allen Nationalstaaten mit einer Ordnung demokratischer Institutionen üblich ist. Entscheidungen werden auch zukünftig notwendig sein: wegen des mangelnden Konsenses über das, was Gegenstand der Entscheidung sein soll, und wegen fehlender Übereinstimmung bezüglich der Entscheidungsinhalte. In einem politischen Prozeß, der im Extremfall die Ausübung von Zwang einschließt, ist ein Verfahren erforderlich, das Privatpersonen auf legitimem und friedlichem Wege öffentliche Funktionen überträgt. Damit dieser Mechanismus auf

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einer nicht-autoritären Basis funktionieren kann, wird die Zusammensetzung der Repräsentanten - die Einsetzung von Privatpersonen in Funktionen allgemeiner Autorität - von Wahlen abhängen. Die repräsentative Demokratie wird folglich auch weiterhin bestehen bleiben.

1.2.

Die Konsolidierung der Demokratie als langfristiger Prozeß in graphischer Darstellung 2

Betrachtet man die Konsolidierung demokratischer Institutionen in einem Land als langfristigen Prozeß, bietet es sich an, diese mit dem Start eines Satelliten zu vergleichen. Gelingt der Abschuß, dann nimmt der Flugkörper einen vorbestimmten Weg, bis er die gewünschte Umlaufbahn erreicht hat, in der er für lange Zeit bleibt, es sei denn, größere und unerwartete technische Mängel fuhren zu seinem Absturz. 3 Betrachtet man Lateinamerika während der vergangenen fünfzig Jahre, so glückte der Start in Costa Rica und Venezuela am besten. Diese beiden lateinamerikanischen Länder konnten ihre Demokratien für die längste Zeit erhalten. In Costa Rica blieb die Demokratie erstaunlich stabil; und Venezuela, das heute offensichtlich heftigeren inneren Spannungen ausgesetzt ist, konnte während der zurückliegenden siebenunddreißig Jahre politischen Krisen und Wahlturbulenzen erfolgreich widerstehen. Im Gegensatz zum geglückten Start des Satelliten gibt es aber auch Fälle, in denen der Start von Anfang an Mängel aufweist, oder der Flugkörper aus den verschiedensten Gründen in niedriger Höhe explodiert. Der Start scheitert bereits wenige Meter über dem Erdboden. Dadurch werden nicht selten neue Versuche für eine geraume Zeit vereitelt. Dies ist in den Ländern der Fall, in denen die Mindestvoraussetzungen für den Aufbau der Demokratie fehlen. Insbesondere fehlt als Grundvoraussetzung eine zentrale Autorität (ein Staat), die Respekt gegenüber den politischen Spielregeln zu vermitteln vermag. Desgleichen fehlt ein Fundus an gemeinsamen Werten, die zu einer Schlichtung von Konflikten beitragen. Auch eine durch krasse Ungleichheiten ge-

2

Dieser Abschnitt stützt sich, mit einigen Änderungen, auszugsweise auf Lamounier 1994b.

3

Lamounier 1994a.

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prägte sozioökonomische Struktur trägt nicht dazu bei, daß die notwendigen Grundvoraussetzungen von Demokratie entstehen können. Die formalen politischen Institutionen (der "legale Staat") sind eigentlich bedeutungslos und unfähig, Verhaltensweisen der Bürger zu normieren. Zu dieser Kategorie von Ländern gehörte nach dem Zweiten Weltkrieg zweifelsohne der größte Teil Zentralamerikas - und ein Teil wird auch weiterhin dazu gehören. Diese Kategorie wird durch das Fehlen dessen charakterisiert, was Dahl als "friedlichen Widerspruch" 4 bezeichnet hat - die Bereitschaft, den politischen Gegner als legitimen Mitstreiter zu sehen und nicht als Feind, der vernichtet werden muß. Andere lateinamerikanische Länder gehörten einer Zwischenkategorie an. In der Mehrheit erreichten sie eine bestimmte demokratische Höhe - gute Beispiele sind Brasilien zwischen 1945 und 1961 und Chile vor der Diktatur Pinochets - , gerieten jedoch in verschiedenste Krisen, die sie aus der Bahn warfen und einige von ihnen mit Gewalt zurück auf den Boden schleuderten. In den sechziger und siebziger Jahren haben selbst Länder wie Argentinien, Brasilien, Chile und Uruguay, die wirtschaftlich und institutionell am weitesten entwickelt waren, mit dem Zusammenbruch der demokratischen Verfassungsmäßigkeit und langen Phasen von Militärregierungen schwere Rückschläge erlitten. Selbst wenn man der Analyse Huntingtons zustimmt, derzufolge die lateinamerikanischen Gesellschaften eine starke prätorianische Komponente enthalten 5 , sollte man dennoch nicht im Rückblick auf die vergangenen fünfzig Jahre die Fälle Venezuela und Costa Rica mit denen El Salvadors und Guatemalas verwechseln; und keines dieser vier Länder sollte mit Ländern der Zwischenkategorie verwechselt werden - etwa Brasilien oder Chile - , trotz der gewalttätigen Rückschläge, die beide Länder erlitten haben.

4

Dahl 1971.

5

Huntington 1968.

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Abb. 1: Demokratischer Konsolidierungsprozeß: Sozioökonomische Dekonzentration und Stärkung des repräsentativen Subsystems

Instabile Demokratien

Konkurrierende Oligarchien Stärkung des repräsentativen Subsystems

Autoritäre Regime; Primitive Diktaturen (Duvalier, Stroessner, Somoza...)

II

Instabile Regime radikaler "Bewegungen"

Dekonzentration

Die Qualität von Demokratie, das Niveau ihrer täglichen Handhabung und insbesondere ihre Fähigkeit, zufriedenstellende Resultate beim Abbau sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheit zu erzielen, kann immer in Frage gestellt werden. Dieses Konzept der Qualität von Demokratie ist sehr viel anspruchsvoller als dasjenige bloßer demokratischer Kontinuität. Den Weg, den ein Land einschlägt, um sich auf einer demokratischen Umlaufbahn sicher zu halten, so daß von Konsolidierung gesprochen werden kann, läßt sich als Ergebnis von zwei Faktoren darstellen, deren Zusammanhang sich graphisch darstellen läßt (Abb. 1): -

auf der politischen und institutionellen Ebene die Stärkung des "Raums" oder des repräsentativen Subsystems;

-

auf der sozialen und wirtschaftlichen Ebene der Grad von "Dekonzentration".

149

II. Brasilien

Abb. 2: Demokratischer Konsolidierungsprozeß: Sozioökonomische Dekonzentration und Stärkung des repräsentativen Subsystems

Instabile Demokratien

* ¡" 1 1

Konkurrierende Oligarchien Stärkung des repräsentativen Subsystems Autoritäre Regime Primitive Diktaturen (Duvalier, Stroessner, Somoza...)

II

; Instabile Regime radikaler | "Bewegungen" > 1

Dekonzentration

Mit dieser Graphik läßt sich unverzüglich der Verdacht übertriebener "Politisierung" oder "Institutionalisierung" aufheben, die häufig der Konzeptualisierung von Demokratie als eines politischen Subsystems unterstellt werden. Auf diese Weise läßt sich die Idealvorstellung demokratischer Präsenz auf allen Ebenen der Gesellschaft besser abgrenzen. Abb. 2 soll verdeutlichen, daß ein übertrieben stark vertikal ausgerichteter Weg - die Stärkung des repräsentativen Subsystems ohne Fortschritt bei der sozioökonomischen Dekonzentration - zu einer exzessiven Elitisierung der Wahlen im politischen Wettbewerb fuhrt, was wiederum eine schwache und instabile Demokratie zur Folge hat. Eine zu stark horizontale Ausrichtung enthält hingegen andere, aber nicht minder große Risiken. So kann sie die Entscheidungskapazität des politischen Systems überfordern und dazu führen, daß die beteiligten Interessen "prätorianisch", ohne institutionelle Vermittlungen, wie sie einem demokratischen System zu eigen sind, aufeinanderstoßen. Die negativen Folgen solcher Auseinandersetzungen können langanhaltend sein, wie die argentinische Erfahrung seit dem Aufkommen des Peronismus bis in die achtziger Jahre zeigt.

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Ebenso wichtig ist die Unterscheidung zwischen der unteren linken und der oberen rechten Ecke in Abb. 2: die Unterscheidung zwischen der

Etablierung

eines demokratischen Regimes (Start des Satelliten) und seiner späteren Konsolidierung

(die Flugbahn wird eingehalten und der Flugkörper wird auf die

vorgesehene Umlaufbahn gebracht). In Ländern, deren Erfahrung mit Diktaturen erst kürzlich endete, ist die Etablierung der Demokratie ein in begrifflicher Hinsicht einfacher Prozeß. Dies heißt aber nicht, daß er auch auf politischer Ebene einfach ist. Es handelt sich dabei um drei Hauptkomplexe institutioneller Veränderungen: -

Wiederherstellung

des

politischen

Repräsentativsystems

durch

eine

Amnestie und Wiedereingliederung der politischen Führer, denen es zuvor untersagt war, an der öffentlichen Debatte teilzunehmen; -

Legitimierung des Verfassungsentwurfs durch eine Reform des bestehenden Textes oder Einberufung einer Verfassungsgebenden Versammlung;

-

Durchführung freier Wahlen zur Legislative und Exekutive.

In Brasilien konnten diese Veränderungen 1946 innerhalb eines Jahres realisiert werden, da das Ende des Zweiten Weltkrieges die innenpolitische Situation des Landes nachhaltig beinflußt und sogar zur Absetzung Getülio Vargas durch die Streitkräfte geführt hatte. Die Rückkehr zu einer Zivilregierung nach dem 1964 durch einen Putsch an die Macht gelangten Militärregime dauerte hingegen länger - sechs Jahre, wenn man die Zeitspanne von dem Erlaß des Amnestiegesetzes im Jahre 1979 bis zur Wahl von Tancredo Neves durch das Colegio Eleitoral im Jahre 1985 berechnet, und zehn Jahre, wenn man den Zeitraum vom Erlaß des Amnestiegesetzes bis zu den ersten direkten Präsidentschaftswahlen von 1989 zugrunde legt. Das Problem ist allerdings, daß solche Veränderungen die Demokratie zwar etablieren, nicht aber konsolidieren. Der Satellit beginnt den Aufwärtsflug, aber die Schwierigkeiten auf seiner Bahn können erheblich sein. Dies zeigen die Erfahrungen Brasiliens von 1985 bis 1993. In noch dramatischerer Weise zeigen es die Erfahrungen jener Länder, die Mitglieder der ehemaligen Sowjetunion waren. Das institutionelle Gerüst der Demokratie wird nur noch als Teil der vorbeifliegenden Landschaft gesehen und die Anzahl derer, die mögliche Schwächen erkennen und bereit sind, aktiv an einer Korrektur mitzuarbeiten, wird kleiner. Auf der öffentlichen Agenda stehen jetzt Pro-

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151

bleme ganz oben, die für den Normalbürger äußerst wichtig sind, jedoch kurzfristig unlösbar - etwa die Instabilität der Währung und die Verbesserung der sozialen Lebensbedingungen. Durch die daraus resultierende Enttäuschung kann das Ansehen der demokratischen Verfahrensweise bei der Bevölkerung sinken, so wie es nahezu in ganz Lateinamerika in bezug auf die politischen Parteien und die Legislative zu beobachten ist. Die Schwierigkeiten, die nach der Etablierung der Demokratie auftauchen, machen es zwingend notwendig, klar herauszuarbeiten, welche Elemente die Konsolidierung der Demokratie begünstigen. Wie bereits gesagt wurde, mißt die vertikale Achse in Abb. 1 die fortschreitende Institutionalisierung des repräsentativen Subsystems, mithin jener Mechanismen, die beim Wahlkampf, bei der friedlichen Auseinandersetzung zwischen Fraktionen (Parteien) und bei der parlamentarischen Arbeit ablaufen. In diesem Prozeß der Institutionalisierung lassen sich vier neuralgische Punkte ausmachen: -

die volle, wechselseitige Anerkennung der Legitimität der Hauptgegner;

-

die Anerkennung des Wahlkampfes als einzigem legitimen Weg zur Machtübernahme;

-

ein Abbau von Diskriminierungen, die das moralische Empfinden der Gesellschaft zunehmend als ungerecht bewertet, durch eine immer stärker wachsende Wählerschaft; grundsätzliche Ungewißheit über den Ausgang der Wahlen durch die bloße Anzahl der Wählerstimmen, die weder durch Kontrolle noch durch Anordnungen irgendwelcher Interessengruppen oder eines der politischen Gegner beeinflußt werden können;

-

die Herausbildung eines Mindestmaßes an Unterstützung der öffentlichen Meinung für die Institutionen und Regeln des demokratischen Spiels, wenn diese fähig sind (und nicht nur dann), Resultate vorzulegen, die von der Mehrheit oder von besonders mächtigen Gruppen für wünschenswert gehalten werden.

Die sozioökonomische Dekonzentration, die auf der horizontalen Achse dargestellt wird, beinhaltet komplexere Fragestellungen. Von Lipset bis zu Przeworski 6 haben verschiedene Studien gezeigt, daß die Stabilität der Demokratie in starkem Maße vom Wohlstandsniveau bestimmt wird, das sich 6

Lipset 1958; Przeworski u.a. 1995.

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152

operational durch das Pro-Kopf-Einkommen messen läßt. Zur Erklärung dieses Zusammenhangs sind verschiedene Argumente geltend gemacht worden. Das bekannteste Argument lautet, steigender Wohlstand schwäche die Intensität von Umverteilungskonflikten. Mit diesem Argument ist Abb. 1 kompatibel; sie gibt aber auch Anstoß zu einer komplexeren Interpretation. Die Zunahme des Wohlstands geht im allgemeinen mit einer Zunahme der Ungleichheit einher und infolgedessen mit dem Konflikt, die sozioökonomische Struktur zu "dekonzentrieren". Dabei ist unter der sozioökonomischen Struktur nicht nur die Einkommensverteilung zu verstehen, sondern all das, was Max Weber "Lebenschancen" genannt hat sowie die Macht, die aus der Kontrolle der Produktionsmittel entsteht. So gibt das Schaubild zu der Vermutung Anlaß, daß für den Kampf um die Umverteilung des Wohlstands durch die Etablierung der Demokratie politischer Raum erschlossen wird. Dabei bleibt die Demokratie fortwährend latent bedroht, solange kein vernünftiges Gleichgewicht in der Einkommensverteilung erreicht ist. In diesem Sinne bezeichnet der Begriff "Dekonzentration" mehr als nur eine Erhöhung des Pro-Kopf-Wohlstands der Bevölkerung. In erster Linie ist damit der Zugang der Massen zu Konsumgütern und Dienstleistungen gemeint, einschließlich der öffentlichen Sozialleistungen, die Marshall in seinem Konzept der "sozialen Bürgerrechte" hervorgehoben hat. 7 "Dekonzentration" bedeutet aber auch "Gleichheit der Bedingungen" oder der "Lebenschancen", auf die sich Tocqueville und Max Weber bezogen haben: die fortschreitende Reduzierung der Unterschiede bei Einkommen und Reichtum, der an bestimmte Besitzstände wie etwa Grundbesitz geknüpften gesellschaftlichen Macht und der Privilegien, die mit gesellschaftlichem Status verbunden sind. Dies bedeutet, wie bereits gesagt, daß in einer egalitären Gesellschaft tendenziell bestehende Konfrontationen durch Kanalisierung auf die politische Ebene abgeschwächt werden, und daß weniger Konflikte ausbrechen, die Repressionen erforderlich machen. Folglich verringert sich auch die Wahrscheinlichkeit, daß es zu Krisen kommt, welche die normativkonstitutionellen Grundlagen der Gesellschaft erschüttern können. Durch "Dekonzentration" wächst die Bereitschaft, insbesondere bei Personen mit

7

Marshall 1991.

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hinreichender Bildung, das demokratische "Spiel" als Wert an sich zu akzeptieren und zu schätzen. Obgleich der Hauptakzent auf dem Abbau sozialer Ungleichheit liegt, enthält die horizontale Achse noch einen weiteren entscheidenden Aspekt für die Entwicklung und Konsolidierung von Demokratie: die wachsende Komplexität der sozioökonomischen Strukturen, mit der eine Multiplizierung autonomer Einheiten einhergeht - etwa der Unternehmen, die auf dem Markt agieren, oder der Gruppe der intermediären Organisationen, die üblicherweise als "Zivilgesellschaft" bezeichnet werden. Die große historische Frage, ob Demokratie ohne Herausbildung einer Marktwirtschaft möglich sei, ist durch die Erfahrungen dieses Jahrhunderts durchweg negativ beantwortet worden. Mit Recht verweist Dahrendorf auch auf die Existenz einer positiven Korrelation zwischen der "Verschiedenartigkeit von Eliten" und der Stärkung der Demokratie. 8 Ohne diese Verschiedenartigkeit würde die Schumpetersche Definition von Demokratie als Wettstreit organisierter Kräfte mit Zustimmung des Volkes jeglichen Sinn verlieren. Diese Komplexität der sozioökonomischen Struktur ermöglicht es den repräsentativen Demokratien, der Willkür zu widerstehen, die Zuspitzung von Konflikten zwischen frontalen Antagonismen zu vermeiden und Krisen zu verhindern, die den Zusammenbruch der institutionellen Ordnung provozieren könnten.

1.3. Die Spannung zwischen zwei Erfordernissen der Repräsentation Der Wahlprozeß für die Repräsentation ist durch eine grundlegende Spannung zwischen zwei Erfordernissen gekennzeichnet - der Ungewißheit ex ante und dem Erkenntnisvermögen ex post. Mit Ungewißheit ist gemeint, daß die Stimmabgabe insgesamt, die von den Wählern als individuelle Praxis erlebt wird, von niemandem kontrolliert werden kann. Es geht dabei also um die Autonomie oder Freiheit des Wählers als Individuum. Dies bedeutet, es darf keinerlei Kontrollen geben, weder durch ein direktes Vorgehen von

8

Dahrendorf 1967, S. 29-30.

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Bolívar Lamounier

Fraktionen, Parteien, Arbeitgebern oder Verbänden, noch indirekt durch verschiedenste Ängste oder durch die diffuse Erwartung klientelistischer Begünstigungen oder Repressalien. Erkenntnisvermögen bedeutet die Notwendigkeit, daß das Wahlergebnis hinreichend verständlich ist als Auftrag an Partei A oder B, diese oder jene Politik in die Praxis umzusetzen. Ohne ein Mindestmaß an Erkenntnisvermögen ist die Annahme nicht haltbar, daß durch den Wahlprozeß ein "Mandat" zum Regieren erteilt wird. Die Wahl wird zur einfachen Technik des Austauschs von Personen (was in heutigen Gesellschaften im allgemeinen unvereinbar ist mit deren verstärkten Ansprüchen und Partizipationserwartungen) und letztendlich lediglich nur zu einem Blindekuhspiel.9 Wie zuvor dargelegt wurde, bedeutet Ungewißheit die Unmöglichkeit, die Wähler als Gesamtheit vollständig zu kontrollieren oder durch Akteure zu beeinflussen, die für den direkten politischen Kampf keinen Auftrag haben. Erkenntnisvermögen ist der Imperativ, die "spontane" (oder lediglich endogen bestimmte) Aggregation von Wählerstimmen als Autorisierung oder Entzug der Bevollmächtigung dieser oder jener Parteien und/oder Politiken zu verstehen. Dies muß nicht notwendigerweise für jede einzelne Wahl gelten, wohl aber für die durchschnittlichen Wahlerfahrungen einer Periode. Es steht nämlich die Qualität dessen auf dem Spiel, was dem Wähler als Gegenstand der politischen Wahlauseinandersetzung angeboten wird. Um den demokratischen Satelliten zu starten, ist es unabdingbar, daß der Wahlmechanismus als modus faciendi einer friedlichen Auseinandersetzung (Dahl) institutionalisiert wird; aber es ist ebenso wichtig, daß diese Auseinandersetzung von unterschiedlichen Verbänden (Parteien) geführt wird - von Parteien, die für den Wähler selbst mit für ihn vertretbaren Kosten der Informationsbeschaffung und der vergleichenden Auswertung dieser Informationen unterscheidbar sind. Auch in dem "minimalistischen" Konzept, wie es ursprünglich von Schumpeter 1947 formuliert wurde, in dem Demokratie lediglich als ein Verfahren zur periodischen Erneuerung der Gruppe, die die Macht ausübt, angesehen wird, ist vorausgesetzt, daß der Wahlwettbewerb hinreichend durchschaubar ist. Damit der Wähler seine begrenzte Rolle ausfüllen kann, die ihm zukommt - die durchzuführenden Politiken anzunehmen oder zurückzuweisen muß er wenigstens in groben Zügen verstehen können, wodurch sich die Vorschläge von Regierung und Opposition unterscheiden.

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Um diesen Punkt geht es zum großen Teil bei der Debatte, die gegenwärtig über Wahl- und Parteiensysteme geführt wird. Die politischen Parteien sind wegen ihrer Mängel schon kritisiert worden, noch bevor sie unerläßlicher Bestandteil der repräsentativen Demokratie waren. Die Kritiker ergingen sich in Spekulationen darüber, ob nicht eine andere Institution dieselbe Vermittlerrolle zwischen Gesellschaft und Staat übernehmen könne - die Aufgabe, die unzähligen und unterschiedlichsten individuellen Wünsche in eine kollektive und programmatische Form zu bringen. Mit Ausnahme der neueren Spekulationen über die direkte elektronische Demokratie konnte bisher kein anderer Mechanismus aufgezeigt werden, der auf plausible Art und Weise Wählerpräferenzen zusammenfassen könnte - politische Willensbildung gestalten könnte, ohne dabei die Ungewißheit zu beseitigen. Die Berufsverbände galten am Ende des vergangenen und zu Beginn dieses Jahrhunderts als echte Alternative zu den Parteien, aber die Anwälte dieser Alternative waren durchgängig Anti-Individualisten, für die Ungewißheit nicht Grundelement der Demokratie sein durfte. Worauf es jedoch tatsächlich ankommt, ist die Funktion, zwischen den beiden Polen des trade-off von Ungewißheit versus Erkenntnisvermögen auszugleichen, und nicht das Etikett politischer Parteien: "a rose by any other name smells as sweet". Im Falle Brasiliens ist die Erfordernis der Ungewißheit zweifellos schon vollständig gegeben. Die brasilianische Wählerschaft hat gegenüber 1960 um mehr als 500 % zugenommen und besteht heute aus ungefähr 95 Millionen Wählern. Damit bildet sie eine Masse, deren Verhalten durch keine exogene Instanz bestimmt werden kann, auch wenn gewisse folkloristische Berichte dem Klientelismus diese Fähigkeit zuschreiben, der in einigen Regionen und Orten noch immer präsent ist. Allein die numerische Ausdehnung der Wählerschaft zeigt, daß die Voraussetzung der Ungewißheit als Basis eines demokratischen Wahlprozesses tatsächlich gegeben ist. Die Ungewißheit ist auch Ergebnis des tiefgreifenden sozialen und wirtschaftlichen Wandels, der sich im Verlauf der vergangenen fünfzig Jahre vollzogen hat, sowie der mit wachsendem Wohlstand einhergehenden sozialen Mobilität, aber weniger Folge einer gleichmäßigeren Wohlstandsverteilung. Eine kürzlich in acht lateinamerikanischen Ländern durchgeführte Meinungsumfrage hat gezeigt, daß zwar eine breite Mehrheit die Verteilung von Wohlstand als "ungerecht" empfindet, in Brasilien aber das Gefühl für soziale Mobilität viel stärker

Bolívar Lamounier

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ausgeprägt ist - geht man von dem prozentualen Anteil der Befragten aus, die ihre Lebensbedingungen für besser hielten als die ihrer Eltern. Diese positive Einschätzung teilten in Brasilien 64 % der Befragten; im Gegensatz zu lediglich 39 % in Argentinien und 35 % in Mexiko. 1 0 Die Frage der Ungewißheit hat auch in bezug auf die Eliten Bedeutung. Wie zuvor dargelegt wurde, muß der "Widerspruch" friedlich differenziert sein. Vom demokratietheoretischen Standpunkt her gesehen reicht es nicht aus, daß das aggregierte Wählerverhalten ungewiß ist. Ebenso notwendig ist es, daß das politische System dem Wähler echte Alternativen anbietet - autonome Gesprächspartner, aber keine Machenschaften mit nur vordergründiger Differenzierung. Auch hier handelt es sich um einen trade-off: Differenzierung und Autonomie auf der Grundlage unterschiedlicher programmatischer Präferenzen und Mitteln der eigenen Macht, aber nicht durch starre Haltungen, die Verständigungen und Verhandlungen ausschließen. Der Widerspruch soll differenziert, aber auch friedlich sein. In Brasilien hat es zumindest seit 1930 an Differenzierung nicht gefehlt. Von Beginn der dreißiger bis Mitte der achtziger Jahre kam es immer wieder zu ausgeprägten Unterschieden, zunächst zwischen Anhängern einer exportorientierten Agrarwirtschafit und Befürwortern der Industrialisierung, danach zwischen politischen Fraktionen (Getulismo versus Antigetulismo),

die sich

nach der Erfahrung mit der Diktatur in den dreißiger und vierziger Jahren gebildet hatten; später zwischen Anhängern und Gegnern des Militärregimes nach 1964. Seit Beginn der achtziger Jahre verschärften sich die Gegensätze zwischen Liberalen und Interventionisten. Für lange Zeit war die Zunahme an politischen Alternativen eine ernsthafte Bedrohung demokratischer Kontinuität - oder anders ausgedrückt, das Angebot an Alternativen verschärfte den Widerspruch, und es wuchs die Gefahr unfriedlicher Auseinandersetzungen. Heute ist das Angebot vielfältig, differenziert und autonom, und der Pluralismus an sich sowie die Ausweitung von Präferenzen stellen kein Risiko für die Demokratie dar. Die Wahlen von 1989, bei denen Collor gegen Lula angetreten war und im zweiten Wahlgang siegte, belegen diese Behauptung. Weder die Zuspitzung der ideologischen Polarisierung bei den Präsidentschaftswahlen noch das nach Massendemonstrationen in Gang gesetzte 10

Latinobarömetro 1995.

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lmpeachment-Verfahren

gegen Collor führten zu einem Zusammenbruch der

Rechtsordnung. Das Erfordernis des Erkenntnisvermögens macht komplexere Überlegungen zum Parteien- und Wahlsystem notwendig. Im Prinzip ist ein System mit wenigen Parteien, vorzugsweise ein Zweiparteiensystem, transparenter als ein Mehrparteiensystem. Man könnte jedoch auch geltend machen, daß ein bipolares oder ein Zweiparteiensystem den Konflikt zwischen Getulistas und Antigetulistas

in den fünfziger Jahren noch verschärft hätte. Das heißt, im

Anfangsstadium des "Widerstreits" kann ein gewisser Verlust an Erkenntnisvermögen durchaus positiv sein, wenn dadurch die Überwindung eines gefährlichen Parteienextremismus erleichtert wird. Zweifelsohne wurde aber in Brasilien unter dem Militärregime der spezifische Prozeß der Öffnung durch W a h l e n " in hohem Maße dadurch erleichtert, daß die Auseinandersetzung Regierung versus Opposition - Arena versus M D B - klar nachvollziehbar war. Mit anderen Worten, das Erkenntnisvermögen wurde durch das künstliche Zweiparteiensystem gefördert, das die Militärs 1965 zwangsweise geschaffen hatten. Nach dem Ende der Militärherrschaft sprach sich das Land für eine Maximierung der Legitimität des Wahlprozesses aus, was zur Folge hatte, daß der Prozeß für den Wähler an Transparenz verlor. Das Mehrparteiensystem als solches war von den Militärs bereits mit der Parteienreform von 1979 wieder hergestellt worden. Mit dem formalen Übergang zu einem zivilen Regime im Jahre 1985 wurden alle noch bestehenden Beschränkungen für die Gründung von Parteien beseitigt. Verschiedene Vorschläge einer indirekten Neuordnung der Parteienstruktur durch Reformen des Wahlsystems wurden zurückgewiesen. In der darauffolgenden Dekade zwischen 1985 und 1995 kam es zu einer ausgeprägten Zersplitterung des Parteiensystems - mit 22 Kandidaten bei den Präsidentschaftswahlen 1989 und über 15 im Nationalkongreß vertretenen Parteien. Um die Bedeutung dieser Zahlen besser verstehen zu können, muß man sich das brasilianische Wahlsystem vergegenwärtigen, das dem Wähler erlaubt, einen Kandidaten von einer Parteiliste auszuwählen, die nicht unbedingt die Liste des Präsidentschaftskandidaten ist. Maßgeblich für die Registrierung als Kandidat und die Aufrechnung der Stimmen ist der einzelne Bundesstaat und nicht das Land als Gan-

11

Lamounier 1988.

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Bolívar Lamounier

zes. Es gibt keine "Sperrklausel" auf nationaler Ebene wie in Deutschland. Jede Partei, die im Kongreß mit mindestens einem Sitz vertreten ist, hat das Recht, zur besten Sendezeit kostenlos in Radio und Fernsehen landesweit über ihre Aktivitäten zu berichten und in einer per Gesetz festgelegten Zeitspanne Wahlwerbung zu betreiben, die zeitlich proportional zu ihren Parlamentssitzen bemessen wird. Und schließlich gibt es auch nur minimale rechtliche und kulturelle Restriktionen für den Austritt aus einer Partei, um sich einer anderen Partei anzuschließen. Mit der Wahl von Fernando Henrique Cardoso und der Bildung einer Mehrparteienkoalition, von der die Verfassungsänderungen gebilligt werden sollen, die für die Reform des Staates erforderlich sind, ist auch eine informelle Parteienreform in Gang gekommen, die möglicherweise die gegenwärtige Parteienstruktur vereinfachen wird.

1.4. Das Regierungssystem: Präsidentialismus versus Parlamentarismus Ein entscheidendes Element bei der Herausbildung des repräsentativen Subsystems steht in Zusammenhang mit dem Regierungssystem, mit der Beschaffenheit der Beziehungen zwischen Exekutive und Legislative. Diese ist maßgeblich für eine zunehmend friedliche Austragung des politischen Kampfes und für das, was hierfür in einem langen Prozeß seinen institutionellen Niederschlag findet. In dieser Hinsicht ist die brasilianische Erfahrung aus zwei Gründen einzigartig. Zum einen, weil die Frage des Regierungssystems praktisch seit dem letzten Jahrhundert, seit der Ausrufung der Republik im Jahre 1889 und der gleichzeitigen Entscheidung für den Präsidentialismus, auf der Agenda der öffentlichen Debatte stand. Zum anderen, weil 1993 eine Entscheidung über Präsidentialismus oder Parlamentarismus durch eine Volksabstimmung herbeigeführt wurde, bei der - wie bei normalen Wahlen auch - Stimmpflicht bestand. Dabei votierte die Mehrheit für das Präsidialsystem. In dieser Debatte lautet das zentrale Argument, der Parlamentarismus sei flexibler und damit günstiger für die demokratische Kontinuität als der Präsidentialismus. Diese Hypothese ist von unzähligen Autoren in verschiedenen

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Ländern vertreten worden; neuerdings mit besonderem Nachdruck von Linz, dessen Arbeit Anlaß für systematische empirische Untersuchungen wie von Stepan/Skatch und Przeworski war. 12 Gestützt auf umfangreiche statistische Erhebungen haben diese Autoren die Argumentation von Linz eindeutig gestärkt, indem sie zeigten, daß parlamentarische Regime für die demokratische Kontinuität in der Tat günstiger sind als Präsidialregime. Besonders wichtig ist die Untersuchung von Przeworski, da sie versucht, den Effekt des Regierungssystems "zu isolieren". Die Schlußfolgerung lautet, daß die größere Beständigkeit von Demokratie bei parlamentarischen Regimen nicht auf Unterschiede im Entwicklungsstand der untersuchten Länder zurückzuführen sei, sondern auf die institutionellen Mechanismen, die diesem Regierungssystem eigen sind. Obwohl parlamentarische Regime häufiger in reicheren Ländern vorkommen, betonen die Autoren: "presidential democracies are less durable at almost every level." 13 Ein komplexes, für Brasilien äußerst wichtiges Thema ist die Frage, inwieweit das Zusammenwirken von Präsidentialismus und einer ausgeprägten Fragmentierung des Parteiensystems die Instabilität erhöht und sich dadurch die Wahrscheinlichkeit für autoritäre Brüche und Rückschritte vergrößert. Auf die Risiken einer Verbindung von Präsidentialismus und Vielparteiensystem oder gar von plebiszitärem Präsidentialismus lateinamerikanischer Prägung und der ausgeprägten Neigung zur Bildung von "Konsortien", von vorübergehenden losen Zweckverbänden in den politischen Strukturen Brasiliens ist an anderer Stelle hingewiesen worden. 14 Przeworski u.a. sind in ihren Überlegungen noch weiter gegangen und haben das Zusammenwirken von Präsidentialismus und parlamentarischer Minderheit, das bei einer äußerst zersplitterten Parteienstruktur immer möglich ist, praktisch als "kiss of death" für demokratische Kontinuität gewertet. 15 Zwar gehen Politologen zunehmend davon aus, daß Parlamentarismus für den Fortbestand der Demokratie von Vorteil sei, doch gestaltet es sich auf politischer und kultureller Ebene als äußerst schwierig, präsidiale Systeme 12

Linz 1994; Stepan/Skatch 1993; Przeworski u.a. 1995.

13

Przeworski u.a. 1995, S. 7.

14

Lamounier 1992.

15

Ebda.

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durch parlamentarische zu ersetzen. Von daher ist es nicht zufällig, daß die Debatten über diese Frage häufig zu einer Idealisierung "hybrider" Modelle wie dem französischen führen. Eine eingehendere Untersuchung dieser Schwierigkeiten und insbesondere jener, die sich daraus ergeben, eine mögliche Substituierung von Präsidentialismus durch Parlamentarismus durch ein Plebiszit entscheiden zu lassen, findet sich in Lamounier. 16 Wie die jüngste Erfahrung in Brasilien zeigt, ist eine besonders negative Auswirkung des Plebiszits darin zu sehen, daß die Ablehnung der Option für ein parlamentarisches System diese ernsthaft deslegitimiert, so daß sie für lange Zeit von der öffentlichen Agenda verschwindet. Zumindest solange es nicht zu einem vollständigen Zusammenbruch der gegebenen konstitutionellen Ordnung kommt, scheint der Wechsel von einem parlamentarischen zu einem präsidialen System gegenwärtig am leichtesten zu sein, wobei die "Mobilisierung des Vorurteils" 17 großen Erfolg verspricht - die Mobilisierung der latent feindlichen Gesinnung, die in der öffentlichen Meinung gegenüber dem Parlament, den politischen Parteien und "den Politikern" im allgemeinen zu Tage tritt. Ein anderer, noch wahrscheinlicherer Übergang ist der zu hybriden Modellen nach französischem Vorbild, deren Mehrdeutigkeit allerdings - je nach Lage des Landes - ihre Funktionsfähigkeit beeinträchtigen kann. Und schließlich gibt es auch den Übergang zu dem sogenannten reinen Parlamentarismus (der Sicherheit halber mit der deutschen Vorsichtsmaßnahme eines "konstruktiven Mißtrauensvotums"). Diese zuletzt genannte Möglichkeit kann eventuell in Ländern mit monarchischer Tradition realisiert werden und in Staaten wie den ehemals sozialistischen Ländern, die zuvor von Einheitsparteien regiert wurden. Dies gilt insbesondere, wenn es ihnen gelingt, den oft trügerischen Symbolismus ihrer kollektiven Organe neu zu nutzen, um damit die Idee einer gewählten Regierung zu legitimieren.

16

Lamounier 1995a. Schattschneider 1951.

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1.5. Die Beziehung zwischen Erkenntnisvermögen und drei Annahmen der Demokratietheorie Die folgenden Überlegungen stützen sich auf die These, daß die Theorie der repräsentativen Demokratie - neben der Notwendigkeit der Ungewißheit auf drei weiteren Grundlagen basiert: a. Repräsentation zum Wohle des Repräsentierten', die Regierungen werden ihre Entscheidungen soweit wie möglich auf die Präferenzen der Wähler ausrichten, oder mit anderen Worten, sie werden zu deren Wohl handeln, da dies die (wesentliche) Bedingung ihrer Legitimität ist. b. Wirksamkeit der Wählerstimme: das Wählervotum beeinflußt die Zusammensetzung der Regierungen und zwingt diese nötigenfalls zu einem Kurswechsel, entsprechend der zuvor genannten Ausrichtung auf die Wählerpräferenzen. Die institutionellen Mechanismen, welche die Repräsentation regulieren (Dauer der Mandate, Regeln für die Ausschreibung neuer Wahlen usw.), schützen die Repräsentanten vor erratischen Schwankungen im Verhalten und in den Präferenzen der Repräsentierten. Dabei wird jedoch die politische Repräsentation nicht in eine uneingeschränkte und vollständig unwiderrufliche Autorisation umgewandelt. Dieser Sachverhalt wird im angelsächsischen Sprachgebrauch als accountability responsiveness bzeichnet. c. Suche nach Zweckmäßgkeit: der Druck der Öffentlichkeit durch Stimmabgabe und Darlegung der öffentlichen Meinung wird durch die methodische Diskussion gemildert, deren vollendetste Form sich in den parlamentarischen Verfahren zeigt. Diese wird geführt, um zu einer angemessenen Klärung der Angelegenheiten zu gelangen, um die Abgrenzung eventuell zur Entscheidung anstehender Fragen zu beeinflussen, und auch, um die Verantwortlichkeit für Meinungen und deren Träger deutlich werden zu lassen. Nach Assis Brasil unterscheidet die Suche nach Zweckmäßigkeit das repräsentative System "in seiner vollständigen Herausbildung" vom bloßen Plebiszit18 - meiner Meinung nach sogar von jeglichem Plebiszitarismus; ein weitaus ernsteres Phänomen, das relativ leicht innerhalb der institutionellen Strukturen auch entwickelter Demokratien auftauchen kann. Ob Plebiszitarismus entsteht, hängt auch von persönlichen Neigun18

Assis Brasil 1931, S. 34.

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gen führender Exekutivvertreter ab und/oder von politisch schwierigen Situationen, die in der öffentlichen Meinung die Forderung nach "starken" Führern aufkommen lassen. 19 Bei Annahme a.) ist die Formulierung "soweit wie möglich" entscheidend. Sie darf unter keinen Umständen entfallen, da die Präferenzen nicht immer deutlich oder mehrheitsfähig sind. Überdies gibt es manchmal Präferenzen, die mit der Realität nicht zu vereinen sind. Ein Beispiel ist die im Zuge der Globalisierung zu beobachtende Einschränkung möglicher Alternativen ökonomischer Modelle. Auf der anderen Seite darf nicht übersehen werden, daß der Ausdruck "soweit wie möglich" in einem Spannungsverhältnis zu den übrigen zuvor genannten Annahmen der demokratischen Theorie fuhrt. Demokratie läßt sich nicht realisieren, sofern eine Regierung - selbst wenn dies formal legitim ist - erkennbare soziale Präferenzen ignoriert; aber eine zufriedenstellende Verwirklichung von Demokratie ist auch dann nicht möglich, wenn diese Regierung sich an Präferenzen anpaßt, die offenkundig nicht realisierbar (irrational) sind.

2.

Brasilien seit der Amtsübernahme von Cardoso

Während des zurückliegenden Jahrzehnts und noch zu Beginn der neunziger Jahre hatten Millionen einfacher brasilianischer Bürger mit einflußreichen Geschäftsleuten aus aller Welt eines gemeinsam - starke Zweifel, ob es Brasilien gelingen könne, sich aus seiner schwierigen Lage zu befreien. Diese Zweifel waren durchaus berechtigt. Verglichen mit den beiden vorausgegangenen Jahrzehnten war die wirtschaftliche Entwicklung dieser Periode im Hinblick auf die gesamtwirtschaftlichen Wachstumsraten mittelmäßig und im Hinblick auf die Inflation sogar verhängnisvoll. Unter sozialen Gesichtspunkten erlebte das Land, das wegen seiner hohen Armutsrate und seiner extrem ungleichen Einkommensverteilung traurige Berühmtheit erlangt hatte, eine dramatische Verschlechterung der öffentlichen Dienstleistungen - unfähig, 19

Auch in den U S A wird in der neueren Fachliteratur auf die Risiken des plebiszitären Präsidentialismus aufmerksam gemacht; vgl. z.B. Lowi 1985 und Rimmermann 1993. In bezug auf die Clinton-Administration läßt sich möglicherweise von einem plebiszitären Disput sprechen, der sich aus der Patt-Situation zwischen Präsident und Kongreß ergibt.

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dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten. Dies alles hatte zur Folge, daß an die Stelle des ehemals vorherrschenden Optimismus in Brasilien, der individuelle Mobilität begünstigt hatte, zunehmend tiefer Pessimismus trat.

Noch

schlimmer war, daß dieser Pessimismus nicht als direkte Folge wirtschaftlicher und sozialer Indikatoren empfunden wurde, sondern auf einer äußerst merkwürdigen, aber allgemein verbreiteten Überzeugung beruhte, derzufolge Brasilien die Fähigkeit oder der politische Wille fehlte, das Spiel zu seinen Gunsten zu verändern. Von der Einberufung einer Verfassungsgebenden Versammlung 1987/88 bis zur Durchführung eines Plebiszits über die mögliche Einfuhrung eines parlamentarischen Systems oder gar einer Rückkehr zur Monarchie im Jahre 1993 wurden zahlreiche vergebliche Versuche unternommen, die politische Krise noch vor der wirtschaftlichen zu überwinden. Zwischen April 1993 und Dezember 1995 hat sich die Situation aber entscheidend verändert. Obwohl sich die gegenwärtige Regierung noch mit erheblichen Schwierigkeiten konfrontiert sieht - etwa mit einem öffentlichen Haushaltsdefizit zwischen 4 und 5 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im Jahre 1995 - , geht die allgemeine Einschätzung dahin, daß Brasilien erneut über das notwendige politische Kapital verfügt, um strategisch denken und handeln zu können, mit kurz- und langfristig verknüpften, widerspruchsfreien Zielen. Der zwischen 1993 und 1994 zu beobachtende Umschwung wurde durch das Zusammenwirken dreier Faktoren möglich: -

die massiven Forderungen der Öffentlichkeit nach Geldwertstabilität;

-

das Angebot dieses "Produktes" durch Fernando Henrique Cardoso, einem Finanzminister mit hohem intellektuellen Ansehen, langer politischer Erfahrung und ausgezeichneten Kontakten zu allen Parteien und ideologischen Strömungen;

-

die Übernahme des Amtes des Staatpräsidenten durch diesen Finanzminister nach Wahlen, die ohne Zwischenfälle verliefen und bereits im ersten Wahlgang entschieden wurden.

Diese Umstände entsprachen keinesfalls der bis 1993 weit verbreiteten Meinung, die Auseinandersetzungen um die Nachfolge im Präsidentenamt würden in einem Klima starker Gegensätze stattfinden. Bis in die ersten Monate

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des Jahres 1993 zeigten sich nicht wenige der wichtigsten politischen Führer und Unternehmer davon überzeugt, daß dem Land eine Periode des "Fegefeuers" bevorstünde - mit einer linksorientierten oder populistischen Regierung, unter der sich die wirtschaftliche Situation weiter verschlechtern würde, ohne daß zuvor Bedingungen für eine wirksame Regierungsarbeit wiederhergestellt worden wären und ohne daß zuvor ein ernsthaftes Programm zur Bekämpfung der Inflation hätte durchgeführt werden können. Nur vor diesem Hintergrund ist der zuvor dargestellte Umschwung zu verstehen. Bereits im April 1994 sah sich der damalige Minister Fernando Henrique Cardoso in der Lage, als Kandidat für das Präsidentenamt gegen Lula anzutreten, obwohl die Inflationsrate noch bei monatlich 40 % lag und er mehrheitlich von der Presse als "elitär" und nur "schwer" wählbar eingeschätzt wurde. Lula hingegen, der in den Wahlvorhersagen weit vorne lag, wurde als wichtigster Gewerkschaftsführer in der Geschichte Brasiliens tituliert. Mit der Einführung der neuen Währung am 1. Juli 1994 und dem abrupten Rückgang der monatlichen Inflationsrate - sie bewegte sich nunmehr zwischen zwei und drei Prozent - , begann sich der Teufelskreis zwischen wirtschaftlichem Mißerfolg und politischer Schwäche allmählich aufzulösen, der seit Beginn der achtziger Jahre, noch unter dem Militärregime, zu beobachten war. Im Dezember 1995 lag die monatliche Inflationsrate unter ein Prozent, hochgerechnet auf das ganze Jahr wenig über 20 %. Obwohl die bei rund 6 % liegende offene Arbeitslosigkeit Anlaß zu Besorgnis gibt, hat eine in der Folha de Säo Paulo am 31.12.1995 veröffentlichte Untersuchung des Instituts Datafolha gezeigt, daß die brasilianische Öffentlichkeit dem Präsidenten weiterhin großes Vertrauen entgegenbringt und sich diese Haltung seit März 1995 praktisch nicht verändert hat: 41 % der Befragten finden seine Regierung "sehr gut " oder "gut", mit "schlecht" oder "sehr schlecht" bewerten sie 15 % und weitere 40 % gaben die Antwort "zufriedenstellend". Positiv ist auch zu werten, daß es in dieser Zeit auf institutioneller Ebene zu einem relativ entspannten und konstruktiven Dialog zwischen den drei Gewalten und den politischen Parteien kam. Diese Einschätzung beruht vor allem auf der Tatsache, daß 1995 von der Exekutive vorgeschlagene Verfassungsänderungen angenommem wurden, deren erklärtes Ziel es war, die

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Stabilität der Währung zu konsolidieren und wichtige strukturelle Reformen einzuleiten. Bei der Beurteilung des ersten Amtsjahres der Regierung Cardoso spielt auch das Dilemma Inflation versus Arbeitslosigkeit eine wichtige Rolle. Bei einer im Mai 1995 von Latinobarömetro

durchgeführten Meinungsumfrage wur-

den Bürger von acht lateinamerikanischen Ländern danach befragt, ob das vorrangige Ziel der Regierung die Senkung der Inflation oder der Abbau der Arbeitslosigkeit sein solle. In Argentinien sprachen sich 70 % für eine Senkung der Inflation und 23 % für einen Abbau der Arbeitslosigkeit aus; und selbst in Chile, wo die Vorteile der makroökonomischen Strukturanpassung heute deutlich sichtbarer sind als deren Nachteile, entschieden sich 55 % für eine Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, während für 41 % eine Senkung der Inflation vorrangig war. In Venezuela ergab die Umfrage entgegengesetzte Ergebnisse: 65 % der Befragten waren der Meinung, daß das vorrangige Ziel der Regierung darin bestehen müsse, die Inflation unter Kontrolle zu bringen und nur 29 % maßen der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit mehr Bedeutung bei. In Brasilien hingegen kam es zu einem deutlichen Patt: 48 % für vorrangige Inflationsbekämpfung als auch für Abbau der Arbeitslosigkeit und 4 % ohne Meinung. Trotz hoher Arbeitslosenquoten ist also eine stabile Währung in der Einschätzung der Brasilianer weiterhin von höchster Bedeutung, und nicht zufällig ist der Piano Real auch im Dezember 1995 die wichtigste Stütze der Popularität des Präsidenten. Auf politischer Ebene mag die Regierung Cardoso einzelne Fehler begangen haben; im großen und ganzen kann sie jedoch handfeste Ergebnisse vorweisen, unter denen die erfolgreiche Einleitung konstitutioneller Reformen an erster Stelle steht. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß es Brasilien in den achtziger Jahren an dem notwendigen Nachdruck hat fehlen lassen, die im öffentlichen Bereich erforderlichen Reformen einzuleiten und die für das Wirtschaftsleben nachteiligen staatlichen Eingriffe abzubauen. Auf die Gründe solcher Versäumnisse soll im Rahmen dieser Arbeit nicht näher eingegangen werden. Besonders im Hinblick auf den unumgänglichen Abbau des Staatsinterventionismus verlief die Entwicklung in Brasilien schlechter als in den übrigen lateinamerikanischen Staaten. So wurde in die brasilianische Verfassung von 1988 eine beachtliche Reihe von Hindernissen

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für Reformen eingebaut, deren Notwendigkeit in der öffentlichen Diskussion immer öfter anerkannt wurde. 20 Von daher besteht auf politischer Ebene das Hauptverdienst des ersten Regierungsjahres von Cardoso darin, das Land und den Nationalkongreß von der Notwendigkeit überzeugt zu haben, die Grundlinien eines Verfassungstextes zu ändern, der erst vor sieben Jahren verabschiedet worden war. Hierbei sind zwei Aspekte zu unterscheiden - die Grenzen der institutionellen Zuständigkeiten und der eigentliche Inhalt der Änderungsvorschläge. So kommt eine Verfassungsänderung nur dann zustande, wenn 60 % der 503 die Bundesstaaten vertretenden Abgeordneten und 60 % der 81 Senatoren in zwei getrennten Wahlgängen dem Änderungsantrag zustimmen. Um diese Bedingungen erfüllen zu können, ist eine breite parlamentarische Unterstützung des Antrags erforderlich und nahezu alle Parlamentarier müssen bei den beratenden Sitzungen anwesend sein. Die Koalition von sechs Parteien, die die Regierung Cardoso unterstützen, verfugt zwar nominell über mehr als 70 % der Sitze in Abgeordnetenhaus und Senat, ist jedoch heterogen und auf Grund interner Meinungsverschiedenheiten, die in den brasilianischen Parteien immer bestanden haben, durchaus verletzlich. Dennoch konnte die Regierung Cardoso bereits in den ersten drei Monaten ihres Mandats fünf wichtige Verfassungsänderungen durchsetzen. Dazu gehört auch die sogenannte "Flexibilisierung" staatlicher Monopole für Erdöl und Telekommunikation, um in diesen Sektoren private Investitionen zu ermöglichen. Das gute Verhältnis zwischen Cardoso und wichtigen Repräsentanten der im Kongreß vertetenen Parteien gibt zu der Hoffnung Anlaß, daß 1996 auch andere Änderungsanträge - Reformen in der öffentlichen Verwaltung, der Sozialversicherung und im Steuerwesen - verabschiedet werden können. Cardosos Stabilitätsprogramm zur Bekämpfung der Inflation ist bei Teilen der Unternehmerschaft in Industrie und Landwirtschaft auf scharfe Kritik gestoßen, die von Exporteuren und Gewerkschaftsvertretern generell geteilt wird. Das zugrunde liegende Stabilisierungsmodell sieht eine Verankerung des Geldwertes im Wechselkurs vor, sehr hohe Zinsen und eine starke Anhäufung der zentralen Währungsreserven. Es stellt sich die Frage, ob Brasilien überhaupt eine andere, angemessenere Wahl gehabt hätte, als Cardoso im 20

Lamounier/Bacha 1994.

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vorletzten Jahr der Regierung Itamar Franco das Amt des Finanzministers übernahm, oder ob es sich heute in einer besseren Lage befände, wenn Cardoso einfach alles beim alten gelassen hätte, so daß das Land weiterhin mit der Superinflation hätte leben müssen, die schon seit langem die Wirtschaft zerrüttete. Es muß auch darauf hingewiesen werden, daß die Bürger mit niedrigem Einkommen, die über kein Bankkonto verfügten und folglich nicht von dem damals gültigen Indexierungsmechanismus für die Bankguthaben profitieren konnten, mit der neuen Währung

Realeinkommenszuwächse

erzielten und ihren Nahrungsmittelkonsum erhöhen konnten. Zu dieser objektiven Verbesserung muß auch noch der nicht meßbare, aber bedeutende Nutzen eines Währungssystems hinzugerechnet werden, das sich durch Stabilität auszeichnet und den Bürgern weniger Anlaß zur Besorgnis gibt. Es wurde auch die Ansicht vertreten, daß das Bündnis, das Cardoso zum Präsidenten Brasiliens gewählt hat, lediglich aus wahltaktischen Gründen eingegangen worden sei. Anlaß dieses Bündnisses waren jedoch eher die Folgen als die Ursachen der Veränderungen (und die Hoffnungen auf Veränderungen), die seit mehreren Jahren anstanden. Während der achtziger und noch zu Beginn der neunziger Jahre hatten sich Millionen von Brasilianern davon überzeugt, daß das nationalistische, ultra-interventionistische und inflationäre Wirtschaftsmodell der Ära Vargas zunehmend unrealistisch geworden war. Hätte der Paradigmenwechsel bereits vor der Verfassungsgebenden Versammlung von 1987/88 vollständig stattgefunden, dann müßte sich der Nationalkongreß mit Sicherheit heute nicht damit beschäftigen, eine erst vor sieben Jahren verabschiedete Verfassung zu ändern. Seit der Verfassungsgebenden Versammlung bis heute haben wiederholte Erfahrungen bei der Bekämpfung der Inflation und einschneidende Veränderungen auf der internationalen Ebene - einschließlich des Zusammenbruchs der Zentralverwaltungswirtschaften Osteuropas und der ehemaligen UdSSR - ein Einverständnis zwischen Sozialdemokraten und Liberalen entstehen lassen, das zuvor undenkbar gewesen wäre. Man kann durchaus davon ausgehen, daß dieses Einverständnis noch für viele Jahre bestehen bleibt. Auch wenn gelegentlich eintretende Krisen sowie Wahlkampfrivalitäten Parteiübertritte und individuelle Wechsel in den Führungspositionen zur Folge haben können, so sind die Führungspersönlichkeiten aber doch grundsätzlich in der Lage, die Rollen zu übernehmen, die das politische Einverständnis zwischen Sozial-

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demokraten und Liberalen verlangt. Man kann die Rollen in einem Ensemble neu besetzen, ohne dabei das Drehbuch zu ändern. Diese Überlegungen machen deutlich, daß zwischen den Bedingungen einer Vervollkommnung oder Konsolidierung der Demokratie auf der einen Seite und den Bedingungen bloßer demokratischer Stabilität auf der anderen Seite zu unterscheiden ist. Wie bereits im ersten Teil dieser Arbeit gezeigt wurde, hängt eine Vervollkommnung der Demokratie von tiefgehenden institutionellen Reformen ab. Die Realisierung dieses Ziels bleibt auch weiterhin schwierig; Gründe dafür können Bestimmungen der Verfassung sein, die den Regionen des Nordens und des Mittelwestens eine überproportionale Repräsentanz im Abgeordnetenhaus zusichern, oder aber das permissive und nur schwer zu durchschauende Parteien- und Wahlsystem. Letztendlich spielt dabei auch die problematische Verbindung von plebiszitärem Präsidentialismus und gehäuft auftretender Bildung von "Konsortien" in der politischen Struktur Brasiliens eine Rolle.21 Die Stabilität der Demokratie scheint heute hinreichend gesichert zu sein gerade auch mit Blick auf die jüngste Vergangenheit. Die Tatsache, daß zwischen dem Beginn der achtziger und dem Beginn der neunziger Jahre heftigen Turbulenzen entgegengetreten und sie auch überwunden werden konnten, hat zweifellos die institutionelle Widerstandskraft der brasilianischen Demokratie gestärkt. Man muß in diesem Zusammenhang daran erinnern, daß die erwähnten Turbulenzen den Tod von Tancredo Neves im Jahre 1985 einschlössen, des Präsidenten, der an der Spitze jener Bewegung stand, die Brasilien zurück zu einem zivilen Regime führte; und das Impeachment gegen Fernando Collor, der 1989 - nach einer Unterbrechung von 29 Jahren - erstmals wieder in direkten Wahlen gewählt und 1992 unter dem Verdacht der Korruption abgesetzt wurde. Schwere politische Krisen, die sich zu einer Bedrohung der konstitutionellen Normalität auswachsen könnten, sind im heutigen Brasilien nur schwer denkbar. Sofern die Erfahrung der vergangenen 15 Jahre eine gute Anleitung für die Analyse ist, kann man vermuten, daß derartige Krisen nur dann zu-

21

Lamounier 1992.

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stände kommen werden, wenn mindestens zwei der drei folgenden Faktoren gleichzeitig auftreten: -

eine wirtschaftliche Situation, die von der Mehrheit der Bevölkerung als extrem ungünstig empfunden wird;

-

begründete Korruptionsvorwürfe, von denen die Person des Präsidenten selbst betroffen ist;

-

ein von Gegensatz und Mißtrauen geprägtes Klima zwischen den politischen Akteuren auf höchster Ebene, Mitgliedern des Kongresses und Gouverneuren, von denen ein wesentlicher Teil dem Präsidenten die Absicht unterstellt, die Gemüter aufwiegeln oder destabilisierende Fakten schaffen zu wollen.

Keiner dieser Faktoren ist gegenwärtig in Brasilien vorhanden. Zwar sind keine hohen gesamtwirtschaftlichen Wachstumsraten zu erwarten, und die finanzwirtschaftliche Situation wird 1996 schwierig, aber die monatliche Inflationsrate lag im Dezember 1995 bei nur 1 % gegenüber 48 % im Juni 1994, und das Konsumniveau der Bevölkerungsschichten mit niedrigem Einkommen hat sich in den 18 Monaten nach Einführung des Piano Real wesentlich verbessert. Es ist weder zu vermuten, daß Präsident Cardoso der Korruption verdächtigt werden könnte, noch bestehen Zweifel daran, daß er bei dem geringsten Anzeichen von Korruption in seiner Regierung zu schnellem Handeln entschlossen ist. Und es deutet auch nichts darauf hin, daß der Präsident ein Klima schaffen wird, das Konfrontationen und Widersprüche begünstigt: Politiker aus dem gesamten ideologischen Spektrum erkennen an, daß Cardoso Freude am Dialog und ein angemessenes Verständnis der formalen und informalen Elemente besitzt, die das Verhältnis zwischen den drei politischen Gewalten regeln. Daß die während der Präsidentschaftswahlen herrschende Euphorie nicht länger besteht, ist deutlich erkennbar und eine logische Konsequenz politischer und wirtschaftlicher Realitäten: eine übervolle Liste mit Gesetzesvorhaben inmitten eines Prozesses tiefgehender wirtschaftlicher Strukturanpassungen ohne die notwendigen Mittel, kurzfristig sozialpolitisch wirksamere Maßnahmen ergreifen zu können. Aber im Gegensatz zu den drei vorhergehenden zivilen Regierungen unter José Sarney, Fernando Collor und Itamar Franco hat die Regierung Cardoso den Vorteil, daß die gegenwärtige politische Situation hohe Erwar-

Bolívar Lamounier

170

tungen auf Stabilität erlaubt. Anders als bei den drei vorhergehenden zivilen Regierungen kann man sich nach Vollendung des ersten Regierungsjahres nur schwer vorstellen, daß die Regierung Cardoso in schwere Krisen geraten wird, die sie handlungsunfähig werden lassen oder ihre politische Arbeit für mehrere Monate in Mißkredit bringen.

Zusammenfassung Zusammenfassend kann man sagen, daß die brasilianische Demokratie auf institutioneller Ebene unübersehbare Mängel aufweist, aber informell widerstandsfähig ist. Zudem scheint Fernando Henrique Cardoso der ideale Präsident zu sein, diese Widerstandsfähigkeit zugunsten einer "Konzertierung", die das Land zur Überwindung der lang anhaltenden Krise benötigt, zu mobilisieren. Ob es dem Präsidenten gelingen wird, diese informellen Elemente zu erweitern, um die institutionellen Mängel auszugleichen, bleibt abzuwarten. Dabei ergibt sich insofern ein Widerspruch, als die Aktivierung dieser informellen Kräfte zugunsten einer überparteilichen Zusammenarbeit in einer sehr umfassenden Koalition für lange Zeit die Archivierung jener Vorschläge zu bedeuten scheint, die zur Durchführung politischer Reformen bereits seit den achtziger Jahren diskutiert werden. Mit einer wichtigen Ausnahme: der Möglichkeit einer Wiederwahl des Präsidenten. Angesichts seines umfangreichen Reformprogramms, das erst ansatzweise verwirklicht wurde, und einer Amtszeit von nur vier Jahren möchte der jetzige Präsident wahrscheinlich das Recht bekommen, sich um eine zweite Amtszeit zu bewerben. Damit würde er dem Beispiel Argentiniens folgen, wo Radikale und Peronisten übereinkamen, die Verfassung zu ändern, um die Wiederwahl von Präsident Menem zu ermöglichen.

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173

II. Chile

Mario Fernández Baeza Der Wandel des politischen Systems in Chile seit 1990* Einführung Der vorliegende Beitrag beschreibt den Wandlungsprozeß, der sich im politischen System Chiles seit Antritt der verfassungsmäßigen Regierung unter Patricio Aylwin am 11. März 1990 vollzogen hat. Dieses Datum steht in Chile für die Rückkehr zur Demokratie: seither gibt es eine Regierung und ein Parlament auf der Grundlage freier Wahlen, und das Zusammenleben der Chilenen in Gesellschaft, Kultur, Politik und Wirtschaft hat sich normalisiert. Die Studie beschäftigt sich mit dem Zeitraum nach 1990. Dies hat weniger einen formalen chronologischen Grund, sondern ergibt sich aus der Bewertung dieser Zeit in der Analyse des Übergangs zur Demokratie und dem nachfolgenden Konsolidierungsprozeß sowie der Bedeutung, die ihr die wichtigsten Vertreter der Politik selbst beimessen. Für die Kritiker der Demokratie in Lateinamerika, die von einer der Demokratie innewohnenden Schwäche überzeugt sind - wobei diese Überzeugung auf ihrem eigenen Verständnis von politischer Kultur und ihrem neostrukturalistischen Verständnis von Macht beruht

besitzt der Amtsantritt einer frei gewählten

Regierung nur eine relative Bedeutung im Prozeß der Demokratisierung. 1 Das Konzept des Übergangs zur Demokratie ist jedoch zu eng, um einen komplexen politischen Wandel wie jenen in Chile, zu beschreiben. Die Schwierigkeiten, die Grenzen zwischen dem autoritären Regime und der Demokratie genau abzustecken, machen es notwendig, die Gültigkeit der theoretischen Grundlagen zu relativieren und eher empirisch ausgerichtete

* 1

Aus dem Spanischen übersetzt von Heidemarie Markhardt. Vgl. Bermeo 1990. Hinsichtlich einer kritischen Analyse skeptischer Einstellungen zur Demokratie in Lateinamerika vgl. Nohlen/Thibaut 1993.

Mario Fernández Baeza

174

Modelle anzuwenden, durch die die Besonderheiten des spezifischen Untersuchungsgegenstandes erfaßt werden können. Aus einer weniger normativen, dafür aber differenzierteren Perspektive gesehen ist der Antritt einer demokratischen Regierung - zumindest im Falle Chiles - von großer Bedeutung. 2 Unter den Trägern des politischen Geschehens waren die Bezeichnungen der Phasen des chilenischen Demokratisierungsprozesses ab 1990 bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt heftig umstritten, wobei der Ausdruck "Übergang" im Mittelpunkt der Polemik stand. 3 Einerseits führte der allmähliche Verlauf, der Konsenscharakter und die Institutionalisierung des politischen Wandels zum Weiterbestehen

von

Merkmalen eines autoritären Systems in Chile, was wiederum die These stützt, daß der Übergang noch nicht beendet ist.4 Andererseits untermauern aber die politische und institutionelle Stabilität und der hohe Grad sozioökonomischer Entwicklung des Landes eine andere Einstellung, derzufolge der Übergang abgeschlossen ist und sich die Demokratie in Chile bereits in einem Prozeß der Konsolidierung befindet. 5 Zu behaupten, der Übergang in Chile sei abgeschlossen, oder die Demokratie befinde sich in einem Konsolidierungsprozeß, ist nach unserer Meinung nicht nur schwierig und vielleicht unmöglich, sondern auch empirisch unzulässig und methodologisch unrichtig. Das bedeutet jedoch nicht, daß die Gültigkeit der Konzepte von Übergang und Konsolidierung in der umfangreichen, noch 2

Vgl. Huneeus 1995.

3

Aylwin Azócar 1994, S. 382.

4

5

Diese Meinung wird in zwei jüngst erschienenen Arbeiten zu diesem Thema vertreten: Garretón (1995) verwendet den Ausdruck "transición incompleta [unvollständiger Übergang]". Zaldivar (1995) spricht von einer "transición inconclusa [unvollendeter Übergang]". Das ist die Meinung zweier verfassungsmäßiger Präsidenten nach 1990, die den Ausdruck "consolidar la democracia" [die Demokratie konsolidieren] oft sogar als Synonym für "transición" [Übergang] verwendeten. Die Übereinstimmung beider Konzepte wird in der folgenden Aussage deutlich: "Der Übergangsprozeß zur Demokratie war in Chile in keiner Weise abgeschlossen: Die Demokratie war noch nicht 'konsolidiert', als Präsident Patricio Aylwin das Amt seinem Nachfolger und Parteifreund Eduardo Frei Ruiz Tagle übergab." (Hofmeister 1995, S. 311).

175

II. Chile

ausführlicher zu behandelnden Literatur oder die darauf aufbauenden Theorien in Frage gestellt werden sollte. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, daß sie für den politischen Prozeß in Chile nach 1990 nicht anwendbar sind. Wenden wir uns nunmehr dem Gegenstand der vorliegenden Arbeit zu. Im Fall Chiles vertrete ich die Ansicht, daß der Übergang als solcher nicht länger diskutiert werden sollte und daß sich dieser Übergang "innerhalb" der Demokratie vollzieht. Darin besteht im wesentlichen mein Konzept der Demokratisierung, wie ich den Entwicklungsprozeß in Chile nach 1990 vorzugsweise bezeichne. Die Arbeit gliedert sich nach vier Thesen über die wichtigsten Aspekte des politischen Systems in Chile und folgt einem historisch-empirischen Ansatz. 6

1.

These zur politischen Kultur Die politische Kultur Chiles weist gleichzeitig demokratische le der politischen

Tradition Chiles aus der Zeit vor dem

Merkmaautoritären

Regime, autoritäre Merkmale, die sich unter dem Militärregime

her-

ausbildeten, sowie Merkmale der Moderne und Postmoderne mit demokratischem Potential auf. Die politische Kultur kann als "subjektive Dimension der gesellschaftlichen Fundamente der politischen Systeme" 7 definiert werden, die Positionen, Werte, Symbole und ganz allgemein die persönlichen Charakteristika umschließt, welche das politische Verhalten beeinflussen. Diese weitgesteckte Definition beinhaltet die klassischen Varianten, gemäß derer bestimmte kulturelle Modelle mit politischen Systemen, Regimen oder dem "nationalen Charakter" bestimmter Völker assoziiert werden. Dies führte dazu, daß von einer "demokratischen Kultur" oder "autoritären Kultur" im Zusammenhang mit bestimmten Nationen oder Regionen gesprochen wird. 8 In diesem Rahmen wurden der lateinamerikanischen Kultur - der Chile zuzu-

Zur historisch-empirischen Betrachtungsweise des politischen Wandels und der Änderungen vgl. von Beyme/Nohlen 1995. 7

g

Vgl. Berg-Schlosser 1994, S. 345. Zu dieser Betrachtungsweise vgl. Almond/Verba 1980.

176

Mario Fernández Baeza

rechnen ist - spezifische Charakteristika zugeschrieben, wobei im allgemeinen ein Vorherrschen der nicht-demokratischen Merkmale gegenüber den demokratischen festzustellen ist.9 Dieses gängige Verständnis der politischen Kultur Lateinamerikas wirkte sich auf die Voraussagen aus, die für den Übergang zur Demokratie in der Region getroffen wurden, deren allgemeiner Tenor die "Unsicherheit", die eventuelle Rückkehr zu einem autoritären System oder die Skepsis in bezug auf den Erfolg der Demokratie waren. 10 Unbeschadet der Verallgemeinerung, unter der solche Betrachtungsweisen und Bewertungen leiden, und der realen Rolle, die die politische Kultur bei politischen Prozessen spielt, zeichnet sich diese in bezug auf die chilenische Entwicklung ab 1990 durch drei prägnante Charakteristika aus:

1.1. Präsenz einer demokratischen politischen Kultur vor dem autoritären Regime Der Konsenscharakter des Übergangs in Chile, der sich in der Bildung der Regierungskoalition, in der Annahme der von der Militärregierung diktierten Spielregeln und den Bemühungen zu einer nationalen Wiederversöhnung ausdrückt, ist auf das Fortbestehen eines kulturellen Merkmals der politischen Tradition in Chile - des ideologischen Pluralismus - zurückzuführen. Präsident Aylwin beschrieb die Gründe und die Entwicklung dieser Tradition bei der Eröffnung der internationalen Konferenz Humanismo y

Democracia

en el Siglo XXI wie folgt: "Erstens inspirierten der Konservatismus und zweitens der Liberalismus unsere politischen Institutionen und unser politisches Leben im vorigen Jahrhundert; in diesem Jahrhundert trat an deren Stelle der laizistische Nationalismus, danach der Sozialismus und die christdemokratische Weltanschauung. Wir hatten eine der stärksten kommunisti9

Vgl. den von Ulrich Fanger vorgeschlagenen Katalog: "ererbte/paternalistische Tradition, Elitismus und eine stark hierarchische Orientierung, eine Tendenz zur autoritären Befehlsgewalt (anstelle von Formen des Konsenses) bei der Entschlußfassung sowie der historische Einfluß des Prinzips der staatlichen Ordnung, die aufständen oder sozialen Schichten basiert", in: Thesing 1995. 10

Hinsichtlich einer Analyse dieser Vorstellungen vgl. Nohlen/Thibaut 1993.

II. Chile

177

sehen Parteien der westlichen Welt. Zur gleichen Zeit wie in Frankreich und Spanien war auch bei uns die Volksfront (Frente Popular) an der Regierung. Darüber hinaus wurden wir auch vom Nationalsozialismus bedroht. Und in den letzten Jahrzehnten machten wir die Erfahrung der "Revolution in Freiheit" (Revolución en Libertad), des "Sozialismus in der Demokratie" (Socialismo en Democracia) und der von der Militärregierung inspirierten Doktrin der nationalen Sicherheit und des freien Marktes. Und schließlich erlebten wir den Übergang zur Demokratie, an dessen Spitze ich stehen durfte; all dies waren Prozesse, die international auf außerordentlich großes Interesse stießen." 11 Die Wiederbelebung dieser Erfahrungen des republikanischen Lebens in Chile vor der Polarisierungskrise, die 1973 ausbrach, wurde sowohl in der Diktatur als auch unter der demokratischen Regierung nicht nur zu einem Fundament des konstruktiven Stils, der das Leben, die Debatten und die politische Epoche kennzeichnet, sondern auch zu einem positiven Vermächtnis der Ära vor 1973, die das ihr eigene demokratische Profil unterstreicht.

1.2. Autoritäre Merkmale, die unter der Militärregierung entstanden Eine Umfrage über die Militärregierung nach einem bereits in Spanien, Griechenland und Italien angewandten Modell hatte in Chile zum Ergebnis, daß die Meinung der Chilenen nicht so negativ wie die der Bevölkerung der drei anderen Länder war - selbst im Vergleich zur Haltung der Spanier gegenüber dem Franquismus. Mehr als 50 % der Befragten bewerteten das autoritäre Regime im Rückblick als "teils schlecht, teils gut" - und dies im Juli 1995, als der "Prozeß Contreras" begann. 12 Diese Daten belegen die Existenz autoritärer Merkmale in der politischen Kultur Chiles. So zeigt ein beträchtlicher Anteil der Bevölkerung - obgleich

11

Aylwin Azócar 1994, S. 152.

12

Barómetro CERC, Juli 1995, S. 140-143.

178

Mario Fernández Baeza

die Übergriffe des autoritären Systems bekannt sind - für diese aufgrund der politischen oder wirtschaftlichen Erfolge Verständnis. Der Ursprung dieser Charakteristika ist im Militärregime, der Beständigkeit des "harten Kerns" der Anhänger, die bei den Wahlen 40 % erreichten, aber letztendlich auch in der autoritären Tradition zu suchen, welche die chilenische Geschichtsschreibung der politischen Institutionalisierung in Chile zuschreibt. 13

1.3. Moderne und postmoderne Merkmale mit demokratischem Potential Die Moderne wurde zu einer Obsession der gegenwärtigen Politik und zu einer von der Politik unserer Tage untrennbaren Forderung. Paradoxerweise ist - selbst auf Seiten ihrer Verfechter - wenig über die großen Unterschiede bekannt, die zwischen der Moderne und der Postmoderne auf politischer Ebene bestehen. 14 Der damit betriebene Kult führte jedoch zu einer Art "Intoleranz der Toleranten". Die 1990 wiederhergestellte gesellschaftliche und politische Normalität bewirkte einen offensichtlichen Gegensatz zwischen dem neuen Status quo und dem zuvor herrschenden autoritären Regime. Er war jedoch auf den politischen und kulturellen Aspekt beschränkt. Der grundlegende Wandel vollzog sich im Bereich der Ausübung der Freiheiten im Gegensatz zu den Beschränkungen, durch die sich das autoritäre System ausgezeichnet hatte. Keine Änderung war dagegen in der Wirtschaft und im gesamten Umfeld zu verzeichnen, das vom Modell des Neoliberalismus und der Marktöffnung geprägt war. Die "Moderne" war deshalb bereits in einer wichtigen Sphäre des chilenischen Lebens präsent und gewann durch die neuen politischen und kulturellen Entwicklungen ab 1990 zusätzlich an Bedeutung.

13

14

Die Errichtung des "Estado en forma", wie die frühe politische Stabilität in Chile ab der Verfassung von 1833 genannt wurde, wurde als "die Institutionalisierung des autoritären Regimes" (la institucionalizaciön del autoritarismo) bezeichnet. (Vgl. Villalobos u.a. 1974, S. 527). Eine anspruchsvolle Auseinandersetzung mit diesem Thema bietet von Beyme 1994.

II. Chile

179

Ein zweites Paradoxon ergab sich aus den "miteinander gekreuzten" Teilkonzepten, die die Träger des politischen Prozesses als "Moderne" propagierten. Während ein großer Teil der Linken der Regierungsallianz ihre politische "Erneuerung" mit einem Bekenntnis zum Markt und zum privaten Unternehmertum verband, betonten die mehr rechts stehenden Kreise der Opposition ihr Eintreten für die kulturellen und religiösen Werte als notwendigen Schutz vor dem Relativismus, der ihrer Meinung nach den sozialen Wandel in Chile erfaßte. Zur Illustration ein Zitat aus einer Publikation aus dem Umkreis der in der Regierungskoalition vertretenen Sozialistischen Partei: "Modern sein bedeutet weder eine Einladung noch eine Parole, vielmehr ist es eine Notwendigkeit, um in der Welt von heute zu leben. Und was die Moderae in dieser postmodernen Welt ist, war Gegenstand tiefgründiger Reflexionen und umfassender Diskussionen auf internationaler Ebene, die den Wandel widerspiegelt, der sich in der Kultur, den Werten und den Präferenzen der Gesellschaften und der Menschen vollzog." 15 Sicherlich vermag die Betrachtung der Vorteile der Moderne für die Innovation, den Fortschritt, die Lebensqualität und die Stärkung der Freiheiten der Konsolidierung der Demokratie einen entscheidenden Impuls zu geben. In diesem Sinn birgt die postmoderne Kultur demokratisches Potential. Eine emsthafte Gefahr liegt jedoch in den möglichen Folgen des Nebeneinanders der Moderne und der Marginalisierung, unter der ein Teil der Bevölkerung leidet, sowie der postautoritären Mißachtung all dessen, dem ein normativer Charakter anhaftet. Dieser Zwiespalt zeigt sich in der sozio-kulturellen Debatte - Themen wie Scheidung, Familie, Umwelt oder Bildung. Der Verlauf dieser Diskussionen schwankt zwischen Konfusion und Beharren. In dieser Hinsicht steht die Reife der Demokratie, die in Chile aufgebaut wird, auf dem Prüfstand.

15

¿Qué es ser moderno?, in: Chile Veintiuno 1, Nr. 3, August 1995.

180

2.

Mario Fernández Baeza

These über den Aufbau der Verfassung Die Verfassung Chiles nach 1990 ruht auf zwei Fundamenten: — Die weltanschaulichen Grundlagen und die Grundstruktur der Organe entsprechen der nationalen Tradition und stellen einen Faktor hoher Stabilität dar. - Ihre Legitimität und die abgeleiteten Formen der Organe sind der Tradition und demokratischen Realität des Landes fremd und stellen einen Faktor hoher Instabilität dar.

2.1. Tradition und Stabilität der Institutionen Die Verfassung von 1980 steht - unabhängig von ihrer Legitimität, die im nächsten Unterkapitel behandelt wird - , in ihren Grundzügen in der Tradition chilenischer Verfassungen. Dazu gehören: a. das Präsidialsystem, das in der gesamten Geschichte Chiles die Regierungsform darstellte. In den ersten 15 Jahren der Unabhängigkeit wurde der Chef der Exekutive zwar nicht als Präsident bezeichnet, der sogenannte "Director Supremo" hatte aber analoge Funktionen inne. Zwischen 1891 und 1924 wurde das präsidiale Modell modifiziert. Ergebnis war die sogenannte parlamentarische Republik. In Wirklichkeit ist die in jener Epoche bestehende Staatsform einem sogenannten Semi-Präsidialsystem zuzuordnen, da das Parlament nur Minister, nicht aber den Präsidenten absetzen konnte, der eine fixe Amtszeit von fünf Jahren hatte. Die Verfassung von 1980 stärkte das Präsidentenamt, was der Tendenz aller Verfassungsreformen dieses Jahrhunderts entspricht. Der Präsident dominiert ohne Gegengewicht die Führung der Exekutive und nimmt mit seiner in manchen Bereichen (Budget, Vetorecht, Sanktion von Gesetzen) exklusiven Initiative entscheidend am Gesetzgebungsprozeß teil.

181

II. Chile

Die dem Präsidialsystem 16 innewohnende Struktur von "Gewicht und Gegengewicht" basiert im Fall Chiles nicht auf den Ausgleichsfunktionen, die das Parlament erfüllen könnte, sondern - wie im weiteren beschrieben - auf dem Zweier-Wahlsystem und der Zusammensetzung des Senats, zusätzlich zur co-legislativen Gewalt, über die der Verfassungsgerichtshof durch die Beteiligung an der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze im Zuge des Beschlußfassungsprozesses verfugt. 17 Es ist wichtig darauf hinzuweisen, daß trotz der Vormachtstellung des Präsidenten im Schema der Gewaltentrennung mit der Verfassung von 1980 eine Reihe von autonomen Organen errichtet wurde, an deren Bildung der Präsident nur sehr beschränkt beteiligt ist und in deren Funktionen er nicht eingreifen kann. b. die unitaristische

Staatsform.

Auch der Einheitsstaat ist in Chile eine

Tradition der Verfassung. 1826 wurde der Versuch einer

föderalistischen

Staatsform unternommen. Dieser scheiterte jedoch. Die unitaristische Staatsform in Chile - und in ganz Lateinamerika - einschließlich ihrer föderativen Strukturen war bis zum Zusammenbruch der Verfassung 1979 durch einen Zentralismus gekennzeichnet. Dies änderte sich allmählich während des autoritären Regimes und durch die große Reform des Jahres 1991, die eine Verfassungsänderung im Bereich der Regionalregierungen und Regionalverwaltungen nach sich zog. In der Mitteilung des Präsidenten zu diesem Reformprojekt wurde das politische Ziel wie folgt umrissen: "Stärkung des unitaristischen Charakters des Staates bei gleichzeitiger Förderung einer Dezentralisierung der Administration." 18 Die grundlegenden Änderungen dieser Reform für das politische 16

Zur Diskussion über das Präsidialsystem in Chile vgl. Godoy len/Fernändez Baeza 1991; Jackisch 1995.

17

Der Verfassungsgerichtshof setzt sich im wesentlichen aus Mitgliedern des Obersten Gerichtshofs und des Nationalen Sicherheitsrates zusammen, was Gegenstand der gegenwärtig diskutierten Reformprojekte ist. Vgl. Zapata 1994.

1992; Noh-

18

In seiner ersten jährlichen Mitteilung an den Nationalen Kongreß legte Präsident Frei Ruiz-Tagle das Ziel fest, den Umfang der öffentlichen Investitionen der Zentralregierung von 21 % auf 4 2 % zu erhöhen, die den Regionen zugewiesen werden, um Projekte zu finanzieren, die von den Kommunen und regionalen Institutionen beschlossen und vorbereitet wurden.

Mario Fernández Baeza

182

System bestanden in der Abschaffung der Ernennung von Bürgermeistern durch den Präsidenten der Republik (wie es während des autoritären Systems praktiziert worden war), deren Wahl durch das Volk und die Errichtung von regionalen Regierungen mit Regierungs-, Verwaltungs- und Finanzkompetenzen. Nach dieser Reform wurde die Kommunalstruktur weiter verbessert, um die Effizienz der Amtsführung und Verwaltung auf kommunaler Ebene zu erhöhen 1 9 , die Bürgermeister und Gemeinderäte mit mehr Befugnissen auszustatten und ihre Funktionen gegeneinander abzugrenzen. Gegenwärtig wird auch die Änderung des Wahlsystems auf kommunaler Ebene diskutiert, um die Bürgermeister mit einer unmittelbareren Legitimität auszustatten.

2.2. Probleme der Legitimität und Stabilität einiger Institutionen Ein Pfeiler des chilenischen Übergangs und der Stabilität seiner Entwicklung war die politische Entscheidung der Opposition, "sich an die Spielregeln des [Militär-] Regimes zu halten", um dann den Sieg bei der Volksabstimmung 1988 und den allgemeinen Wahlen 1989 davonzutragen. Diese Position bestand darin, die bestehenden Institutionen als Rahmen für den Übergang zu akzeptieren, sich aber vorzubehalten, innerhalb der Verfassungsordnung jene Reformen voranzutreiben, die ihren autoritären Gehalt notwendigerweise

modifizierten. Die beiden Koalitionsregierungen

der

"Concertaciön" ab 1990 und 1994 fühlten sich dieser Notwendigkeit verpflichtet und präsentierten diesbezügliche Pakete zur Reformierung von Verfassung und Gesetzen, wobei sie im allgemeinen auf die geschlossene Ablehnung der neuen Opposition aus den früheren Parteigängern der Militärregierung stießen.

19

Der Ursprung dieser Strategie geht auf die Ausführungen Aylwins in einem Seminar des ICHEH zurück, die 1985 unter dem Titel Una salida políticoconstitucional para Chile in Santiago publiziert wurden.

183

II. Chile

3.

These über die politischen Parteien und die Wahlen a. Das chilenische Parteiensystem ßigten Mehrparteiensystem

entwickelte sich zu einem gemä-

und trägt zur Stabilität des politischen

Systems bei. b. Das Wahlsystem Zweier-Wahlsystem,

des Parlaments,

ein sogenanntes

verzerrt die politische

Mehrheits-

Repräsentation

stellt einen negativen Faktor für die Stabilität des politischen

und Sy-

stems dar.

3.1.

Der theoretische Standpunkt

Die Beziehung zwischen den politischen Parteien und Wahlsystemen war Gegenstand aller Versuche, die beiden Erscheinungen zu analysieren. Bei Nohlen heißt es dazu: "In der politischen und wissenschaftlichen Diskussion über die Wahlsysteme und deren Beziehung zu den Parteiensystemen sind die wichtigsten und umstrittensten Aspekte: die Bedeutung der Wahlsysteme, ihre politischen Auswirkungen und ihre Bewertung." 20 Maurice Duverger und seine berühmten "Gesetze" der Kausalität zwischen Mehrheitswahlsystemen mit einem Zweiparteiensystem und Proportionalwahlsystemen mit einem Mehrparteiensystem hatten lange Zeit in der Forschung nachhaltige Bedeutung. Seine Thesen wurden dann von Sartori und La Palombara/Weiner weiterentwickelt, die die Beziehungen stärker differenzierten, aber an der Kausalität festhielten. 21 In den achtziger Jahren führten Autoren wie Lijphart und auch Nohlen mehr empirisch ausgerichtete Analysen in die Debatte ein, durch die sie nicht nur die traditionellen Klassifikationen der Wahl- und Parteiensysteme relativierten, sondern auch nicht-kausalistische Beziehungen zwischen ihnen herstellten.22 Die Debatte über die Beziehung zwischen Parteien und Wahlsystemen wurde auf das Studium des Übergangs zur Demokratie in Lateinamerika und

20 21

22

Nohlen 1994. Vgl. Sartori 1985. Lijphart 1990.

184

Mario Fernández Baeza

auf die Regierbarkeit ausgeweitet. 23 Dabei wurden in mehreren Ländern Wahlreformen in Angriff genommen, um eine Verbesserung der institutionellen Faktoren herbeizuführen, die zu einem Zusammenbruch der Institutionen und autoritären Systeme geführt hatten. Den kausalistischen Visionen folgend, versuchte man durch Wahlreformen, das Parteiensystem und teilweise das politische System umzugestalten.

3.2.

Theorie und institutionelle Formel in Chile

Die erwähnten kausalistischen Theorien wirkten sich direkt auf die Konzeption der Wahlreform aus, die den politischen Übergang in Chile regeln sollte. Mitte der achtziger Jahre entstand innerhalb des Militärregimes eine Diskussion um eine etwaige Wahl- und Parteiengesetzgebung. Dabei war die wesentliche Zielsetzung, die Anzahl der Parteien zu vermindern. Die Urheber dieses Entwurfs waren Verfechter der Theorie, daß ein Mehrheitswahlsystem "ein zum Zentrum ausgerichtetes" Zweiparteiensystem nach angelsächsischer Praxis "produzieren" würde. 24 Das Ergebnis dieser theoretischen Auseinandersetzung waren die Verfassungsgrundgesetze über politische Parteien (23. März 1987) und Volksabstimmungen und Stimmenzählungen (6. März 1988), in denen die beschränkte Zulassung politischer Parteien und ein Zweier-Mehrheitswahlsystem festgelegt wurden, das man im Juli 1989 änderte, um es zu ermöglichen, Wahlabsprachen zu treffen. 25 So wurde das traditionelle Proportionalwahlsystems durch ein Mehrheitsystem ersetzt; anstelle der früheren Wahllisten mit mehreren Kandidaten gibt es nun Wahlkreise, in denen jeweils zwei Kandidaten gewählt werden. Die Verminderung der Anzahl der Parteien wurde durch gesetzlich geregelte Zulassungsbedingungen und ein Wahlsystem mit "reduzierender" Wirkung gefördert. 23

Fernández Baeza 1987.

24

Vgl. Nohlen 1993; Cerdas/Rial/Zovatto 1992.

25

Zum gegenwärtigen chilenischen Wahlsystem vgl. die systemfreundliche Sicht verschiedener Autoren in: Estudios Públicos 51, 1993. Kritisch: Fernández Baeza 1986, 1989, 1995.

II. Chile

185

3.3. Entwicklung der Parteien und der Wahlen Nach den Wahlen 1989 unterschied sich das Parteiensystem nur partiell von jenem der Zeit vor 1973 und der politischen Tradition Chiles. Einerseits war es kein System des "polarisierten Pluralismus mit starker Fragmentierung" mehr. Eine derartige Struktur kennzeichnete nach Sartori 26 Parteiensysteme mit starken, gegen das System gerichteten Parteien, mit bilateralen und unverantwortlichen Oppositionen, mit einem Zentrum, das von einer Partei "besetzt" wurde und so eine dem Zentrum zustrebende Konkurrenz verhinderte, mit der Vorherrschaft der zum Zentrum strebenden Kräfte gegenüber den dezentralistischen, mit einer inhärenten ideologischen Strukturierung und einem politischen "Überangebot". Andererseits war das Parteiensystem nach wie vor ein Mehrparteiensystem, mit einer Anzahl von Parteien, die ungefähr jener des Jahres 1973 entsprach. 27 Das auf das autoritäre Regime folgende System beherbergte die gleiche Parteienanzahl und änderte sich gemäß des Kriteriums seiner "Distanz" - wie es Sartori formulierte. Die erste Erkenntnis, die aus den Reformen gezogen werden kann, besteht darin, daß das pseudomehrheitliche Wahlsystem sich nicht auf die Anzahl der Parteien auswirkte, die sich durch Wahlabsprachen dem Wahlsystem anpaßten. Daraus kann die Schlußfolgerung gezogen werden, daß in Chile das Mehrparteiensystem eine beständigere Variable darstellt als eventuelle Konsequenzen des Wahlsystems. Zweitens kann festgestellt werden, daß der Konsens zwischen den Parteien durch Faktoren bedingt wird, die nicht mit dem Wahlsystem im Zusammenhang stehen, sondern in der Natur des politischen Wandels in Chile liegen, der institutionalisiert wurde und auf Kompromissen basiert, die von den Parteiführern geschlossen wurden. 28

26

Sartori 1980, S. 162.

27

Die Anzahl der Parteien, die bei den Parlamentswahlen 1989 und 1993 Kandidaten stellten, variierte schwach (von 13 auf 11), aber hinsichtlich der Präferenz verzeichneten die fünf bedeutendsten Parteien (PDC, PPD, PS, RN und UDI), die jeweils über mehr als 10 % verfügen, sowie die drei Parteien (PR, PC und UCC), die 5 % erreichten, einen beträchtlichen Zuwachs.

28

Uber das Konzept der "transición via transacción [Ubergang durch Übereinkunft]" und die Rolle der Eliten im Falle Chile vgl. Cañas Kirby 1994.

186

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Eine weitere wichtige Änderung im Parteiensystem, die sich vom vorherigen Punkt ableitet, war die Koalitionsfähigkeit. Es muß bedacht werden, daß die im Jahre 1987 zur Demokratisierung gebildete und bis heute bestehende "Concertaciön" der Parteien, die den Sieg bei der Volksabstimmung, in zwei Wahlen (Präsidenten- und Parlamentswahlen) und in einer Gemeindewahl davontrug, von einem Spektrum von Parteien gebildet wurde, die einander vor 1973 direkt bekämpft hatten - einschließlich der Christdemokraten (PDC) unter Patricio Aylwin, die an der Spitze der damaligen demokratischen Opposition standen, und der Sozialistischen Partei Chiles (PS), der Partei von Präsident Allende. Diese Koalitionsfahigkeit drückt sich nicht nur in der Unterstützung eines gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten aus, sondern auch in einer parlamentarischen Übereinkunft auf nationaler Ebene, die durch die vom Wahlsystem bewirkten Änderungen äußerst komplex ist. Die Fähigkeit zur Kooperation zeigte sich auch auf seiten der Opposition, der es gelang, ihre Rolle als solche zu erfüllen und sich in diese zu fügen, obwohl sie 17 Jahre lang hinter dem autoritären Regime gestanden hatte.

4.

These über die gemeinschaftsorientierte Politik Die Politik der Regierung nach 1990 kann in drei Bereiche

unterteilt

werden: a. Wirtschafts-, Produktions- und Sozialpolitik; b. Infrastrukturpolitik; c. Staats- und Internationale Politik, Justiz-, und

Verteidigungspolitik.

4.1. Das programmatische Konzept Grundlegendes Ziel der beiden Regierungsprogramme der demokratischen Periode war die sogenannte "gemeinschaftsorientierte Politik". Diese beinhaltet - so Aylwin - "das Vorantreiben des Wirtschaftswachstums, der Entwicklung und Modernisierung des Landes", "die Förderung der sozialen Gerechtigkeit durch Berichtigung extremer Ungleichheit und von Unzulänglichkeiten, von denen weite Kreise der chilenischen Bevölkerung betroffen sind", und "die Rückeroberung jenes Platzes, den sich Chile im Laufe der Geschieh-

187

II. Chile

te in der internationalen Gemeinschaft erobert hatte" 2 9 ; und - so E. Frei Ruiz-Tagle -

"die Konsolidierung unserer wirtschaftlichen Entwicklung,

Beseitigung der extremen Armut, Errichtung eines modernen Systems von Arbeitgeber-/Arbeitnehmerbeziehungen, den Aufbau eines effizienten Gesundheits- und Bildungssystems, das weite Kreise der Bevölkerung erreicht und die Erfordernisse einer im starken Wachstum befindlichen Gesellschaft erfüllen kann und letztendlich die internationale Integration des Landes." 3 0 Im einzelnen liegt bei diesen Aufgaben das Schwergewicht einerseits auf der Vereinbarkeit der Ziele des Wachstums und der Fiskalpolitik mit einer größeren sozialen Ausgewogenheit und andererseits auf der Notwendigkeit der Modernisierung der Produktion und der Stärkung der Konkurrenzfähigkeit auf den Außenmärkten. In der achtziger Jahren befand sich das Land in einer labilen wirtschaftlichen und sozialen Lage: Einerseits war eine anhaltende Wachstumstendenz des BIP, des Privatwirtschafts- und Exportsektors und eine tiefgreifende Umstrukturierung auf dem Dienstleistungssektor zu verzeichnen, andererseits war der Sozialsektor von schwerwiegenden Rückschritten betroffen, vor allem im Gesundheits- und Bildungsbereich. Neben diesen Konsequenzen des gewählten Wirtschaftsmodells erlebte die chilenische Wirtschaft mit dem Wechsel vom autoritären System zur Demokratie einen Anpassungsschock. Die konkrete Bilanz der Jahre des Demokratisierungsprozesses ist auf der sozio-ökonomischen Ebene sehr positiv und aufschlußreich. Den entsprechenden Ziffern sollen hier zwei Aussagen vorangestellt werden: An erster Stelle eine Äußerung von Präsident Aylwin Ende 1993: "Das Land macht Fortschritte. Mit den für Entwicklungsländer typischen Beschränkungen verzeichnet Chile ein Wachstum und eine Verbesserung des Lebensstandards der Bevölkerung. Produktion, Pro-Kopf-Einkommen, Beschäftigung, Spar- und Investitionstätigkeit steigen, während Arbeitslosigkeit und Inflation sinken. Mehr Wohnungen, Straßen, Häfen und andere Infrastruktureinrichtungen werden errichtet. Die großen Anstrengungen zur Verbesserung 29

30

Beginn der ordentlichen Legislaturperiode des Nationalen Kongresses am 21. Mai 1990. Erste Rede an den Nationalen Kongreß, 21. Mai 1994.

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unseres öffentlichen Gesundheits- und Bildungswesens beginnen Früchte zu tragen." An zweiter Stelle eine Aussage von Finanzminister Aninat in seinem Bericht über die Lage der öffentlichen Finanzen zu Beginn der parlamentarischen Haushaltsdebatte im Oktober 1995: "Woher kommen wirl Wenn man zurückblickt, so soll man nicht der Vergangenheit verhaftet bleiben, sondern den zurückgelegten Weg betrachten und objektiv bewerten, ob ein wirklicher oder bloß illusionärer Fortschritt erzielt wurde. Eine nüchterne Analyse der letzten sieben Jahren erlaubt uns festzustellen, daß gigantische Anstrengungen unternommen wurden, die Nutzen abwerfen. Von einem Wachstum mit einer hartnäckigen Inflation schritten wir zu einem ausgeglichenen Wachstum mit einem massiven und kontinuierlichen Inflationsrückgang; von einer internationalen Isolation aufgrund der Unmöglichkeit der entsprechenden Politik zu einer fortschreitenden Eingliederung des Landes in der Welt; von einer Sozialschuld ohne Perspektive der Rückzahlung zu einer Verminderung der Armut und einer realen Verbesserung der Lebensbedingungen, der Betreuung und des Zugangs zu den Sozialleistungen seitens der Bedürftigsten. Und schließlich genießt das Land, das sich einstmals aufgrund der finanziellen Situation und der Auslandsverschuldung in einer schwierigen Lage befand, mittlerweile ein höheres internationales Ansehen mit einer von den multilateralen Organisationen und den Weltfinanzinstitutionen anerkannten Solvenz." Die Ziffern der folgenden Tabelle unterstützen diese Thesen: Tab. 1: Sozio-ökonomisches Wachstum in Chile 1990-1995 Jahr 1990 Wachstum BIP 3,3 % BIP pro Kopf 1,6% Inflation 27,3 % Urb. Arbeitslosigkeit 6,5 % Reallöhne 100.0 Sparquote Bruttoanlageinvest. Exporte (Mio. US-$) Quellen:

1991 6,8 % 5,0 % 18,7% 7,3 % 104.9

1992 10,6% 8,8 % 12,7 % 4,9 % 109.6

1994 1993 1995 5,9 % 4,1 % 8,3 %* 4,2 % 6,4 % 2,4 % 12,2 % 8,9 % 8,2 %* 4,1 % 6,3 % 5,6 % 113.5 118.8 123.3 23,9 % 25,4 % 27,3 % 26,5 % 26,3 % 26,8 % 9.119 11.539 5.930

UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika (CEPAL) 1995; Chilenische Zentralbank (Banco Central de Chile); Chilenisches Finanzministerium. * Am 28.12.1995 bereinigte Ziffern.

II. Chile

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Aufgrund dieser Indikatoren erreichte Chile auf verschiedenen internationalen Skalen einen Spitzenplatz: -

Gemäß der Einstufung des UN-Entwicklungsprogramms (UN-Development Programme) steht Chile an 38. Stelle von insgesamt 173 Ländern; nach dem Weltwettbewerbsbericht an 20. Stelle, die einem 4. Platz entspricht, wenn man die Finanzpolitik berücksichtigt (zwischen 1989 und 1994 wuchsen die Ausgaben des öffentlichen Sektors langsamer als das BIP).

-

Dazu ist Chile das einzige Land Lateinamerikas, das nach Angaben der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika (CEPAL) den Anteil der Armen verringerte.

4.2. Charakteristika des neuen Entwicklungsmodells Die wichtigsten Charakteristika des neuen Entwicklungsmodells sind: a. Der erneute Versuch, ein Gleichgewicht zwischen Wachstum, makroökonomischer und finanzpolitischer Lenkung, Modernisierung der Dienstleistungen und sozialer Entwicklung zu finden. Chile zeigt im Rahmen dieser althergebrachten lateinamerikanischen Bestrebungen die folgenden Besonderheiten, die eine Konsequenz des internen und traumatischen Prozesses in Politik und Gesellschaft sind: -

ein beständiges und kumulatives Wirtschaftswachstum;

-

die Kultur einer strikten fiskalpolitischen Disziplin;

-

eine Anti-Inflationspolitik aufgrund eines kollektiven Traumas;

-

politische und soziale Disziplin bei den Verhandlungen über die Lebensbedingungen;

-

eine optimale Nutzung der verfügbaren menschlichen Ressourcen;

-

im internationalen Handel gewonnenes Know-how;

-

die frühe Privatisierung und Deregulierung.

b. Die Notwendigkeit der Anpassung von Merkmalen, die sich im autoritären System entwickelten, an den demokratischen Rahmen: -

Entwicklung der freien Initiative in einem Rahmen der politischen und gewählten Kontrolle;

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190 -

Beschränkung der Einflußnahme des Unternehmenssektors auf politische Entscheidungen;

-

Kontrolle der administrativen Ermessensfreiheit in der Wirtschaftslenkung.

c. Anpassung von Gegebenheiten aus der Ära vor dem autoritären Regime an den neuen demokratischen Kontext. d. Notwendigkeit einer Anpassung des sozialen Entwicklungsniveaus auf dem Bildungs- und Gesundheitssektor, das durch das nach außen gerichtete Privatisierungsmodell der achtziger Jahre beeinträchtigt wurde. e. Modernisierung der Infrastruktur auf dem Transport-, Energie- und Kommunikationssektor.

4.3. Die Politik des Staates - Nationale Versöhnung Die Wiedereinführung der Demokratie in Chile war weniger schwierig als die vollständige und untraumatische Überwindung des Dramas, das die Chilenen in unterschiedlichem Ausmaß in den letzten zwei Jahrzehnten erlebt haben. Niemand kann so naiv sein zu glauben, daß die brutale Gewalt, insbesondere die Menschenrechtsverletzungen, die in unserer ehemals ruhigen und zivilisierten Nation zu verzeichnen waren, durch einen staatlichen Beschluß aus unserem täglichen Leben getilgt werden kann. Auch kann niemand denken, daß die Aufarbeitung dieser Problematik nur eine Frage der Bereitschaft und des Einverständnisses ist, zu regulieren, zu reparieren und zu sanktionieren. Wir alle leiden unter diesem Alptraum, dieser Schande und dem moralischen Ballast der Vergangenheit. Die chilenische Demokratie setzte sich im Rahmen des Rechtsstaates auf der Grundlage unserer Überzeugungen von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden mit diesem Drama auseinander, das uns alle bewegte. Und es war uns bewußt, daß wir für dieses Unterfangen unsere ethische Verantwortlichkeit und politische Reife einsetzen mußten.

II. Chile

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Präsident Aylwin setzte den "Ausschuß für Gerechtigkeit, Wahrheit und Versöhnung" (Comisión Justicia, Verdad y Reconciliación) zur Aufklärung der Menschenrechtsverletzungen ein. Gleichzeitig initiierte er eine Reform der Strafgesetzgebung und der richterlichen Gewalt. Parallel dazu wurde der Rahmen für ein Konzept und die Durchführung einer nicht politisierten, nicht parteigebundenen und professionellen Verteidigungspolitik geschaffen. Zu guter Letzt wurde eine aktive, moderne, offene Außenpolitik verfolgt, die es uns ermöglichen sollte, jenes Ansehen wieder zu erlangen, das das Land einst in der Völkergemeinschaft genoß. Gewiß handelte es sich um sehr komplexe Bereiche, die in gewisser Weise schwierig miteinander in Einklang zu bringen waren, die aber ein Ganzes bildeten, in das sich die Mehrheit der Bevölkerung wieder eingliederte. Die Wahrheit über die Menschenrechtsverletzungen erfuhr Chile durch den sogenannten Rettig-Bericht, der Zeugenaussagen über die Verletzung und Mißachtung der menschlichen Würde in Chile ab 1973 umfaßte, die von einer Gruppe von Juristen in der Arbeit von beinahe einem Jahr zusammengetragen worden waren. Dieser Bericht enthielt auch eine Liste von tausend festgenommenen und verschwundenen Personen. Bei der öffentlichen Vorlage des Berichts bat Präsident Aylwin die Opfer im Namen aller Chilenen um Verzeihung. Was die Strafmaßnahmen und die Verantwortlichkeit der chilenischen Justiz anbelangt, gilt das 1978 erlassene Amnestiegesetz, demzufolge die bis zu diesem Datum eingetretenen Ereignisse straffrei bleiben. Der Fall Letelier wurde von diesem Gesetz ausdrücklich ausgenommen. Dies führte zu einem langen Rechtsstreit. Die zuständigen Zivilrichter fällten ihr Urteil, und der ehemalige Chef des repressiven Geheimdienstes, General Contreras, und sein wichtigster Mitarbeiter mußten eine siebenjährige Gefängnisstrafe antreten. Überdies wurden alle jene, die nach 1978 politische Verbrechen begingen, verurteilt. Die Haltung der Justiz spielte eine wichtige Rolle im Zuge der nationalen Versöhnung und der Wiedereinführung der Demokratie. Die elementaren Gesetze und insbesondere das Strafprozeßrecht, die praktisch seit mehr als einem Jahrhundert gültig waren, wurden grundlegend reformiert. Von größter Bedeutung war jedoch, daß die Justiz sich allmählich wieder zu der unab-

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hängigen Staatsgewalt entwickelte, die sie vor 1973 gewesen war - die durch die Haltung der Richter unter der Diktatur, besonders im Hinblick auf das Recht zur Verteidigung, stark beeinträchtigt worden war. In bezug auf die Landesverteidigung und die Beziehungen zwischen Militär und Zivilbevölkerung ist zu betonen, daß die institutionellen und gesetzlichen Grundlagen einen Teil der Spielregeln darstellen, die den Übergang zur Demokratie in Chile regelten und die sich die große Mehrheit zu respektieren verpflichtete. Nichtsdestoweniger zeigt die Politik auf diesem Gebiet die Tendenz zur Normalisierung innerhalb des Rechtsstaates. Die Wiederherstellung der Beziehungen zwischen Militär und Zivilbevölkerung, die in Chile Grundlage für die lange demokratische Tradition und Stabilität der Verfassung waren, war Ziel der Regierungen und der gesamten politischen Klasse seit 1990. Trotz aller spannungsreichen Erscheinungen und Situationen, die auf die jüngste Vergangenheit und unseren spezifischen Übergang zurückgehen, liegt es in unserer Verantwortung zu verhindern, daß sich das Drama Chiles wiederholt - mit Mäßigung, Reife, Verantwortungsbewußtsein und vor allem in Anbetracht der Schwierigkeit, mit der wir die Lehre aus der Vergangenheit zogen.

Zusammenfassung Die hier präsentierte Interpretation der chilenischen Entwicklung seit 1990 ist Teil einer umfassenden nationalen Debatte. Sie sollte dazu beitragen, das Bild von Chile, seines Bezugsrahmens und seiner Lage zu aktualisieren. Ich bin der Überzeugung, daß das Land eine Reihe von Wandlungsprozessen durchläuft, die unser politisches, soziales, wirtschaftliches und kulturelles Leben komplexer machen. Einige dieser Änderungen möchte ich hervorheben. Die sichtbarste besteht im großen wirtschaftlichen Aufschwung Chiles, der - im Unterschied zu den meisten früheren Zyklen dieses Jahrhunderts - den Zyklus schneller Hochs und spektakulärer Tiefs überwunden hat.

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Wir genießen wieder den politischen und sozialen Frieden des demokratischen Lebens, und die Politik hat ihren protagonistischen und heroischen Charakter verloren. Die politische Gesellschaft wurde durch die Erfordernisse des Übergangs vor eine Herausforderung gestellt, und darüber hinaus wird sie mit einer Aufgabe konfrontiert, die sie mit der Mehrheit der westlichen Länder teilt: die Neubegründung der politischen Arbeit, der Rechtsstaatlichkeit und Repräsentativität der Institutionen. Die tiefgreifenden Transformationen des Staates führen auch zu einer Änderung seines Handlungsumfangs. Hieraus geht eine stärkere und diversifiziertere Gesellschaft hervor. Andererseits setzt die Globalisierung der Wirtschaft und Kommunikation unserer Mentalität einer Insel finis terrae ein Ende und beeinflußt unseren Bezugs- und Handlungsrahmen nachhaltig. Kurz gesagt machen wir eine völlig neue und stimulierende Erfahrung. Und wie in jedem Transformations- und Anpassungsprozeß sind auch hier Auftrieb und Trägheit, Möglichkeiten und Hindernisse, neue Erwartungen und Nostalgie zu verzeichnen. Unser nationales Zusammenleben kann daher als Spiel von Licht und Schatten mit allen Zwischentönen beschrieben werden. Das Leben in Demokratie bringt uns Freude und Erleichterung. Das Land und seine Bevölkerung wissen die politische Ruhe und den erreichten sozialen Frieden sehr zu schätzen. Die Bürger können sich ihrer Arbeit, Familie und ihren Interessen widmen, ohne daß ihr Alltag von dramatischen Konflikten nationalen Ausmaßes beeinträchtigt wird. In einem derartigen Umfeld neigen die Menschen dazu, sich weniger mit nationalen und mehr mit lokalen und alltagsbezogeneren Themen zu beschäftigen. So ändern sich der Anspruch und die Erwartungen der Bürger gegenüber ihrer politischen Führung essentiell. Sie fordern ein Arbeitsprogramm und einen Stil, die den neuen Gegebenheiten Rechnung tragen. Dies ist eine der Realitäten, die sich in Chile Tag für Tag mit immer größerer Deutlichkeit feststellen lassen.

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II. El Salvador

Rafael Guido Béjar Transitionsprozeß und Bildung des politischen Systems in El Salvador* 1.

Allgemeine Merkmale der Transition

Die politische Transition in El Salvador war in ihren Anfängen ein eigentümliches Konglomerat von drei parallelen Entwicklungslinien - des politischen Liberalisierungsprozesses zwischen 1979 und 1981, des davon untrennbaren, gleichfalls mehr als ein Jahrzehnt tobenden Bürgerkrieges und des tiefgreifenden Strukturwandels der Volkswirtschaft El Salvadors. Dieser spiegelte sich in der Überwindung der bis dahin dominanten, einseitigen Ausrichtung auf den Agrarexport und der Ausformung neuer Wirtschaftsbereiche wie dem Finanz- und Dienstleistungssektor wider. Liberalisierung und Bürgerkrieg mündeten schließlich in Friedensverhandlungen, auf deren Agenda die notwendigen politischen Veränderungen zur Beilegung des bewaffneten Konflikts und die Entwicklung einer Strategie zur Regierbarkeit des Landes im Zusammenwirken der wichtigsten politischen Kräfte standen. Davon unabhängig vollzog sich der wirtschaftliche Strukturwandel. Er folgte der Dynamik der nationalen und internationalen Wirtschaftsentwicklung, den Handlungsmaximen der ökonomischen Eliten in El Salvador sowie den Vorgaben von Weltbank und Weltwährungsfonds. In der Analyse dieses politischen und wirtschaftlichen Entwicklungsprozesses sind die bemerkenswerten Anregungen, politischen Impulse und wegweisenden Ideen des Frente Farabundo Martí de Liberación Nacional (FMLN) und anderer politischer Kräfte sicher nicht zu unterschätzen. Doch war es am

Aus dem Spanischen übersetzt von Guillermo Atlas.

Rafael Guido Béjar

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Schluß eine Fraktion im Lager der salvadorianischen Rechten, der es Ende der achtziger Jahre gelang, Staatsapparat und Wirtschaft des Landes unter ihre Kontrolle zu bringen. Diese autoritären Technokraten brachten die Friedensverhandlungen zu einem erfolgreichen Abschluß und behielten durch ihren Wahlerfolg von 1989 die Kontrolle über den Staat und die Nachkriegspolitik. So wurden auch die letzte Phase der Liberalisierung - die Abkommen von Chapultepec - und die erste der Transition - die Reform der Verfassung und des Staatsapparates vornehmlich von der salvadorianischen Rechten bestimmt. Der Umbau von Verfassung und Exekutive stand sowohl in der Liberalisierungs- als auch in der Übergangsphase unter internationaler Aufsicht. Die Verfassungsreform wurde von den USA überwacht, die der salvadorianischen Regierung bei der Bildung des neuen politischen Systems und im Kampf gegen die aufständische Linke halfen. Dazu stand der Transitionsprozeß über mehr als vier Jahre hinweg unter Aufsicht der Vereinten Nationen und anderer supranationaler Vereinigungen wie den 'Freundesländern' des Generalsekretärs der UNO. Mittlerweile aber zeigen die internationalen Organisationen deutlich weniger Präsenz im Land und üben ihre Funktionen in einem nur noch erheblich beschränkteren Rahmen aus. Charakteristische Merkmale des politischen Wandels in El Salvador gegen Ende dieses Jahrhunderts sind seine Komplexität und Inhärenz. Das Land hat seit 1980 einen politischen Liberalisierungsprozeß erlebt - eine politische Öffnung, die in weniger als einem Jahrzehnt nicht nur alle verfassungstreuen, sondern auch die systemfeindlichen oppositionellen Kräfte integrierte. Diese Öffnung wurde von einer Gruppe von Militärs in die Wege geleitet, die sich mit der traditionellen Hierarchie innerhalb der salvadorianischen Streitkräfte, der Fuerza Armada de El Salvador (FAES), unzufrieden zeigte und 1979 einen Staatsstreich initiierte. In den achtziger Jahren wurde dieser Kurs von einer politischen Koalition der rechten Mitte - dem Partido Demócrata Cristiano (PDC) und der militärischen Rechten - fortgesetzt, die die jungen Putschisten von 1979 ablöste. Aus den Präsidialwahlen von 1989 ging schließlich, nachdem die 'extreme' Rechte zur Alianza Republicana Nacionalista

(ARENA) abgewandert war,

diese ARENA, die als 'gemäßigte' Rechte auftrat, als Sieger hervor. Sie nahm

II. El Salvador

199

nach der Regierungsübernahme den politischen Dialog mit der Guerrilla wieder auf. Weniger als drei Jahre waren vergangen, als es Anfang 1992 gelang, die Guerrilla in das politische System einzubinden, das sich seit 1981 langsam entwickelt hatte. Derlei Erfolg war der PDC trotz aller Bemühungen in den achtziger Jahren nicht vergönnt. Während der ersten Phase der Transition war es der Allianz aus PDC und Militärs nicht möglich, eine Strategie der Zusammenarbeit mit der kampfentschlossenen Linken zu entwickeln. Erst 1987, gegen Ende ihrer Regierungszeit, gelang es ihr, wichtige Parteien der demokratischen Opposition - den Movimiento Popular Social Cristiano (MPSC) unter Führung von Rubén Zamora und den sozialdemokratischen Movimiento Nacional

Revo-

lucionario (MNR) unter Führung von Guillermo Ungo - zu integrieren, die in den achtziger Jahren lange Zeit die Strategie des FMLN unterstützt und die internationalistische Politik der revolutionär-demokratischen Allianz begründet hatten. So waren es am Ende die rechten Wahlsieger von 1989, die in den neunziger Jahren die Linke einbezogen, indem sie ihr ihre Eingliederung in das politische System anboten, das im Einklang mit wichtigen Forderungen des FMLN reformiert worden war. Die militärische Macht, die der FMLN während der achtziger Jahre und besonders durch seine Offensive vom November 1989 verkörperte, sein politischer Rückhalt im Volk und sein Gewicht in der nationalen Politik wiesen ihm eine zentrale Funktion im politischen Übergangsprozeß und in den Friedensverhandlungen zu. Man muß seine Präsenz und sein politisches Geschick in dieser Phase herausheben, um die politische Führungsstärke der rechten Gruppen richtig verstehen, einschätzen und bemessen zu können. Die damalige Fähigkeit des FMLN, den politischen Rhythmus zu bestimmen und Ziele zu stecken, war Ausdruck seiner relativen politischen Führungskraft - auch wenn die institutionelle, soziale und ökonomische Vorherrschaft der salvadorianischen Rechten mittel- und langfristig über die sozio-politische Dynamik triumphierte. Das politisch-militärische Gewicht des FMLN im Verbund mit der Friedensbewegung, die sich aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen rekrutierte und während dieser Jahre immer stärker wurde, gaben schließlich den Ausschlag zur Öffnung des politischen Systems gegenüber allen oppositio-

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nellen Kräften des Landes. Dessenungeachtet lassen das tatsächliche Gewicht der Rechten bei den Friedensverhandlungen, ihre Überlegenheit im Wahlkampf von 1994 und die Schwäche der Opposition nach diesen Wahlen vermuten, daß auch am Ende dieses Jahrhunderts die salvadorianische Politik weiter von der Rechten bestimmt bleibt, die sich entschlossen zeigt, dem Land gesellschaftlich und wirtschaftlich ihren Stempel aufzudrücken. So zumindest stellt sich die Situation ein Jahr vor den Parlaments- und Kommunalwahlen von 1997 dar. An diesem Punkt stellt sich die Frage nach den eigentlichen Wesensmerkmalen der Transition in El Salvador - einer Transition, die vom FMLN im Verbund mit einer entschiedenen Rechten wie der salvadorianischen angestoßen wurde und sich im Stadium der Konsolidierung befindet. Welche Folgen hat es für den politischen Übergang in einem Land wie El Salvador, wenn eine rechte Mehrheitspartei in einem Jahrzehnt so fundamentaler Veränderungen dominiert? Kann eigentlich von einem wirklichen Wandel gesprochen werden, wenn am Ende die Vorherrschaft der Rechten steht? Und wie gelangte die Rechte zu einer derartigen politischen Dominanz? Antworten auf diese Fragen kann nur eine Analyse der Handlungsmuster der wichtigsten politischen Gruppierungen und Parteien des Transitionsprozesses in El Salvador geben. Wie formierten sich auf der einen wie der anderen Seite die neuen politischen Führungsschichten? Und wie fand man im politischen Konkurrenzkampf zu einem Ausgleich?

2.

Politische Liberalisierung, Bündnisbereitschaft der Rechten, Genese des aktuellen politischen Systems

2.1. Formierung neuer politischer Führungsschichten im rechten und linken Lager In den Friedensverhandlungen von 1990 bis 1992 - der vierten politischen Übereinkunft in El Salvador seit Beginn der Institutionalisierung in den achtziger Jahren und der ersten zwischen Regierung und Guerrilla, den feindlichen politischen Kräften dieser Zeit, - bestärkten sich linke und rechte Gruppierungen gegenseitig darin, soziale und wirtschaftliche Prozesse in Gang zu setzen, die nicht nur ihren jeweiligen politischen Absichten dienten,

II. El Salvador

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sondern zugleich die Grundlage für den sozialen und gesellschaftlichen Strukturwandel in El Salvador bilden sollten. Die Linke nannte diese Veränderungen "Demokratische Revolution". Die Rechte nennt sie: "Einbindung von Dissidentengruppen in den salvadorianischen Demokratisierungsprozeß". Wie kam es zu einem derartigen Umschwenken in Richtung Frieden? Welche sozio-politischen Faktoren läuteten das Ende des Krieges und den Beginn des Friedens- und Demokratisierungsprozesses in El Salvador ein? Gesellschaftliche Auseinandersetzungen und sozialreformerische Tendenzen haben in El Salvador Geschichte. Die Abkommen von Chapultepec aus dem Jahre 1992 bildeten deshalb keineswegs einen Bruch mit der Tradition, sondern waren vielmehr Teil einer langen Entwicklung, die sie indes festigten, beschleunigten und legitimierten. So haben in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts zwei komplexe Prozesse die traditionellen Strukturen der salvadorianischen Kaffeepflanzergesellschaft verändert - die politische und wirtschaftliche Modernisierung des Landes und die Entstehung einer bürgerlichen Staatsverfassung. Diese vermeintlich voneinander getrennten Entwicklungslinien stießen Anfang der neunziger Jahre in den Friedensvereinbarungen zusammen. Mit der Krise des tradierten sozio-politischen Modells wurden die alten Machtkartelle aus Agrarexporteuren und Großgrundbesitzern, Militärs und ihren Koalitionären aus dem Ausland unwiderruflich geschwächt und von neuen Allianzen abgelöst, deren führende Köpfe ein moderneres Verständnis für die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Sachzwänge hatten und einem demokratischen Pluralismus offener gegenüberstanden. So fand in den achtziger Jahren - noch inmitten des Krieges - in der Führung der beiden verfeindeten Parteien auf wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und politischer Ebene ein Machtwechsel statt. Die neuen Führungsspitzen, die den Weg zur friedlichen Einigung ebneten, existierten bei Ausbruch des Krieges noch nicht: sie etablierten sich in dem Maße, wie die politischen und wirtschaftlichen Ideen, die dem in den Friedensgesprächen geschnürten Reformpaket zugrunde lagen, institutionell Gestalt annahmen.

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So trieb die Unternehmerfraktion, unter deren Regierung zwischen 1989 und 1994 die Abkommen unterzeichnet wurden, die Reform der Wirtschaft des Landes voran, ohne daß diese ausdrücklich ein Teil der Friedensvereinbarungen gewesen wäre. Auch unterwarf sie sich nicht dem Druck anderer ökonomisch oder politisch starker Gruppen. So blieb ihr Führungsanspruch in der Tat unumstritten. Er stützte sich auf die Akzeptanz der zukunftsorientierten Unternehmerschaft und resultierte im wesentlichen aus der Legitimition, die ihr die erfolgreiche Gestaltung der Friedensverhandlungen verliehen hatte. Die Unternehmerfraktion ging aus der Fundación Salvadoreña para el Desarrollo (FUSADES) hervor - einer Einrichtung, die in den achtziger Jahren mit Hilfeleistung der USA entstanden war. Die Stiftung konzentrierte sich zunächst auf die Erforschung sozio-ökonomischer Entwicklungsprozesse, um sich alsdann als Instanz der Gestaltung ökonomischen und sozialen Wandels hervorzutun. Im Mittelpunkt standen dabei die Entwicklung von Regierungsprogrammen, Unternehmens- und Finanzierungsstrategien, Anstöße in Richtung einer diversifizierten Produktion und die Ausweitung internationaler Handelsbeziehungen. Bei diesen Aufgaben erhielt die FUSADES wesentliche Förderung aus dem AID-Fonds der US-amerikanischen Regierung. Der erste Wissenschaftler, den FUSADES unter Vertrag nahm, war Alfredo Cristiani. Außer ihm übernahmen in seiner Amtszeit auch die wichtigsten Funktionsträger seines Kabinetts Direktoren- und Vorstandsposten in der Stiftung. Nachdem die Unternehmerfraktion die Regierungsgewalt von der ARENA übernommen und ihre Macht konsolidiert hatte, leitete sie wirtschaftliche und staatliche Reformen ein. Diese schlössen grundlegende makrostrukturelle Korrekturen ein, die die sozio-politische Führungsrolle der Regierungsfraktion untermauern sollten. Elemente des Reformpaketes waren finanzpolitische Maßnahmen, etwa die Reprivatisierung des Bankwesens nach einem Jahrzehnt unter staatlichen Leitung, das sich jetzt andere Quellen abseits der Erlöse der Kaffeeplantagen, nämlich internationale Zusammenarbeit und den wachsenden Geldtransfer der im Ausland arbeitenden Salvadorianer erschloß; ferner eine Neugestaltung des Außenhandels, für die seinerzeit besonders die zentralamerikanische Integration Anreize bot, und nicht zuletzt die Modernisierung des Verwaltungsapparates. Diese ökonomische Liberali-

II. El Salvador

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sierung und die Entmilitarisierung des Staatsapparates haben entscheidende Freiräume geschaffen, die in Zukunft wichtige Veränderungen in der Wirtschafts-, Steuer- und Sozialpolitik ermöglichen. Auch die Linke hat während der zwölf langen Kriegsjahre ihre politische Führung ausgetauscht. Dem voraus ging ein langwieriger, von blutigen Machtkämpfen begleiteter Prozeß, in dem sie sich zu einer militärischen Macht ersten Ranges gewandelt hatte. Der FMLN nahm Abschied von seinem Programm einer sozialen Revolution, das er in den fünf oder sechs Jahren, die den Abkommen vorangingen, vertreten hatte, und konzentrierte seine Kräfte auf politische und soziale Reformen zur Modernisierung von Staat und Wirtschaft, die mit dem Maßnahmenkatalog der Regierungsfraktion koinzidierten. Auf fast emphatische Weise verschrieb sich die Linke der Entmilitarisierung und dem nationalen Wiederaufbau. So forderte sie eine Reform der Justiz, die Einhaltung der Menschenrechte, die Stärkung des zivilen Sektors, den freien Zugang zu Produktionsmitteln, die Grundversorgung der Bevölkerung und anderes mehr. Als Maxime galt dabei eine künftige Verfassung, die die elementaren politischen und Bürgerrechte garantierte - Gleichheit vor dem Gesetz, aktives und passives Wahlrecht, Freizügigkeit und soziale Gerechtigkeit. Im Rahmen der Gespräche über die Friedensabkommen, die direkte und tiefgreifende Folgen auf das Alltagsleben haben sollten, wurden zugleich die Grundlagen für einen dauerhaften sozialen Konsens gelegt. Beide Parteien erkannten sich gegenseitig an. Dazu sanktionierte die Linke mit ihrer Anerkennung der Politischen Verfassung von 1983 die rechtmäßige Verbindlichkeit der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung El Salvadors. Die Unternehmervertretung und die Rechte ihrerseits akzeptierten die Verfassungsreform von 1992/93, die die Anerkennung und Stärkung der bürgerlichen Rechte einschloß. Mit dem Führungswechsel auf beiden miteinander konfrontierten Seiten korrelierten verschiedene endogene und exogene Faktoren, die die soziale, ökonomische und politische Integration des Landes stärkten. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang die zunehmende politische Zusammenarbeit und wirtschaftliche Verflechtung im internationalen Maßstab, der soziale und politische Lernprozeß verschiedener Gruppen im Bürgerkrieg und die wach-

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sende Toleranz gegenüber Staat und politischen Gegnern, die Vertrauens- und legitimitätsstiftende Beteiligung an Wahlen und am Aufbau von Institutionen - so die Präsenz der Rechten im Parlament, die in den achtziger Jahren mit verschiedenen anderen Oppositionsgruppen alternierte. Zu nennen ist aber auch die strategische Bereitschaft zum Kompromiß, die den bestimmenden politischen Kräften El Salvadors während des Liberalisierungsprozesses gemein war.

2.2. Kompromißbereitschaft und politische Liberalisierung Das gegenwärtige politische System in El Salvador entfaltete sich mit der wachsenden Kompromißbereitschaft der Fraktionen im rechten und linken Lager. Beide widersetzten sich den systemfeindlichen Kräften, die über zwölf Jahre hinweg die Gesellschaft und den salvadorianischen Staat drangsalisierten. Den Auftakt bildete dabei der coup d'État vom 19. Oktober 1979, der eine lange Periode der politischen Liberalisierung einläutete, die praktisch bis zur Verfassungsreform von 1992/93 andauerte, in die Abkommen von Chapultepec einflössen. Zwischen 1979 und 1990 wurden mindestens vier wichtige Abkommen geschlossen, in denen sich die systemtreuen Parteien und politischen Gruppierungen auf eine verhandlungswillige und reformorientierte Linie einigten. Und es entstanden verschiedene Institutionen, die dazu beitrugen, das gegenwärtige politische System zu entwickeln und die nötige Flexibilität aufzubringen, disparate politische Kräfte zu integrieren. Nach dem Staatsstreich im Oktober 1979 forderten die Militärs die gemäßigten Kräfte im Land - Oppositionsparteien des linken Zentrums, Gewerkschaften, im Foro Populär zusammengeschlossene Vereinigungen, Volksbewegungen der Linken und die zukunftsorientierte private Unternehmerschaft - auf, sich an einer auf drei Monate befristeten, gemeinsamen Übergangsregierung zu beteiligen. 1 Seiner Natur nach konnte dieses Abkommen

Ihre Zusammensetzung spiegelt das Kräfteverhältnis derer wider, die damals darum kämpften, die ultrakonservative Fraktion aus der politischen Arena zu drängen. Die oberste Ebene bildete ein flinfköpfiges Gremium: Guillermo Manuel Ungo, Präsident des MNR, der Rektor der UCA, Román Mayorga Quiróz, Mario

II. El Salvador

205

keinen Bestand haben. Doch hatte der Staatsstreich einen Schlußpunkt unter die lange Legitimitätskrise des oligarchischen Systems gesetzt und unwiderruflich den gordischen Knoten zerschlagen, den die mehr als sechzig Jahre währende unheilige Allianz zwischen Oligarchie und Armee darstellte. Die Militärs hatten einen ersten Keil in das harte Holz des Ancien

Régime

getrieben. Dabei wurden sie von dem damals noch nicht klar definierten, modernisierungswilligen Teil der Unternehmerschaft und von Volksbewegungen unterstützt, die sie letzten Endes nicht kontrollieren konnten. Die Putschisten veröffentlichten eine Proklamation, die die sozioökonomischen Forderungen der Unternehmerschaft und Volksbewegungen aufgriff, und deren Durchsetzung sie in Konflikt mit den traditionellen oligarchischen Gruppen El Salvadors brachte. Darum gilt dieses Dokument bis heute als wohl radikalster Ausdruck des politischen Wandels in El Salvador in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.2 Dieses erste Abkommen scheiterte an der Weigerung der Streitkräfte, eine innere Strukturreform durchzuführen, und ihrem Anspruch, als erste und

Andino, der die moderne Unternehmerschaft repräsentierte, die Obersten Adolfo Amoldo Majano als Vertreter der militärischen Jugendorganisation und Jaime Abdul Gutiérrez, Vertrauter der Vereinigten Staaten, der den Traditionalisten in der Armee nahe stand. Für die Vergabe der Ministerien gilt analog, daß sechs der dreizehn Minister auf Vorschlag des Foro Popular aus demokratischen Parteien und Institutionen kamen. Tatsächlich wurden von den Putschisten am Tag des Aufstandes zwei Erklärungen verfaßt. Die erste rechtfertigte den Ungehorsam mit den anarchischen Zuständen, der Unfähigkeit, die extremistischen Aktionen zu kontrollieren und der Verletzung des Rechts auf politische Betätigung. Die Erklärung versprach, daß die Streitkräfte den nötigen politischen Rahmen schaffen würden, um eine wirkliche und entwicklungsfähige Demokratie zu etablieren, die künftige Wahlen verbürge. Die zweite Erklärung, die am selben Tag nach Verhandlungen mit Mitgliedern des Foro Popular veröffentlicht wurde, unterschied sich im Nachdruck, mit dem der Staatsstreich begründet wurde und im Maßnahmenkatalog, mit dem der Wiederaufbau des Staates beginnen sollte. Die Erklärung betonte die Notwendigkeit eines Reformprojekts zur gerechteren Verteilung der nationalen Ressourcen. Dazu beinhaltete diese Proklamation konkrete Maßnahmen zur Realisierung der vorher erklärten Ziele: die Auflösung von ORDEN, eine politische Amnestie für alle Exilierten und politischen Gefangenen, das Recht auf gewerkschaftliche Mitgliedschaft aller Arbeiter und das Recht auf Meinungsfreiheit spiegelten den Einfluß der Progressisten innerhalb des Paktes wider.

206

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letzte Instanz der politischen Entscheidungsfindung aufzutreten. Gegner des Paktes waren ferner die Oligarchie, traditionalistische Militärs und die USA, die die Beteiligung der Kommunistischen Partei an den Verhandlungen mit Argwohn verfolgten. Dazu lehnten ihn auch verschiedene Volksbewegungen, Standesvertretungen des Militärs und politische Gruppierungen ab. Am Ende wurden die originären Absichten der Putschisten von der Armeeführung, die mit Hilfe der Vereinigten Staaten schnell die militärische Kontrolle über die Lage gewann, verwässert und verfälscht. Damit war eine weitere Polarisierung des politischen Spektrums vorgezeichnet. Nachdem das erste Abkommen zwischen Militärs und Vertretern der Mittelund Unterschichten in El Salvador gescheitert war, folgte im Januar 1980 mit Rückendeckung der USA ein zweites zwischen Democracia Cristiana (DC) und der FAES. Dieses zweite Abkommen brachte zum ersten Mal in der politischen Geschichte des Landes eine Oppositionsgruppe des Zentrums an die Macht3 und versuchte, eine 'demokratische Normalisierung' herbeizuführen. So tauchen am Ende dieser ersten längeren Periode der politischen Liberalisierung, sozialer und wirtschaftlicher Reformen, wie sie von dem PDC, den Streitkräften und den USA eingeleitet wurden, bereits Grundelemente der späteren demokratischen Transition auf. Das Abkommen zog wirtschaftliche und politische Reformen nach sich, die die Eckpfeiler oligarchischer Macht - das fiskalische System, den Staatsapparat und den Außenhandel umformte. Punktuell gab es auch Ansätze zu einer Justizreform, die indes nicht konsequent durchgeführt wurde. Die Reformen der Christdemokraten überdauerten die achtziger Jahre nicht. Und entgegen ihrem eigenen Anspruch, mit dem sie angetreten waren, blieben die sozioökonomischen Strukturen des Landes im wesentlichen unangetastet. Zweifellos aber veränderten und schwächten die Reformen das oligarchisch-militärische Machtkartell. Abseits ihres Scheiterns auf sozioökonomischem Gebiet zeitigten sie Erfolge im Counter-Insurgency-Bereich und

In dem Abkommen verpflichteten sich die Streitkräfte, die im Putschmanifest formulierten Reformvorhaben umzusetzen und strukturelle Veränderungen einzuleiten, die die Zerstörung der oligarchischen Macht zum Ziel hatten. Zudem garantierten sie die politische Partizipation aller Gesellschaftsschichten. Die führende Rolle der Junta indes blieb davon unberührt.

207

II. El Salvador

führten zu weiterer sozialer Diversifizierung. Doch beendeten sie weder den Bürgerkrieg noch die Krise des oligarchisch-militärischen Modells. Im Gegenteil, sie verschärften die Gegensätze und führten am Ende in eine Sackgasse. Dessenungeachtet veränderten die Reformen das Gefuge einiger sozialer und politischer Gruppen: 1. In der Landwirtschaft entstanden mit der Durchführung einer begrenzten Agrarreform neue und starke bäuerliche Kooperativen; 2. Die staatliche Bürokratie und vor allem auch die Militärverwaltung verbündeten sich zum ersten Mal seit sechzig Jahren mit anderen politischen Kräften. Sie ließen sich auf einen wirklichen sozialen Reformkurs ein und griffen auf neue Finanzierungsquellen zurück. Bis dahin stammten praktisch alle Einnahmen aus dem Agrarexport, fortan flössen Mittel aus Nordamerika. In der Tat machte die Militärverwaltung jetzt den Weg für einen sozialen Reformismus von staatlicher Seite frei, nachdem sie in den sechziger Jahren vergeblich versucht hatte, grundlegende Reformen - etwa die bruchstückhafte Agrarreform von 1974 - einzuleiten und neue Bündnisse mit den Mittelund Unterschichten zu schließen, wie der Staatsstreich von 1979 veranschaulicht. Die dritte Vereinbarung schließlich, das Abkommen von Apaneca aus dem Jahre 1983, wurde im Einvernehmen mit den Militärs und der US-Regierung zwischen dem PDC, dem Partido

de Conciliación

Nacional

(PCN), der

ARENA und dem PPS geschlossen. 4 Es repräsentiert den Entwurf eines politischen Minimalprogramms für den Übergang zur Institutionalisierung. Das Abkommen schuf eine "Regierungsbasisplattform", die eine "Regierung der Nationalen Einheit" bilden sollte, die sich auf die folgenden sieben Programmpunkte stützte: Innere Befriedung, Demokratisierung, Einführung und Einhaltung der Menschenrechte, wirtschaftliche Konsolidierung, soziale und

Am 3. August 1982 trafen sich auf dem Anwesen des provisorischen Präsidenten Dr. Alvaro Magaña in Apaneca (Ahuachapán) die Vertreter des PDC, José Antonio Morales Ehrlich, ARENA, Roberto DAubuisson, PCN, Raúl Molina Martínez und PPS, Francisco Quiñónez.

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208

ökonomische Reformen, Glaubwürdigkeit der politischen Institutionen, öffentliche Sicherheit und die Festigung internationaler Beziehungen. Das Abkommen basierte auf der Überzeugung aller Beteiligten, insbesondere aber der USA, nur ein gemäßigter Kurs werde den Weg in Richtung sozialer und politischer Erholung des Landes ebnen. Auf diesem Weg müsse eine weitere Radikalisierung der Rechten ebenso wie ein Sieg der bewaffneten Linken verhindert werden. Gegen den Anspruch der ARENA, ihren Kandidaten D'Aubuisson durchzusetzen, beschloß die Junta, Alvaro Magaña zum vorläufigen Präsidenten zu machen - einen anerkannten salvadorianischen Intellektuellen und vormals Präsident der Hypothekenbank, der das Vertrauen der Militärs genoß. Der parteilose Magaña brachte inmitten einer tiefen politischen Krise eine der maßgeblichen Übereinkommen für das gegenwärtige politische System El Salvadors zustande. Das Abkommen beschloß die Bildung von drei Kommissionen - einer politischen, einer Friedens- und einer Menschenrechtskommission. Die politische Kommission sollte fortan die Beschlüsse der Plattform umsetzen. Sie setzte sich aus dem Präsidenten der Republik, den drei Vizepräsidenten, dem Verteidigungsminister, dem Außenminister und Vertretern der politischen Parteien zusammen. Die Kabinettsposten wurden unter den Unterzeichnern des neuen Abkommens aufgeteilt. Das Abkommen der "Nationalen Einheit" verminderte die Streitigkeiten zwischen den politischen Kräften, etablierte Formen der Machtteilung und regelte die Partizipation politischer Gruppen und Organisationen. Die Unterzeichnenden vereinbarten, zur Wahl einer Verfassungsgebenden Versammlung aufzurufen, und ernannten für deren Vorbereitung einen Interimspräsidenten. Das vierte Abkommen schließlich bildete das Fundament für die Politische Verfassung von 1993. In dieser Vereinbarung einigten sich die Beteiligten auf die grundlegenden Normen der künftigen staatlichen Ordnung. Dabei legte die Rechte die Grenze der Einschränkung ihrer Privilegien fest. 5 Die

5

Der Block der Parlamentsabgeordneten von ARENA-PAISA-PPS-PCN gestand einer natürlichen oder juristischen Person maximal 245 ha Landbesitz zu - entgegen dem Vorschlag des PDC, das Limit bei 100 bis 150 ha anzusiedeln.

209

II. El Salvador

Streitkräfte festigten ihren Machtstatus. 6 Die Rolle des Staates wurde genau umrissen. 7 Und den Christdemokraten gelang es, zahlreichen Forderungen der benachteiligten Bevölkerungsschichten zu entsprechen.

g

Vor allem aber wurden in dem Abkommen die Spielregeln für den politischen Machtkampf definiert. Exklusiver Schauplatz dieses Kampfes war fortan das gestärkte parlamentarische System. Dazu regelte das Abkommen auch die Machtbalance zwischen den staatlichen Organen - der Legislative, Exekutive und Judikative - beim Aufbau einer neuen demokratischen Ordnung. Von diesem Augenblick an lief das politische Leben in El Salvador in neuen Bahnen. Geregelter politischer Interessenausgleich, Gesetzes- und Verfassungstreue wurden zu unabdingbaren Requisiten der Institutionalisierung politischer Machtausübung. Die Verfassung bildet die Grundlage für den Aufbau einer pluralistischen politischen Ordnung - mit einem Mehrparteiensystem und einer Balance

Die Streitkräfte sind laut Verfassung von der Zivilgewalt unabhängige, dauernde Garanten der Nationalen Sicherheit. Sie bleiben apolitisch, sind zu Gehorsam verpflichtet und nicht beratend in öffentlichen Fragen. 7

g

Der Staat soll die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung durch Steigerung der Produktion, der Produktivität und vernünftige Nutzung der Ressourcen vorantreiben. Die staatliche Leitung der Wirtschaft wird in diesem Sinne beschränkt. Die "freie Wirtschaft" wird garantiert und die "private Initiative" geschützt. Hinsichtlich der Ausübung der Staatsgewalt einigte man sich auf Verfahrensweisen und Kompetenzen zur Beilegung von Streitigkeiten, die aus der 'demokratischen' Diskussion im Staatswesen erwachsen. Im juristischen Bereich wurde eine Verfassungskammer eingerichtet, die die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen, Dekreten, Verordnungen und den Schutz der persönlichen Freiheit (Recht auf Verteidigung vor Gericht, Habeas Corpus) gewährleistet und die Machtverteilung zwischen Legislative und Exekutive überwacht. Die DC erzielte bedeutende Verbesserungen im arbeitsrechtlichen Bereich. So erkennt die Verfassung das Recht der Landarbeiter und Hausangestellten auf Entlohnung, geregelte Arbeitszeit, Pausen, Ferien, Sozialversicherung und allgemeine Sozialleistungen an. Ferner wird ihnen zugestanden, sich frei im Sinne der Verteidigung ihrer Interessen zu organisieren, indem sie Berufsverbände oder Gewerkschaften bilden. Einschränkend gilt - auch nach den Reformen von 1992/93 - , daß sich die staatlichen Angestellten nicht gewerkschaftlich organisieren dürfen. Eingeschränkt bleibt auch das Streikrecht der Landarbeiter, das streng im Arbeitsrecht geregelt ist. Es verbietet die gewerkschaftliche Organisierung der Saisonarbeiter und die Ausübung des Streikrechts in der Erntezeit.

210

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zwischen den verschiedenen staatlichen Organen, die mit ihrem Spiel von Gewicht und Gegengewicht die Hegemonie einer Seite verhindern. Artikel 85 legt diesen pluralistischen Charakter des politischen Systems eindeutig fest. So heißt es in Absatz 3 des Artikels: "Ein Einparteiensystem ist mit den demokratischen Grundsätzen und der Regierungsform, die die Verfassung gebietet, unvereinbar". Überdies bestimmt die Verfassung - und gerade dieser Punkt stellt für nicht wenige in El Salvador ein Problem auf dem Weg der Demokratisierung dar - , daß das politische System sich ausschließlich über die Parteien konstituiert, die damit als einzige legitimiert sind, den politischen Willen des Volkes zu repräsentieren. Ohne in diesem Zusammenhang von einem fünften Abkommen sprechen zu wollen, sei noch eine eine weitere politische Übereinkunft aus dem Jahre 1987 erwähnt, die zur Eingliederung von zwei demokratischen Parteien in das sich formierende politische System führte. So kehrten nach der Anerkennung aller Parteien der vergangenen Dekade durch die zentrale Wahlkommission im November des Jahres der MNR und der MPSC nach El Salvador zurück. Die systemtreuen Parteien erkannten nun - wenn auch noch nicht formal die demokratischen Parteien an, die politisch mit dem FMLN in Verbindung standen. Ideologisch erweiterte sich damit das Parteienspektrum. Diese Öffnung gegenüber den politischen Kräften, die bis dahin außerhalb des politischen Systems gestanden hatten, markierte ohne Zweifel einen Fortschritt auf dem Weg zur Institutionalisierung der politischen Macht in El Salvador seit 1980. Für den Ausgang der Wahlen war dies kein quantitativ bedeutender Faktor. Die Öffnung war vielmehr ein qualitativ wichtiger Ausdruck zunehmender demokratischer Diskussionsfähigkeit und politischer Toleranz. Die vier beschriebenen Abkommen und die Wiedereingliederung der demokratischen Parteien in das salvadorianische Parteiensystem bildeten die Basis für wichtige wirtschaftliche und politische Reformen. Sie stärkten die politischen Parteien und normalisierten die institutionelle politische Arbeit, so daß sich am Ende sogar der FMLN in das in den Friedensabkommen festgelegte System eingliederte. Die politischen Kräfte gewannen Erfahrung bei der Verwirklichung politischer Kompromisse, lernten demokratische Spielregeln zu akzeptieren und schufen Vertrauen in die politischen Institutionen. Dage-

II. El Salvador

211

gen büßten das Militär und die Polizei ihre zentrale politische Machtposition im Staat, wie sie sie in der Vergangenheit ausgefüllt hatten, ein. Dieses Vakuum füllten andere.

2.3. Krise und Kurswechsel der Oppositionsparteien Während und nach den Wahlen von 1994 verstärkten sich die Spaltungstendenzen innerhalb der salvadorianischen Parteien der Linken, des Zentrums und der Rechten. Diese Separationsbewegung ging einher mit dem Entstehen neuer Parteien. Zusammen spiegeln sie die politische Mobilisierungskrise der Periode wider. Ein weiteres Charakteristikum der Zeit bildete das Aufkommen regionaler Parteien, das sogleich Fragen hinsichtlich ihrer Funktionalität, Lebensfähigkeit und Legalität aufwirft. Welche Faktoren lösten diese Ausweitung und Aufspaltung der salvadorianischen Parteienlandschaft aus? Wohin führt dieser beunruhigende und unerfreuliche Trend? Zu einem Parteienchaos? Mit dem gesellschaftlichen Wandel in El Salvador stehen die ideologischen, politischen und funktionellen Grundlagen aller politischen Vereinigungen auf dem Prüfstand. So haben alle politischen Parteien des Landes in letzter Zeit eine Phase der Spaltung und Neufindung durchgemacht. Im rechten Spektrum hatte die ARENA Schwierigkeiten, ihre Einheit zu wahren. Unzufriedene Mitglieder gründeten neue Parteien - etwa den Partido Liberal Democrático (PLD). Aber auch die politische Mitte - vor allem die DC - und selbst der mächtige linke FMLN zeigen Erosionserscheinungen, so daß auch ihr Zusammenhalt nicht gesichert ist. In der DC gibt es mindestens drei Gruppen, die ihre parteiinterne und parlamentarische Handlungsfähigkeit schwächen. Der FLMN hat sich in zwei Parteien aufgespalten: eine sozialdemokratische, den Partido Demócrata (PD), der sich aus der Expresión Renovadora del Pueblo (ERP) und der Resistencia Nacional (RN) gebildet hat, zu denen dann der MNR stieß, und eine andere, den 'neuen' FMLN, der sich zusammensetzt aus den Fuerzas Populares de Liberación (FPL), dem Partido Revolucionario de los Trabajadores Centroamericanos (PRTC) und dem Partido Comunista Salvadoreño (PCS). Diese drei Gruppen, aus denen sich der neue FMLN konstituiert, sind ge-

212

Rafael Guido Béjar

genwärtig als Parteiorganisationen verschwunden und haben sich wie früher in lose Verbindungen ohne feste Gliederung und Führung verwandelt. In den vier Jahren seit der Unterzeichnung der Friedensabkommen zeigt sich allgemein die Tendenz zum Austausch von Führungsspitzen und Organisationsformen. Diese Neuerungen im Bereich politischer Repräsentation haben in der Konsequenz bedrohliche Ausmaße angenommen. So befindet sich auch die Unternehmenslandschaft im Umbruch. Ein Sektor kämpft gegen den anderen für die Verbesserung der steuerlichen Rahmenbedingungen für traditionelle Unternehmensformen, fordert Maßnahmen gegen Steuerhinterziehung und prangert Vetternwirtschaft, Korruption und andere Schwachpunkte des Systems an. Derlei Auseinandersetzungen innerhalb der Unternehmerschaft gestalten sich zunehmend heftig und treten zum ersten Mal in das Rampenlicht der Öffentlichkeit. Überdies sind auch die Kommunikationsmedien transparenter geworden, so daß nun Affären und Skandale publik werden, die der Öffentlichkeit früher verborgen blieben. In der Summe werden hier Symptome eines Wandels im rechten politischen Spektrum und seiner politischen Repräsentationsmuster erkennbar. Auf der anderen Seite aber versucht jede Fraktion, den ihr genehmen Status quo zu sichern und dort, wo er der Durchsetzung ihrer gesellschaftspolitischen Strategie entgegenläuft, zu verändern, ohne daß aber eine zentrale Instanz - wie früher das Militär - die Entscheidungsgewalt ausübt. So wird der Staatsapparat nicht exklusiv von einer rechten Gruppierung kontrolliert. Vielmehr scheint es gegenwärtig so zu sein, daß verschiedene rechte Fraktionen bestimmte staatliche Netzwerke kontrollieren. Diese Tendenzen dokumentieren den tiefgreifenden Wandel und die Anpassungsprozesse, die zwischen politischen Parteien und der Gesellschaft als ganzes stattfinden. Die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen fühlen sich von ihren alten Parteien nicht mehr angemessen vertreten - und vor allem nicht von deren Führungsspitzen. So orientiert sich ein Teil der politischen Elite der Vergangenheit um - der Rest versucht, an den veralteten Rezepten festzuhalten. Gleichzeitig tauchen neue Kräfte mit neuen gesellschaftspolitischen Vorstellungen auf. So kommt es zu neuen politischen Schulterschlüssen wie der parlamentarischen Koalition zwischen der ARENA und der aus zwei ehemaligen Guerilla-Gruppen hervorgegangenen PD, die das Abkom-

II. El Salvador

213

men von San Andrés schlössen, und ganz allgemein zur Veränderung der tradierten politischen Handlungsmuster. Es mutet fast paradox an - aber das politische Chaos in El Salvador fuhrt zu neuer politischer Stabilität. So zeigen sich die politischen Parteien immer mehr an der Persistenz des sozialen Status quo interessiert, statt an utopischen sozialpolitischen Projekten festzuhalten. Man orientiert sich an Wahlergebnissen, widmet sich der Ausübung politischer Macht und dem Gang, der Gestaltung und Analyse des Geschehens auf der politischen Tagesordnung. Gearbeitet wird an der Anpassung politischer Institutionen an die neuen politischen Gegebenheiten, an der Neuformulierung und Vergegenwärtigung der eigenen politischen Anliegen und Absichten. Die Herausforderungen der Liberalisierungsphase liegen hinter uns. Der Krieg, der auf unerbittliche Weise zur Ausformung des Parteienspektrums geführt hat, ist unwiederbringlich vorbei. Die erste Phase der politischen Transition in El Salvador ist überwunden. Jetzt schafft die Einhaltung der Abkommen neuen politischen Zündstoff für den Wahlkampf und den Umgang mit Verfassung und Regierungsgewalt nach dem Grundsatz der Verhältnisgleichheit, die das Wahlsystem jeder Partei garantiert. So erhoffen sich alle Beteiligten von der neuen, im Aufbau befindlichen Ordnung, daß sie ihre Aktivitäten und die Verwirklichung ihrer Interessen begünstigt.

2.4. Politikverdrossenheit und apolitische Strömungen der Gegenwart In Ergänzung zum bisher Gesagten bleibt noch zu bemerken, daß die Zufriedenheit der salvadorianischen Bevölkerung mit der ersten, nach den Friedensabkommen gebildeten Regierung nicht sehr groß ist. Mit Blick auf die Parteien und staatlichen Institutionen ist eine gewisse Politikmüdigkeit unverkennbar. Überdies hat sich die ökonomische Lage für den Großteil der Bevölkerung durch verschiedene wirtschaftspolitische Entscheidungen und die Erhöhung der Mehrwertsteuer verschlechtert. Für diese prekäre Entwicklung verantwortlich gelten die Absprachen der politischen Parteien im Parlament und das Versagen der politischen Klasse, die derlei nicht verhindert habe. So bekunden Unternehmerschaft, Selbständige, kleine und mittlere

214

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Handwerker und Lohnempfänger in von der Gewerkschaft organisierten Demonstrationen ihre Unzufriedenheit mit den durch die Regierungspolitik verursachten ökonomischen Schwierigkeiten, die ihr Leben belasten. So nimmt die Lage in El Salvador bisweilen paradoxe Züge an. Auf der einen Seite herrscht politische Stabilität, besteht Vertrauen in das Wirtschaftswachstum, Aussicht auf mehr private, staatliche und ausländische Investitionen und Erfolge im Kampf gegen die Korruption. Aber auf der anderen Seite sind die Aussichten auf dem Arbeitsmarkt sehr trübe, da wenig neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Hinzu kommt eine hohe Kriminalitätsrate, mit der sich die Bevölkerung und die Produktions-, Handels- und Finanzzentren tagtäglich konfrontiert sehen. Vor dem Hintergrund der wirtschaftspolitischen Einschnitte herrscht ein allgemeines gesellschaftliches Unwohlsein im Land. Vermißt wird ein Wirtschaftsprogramm, das sofort Abhilfe schaffen könnte. Es fehlen Kredite und eine Politik zur Ankurbelung der Produktion. Dies bedeutet, daß in einer Zeit außergewöhnlichen Wirtschaftswachstums die ökonomischen Verhältnisse als überaus negativ erachtet werden. Im Mittelpunkt der allgemeinen Kritik aber steht die Wirtschaftspolitik der Regierung, die schlechter bewertet wird als die wirtschaftliche Lage selbst. Eine Umfrage zum ersten Regierungsjahr der neuen Regierung (Tab. 1) zeigt deutlich die Sorge der Bevölkerung über die drückenden Probleme des Landes und ihre Bewertung der Regierungspolitik. So gaben 80 % der Befragten an, diese Probleme seien in erster Linie ökonomischer Natur. Und nur 15 % meinten, daß sie angemessen angepackt würden. Positiv dagegen bewertete die Mehrheit der Bürger die Maßnahmen der Regierung zur Effektivitätssteigerung des Verwaltungsapparates.

215

II. El Salvador Tab. 1: Hauptprobleme und positiv bewertete Maßnahmen der Regierung El Salvadors im ersten Amtsjahr Probleme

Vorrang (%)

Positive Veränderung (%)

Kriminalität

35.0

7.3

weniger Kriminalität

Wirtschaft

19.9

7.3

Wirtschaftsmaßnahmen

Arbeitslosigkeit

15.2

5.9

Schaffung von Arbeitsplätzen

Inflation

15.1

Armut

5.0

3.5

Armenhilfe

Korruption

2.1

2.3

Korruptionsbekämpfung

-

34.9

Reinigung

13.3

Öffentliche Dienste

13.6

Vertragserfüllung

Andere

5.8

9.1

Keine Antwort

2.4

2.8

Quelle: IUDOP, S. 5-10. Fast vier Jahre nach den Friedensabkommen, einer Phase forcierter Demokratisierung, meinten 77,3 % der Bevölkerung, daß die Gesamtentwicklung des Landes eher negativ sei. Diese Unzufriedenheit resultiert vor allem aus der Bewertung der ökonomischen Lage und der Wirtschaftspolitik der Regierung El Salvadors (GOES). Ungeachtet des zu verzeichnenden Wirtschaftswachstums meinten 56,7 %, daß sich die wirtschaftliche Situation verschlechtert habe. 33 % erwarteten, die Lage werde in Zukunft unverändert bleiben; 47 %, daß sie sich verschlechtern werde. 77,3 % hielten einen politischen Wechsel als Voraussetzung für eine Verbesserung der Lage für nötig. Von der Zukunft erhofften sich im ersten Regierungsjahr 20,8 % der Salvadorianer mehr Arbeitsplätze, 16,3 % die Bekämpfung der Kriminalität, 13 % eine stärkere Kontrolle der Inflation, 10,7 % eine Besserung der wirtschaftlichen Verhältnisse und 9,4 % eine entschiedenere Armutsbekämpfung. Nur 3,7 % erwarteten eine Verbesserung der staatlichen Sozialfürsorge, die im Gegenteil immer unzulänglicher werde. Und in der Tat zeigt sich der Staat außerstande, die komplexen gesellschaftlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Je mehr sich die sozialen Probleme verschärfen, desto ohnmächtiger scheint er, sie zu lösen.

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216

Die Zufriedenheit der Bevölkerung mit der gegenwärtigen Ordnung hängt wesentlich von ihrer Zufriedenheit mit der Regierung und den politischen Parteien ab. Auf diesem Gebiet zeichnet sich ein Wandel der politischen Präferenzen ab. So mußten die drei bestplazierten Parteien der Wahlen von 1994 binnen eines Jahres substantielle Verluste einstecken und kamen auf folgende Stimmenanteile: ARENA 14,3 %, FMLN-CD 12,2 % und PDC 4,7 %. Nach einer Umfrage zur politischen Kultur (Tab. 2) in El Salvador genossen im März 1995 nur wenige politische Institutionen das Zutrauen der Bevölkerung. Wiederum paradox scheint dabei, daß im Übergang des Landes zur Demokratie vor allem die Regierung, die Parteien und die Justiz auf Ablehnung stießen. Ein großer Vertrauensbonus wurde dagegen der Kirche gewährt, gefolgt von den Kommunikationsmedien, in die die Befragten deutlich mehr Vertrauen setzten als früher. Tab. 2: Glaubwürdigkeit der salvadorianische Institutionen (in %) Vertrauen

Regierung/

Katholische

Politische

Medien

Justiz

Staat

Kirche

Parteien

Keins

38.4

20.9

53.5

10.3

39.7

Wenig

32.1

14.4

28.0

25.7

30.8

Etwas Großes

17.1

19.5

10.2

34.6

17.9

9.0

43.0

3.4

25.0

4.9

Keine Antwort

3.4

2.2

4.9

4.3

6.8

Quelle: IUDOP a. Gerade das Mißtrauen gegenüber der politischen Klasse ist ausgesprochen hoch. So gaben 75,8 % der Befragten an, wenig oder kein Interesse an der Politik zu haben, und nur 11 % zeigen großes Interesse. Andererseits antworteten auf die Frage, ob die Politiker im allgemeinen dem Land dienen würden und ehrbare und aufopferungsbereite Leute seien, die Mehrheit von 76,6 % mit nein. Umgekehrt meinten 88,1 %, die Politiker erinnerten sich nur anläßlich von Wahlen an das Volk. Auch glaubten lediglich 23,9 % der Befragten, daß Demokratie Freiheit bedeute, und nur 2 , 8 % , daß sie sozialen Wohlstand garantiere. Für 11,7%

II. El Salvador

217

heißt Demokratie "in Frieden leben" und für 7,5 % impliziert sie Gleichheit. 61,3 % meinen, daß soziale Gerechtigkeit wichtiger sei als persönliche Freiheit. 55,1 % glauben, das soziale System müsse reformiert werden. 3 4 , 9 % meinen, daß man es vollkommen ändern müsse, und nur 5,3 %, daß es in seiner gegenwärtigen Form bestehen könne. Die Armenhilfe der katholischen Kirche dagegen wird von 69,0 % der Befragten gutgeheißen und von 28,3 % abgelehnt. Diese Daten zeigen, daß der Übergang zur Demokratie mit einem starken Bedürfnis nach sozialen Reformen einhergeht - ein Anliegen, das im Wahlkampf manipulativ instrumentalisiert wurde und nach dem Urnengang wieder in Vergessenheit geriet. So fuhrt das Gefühl uneingelöster Reformversprechen und das wachsende Mißtrauen gegenüber Politik und den politisch Handelnden zu einem Rückzug in das Privatleben. Diese Tendenz manifestiert sich in der Bevölkerung El Salvadors immer stärker. Man begreift noch nicht, daß Bürgerrechte nicht nur politische, sondern auch soziale Rechte beinhalten. Die Bildung einer bürgerlichen Gesellschaft war ein wichtiges Thema in den Abkommen von Chapultepec; man handelt aber mehr auf politischer als auf sozialer Ebene. Eine Politik der Umverteilung findet nicht statt. Vielmehr bleiben gerade auch in Anbetracht sinkender Löhne die Unterschiede im sozialen Bereich und die Gegensätze auf regionaler Ebene bestehen. 47,9 % der Befragten meinen daher, daß die Regierung die Reichen, Unternehmer (6,1 %) und Mitglieder der Regierungspartei (8,4 %) bevorteilt. Dagegen glauben nur 16,4%, es herrsche Gleichheit. Bedenkt man, daß der Staat größere Steuereinnahmen erzielt und daß die Leistungsbilanz, insbesondere die Einnahmen aus dem Geldtransfer der im Ausland arbeitenden Familienangehörigen, ausreichen, um eine sozial gerechtere Verteilung zu gewährleisten, könnnte diese Unzufriedenheit künftig noch zunehmen. In der Sozialpolitik gibt es nach wie vor einen großen Nachholbedarf. Sie bleibt weit hinter den Bedürfnissen der Bevölkerung zurück. Im Gegensatz dazu gibt es keine Gewißheit, daß die wirtschaftliche Entwicklung vorangeht, und daß es gelingen wird, eine nicht korrupte und effizient arbeitende Verwaltung aufzubauen.

218

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Überdies herrscht in weiten Kreisen der Bevölkerung El Salvadors großer Unmut über eine Reihe politischer Versäumnisse und Skandale. Dazu gehören: 1. die Verwicklung von Politikern in Parteien und Regierung in Korruptionsaffairen; 2. die mangelnde Offenheit der Parteien gegenüber Initiativen aus der Bevölkerung und die zögerliche Modernisierung und Demokratisierung der inneren Strukturen; 3. eine politische Polarisierung durch die Überwachung sozialer Bewegungen und ihren Ausschluß von politischen Entscheidungen; 4. die Beschränkung von Pluralismus und politischer Repräsentation; 5. die Reaktion zwar auf politische Entwicklungen mit entsprechenden Vorschlägen, aber die Mißachtung der sozialen Anliegen, was zu Legitimitätsproblemen fuhrt; 6. elitäres Gebaren in beiden politischen Lagern, der Rechten und der Linken; 7. die Metamorphose der politischen Parteien in Agenten der sozialen Beschwichtigung und Kontrolle, die zwar die Transition sichern, aber ohne effiziente Institutionen aufzubauen, welche auf die Bedürfnisse des Volkes zugeschnitten sind, was dazu beiträgt, daß die politische Mobilisierung der Bürger als systemgefahrdend gesehen wird; 8. dazu kommt noch der Identitätsverlust des FMLN als soziale Organisation und Reformbewegung durch seine Umwandlung in eine wählbare politische Partei, so daß er nur noch auf die Ausübung von Funktionen konzentriert ist, welche durch Wahltaktiken bestimmt sind. Die Politiker ihrerseits haben diese Situation als 'Scheinwiderspruch' zwischen politischer Klasse und Wahlvolk interpretiert, der sich wie folgt ausdrückt: 1. Die Bevölkerung fühlt sich durch die politischen Parteien nicht repräsentiert und steht ihnen ablehnend gegenüber. 2. Die Bevölkerung glaubt, daß die politischen Parteien sich in einem obsoleten Zustand befinden und ihre Existenz gefährdet ist, womit sie zugleich andere politische und staatliche Institutionen - etwa den Nationalkongreß und die Gemeindeverwaltungen - infrage stellen.

II. El Salvador

219

3. Die Bevölkerung verlangt einen Austausch der politischen Klasse. 4. Zur Vermeidung gegenseitiger Entfremdung müssen die Beziehungen zwischen der Bevölkerung, den politischen Parteien und dem Staat neu geordnet werden.

3.

Gegenwärtige Entwicklungstendenzen des politischen Systems

Der Transformationsprozeß des politischen Systems in El Salvador ist noch nicht abgeschlossen. Zur Sprache kommen müssen daher in diesem Zusammenhang die Einigungspolitik zwischen rechten, linken und politischen Gruppierungen des Zentrums und die verschiedenen Koalitionsmöglichkeiten. Die Rechte hat sicherlich bewiesen, daß sie in der Lage ist, politische Parteien zu bilden, die Interessen ihrer Wählerschaft und politischen Basis zu vertreten und Regierungsverantwortung zu übernehmen. Dieses gilt ungeachtet der Schwächen und Versäumnisse der Exekutivgewalt. Das sich formierende politische System in El Salvador besitzt zwei unterschiedliche Merkmale. Auf der einen Seite ist es der Rechten mit ihrer Parteistrategie gelungen, politisch eine sehr dominante Rolle zu übernehmen. Sie hat ihre Kräfte darauf verwandt, die staatlichen Organe und Ressourcen zu kontrollieren und Koalitionen mit anderen rechten Gruppen, mit Zentrums- und Linksparteien einzugehen. Auf der anderen Seite begünstigt das System das politische Zentrum, auf das sich - auf rechter wie auf linker Seite - die Mehrheit der Parteien und politischen Strategien ausrichtet.

3.1. Die politische Mitte Die politische Mitte in El Salvador definiert sich über den Konsens in der Haltung zu den Friedensabkommen. Sie sind der Parameter für gesellschaftliche und politische Entscheidungen, Handlungsstrategien und Wertesysteme der verschiedenen politischen Gruppierungen. Die Bevölkerung kann in

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diesem Rahmen politisch aktiv werden, um ihre Lebensbedingungen kurzfristig zu verbessern. Dabei muß sie sich an die Grenzen der sozialen und politischen Ordnung halten, die in den Abkommen festgelegt wurden. Die Unternehmerschaft etwa sieht ihre Interessen durch die Legitimität und Stabilität von gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Organisationsformen gewahrt, die eine demokratische Partizipation ermöglichen. So werden von ihrer Seite aus unterschiedlichen politisch-strategischen Gründen Anstrengungen unternommen, das Zentrum und die politische Mäßigung zu fordern und den einmal gefundenen Konsens zu wahren. Diese neue Haltung kontrastiert mit den bis dahin vertretenen extremen Standpunkten. So zeigen sich selbst Gruppierungen, die während des Krieges radikale militärische Ziele verfolgten und ihre Effizienz allein in der Vernichtung des Feindes bewiesen, fleißig bemüht, ihr ehedem unnachgiebiges Image aufzupolieren und auf die Gewinnung von Mehrheiten ausgerichtete Angebote zu machen, die programmatisch der politischen Mitte zuzuordnen sind. Und auch einflußreiche Gruppierungen und Kräfte, die die frühere - im Extremfall kriegerische - Politik der FAES bestimmten und jetzt im PCN in den Vordergrund rücken, nennen sich selbst "gemäßigte Rechte" - man könnte auch 'rechte Mitte' sagen - und lassen sich auf einen Wettstreit mit der Linken und auch mit ihren früheren Waffenbrüdern ein. Der PD hat zur Bestürzung anderer linker Gruppen seine politische Vorliebe für die internationale Sozialdemokratie ausgedrückt. Es drängt sich die Frage auf, ob es sich dabei um den berühmten sozialdemokratischen Konsens handelt, der um die Welt geht. Auf jeden Fall hat der PD die Begriffe Mäßigung und Politik der Mitte als Fundament für das Funktionieren von Wirtschaft und Politik in der westlichen Welt ausdrücklich herausgestellt. Damit hat der PD, mit dem sich noch immer weite Teile der salvadorianischen Linken identifizieren, die Marktwirtschaft als politisches Projekt akzeptiert. Diese auf Mäßigung ausgelegte politische Strategie ist nicht den bisher genannten Gruppierungen vorbehalten. Die 'andere Linke', PCS, FPL und PRTC, macht als Anstifter und Motor der Friedensabkommen, die ihrem ideologischen Weltbild nach durch das Zutun aller Beteiligten zustande ge-

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kommen sind, anderen den Platz in der politischen Mitte streitig. Auch Gruppierungen wie die Convergencia Democrática (CD) glauben, daß eine nationale Verständigungspolitik vom Standpunkt der nicht kommunistischmarxistischen Linken aus vertretbar ist. Die DC hat ihrerseits bereits seit Anfang der sechziger Jahre ihren Hang zur politischen Mitte betont. Diese Haltung machte sie für die im MNR und PCS organisierten Sozialdemokraten attraktiv, mit denen zusammen in den siebziger Jahren eine Zentrumskoalition, die Unión Nacional Opositora (UNO), gebildet wurde. Und auch andere neue Parteien zielen auf die politische Mitte: der Partido Renovador Social Cristiano (PRSC), der PD, der Partido Movimiento de Unidad (PMU), die CD und der Movimiento de Solidaridad Nacional (MSN). Das Sammelbecken der salvadorianischen Rechten, die ARENA, verbindet ihre radikale Symbolik und Rhetorik aus Hymnen, Gesten und Parolen des Antikommunismus aus der Zeit vor der Perestroika, die sie auf ihren politischen Veranstaltungen gerne pflegen, mit konservativen Phrasen, die kaum noch etwas mit ihrem politischen Erbe zu tun haben, und die sich nur wenig von neoliberalen und ultraistischen Positionen unterscheiden. So kam Ende 1995 ein Abkommen zwischen den 'Gemäßigten' und den 'Extremisten' zustande, durch das die Streitigkeiten zwischen den verschiedenen Parteiflügeln beigelegt wurden. Daran ändert auch die Dynamik der 'Hardliner' nicht viel, die darauf hindeutet, daß sie bald die 'Gemäßigten' in der Partei an den Rand drücken werden, die die entscheidende Phase der Transition geprägt haben. Die Attraktivität der politischen Mitte läßt sich aber auch mit den verschiedenen Wahlprogrammen von 1994 belegen, in denen alle Parteien vorgaben, weniger rechts und weniger links und mehr marktorientiert zu sein. Reformen oder wirtschaftspolitische Neuerungen lassen sich eben nur im Konsens mit anderen Gruppierungen durchsetzen, der auf eine mehr oder weniger demokratische Weise erzielt werden muß. Diese Einsicht hat freilich bis heute noch nicht zur Bildung einer großen 'Zentrumspartei' oder 'Partei der Verständigung' gefuhrt. Bisher konnte niemand den politischen Bonus der Friedensabkommen für sich allein nutzen. Immerhin aber haben sich Handlungsparameter etabliert, die für die politische Mitte gelten - der politische Konsens über die Friedensabkommen. Tatsächlich könnte dieses politische Verhalten auf die Existenz eines demo-

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kratischen politischen Systems hinweisen, das nach den Gesetzen des freien Marktes funktioniert - in dem also der politische Wettbewerb möglich ist und in dem die verschiedenen Politikangebote miteinander konkurrieren, ohne daß es eine Rolle spielt, ob sie als links oder rechts gelten. Nur ihre Verfassungsmäßigkeit verleiht ihnen das Recht zum Wettbewerb in einem Raum, der frei von Repressionen, Machtmonopolen und äußerem Gepränge ist, wo die unsichtbare und souveräne Hand des Wählers dafür sorgt, daß die Regierungspolitik den allgemeinen Volkswillen widerspiegelt. Natürlich ist dies ein Projekt, das über die nächsten Wahlen von 1997 hinausgeht. Denn gerade bei diesen Wahlen wird die Linke ernsthafte Schwierigkeiten haben, Koalitionen zu bilden, die über das angestammte Wählerpotential hinausreichen und ihrer Benachteiligung durch das Wahlsystem entgegenarbeiten.

3.2. Die Linke Als es gegen Ende des revolutionären Zyklus darum ging, einen politischen Konsens zu suchen, existierten auf Seiten der salvadorianischen Linken zwei politische Optionen - die in der PD beheimatete sozialdemokratische und die radikalerer Kräfte wie des FMLN. Programmatisch sind beide linke Strömungen im politischen Spektrum El Salvadors nur schwer zu verorten. Bis in die Gegenwart gelten die Friedensabkommen als das Maß aller Dinge. Dazu stehen die Dezentralisierung und Modernisierung des Staatsapparates und die Entwicklung der Volkswirtschaft auf der politischen Tagesordnung. Die Diskussionen rankt sich um die großen Themen Markt, Staat, bürgerliche Gesellschaft, soziale Gerechtigkeit, Freiheit, Wirtschaftswachstum etc. Ungeachtet ihrer Krise bleibt die Sozialdemokratie nach wie vor in fast allen entwickelten Staaten eine wichtige politische Alternative. Damit ist sie unvermindert attraktiv und zugleich auch auf die Konsolidierung der politischen Strukturen in anderen Ländern anwendbar. In El Salvador tritt die Sozialdemokratie als Verwalter praktisch der gesamten Palette linker Werte auf und kann auf historisch und international erprobte Modelle verweisen auch wenn es sich dabei um politische Strategien handelt, die in entwickelten Gesellschaften entstanden, um zu einem Interessenausgleich zwischen Unternehmer- und Industriearbeiterschaft zu gelangen. Eine Anpassung dieses Modells an die Gegebenheiten in El Salvador, wo die industrielle Lohnarbeit

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II. El Salvador

durch die unkontrollierte Ausweitung des Dienstleistungssektors zunehmend an Bedeutung verliert, ist schwierig und verlangt eine Menge politischer Gestaltungskraft. De facto ist auch die 'andere Linke' in El Salvador keineswegs das Sammelbecken eines orthodoxen Sozialismus. In der Tat hat sie den Rahmen ihrer politischen Anschauungen und Aussagen weit gesteckt. Ihr Modell, Demokratie und die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit miteinander zu verbinden, hat in Konkurrenz zu anderen linken Entwürfen politisch nicht an Aktualität verloren. So ist mittlerweile unumstritten, daß es keine privilegierten politischen und gesellschaftlichen Kräfte gibt, die bis heute auf diesem Weg den Stein der Weisen gefunden hätten. Nach wie vor erfordert es unvermindert viel Vorstellungskraft und Anstrengungen, die salvadorianische Gesellschaft im Spannungsfeld zwischen Demokratie und Ökonomie voranzubringen. Auf jeden Fall muß sich die Linke abseits aller internen Auseinandersetzungen ihrer Verantwortung fiir Demokratie bewußt werden und sich in Besonnenheit und Toleranz üben, damit der politische Konsens der Friedensabkommen nicht verloren geht, sondern weiter gestärkt wird.

3.3. Die Rechte Die Fraktionen der salvadorianischen Rechten nahmen den politischen Dialog untereinander wieder auf, als es darum ging, sich auf neue politische Ziele zu einigen, die den jeweiligen Gruppeninteressen entsprachen. So wurden die Friedensabkommen und demokratische Grundprinzipien inzwischen als etwas Gegebenes hingenommen. Und nach wie vor gelten sie als Maximen der Gestaltung des sozio-politischen

Wandels.

So hat

Präsident

Calderön Sol die Phase der Umsetzung der Abkommen von Chapultepec für noch nicht beendet erklärt und dazu aufgerufen, sich mit neuen Ideen dieser Aufgabe zu widmen. Vor diesem Hintergrund richtet sich das Augenmerk der Beteiligten nicht mehr nur auf die punktuelle Ergänzung und Umsetzung einzelner schwieriger Paragraphen der Friedensabkommen. Gerade die Linke glaubt, Zeichen für eine Erschöpfung der Abkommen zu entdecken. So geht es gegenwärtig darum, sich über das bisher Erreichte zu vergewissern und über die Abkom-

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men hinauszudenken - ob die politischen Kräfte, die die Abkommen möglich gemacht haben, nun weiterbestehen oder nicht. In der Konsequenz beginnen die politischen Parteien und gesellschaftlichen Gruppen in El Salvador, aktualisierte Strategien zur Durchsetzung ihrer jeweiligen sozio-politischen Zielsetzungen zu entwickeln. Was bedeutet dies alles für den Fortgang der Transition in El Salvador? Welche Auswirkungen auf das politische System hat gerade die Dynamik im rechten Spektrum? Nach Stand der Dinge ist die Lage ebenso unübersichtlich wie bedenklich auf der einen Seite eine starke Rechte, die an der Wiederherstellung ihrer Einheit arbeitet, und deren Nahziel es ist, bis ins nächste Jahrhundert hinein an der Macht zu bleiben; auf der anderen Seite eine geschwächte und zersplitterte Linke; dazu ein müdes, gespaltenes Zentrum ohne historische Tradition, die an eine kurzfristige Konsolidierung glauben ließe. Vor diesem Hintergrund ist hinsichtlich der künftigen Entwicklung des politischen Systems der Nachkriegszeit zu erwarten, daß die ARENA ihre politische Dominanz noch weiter ausbauen kann und die Opposition mit deren eigenen Waffen schlagen wird. Dabei steht auf der politischen Agenda der ARENA die Erringung der absoluten Mehrheit in den Wahlen von 1997 an erster Stelle. Ein solches Szenario ergibt sich zum einen aus dem gegenwärtigen numerischen Übergewicht der Partei. Seit 1988 hat die ARENA nicht eine Wahl verloren. Sie regiert seit 1994 in 208 Gemeinden und hat 40 Sitze im Parlament. Auf der anderen Seite zeigt sich die Partei kompromißbereit und geht wenn nötig - auch Koalitionen mit kleineren Parteien ein. Diese Strategie sichert ihr eine Vorherrschaft über die anderen Parteien des Systems. Wenn die ARENA - und dies scheint keineswegs abwegig - auch die Wahlen von 1997 gewinnt, wird sie neun Jahre die Mehrheit im Parlament und in den Gemeinden und sieben Jahre den Präsidenten gestellt haben. Die ARENA ist die rechte Kraft in El Salvador, die die Transition wohl am adäquatesten mitgestaltet hat. Mit ihren Wahlerfolgen baut sie auf ein solides Fundament plebiszitärer Zustimmung. Dazu dominiert sie als Regierungspartei das politische System und die öffentliche Diskussion, bestimmt zuneh-

II. El Salvador

225

mend die politische Tagesordnung und die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung im Land. Vor diesem Hintergrund scheint es wahrscheinlich, daß die Parteienlandschaft in Zukunft ihren Wettbewerbscharakter behält und noch eine Weile polarisiert bleibt. Die Rechte könnte sich in zwei Parteien spalten, um interne Konflikte zu entschärfen und auf die politische Mitte auszustrahlen. Auf der anderen Seite gibt es in der ARENA aber auch Tendenzen, die vermuten lassen, daß die verschiedenen Gruppierungen der Rechten zu substantiellen Übereinkünften kommen. Auf jeden Fall aber besitzt die Partei genügend politische Flexibilität, um auf eine mögliche Koalition von Zentrum und Linken zu reagieren. So hat die ARENA ein Programm innerer Modernisierung und Integration aufgelegt, das indes auf den Widerstand derer stoßen mußte, die zu den Verlierern der Transition gehören, weil sie den höchsten Preis für den Kampf der modernen Rechten gegen Korruption und organisiertes Verbrechen zu bezahlen hatten - einen Kampf gegen Praktiken der Vergangenheit, die die neuen Prinzipien von Markt und Wettbewerb ad absurdum zu fuhren drohen. In diesem politischen Spannungsfeld steht die in sich gespaltene Linke hintan. Im Interesse einer starken Opposition und auf der Suche nach strategischen Alternativen flir die neue Legislaturperiode muß sie dauerhafte Koalitionen mit dem Zentrum eingehen. Denkbar ist ein derartiger politischer Schulterschluß zwischen Sozialdemokratie und der 'demokratischen Linken' - die in El Salvador unter der Bezeichnung 'demokratisch-revolutionär' firmiert. Dabei gilt es allerdings, sich von ideologischen Altlasten zu lösen und neue Werte in den Vordergrund zu stellen - etwa christliche, die nicht vom untergegangenen Marxismus-Leninismus kompromitiert sind. Das traditionelle Zentrum bleibt wegen seiner Wahlniederlagen und der permanenten inneren Umstrukturierung sehr schwach. Es muß sich programmatisch erneuern und dem Wettbewerb stellen, der von der Linken und der Rechten mit ihren auf die Mitte zielenden politischen Ambitionen ausgeht. Der gesamte politische Transformationsprozeß in El Salvador steht in einem ideologischen Kontext. Die revolutionären Leidenschaften sind erloschen, aber keineswegs ganz verschwunden. So ist das politische System von einem

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Gleichgewicht noch weit entfernt. Dazu ist die Linke gerade in Bereichen, in denen die konservative Ideologie den Ton angibt, zu schwach. Als Beispiel sei in diesem Zusammenhang nur der fehlende Widerstand gegen die orthodoxe Haltung von Staat, Kirche und eines Teils der Medien zum Thema Abtreibung und Reform der Kirche erwähnt. Ebensolches ließe sich für die Bereiche Privatisierung und Anpassung der Wirtschaft an den Markt, Modernisierung und Verschlankung des Staatsapparates zeigen.

Fazit Die politische Lage in El Salvador gibt insgesamt wenig Anlaß zur Unruhe und stellt sich ganz anders dar als noch vor wenigen Jahren: eine starke Rechte mit einer enormen inneren Dynamik; eine geschwächte und gespaltene Linke; eine Sozialdemokratie im Prozeß der Selbstfindung; eine ebenso gespaltene und durch den politischen Kraftakt der ersten Phase der Transition in den achtziger Jahren geschwächte Christdemokratie; Streitkräfte in einem zähen Erneuerungsprozeß, die zwar formal der Zivilgewalt unterstehen, zu militärischer und politischer Aktion aber weiter fähig sind; soziale Gruppen, die zur spontanen politischen Mobilisierung neigen und Konfliktbereitschaft zeigen, wenn es um die Durchsetzung ihrer Interessen geht; und schließlich eine schwankende Wählerschaft, die zwischen der Rechten und der Sozialdemokratie optiert. Die Parteien verfügen über sehr wenige Instrumente, um dieser soziopolitischen Labilität zu begegnen, die die kritische Grenze der Unregierbarkeit zu überschreiten droht. Sie zeigen sich außerstande, die politische Aktion der Gesellschaft zu bündeln und zu kanalisieren. Im Gegenteil, sie entfernen sich immer weiter von den sozialen Bewegungen, von ihren eigenen historischen Wurzeln und ihren Parteigängern. Damit bleiben am Schluß zwei wichtige Fragen offen. Wird die Demokratisierung in El Salvador angesichts eines derartig verfaßten Parteiensystems weitergehen? Wird sich unter dem Druck anderer Parteien ein anderes System konstituieren? Eine Antwort auf diese Fragen wird die künftige politische Entwicklung geben.

II. El Salvador

227

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II. Mexiko

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Manfred Mols

Politische Transformation in Mexiko

1.

Statt einer Einleitung: Die Pyramide und ihre Brüche

Mexiko ist mit 1,96 Millionen Quadratkilometern und 93,2 Millionen Einwohnern eines der größten Länder der Erde. An Fläche wird es in Lateinamerika von Argentinien und von dem riesigen Brasilien übertroffen, an Bevölkerungszahl nur noch von Brasilien. Mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 3.944 US-Dollar (1994) und einem Bruttoinlandsprodukt von 370 Millarden US-Dollar demonstriert es im lateinamerikanischen Kontext eine erhebliche Wirtschaftskraft. Zwar ist auch hier Brasilien mit 531 Millarden US-Dollar gewichtiger; die übrigen lateinamerikanischen Staaten fallen aber im Verhältnis zu Mexiko deutlich ab. Zum Vergleich: Land Mexiko Brasilien Argentinien Kolumbien Venezuela Ecuador Uruguay Guatemala

BIP (in Mrd. US-$) 370 531 328 64 56 16,5 15,5 12,9

Mexiko hatte 1994 eine bemerkenswert niedrige Inflationsrate von 7 % aufzuweisen - nach Argentinien (4 %) der niedrigste Satz unter den eben genannten Ländern. 1 Die politische Situation des Landes bleibt dadurch gekennzeichnet, daß in Mexiko sechs Jahre vor der russischen Oktoberrevolution die erste große,

Alle genannten Daten in: Deutsch-Südamerikanische Bank 1995.

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Manfred Mols

ihren Namen verdienende Revolution unseres Jahrhunderts stattfand. Mexiko wurde zu einem klassischen Demonstrationsbeispiel politisch-politikwissenschaftlicher Krisentheorie: Aus dem revolutionären Druck zur Abschaffung seines ancien régime entstanden Innovationspotentiale in Staat und Gesellschaft, die im ganzen auch genutzt wurden. 2 Mit der ab 1928/29 einsetzenden Phase der postrevolutionären Konsolidierung etablierte sich - nach außen repräsentiert durch die (ihren Namen mehrfach wechselnde) Revolutionspartei - ein politisches Regime, das dem Land eine Jahrzehnte währende politische Stabilität und gesamtsystemische Kalkulierbarkeit einbrachte, wie wir dies in vergleichbaren Zeiträumen für kein anderes lateinamerikanisches Land kennen. In der westlichen Hemisphäre hat Mexiko schon sehr früh eine dreifache, nicht völlig in sich konsistente Rolle gespielt. Auf der einen Seite war es in vielfacher Hinsicht, vor allem aber wirtschaftlich, der Penetration durch den übermächtigen "Koloß aus dem Norden" ausgesetzt, der das Land buchstäblich zu einem Bilderbuchbeispiel für dependencia-thzovzúschz

Überlegungen

machen sollte. Auf einer anderen Seite stimulierte diese zur erheblichen Vulnerabilität führende Außenabhängigkeit in Verbindung mit der sich immer mehr verklärenden Revolution einen massiven Nationalismus, wie er in Lateinamerika in einer vergleichbaren Schärfe und Dauer wohl nur noch in Kuba anzutreffen war und ist. Und auf einer noch wieder anderen Seite war das postrevolutionäre Mexiko um eine latinoamericanidad

besorgt, wie sie

gleichfalls nur für wenige Staaten des Subkontinents - etwa das Peru Mariáteguis und der APRA oder das Bolivien der Revolution von 1952 - galt. 3 "Como México no hay dos" wurde zu einer ambivalenten öffentlichen Güteformel für die eigenen Errungenschaften. Man sah sich in seiner historischen Einmaligkeit und sonnte sich gleichsam in seinen postrevolutionären Modernisierungsleistungen. Und geriet dadurch in die doppelte Versuchung, auf das übrige Lateinamerika paradigmatisch ausstrahlen zu wollen und gleichzeitig auf sich selbst gerichtet zu bleiben.

2

Vgl. Tobler 1984; Mols/Tobler 1976.

3

Vgl. Alba 1973; Arciniegas 1965; González Casanova 1977/1981.

II. Mexiko

231

Mexiko ist im wesentlichen den großen Trends in der Wirtschafts- und Entwicklungspolitik Lateinamerikas gefolgt, mehr noch, es hat manches sogar befördert und angeführt. Besonders die über entscheidende Jahre von der CEPAL propagierte Politik der Importsubstitution und damit des makroökonomischen Protektionismus fiel für lange Zeit in Mexiko genauso auf einen fruchtbaren Boden wie die schon früher in Lateinamerika anzutreffende Vorstellung von den ordnungspolitischen Segnungen einer economía mixta. Wegen seiner durch die Nähe zu den USA nicht ganz entfaltbaren Möglichkeiten bzw. Begrenzungen partizipierte Mexiko (das kann nur auf den ersten Blick überraschen) an allen wesentlichen Emanzipationsverswc/ie« (!) des Subkontinents, was sich am deutlichsten unter Luis Echeverría Alvarez (1970-76) in der 1974 erfolgreich in die Vereinten Nationen eingebrachten "Charta der ökonomischen Rechte und Pflichten der Staaten" und in der maßgeblichen mexikanischen Initiative zur Gründung des Lateinamerikanischen Wirtschaftssystems SELA im Jahre 1975 zeigte, aber auch darin zum Ausdruck kam, daß Mexiko nicht daran dachte, sich den Sanktionen gegen das castristische Kuba anzuschließen. Auch Mexikos Beobachter-Status im Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe des ehemaligen Ostblocks gehört in diesen Kontext versuchter außenpolitischer Emanzipation. Ausgespart von solchen aktiven und re-aktiven Beeinflussungs- und Verbindungsbemühungen um das übrige Lateinamerika und um globale Kontakte von Dauer blieb in der offiziellen Politik immer das politische System in seiner postrevolutionären Strukturiertheit. Während Lateinamerika seit den frühen achtziger Jahren auf einer breiten Basis einen eindeutigen (Re-)Demokratisierungskurs einschlug und trotz einiger Brüchigkeiten im wesentlichen durchhielt, schien Mexiko von diesem Demokratisierungstrend kaum betroffen zu sein. Das politische Regime Mexikos hatte sich traditionell viel darauf zugute gehalten, schon immer eine größere politische Offenheit als viele der übrigen lateinamerikanischen Staaten zu praktizieren, jedenfalls nie in die extremen Exzesse eines durch Militärherrschaft untermauerten Autoritarismus geraten zu sein, so wie dies besonders in den Ländern des Cono Sur einschließlich Brasiliens, in den meisten Andenstaaten und in Zentralamerika für Jahre der Fall sein sollte. Daher berief man sich auf eine Demokratie sui generis ä la mexicana, die man im Hinwirken auf die Einlösung der Revolu-

Manfred Mols

232

tionsziele und ihrer späteren Interpretationen in der Postrevolution (die Jahre ab 1928/29) angelegt sah. Da Mexiko immer schon ein Land gradueller Reformen war, glaubte man, auch weiterhin in der Politik einen eigenen Weg inkrementalistischer politischer Modernisierung fortsetzen zu können. Dieser Glaube findet tiefer liegende Begründungen. Mexiko ist ein Land politischer Mythen, Mythos hier verstanden als "rechtfertigende Beglaubigung und Begründung der Realität" 4 , hier also als der Versuch, die eigene mexicanidad im Lichte einer weit in die präkolumbianische Zeit zurückreichenden Kultur zu interpretieren, wie dies am eindruckvollsten Octavio Paz in seinem unerreicht tiefen und plastischen Essay "Das Labyrinth der Einsamkeit" auszudrücken wußte. Sinnbild der Stärke ist die schon in ihrem äußeren Erscheinungsbild beeindruckende Pyramide, Zentrum der Macht México-Tenochtitlán, der Mittelpunkt aztekischer Herrschaft im "Valle de México", an das die spanischen Eroberer wohlweislich anknüpften, um dem Vizekönigreich Neuspanien eine geostrategisch verbürgte und parasakral abgeleitete legitimatorische Absicherung zu geben. Um zur Pyramide zurückzukommen: Sie mußte, um zur Wiederkehr der Sonne beizutragen, alle 52 Jahre erneuert, d.h. völlig überbaut werden. Durch die Erneuerung wurde sie größer, optisch-demonstrativ stärker und mächtiger. Im modernen Nachvollzug des Mythos der Pyramide konnte der Glaube an die Kraft zur Erneuerung und Transformation jahrzehntelang im öffentlichen Bewußtsein mobilisiert werden und damit auch ein immer wieder neu stimulierbares Vertrauen auf die eigene Kraft. Wenn Eberhard Sandschneider - anknüpfend an eine langjährige und von Konsens getragene Debatte in den international geführten Modernisierungs- und Systemtheorien - schreibt: "Stabilität und Evolution sind die siamesischen Zwillinge einer jeden Systementwicklung" 5 , dann ist hier eine Adaptations- und Innovationsformel gefunden, mit der sich das offizielle Mexiko jahrzehntelang identifiziert hat und in der sich Mythos und historische Erfahrung bis zur Unkenntlichkeit des Unterschiedes mischen. Ich bin nicht der einzige Mexikanist gewesen, der dieses Ineinander

4

Vgl. Gabriel 1987.

5

Sandschneider 1995, S. 129.

II. Mexiko

233

von Stabilität und Evolution in vielen Einzelstücken zu schildern und zu interpretieren wußte. 6

2.

Das Ineinander von Krise und Leistung

Der Mythos einer fast unbegrenzten Reformfähigkeit ließ sich auf Dauer nicht aufrechterhalten. So sehr manches an der Selbstinterpretation der mexikanischen Herrschaftselite richtig war, so blieb dennoch nicht zu leugnen, daß das Land mit fünf Problembündeln immer weniger fertig wurde. Erstens klafften die Modernisierungsniveaus von Staat bzw. politischem System und Gesellschaft immer mehr auseinander. Gewiß war die mexikanische Gesellschaft in den langen Jahren zwischen dem Abklingen der Revolution und der Mitte der siebziger Jahre zumindest in relativen Größen immer pluralistischer und partizipationsfahiger geworden (dies trifft u.a. ganz eindeutig zu auf den Großraum Ciudad de México mit den angrenzenden Staaten México und Puebla, auf den größten Teil des Nordwestens und Nordens und immer mehr auch auf den Bundesstaat Veracruz). Es blieb aber in der Politik das Ordnungsmodell einer exklusiven Steuerung "von oben" nach Kriterien der strukturellen Erneuerung durch punktuelle Partizipationsausweitungen (schrittweise Ausdehnung des aktiven Wahlrechts, dosiertes Gewährleisten von größeren, im Kern aber immer noch kontrollierten

Freiräu-

men für die Opposition, punktuelle Freiheiten im Gewerkschaftsbereich, schrittweiser Verzicht auf eine "Gleichschaltung" der Presse, abnehmende korporatistische Kontrolle in den Spitzenorganisationen der Wirtschaft) ebenso erhalten wie die personelle Erneuerung durch Kooptation "progressiver" Persönlichkeiten in die regierende politische Klasse. Damit geriet das politische System in einen Modernisierungsrückstand, der sich immer weniger kaschieren ließ. Schübe des einsetzenden Wetterleuchtens ob der Systemkrise waren große Streiks schon in den fünfziger Jahren, "Tlatelolco" am Vorabend der Olympischen Spiele von 1968 und die enorme Legitimitätskrise am Ende des Sexenniums von Präsident López Portillo (1976-1982). Als dann seit der zweiten Hälfte der achtziger Jahre die USA nicht mehr bereit

6

Vgl. Mols 1983; Tannenbaum 1967; Lehr 1981; Hansen 1971.

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234

waren, über Mexikos endemische Korruption und Menschenrechtsverletzungen einschließlich nie aufgegebener Wahlmanipulationen einfach hinwegzusehen, und als auch das Regime selbst oder zumindest führende Persönlichkeiten aus seinen eigenen Reihen nicht mehr die Augen davor verschließen konnten, daß man mit den bisherigen paraautoritären, parademokratischen Methoden der Herrschaftssicherung nicht länger weiterkam, und sich dazu noch ein Teil des PRI-Lagers in einer eigenen, auf Ablösung drängenden politischen Strömung (Frente Democrático

Nacional) wiederfand, war es

endgültig und auch nach außen deutlich geworden, daß Mexiko grundsätzlicher Neugewichtungen im Verhältnis von Staat und Gesellschaft bedurfte. Zweitens: Mexikos interne Schwierigkeiten hingen nicht zuletzt damit zusammen, daß ein Land, das einen Quasi-Sozialismus als ideologischen Programmauftrag der Revolution auf seine Fahnen geschrieben hatte und gleichzeitig spätestens seit der Präsidentschaft von Miguel Alemán (1946-1952) einen offenen desarrollistischen Wachstums-Kapitalismus praktizierte, nicht in der Lage war, ein glaubwürdiges Verteilungsmodell vorzuführen. Mexiko hat in langen Jahrzehnten eine der ungerechtesten Einkommensverteilungen der Welt aufgebaut, was ursächlich damit zusammenhängt, daß die das Land politisch zusammenhaltende "Revolutionäre Koalition" in engster Verbindung mit einer protegierten iniciativa privada ein politisch-wirtschaftliches Beute- bzw. do ut cfes-System praktizierte, an dem nur Segmente einer populistisch integrierten Bevölkerung teilnehmen konnten. Um ein einziges, etwas drastisches Beispiel zu bringen: 1994 entsprach "das monatliche Einkommen der 24 reichsten Familien des Landes den Einkünften von 25 Millionen armen Mexikanern im gleichen Zeitraum" 7 . Drittens: Hinter den Begriffen "Revolutionäre Koalition" (ein faktisch gleichwertiger Begriff wäre "Revolutionäre Familie") und "populistische Integration" verbergen sich spezifische Stabilisierungsleistungen des Regimes. Mexikos revolutionäre Wirren klangen zwar in den zwanziger Jahren deutlich ab. Es bedurfte aber der nationalen Versöhnung über eine politische Institution der Aussöhnung und Abstimmung, um die enormen Gegensätze in den politischen Auseinandersetzungen zu einem Ausgleich zu bringen. Präsident Plu-

7

Angaben bei Garzón Valdés 1995, S. 57f.

II. Mexiko

235

tarco Elias Calles (1924-1928), auch nach seiner Ablösung für weitere Jahre der eigentliche Machthaber des Landes, rief 1928 die damals mehr als 1.000 (!) sich in der Revolutionsnachfolge sehenden Einzelorganisationen und Hunderte von Militärs, regionalen und lokalen Kaziken und selbsternannten Führern, "Revolutionären", Agrarführern, Gewerkschaftsbossen, politischen und administrativen Machtfiguren etc. zur Gründung eines Partido Revolucionario

Nacional

(später Partido de la Revolución Mexicana und seit 1946

Partido Revolucionario

Institucional (PRI)) auf. Die Revolutionspartei hatte

von Anfang an eine eindeutige Doppelfunktion; die erste hieß: Zusammenfassung und interne Befriedung des (spät)revolutionären Lagers als Voraussetzung einer nationalen Versöhnung von Dauer und als weitere Voraussetzung zur Bildung legitimierter Regierungen auf Bundes- und Staatenebene. Die zweite Funktion bedeutete: Kontrolle aller maßgeblichen politischen und sozialen Kräfte des Landes "von oben" einschließlich der durch die Revolution (besonders die nördliche Revolutionsbewegung) in das Land eingebrachten sozio-politischen und sozio-ökonomischen Mobilisierung. Aus dem Bedürfnis nach Kontrolle erwuchs die sich zwischen 1929 und den fünfziger Jahren immer mehr festigende korporatistische Struktur der "offiziellen" Partei (Bauern-, Gewerkschafts-, zusammengefaßter Mittelschichten- und Unterschichtensektor, 8 zeitweiliger, dann aber aufgegebener Militärsektor) und des Regimes im ganzen (Einbeziehung der großen Organisationen der iniciativa privada und des sector paraestatal bzw. ihrer Führungsspitzen in die "Revolutionäre Familie"). Da das große Befriedungs- und Kontrollunternehmen, das übrigens sehr rasch bei im internationalen Vergleich autoritärer Systeme nicht ins Extreme ausufernden Gewaltbeigaben auch funktionierte, sich im wesentlichen durch die Einlösung der revolutionären Anliegen zu legitimieren hatte, spielte für die breite Masse der mexikanischen Bevölkerung der "factor esperanza" (auf ein Stück Land, einen Schulplatz, Trinkwasser, Krankenversorgung etc.) eine erhebliche Rolle. Die mexikanische Regierung bzw. die "Revolutionäre Koalition" sah sich naturgemäß nicht in der Lage, eine flächendeckende, die gesamte nationale Bevölkerung einbringende Erfüllung der gleichsam in einer Revolutionspause 1917 verabschiedeten Verfassung von Querétaro zu garantieren, so daß Versprechen auf Einlösung

= sector

popular.

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häufiger vorkamen als diese selbst. Statt dessen praktizierte man in einem breiten Umfang seit der Präsidentschaft von Lázaro Cárdenas (1934-1940) eine selektive soziopolitische Integration und, nach gleichen Verfahren, eine ebenso kontrolliert selektive Partizipation ausgewählter Schlüsselsektoren aus der Gesamtbevölkerung, d.h. einen Einbeziehungsmechanismus, den man grosso modo und fast um die gleiche Zeit auch in Brasilien unter Getúlio Vargas und mit einer leichten Phasenverschiebung in Argentinien unter Juan Domingo Perón einbrachte und der als Populismus in die politische Analyse Lateinamerikas eingegangen ist. Immerhin: Mexikos Populismus war, soziographisch gesehen, extensiver angelegt, d.h. er hatte eine ungleich breitere Klassen- und Schichtenbasis als das, was man diesbezüglich in Brasilien und in Argentinien praktizierte. Viertens: Wie oben schon angedeutet, wurde in Mexiko bis in die achtziger Jahre, d.h. bis in die Zeit einer effektiven Politik der Überwindung der durch das Schuldenmoratorium von 1982 ausgelösten Krise, ein auch im übrigen Lateinamerika nicht unproblematisches Wirtschafts- und Entwicklungsmodell gefahren. Es beruhte auf dem Doppelgedanken einer durch Importsubstitution und eine sehr stark ausgebaute Staatswirtschaft verfolgten wirtschaftlichen Modernisierungsstrategie, die in dem Augenblick - ähnlich wie im übrigen Lateinamerika - nicht mehr überzeugen konnte, als sich die Weltwirtschaft immer mehr durch Interdependenz und Offenheit einerseits und paradoxerweise - durch finanziell, marktmäßig und technologisch geprägte Regime 9 und Tendenzen zu Megablockbildungen andererseits auszeichnete, denen ein einzelnes lateinamerikanisches Land fiir sich selbst genommen passiv ausgesetzt war. Fünftens: Mexikos zentrales Entwicklungsproblem sollte auch immer mehr darin bestehen, daß das Land seine mit (post)revolutionärem Pathos verfolgte Autonomie gar nicht zu leben imstande war. Außenpolitisch hat Mexiko zeitweilig enorme Energien auf die Einstimmung mit den Südländern verwandt (Tercermundismo,

Führungsrollen in der Blockfreienbewegung und in der

Gruppe der 77, Unterstützung des sandinistischen Nicaragua - auf die mexi-

Der Regime-Begriff wird hier in der durch Stephen D. Krasner in die Politikwissenschaft eingeführten Weise gebraucht.

II. Mexiko

237

kanische Kuba-Politik wurde oben schon hingewiesen), ohne von dort wesentlich mehr zurückzubekommen als verbale Solidaritätsbestätigungen, die in dem Maße eher hinderlich wurden, als die mexikanischen Regierungen nicht an der Erkenntnis vorbeikamen, daß Kooperationsinteressen mit dem Westen, also mit den USA, Europa und Japan, von viel vitalerer Bedeutung waren. Außenwirtschaftspolitisch war ein auf Autonomie gerichteter Kurs auch deshalb nicht durchzuhalten, weil es trotz massivster, schon in den siebziger Jahren einsetzender Diversifizierungsbestrebungen auch nicht im Ansatz (!) gelang, die ganz und gar eklatante Abhängigkeit von den USA abzuschütteln. (Seit vielen Jahrzehnten werden zwischen 70 und 80 % des gesamten Außenhandels mit den USA abgewickelt). Analoges gilt für die Auslandsinvestitionen. Des weiteren: Die mexikanische Währung hätte ohne eine - periodisch unterschiedlich festgesetzte - Bindung an den US-Dollar vermutlich nur noch Papierwert. Und technologiepolitisch hat es nicht eine einzige Phase im unabhängigen Mexiko gegeben, in der man über eine absolut eindeutige Research & £)eve/op»je«i-Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten und von den westlichen Industrieländern überhaupt hinausgekommen wäre. Wir haben oben gesehen, daß im mexikanischen Weltverständnis die Pyramide als Hort der Stabilität wie als symbolischer Ort der Weltemeuerung den Katalysator für den Mythos der Zukunftssicherung abgibt. Heute sagen zwei ausgewiesene deutsche Mexikanisten: "...wenn man die Pyramide als Bild verfestigter Strukturen auffaßt, dann ist ein Bröckeln der Pyramide unübersehbar." 10 Aber - und das macht jede Analyse und auch jede Reformpolitik in Mexiko so schwierig - Krise und Leistungen des Regimes der Institutionalisierten Revolution lassen sich nicht so ohne weiteres voneinander trennen." Mexikos Gesellschaft ist tatsächlich in vielen Teilen des Landes eindrucksvoll modernisiert worden. Wenn es heute handlungsfähige politische Oppositionsparteien (allen voran der schon 1939 gegründete Partido Acción Nacio-

10 11

Lauth/Horn 1995, S. 9 (Einleitung). Eine gute aktuelle Bestandsaufnahme des mexikanischen Systems bieten Briesemeister/Zimmermann 1992.

Manfred Mols

238

nal (PAN), dann aber auch der aus dem Frente Democrático Nacional hervorgegangene Partido de la Revolución Democrática (PRD) und seit kurzer Zeit auch der Partido del Trabajo (PT)) gibt, wenn allenthalben Bürgerrechtsbewegungen und Bürgerinitiativen aus dem Boden schießen, wenn der korporative Schulterschluß zwischen ligas agrarias

und PRI, zwischen

"offiziellen" Gewerkschaften und PRI, zwischen iniciativa privada und der politischen Machtelite zu zerbröseln anfängt, wenn Kirche und Militär nach Jahrzehnten faktischer politischer Tabuisierung wieder zu den Beachtung verdienenden Machtfaktoren gezählt werden, wenn die Medien, besonders die Presse, mit einer so gut wie absoluten Offenheit und auf breiter Front die politische Situation des Landes kritisch durchleuchten (und viele weitere Indikatoren ließen sich bringen), dann ist die "zivile" Gesellschaft dabei, das anzufangen, was man seit Jahren in der von Gabriel Almond geprägten systemtheoretischen Komparatistik "interest articulation" und "interest aggregation" zu nennen pflegt. Es findet aus dem Raum der zivilen Gesellschaft ein Öffnungs- und Demokratisierungsdruck statt, der auch aus dem übrigen Lateinamerika der siebziger und erst recht der achtziger Jahre nicht fremd ist.12 Mexiko ist dabei, sich innerhalb Lateinamerikas unter den Vorzeichen politischer Modernität zu normalisieren - auch wenn zur Stunde im Zuge des sich mit erheblichen Spannungen und Rupturen abspielenden gigantischen innergesellschaftlichen

und

innersystemischen

Rearrangierungsprozesses

niemand sagen kann, wie das politische Profil des Landes bis zu den nächsten Präsidentschaftswahlen im Jahre 2000 aussehen mag. Mexiko steuert eine Art Schlingerkurs in eine ungefähre westlich-demokratische Richtung. Aber ob das Schiff bei dem von allen (!) politischen Kräften lauthals bekundeten Zielpunkt auch ankommen wird - dies ist das Ergebnis von ca. 60 Intensivinterviews mit hohen und im Mittelfeld anzusiedelnden Mitgliedern der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und akademischen Eliten, die im September und Oktober 1995 in Mexiko-Stadt, in Chihuahua, in Guadalajara und in Nuevo León durchgeführt werden konnten - , ist weniger gewiß als die absolut offenkundige Steigerung des demokratischen Potentials des Landes im ganzen. Entsprechend urteilt Riordan Roett in seinem neuesten Buch über Mexiko: "The impressive proliferation of non-governmental organizations

12

Vgl. Mols 1985; Hofmeister 1995.

239

II. Mexiko

(NGO's) in Mexico, giving voice to a wide variety of social and. political persuasions, attests to an improvement of civil society unimagined a decade ago." 13 Und ohne jeden Zweifel bedeutet es auch einen erheblichen Wechsel der politischen Landschaft des Landes, wenn heute in vier mexikanischen Bundesstaaten die Revolutionspartei in die Opposition gehen mußte (Baja California, 14 Jalisco, Guanajuato, Chihuahua) 15 und wenn gut 1 5 % der Munizipien 16 gleichfalls nicht mehr in der Hand des PRI sind (darunter so wichtige Städte wie Guadalajara und Monterrey). Mexikos spätrevolutionäre Befriedung und deren allmähliche Überleitung in einen weiteren Aufbau sind gewiß immer auch ein Prozeß der partiellen Unterdrückung, der politischen Gängelungen und eines "fraude electoral" gewesen, auf den das Regime zu keiner Zeit glaubte verzichten zu können. Schattenseiten und Leistungen sind engstens miteinander verbunden. Mexiko konnte sich - nochmals: unter erheblichen Opfern, unter denen der Studentenmord von "Tlatelolco" kein Zufallsereignis ist (!) - einer politischen Stabilität und auch einer prinzipiellen Berechenbarkeit erfreuen, wie sie bis in die achtziger Jahre den meisten lateinamerikanischen Staaten abging. Und was sein Wirtschafts- und Entwicklungsmodell angeht, so muß daran erinnert werden, daß es bis weit in die siebziger Jahre zumindest unter den Vorzeichen der damals in ganz Lateinamerika geltenden Ordnungsphilosophie des desarrollismo17

durchaus diskutabel war, ja bewundert wurde. Mexiko hatte

bis zum Beginn der siebziger Jahre eine stabile Währung. Der Weltwährungsfonds zählte beispielsweise ab 1965 den mexikanischen Peso zu den harten Währungen der Welt. In den gesamten 60er Jahren lag das reale mexikanische Wirtschaftswachstum pro Kopf der Bevölkerung mit 3,5 % sichtlich über dem damaligen lateinamerikanischen Durchschnitt von 2 %. Überhaupt ist - von kürzeren Einbrüchen abgesehen - das mexikanische Inlandsprodukt bis in die siebziger Jahre jährlich rund 6 % gewachsen, mit Spitzenwerten,

13

Roett 1995, S. lf.

14

Speziell zu Baja California vgl. Lanz 1995. 15

Vgl. Latin American Weekly Report WR-95-21, 8. Juni 1995, S. 241.

16

Vgl. Latin American Regional Report RM-95-12, 7. Dezember 1995, S. 2.

17

Zum Konzept des desarrollismo

vgl. Benecke 1983.

240

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die dicht an die brasilianischen von 10 % heranreichen konnten und die es rechtfertigten, von einem "milagro mexicano" in Analogie zum vorhergehenden (west)deutschen Wirtschaftswunder zu sprechen. 18 Licht und Schatten des mexikanischen Modells - das kann nicht deutlich genug betont werden - liegen dicht beisammen. Jedoch: Das Modell wurde gleichsam von seinen eigenen Erfolgen eingeholt, ohne daß die politisch Verantwortlichen auf die schnellere und differenzierte Modernisierung seiner Systemumgebung hinreichend achteten, wozu auch die Entwicklungen in Lateinamerika selbst und in der Westlichen Hemisphäre einschließlich der Veränderungen der weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen gehörten.

3.

Endogene und exogene strukturelle Veränderungsimpulse

Transformationen, sollen sie im gesamten Makroprofil eines Landes greifen und nicht zu bloßen Modernisierungsinseln fuhren, müssen integral und zugleich einigermaßen synchron verlaufen. D.h. sie haben Politik und Wirtschaft und Gesellschaft und Kultur und die internationalen Bindungen in etwa gleichmäßig zu erfassen und dies, wenn schon nicht völlig zeitgleich (was eine unrealistische historische Annahme wäre), so doch zeitlich so dicht aufeinander bezogen, daß keine belastenden Rückstände auf großen Einzelgebieten bleiben. Dies für ein geographisch so ausgedehntes Land wie Mexiko niederzuschreiben darf nicht die ungeheuren Disparitäten des Landes vergessen lassen: das erhebliche interne Nord-Süd-Gefälle mit seinen sehr unterschiedlichen Entwicklungsniveaus, die Marginalität und Semimarginalität von mindestens 40 % der nationalen Bevölkerung, enormste Gebrochenheiten der sozialen Kultur, die von traditioneller indianischer Unterwürfigkeit und einem in Jahrhunderten eingeübten Klientelismus reichen bis hin zu ausgesprochen modernen und selbst postmodernen Lebensstilen in den großen Urbanen Zentren des Landes: Großraum Mexiko-Stadt, Großraum Guadalajara, Groß-

18

Einzelheiten u.a. bei Mols 1985, Kap. 9.

II. Mexiko

241

räum Monterrey, nicht wenige Städte in Grenznähe zu den USA, Jalapa, Veracruz... Wenn oben auf das Modernisierungspotential der zivilen Gesellschaft hingewiesen wurde, dann sind es eindeutig vier Faktoren gewesen, die den generellen Modernisierungsschub des Landes begünstigen mußten. Erstens: Durch die nördliche Revolutionsbewegung von Francisco Villa, Alvaro Obregón und Plutarco Elias Calles - Hans-Werner Tobler hat dies im einzelnen sorgfaltig belegt - kam in großen und wichtigen Teilen des Landes eine soziale Mobilität auf, die dem vorrevolutionären Mexiko unbekannt war und die in den langen Jahrzehnten auch der Postrevolution in dem Maße anhielt, wie auf den Ebenen des an Umfang rapide wachsenden Zentralstaates, der Bundesstaaten, der Munizipien, der zahllosen Entwicklungsbehörden, der immer stärker ausgebauten parastaatlichen Wirtschaft und nicht zuletzt in der kontinuierlich wachsenden Privatwirtschaft ein ständig zunehmender personalpolitischer Rekrutierungsbedarf bestand, was auch hieß, daß ein lukratives Angebot an gut dotierten oder mit "Nebeneinnahmen" versehenen Posten und Positionen bestand, die auch besetzt werden mußten. Vieles hat sich wahrscheinlich unter dem schlichten Vorzeichen von Opportunitätschancen abgespielt; ein anderer, sicher ganz erheblicher Teil nach teils überkommenen, teils sich neu einspielenden Patronage- und Klientelbelohnungen. Solche Mobilitäts- und Rekrutierungsmuster mußten deshalb nach und nach ins Wanken kommen, weil weder ein modern werdender Staat noch eine sich industrialisierende Wirtschaft ihr leitendes Personal überwiegend nach Kriterien von Gelegenheiten und persönlichem Wohlwollen rekrutieren können. Zweitens: Diese verschiedenen Mobilitäts- und Modernisierungsschübe sorgten dafür, daß immer mehr Menschen mit einer verbesserten allgemeinen und einer entsprechend angehobenen beruflichen Bildung in die mittleren und vor allem in die Führungsränge von Staat, Revolutionspartei, gesellschaftlichen Organisationen und erst recht der Wirtschaft drängten. Es war dies der unaufhaltsame Aufstieg der ingenieros und licenciados erst der Jurisprudenz und dann der Wirtschafts- und Finanzwissenschaften. Administrativ wie politisch hat das Eindringen dieser Schichten gerade in Regierungen und zugeordneten Behörden und last not least in die Führungskreise der

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242

Revolutionspartei erhebliche Effekte gezeitigt, die wesentlich dazu beigetragen haben, daß sowohl eine Systemtransformation auf Grund der geschilderten strukturellen Veränderungen überhaupt in Gang kam als auch - was nicht das gleiche ist - von vielen Verantwortlichen als notwendig begriffen wurde. Ich habe schon 1981 in der ersten Auflage meines Buches "Mexiko im 20. Jahrhundert" die Auffassung vertreten, daß die "verzerrte Revolution" ihre größte Entzerrungschance durch die Technokratisierung in den Führungsriegen von systemdominanter Partei wie Staat überhaupt erfahren würde. Und wie immer man die politischen Administrationen schon seit López Portillo (1976-1982) und dann unter Miguel de la Madrid (1982-1988) und erst recht unter Carlos Salmas de Gortari (1988-1994) einschätzen mag: Es hat sich von den Präsidenten und ihren Kabinetten bis in die Führungsriegen des PRI - um großflächige technokratische Einbrüche und Reformansätze in einem politischen Kadergeflecht gehandelt, das sich an die veränderte Strukturlogik politischer Ämterbesetzungen nur schwer oder gar nicht gewöhnen wollte. Einer der bedeutendsten alten Männer der traditionalen PRI, Alfonso Martínez Domínguez, hat sich dazu im Sommer 1995 in einigen beachteten und beachtlichen Artikeln im "Excelsior" 19 geäußert. Der dritte Faktor ist genauso unübersehbar. Gemeint ist eine fortschreitende Urbanisierung des Landes. "Lebten 1940 noch 65 % (der Mexikaner, d. Verf.) auf dem Land, so waren es 1990 weniger als 30 %." 20 Dieser Verstädterungstrend hat nicht nur sehr viel mit verbesserten Ausbildungs- und Versorgungsmöglichkeiten und modernen Arbeitsplätzen in Industrie und in Dienstleistungssektoren zu tun; er hat mit dazu beigetragen, daß, je nach gewählten Indikatoren, eine beachtliche Mittelklasse entstanden ist, deren Größe man inzwischen auf 17-35 % der Bevölkerung schätzt. 21 Diese Mittelschicht muß heute als das eigentliche Subjekt des politischen Veränderungswillens gelten. Das moderne Mexiko, auch das Mexiko in seiner jetzigen politischen Krise, verfügt damit über ein breites, quer durch die Parteienlandschaft gehendes politisches Transformationspotential. Um es etwas anschau-

19

In den Ausgaben vom 29. und 30.6.1995. 20

Nohlen/Lauth 1995, S. 174.

21

Vgl. Ewald 1994, S. 164.

II. Mexiko

243

licher zu sagen: Es gibt in allen politischen Lagern transformationswillige und demokratiefahige Strömungen und Persönlichkeiten. Der Wille zu einer politischen Modernisierung des Landes kann keiner der im Parlament vertretenen Parteien abgesprochen werden. Er kommt deshalb bei Acción Nacional deutlicher zum Ausdruck als im PRI oder im PRD oder PT, weil der PAN immer eine genuine Mittelschichtenpartei war (was, wie wir noch sehen werden, aus einer anderen analytischen Perspektive auch gewisse Schwächen erkennen läßt) und sich überdies ungleich seltener als der PRI üblichen Versuchungen der Macht ausgesetzt sah. Man beginge aber einen substantiellen Fehler in der Durchleuchtung des politischen Mexiko der Gegenwart, wenn man die tendenziell immer mehr vorherrschende Mittelschichtenorientierung auch im PRI oder im Lager von Cuauhtémoc Cárdenas und Porfirio Muñoz Ledo (den beiden Führungspersönlichkeiten des PRD) übersähe. Und wenn oben auf die zunehmende Rolle der NGOs hingewiesen wurde - eine besonders rührige Gruppe in den nördlichen Bundesstaaten heißt "Mujeres para México" - , dann ist abermals deren Mittelschichtenbindung offensichtlich. Faktor vier - fast schon logisch an Faktor drei anknüpfend - heißt: Das zeitgenössische Mexiko weist eine offene und in sich pluralistische Kommunikationssituation aus, wie sie im übrigen Lateinamerika nur noch in Argentinien und in Ansätzen in Chile und in Brasilien zu finden ist. Mexiko kennt etwa zwei Dutzend überregionale Tages- und Wochenzeitungen, von denen etliche (traditionell etwa der "Excelsior", heute "Reforma" und "El Financiero" und natürlich schon seit Jahren "nexos" oder "proceso") ein beachtliches journalistisches Niveau aufweisen. Gut ausgestattete Buchläden wie in Mexiko-Stadt oder in Provinzstädten wie Querétaro habe ich in der gleichen Zahl nirgendwo in Asien gesehen, nicht einmal in Indien, und in Lateinamerika nur noch in Buenos Aires. Radio und Fernsehen weisen nicht die gleiche Diversifikation und Qualität auf wie die Printmedien. Aber sie holen über ihre Programme eine andere, moderne, in manchem eben auch offenere Welt in die mexikanischen Wohnungen und Häuser und tragen damit ebenfalls über alternative, westliche Paradigmen des Lebensstils zur innergesellschaftlichen Veränderung bei. Daß dabei die urbanisierten Mittelschichten besonders ansprechbar sind, ist nicht einmal ein zwingender Schluß: Gerade die Funkmedien sind heute weitest verbreitet bis hinein in die meisten Unterschichtensegmente.

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244

Dies alles zusammengenommen hat in Mexiko einen langfristigen und in seiner Substanz nicht reversiblen Veränderungsdruck aus der Gesellschaft und auf Gesellschaft und Staat aufkommen lassen, dem sich das politische System nur dann entziehen könnte, wenn es starr, unbeweglich, absolut autoritär bliebe. Dies jedoch wäre keine Lösung von Dauer. Wenn es eine gesicherte Erkenntnis in der modernen System- und Transformationsforschung gibt, dann heißt sie: Die Stabilität eines politischen Systems bleibt an seine Reform- und Adaptationsfähigkeit gebunden. Und genau dies haben die mexikanischen politischen Führungsschichten - selbst wenn man den Renovationsmythos der Pyramide für Mexiko außer acht lassen könnte - im grundsätzlichen seit langem begriffen. Dies ist eine per-Saldo-Aussage, die der Differenzierung bedarf. Hätten es alle begriffen, gäbe es vermutlich nicht die seit Jahren anhaltenden und im Jahre 1994 durch die Ermordung führendster PRI-Politiker demonstrierten Widerstände aus den Binnensegmenten des Systems. Es bleiben hier also einige Nachträge. Zunächst einmal gibt es externe Akteure, die für und in Mexiko eine erhebliche Rolle spielen. An erster Stelle wird man an die USA 22 denken, die bei allen Widersprüchlichkeiten ihrer Lateinamerika-Politik im einzelnen seit Jahren zwar als prioritäre Leitgröße aus Gründen der eigenen Sicherheit zunächst auf die politische und wirtschaftliche Stabilität ihres südlichen Nachbarn bedacht sind. Washington hat aber in einem zunehmenden Maße keinen Zweifel daran gelassen, daß ihm ein pluralistisches, demokratisches Mexiko lieber ist als ein autoritärer oder semiautoritärer, dazu noch traditionell von der Logik des politischen Systems her korrupter unmittelbarer südlicher Nachbar. Vollends nachdem sich Washington auf das in der Welt wohl einmalige Experiment eingelassen hat, die Intensität der Nachbarschaft durch die Etablierung einer Freihandelszone (zusammen mit Kanada) aufzuwerten, 23 wird Mexikos politische Situation wie überhaupt die mexikanische

22

23

Die USA-Mexiko-Literatur ist fast unübersehbar geworden. Vgl. etwa Pastor/Castañeda, 1988; Smith 1995. Vgl. Schirm 1995; Schäfer 1995. Uber das politische Klima in der schwierigen Zeit der NAFTA-Verhandlungen unterrichtet u. a. Current History 92, No. 571, Februar 1993.

II. Mexiko

245

Politik mit allen ihren finanzpolitischen, umweltpolitischen, distributionspolitischen usw. Folgen noch aufmerksamer vom "Koloß aus dem Norden" beobachtet als je zuvor. Es ist schwer zu sagen, welchen Stellenwert die NAFTA tatsächlich in der nordamerikanischen Außenpolitik einnimmt (zumal nach der im Dezember 1994 einsetzenden mexikanischen Finanz- und Wirtschaftskrise, nach den auf Chiapas konzentrierten Unruhen und nicht zuletzt nach den politischen Mordfällen im Wahljahr nördlich des Rio Grande eine deutliche Ernüchterung bezüglich der Freihandelszone zu beobachten ist). Bliebe Mexiko aber in seiner jetzigen politischen wie wirtschaftlichen Krise stecken, ginge für die Clinton-Administration ein Stück mühsam innenpolitisch aufgebauter Außenpolitik verloren - und zwar mit Blick auf Lateinamerika überhaupt. Weitsichtigen Beobachtern war überdies immer klar, daß zumindest im mexikanischen Norden dank der NAFTA auf die Einhaltung sauberer demokratischer Verfahren geachtet würde, was bisherige Spielformen von politischer Manipulation einschließlich des "fraude electoral" immer schwieriger machen würde. 24 Wie stark und konkret dieser von den USA ausgehende Demokratisierungsdruck sich auf die mexikanische Politik auswirken sollte, läßt sich an der großen Zahl internationaler, eben auch nordamerikanischer Wahlbeobachter im August 1994 festmachen - ein unerhörter Eingriff in das bisherige politische Selbstwertgefuhl des Landes und im ganzen ein Vorgang, der noch vor wenigen Jahren unvorstellbar gewesen wäre. Auch das europäische Drängen auf eine stärkere Demokratisierung in Mexiko darf hier nicht völlig unterschlagen werden. Es mag im Einzelfalle sanfter ausfallen als vieles, was vom mächtigen Nachbarn nördlich des Rio Grande kommt. Immerhin haben Fragen rechtlicher Korrektheiten eine eigene Rolle in den Verhandlungen mit der Europäischen Union um einen Handelsvertrag und um eine engere Zusammenarbeit auch auf politischen Gebieten gespielt. 25 Daß die deutschen politischen Stiftungen anders und offener als früher in Mexiko das Demokratie-Thema anfassen können, ist ein weiterer Indikator für eine angelaufene internationale Öffnung des Landes, bei der vor

24

Vgl. IRELA 1991, (Dossier 35), Punkt 140.

25

Vgl. D W Monitor-Dienst Lateinamerika Nr. 84, 3. Mai 1995, S. 8.

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246

allem auch das mexikanische Interesse an der Präsenz der Stiftungen nicht deutlich genug unterstrichen werden kann. Nicht zuletzt auch über die Stiftungen - oft auf indirekten Wegen - sind für die größeren mexikanischen Parteien gefestigtere oder überhaupt sogar erste Verbindungen in größeren internationalen politischen Lagern aufgekommen, die man früher eher (mit dem halb zutreffenden, halb überzogenen Hinweis auf das mexikanische Verfassungs- und Parteienrecht) zu umgehen oder zu meiden suchte. Der PRI beispielsweise nimmt heute wie selbstverständlich einen Beobachterstatus in der Sozialistischen Internationale ein, Acción Nacional wirkt auf der gleichen Statusebene in der lateinamerikanischen Christdemokratie mit. Schließlich sollte die subkontinentale Nachbarschaft zu den demokratisch gewordenen Staaten des hemisphärischen Südens nicht unterschätzt werden. Wenn auch die lateinamerikanische Demokratie-Situation nicht frei ist von Gebrochenheiten, ist dennoch Mexiko immer weniger in der Lage gewesen, sich einem kontinentalen politischen Trend zu entziehen, der modellhaft definierte Ausnahmesituationen weniger akzeptabel macht als früher. Huntingtons Überlegungen zu den "waves of democratization"26 gelten in ihrer Logik auch für Mexiko: Wir haben Vernetzungen von politisch-sozialen Wandlungselementen in der Westlichen Hemisphäre vor uns, denen sich Mexiko schon deshalb nicht mehr so ohne weiteres entziehen kann, weil es anders als früher - in veränderte außenpolitische und außenwirtschaftliche Interdependenzen eingebunden ist, deren innenpolitische "linkages" im Sinne der bekannten Rosenauschen Theoreme immer unübersehbarer werden. Auch hier, im mexikanischen Fall, bestätigen sich letztlich constraints- und Interdependenzüberlegungen für die Optionsdimensionen real vorhandener Handlungskorridore.27

26

Huntington 1991.

27

Vgl. Merkel 1994b, S. 324.

II. Mexiko

4.

247

Ein Profil wandlungsfahiger Akteure

Die gewandelten strukturellen und internationalen Rahmenbedingungen sind eines, wenn man die Ursachen für Transformationsschübe in Mexiko überlegt. Es muß aber noch einmal systematischer auf konkrete Akteure eingegangen werden, die eine politische wie auch eine wirtschaftliche Öffnung begünstigt haben und wohl weiterhin begünstigen, und die umgekehrt quer zu vielen oder gar zu allen Transformationsversuchen stehen. Um eines vorwegzunehmen: Es gibt so gut wie keine Akteursgruppe, der man plakativ einen durchgehenden, alle Mitglieder umfassenden Willen zur Demokratie und zur sozialen wie wirtschaftlichen Öffnung und Modernisierung absprechen könnte. Dieser Satz ist allerdings partiell umkehrbar. Unter diesem ausdrücklichen Doppelvorbehalt seien im folgenden die Parteien genannt, die öffentlichen Verwaltungen, das Justizwesen, die Gewerkschaften, die Unternehmerschaft, die katholische Kirche, das Militär, die Intellektuellen, Menschenrechtsgruppen. Dies ist keine vollständige Auflistung, greift aber den in der Transformationsforschung wichtigen Hinweis auf, daß "Demokratien nicht zwangsläufig aus bestimmten ökonomischen und sozialen Bedingungen entstehen, sondern von politischen Akteuren im wahrsten Sinne des Wortes hergestellt oder gemacht werden" 2 8 . Im PRI löst sich die alte postrevolutionäre Cliquenwirtschaft langsam auf. 29 Teile der Führungsschicht haben begriffen, daß das alte Herrschaftsmuster von "Kooptation und Kontrolle" genauso wenig zeitgemäß ist wie die überkommene korporativistische Struktur der Partei mit ihren starren Sektoren. Die gleichen Leute sehen den "fraude electoral" schon wegen des Effektes der Legitimitätsschwächung des Regimes keineswegs mehr als Mittel der Wahl zum Zwecke der Machtbehauptung an. Es wird erstaunlich offen darüber diskutiert, daß man sich künftig bei Wahlen auf der Bundesebene mit maximal (wahrscheinlich mit weniger als) 50 % des Stimmenanteils zufriedengeben muß. Vor allem kreist die parteiinterne Diskussion auch darum, ob und wie man eine eigenständige politische Größe gegenüber der bisher

28

B o s 1994, S. 82.

29

Eine gute moderne Ubersicht über das mexikanische Parteiensystem und seine Transitionsprobleme bietet Lujambio 1995.

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248

übermächtigen Exekutive werden kann, soll oder schlicht muß. Es ist schwierig, die genaue Größe dieser Gruppen anzugeben, und es kann Uberhaupt kein Zweifel daran bestehen, daß an sehr vielen Schaltstellen der Macht jene andere Gruppe der Beharrung, die man in Mexiko die "Dinosaurier" nennt, immer noch das Sagen hat. Wie offen man inzwischen im PRI-Lager über die Möglichkeiten einer eingreifenden Reform nachdenkt, geht u. a. aus einer öffentlich geführten und auch der Öffentlichkeit unter dem Buchtitel "La reforma del PRI"30 zugänglich gemachten Erneuerungsdiskussion hervor, die an demokratiepraktischer und demokratietheoretischer Klarheit absolut nichts zu wünschen übrigläßt.31 Der PRI wird sich nicht von sich aus allein reformieren können. Viel hängt davon ab, wie sich der Staatspräsident (und auf bundesstaatlichen Ebenen dann die Gouverneure) in das bestehende politische Kräftespiel einordnet und wie groß auch die Unterstützung aus dem Lager der Intellektuellen wirkt, die bekanntlich in ganz Lateinamerika eine ungleich politikleitendere Rolle spielen, als wir dies aus Europa oder aus den USA kennen.32 Der in größeren Teilen aus dem PRI-Lager als Abspaltung hervorgegangene Partido de la Revolución Democrática war zunächst eher ein Versuch, sozialreformerische Grundideen im Geiste des alten Cardenismo zu retten und überhaupt eine linksorientierte Ideologie als Alternative zur politischökonomischen bonanza-VoWúk des Regimes aufzubauen. Die Partei hat heute nicht mehr den gleich großen Zulauf wie vor einigen Jahren. Sie war und ist zweifellos größeren Behinderungen ausgesetzt als andere Oppositionsparteien. Ihr Trend geht in die Richtung einer lateinamerikanisch-nationalistischen

30

La reforma del PRI y el cambio democrático (Eigenausgabe der Partei).

31

Diese Erneuerungsdiskussion ist von einem gewaltigen organisatorischen Aufwand begleitet, wobei es allerdings im einzelnen schwierig ist, zwischen (Akklamations-)Ritual und Bereitschaft zur offenen und zu Konsequenzen bereiten Debatte zu unterscheiden. Zur organisatorischen Seite vgl. PRI/Comité Ejecutivo Nacional/Comisión para la Reforma del Partido Revolucionario Institucional 1995.

32

Beispiele bei Mols 1985.

en México,

México

1994

249

II. Mexiko

Sozialdemokratie. Ihr erhebliches gedankliches Potential sollte nicht unterschätzt werden. 33 Der Partido del Trabajo, Mexikos kleinste und jüngste formell registrierte Oppositionspartei, hat es immerhin zu einigen Abgeordnetensitzen auf Bundes* wie auf Staatenebene gebracht. Die Partei stellt in einigen Munizipien die Präsidentschaft. Ihr Innovationspotential ist deshalb schwierig einzuschätzen, weil es Anzeichen dafür gibt, daß sie vom Regime als Alternative zum PRD aufgebaut wurde, d.h. als eine linksreformerische Kraft, die man in früheren Jahren wie heute in anderen Formen auf der Ebene eines symbolisch demonstrierbaren Pluralismus aus Gründen der vorherrschenden offiziellen (Spät-)Revolutionsideologie für wünschenswert hält, ohne ihr indessen die Chance einer machtpolitischen Alternative zu geben. Der Partido Acción Nacional ist sicher die eindeutigste demokratische Kraft des Landes auf der Parteienebene. Auch nach Jahrzehnten der Unterdrückung und extremer wahltaktischer Benachteiligung ist sein Wille zum Aufbau eines demokratischen Mexiko ungebrochen geblieben. Die Partei hat im allgemeinen in den Munizipien, in denen ihr Durchbrüche gelangen und/oder zugelassen wurden, eine von der Bevölkerung respektierte Arbeit geleistet, die jetzt auch auf der Ebene der von ihr regierten Bundesstaaten geschätzt wird und die man auf die dreifache Kurzformel bringen kann: minimale Korruption, relative administrative Effizienz, verfahrensmäßige Korrektheit. Die Partei ist allerdings nie frei von internen Richtungsstreitigkeiten geblieben, die mehrfach zum Austritt sehr prominenter Mitglieder führten (1992 z. B. keines geringeren als Pablo Emilio Madero, vormaliger Parteichef und nationaler Präsidentschaftskandidat) und die die Partei ideologisch gelegentlich in eine Zerreißprobe zwischen einem linkskatholisch angehauchten solidarismo

und

einem

neokonservativen

Werteberücksichtigungspotential

brachten. Nicht ganz klar ist, ob Acción Nacional heutzutage über genügend personelle Reserven und Qualifikationen verfugt, um auf der Bundesebene eine größere Rolle zu spielen. Ungewiß ist auch das in der Partei vorhandene Ausmaß an Sensibilität für die Belange der Unterschichten, Semimarginalen

33

Vgl. die beiden gedankenreichen Bände Grupo Parlamentario del Partido de la Revolución Democrática 1994, Cámara de Diputados LV Legislatura 1994.

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250

und Marginalen. 34 Die unzweifelhaft vorhandene Prinzipienfestigkeit der Partei 35 kann nicht verkennen lassen, daß Acción Nacional, obwohl seinerzeit von geistig höchstkarätigen Persönlichkeiten ins Leben gerufen (Manuel Gómez Morín und der Kreis ihm befreundeter Gründer), nie ein engeres Verhältnis zu Mexikos Intellektuellenschicht hatte. Damit sind der Partei Grenzen einer technokratischen und policy-orientierten Kompetenz gesetzt, auf die kein moderner Staat verzichten kann. Solche Grenzen gelten jedenfalls für Acción Nacional bis auf weiteres. Mexikos öffentliche Verwaltungen 36 leiden allenthalben unter mangelnder Professionalisierung und einem quer durch die politischen Lager verfolgten Beutesystem bei den Ämterbesetzungen. Administrative Professionalität gibt es nur in Ausnahmefällen und eher bei Entwicklungs- und Planungsbehörden als in den verschiedenen Rängen der normalen staatlichen Administration. Um das Justizwesen ist eine lebhafte Debatte entbrannt. 37 Es geht um eine größere Unabhängigkeit der Richter und Gerichte, um einen eindeutigeren Stellenwert der Judikative in einem auch von der mexikanischen Verfassung anvisierten System der Gewaltenteilung und um eine verbesserte formelllegale Korrektheit der Rechtsprechung. Hier scheinen, nach Meinung kritischer, unabhängiger Beobachter, die Dinge etwas in Bewegung zu kommen, weil zumindest Teile der politisch Verantwortlichen offenkundig erkannt haben, daß ein offenes und modernes Staatswesen durch eine willfährige Justiz nicht gerade funktionstüchtiger wird. In Bewegung geraten ist auch das Gewerkschaftslager. Die automatische Zugehörigkeit der sogenannten "offiziellen Gewerkschaften" (das sind ca. 85-90 % der Gewerkschaften bzw. gewerkschaftlich Organisierten insgesamt) zur Revolutionspartei wird immer weniger als selbstverständlich angesehen. 38 Die verschiedenen unabhängigen Gewerkschaftsbewegungen fallen

34

Solche Grenzen nennt auch Lanz 1995. Vgl. die Positionsschrift von Estrada Sámano/Castillo Peraza/Calderón Hinojosa 1990.

36

Ausführlicher: Arguelles/Gómez Mandujano 1995.

37

Vgl. Rubio u . a . 1994.

38

Dies kam schon sehr gut heraus bei Lauth 1991.

II. Mexiko

251

mit 150.000 bis maximal 200.000 Mitgliedern einstweilen zu wenig ins Gewicht, um ein selbstverantwortliches und von politischer Kontrolle freies Gewerkschaftswesen größeren Umfangs aufzubauen. Es wird abzuwarten bleiben, in welchem Maße es eine Entflechtung zwischen offiziellen Gewerkschaften und PRI geben wird, die dann eines Tages möglicherweise dem Verhältnis zwischen Labour Party und Gewerkschaftsflügel in Großbritannien oder der Beziehung zwischen DGB und der deutschen Sozialdemokratie zwischen 1950 und dem Ende der achtziger Jahre gleichen könnte. Daß auch die Unternehmerschaft nicht mehr einfach die korporatistische oder parakorporatistische Einordnung in das Regime kennt, wie das früher seit den Präsidenten Lázaro Cárdenas (1934-1940) und erst recht Miguel Alemán (1946-1952) und bis in die frühen achtziger Jahre anhalten sollte, ist oben schon gestreift worden. Alle von mir und Wilhelm Boucsein jetzt und meine 1989 (damals ebenfalls zusammen mit Mitarbeitern der Adenauer-Stiftung) durchgeführten offenen Interviews im Lager der Unternehmer- und Patronalorganisationen haben erkennen lassen, daß der größere Teil der mexikanischen Unternehmerschaft sicher auf die Zusammenarbeit mit der im Amt befindlichen politischen Klasse (jeweils im Amt befindlichen?) setzt, daß aber politische Meinungs- und Verhaltensfreiheit vieler Führungspersönlichkeiten aus dem Unternehmerlager und dem der Unternehmerorganisationen keineswegs mehr als systemische Regelverstöße gelten. Von der früheren Integration führender Spitzenpersönlichkeiten aus dem Unternehmer- und Unternehmerorganisationslager in eine "familia revolucionaria" kann im Mexiko des ausgehenden 20. Jahrhunderts keine Rede mehr sein. 39 Überhaupt sind Begriff und Konzept der "Revolutionären Familie" oder "Revolutionären Koalition" aus der öffentlichen Diskussion um Gefüge und Struktur des Regimes verschwunden. Statt dessen ist immer mehr von tatsächlichen Machtfaktoren (wie in einem normalen Staat, der nicht bis zur pathologischen Selbstbespiegelung auf ein absolut eigenes Modell politischer Herrschaftsausübung bedacht ist) die Rede.

39

Vgl. Mols 1989.

252

Manfred Mols

Zu den "change agents" gehören auch Teile der katholischen Kirche. Mexikos Kirche ist, wie dies für viele andere lateinamerikanischen katholischen Lager, aber auch für Nordamerika und Europa gilt, in sich gespalten. Theologisch und sozial konservative Teile des Episkopates und der Geistlichkeit überhaupt stehen anderen Gruppen und Persönlichkeiten gegenüber, die man nach gängigen Beurteilungsmaßstäben als "progressiv" zu bezeichnen hat ein Segment der Kirche also, das als moralische Kraft der Erneuerung in Anlehnung an befreiungstheologische Vorstellungen oder an Kernelemente der katholischen Soziallehre auftritt. Die in einer breiteren Öffentlichkeit verfolgten Vermittlungsversuche des Bischofs von San Cristöbal, Samuel Ruiz Garcia, im Chiapas-Konflikt haben die katholische Kirche in eine anerkannte Rolle der politischen Streitschlichtung gebracht, wie sie früher in Mexiko undenkbar gewesen wäre. 40 Die mexikanische Kirche scheint sich im ganzen nicht in diese Rolle zu drängen. Es bleibt allerdings abzuwarten, in welchem Umfang der Funke kritischer Mitverantwortung auf das im ganzen Land gut ausgebaute Netz der katholischen Privatschulen und Universitäten überspringt. Auch das Militär hat - nach Jahrzehnten der Vernachlässigung, j a Tabuisierung - einen eigenen Stellenwert in der öffentlichen Diskussion um Machtfaktoren erhalten. Vermutlich gibt es für das gesteigerte (politische) Selbstbewußtsein im Offizierskorps drei auslösende Elemente. Die Armee hat es dem politischen Regime nicht verziehen, daß es 1968 in Tlatelolco in die unrühmliche Situation des "Mordes von oben" (Octavio Paz) gezogen wurde. Zweitens: Umgekehrt hätten verantwortliche Generäle in Chiapas lieber härter durchgegriffen und die dortige Rebellion ein für allemal ausgelöscht. Drittens ist ein Teil der Offiziere in den USA ausgebildet worden und hat dort gelernt, daß sich zwar das Militär eindeutig der zivilen Macht unterzuordnen hat, dabei aber nicht zum bloßen Erfüllungsgehilfen parteipolitisch gefärbter Machtbehauptung degradiert werden muß. Schon am Ende der Regierungszeit Luis Echeverrias (1976) kursierten Gerüchte über einen möglichen Militärputsch, und zur Zeit sind die Zeitungen voll von entsprechenden Dementis hoher Offiziere. Objektiv dürfte es keine reale Chance für

40

Detailliert zum Chiapas-Konflikt: Fix-Fierro/ Martinez-Uriarte 1995.

253

II. Mexiko

einen erfolgreichen "golpe militar" geben, weil er mit Sicherheit binnen Stunden an einem nordamerikanischen Einspruch scheitern würde. Daß solche Optionen im Meinungsspektrum mexikanischer Politik immerhin ernsthaft vorgebracht werden, zeigt aber, daß das Militär nicht mehr außerhalb der faktischen Machtkonstellation des Landes steht. Intellektuelle (Publizisten und Schriftsteller, die "Zaren" in den Medien, angesehene Einzelpersönlichkeiten vom Range eines Octavio Paz oder Héctor Aguilar Camin, herausragende Universitätsprofessoren, einflußreiche Forscher usw.) sind - auch in Mexiko - in ihrer Meinungsvielfalt allenthalben ein farbiges und oft auch fahrendes Volk. Unter diesem ausdrücklichen Vorbehalt: Während jahrzehntelang die Mehrheit der Intellektuellen einen eindeutig linken, je nach Stimmung und persönlicher Präferenz marxistischen, neomarxistischen, dependenztheoretisch usw. eingefarbten Kurs steuerte und damit dem "Regime der Institutionalisierten Revolution" insofern zu einer Gratisstabilisierung seiner politischen Legitimation verhalf, als Mexiko damit als Land oder Nation auf dem Weg über die hier mitgestaltete öffentliche Meinung "Progressivität" verkündete, hat sich heute diese bewußt und wohl oft auch unbewußt wahrgenommene Funktion der Mehrheit der Intellektuellen gewandelt. Nach dem weder in Lateinamerika wie anderswo noch speziell in Mexiko zu übersehenen Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus bläst man in den intellektuellen Lagern Mexikos fast durchgehend Melodien einer konkreten Regimekritik - wenn und sofern man nicht zum Kreise der technokratischen Berater in den verschiedenen Segmenten des Regierungssystems gehört. Zweifellos haben die Intellektuellen auf diese Weise ihren eigenen und beachteten Anteil an der Auflösung der Verkrustungen des Regimes. Man muß aber auch sehen, daß in diesem Spiel um alternative Positionen und Spielregeln und Politikschwerpunkte nicht selten so etwas wie eine staatsbürgerliche oder staatsbürgerverantwortliche Komponente fehlt. Von daher könnten - über die Schicht der Intellektuellen einer Stabilisierung demokratischer Transformation sogar Gefahren drohen. Bleibt noch ein Wort zu Menschenrechtsgruppen zu sagen. Hans-Rudolf Horn hat unter dem Titel "Menschenrechtsdiskussion

und

Zivilgesell-

Manfred Mols

254

schaft" 41 mit glaubwürdigen Argumenten die These vertreten, daß auch mit Blick auf Menschenrechte ein Stück Bewegung in die mexikanische Politik gekommen sei. Es habe sich nicht nur die Gründung der Nationalen Menschenrechtskommission im Jahre 1990 ausgezahlt. Auch das am Vorabend der Wahlen von 1994 abgeschlossene Faimessabkommen zwischen acht politischen Parteien, den jeweiligen Präsidentschaftskandidaten und der Regierung habe Wege "geöffnet für eine breite Wahlbeteiligung und eine Überwachung der Wahlen." 42 Ein weiteres Argument heißt: "Die Reaktionen der mexikanischen Öffentlichkeit auf die in jüngster Zeit sich häufenden Mordfalle vor aller Augen machen deutlich, daß keine Neigung besteht, Gewalttätigkeit als Teil der politischen Auseinandersetzung hinzunehmen." 43 Hier schließt sich ein Kreis: Mexikos zivile Gesellschaft kommt allmählich zum Bewußtsein ihrer selbst. 44 Die strukturellen wie die akteursspezifischen Argumente weisen in die gleiche Richtung. Etwas ähnlich hatte Héctor Aguilar Camin bereits 1988 in seinem vielbeachteten Buch "Después del milagro" 45

argumentiert: Der "Leviathan hat sich erschöpft". Der alte

"Faustische Pakt" zwischen Regierungselite, Repräsentanten der neuen Mittelschichten, den Bauernligen, den Gewerkschaften und der iniciativa

priva-

da, abgesichert durch Kooptationen und Pfründe, Bereicherungen und Korruption, ein kompliziertes internes Machtgleichgewicht und eine hohe Kontrollkapazität für die Massen in Stadt und Land, verliere an Bestand. Heute, acht Jahre später, ist der Auflösungsprozeß des "Faustischen Paktes" weitergegangen. Um eines sofort klarzustellen: Dies ist keine optimistische Aussage um ihrer selbst willen, sondern das Ergebnis einer sozialwissenschaftlichen Analyse, der es weniger auf Prognose als auf den Befund ankommt, daß Mexiko allmählich in die Richtung (das ist bewußt vorsichtig formuliert) politischer Normalität driftet. Das Land mag viele Defizite haben, die Kräfte der Behar-

41

Horn 1995.

42

Ebda., S. 183.

43

Ebda., S. 178.

44 45

Genau dies ist auch die Grundthese bei Lauth 1995. Aguilar Camin 1988.

II. Mexiko

255

rung mögen eine enorme Überlebenskraft besitzen, der Modernisierungssog mag ganze Teile der Republik ausgespart halten, es kann nicht einmal ausgeschlossen werden, daß der Transformationstrend - vielleicht sogar abrupt gebrochen wird: Die aufgezeigten strukturellen Umschichtungen, die veränderten internationalen Rahmenbedingungen und auch die gewandelte Qualität maßgeblicher Akteure und Akteursgruppen lassen die Vektoren erkennen, die das überkommene mexikanische politische System unter einen enormen Veränderungsdruck gesetzt haben. Bis genau hierhin und nicht weiter reicht die Fähigkeit der politikwissenschaftlichen Diagnose. Um einen dieser Vektoren hier noch einmal herauszuheben: Mónica Serrano schreibt in einer jüngeren Publikation des Londoner "Institute of Latin American Studies": "Politische Parteien sind jetzt Bestandteil der mexikanischen politischen Szene." 46 Außerdem hat Mexiko den Vorteil, den Übergang zur Demokratie nicht - um einen zentralen Gedanken von Alonso Lujambio 47 aufzugreifen in einem institutionellen Vakuum beginnen oder durchfuhren zu müssen: "Im mexikanischen Übergang zur Demokratie werden keine Institutionen geschaffen, vielmehr die existierenden reformiert." Es heißt dies im Klartext, daß es nicht um veränderte konstitutionelle Ansätze geht, sondern darum, die Verfassung von Querétaro politisch auch zur Geltung zu bringen. Aber eine Zwischenbemerkung sei gleichwohl nicht unterschlagen: Wie immer stark die jeweilige Bundesregierung, die politische Klasse und vor allem der mexikanische Staatspräsident in Geschicke, Richtung von Reformen und Krisenbewältigungsstrategien ihres Landes steuernd einzugreifen versuchen - dies vielleicht in einer Massivität, von deren Effekten westeuropäische Regierungschefs manchmal sogar träumen mögen - , sie haben angesichts der hier aufgelisteten Transformationsimpulse wenig Chancen, sich grundsätzlichen Trends entgegenzustellen. "Como México no hay dos" ist keine Garantieformel für die Beschwörung eines Sonderfalls, sondern eher eine Mahnung, daß es wahrscheinlich keine mexikanische Ausnahme von der "Logik" einer sich in ihren Grundkomponenten restrukturierenden Gesellschaft gibt. Es hat sich dies am deutlichsten am offiziell bekanntgegebenen

46

Serrano 1994, S. 1.

47

Lujambio 1995, S. 3.

Manfred M o l s

256

Wahlergebnis gezeigt: Sowohl bei den Präsidentschaftswahlen von 1 9 8 8 wie 1 9 9 4 ist der PRI-Kandidat nur noch a u f rund 5 0 % der abgegebenen Stimmen g e k o m m e n .

1 9 8 8 mußte das R e g i m e noch das Ergebnis

sozusagen

hochmanipulieren. Die Wahlen von 1 9 9 4 sind nach Meinung der internationalen Wahlbeobachter und auch der nachfolgend a u f den Plan tretenden wissenschaftlichen Analytiker im wesentlichen korrekt verlaufen - vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte der mexikanischen Republik. 4 8 E s ist überfällig, sich dem bisher wichtigsten Akteur im politischen Spiel etwas genauer zuzuwenden, dem mexikanischen Präsidenten. 4 9

5.

Mexiko im Übergang seiner Präsidentschaften ab 1970

Die Pyramide mußte aus sakralen (bzw. theologischen) Gründen alle 5 2 Jahre erneuert werden. E s ist im M e x i k o der Postrevolution üblich geworden, j e d e s Sexennium, also j e d e Amtszeit des jeweiligen Präsidenten, als Innovationschance und als einmaligen Innovationszeitraum aufzufassen und dann zugleich das Vergangene als vergessenswert anzusehen. 5 0 Dies hat nach der Präsidentschaft von Echeverría buchstäblich extreme Formen angenommen, bei denen man als ausländischer B e o b a c h t e r nicht mehr weiß, ob man die "kritische R e i f e " der mexikanischen Öffentlichkeit in bezug a u f die Höhe der Korruption und die M e n g e der Fehlentscheidungen

der

vorhergehenden

Regierung begrüßen soll oder ob nicht genauso die Sorge ansteht, daß die gleiche Öffentlichkeit die Feinheiten für spezifische Kontinuitäten bzw. Brüche und Innovationen von Präsidentschaft zu Präsidentschaft übersieht. Ein Essay wie dieser bietet keinen Raum, um sehr t i e f und differenzierend in Einzelaspekte der mexikanischen Zeitgeschichte zurückzugehen. Daher müssen Raffungen genügen.

48

49

50

Dazu genauer Franke 1995. Die maßgebliche Arbeit zum mexikanischen Präsidenten ist Carpizo 1994. (Carpizo hatte als procurador general unter Salinas de Gortari Kabinettsrang). Vgl. Mols 1981.

II. Mexiko

257

Am Ende der Regierungszeit von Gustavo Díaz Ordaz (1964-1970) war das Regime mit "Tlatelolco" in eine nicht mehr verschleierbare, manifeste Legitimitätskrise geraten. Unter Echeverría begann der Versuch einer bisher nicht gekannten außenpolitischen Öffnung bei einem gleichzeitigen Bemühen, einen entwicklungspolitischen Modernisierungsdurchbruch, verbunden mit einem Versuch der dosierten Abkopplung von der Dominanz der Vereinigten Staaten, durchzusetzen. Dies selbst auf Kosten einer finanzpolitischen Superverschuldung. Unter López Portillo (1976-1982) wurde noch einmal der Versuch unternommen, die Neuansätze des Vorgängers zusammenzubringen mit dem Regreß auf früher bewährte ordnungspolitische Steuerungsversuche der Wirtschaft (Verstaatlichung der Banken). Unter Miguel de la Madrid (1982-1988) mußte einerseits ein finanzpolitischer Offenbarungseid geleistet werden (das mexikanische Schuldenmoratorium von 1982 leitete die berühmt-berüchtigte internationale Verschuldungskrise der achtziger Jahre ein). Andererseits versuchte die mexikanische Regierung - erfolgreich (!) - , auch in einer extremen Krisensituation ihre Handlungsfähigkeit nach innen wie nach außen zu demonstrieren. Es gelang dem Präsidenten bzw. der mexikanischen Bundesregierung, über Sozialpakte verteilungspolitische Stillhalteabkommen zu schließen, die die finanzpolitisch erforderliche Handlungsfähigkeit sozialpolitisch ermöglichten. Zugleich ging die Regierung entschlossen an eine Revision des Entwicklungsmodells einschließlich relevanter ordnungspolitischer Begleitkomponenten. Z. B. setzte der Präsident eine rigorose Verkleinerung des sector paraestatal

durch, was nicht nur schlicht als

"Privatisierung" des größeren Teils der bisherigen Staatswirtschaft zu interpretieren war, sondern als Veränderung bisheriger Macht- und Pfründeverhältnisse im Machtkartell des PRI-Lagers überhaupt. Unverkennbar war ein parallel einhergehender Prozeß der politischen Lockerung. Den vielleicht eindrucksvollsten Beweis dafür liefern - so paradox dies angesichts der offiziell bekanntgegebenen Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen von 1988 (die die Regierung de la Madrid ja bekanntzugeben bzw. zu verantworten hatte) auf den ersten Blick anmuten mag - die Wahlergebnisse von 1988. Ein politisches Regime, das über Jahre und Jahrzehnte an Zustimmungsergebnisse von 80-90 % (dank effizienter Kontrollen und eines rigoros praktizierten "fraude electoral") gewohnt war, mußte die Macht an einen Präsidenten weitergeben, der mit der bisher "geringsten Mehrheit überhaupt in der Geschieh-

Manfred Mols

258

te der mexikanischen Präsidentschaftswahlen" 51 Staats- und Regierungschef seines Landes wurde. Das schließlich zugrunde gelegte Wahlergebnis war mit 50,36 % zugunsten des künftigen Präsidenten Salinas de Gortari eindeutig geschönt. Aber daß auch Salinas darauf bestand, von wirklich substantiellen Manipulationen früheren Ausmaßes Abstand zu nehmen, zeigt, daß man innerhalb des Regimes erkannt hatte, daß Mexiko an einer politischen Zäsur angekommen war, hinter die das PRI-Lager nicht mehr zurückkonnte, wollte es nicht Gefahr sehr energischer, womöglich seiner Kontrollkapazität entgleitender Proteste (die ohnehin aus dem Lager der politischen Opposition kamen) laufen. Es stand nicht weniger auf dem Spiel als Mexikos Regierbarkeit. Salinas de Gortari hat damals als Staatspräsident nicht schlecht reagiert. Wie schon unter Echeverría versuchte er einen Teil des innenpolitischen Drucks durch eine aktive Außen- und Außenwirtschaftspolitik zu mildem. 52 Schon 1986 war Mexiko dem GATT beigetreten. "Das im Oktober 1992 von den Präsidenten Kanadas, Mexikos und der USA unterzeichnete Nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA stellte den wohl bedeutendsten Schritt Mexikos in Richtung auf eine weltmarktintegrierte und exportorientierte Wirtschafts- und Entwicklungspolitik dar." 53 Gleichsam parallel dazu intensivierte Mexiko seine Lateinamerika-Politik (Bildung der "Gruppe der Drei" mit Kolumbien und Venezuela, Handelsabkommen mit Chile, engere Bindungen an Zentralamerika und die Inselkaribik). 1993 konnte Mexiko als damals erstes lateinamerikanisches Land der Asia-Pacific Economic

Coope-

ration (APEC) beitreten. Mit der Europäischen Gemeinschaft wurden intensivere Verhandlungen um ein Präferenzabkommen eingeleitet. Dies alles ist in Mexiko selbst auf eine vielfache, wenn auch nicht durchgehende Akzeptanz gestoßen, genauso wie sich Mexiko eines steigenden internationalen Ansehens erfreute. Daß sich die Bundesrepublik Deutschland auf die Bildung einer deutsch-mexikanischen Kommission einließ, ist einer von vielen Indi-

51

52

53

Lauth/Wagner 1989, S. 43. Vgl. auch Elsässer 1988. Vgl. zu den neuen Perspektiven der mexikanischen Außenpolitik der neunziger Jahre: Loaeza 1994; Palacios 1995. Faust/Schwane 1995, S. 116.

II. Mexiko

259

katoren für die neue Reputation Mexikos. 54 Im ganzen hat die internationale Gemeinschaft die Fortsetzung einer radikalen Öffnung und Internationalisierung der mexikanischen Wirtschaft begrüßt. Ein Land, das dem in Lateinamerika liebgewordenen Modell der Importsubstitution und des Protektionismus (mit entsprechend hohen Zollmauern) verhaftet und dessen Unternehmerschaft daher mehrheitlich hinter Schutzmauern zu leben und zu prosperieren gewohnt war, wurde voll in die Offenheit der Handelsliberalisierung des GATT und in alle Öffnungs- und Auflagenzwänge des NAFTAAbkommens (Umweltpolitik, arbeits-, sozialrechtliche und politische Korrektheiten auf der Basis von Ergänzungsabkommen) geworfen. Aber das Mexiko der späten achtziger und frühen neunziger Jahre traute sich auch einiges zu. Es war wohl vor allem dieses außenpolitische und außenwirtschaftlich abgeleitete Selbstbewußtsein, das den mexikanischen Staatspräsidenten in seinem zweiten Rechenschaftsbericht am 1. Oktober 1990 den Satz aussprechen ließ: "Queremos que México sea parte del Primer Mundo y no del Tercero." 55 Die wirtschaftspolitische Bilanz gab fiir solche Ansprüche keine verbürgende Basis ab. Zwar gelangen die schon eingangs erwähnte drastische Eindämmung der Inflation und eine substantielle Steigerung der Auslandsinvestitionen. Doch ließen sich in der Wirtschaftspolitik gegenläufige Elemente und Schwächen nicht übersehen. Ein erheblicher Teil der Auslandsinvestitionen sollte Portfolio-Kapital bleiben. Die Währung blieb künstlich, d.h. durch politischen Beschluß an eine vorgegebene Parität mit dem US-Dollar gebunden. Einer erheblichen Unternehmenskonzentration standen Schwierigkeiten bei kleineren und mittleren Unternehmen gegenüber. Während Mexiko mindestens eine Million neuer Arbeitsplätze jährlich braucht, entstanden zwischen 1988 und 1994 nur 1,5 Millionen neue Stellen. 56 Einen Teil der sozialpolitischen Engpässe suchte man durch zentrale Maßnahmen zur Bekämpfung der Armut (etwa durch das 1988 aufgelegte PRONASOL = Programa

54

Der Bericht der Kommission wurde inzwischen den beiden Staatspräsidenten von Weizsäcker und Salinas de Gortari vorgelegt. Vgl. Bericht 1994. 55

56

Salinas de Gortari, 20. Informe de Gobierno, 10 de noviembre de 1990 (Presidencia de la República. Dirección General de Comunicación Social), S. 9. So fast wörtlich Faust/Schwane 1995, S. 121.

Manfred Mols

260

Nacional de Solidaridad), neue Ansätze der Agrarreform und gesteigerte Ausgaben in der Gesundheitsversorgung und im Bildungsbereich zu mildern. Das war im Gesamtumfang zu wenig. Unter Salinas wurden, wie bei seinen Vorgängern, viele soziale und politische Probleme schlicht überdeckt. Zwar hat es eine ganze Reihe von (teilweise schon vorher eingeleiteten) Strukturreformen, etwa auf den Gebieten der Dezentralisierung und Raumplanung57 oder in der Umweltpolitik 58 , gegeben, doch blieben wesentliche politische Grundprobleme ungelöst. Der Machtapparat wurde nicht substantiell reformiert. Was aber schlimmer war: Es kam innerhalb der politischen Klasse eine Grundstimmung der Verunsicherung auf, die wesentlich damit zusammenhing, daß der technokratische Trend der mexikanischen Politik fortgesetzt wurde und gleichzeitig in den Leitungsgremien des PRI und den zugeordneten korporatistischen Lagern ein Gefühl der Orientierungslosigkeit und Vernachlässigung entstand. Auf diese Weise gingen nach und nach überkommene Legitimitätsabsicherungen der Bundesregierung verloren, oder sie gerieten zumindest ins Zwielicht der Unberechenbarkeit präsidentiellen Verhaltens. Mutatis mutandis gilt dies auch für die Ebene der Bundesstaaten. Die Ermordung des "offiziellen" Präsidentschaftskandidaten, des früheren Sozialministers Luis Donaldo Colosio, am 23. März 1994 auf einer Wahlveranstaltung in Tijuana und der wenige Monate später erfolgte weitere politische Mord des Generalsekretärs des PRI, José Francisco Ruiz Massieu (möglicherweise gehört die Ermordung von Kardinal Juan Jesús Posadas Ocampo im Mai 1993 in den gleichen Verursachungskreislauf), werden allgemein dem Regime selbst zur Last gelegt. Die durch die mexikanischen Medien laufende gängige Interpretation der bisher unaufgeklärten Mordfalle lautet, man habe sich aus der Umgebung des amtierenden Staatspräsidenten politischer Kräfte entledigen wollen, die in den Verdacht radikaler politischer Reformen geraten seien. In solchen Zusammenhängen wird heute gern auf eine der letzten Reden Colosios verwiesen, in der dieser im März 1994 erklärt hatte, die Zeiten einer Staatspartei seien für Mexiko genauso vorbei wie

57 58

Vgl. Gormsen 1995. Vgl. Mohr 1995.

261

II. Mexiko

jede überzogene Machtkonzentration oder gar der Versuch, demokratische Legitimation mit Wahlbetrug zu verwechseln.

59

Der Chiapas-Konflikt hat dann ein weiteres Mal gezeigt und demonstriert bis heute, daß die überkommene politische Grundkonstruktion des Landes mit seinen enormen soziopolitischen und auch regionalen Kosten keine Zukunft mehr hat - wie stark anhaltende Widerstände gegen eingreifendere Reformen auch sein mögen. Bisherigen Spielregeln gemäß mußte Präsident Salinas in kürzester Zeit für den ermordeten Colosio einen Nachfolger als Präsidentschaftskandidaten bestimmen. Die Wahl fiel auf den Manager des PRIistischen Wahlkampfes, Ernesto Zedillo, dem sofort unterstellt wurde, Salinas habe ihn deswegen ausgesucht, um hinter dem Rücken eines unpolitischen Technokraten weiterhin die Fäden der Macht in den Händen zu halten (ähnlich wie dies seinerzeit der "Jefe Máximo de la Revolución", Plutarco Elias Calles, ab 1928 mit drei Interimspräsidenten und dann noch mit Lázaro Cárdenas versucht hat, >10

te).

Die Frage, ob Colosio oder Zedillo der geeignetere Kandidat für eine überfällig radikale Reformpräsidentschaft war oder gewesen wäre, mag künftige Historiker interessieren. Interessant sind immerhin vier Dinge. Erstens hat schon der Präsidentschaftskandidat Zedillo in seiner Inaugurationsrede vor seiner Partei keinen Zweifel daran gelassen, daß er sich als Erbe Colosios fühlt. 61 Es werde auch bei ihm um eine Entflechtung der Machtkonzentration gehen, um die Stärkung des Föderalismus, um mehr Rechtsstaatlichkeit, um ein verstärktes Angehen der Distributionsfrage und um einen demokratischen PRI in einem demokratischen politischen Feld. Zweitens hat sich der PRIistische Präsidentschaftskandidat - zum ersten Mal in der Geschichte mexikanischer Präsidentschaftswahlen - einer öffentlichen Fernsehdebatte mit seinen Mitbewerbern aus anderen Parteien gestellt. Er

59

Der Text der Rede liegt mir vor. Es hat schon sehr bald eine sehr skeptische Literatur gegeben. Vgl. etwa Pazos 1994.

61

Zedillo 1994.

262

Manfred Mols

mag dabei nach Punkten gegenüber seinem PANistischen Mitbewerber Diego Fernández schwächer gewesen sein: 62 Daß eine solche Debatte stattfinden konnte, muß als ein entscheidender Durchbruch zu neuen politischen Spielregeln bei der Regelung der Präsidentschaftsnachfolge angesehen werden. Drittens: Es hat bei den Präsidentschaftswahlen ca. 80.000 inländische und 1.000 ausländische Wahlbeobachter gegeben. 63 Und die Wahlen selbst haben in einem unerwartet friedlichen Klima stattgefunden - mit einer Wahlbeteiligung von 77,73 %. 64 Damit konnte die entscheidende "Oppositionspartei" der vorhergehenden Präsidentschaftswahlen, die dazu im Trend von Wahl zu Wahl immer mehr an "Stimmen" zugelegt hatte, entscheidend geschlagen werden: der "abstencionismo", die (gesetzlich eigentlich gar nicht vorgesehene) Wahlenthaltung. (Es scheint mir dies ein weiterer und ganz entscheidender Indikator zu sein für das Wachwerden einer zivilen Gesellschaft, die angebotene authentische Partizipationschancen auch annimmt.) Viertens hat dann der mit 50,06 % der abgegebenen Stimmen gewählte Präsident Zedillo (das Ergebnis wie auch die Stimmenanteile für die anderen Parteien (PAN: 26,80 %; PRD: 17,06 %) entsprachen in der Größenordnung vorausgegangenen und in der mexikanischen Presse veröffentlichten Wahlprognosen 6 5 ) eine Politik informeller Koalitionsbildung mit der PANistischen Opposition fortgesetzt, die auf der Ebene regelmäßiger Gespräche schon von Präsident Salinas eingeleitet worden war. 66 Die neue Wendung heißt: Generalstaatsanwalt mit Kabinettsrang ist Antonio Lozano García, womit "zum ersten Mal überhaupt ein Mitglied einer Oppositionspartei (des PAN, d. Verf.) in die Regierung berufen wurde" 6 7 . Damit wurde nicht nur nach außen sichtlich auf das personalpolitische Machtmonopol des PRI verzichtet. Es symbolisiert die Berufung von Lozano García auch eine Politik der nationalen Versöhnung überhaupt, wie sie u. a. in der Bildung einer Na-

62

Vgl. Martre 1994.

63

Vgl. Franke 1995, S. 43.

64

Vgl. ebda., S. 49.

65

Vgl. ebda., S. 47ff.

66

Vgl. Anm. 39 des Mexiko-Gutachtens von Mols 1989, S. 18.

67

D W Monitor-Dienst Lateinamerika Nr. 161 vom 23. August 1995, S. 5.

II. Mexiko

263

tionalen politischen Reformkommission zwischen Innenministerium, PRI, PAN und PT zum Ausdruck kam. 6 8

(Bezeichnend sind die behandelten

Themen: Wahlreform, Neuordnung des Verhältnisses der politischen Gewalten, Föderalismus, Reformen im Bundesdistrikt, Massenmedien, Bürgerinitiativen...). 69 Daß Zedillo tatsächlich gewillt zu sein scheint, den Kurs politischer Reformen weiter zu verfolgen, geht u. a. daraus hervor, daß auch sein Kabinett unverkennbar technokratische Züge trägt, was in Mexiko prompt auf Kritik gestoßen ist, 70 jedoch zugleich demonstriert, daß technischer Sachverstand gefragt ist. Wie schwierig es allerdings bleibt, technische und politische Kompetenz zusammenzubringen und dabei noch auf persönliche Integrität achten zu können, zeigen schnelle Kabinettsumbildungen, zu denen sich der neue Präsident schon nach kurzer Zeit genötigt sah. 71 Gewiß, es drückt sich darin ein Stück Unstetigkeit in der Besetzung höchster politischer Ämter aus, aber es dominieren auch nicht mehr, wie in früheren Zeiten, politische Erbansprüche. 7 2 Der neue Präsident hat enorme Altlasten geerbt, von denen die meisten genannt wurden. Niemand vermag zur Stunde vorauszusagen, ob er und die von ihm gebildete Regierung damit fertig werden. Die Situation der Regierung ist durch das Legat der politischen Morde und die folgenden, auf das Regime selbst weisenden Verdächtigungen nicht einfacher geworden. Immerhin hat Zedillo seinen Vorgänger dazu gebracht, in die U S A zu gehen und dort einstweilen auch zu bleiben. Er hat ihn damit faktisch ins Exil geschickt. (Die Calles-Cärdenas-Situation hat sich also in der Tat wiederholt, ironischerweise wie damals in ihrer für Calles unerwarteten Endphase, insofern dieser seinerzeit ebenfalls vom amtierenden Präsidenten des Landes verwiesen wurde.) Der nicht gelöste Chiapas-Konflikt bleibt ebenfalls eine Belastung, zumal inzwischen sehr viele politische Kräfte des Landes involviert und absorbiert sind und die Vorstellungen des "Subcomandante Mar-

68

Vgl. DW Monitor-Dienst Lateinamerika Nr. 96 vom 19. Mai 1995, S. 5.

69

Vgl. ebda.

70

Etwa Martré/Quintero 1994.

72

Vgl. IMEP, Política mexicana. Panorama y Significados vom 27.1.1995. Vgl. die Daten bei Martré/Quintero 1994.

Manfred Mols

264

cos" auf grundsätzliche Korrekturen im politischen System Mexikos hinauslaufen 73 - Forderungen, für die die selbsternannten "Zapatistas" des Südens kein Mandat haben und auf die keine mexikanische Regierung schon unter Gesichtspunkten der Legitimitätssicherung so ohne weiteres positiv reagieren könnte. Drei weitere Schwierigkeiten sind jedoch die eigentlichen Schwachpunkte der gegenwärtigen Situation des Landes. Erstens befindet sich Mexiko nach der überraschenden und drastischen Abwertung seiner Währung seit Dezember 1994 in der schwersten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten. Der mexikanische Peso hat allein in der Zeit vom 19. Dezember 1994 bis zum 25. September 1995 8 4 , 9 % seines Wertes verloren. 74 Es ist im Jahre 1995 vermutlich zu einem negativen Wirtschaftswachstum von etwa 5 % gekommen. 75 Dahinter verbergen sich steigende und sozialpolitisch kaum absorbierbare Arbeitslosenzahlen, eine Auslastung der Industrie um 30-40 % ihrer installierten Produktionskapazität, ein Verfall mexikanischer Börsenwerte in New York um bis zu 70 %, eine massive Abwanderung des in den letzten Jahren nach Mexiko hereingebrachten Kapitals und der Zusammenbruch von einigen hunderttausend (!) meist kleineren und mittleren Firmen. 76 Verminderte Steuereinnahmen um möglicherweise 10-11 % 77 deuten den geschwundenen Spielraum für größere staatliche Entlastungsprogramme an. Inzwischen ist auch die Inflationsrate wieder bedrohlich auf über 40 % angestiegen. 78 Der Saldo der Handels- und (was gewichtiger ist) der Saldo der Leistungsbilanz bleiben eindeutig und gefährlich negativ (schon 1994 gilt für den letzteren Wert ein Defizit von 29 Mrd. US-Dollar 79 ), was insofern besonders ins Gewicht fallt, als Mexiko wegen einer sehr geringen eigenen Sparquote von ca. 1 6 % dringend auf den Zufluß ausländischen Kapitals angewiesen bleibt. Wie gewichtig das Auslandskapital geworden ist, geht daraus hervor, daß

73

Vgl. Latin American Weekly Report WR-95-02, 19. Januar 1995, S. 13.

74

Vgl. CEESP 1995.

75

Vgl. ebda, und Latin American Weekly Report WR-95-17, 11. Mai 1995, S. 196.

76

Vgl. ebda.

77

Vgl. Latin American Weekly Report WR-95-20, 1. Juni 1995, S. 232.

78 79

Vgl. Deutsch-Südamerikanische Bank 1995. Vgl. ebda., S. 137.

265

II. Mexiko

bereits 1993 2 1 , 6 % aller in Mexiko getätigten Neuinvestitionen aus dem Ausland finanziert wurden und daß inzwischen weit über 8.000 mexikanische Betriebe ausländische, meist US-amerikanische Anteilseigner aufweisen. 80 Es gibt Anzeichen dafür, daß Mexiko inzwischen die Talsohle der wirtschaftlichen Krise erreicht hat - es nehmen z. B. industrielle Exporte in den NAFTA-Raum zu. Ob es zu einer langfristigen Erholung und vor allem zu einem anhaltenden Vertrauensgewinn des Auslandes reicht, muß sich erst noch erweisen. Zweitens: Die USA haben zwar über eigene wie internationale Kanäle eine buchstäblich gigantische Hilfsaktion zugunsten der mexikanischen Währung und der mexikanischen Wirtschaft eingeleitet. Mexiko hat aber de facto seine Ölvorkommen verpfänden müssen, und der riesige Staatskonzern PEMEX befindet sich - allen anders lautenden Verlautbarungen der mexikanischen Regierung zum Trotz - in einem Prozeß der faktischen Privatisierung an allen interessanten "Rändern", wobei Privatisierung hier abermals auf erhebliche Übernahmen durch das nordamerikanische Kapital hinausläuft. Durch Mexiko geistert die Furcht vor einem nationalen Ausverkauf seiner Wirtschaft und seiner Bodenschätze. Ist es daher Zufall, daß der erste große Abschnitt im gegenwärtigen nationalen Entwicklungsplan (Plan Nacional ix

Desarrollo 1995-2000)

de

mit "Souveränität" überschrieben ist?

Drittens: Die Herausforderung für die Regierung Zedillo besteht darin, daß die wirtschaftliche, die politische und die soziale Krise sich wechselseitig verstärken und teilweise (wie im Fall von "Chiapas", das längst kein rein lokaler Konflikt mehr ist) bis zur Untrennbarkeit miteinander verbunden sind. Der vielleicht größte Bruch mit den überkommenen Spielregeln findet seit Monaten in der Form statt, daß die Ex-Präsidenten und frühere oder einstweilige Verlierer im politischen Wettbewerb sich kritisch und öffentlich zu Wort melden, so daß sich der Staatspräsident und seine Regierungsmannschaft einem Druck von buchstäblich allen Seiten ausgesetzt sehen. Mit "reglas olvidadas" hat "El Financiero" in seiner Ausgabe vom 1. Oktober

80

81

Vgl. Latin American Weekly Report WR-94-47, 8. Dezember 1994, S. 554. Poder Ejecutivo Federal 1995.

Manfred Mols

266

1995 82 das neue Machtspiel kommentiert und daraufhingewiesen, daß damit wesentliche Garantieelemente für den Bestand des bisherigen Systems verlorengingen. Der Bruch oder das Neue besteht darin, daß Ex-Präsidenten sich öffentlich und kritisch zu Wort melden und damit das zu gefährden scheinen, was Octavio Paz die "genealogische Legitimität" des mexikanischen politischen Systems genannt hat. 83 Auch andere analytische Stimmen weisen in die gleiche Richtung der Stabilitätsgefährdung durch Regelverlust. 84 Es ist im ganzen eine merkwürdige Situation aufgekommen. Der Präsident hält sich - soweit dies nach außen erkennbar bleibt und auch durch Interviews bestätigt werden konnte - weitgehend und verhältnismäßig demonstrativ aus den Niederungen der Machtkämpfe heraus. Er scheint auch selten ein Machtwort zu sprechen, sondern bleibt offenkundig um konstitutionelle Korrektheit bis in die Machträume des PRI bemüht. Die mexikanische politische Öffentlichkeit wird nach meinem Eindruck mit dieser ungewohnten Situation genauso wenig fertig wie die internationale, kommentierende Presse.85 Die gleiche Presse beispielsweise, die nicht müde wird, die Exzesse des Präsidentialismus zu geißeln, stellt noch gnadenloser fehlende Durchsetzungsqualitäten des Präsidenten und der Bundesregierung heraus. Man verdammt die alten Machtstrukturen, ist aber oft fast verwundert, wenn es plötzlich nicht mehr die gesicherte Welt der alten "Revolutionären Koalition" und ihre Umgangsregeln und Unterdrückungsmechanismen gibt oder wenn diese fallweise noch praktiziert werden, aber nicht mehr recht greifen. In der neueren Diskussion zu Systemtransformationen spielt die Denkfigur der Handlungskorridore 86 eine gewisse Rolle, d.h. eine struktur- und akteursbedingte Bandbreite für Handlungsoptionen, deren äußeres Erscheinungsbild sich realiter kaum anders als ein gewisser Zickzackkurs darstellen wird. Die politischen Entscheidungsträger werden damit in einem Land, das bis gestern

82

Ramos 1995, S. 31.

83

Vgl. dazu Zimmermann 1995, S. 5 f. 84

Vgl. IMEP 1995, S. 13 f. Presseerklärung von Ex-Präsident Salinas de Gortari.

85

Vgl. The Economist, 13.1.1996, S. 17 und S. 41 f.

86

Vgl. Merkel 1994a.

II. Mexiko

267

an vorhersehbare Gängelungen gewöhnt war, fast automatisch in den Ruch der Unkalkulierbarkeit und mangelnden Verläßlichkeit geraten. Mißtrauen fast aller gegen alle und Unsicherheit beherrschen auch das politische Feld Mexikos und den sozialen wie vor allem den politischen Umgang der Menschen miteinander. Dennoch: Mexiko steht nicht am Rande einer Implosion wie die Sowjetunion Gorbatschows, sondern in der Phase eines gewaltigen Umbruchs, der diesmal wahrscheinlich nicht ä la mexicana wie in den spätrevolutionären zwanziger Jahren verlaufen, d.h. erneut in eine konstruktive "Befriedung" "von oben" einmünden wird. Gesteigerte Anarchie und konterkarierende Unterdrückungsversuche sind gewiß nicht auszuschließen. Wahrscheinlicher ist jedoch ein Hinbewegen auf ein Stück staatliche und vielleicht sogar demokratische Normalität. (Wie kontrovers solche Dinge in der Wissenschaft diskutiert und beurteilt werden - wenn auch bei weitem nicht mehr aus den tiefen ideologischen Gräben früherer Jahrzehnte

zeigte

sich z. B. im November 1994 in Mainz angesichts einer internationalen Mexiko-Tagung). 87 Die große Frage heißt, wieviel an Zeit für die Transition bis zum Punkt einer neuen Systemstabilisierung auf einem politisch signifikant demokratischeren Niveau bleibt; denn es gärt absolut unübersehbar in Mexiko. Wenn Präsident Zedillo einigermaßen heil aus der jetzigen Wirtschaftskrise herauskommt, und wenn er es dazu schafft, den bis jetzt erkennbaren Kurs der Distanzierung zur Revolutionspartei und ihren korporativistischen Vernetzungen ebenso durchzuhalten wie ein Stück weiterer Korrektheit bei Wahlen und politischer Performanz auf den Ebenen des Bundes, der Bundesstaaten und der Munizipien, und wenn dazu die Opposition keine Obstruktionspolitik um jeden Preis betreibt, hat das Land eine erkennbare Chance. Der Zeitraum für einen zur Selbststabilisierung führenden Übergang dürfte allerdings nicht wesentlich über das jetzige Sexennium hinausreichen, weil spätestens ungefähr dann jeder Rest von einem vielleicht noch vorhandenen Vertrauenskapital in den "political publics", ohne das an eine friedliche Transition nirgendwo in der Welt zu denken ist, erschöpft sein dürfte.

87

Bauer/Lauth 1995.

Manfred Mols

268

Die Transformation wird in Mexiko kein neues politisches System aus der Retorte bedeuten können, so wie dies - sit venia verbo - per Saldo (nicht im Detail) die Chance der Westdeutschen nach 1945 war. Daß in Deutschland die Demokratie fest Fuß fassen konnte, lag nicht nur an einer einmaligen Gunst der Stunde (für die die Nation insgesamt freilich den einmalig teuren Preis ihrer jahrzehntelangen Teilung zu zahlen hatte), sondern auch an begünstigenden Voraussetzungen: Deutschland verfügte über eine sehr lange Tradition der Rechtsstaatlichkeit (die zwischen 1933 und 1945 zu gewichtigen Teilen aufgehoben, aber nicht abgebrochen war); der zweite positive Faktor war ein hohes Maß an administrativer Professionalität, ein dritter eine ebenfalls jahrhundertealte Tradition der munizipalen Selbstverwaltung - ein besonders forderliches Element, das Bundeskanzler Konrad Adenauer nicht müde wurde immer wieder zu betonen. Hinzu kam eine begünstigende, in manchem auch erzwingende internationale Konstellation. Daß sich zu alldem seit den fünfziger Jahren das deutsche Wirtschaftswunder hinzugesellte, war der jungen Republik - man erinnere sich an die enormen internen Auseinandersetzungen erst um Marktwirtschaft überhaupt und dann um soziale Marktwirtschaft - keinesfalls in die Sterne geschrieben, sondern mußte in harten Debatten erst noch errungen werden. "Quo vadis, México?" wird daher nicht heißen, daß in dem lateinamerikanischen Land bisher alles falsch gemacht wurde und man nun einen Neubeginn ex ovo wagen muß. Es kam mir in diesem Beitrag darauf an, struktur- und akteursspezifisch auf die in Mexiko zweifellos vorhandenen Transformationspotentiale einzugehen. Nicht mit den Einzelheiten einer umfangreichen wissenschaftlichen Monographie, aber doch so, daß dem Leser die potentielle Kraft und Eigendynamik im mexikanischen Transformationsprofil aufgehen. Und eines sei nochmals unterstrichen: Auch wenn Mexiko seine Transformation selbst schaffen muß, ist der "externe Föderator" - um einen Schlüsselbegriff aus der modernen Integrationsforschung zu gebrauchen - ebenso unverzichtbar wie seinerzeit im Falle Westdeutschlands. Den USA kommt hier naturgemäß eine besondere Verantwortung zu, 88 aber auch Europa ist gefragt, nicht zuletzt diejenigen Instanzen in Europa, die sich

88

Vgl. Lowenthal 1991.

II. Mexiko

269

gezielt - über die Handelspolitiken der Nationalstaaten und der Europäischen Union hinaus - um die Hilfe zur demokratischen Selbsthilfe in Lateinamerika und speziell in Mexiko kümmern. 89 Behutsamkeit wird ihren eigenen Kurswert haben. Die Stärkung des mexikanischen Föderalismus - eine lohnende und fast unverzichtbare Aufgabe auf dem Wege zu mehr Demokratie - darf nicht die Gefahr verkennen lassen, daß Kaziquismen befördert werden könnten (und wohl auch werden). Überdies wird ein föderaler mexikanischer Herrschaftsverband nicht an der Idee und herrschaftsgeographischen Wirklichkeit von Mexico-Tenochtitlän vorbeileben können. Die Anhebung des rechtsstaatlichen Niveaus wird nicht absehen lassen von etatistischen Interpretationen von Recht und Verfassung, die in den meisten Staaten Europas lange überwunden sind, in Mexiko aber (wie im übrigen Lateinamerika) ihre eigene jahrhundertealte Tradition abgeben. 90 Die Stärkung der demokratischen Potentiale überhaupt - etwa von Parteien und von Selbsthilfegruppen kann im Einzelfalle weniger wichtig sein als die Verbesserung der internationalen Einbindungen Mexikos, deren schlichte kognitive Seite - also die Kenntnis dessen, was in Europa, im südlichen Amerika oder auch im pazifischen Raum abläuft - dem Wunsch nach Diversifizierung der Außenbeziehungen nicht befriedigend entspricht. Gerade auf diesen Gebieten ist nach meinem Dafürhalten jede auswärtige Hilfe besonders dringlich. Sollte sie wie im Falle der in Mexiko tätigen deutschen politischen Stiftungen - über Maßnahmen der politischen Bildung erfolgen, kann sie nicht aus einem bloßen europäischen Erfahrungstransfer bestehen, wohl aber in einem ZurVerfugung-Stellen von transatlantischen Erfahrungsinhalten für eine innermexikanische Diskussion, die sich an der eigenen historischen wie an der geostrategischen und wirtschaftlichen Realität orientieren muß.

6.

Schlußbemerkung eines Mexikoforschers

Mexiko hat sich auf den Weg zu einer politischen Normalität gemacht, und es muß zur Stunde offenbleiben, ob die eingeschlagene Richtung durchgehal-

89

90

Vgl. Wagner 1994. Zu Lateinamerikas etatistischem Staatsverständnis vgl. Mols 1987, S. 185-220. Zum modernen Staat in Lateinamerika vgl. Mols/Thesing 1995.

Manfred Mols

270

ten werden kann oder nicht. Politische Prophetie scheint mir angesichts des wiederkehrenden erstaunlichen Versagens sozialwissenschaftlicher Voraussagen auf der Makro- und Globalebene (Sturz des Schah-Regimes in Persien, Implosion der Sowjetunion, Wiedervereinigung Deutschlands, friedlicher Machtübergang in Südafrika, Ende des japanischen Wirtschaftswunders...) auch mit Blick auf die sehr komplizierte Situation Mexikos nicht gefragt zu sein. Gefragt ist etwas ganz anderes. Erstens, wie eben schon bemerkt, die Erkenntnis, daß alles Transformationsgeschehen eingebettet bleibt in die positiven und negativen Handlungspotentiale der mexikanischen Geschichte. Wer sich um die historischen Vorgaben Mexikos drückt, also um die präkolumbianische Mitprägung des mexikanischen Weltbildes, um das Legat der Kolonialzeit, um die Erfahrungen im 19. Jahrhundert mit den eigenen Versuchungen zur Anarchie und den fremden Versuchungen von Norden aus, daraus Kapital zu schlagen, wer vollends die Revolution und ihr langes Nachhallen unterschlägt, der sollte sich besser nicht zu Mexiko äußern, weil er an der Oberfläche von Ereignissen bleibt, die er nicht einordnen kann. Analoges gilt übrigens auch für legale, vor allem konstitutionelle Vorgaben, worauf Lujambio 91 in seiner bereits zitierten Arbeit mit Blick auf Föderalismus und Kongreß aufmerksam macht. Genauso wichtig scheint mir ein zweiter Punkt zu sein: Europäische wie nordamerikanische Wissenschaftler laufen in bezug auf Lateinamerika und eben auch auf Mexiko Gefahr, westliche Ideale von Demokratie, Staat, Gesellschaft, Ordnungspolitik usw. mit der lateinamerikanischen

bzw. mexikanischen Realität zu vergleichen, und dann

stößt man prompt und zwangsläufig auf Korruption, administratives Versagen, Vetternwirtschaft und bedenkliche Klientelschaften, mangelnde innerparteiliche Demokratie, gewerkschaftsinternen Bossismus, einen überspannten, administrativ-bürokratisch untermauerten Zentralismus, Schwerfälligkeiten bei einzelnen Reformschritten usw. Dies gibt verzerrte Maßstäbe ab. Robert Michels hat mit seiner These über den praktisch unvermeidbaren Trend der Oligarchisierung von großen Parteien keineswegs nur die damalige deutsche Sozialdemokratie angesprochen. Kein geringerer als Ostrogorski wußte auf die Versuchung demokratischer Parteien hinzuweisen, Mechanis-

91

Lujambio 1995.

II. Mexiko

271

men der Massenbeherrschung zu werden. 92 Und nicht nur in Deutschland sind die Formen der Wahlkampffinanzierung oder auch die relativ einseitigen sozialen Bindungen politischer Parteien umstritten. Kann man in Deutschland oder Italien oder Frankreich wirklich von einer durchgehend funktionierenden innerparteilichen Demokratie sprechen? Ist der berühmt-berüchtigte mexikanische "dedazo" denn wirklich in deutschen Parteien unbekannt? Und sind Politikverdrossenheit oder besser Politikerverdrossenheit und über Parteischienen laufende Versorgungsmentalitäten nur lateinamerikanische oder mexikanische Phänomene? Der dümmste Einwand, den es auf solche Fragen immer wieder geben wird, heißt: Das alles sei eine Frage des unterschiedlichen Ausmaßes. Das Argument ist deshalb wenig hilfreich, weil es genau in die Sackgasse führt, die Betrachtung hiesigen Alltagsverhaltens als realistisch zu feiern und fremdes Alltagsverhalten an Idealnormen zu messen. 93 Wenn wir Mexiko begleiten, vielleicht sogar unterstützen wollen auf dem Weg zu einer sicher fällig gewordenen demokratischen Normalität, dann müssen zumindest wir Politikwissenschaftler, wollen wir vor uns selbst und in Lateinamerika glaubwürdig bleiben, einigermaßen gleiche und analytisch faire Maßstäbe auch auf jenes großartige Land südlich des Rio Grande anwenden, das seit den Tagen Alexander von Humboldts nie aufgehört hat, uns in den Bann seiner Kulturen, in den Bann seiner landschaftlichen und architektonischen Schönheiten und in den Bann seiner Menschen zu ziehen.

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97 93

Vgl. Salomon-Delatour 1965, S. 686. Dies ist auch der Ductus bei Reyes Heroles 1994.

Manfred Mols

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II. Nicaragua

279

René Herrera Züniga Der Wandel des politischen Systems in Nicaragua*

"Die Transformation politischer Systeme erweist sich stets als Enttäuschung, vielleicht weil sie Erwartungen auf eine endgültige Lösung nährt, die sich nie vollständig erfüllen. Große Erwartungen bringen verlorene Illusionen mit sich. Die große Erwartung gab uns aber auch Hoffnung." 1

1.

Einführung

Auf der Suche nach einer theoretischen Grundlage für den Regimewechsel in Nicaragua Beim Wechsel der Regime in verschiedenen Ländern ließen sich in der Regel drei vorherrschende Themen ausmachen: die Ursache des Zusammenbruchs, die Phase des Übergangs zu einer neuen Regierung und deren Amtsantritt sowie die Konsolidierung bzw. die Auflösung der neuen Regierung. Aufgrund meines in erster Linie akademischen und später politischen Interesses, die Besonderheiten im Fall Nicaraguas zu erforschen, habe ich mich in den letzten Jahren mit verschiedenen theoretischen Untersuchungen sowie der Anwendung der daraus gewonnen Erkenntnisse auf spezifische Fälle von Regimewechsel befaßt. Das Ergebnis wurde 1994 unter dem Titel "Nicaragua. Der verhandelte Zusammenbruch" publiziert. 2

* 1

2

Aus dem Spanischen übersetzt von Heidemarie Markhardt. Konrád 1991, S. 45. Span. "Nicaragua. El derrumbre negociado. Los avatares de un cambio de régimen".

280

René Herrera Zúniga

Die Ergebnisse der Untersuchungen über jedes dieser drei zentralen Themen lassen eine bemerkenswerte theoretische Konsistenz erkennen, erweisen sich jedoch für ein Verständnis der Besonderheiten des Falls Nicaragua als unzureichend: erstens, weil die Ursachen des Zusammenbruchs grundsätzlich im Hinblick auf das Scheitern von Demokratien untersucht wurden. Dies wird in den Ende der siebziger Jahre publizierten Arbeiten von Juan Linz und Alfred Stepan über Südeuropa und Lateinamerika deutlich. Auf Nicaragua trifft das 1990 jedoch nicht zu. Andererseits sind wissenschaftliche Arbeiten über das Ende totalitärer Diktaturen im Vergleich weniger zahlreich, wenn es auf dem Weg eines militärischen Umsturzes herbeigeführt wurde. Auch das trifft im Falle Nicaraguas nicht ganz zu, trotz der militärischen Komponente der Widerstandsstrategie gegen den Sandinismo. Erst jetzt, durch den Zusammenbruch des Sozialismus ohne militärischen Umsturz, eröffnen sich neue Perspektiven über dessen Ursachen. Es liegen jedoch erst vorläufige Ergebnisse der letzten Untersuchungen über die ehemalige Sowjetunion und die osteuropäischen Länder vor. Die neuen Erkenntnisse der Arbeiten von Claus Offe, Giuseppe Di Palma, Joan Nelson, Sarah Meiklejohn und Guillermo O'Donnell lassen grundlegende Unterschiede zu den bereits untersuchten Fällen des Übergangs zur Demokratie zutage treten, denn die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit umfassen dramatische Territorialkämpfe, massive Auswanderung, Nationalitäten- und Minderheitenkonflikte sowie die Spaltung ehemaliger Republiken oder Staaten. Darüber hinaus zeigt sich ein weiterer Unterschied: Der Übergang vollzieht sich gleichzeitig in Politik und Wirtschaft. Letzterer Punkt ist für das Studium Nicaraguas interessant und nützlich. Bei einem ersten Vergleich ist jedoch zweifellos die Strategie von größter Bedeutung, die - sobald der Niedergang einsetzt - zur Durchfuhrung des Regimewechsels gewählt wird. Dabei kann es sich um eine Konfrontationsstrategie oder eine Versöhnungsstrategie handeln. Welche Wahl auch immer getroffen wird, das Ziel ist letztendlich das gleiche: die vollständige Auflösung des vorherigen Regimes und die Begründung einer demokratischen Verfassungsordnung. Dies paßt sehr gut zur Definition dieser beiden Prozesse, die Adam Przeworski gibt. Die vorläufigen Ergebnisse aus der Anwendung dieser These auf einzelne Fälle von Regimewechsel erwiesen sich mir beim Versuch äußerst nützlich, die Versöhnungsstrategie zu verstehen, für die sich die Regierung Violeta Cha-

II. Nicaragua

281

morro nach dem Zusammenbruch des Sandinismo entschied, der mittels Verhandlungen herbeigeführt und in den Wahlen 1990 bestätigt worden war - ein Aspekt, auf den ich in weiterer Folge noch eingehen werde. Was die Untersuchungen über das zweite zentrale Thema bei Regimewechseln - den Übergang zur Demokratie - betrifft, möchte ich festhalten, daß für Nicaragua die theoretischen Arbeiten attraktiv und anwendbar sind, die sich mit der Demokratie in Nachkriegsitalien, Japan und in Westdeutschland, der Demokratisierung in den siebziger Jahren in Portugal, Spanien und Griechenland sowie in den achtziger Jahren in Lateinamerika nach dem Zusammenbruch autoritärer Staatsformen in Argentinien, Brasilien, Chile, Uruguay und Paraguay beschäftigen. Die Anwendbarkeit dieser Theorien des Übergangs ist in unserem Fall jedoch relativ. Die Arbeiten von Guillermo O'Donnell, Phillippe Schmitter, Laurence Whitehead, Alfred Stepan, Adam Przeworski und Enrique Baloyra, die sich mit Fällen des Übergangs von einem autoritären Regime zu einem demokratischer Prägung auseinandersetzen, beschreiben Situationen, die für den Vergleich mit einem Fall, wie jenem in Mittelamerika, von Nutzen sind. Es bestehen jedoch markante Unterschiede, die nicht außer acht gelassen werden dürfen. Der in Lateinamerika untersuchte Übergang bezieht sich auf Regierungswechsel durch Anpassung autoritärer Normen innerhalb der gleichen Art von Regimen. Dies trifft auf Nicaragua nicht zu, wenn auch die von der Regierung Violeta Chamorro gewählte Form der nationalen Versöhnung, die sich durch eine zeitweilige Beibehaltung sandinistischer Institutionen und Vertreter auszeichnet, dies anzudeuten scheint. Selbst die Aussage von Minister Lacayo, daß die Regierung eine Fortsetzung der sandinistischen Regierung sei, bedeutet etwas anderes. In Wirklichkeit unterscheiden sich die Vorkommnisse in Nicaragua ziemlich stark von der Demokratisierung autoritärer Regime in Südamerika und selbst vom Prozeß, der sich gegenwärtig in Mexiko vollzieht. Dies ist in erster Linie darauf zurückzufuhren, daß sich die autoritären Regime Lateinamerikas durch einen provisorischen Charakter auszeichneten - als Regierungen der Rettung und des Notstands geplant waren, ihren Interimscharakter angekündigt hatten und im voraus davon ausgingen, daß sie nach Abklingen der Umstände, die zu ihrem Entstehen geführt hatten, wieder zur Normalität zurückkehren würden. Sie zogen sich

282

René Herrera Zúniga

auch nicht aus der strategischen Allianz mit dem Westen zurück. Die sandinistische Regierung war hingegen angetreten, um permanent zu regieren, ein neues Modell des Staates, der Gesellschaft und des Individuums nach sowjetisch-kubanischem Vorbild zu errichten. Zweitens prägte der provisorische Charakter des autoritären Regimes von Beginn an den nachfolgenden Prozeß. Dies bedeutet, daß das autoritäre Regime über eine demokratische Ebene verfügte und eine Reihe von Maßnahmen innerhalb des Regimes selbst setzte, die letztendlich zu einer Auflösung unter Eigenaufsicht fuhren würden. In der Folge entscheidet das Regime den Moment, in dem es seine Vorkehrungen für die Rückkehr zur Normalität bekannt gibt. Es trifft diesen Entschluß, wenn weniger Druck seitens der Gegner herrscht oder wenn es mehr Kontrolle über seine Widersacher oder Anhänger zu haben glaubt. Es ist in der Lage, sich die Gesprächspartner für eine Öffnung selbst auszusuchen und sie an der eigenen Übergangsstrategie teilnehmen zu lassen. Im Falle Nicaraguas ist es offensichtlich, daß die sandinistische Regierung keinen provisorischen Charakter in Aussicht stellte, sie empfand sich selbst als dauerhaft und irreversibel und verfügte folglich über keine Liberalisierungs- und Öffnungsstrategie. Sie ist sozialistisch orientiert. In weiterer Folge werden ihre autoritären Formen radikaler und schwenken auf einen eindeutig totalitären Kurs ein. Darüber hinaus beschließen die Sandinisten keinen Zeitpunkt für einen Wechsel und wählen auch nicht frei ihre Gesprächspartner, vielmehr ist es der militärische Druck, der sie dann zu Verhandlungen zwingt, als sie das am wenigsten wollen, und sie sind dazu gezwungen, ohne sich ihrer Gesprächspartner frei wählen zu können: Sie müssen sich mit den bewaffneten Gegnern von Angesicht zu Angesicht an den Verhandlungstisch setzen, als sie am wenigsten Kontrolle über die Gegner, aber auch die eigenen Anhänger haben. Das sandinistische Regime wird seiner eigenen Logik entrissen und wider Willen auf das Gleis der Interessen der Gegner gesetzt. Es wird nicht durch einen Militärumsturz entmachtet, aber seine Öffnung ist kein Geschenk an die Opposition, sondern es wird durch seine externen und internen Feinde dazu gezwungen, über sein Schicksal zu verhandeln. Davon leitet sich die hier verwendete Definition der "Entmachtung mittels Verhandlungen" ab. Es handelt sich dabei um ein Phänomen, daß sich erheblich von den anderen politischen Systemwechseln in Lateinamerika unterscheidet.

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Als sehr nützlich erweist sich jedoch die in diesen Untersuchungen des politischen Übergangs angewandte Untersuchungsmethode. Sie besteht in der dynamischen Gliederung des Prozesses in Etappen und Phasen, die in der jeweiligen Form des Übergangs aufeinander folgen. Diese Aspekte sind von Interesse, um die Reihenfolge der Ereignisse zu ordnen und zu präzisieren, die sich im Übergang Nicaraguas einerseits seit den Verhandlungen zwischen Sandinisten und Contras bis zur Wahlniederlage 1990 und andererseits ab diesem Zeitpunkt bis zu den Verfahrensreformen zwischen 1994 und 1995 vollzogen. Diese Reformen sind das Vorspiel für die 1996 folgende Wahlrunde, die als kritischer Moment für den Regimewechsel angesehen wird. Aus der Anordnung der Etappen ließe sich auf das Ergebnis der Wahlen 1996 schließen, die den Regimewechsel beenden und den Antritt einer wirklich neuen Regierung darstellen sollen. Die beschränkte Anwendbarkeit der Untersuchungen des Übergangs auf den Fall Nicaragua macht zumindest im Augenblick die Beschäftigung mit dem dritten großen Thema des Regimewechsels, der Konsolidierung des neuen Regimes, nicht notwendig: teilweise, weil es sehr übereilt ist, zu diesem Zeitpunkt von einer Konsolidierung zu sprechen und teilweise, weil das Konzept der demokratischen Konsolidierung in der Literatur, einschließlich der lateinamerikanischen, eine andere Bedeutung hat als im Falle Nicaraguas. Guillermo O'Donnell, einer der Wissenschaftler, der am meisten zur Erforschung des Systemwechsels in Lateinamerika beitrug, bekannte mit großer intellektueller Aufrichtigkeit, daß die als demokratische Konsolidierung wahrgenommene Phase die Demokratie noch nicht in ihrer wahren Bedeutung widerspiegelt, da in Ländern, in denen schon der zweite Urnengang nach dem autoritären Regime stattfand, noch immer anti-demokratische Institutionen vorherrschen. Der geringe Nutzen, der aus der Vergleichsanalyse dieser drei zentralen Themen für Nicaragua gezogen wurde, läßt uns neue theoretische Ebenen suchen, um besser zu verstehen, warum, wie und wann der Niedergang eintritt und sich der Weg für eine unsichere aber moderne, für die demokratische Entwicklung vorteilhafte Regierung öffnet. Solche theoretischen Betrachtungen beziehen sich auf eine andere Art von Untersuchungen, die von Politikwissenschaftlern zur Klassifizierung von

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Erscheinungen des Kalten Krieges durchgeführt wurden und die Elemente aufweisen, die besser für ein Verständnis des Falles Nicaragua geeignet sind. Es sei nochmals und zur Erleichterung der Darstellung festgestellt, daß im Hinblick auf den Regimewechsel die drei zentralen Untersuchungsthemen zur genaueren Erfassung unseres Falles beitragen können. Kombiniert mit Elementen der vorher genannten Studien können sie uns unserem Erkenntnisziel näher bringen. Das erste Thema beinhaltet den Beginn und das durch Verhandlungen erzielte Ende der mit dem Kalten Krieg zusammenhängenden Regionalkonflikte in Asien, Afrika und Lateinamerika. Das zweite Thema stellen die Untersuchungen über die fehlgeschlagenen Revolutionen dieses Jahrhunderts in Lateinamerika dar, und das letzte Thema bezieht sich schließlich auf die Studien über die Lösung von Regionalkonflikten, die durch den Kalten Krieg ausgelöst und mittels Verhandlungen beendet worden waren. An dieser Stelle folgt ein Überblick über die drei Themen: Zum ersten Thema möchte ich festhalten, daß es sich im Falle Nicaraguas um eine der 14 extrem linksgerichteten revolutionären Bewegungen handelt, die zwischen 1974 und 1980 an die Macht gekommen waren. Gemeinsam verkörpern sie das, was verschiedene marxistisch-orientierte Autoren als "Revolutionen der dritten Welt für den Übergang zum Sozialismus" bezeichnen. Die Arbeiten von Carmen Diana Deer, Roger Burbach, José Luis Coraggio und Carlos Vilas u.a. definieren diese Revolutionen als den Übergang zum Sozialismus in einem Kontext der internationalen ideologischen Auseinandersetzung. Von der Analyse dieser revolutionären Prozesse, die im Kontext des Kalten Krieges angesiedelt sind und in den internationalen Beziehungen als Regionalkonflikte definiert werden, können einige nützliche Aspekte abgeleitet werden, um ihren Aufstieg zur Macht, aber auch ihren Niedergang am Ende des Kalten Krieges zu verstehen. Diese Analysen helfen uns, den hohen Grad der Verletzlichkeit dieser Regime sowohl gegenüber externen als auch internen Faktoren zu erklären. Die Arbeit von Forrest Colburn über die Wirtschaftspolitik des Sandinismo in Nicaragua enthüllt das Scheitern der sozialistischen Strategie in einem landwirtschaftlich ausgerichteten Land. Sie beweist auch, daß externe Faktoren maßgeblich sind, um die Verwundbarkeit infolge einer ideologisch-militärischen Abhängigkeit zu erklären, und daß

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aber auch die internen Faktoren von Bedeutung sind, um die Hindernisse bei der Konsolidierung einer sozialistischen Strategie in einem auf den Agrarexport ausgerichteten Land mit einer bemerkenswerten Beständigkeit der Produktion des Privatsektors zu verstehen - besonders da dieser Privatsektor beschließt, von innen die Konsolidierung des Regimes zu bekämpfen und zu verhindern. Im Rahmen des zweiten Themas - die in diesem Jahrhundert fehlgeschlagenen Revolutionen - beschäftigen sich diese Untersuchungen mit Revolutionen, die in der Phase der Machtübernahme triumphieren, die aber in weiterer Folge scheitern, da sie ihre Macht nicht festigen können. Bolivien, Guatemala, Grenada und Nicaragua sind insofern von Interesse, als sie die komplexe Beziehung zwischen den Ursachen des sozialen Wandels und den Formen der politischen Aktion widerspiegeln, die zu seiner Verwirklichung eingesetzt wurden. Diese Fallstudien ermöglichen die Erforschung der Ursachen des Zusammenbruchs dieser Regierungen sowie der Folgen, die deren Entmachtung für Konzept und Tätigkeit des nachfolgenden politischen Systems hatte. Mit anderen Worten: Was kann aus der Phase nach der Revolution in diesen Ländern gelernt werden, das für die postrevolutionäre Ära in Nicaragua von Bedeutung sein könnte? Mit dem dritten Thema - der politischen Lösung bewaffneter Konflikte begeben wir uns auf ein Untersuchungsgebiet, das sich für das Verständnis einiger der wichtigsten Aspekte des Regierungswechsels in nicht entwickelten Ländern hervorragend eignet: die Bürgerkriege, die auf dem Verhandlungsweg beendet wurden. Die wenigen Untersuchungen hierzu sind für eine vergleichende Analyse von beschränktem Nutzen. Die Studie von Stephen John Stedman über die Verhandlungen in Zimbabwe (1974-1980) ist vielleicht die vollständigste und stützt sich auf die Arbeiten von Paul Pillar über das durch Verhandlungen herbeigeführte Ende der Bürgerkriege im zwanzigsten Jahrhundert und Gerald Rabow über die Wiederherstellung des Friedens auf dem Weg des Konsenses. Diese Studien sind von großem Wert, da sie im Hinblick auf die Methoden zur Klassifizierung der Vorgangsweisen fortschrittlich sind, die für die Beendigung eines Bürgerkrieges gewählt wurden, obgleich sie nur eine beschränkte Analyse der Verhandlungen selbst sowie der Art der Führung der Verhandlungen, die zu einem Regimewechsel

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führen, bieten. Angola, Afghanistan, Nicaragua und El Salvador, aber auch Guatemala und die gegenwärtigen Ereignisse in Chiapas, Mexiko, fügen sich gut in diesen Untersuchungskomplex ein. Das Studium dieser Arbeiten war zumindest für mein Untersuchungsziel die Interpretation eines durch Verhandlungen herbeigeführten Regimewechsels - von Vorteil, da es mich zur kritischen Analyse der politischen Bedeutung von Verhandlungen zwischen bewaffneten Akteuren anregte. Kurz gesagt fand ich es notwendig, auf die bereits dargelegten theoretischen Grundlagen zu verweisen, da sie mir ein theoretisches Fundament für die Untersuchung über Nicaragua boten. Ich glaube, daß das politische Argument zugunsten einer bestimmten parteiischen Haltung unzureichend ist. Es ist notwendig, theoretische Orientierungen oder Elemente zu suchen und anzuwenden, die auf anderen Untersuchungen beruhen, um eine entsprechende Ordnung der Ereignisse zu konstruieren, aus denen sich der spezifische Prozeß in Nicaragua zusammensetzt. Die solide Untermauerung der Anworten, die auf einen komplizierten Transformationsprozeß des Regimes gegeben werden müssen, ist wahrscheinlich die beste Unterstützung für jene, die der politischen Aktion verpflichtet sind. Der Fall Nicaragua weist eine komplizierte Mischung von externen und internen Faktoren auf. Diese wird nicht nur von den internationalen Problemen des Kalten Krieges und den interamerikanischen Beziehungen jener Jahrzehnte beeinflußt, sondern auch von der internen Wirtschaftslage, die wiederum nicht von den Konsequenzen der bewaffneten Auseinandersetzungen der gesellschaftlichen und politischen Kräfte im Kontext eines Bürgerkrieges zu trennen ist. Das erklärt, weshalb ich jene Komponenten aus dem einen oder anderen eingangs erwähnten theoretischen Gebäude herausgegriffen habe, die am meisten zur angewandten Forschung beitragen können. Letztendlich müssen wir uns im Hinblick auf Nicaragua mit einem Fall auseinandersetzen, der bisher weniger in lateinamerikanischen Untersuchungen thematisiert wurde: der durch Verhandlungen erzielte Sturz eines Regimes sowie der unsichere, aber legitime und vielversprechende Antritt einer neuen demokratischen Regierung.

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2.

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Der Verlauf des Regimewechsels in Nicaragua

In Nicaragua sind drei große Phasen des Regimewechsels analytisch zu unterscheiden: die erste (1987-1990) entspricht dem anfänglichen Zerfallsprozeß der sandinistischen Regierung und umfaßt die Krise des sandinistischen Regimes, die Verhandlungen mit den bewaffneten Gegnern und deren wichtigste Konsequenz, nämlich die Wahlniederlage von 1990. Die zweite Phase (1990-1995) beinhaltet den Antritt der neuen Regierung mit integrativem Charakter, der sich durch die Annahme einer Versöhnungsstrategie auszeichnet, die mit dem vorherigen Regime abgesprochen wurde, und die es ihr - nach Meinung der siegreichen Regierung von 1990 - ermöglichen sollte, die Desintegration des vorherigen Regimes in zwei Etappen zu einem Ende zu bringen: durch die Befriedung der bewaffneten Kräfte (19901994) und durch die Reform (1994-1995) zur Änderungen der Verfassung und Verfahrensweisen, um einen demokratischen und politischen Wettstreit bei den Wahlen des Jahres 1996 zu ermöglichen. Die dritte Phase (1994-1996), die gelegentlich mit der vorherigen aufgrund der einander zeitlich überlappenden Aufgabenbereiche verwechselt wird, steht für den Beginn einer demokratischen verfassungsmäßigen Ordnung: einerseits, da Verfahrensreformen und die 1995 verabschiedeten Verfassungsreformen durchgeführt werden und andererseits, da gleichzeitig neben Entwurf und Verabschiedung der Reformen ein intensiver und wichtiger Prozeß zur Wiederherstellung der politischen Kräfte abläuft. Dieser zeichnet sich durch das Auftreten authentischer politischer Parteien aus, die mit einer Führung, organisatorischen Stärke und doktrinären Kraft ausgestattet sind, die in der Geschichte wurzelt und durch die politische Aktion der Gegenwart erneuert wird. Dieser Prozeß ist äußerst wichtig, da die Verfahrensreform zwecklos wäre, würden nicht gleichzeitig die Kräfte gestärkt, die sich ihrer ab 1996 im Wettstreit um eine neue politische Ordnung bedienen können. Es ist daher von grundlegender Bedeutung, daß diese Reform gleichzeitig mit der Rückkehr der Politik bzw. der nationalen politischen Parteien durchgeführt wird. Diese beiden letzten Prozesse sind sehr wichtig, um ein Bild von der Zukunft Nicaraguas zu entwerfen, und dies nicht nur im streng wissenschaftlichen Bereich bei einer Analyse des politischen Systemwandels, sondern auch in

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bezug auf die politische Aktion. Je mehr die Entwicklung der Ereignisse eine größere Voraussagbarkeit und Transparenz der Spielregeln erkennen läßt (die die dritte Phase bilden), desto stärker wird die Versuchung, den gesamten Prozeß abzubrechen oder einzustellen. Es ist paradox, doch die Gefahr des Scheiterns nimmt in dem Maße zu, in dem der Prozeß klarer wird: Wenn der Prozeß - wie aus Meinungsumfragen über die Wahlen 1996 geschlossen werden kann - die Auflösung oder den vollständigen Zerfall des vorherigen Regimes durch den Wettstreit der Parteien und der neuen verfassungsmäßigen Verfahren klar erkennbar macht, so könnten seine Überlebenden, für die die Gewaltanwendung ein Dogma darstellt, sich versucht sehen, eine Unterbrechung dieses Prozesses herbeizuführen. Für die Hauptverlierer der Wahlen von 1996 kann die Option der Gewalt verlockend sein oder wie Amoldo Alemán, einer der herausragendsten nationalen politischen Führer und der Präsidentschaftskandidat, der laut Meinungsumfragen als Sieger aus den Wahlen 1996 hervorgehen wird, meint: "Seit 1990 erprobten die Sandinisten verschiedene Überlebensstrategien. Zuerst boten sie an, von unten und auf der Straße zu regieren, eine Strategie der Konfrontation mit dürftigen Ergebnissen, weshalb sie später, nach der Niederlage bei den Regionalwahlen 1994 an der Atlantikküste, die von dem Partido Liberal Constitucionalista (PLC) gewonnen wurden, auf eine zweite Option zurückgriffen. Sie spalteten sich in Orthodoxe und Erneuerer, um so die parlamentarischen Funktionen Pro-Regierungssektoren zu überlassen, die zu einer Teil-Verfassungsreform bereit waren, welche einige Institutionen und Parteiinteressen retten sollte, und die sich bei der Konfrontationsstrategie der ersten Option in einer schwierigen Lage befunden hatten. Der Triumph des Liberalismus bei diesen Wahlen zwang den Sandinismo zu einer Beschleunigung der Überlebensstrategien innerhalb der organisierten Systeme oder dem Organisationsprozeß seitens nicht-liberaler Gruppen. Der große Abstand zwischen der Spitzenposition der Liberalen und dem zweiten Platz der Sandinisten stellt sogar ihren zweiten Rang bei den Wahlen 1996 in Frage. Fast unmittelbar nachdem sie sich der Reformallianz im Parlament angeschlossen hatten und sich ihre Beziehungen zum Regierungssektor unter der Führung von Minister Antonio Lacayo zunutze machten, griffen sie zu einer dritten Option. Diese bestand darin, dem Proyecto Nacional unter der Führung von Antonio Lacayo - als antiliberales Gegengewicht - die Unterstützung ihrer Anhängerschaft zuzu-

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sichern. Diese Option der Unterstützung von PRONAL, die von Anfang an Schwächen und ernsthafte Führungsmängel zeigte, erwies sich bald für das Überleben des reformierten Sandinismo als wenig attraktiv und sicher. Die Sandinisten machten sich die Entscheidung des Vizepräsidenten der Republik, Dr. Virgilio Godoy, für das Präsidentenamt 1996 unter dem Banner seiner Partei, dem Partido Liberal Independiente zu kandidieren, zunutze und nahmen damit eine vierte Option in Angriff: den Wiederaufbau des alten Frente Patriótico, der sich aus mehreren Parteien zusammensetzte. An seine Spitze setzten sie einen Kandidaten mit liberaler Herkunft, der mehrere Jahre als Arbeitsminister direkt mit ihnen zusammengearbeitet hatte und der unter Chamorro zumindest formal als Vizepräsident der Republik amtiert hatte. Diese Option scheint das Überleben des Sandinismo zu gewährleisten, sollten die Sandinisten nicht den zweiten Platz im ersten Durchgang der Wahlen von 1996 erreichen. Gleichzeitig treffen die radikalsten Sandinisten Vorbereitungen für den Fall, daß diese Strategie nicht funktioniert. Damit nähern sie sich schon der fünften Option: gewaltsam in die für 1996 vorgesehenen Wahlen einzugreifen, sobald die Umfragen darauf hindeuten, daß sie auf ihre endgültige politische Niederlage zusteuern." Um ans Ende dieser dramatischen Einschätzung zu gelangen, die ich zur Gänze teile, müssen zuerst die drei wesentlichen Phasen beschrieben werden, die den Regimewechsel in Nicaragua kennzeichnen. Am Schluß stehen dann einige der vorherrschenden Sichtweisen der Entwicklung in Nicaragua. Ich werde für jede der drei Etappen des Regimewechsels in Nicaragua eine Erklärung anbieten, wobei die drei Phasen als Teil eines Gesamtprozesses zu sehen sind, ich jedoch die Methode der analytischen Trennung anwende, um Verwirrung in der Behandlung der einzelnen Komponenten zu vermeiden. Darüber hinaus gehe ich von der Annahme aus, daß es von größtem Interesse ist, das gegenwärtige und zukünftige Verständnis des Wandels der politischen Systeme in Lateinamerika anhand eines der aufsehenerregendsten Fälle der letzten Jahrzehnte zu erleichtern. Dabei gelangt man zu wichtigen theoretischen Erkenntnissen im Hinblick auf eine der weniger erforschten Varianten des Regimewechsels - die durch Verhandlungen herbeigeführte Entmachtung eines Regimes und die Errichtung eines neuen politischen Systems mit einer eindeutig demokratischen Orientierung.

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2.1.

Die erste Etappe: Die durch Verhandlungen herbeigeführte Entmachtung des Regimes. Von der Militärkrise zur Wahlniederlage

In demokratischen oder protodemokratischen Regimen dienen Verhandlungen zwischen politischen Gegnern der Legitimierung der amtierenden Regierung und haben im allgemeinen stabilisierende Reformen zum Ziel. Durch Verhandlungen können Regierungskrisen überwunden werden, und im Laufe der Zeit tragen sie zur Verhinderung des Auftretens neuer Krisen bei. Im Falle Nicaraguas weigerte sich das Sandinistenregime, sich entschlossen um eine frühe und effiziente Einigung mit den internen und externen Gegnern zu bemühen, und lehnte im weiteren hartnäckig jegliche Verhandlungen mit der Opposition ab. Als es schließlich dazu gezwungen wurde (was in diesem Fall nichts mit der Legitimierung des Regimes zu tun hatte), setzte es sich an den Verhandlungstisch, um die Bedingungen seiner Entmachtung festzulegen. Obwohl der Kalte Krieg und sein dramatischer Ausgang ab 1985 hierbei eine entscheidende Rolle zugunsten der Demokratie und auf Kosten des Übergangs zum Sozialismus spielen, ist es ziemlich klar, daß die internen politischen Vorgänge die offenkundige externe Verwundbarkeit des Regimes vergrößerten. Die Verhandlungen mündeten trotz der selbstgefälligen Rhetorik des Sctndinistno jener Jahre bald in einem politischen Liberalisierungsprozeß, durch den ein Regime instabil wurde, das sich für irreversibel und unbesiegbar gehalten hatte, bis es bei der Wahlauseinandersetzung, die Ergebnis der Verhandlungen war, unterlag. Weshalb führten die Verhandlungen mit den bewaffneten Widerstandskräften zum Sturz des Sandinismol Die Verhandlungen beinhalten die entscheidenden Elemente dieser Form des Regimewechsels. Daher können folgende sechs Konsequenzen der Verhandlungen für das sandinistische Regime namhaft gemacht werden: 1. Direkte Verhandlungen bedingen eine Gleichstellung der Widersacher. Damit werden die Akteure, die von einem Ungleichgewicht der realen Macht ausgingen bzw. dies zu erhalten suchen, geschwächt. 2. Der Verhandlungstisch stellt die Legitimität des Regimes in dem Maße in Frage, in dem einer der Verhandlungspartner, in diesem Fall die Sandini-

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sten, die Legitimität ausschließlich für sich selbst reklamiert. Am Verhandlungstisch auf nationalem Territorium wird die Legitimität unter den gleichberechtigten Verhandlungspartnern geteilt. Das Projekt Nation gehört nicht länger allein den Sandinisten. 3. Die Konsequenz für die Loyalität der Anhänger der Parteien. Der Verhandlungstisch frustriert die Anhänger des Krieges, am meisten jedoch jene, die glaubten, für immer der Idee abgeschworen zu haben, sich mit ihren Gegnern an einen Tisch zu setzen. Ernüchterung erfaßt all jene, die gelobten, ein dauerhaftes und siegreiches Regime zu verfechten. Die Verhandlungen führen bei den jungen Kämpfern zu einer Krise der Kultur der von der Revolution vorangetriebenen Gewalt. Gleichzeitig verdeutlichen die Verhandlungen die opportunistische Neuorientierung von Führern oder Gruppen, die strategisch in der Regierung oder innerhalb der bewaffneten Opposition positioniert sind und so in den Verhandlungen ein günstiges Ventil für ihre Machtbestrebungen finden. Die Spaltung zwischen "Harten" und "Weichen" tritt ein, wie es O'Donnell nennt. 4. Die Konsequenz für das Image der Führer. Sie steht mit der vorhergehenden in Zusammenhang, die Perspektive ist in diesem Fall jedoch eine andere. Sie bezieht sich auf die Wahrnehmung, die die jeweiligen Führer von sich selbst gegenüber der Bevölkerung haben. Außerdem präsentieren sich die Führer in einer völlig anderen Situation: "el enemigo ha llegado a casa" (der Feind ist im Haus). "No pasarán" (Sie kommen nicht durch), hieß es, obwohl sie schon drinnen waren. Die Menschen wissen es, sie nehmen sie wahr und erkennen sie schließlich. Dies führt zu einer strategischen Neuformierung der Parteianhänger jeder Orientierung. Die Schwachen am Verhandlungstisch scheinen auf der Straße stark und umgekehrt. Das Fernsehen stiftet schließlich noch größere Verwirrung zwischen den Anhängern, die sich uninformiert oder einfach enttäuscht fühlen, weil sie nicht wissen, was am Verhandlungstisch passiert. 5. Die Konsequenz für die nichtmilitanten Bürger. Die Bevölkerung ist der Toten müde. Die Toten, die sich das Wasser, das Licht, den Paß, den Bus für die Fahrt zur Arbeit, ja selbst die Arbeit mit ins Grab nahmen, hinterließen den überlebenden Verwandten nur das Gefühl, daß das Leben der Mühe wert ist. Die Toten werden nicht wiederkommen, das Wasser, das

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René Herrera Zúniga Licht, der Bus, die Arbeit, die sie mitgenommen hatten, aber schon. Die

Nachricht von den Verhandlungen wird von der Bevölkerung freudig aufgenommen, was für die Verhandlungen nicht entscheidend ist, aber ausschlaggebend sein wird, wenn die Stimmen einer freien Wahl gezählt werden. 6. Die Konsequenz für den politischen Diskurs. Wem fällt das Verdienst des Friedens zu? Wem fällt das Verdienst der Demokratie zu? Von wem stammt das Demokratisierungsprojekt, das Gegenstand der Verhandlungen ist? Die Sandinisten sagen, daß sie den Frieden wollen, was sie jedoch wirklich wollen, ist das Überleben ihres Regimes. Ihre Gegner wollen die Demokratisierung, um den wahren Frieden zu erzielen. Die Verhandlungen führen zu einem Wandel der politischen Identitäten, in dem Sinne, daß die Stärke - Verhandlungsgegenstand in der sandinistischen Strategie - durch politischen Einfluß - Verhandlungsgegenstand in der Strategie der bewaffneten Opposition - ersetzt wird. Die Sandinisten pochten auf ihre Macht, ihre Gegner stärkten ihren politischen Einfluß während des Demokratisierungsprozesses. Diese sechs Konsequenzen verdeutlichen, wie durch Verhandlungen der Sturz des Regimes zustande kam, der in den Wahlen 1990 bestätigt wurde. "Der Krieg ist verloren", sagten manche Sandinisten. Das Problem war jedoch, daß der Krieg das einzige war, was den Sandinisten als Inspiration für ihre totalitäre Kontrolle über die Gesellschaft und Wirtschaft diente. Ein Ideologe des Sandinismo, Anhänger der Internationale, sagte: "Der Krieg ist, wenn man so will, das besondere Licht, das auf den ganzen Übergangsprozeß zum Sozialismus in den kleinen Ländern an der Peripherie scheint ... Der Krieg dient uns als Tor zum Verständnis des jungen Sozialismus an der Peripherie ... Die frühe Militarisierung der Gesellschaft wird zu einem unerläßlichen Requisit jedes Übergangs zum Sozialismus im 20. Jahrhundert." 3 Die Verhandlungen löschten dieses besondere Licht und verwandelten das Tor in einen Grabdeckel.

3

Peter Marchetti, in: Corragio/Derre 1986, S. 101.

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Die Bestrafung kam am Wahltag, dem Tag der Wiedererstehung der bürgerlichen Gesellschaft in Nicaragua.

2.2. Die zweite Etappe: Der Antritt der neuen Regierung und die Versöhnungsstrategie. Die Maßnahmen zur Wiederherstellung des Friedens und die Verfassungsreform Die Wahlniederlage des Sandinismo eröffnet die zweite Etappe im Prozeß des Regimewechsels. Es ist eine schwierige Phase, die das Drama zweier Welten widerspiegelt: die Angst der Sandinisten im Hinblick auf ihre nahe Zukunft und die Angst der siegreichen Opposition wegen der Ungewißheit, ob ihr Sieg auch respektiert wird. Aber so ist die Geschichte, manchmal spielt sie denen, die sie nicht verstehen, einen bösen Streich. Die Sandinisten bekämpften ihre Angst, indem sie das neue Regime in Fesseln legten und an jedem Haus Schlösser anbrachten. Und vor jede Tür und jedes Fenster stellten sie ständige Wachen, die die Schlösser bewachten. Da sie die Wahlen verloren hatten, hielten sie sich an die Regierung. Sie wurden zu einem Teil der Regierung. Die Regierung wählte den Weg der Versöhnung, akzeptierte die sandinistische Bewachung und distanzierte sich von jenen, die ihr zum Wahlsieg verholfen hatten. Die gewählte Opposition wurde jedoch nicht Teil der Regierung. Dies ist eine Ironie des Schicksals, denn diese Situation bewahrte die Opposition vor einem Desaster. Heute - Ende 1995 - würde diese Opposition nicht existieren, sie wäre ebenso ausgebrannt wie die Regierung, und ihre Oppositionsrolle hätte sich der Sandinismo angeeignet, der heute wieder als Wortführer gegen die Fehler der Regierung ein leichtes Spiel hätte. Wir werden später nochmals auf diesen Punkt zu sprechen kommen, der jetzt der wichtigste für all jene ist, die versuchen, sich die Zukunft Nicaraguas vorzustellen. Inzwischen wenden wir uns kurz den zwei Komponenten zu, die die Strategie zur Bildung der neuen Regierung verkörpern: die Etappe der Wiederherstellung des Friedens und die Etappe der Verfassungsreformen. Auf dem Kurs einer Versöhnung ohne Gerechtigkeit bezeichnete sich die Regierung selbst als eine Fortsetzung des vorherigen Regimes und ordnete

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sich auf Weisung der Sandinisten als Regierung der Sandinisten oder Dissidenten des Sandinismo ein. Sie wählte die bequeme Position der Nichtkonfrontation und setzte damit ihren Anspruch auf einen Regimewechsel herab oder gab diesen einfach auf. Zögernd, unterwürfig und langsam in ihren Reformbestrebungen befaßte sich die 1990 angetretene Regierung mit den unmittelbaren Problemen der Wiederherstellung des Friedens im Land. Zum zentralen Thema machte sie seine Befriedung, die sie als den Übergang zum Frieden und der Demokratie bezeichnete. Theoretisch zielte diese Strategie eher darauf ab, den Beteiligten des Bürgerkrieges eine Überlebensgarantie zu geben, als wirklich ein neues politisches System zu definieren. Es ist ein erster Schritt, der eher ein Überlebenspakt der Bewaffneten in einem neuen Szenario des Friedens zu sein scheint als ein Pakt für die Demokratie. Darin besteht in erster Linie die Befriedungspolitik, die sich wahrscheinlich erst am Ende in die Grundlage für einen Demokratisierungsprozeß verwandeln wird. Die Theorie funktioniert nicht immer, und ihre Etappen und Requisiten zeigen die Tendenz, sich je nach den Umständen aufzulösen. Die Befriedungspolitik, die sich im Rahmen einer vorsichtigen Regierung vollzog, wurde zu einem einfachen Prozeß der Entwaffnung der Widerstandskräfte im Austausch gegen Versprechen von Land, Geldangebote an die Führer und unendliche Listen mit Projekten für deren Wiedereingliederung in das bürgerliche Leben, die nie Realität wurden. Für die sandinistische Armee bedeutete sie jedoch die Bestätigung als einzige bewaffnete Kraft mit finanziellen Vorrechten in bezug auf Produktion und autonome Ausgaben. Und sie bedeutete bestenfalls die Festlegung neuer Beziehungen zwischen Zivilbevölkerung und Militär, dessen Übergewicht über die bürgerliche Ordnung in der Zukunft reduziert werden sollte. Mit dem Versprechen einer institutionellen Professionalisierung, das rhetorisch wirksam war, verzichtete man darauf, ihrer Rolle im nationalen politischen Leben wirksame Grenzen zu setzen. Die Regierung besteht darauf, daß sie im Rahmen der Möglichkeiten bei ihrer Machtübernahme eine angemessene Befriedung erzielte. Die offizielle Statistik zur Bewertung der Regierungstätigkeit auf diesem Gebiet scheint zufriedenstellend.

Statistisch

zufriedenstellend:

zweiundzwanzigtausend

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entwaffneten Soldaten der Contras und hunderttausend Familienangehörigen wurde formell die Legalität zuerkannt, die geschätzten Kosten der Demobilisierung lagen bei 2.000 Dollar pro Kopf, was im Vergleich mit einem ProKopf-Einkommen von 350 Dollar einen bemerkenswerten Betrag darstellt. Ebenfalls bemerkenswert ist die Liste der Widerstandskämpfer, die von den Sandinisten ermordet wurden, nachdem sie ihre Demobilisierung akzeptiert hatten. Für 1992 gab die Regierung an, unter den entwaffneten Kämpfern insgesamt eine halbe Million Grundstücke verteilt zu haben, was ihren Angaben zufolge ungefähr 1 6 % des nationalen Territoriums von El Salvador entspricht. Sie sagte nicht, daß dieses Land Eigentümer hatte oder von der gegnerischen Partei besetzt war oder nur auf den Landkarten existierte, die auf den Schreibtischen der Hauptstadt lagen. Zur Stützung ihres statistischen Arguments erklärt die Regierung, daß sie die sandinistische Armee derart reduzierte, daß Nicaragua nunmehr das Land mit dem kleinsten Heer in Mittelamerika sei. Darüber hinaus meinte im März 1993 Minister Antonio Lacayo, daß die Armee keine Partei und auch nicht der Anhang irgendeiner politischen Partei sei. Kurz gesagt eine Erfolgsgeschichte der Ziffern und Rhetorik. Während in Wirklichkeit Gewalt, Morde und die fehlende Ordnung bei der Nutzung und Aneignung von Land auf einen Staat ohne Frieden schließen ließen. Es muß bedacht werden, daß die Version der Regierung zwar die Realität nicht ersetzen, sie aber doch beeinflussen konnte. Und dies erweist sich außerhalb der Regierung für das Betreiben einer gegen die Regierung und den

Sandinismo

gerichteten Oppositionspolitik als nützlich. Durch diese Politik wird weiterhin Druck auf die grundlegenden Aspekte ausgeübt, die das Überleben des Sandinismo

nährten: das Problem des Eigentums, die Justiz und die Bezie-

hungen zwischen Militär und Zivilbevölkerung. Dieses Phänomen führte dazu, daß die Haltung der Regierung den Aufbau eines kritischen Gegendiskurses erleichterte, eine Aufgabe, die für eine Opposition, die keine Loyalitätsverpflichtungen gegenüber dem Regime hatte, nicht schwierig war. Während die echte Opposition sich stärkte, reagierte die Regierung auf ihren Druck, indem sie sich in einer Allianz mit den Sandinisten und anderen kleinen Parteien koordinierte, die ihr ihre Unterstützung für die Co-Regierung anboten. Mit diesen Parteien und einer Gruppe von Abgeordneten, deren

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Unterstützung mittels zweifelhafter Vorgangsweisen erlangt wurde, konnte die Durchführung der mit der Verfassungsreform im Zusammenhang stehenden Maßnahmen hinausgezögert werden. Nach einer ausgedehnten Phase des Stillstands begann die Nationalversammlung 1994, im Bemühen um einen Konsens über verschiedene Schlüsselthemen zur Verwirklichung der Reformen der Institutionen eine wichtigere Rolle zu spielen. Die Unfähigkeit der Exekutive, sich für die Reformen des Staates Unterstützung seitens der Bevölkerung zu sichern, führte zu einer internen Reorganisation der Nationalversammlung. Diesmal wurden die Christdemokraten in die Allianz mit den Sandinisten und der Gruppe von Abgeordneten, die der Exekutive nahestanden, aufgenommen. Der Kampf um die Verfassungsreform wirkte sich auf verschiedene Kreise der einen oder anderen Partei im politischen Spektrum des Landes 1994 und 1995 traumatisch aus, letztlich konnten die Ziele jedoch durchgesetzt werden. Wie dies meistens bei einem Regimewechsel der Fall ist, war die Reform zwar unvollständig, nach ihrer Verabschiedung wurden jedoch Fortschritte zur Verwirklichung grundlegender Verfahrensreformen erzielt. Diese Verfahrensreformen, insbesondere was die Wahlreform betrifft, werden weiter vorangetrieben. Während die Demokratie Regeln zur Vermittlung von Interessenskonflikten bot, stellte der Kampf um die Verfassungsreformen einen demokratischen Vorstoß dar. Dies führte zu einem Sprachgebrauch, der den allgemeinen Interessen der bürgerlichen Gesellschaft mehr entspricht und machte die Entwicklung eines bürgerlichen Wertesystems möglich. Die Politik wurde im Land wieder zur Achse einer zentralen Diskussion über die Regierungsform und die legale Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft. Von größter Bedeutung war jedoch, daß die Politik eines der komplexesten Themen auf lokaler Ebene aufgriff: das Problem der Amtsnachfolge. Das Thema der Demokratie nahm im Bewußtsein der bürgerlichen Kreise während des Kampfes um die Verfassungsreformen eine wichtigere Stellung ein. Die Auflösung des Monopols einer Partei oder Familie ebnete den Weg für die Festlegung von Verfahrensweisen zur Amtsnachfolge, Ausübung der Autorität und politischen Kompetenz zwischen Parteien und/oder organisier-

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ten Bürgern, was zweifellos zu einem wettbewerbsorientierteren Wahlkampf 1996 führen wird. Die ablehnende Haltung der Regierung gegenüber den Reformen bewirkte schließlich eine positive Einstellung gegenüber den Reformen und führte auch dazu, daß die politischen Parteien gegenüber den Bürgern die Rolle einnahmen, die ihnen im praktischen Umgang mit der neuen Demokratie in Nicaragua zukommt.

2.3. Die dritte Etappe: Die Neuformierung der politischen Kräfte und die Wiederkehr der Parteien Die Zusammenarbeit der Regierung in einer praktischen Co-Regierung mit dem Sandinismo erleichterte die Aufgabe des Wiederaufbaus der Oppositionsparteien, das Auftreten neuer Führungspersönlichkeiten innerhalb derselben und nährte die Hoffnung, daß diese Persönlichkeiten wirklich Änderungen im Land bewirken könnten, falls sie eines Tages an die Regierung kämen. Die anfängliche Co-Regierung und die späteren Allianzen innerhalb der Nationalversammlung brachten die Regierung in eine schwache Position gegenüber dem Bürgertum. Ohne dies anzustreben, erreichte sie jedoch ein wichtiges Ziel des Regimewechsels: die Erleichterung des Wiederaufbaus eines demokratiefreundlichen politischen Systems, ohne daß die Parteien sich in den Sumpf der Regierungsmacht begaben. Gleichzeitig wie dem Sandinismo, der eigene Interessen vertrat, wurde ihnen der Vorteil versagt, in der Opposition zu sein. Wenn die Regierung von Violeta Chamorro ein Ergebnis hat, so ist dies das dramatischste. Andererseits ist aber von ebenso großer Bedeutung, daß die Regierung die kleinen Parteien oder die Persönlichkeiten enttäuschte, die diese Parteien in der Opposition zum Sandinismo anführten, da sie sie nicht bei der Vergabe von Mitteln berücksichtigte und so die Neuformierung der politischen Kräfte im Sinne des Aufbaus nationaler Parteien gefordert hätte. Der Liberalismus, der Konservatismus und selbst die Christdemokratie verzeichneten während des Sandinismo eine starke Splitterung. Dies geschah in einer so extremen Form, daß viele dieser Fraktionen bloß winzige Gruppen mit einem Führer

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an der Spitze waren, die von sandinistischer Seite gefordert wurden, um sie gegen die nationalen Führer aufzubringen. Was die Sandinisten als ausgeprägten Parteienpluralismus darstellten, war bloß eine erfolgreiche Kampagne zur Teilung der Opposition. Viele dieser kleinen Gruppen erreichten es, als Parteien eingetragen zu werden. Unter der Schirmherrschaft der UNO bei den Wahlen 1990 gewannen einige Sitze in der Nationalversammlung und wurden vom Volk in Gemeindeämter gewählt, nur um sich später von der UNO zu distanzieren und weiter die Rolle der opportunistischen Verbündeten des Sandinismo und der Regierung zu spielen. Andere Gruppierungen insbesondere jene, die sich von wirklichen nationalen Parteien ableiteten machten sich auf den schwierigen Weg der Rückkehr zu ihren Parteien. Das Streben nach Einheit im Liberalismus und Konservatismus legt hiervon ein Zeugnis ab. In diesem Sinne begünstigte schließlich die Kritik gegenüber der Haltung der Regierung das Auftreten von verantwortungsbewußteren politischen Führungspersönlichkeiten, die einer sich verraten fühlenden Bevölkerung glaubwürdig schienen. Regierung und Sandinismo,

die gemeinsam

Gegenstand der gerechten Kritik der neuen Opposition waren, wurden so zu einer leichten Zielscheibe, die eine neue Generation politischer Führer, die Reorganisation der traditionellen Parteien und deren Vorbereitung für die Wahlen 1996 begünstigte. Diese Wahlen werden zeigen, welche Parteien auf dem Weg der Bildung einer demokratischen Regierung vorankommen. Unabhängig davon, ob die Haltung der Regierung absichtlich oder einfach zufällig war, können zwei konkrete Resultate beobachtet werden: Das erste Ergebnis bezieht sich auf die Wiederherstellung des Friedens im Land, was auch die Entwaffnung der Widerstandskräfte und gleichzeitige Reduzierung der sandinistischen Volksarmee miteinschließt; das zweite Ergebnis entspricht dem Umstand, daß sobald die Parteien und Bewegungen, die den Wahlsieg 1990 davon getragen hatten, zur Opposition wurden, sie ihre Legitimität in der Oppositionsrolle durch den Widerstand gegen Sandinismo und Regierung erhöhen könnten. Dadurch war es ihnen möglich, ihren Einfluß auf die Bevölkerung zur Verwirklichung von demokratiefreundlichen Reformen geltend zu machen. Von größter Bedeutung ist jedoch, daß die politischen Parteien Fragen der Parteienidentität lösten, die sich unter dem Sandinismo gestellt hatten.

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Aber wie schon gesagt, die Geschichte spielt jenen einen bösen Streich, die sich gegen sie stellen. Das Spiel mit der Co-Regierung löste nur vorübergehend einige Ängste des Sandinismo:

das Überleben einiger Institutionen,

deren Bedeutung sich kontinuierlich verminderte, und den ungewissen Ausgang der großen Verlosung, die sie mit öffentlichem und privatem Eigentum veranstaltet hatten, bevor sie sich aus der Regierung zurückzogen. Letztendlich blieben sie mit den Sicherheitsschlössern zurück, nur um festzustellen, daß das Haus nicht mehr da war. Das Land mußte in diesen Jahren zur Kenntnis nehmen, daß seine 1990 bekundete demokratische Überzeugung verraten wurde und daß es sich lohnte, diese weiter auszubauen, indem es seine Unterstützung einer verantwortungsbewußteren Führung zukommen ließ. Aufgrund der Neuformierung der nationalen politischen Parteien fand die Bevölkerung eine neue Führung, die ihre Stimmung und Wünsche nach einer politischen Wende richtig zu interpretieren verstand. Dies war eine Wende ohne Gewalt, jedoch mit einer Definition und Einheit der Ziele. Die Wiedererstehung der nationalen Parteien, wie im Falle der Liberalen Partei und sicherlich auch der konservativen Partei in den nächsten Monaten, stellt einen klaren und erfolgreichen Gegenzug zum Scheitern der sandinistischen Strategie dar. Die Koalition der aus den Wahlen siegreich hervorgegangenen Parteien konnte außerhalb der Regierung wichtige Fragen der Parteienidentität lösen. Manche Parteien bewiesen, daß sie über die für einen Wiederaufbau notwendigen Fundamente verfügten, andere konnten die schmählichen Bündnisse mit dem Sandinismo oder die "Dollarspritzen" seitens der Regierung kaum überleben. Die Lösung von Fragen der Parteienidentität findet sich, um ein Beispiel zu geben, in den Regionalwahlen an der Atlantikküste im Februar 1994, als der Partido Liberal Constitucionalista

im Alleingang und ohne Unterstützung

der UNO die Wahlen vor den Sandinisten und anderen Parteien gewann. Der Sandinismo

hatte damit argumentiert, daß die Niederlage 1990 darauf zu-

rückzuführen war, daß alle anderen gegen ihn angetreten waren - er im einzelnen genommen aber die stärkste Partei stellte. Dieses Argument büßte seine Gültigkeit ein, als es einer Partei, dem Partido Liberal

Consitucionalis-

ta, ohne Allianz oder Koalition mit anderen Parteien gelang, die Sandinisten an der Atlantikküste zum Fall zu bringen. Viele könnten dieses Argument

René Herrera Zúniga

300

anzweifeln, da die nicaraguanische Atlantikküste wenig bevölkert und in kultureller Hinsicht kaum mit der bevölkerten und reichen Pazifikregion vergleichbar ist. Aber es war offensichtlich, daß eine solche Wahl die einzige in der gesamten Regierungsperiode der Violeta Chamorro sein würde und daher den Sandinisten die beste Gelegenheit bot, auf eine Politik der Wiedererlangung ihres Images der Macht zu setzen. Und sie verloren. Die wirtschaftliche Katastrophe und die dramatische Lage auf dem Arbeitsmarkt, dem Bildungs- und dem Gesundheitssektor der letzten 17 Jahre führten den Nicaraguanern deutlich den nicht zu leugnenden Kontrast zum Lebensstandard der Vergangenheit vor Augen; die schmählichen Bündnisse, der Kauf und Verkauf von Parlamentariern für ein schmutziges Spiel und die täglich praktizierte Straffreiheit riefen den Widerwillen der Bevölkerung gegen jene Personen und Parteien hervor, die sich an diesem Spiel beteiligt hatten.

Zitierte Literatur

Konrád, Gyorgy 1991: Melancolía de la resurrección, in: Nexos 162, México. Herrera Zúniga, René 1994: Nicaragua. El derrumbre negociado. Los avatares de un cambio de régimen, México. Coraggio, José Luis/Deere, Carmen Diana (Hg.) 1986: La transición difícil, México.

301

II. Paraguay

Carlota Jackisch Der Fall Paraguay im Kontext des politischen Systemwandels in Lateinamerika*

Wer sich zum ersten Mal mit der politischen Entwicklung Paraguays beschäftigt, sieht sich mit der Präsenz eines starken, zivil-militärischen Paktes konfrontiert, der seit Jahrzehnten existiert und erst in den letzten Jahren Risse bekommen hat. Die paraguayischen Streitkräfte traten als zentraler Machtfaktor erstmals mit der Erklärung vom 17. Februar 1936 auf den Plan. Der Bürgerkrieg von 1947 führte dann zu ihrer Politisierung und Fraktionierung. Im August desselben Jahres errangen die Regierungstruppen mit Unterstützung der Bauernmilizen, den Py Nandi, den militärischen Sieg über die Rebellen. In der Folge verabschiedeten sich Anführer und Offiziere der revolutionären Kräfte aus der Armee, während sich Verbände aus Reserveoffizieren, Anhängern und Sympathisanten in der Colorado-Partei neu formierten. 1 Nach Ende des Bürgerkriegs blieben die Colorados an der Macht. Fast 80 % des aufständischen Offizierskorps waren desertiert. Damit ging die Befehlsgewalt restlos in die Hand von Colorado-Militärs über. Die Dominanz von Colorado-Sympathisanten war aber nicht nur der gemeinsame Nenner des neuen Heeres. Die Partei kontrollierte auch alle wichtigen Regierungsposten. 2 Dieser Prozeß verschärfte sich noch mit der Machtübernahme General Stroessners am 4. Mai 1954. Eine seiner ersten Verordnungen zwang die Armeeangehörigen zum Eintritt in die Colorado-Partei. 3 Damit gelang es

*

Aus dem Spanischen übersetzt von Guillermo Atlas.

1

Yori 1992. Zitiert bei: Lezcano/Martini 1994, S. 41.

2

Lewis 1986, S. 79.

3

Lezcano/Martini 1994, S. 41.

302

Carlota Jackisch

dem General, eine außergewöhnliche Machtfulle auf sich zu vereinen. Als Präsident der Republik, Oberbefehlshaber des Heeres und Ehrenvorsitzender der Colorado-Partei hatte er sich das Land in Gänze unterworfen. Lewis bemerkt dazu: "Im Unterschied zu seinen Vorgängern wußte Stroessner Heer und Partei als Fundament seiner Macht seiner persönlichen Kontrolle zu unterstellen. Am Anfang fand er keine große Unterstützung durch die Partei und konnte, obwohl er Oberbefehlshaber des Heeres war, auf die Loyalität der unter seinem Befehl stehenden Offiziere nicht vertrauen. So befand sich Stroessner zu Beginn in einer relativ isolierten Lage, in der er nur auf einige wenige loyale Militärs zählen konnte. Später gelang es ihm jedoch, durch eine Reihe von geschickten und undurchschaubaren Manövern sowohl das Heer als auch die Partei auf seine Seite zu bringen."4 Nachdem Stroessner die Armee unter Kontrolle gebracht hatte, konnte er mit ihrer Hilfe nach und nach auch die Colorado-Partei, den Staatsapparat, das politische System und große Teile der Zivilbevölkerung unterwerfen.5 Es kam so weit, daß man der Regierungspartei beitreten mußte, um Offizier der Streitkräfte oder Angestellter im öffentlichen Dienst zu werden oder staatliche Aufträge zu erhalten. So verwischte die institutionelle Trennung zwischen so verschiedenen Bereichen wie Regierung, Parteien und Militär vollständig. Diese Symbiose wiederum führte dazu, daß die Colorado-Partei zu einer Massenpartei wurde, die keinerlei Autonomie besaß. In der Triade ParteiRegierung-Armee lagen die wichtigen Entscheidungen viel eher bei der Militärfuhrung und der allgegenwärtigen Figur General Stroessners als in Händen der Colorado-Partei. Das bedeutet aber nicht, daß der Coloradismo nicht auch wichtige Funktionen gehabt hätte; wenige von ihnen allerdings entsprachen dem, was man einer modernen Massenpartei zuschreiben würde. So war eine der wichtigen strategischen Aufgaben der Partei die politische Unterstützung des Stroessner-Regimes durch die Verteilung von Pfründen, Posten und Privilegien aus

4 5

Lewis 1986, S. 142. Rivarola 1991, S. 76 f.

II. Paraguay

303

staatlichen Mitteln, die man ihnen zu diesem Zweck zur Verfügung stellte. Diese Unterstützungsarbeit verlangte eine ausgeklügelte Parteistruktur. Die Colorado-Partei bedeckte mit 254 Ortsgruppen, die wiederum von Hunderten von Untergruppen unterstützt werden, das ganze Land. In groben Zügen läßt sich die Zuständigkeit dieser Ortsgruppen in zwei Funktionsbereiche einteilen: 1. Sie erfüllten eine politische Funktion, wie das normalerweise bei jeder größeren Partei der Fall ist - die Werbung und Registrierung von Mitgliedern. Dieser Handlungsrahmen wurde von der Partei häufig überschritten, indem sie die Bevölkerung in ihrem Gebiet beobachtete und kontrollierte. 2. Sie erfüllten aber auch Hilfsaufgaben, indem sie mit ihrer starken Präsenz in den städtischen Wohngebieten und auf dem Lande oft die lokalen Gemeindeverwaltungen ersetzten. Sie fungierten als Arbeitsbörse, die ihren Mitgliedern Anstellung in öffentlichen Institutionen verschaffte. Dazu vermittelten sie ärztliche oder zahnärztliche Behandlung und bezahlten Beerdigungen - kurz gesagt, sie betrieben populistischen Klientelismus in Reinkultur. Diejenigen, in deren Händen die Verteilung dieser Mittel lag, wurden, ohne ihren eigenen Besitz anzutasten, zu Lokalfürsten, die innerhalb ihres Einflußbereiches Begünstigungen gegen Gehorsam eintauschten. Die Orts- und Untergruppenführer der Colorado-Partei spielten ihre Rolle jedoch niemals losgelöst von den Erwartungen und den Bedürfnissen der Parteibasis. Im Dialog mit den Parteiautoritäten waren sie eine Art Sprachrohr und Sachverwalter der Interessen der Mitgliederschaft. Der eiserne Gehorsam gegenüber der Zentralgewalt führte dazu, daß es unter der Herrschaft des Stroessner-Regimes üblich war, Einheitskandidatenlisten aufzustellen, die durch Akklamation ernannt und vom Regime als Beweis der "granitenen Einheit" der Partei herumgezeigt wurden. Aber auch die Parteiführung handelte nicht unabhängig. Die Regierungsjunta diente als Transmissionsriemen der Erlasse des Caudillos: "Dieser hat sie durch ein kompliziertes Geflecht von persönlichen Verpflichtungen, Pfründen und Privilegien

6

Arditi 1993, S. 164 f.

304

Carlota Jackisch

zu domestizieren gewußt. Aber er hat sich auch ihren Opportunismus zunutze gemacht, indem er Konflikte mit Dissidenten geschickt mit regelmäßigen Säuberungsaktionen kombinierte und die Zwistigkeiten zwischen Parteiführern und internen Fraktionen in seinem Sinne instrumentalisierte." 7 Damit spielte die Colorado-Partei unter Stroessners Herrschaft und paradoxerweise auch bei seinem Sturz, wie noch zu zeigen ist, eine wichtige Rolle. Überhaupt ist die herausragende Rolle der Parteien ein Charakteristikum des politischen Prozesses in Paraguay. Trotz der politischen Instabilität, die das Land seit dem Ende des letzten Jahrhunderts prägte, haben die politischen Parteien, insbesondere die Liberalen und die Asociación Nacional

Republi-

cana,, wie die Colorados offiziell heißen, ihr Gewicht in der paraguayischen Gesellschaft nicht verloren. Ein Hinweis darauf ist zweifellos die entscheidende Rolle, die die Colorado-Partei bei der Machtübernahme durch das von General Stroessner angeführte Regime gespielt hat. Desgleichen war es auch eine innere Auseinandersetzung der Partei, die schließlich - zusammen mit anderen Faktoren - zum Sturz des Generals führte. Obwohl das Stroessner-Regime - wie jedes autoritäre Regime - alles tat, um jedwede Form von Pluralismus und politischer Freiheit auszuradieren, verloren auf der anderen Seite weder die regierende Colorado-Partei noch die liberale Hauptfraktion der Opposition jene Züge, die sie als historische Parteien herausgebildet hatten. Für große Teile der paraguayischen Bevölkerung, die sich weiterhin als Colorados oder als Liberale bezeichneten, blieben sie die politische Heimat. Folglich haben die politischen Parteien, sei es in der Regierung oder in der Opposition, eine bedeutende Rolle sowohl bei der Errichtung des autoritären Regimes als auch beim Aufbau eines konstitutionell verankerten Mehrparteiensystems gespielt. Paradoxerweise führte das Stroessner-Regime den Entpolitisierungsprozeß in der Gesellschaft durch, ohne die politischen Parteien dauerhaft und formell zu verbieten. Es war eine Kombination aus hegemonialem Machtanspruch, 'Kooptation' und Repression, die auf das politische Szenario hinauslief, das sich ab 1962 abzeichnete. Dabei fungierte eine Abspaltung des ehemaligen Partido 7

Liberal

Ebda., S. 166.

als parlamentarische Opposition. Nach Meinung einiger

305

II. Paraguay

Autoren diente diese als demokratische Fassade, während die übrigen politischen Kräfte demontiert, ihre Führer verfolgt und ihre Organisationen verboten wurden. 8 Neben der Colorado-Partei ist die andere historische Partei in Paraguay der Partido Liberal Radical Autentico, der aus der 1887 gegründeten Liberalen Partei hervorging. Diese war zwischen 1904 und 1936 und von 1937 bis 1940 Regierungspartei. Zwischen 1942 und 1946 wurde sie verboten, und es begann eine Zeit der Öffnung, die im Drama des Bürgerkrieges von 1947 endete. 1954 schließlich fand der Militärputsch General Stroessners statt, der die zivil-militärischen Beziehungen neu regelte und die Colorado-Partei der Militärmacht unterordnete. Einige Jahre später, 1962, leitete Stroessner eine scheinbare demokratische Öffnung ein. Als oppositionelles Gegengewicht gegen die Allmacht der Colorado-Partei erkor der General die Liberalen und die Febrerista-Partei. Im selben Jahr spaltete sich die Liberale Partei. Ein Flügel akzeptierte Stroessners Angebot und nannte sich Liberale Partei. Vier Jahre später willigte auch der Rest unter der Bezeichnung Partido Liberal Radical ein. Letztere nahm bis 1977 an der politischen Entwicklung teil und spaltete sich danach noch einmal. Der aus dieser Spaltung hervorgegangene Partido Liberal Radical Autentico proklamierte am Ende einen Wahlboykott und weigerte sich damit, das Regime länger zu legitimieren. PLRA, Christdemokraten und der Partido Revolucionario

Febrerista (PRF)

bildeten zusammen den Acuerdo Nacional, eine aus mehreren Parteien bestehende Oppositionsgruppe gegen die Stroessner-Regierung. 1969 tauchte von unerwarteter Seite eine neue und starke oppositionelle Kraft gegen Stroessner auf - die Katholische Kirche. Damit geriet das Regime angesichts der tiefen Verwurzelung der Religion in der paraguayischen Gesellschaft in eine prekäre Lage, die sich bereits Mitte der sechziger Jahre angekündigt hatte, "als sich die paraguayische Kirche einem modernen Kirchenmodell zuwandte, um die Kirche der modernen, säkularisierten Welt zu

8

Laterza 1991, S. 168.

Carlota Jackisch

306

öffnen und damit die gesellschaftliche Entwicklung voranzubringen." 9 Vor allem auf dem Lande widmeten sich viele Geistliche dieser Aufgabe. Sie halfen beim Aufbau eines Netzes von bäuerlichen Gemeinschaften - den sogenannten Ligas Agrarias

Campesinas.

Diese Initiative weitete sich zu

"einer der wichtigsten bäuerlichen Bewegungen der paraguayischen Sozialgeschichte" aus. 10 Nach Repressalien und Verfolgung durch das Regime ließ die Kirche im Lauf der siebziger Jahre von ihrem harten Konfrontationskurs ab. Gleichwohl läßt sich aus verschiedenen Dokumenten dieser Zeit, in denen die staatliche Korruption und die Repression angegriffen werden, eine ernsthafte Regimekritik herauslesen.' 1 Mitte der achtziger Jahre nahm in Paraguay die oppositionelle Auseinandersetzung mit dem Regime zu. Dabei spielte ohne Zweifel die wirtschaftliche Rezession dieser Jahre eine wichtige Rolle, aber auch innerhalb der Regierungsfraktion selbst verschärften sich die Konflikte. Und auch die Zivilbevölkerung gab trotz der Repressionen ihrem Unmut immer mehr Ausdruck. Vor allem ab 1986 erreichte die Kritik am Stroessner-Regime nie gekannte Ausmaße. Doch war es nicht etwa die politische Opposition, die sich damals als Antipode des Regimes entpuppte, sondern vielmehr die Katholische Kirche, die als stärkste gesellschaftliche Institution Mittel und Wege fand, Alternativen zu entwickeln und das Regime herauszufordern. Eingebettet in ein Klima zunehmender Agitation, in dem vor allem eine politische Liberalisierung gefordert wurde, riefen die Bischöfe 1986 zum 'Nationalen Dialog' auf. In diesem Vorschlag bündelten sich bekannte kirchliche Initiativen und Forderungen des erwähnten Acuerdo Nacional. Ein solcher Dialog wurde indes von der Colorado-Parteiführung und anderen vermittelnden Organen abgelehnt. Der Aufruf zum 'Nationalen Dialog' verurteilte in scharfer Form das Regime und spiegelte damit die wachsende Unzufriedenheit der Dissidentenkreise wider. Er beweist, in welchem Maße die Kirche zur Opposition bereit war:

9 10 11

Carter 1993, S. 108. Ebda. Ebda., S. 111-112.

II. Paraguay

307

"Solange General Stroessner an der Macht ist, kann es keine wahrhaft demokratische Regierung geben. Seine Entfernung von der Präsidentschaft ist die Grundbedingung für den Übergang zur Demokratie: Stroessner, das von ihm etablierte System und die Demokratie schließen einander in Paraguay aus." 12 Der 'Nationale Dialog' war eine kluge Aktion der Kirche. Denn obwohl ihm in der Praxis nur ein bescheidener Erfolg vergönnt war, schuf er doch im entscheidenden Moment einen Rahmen für die politische Auseinandersetzung. Er stärkte den Konsens und die Entwicklung einer öffenlichen Diskussion über einen demokratischen Übergang.

Der Fall Stroessners Am 3. Februar 1989 macht ein Militärputsch dem Stroessner-Regime, das fast 35 Jahre an der Macht gewesen war, ein Ende. Natürlich hatte der Sturz des greisen Generals verschiedene Gründe, doch ist es offensichtlich und typisch für ein Regime dieses Zuschnitts, daß dabei die Nachfolge an der Spitze eine Hauptrolle spielte. Praktisch seit 1987 beschäftigte man sich in Regierungskreisen mit diesem Problem. In der Colorado-Partei hatte auf ihrem Parteitag am 1. August 1987 die sogenannte 'militante' Fraktion überfallartig die Parteiführung an sich gerissen. Die Entfernung der alten Garde, die die Partei bis zu diesem Zeitpunkt dominiert hatte, führte zu einer tiefen Spaltung und stellte die Legitimität des Regimes noch mehr infrage. In der Folge versuchten die Militanten, sich auch in der militärischen Hierarchie an die Spitze zu setzen und Rivalen zu verdrängen, von denen man annahm, daß sie sich ihren Nachfolgevorstellungen in den Weg stellen könnten. Die herausragende Figur unter diesen war der Kommandant des ersten Heereskorps, General Andrés Rodríguez. Rodríguez, Befehlshaber einer der schlagkräftigsten und bestausgerüsteten Heeresverbände des Landes, gehörte nicht zur den politis Stroessner. Die Militanten vertrauten vermutlich darauf, daß sich General Rodríguez nicht gegen

12

Comité de Iglesias para Ayuda de Emergencia (CIPAE), zitiert bei: Carter 1993, S. 113.

Carlota Jackisch

308

Stroessner erheben würde. Dennoch beschloß Stroessner am Morgen des 2. Februar, Rodríguez in den Ruhestand zu versetzen.13 Als Antwort erschienen Panzer in den Straßen. Ende Dezember dann wurden 55 Offiziere zu Obersten befördert, unter ihnen Gustavo Stroessner, der als Nachfolger seines Vaters vorgesehen und dessen Einfluß in den Streitkräften für die militante Fraktion wichtig war. Am 12. Januar 1989 schließlich verfügte General Stroessner die größte Rotation in der militärischen Führung in seiner Laufbahn als Oberbefehlshaber der Streitkräfte: 17 Kommandoposten großer Einheiten des Regimentstabs wurden ausgewechselt, um General Andrés Rodríguez zu schwächen. Offensichtlich war Stroessner in den ersten Februartagen nicht im einzelnen über die Ereignisse informiert und wäre fast gefangengenommen worden. Von der Spitze der Präsidentengarde aus leistete er den Aufständischen energischen Widerstand, bis er im Morgengrauen des 3. Februar endlich zurücktrat. So fand ein Regime von zweifelhafter Legitimität, das nahezu 35 Jahre überdauert hatte, sein Ende.

Anmerkungen zur politischen Kultur Paraguays Wie konnte sich Stroessner so lange an der Macht halten? Wie konnte die Triade aus Colorado-Partei, Streitkräften und Regierung so viele Jahre lang überleben? Hat der Staatsstreich von 1989 etwas an diesem Machtfundament verändert? Auf diese Fragen wird im folgenden eingegangen. Im politischen Gefüge des Stroessner-Regimes spielte der General selbst die Rolle des Verbindungsgliedes zwischen den drei tragenden Säulen, und es erschien fast unmöglich, ihn zu ersetzen. Diese Tatsache wirkte sich entscheidend auf die Stabilität des Regimes aus. Das Machtgefüge, das wie der Mechanismus eines Uhrwerks arbeitete, hatte in den letzten Jahren vor dem Putsch Rost angesetzt. So läßt sich zwar General Stroessners lange Regierungszeit erklären, nicht aber die Zähigkeit der Triade.

13

Lezcano/Martini 1994, S. 40.

II. Paraguay

309

Es ist offensichtlich, daß die lange Herrschaft des autoritären Regimes und ein Parteiensystem, das man - wohlwollend formuliert - einen eingeschränkten Pluralismus nennen könnte, der Opposition wenig Spielraum ließen, diese Dreiecksbeziehung zu verändern. Eine der Hoffnungen, die an den Fall Stroessners geknüpft wurden, war, daß sein Verschwinden nicht nur einen einfachen Austausch von Personen bedeuten würde, sondern auch eine Neudefinition jener Triade nach sich ziehen würde. Der Putsch vom 3. Februar 1989 schien aber die Beziehung zwischen Colorado-Partei und Streitkräften nicht grundlegend zu verändern. Wenn es eine Veränderung gegeben hat, dann im Innenleben der einzelnen Säulen des Regimes. Auf der einen Seite spaltete sich die Colorado-Partei. Der militante Flügel, der versucht hatte, sich das Machtmonopol über die Partei zu sichern, um die Nachfolge des Präsidenten zu entscheiden, verschwand. Dagegen erklärte der traditionalistische Flügel, er wolle den Übergangsprozeß zur Demokratie begleiten und die Bürgerrechte wahren. In den Streitkräften fanden vor allem auf personeller Ebene einige Veränderungen statt. 14 Auch wenn man einige Modifikationen als institutionelle Neuorientierung interpretieren kann, die zu einem besseren Gleichgewicht der Kräfte fuhren sollten, so muß man doch zugeben, daß für die wichtigsten Führungsposten Offiziere auserkoren wurden, die an General Andrés Rodríguez, den neuen starken Mann der Exekutive, gebunden waren. In diesem Zusammenhang kann man nicht von einer Neudefinition der Rolle der Streitkräfte im Hinblick auf einen künftigen Demokratisierungsprozeß sprechen. Der paraguayische Intellektuelle Domingo Rivarola hat hypothetisch vom eingefleischten Konservatismus der Paraguayer gesprochen. 15 Als Indiz führte er an, daß Paraguay von den Erschütterungen der mexikanischen Revolution oder dem Reformprozeß an der Universität von Córdoba, die praktisch ganz Lateinamerika in Aufruhr brachten, relativ unberührt geblieben sei. Wirtschaftliche Prozesse wie der Strukturwandel im Außenhandel, die Modernisierung der Landwirtschaft oder der gegenwärtige Verschlankungsprozeß des Staates hätten praktisch keine Spuren im Land hinterlassen. Vor

14

Lezcano/Martini 1991, S. 106-109.

15

Rivarola 1994, S. 27-32.

310

Carlota Jackisch

allem aber zeige sich die Tendenz zum Konservatismus in der Bevormundung als verbreiteter Form sozialer Interaktion und im beharrlichen Widerstand gegen jedwede Veränderungen. Demnach habe die historische Erfahrung Paraguays mit seinen vielen "Revolutionen", die keinen wirklichen Wandel einleiteten, bewiesen, daß Veränderungen generell nutzlos seien. In die gleiche Richtung weise das Denkschema, das Veränderungen als Widerspruch zur Ordnung begreife, die mit unkalkulierbaren Risiken verbunden seien und in Chaos und Anarchie endeten. Wenn man die politische Entwicklung Paraguays von der anfänglichen Euphorie der Bürger nach dem Fall Stroessners an beobachtet, wird offensichtlich, daß sich verschiedene konstitutive Merkmale des abgesetzten Regimes prolongierten, obwohl es Fortschritte in der Gewährung und Einhaltung von bürgerlichen und politischen Freiheiten und der Menschenrechte im allgemeinen gibt. Der schlagkräftigste Beweis für diese These ist das Weiterbestehen der Triade Regierung, Colorado-Partei und Armee als obligatorische Machtreferenz. So scheint der Demokratisierungsprozeß eher auf den Erhalt der vor dem Umsturz verbindlichen Machtstrukturen ausgerichtet zu sein als darauf, einen Schlußstrich zu ziehen. Der Fall Stroessners bot die schwer wiederholbare Chance, mit der Vergangenheit zu brechen, um eine wirkliche Veränderung in einem Land ohne echte demokratische Tradition herbeizuführen. Man muß anerkennen, daß Stroessners Nachfolger, General Andrés Rodríguez, eine Liberalisierung der paraguayischen Politik und eine graduelle Wirtschaftsanpassung eingeleitet hat. Trotz allem stellt sich sechs Jahre nach dem Putsch der Übergang als überaus zäher Prozeß dar. So spielen die Streitkräfte im politischen Prozeß immer noch eine Hauptrolle. Sie haben den politischen Prozeß praktisch seit der Unabhängigkeit überwacht und sind noch immer eng mit der nationalen Politik verflochten.

Der politische Wandel beginnt Die Putschisten von 1989 hatten erklärt, daß sie für die Demokratie eintreten, die Menschenrechte respektieren und mit der Katholischen Kirche zusammenarbeiten wollten. Aber schon bald zeigte sich die Verwandtschaft mit

II. Paraguay

311

dem alten Regime. General Rodríguez war immer ein treuer Verbündeter General Stroessners gewesen - in der Machthierarchie an zweiter Stelle. Seine Tochter war mit einem Stroessner-Sohn verheiratet. Der Verdacht gegen Rodríguez erhärtete sich, als offensichtlich wurde, daß er seine Macht auf die traditionellen Pfeiler der Macht in Paraguay stützte - auf die Colorado-Partei und die Armee. Um sich seinen Einfluß auf das Militär zu sichern, ersetzte der neue Präsident circa 50 Offiziere durch Männer seines Vertrauens. Dem folgten Maßnahmen gegen den militanten Flügel der Colorado-Partei. Eine davon war die Korruptionsanklage gegen vier Mitglieder von Stroessners Führungsmannschaft. Der traditionalistische Flügel wurde mit der Führung der 254 regionalen Ortsgruppen der Partei beauftragt, während der alte Traditionalisten-Führer Juan Ramón Chaves als Parteivorsitzender der Colorado-Partei wiedereingesetzt wurde. Auf der anderen Seite deuten einige anfängliche Maßnahmen Rodríguez' auf einen Liberalisierungprozeß hin. Die Einhaltung der Bürger- und Menschenrechte machte Fortschritte, desgleichen auch die Pressefreiheit, als die von Stroessner verbotenen Zeitungen wieder erscheinen durften. Und auch die Beziehungen zur Katholischen Kirche, die sich während der letzten Jahre des Stroessner-Regimes dramatisch verschlechtert hatten, verbesserten

sich.

Selbst die gewerkschaftlichen Gruppierungen genossen einen Handlungsspielraum, wie sie ihn jahrzehntelang nicht gehabt hatten. Schließlich wurden die Oppositionsparteien, die bis dahin verboten gewesen waren, mit Ausnahme der Kommunistischen Partei wieder zugelassen. In der Summe machten diese Liberalisierungsmaßnahmen und der Wahlaufruf vom 1. Mai 1993 den Weg für die Integration Paraguays in den MERCOSUR frei. Die politische Öffnung erlaubte acht Parteien, sich am Wahlkampf zu beteiligen. Natürlich war die Colorado-Partei auf diesen Tag am besten vorbereitet, da sie unter dem abgesetzten Regimes die Aufgaben einer Wahlmaschine erfüllt hatte. So ging die Partei trotz ihrer inneren Spaltungen als wichtigste politische Kraft aus den Wahlen hervor. 16

16

Sie hatte außerdem noch andere Vorteile: die Finanzierung durch eine Pflichtabgabe aus den Gehältern aller Angestellten des öffentlichen Dienstes und die stän-

Carlota Jackisch

312

Trotz des Verdachts auf Wahlbetrug, der sich vor allem darauf stützte, daß das zentrale Wahlregister, das nach Meinung der Opposition Namen verstorbener oder nicht existenter Personen enthielt, nicht aktualisiert worden war, war der haushohe Sieg von General Rodríguez von der Bevölkerung erwartet worden. In der Tat erhielt Rodríguez 74 % der Stimmen. Gleichzeitig wurde auch die Legislative gewählt. Nach dem Wahlgesetz standen der Partei mit den meisten Stimmen - unabhängig von der Gesamtzahl - sowohl in der Abgeordnetenkammer als auch im Senat automatisch zwei Drittel der Sitze zu, während das restliche Drittel proportional unter den anderen Parteien verteilt wurde. Demnach bekam die Colorado-Partei 48 von 72 Sitzen. Dazu zeigte sich bei diesen ersten Wahlen nach dem Fall Stroessners das tatsächliche Kräfteverhältnis zwischen den Oppositionsparteien: der Partido

Liberal

Radical

Auténtico erhielt 21 Sitze, der Partido Revolucionario Febrerista 2 Sitze und der Partido Liberal Radical einen Sitz. Im übrigen wird aus den Wahlen klar die Vorherrschaft der beiden traditionellen Parteien, der Colorado-Fraktion und dem PLRA deutlich, die zusammen mehr als 95 % der Stimmen erhielten. Im Gegensatz dazu steht das Ergebnis der beiden anderen, PRF und Partido Demócrata Cristiano (PDC), die zusammen kaum 3 % bekamen. Die erste Phase des Übergangs, des Aufbaus und der politischen Legitimierung der Regierung war relativ erfolgreich. 17 Ohne Zweifel wurden konkrete Fortschritte erzielt. So wurden unter der Präsidentschaft von Rodríguez politische und wahlrechtliche Richtlinien festgelegt, und eine gesetzgebende Konvention erarbeitete eine neue Verfassung. Zu den Fortschritten gehörten bis zu den Kommunalwahlen vom 26. Mai 1991 vermeintlich auch die wiederholten Erklärungen von Politikern und Militärs, in denen von der dringenden Notwendigkeit die Rede war, die Streitkräfte institutionell zu reformieren. Gemeint war damit ihre striktere Professionalisierung und distanzierte Haltung zur Parteipolitik. Mit der schweren Niederlage der ColoradoPartei in verschiedenen Wahlkreisen war es mit solcherlei Verlautbarungen schlagartig vorbei. Jetzt verschob sich der Akzent wieder auf die Betonung

17

dige Mehrheit in der Zentralen Wahljunta, dem Kontrollorgan der Wahlversammlungen. Vgl. IRELA 1993. Vgl. Simson 1991.

II. Paraguay

313

der historischen Verbindung der Streitkräfte mit der Colorado-Partei und die Notwendigkeit, diese Beziehung zu intensivieren. 18 Die Ergebnisse der Kommunalwahlen schienen einen Wechsel in der politischen Szenerie anzudeuten. So gewann die unabhängige Oppositionsbewegung Asunción para Todos (APT) in der Hauptstadt die Kommunalwahlen mit 34 % der Stimmen gegenüber 27 % der Colorado-Partei und 19,6 % der PLRA. Doch bereits mit den Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung vom 1. Dezember 1991 mußten die aus dem Ausgang der Kommunalwahlen geschöpften Hoffnungen begraben werden. Trotz ihrer inneren Zerrissenheit errang die Colorado-Partei mit 55 % der Stimmen die absolute Mehrheit. Auf die PLRA entfielen 27 %. Dagegen kam die Koalition Constitución para Todos, die sich zu diesem Anlaß zusammengefunden hatte und von der APT angeführt wurde, auf kaum 11 % der Stimmen. Diesen Wahlerfolg konnte die Colorado-Partei bei den Präsidentschaftswahlen vom 9. Mai 1993 noch einmal wiederholen. Obwohl die Wahlprognosen ihn als sicheren Verlierer apostrophiert hatten, gewann der Kandidat der Partei, der Ingenieur Juan Carlos Wasmosy.

Tab. 1: Grundlegende Entwicklungsdaten Paraguays 1. Allgemeine Daten (1994) Fläche (km') 406.750 Bevölkerung 4.700.000 Bruttosozialprodukt (in Mio. US-Dollar) 7.900 Bruttosozialprodukt Pro-Kopf (in US-Dollar) 1.670 2. Demographische Daten, Urbanisierung, Gesundheit Bevölkerungswachstum pro Jahr (1980-1992) 3,0 % Städtische Bevölkerung (1992) 49,0 % Lebenserwartung 67 Jahre Säuglingssterblichkeit (pro 1000 Geburten) 1992 36 Alphabetisierungsgrad 90,1 % Quelle: Weltbank. Weltentwicklungsbericht 1994.

18

Vgl. Lezcano/Martini 1994, S. 37.

Carlota Jackisch

314

Die knappe Aufstellung einiger Entwicklungsindikatoren zeigt, daß das Bevölkerungswachstum Paraguays relativ hoch ist. Dieses gilt vor allem für den ländlichen Bereich. Dagegen ist der Verstädterungsgrad im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen Ländern relativ niedrig. Er wird nur von El Salvador, Honduras, Guatemala und Costa Rica unterboten. Auch die durchschnittliche Lebenserwartung in Paraguay gehört zu den niedrigsten in Lateinamerika, während die Säuglingssterblichkeit einen Mittelplatz einnimmt. Tab 2: Ländliche Besitzstruktur in Paraguay Besitzgröße < 5 ha 5 bis 10 ha 11 bis 20 ha 21 bis 100 ha 101 bis 500 ha 501 bis 1.000 ha 1.001 bis 5.000 ha 5.001 bis 10.000 ha > 10.000 ha

Einheiten 122.750 66.605 66.223 39.096 7.782 1.525 2.356 533 351

Fläche 231.304 430.658 806.802 1.360.557 1.619.203 1.010.952 4.982.438 3.644.873 9.730.950

Fläche in % 0.97 1.81 3.39 5.71 6.80 4.20 20.92 15.30 40.86

Quelle: Nationale Landwirtschaftserhebung 1991. Die Aufstellung zeigt die traditionelle Besitzstruktur in der Landwirtschaft Paraguays. 351 Eigentümer mit knapp 10 Millionen ha verfügen über fast die Hälfte des Agrarlandes. Im krassen Gegensatz dazu stehen die 222.750 Kleinbauern, die nicht einmal 1 % des Agrarlandes besitzen. Dazu korreliert der hohe Prozentsatz der bäuerlichen Bevölkerung mit einer ethnisch sehr homogenen Gesellschaftsstruktur. Der Verstädterungsprozeß findet vor allem im Großraum Asunción statt, dem Hauptanziehungspunkt für die Migrationsbewegungen vom Land in die Stadt und von Stadt zu Stadt. In diesem Gebiet konzentrieren sich fast 40 % der Migranten aus dem ganzen Land. So wuchsen etwa die Vororte San Lorenzo, Fernando de la Mora, Lambari und Luque zwischen 1972 und 1982, als die Bauwirtschaft einen großen Aufschwung erlebte, um fast das Doppelte. 19

19

Fogel 1993.

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In diesen Jahren der teilweisen wirtschaftlichen Öffnung, der Erleichterungen in der Krediterteilung und Abgabensenkungen auf Zölle und Devisengeschäfte erlebte Paraguay einen relativ hohen Eingang ausländischer Investitionen. In demselben Maße expandierten auch eine Reihe neugegründeter, mittlerer und großer landwirtschaftlicher Unternehmen. Diese Politik der offenen Tür gegenüber ausländischen Investoren hatte schon in früheren Jahren zur Bildung von ethno-kulturellen Enklaven ausländischer Einwanderer gefuhrt vor allem Mennoniten, Deutsch-Brasilianer, Japaner und Brasilianer, Koreaner und Chinesen, die sich in den Städten ansiedelten. Dazu erhielt Paraguay zwischen 1974 und 1988 bedeutende finanzielle Unterstützung aus dem Ausland, die vor allem in den Bau von Wasserkraftwerken flößen. Von diesen insgesamt 2.872 Millionen Guarani Auslandshilfe wurden 76 % für das Wasserkraftwerk von Itaipü aufgewandt. Der Rest floß in den Bau des Wasserkraftwerks von Yaciretä. Mit der Ausweitung der staatlichen Bürokratie in dieser Zeit expandierte auch der Mittelstand. Die öffentlichen Ausgaben stiegen ständig durch die Günstlingspolitik der Regierung. Dies wird vor allem an der Zunahme der Stellen im öffentlichen Dienst deutlich. So geriet der Staatsapparat zu einer Maschinerie wachsender gesellschaftlicher Mobilität - bereit, politische Loyalität mit Posten und Gefallen jeder erdenklichen Art zu belohnen. Im Abseits dagegen stehen weiter Randgruppen, die einen Großteil der städtischen Bevölkerung stellen. Sie sind nur schwer in den Arbeitsmarkt zu integrieren und von der steigenden Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung am stärksten betroffen.

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Tab. 3: Der Öffentliche Dienst Paraguays im lateinamerikanischen Vergleich Bereich Erziehung Grundschulbildung Alphabetisierungsgrad Gesundheitswesen Zugang zu gesundheitlicher Versorgung (gesamt) Zugang zu gesundheitlicher Versorgung (Stadt) Trinkwasserversorgung (gesamt) Trinkwasserversorgung (Land) Trinkwasserversorgung (Stadt) Anschluß an Kanalisation (Stadt) Müttersterblichkeit pro 100.000 Geburten Einwohnerzahl pro Arzt Geimpfte Kinder unter 1 Jahr

Paraguay

Lateinamerika und Karibik

52% 77%

55% 83 %

38%

70%

90% 22% 7% 38% 55% 380 1.460 78%

82% 79% 56% 88% 78% 110 1.230 69%

Quelle: Plan de Operaciones por Programas. Programa de Cooperación Paraguay-UNICEF 1995-1999. Oficina de Lima, UNICEF 1993. Zitiert nach: Veal, A., Rol de Estado en el Desarrollo Latinoamericano: ¿Puede ser igual para todos? (ungedruckt).

Eliten und kollektive Akteure Die Bereitschaft zum politischen Dialog ist in Paraguay gering. Die gegenwärtige Vorherrschaft der Colorado-Partei, die fehlenden historischen Erfahrungen im Bereich politischer Partizipation und der starke Einfluß der Streitkräfte fuhren dazu, daß ein Dialog nur im Kreis der Triade Regierung, Militär und Colorado-Partei gefuhrt wird. Die Versuche verschiedener Gruppierungen, über die politischen Gräben hinweg eine gemeinsame Front zu bilden, sind beachtlich. Die Gunst der Wählerschaft und die realen Machtmittel besitzt aber weiter die paraguayische Triade.

II. Paraguay

317

So nimmt es nicht wunder, daß auf dieser politischen Bühne das Gewerkschaftswesen einflußlos und zersplittert ist, daß die Gewerkschaften und ihre Anerkennung von den Regierungsinteressen abhängen. 20 Dennoch mußte sich die Wasmosy-Regierung im September 1995 einem zweiten Generalstreik stellen, der von zwei der drei Gewerkschaften des Landes ausgerufen worden war - der Central (CUT) und der Central Nacional Confederación

Paraguaya

Unitaria de

de Trabajadores

de Trabajadores

Trabajadores

(CNT). Die offiziöse

(CPT) schloß sich dem Streik

nicht an. CUT und CNT rechtfertigten ihre harte Linie mit verschiedenen Fällen von staatlicher Repression. Hauptsächlich aber handelte es sich um eine Reaktion auf die Wirtschaftspolitik der Regierung, die steigende Arbeitslosigkeit und das Ausbleiben einer umfassenden Agrarreform. 21 Diesem Protest ging der Generalstreik vom 2. Mai 1994 und der sogenannte Bauernmarsch auf Asunción am 15. März 1995 voraus. Um Wirkung und Gewicht des Gewerkschaftswesens in Paraguay und seine Rolle im politischen Dialog ermessen zu können, sei hier erwähnt, daß dies der erste Streik seit 35 Jahren war. Das Recht, für die Verteidigung der eigenen Interessen zu demonstrieren und politischen Druck auszuüben, ist eine Errungenschaft des Liberalisierungsprozesses, der mit dem Fall Stroessners eingeleitet wurde. So ließ die Regierung anderthalb Jahre nach dem Fall Stroessners mehr als 150 neue Vereinigungen zu, erkannte neue Führungsspitzen bereits bestehender Gewerkschaften und anderer Vereinigungen an und stimmte der Gründung von zwei neuen Gewerkschaften zu. Quantitativ war dies im Vergleich zu den 202 anerkannten Vereinigungen unter Stroessner ein großer Schritt nach vorn. Im Mai 1989 wurde die erwähnte christlich-sozial orientierte CNT gegründet; im August desselben Jahres die CUT. Gleichzeitig entstanden Bauernverbände. Obwohl nach Ansicht einiger Beobachter die Bedeutung des Gewerkschaftswesens wächst, spielt es doch in Anbetracht seiner historischen

20

Céspedes 1991, S. 127.

21

Clarín, 25. September 1995.

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Schwäche keine besonders wichtige Rolle als gesellschaftliche Kraft. Die politische Bedeutung des neuen unabhängigen Gewerkschaftswesen dagegen wurde sichtbar, als der Versuch, sich einen eigenen Platz auf der politischen Bühne zu erobern, ersten Erfolg zeitigte. So war die CUT eine der treibenden Kräfte der APT, die einen ihrer Führer als Kandidat für das Bürgermeisteramt von Asunción aufstellte. Doch fehlt es der CUT in ihrer politischen Arbeit noch an Kontinuität. Diese Feststellung soll nicht die Anerkennung ihres Engagements schmälern. Die Defizite auf diesem Gebiet liegen wohl eher in den strukturellen Charakteristika der paraguayischen Politik begründet. 22 Die Unternehmer - oder zumindest ein Teil davon - erfüllen im gegenwärtigen Übergang zur Demokratie als gesellschaftliche Kraft eine systemstabilisierende Rolle. Dies war nicht immer so. Ihr traditionsreichster Interessenverband ist die Unión Industrial Paraguaya (UIP). Er wurde 1936 von den wenigen Industriellen dieser Zeit - Zucker-, Mate-Tee-, Öl- und Tanninproduzenten - gegründet. Die Asociación

Rural Paraguaya

(ARP) wurde 1938 gegründet, um die

spezifischen Interessen des landwirtschaftlichen Sektors zu vertreten. Dagegen entstand die Federación de la Producción, la Industria y el Comercio (FEPRINCO) 1953, um die Interessen der drei privaten Wirtschaftssektoren des Landes - Landwirtschaft/Viehzucht, Industrie und Handel - zu bündeln. 23 Unter Stroessner widersetzte sich die Unternehmerschaft nicht dem politischen Gang der Dinge; ihre Kritik zielte vielmehr auf die Wirtschaftspolitik des Regimes ab. Als die Katholische Kirche im Jahre 1988 zum erwähnten 'Nationalen Dialog' aufrief, schlössen sich weder UIP noch FEPRINCO ihrer Initiative an. 24 Gleichwohl wahrten beide Unternehmerverbände in den achtziger Jahren eine gewisse Distanz zum Regime. Sie formulierten Vorschläge wirtschaftlicher Natur, die auf einen Kurswechsel in Fragen wie der Überbe-

22 23 24

Smith 1994. Borda 1993. Ebda.

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wertung der Landeswährung, dem Haushaltsdefizit, der Staatsverschuldung und der Inflation abzielten, ohne jedoch eine Antwort zu erhalten. 25 Mit dem Militärputsch von 1989 gewann die Unternehmerschaft zumindest bei der Formulierung wirtschaftspolitischer Ziele größeren Einfluß. Tatsächlich kündigte der Finanzminister im Februar des Jahres in einer Ansprache Reformen an, für die die Arbeitgeberverbände in den letzten Jahren unter Stroessner eingetreten waren - die Einführung der Marktwirtschaft, Freigabe der Wechselkurse auf dem Devisenmarkt und die Abschaffung von Schutzzöllen. Damit hatte die neue Regierung den Unternehmern in wirtschaftspolitischer Hinsicht manche Zugeständnisse gewährt. Überdies wurden auch einige Unternehmer als Minister oder Staatssekretäre ins Kabinett berufen. Im ganzen aber konnten sich die Arbeitgeberverbände mit ihren Forderungen nicht durchsetzen. Ihr zentrales Anliegen war, angesichts der geringen Steuereinahmen die Staatsausgaben zu verringern, um so die Inflation, die die öffentliche Verschuldung noch weiter hochtrieb, zu bekämpfen; ferner die Modernisierung des öffentlichen Dienstes, um vor allem die Abwicklung des Außenhandels zu vereinfachen und zu beschleunigen. In der Tat blieb die Forderung nach Senkung der Inflation im Maßnahmenkatalog der Regierung nicht unberücksichtigt. Der Abbau der Staatsbürokratie dagegen stößt mit den Interessen der Triade, die Paraguay regiert, zusammen - besonders mit ihrer Günstlingspolitik. So bildet die Forderung der Unternehmer, den Staat zu verschlanken, weiter einen Prüfstein für die Gültigkeit demokratischer Spielregeln in Paraguay. Nur ein Schritt in diese Richtung könnte der Günstlings-Politik Einhalt gebieten. Die Rolle der Kommunikationsmedien in dieser Zeit des politischen Wandels in Paraguay verdient besondere Erwähnung. Von der Ausweitung der Meinungsfreiheit nach Stroessners Fall war bereits oben die Rede. Gerade auf die Kommunikationsmedien und ihren Einfluß in der Öffentlichkeit wirkte dieser Umbruch natürlich belebend. Wie in den anderen lateinamerikanischen Ländern äußern sich die Medien in Paraguay sehr kritisch über die politischen Parteien und andere Schlüsselinstitutionen der Demokratie. Doch kann man nicht behaupten, daß sie die demokratische Ordnung infrage stellten. Ganz

25

Arditi 1994.

320

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im Gegenteil kann gerade ihre Kritik im Laufe der Zeit eine reinigende Wirkung auf die Institutionen haben. Überdies wurde das Interesse der Bevölkerung am demokratischen Prozeß dadurch gestärkt, daß Fernsehen und Presse über die Kandidaten, ihre Parteien und deren politische Programme informierten und eine aktive Teilnahme an der politischen Debatte möglich machten. So standen in Paraguay zwischen 1991 und 1992 ihrer Rangfolge nach folgende Themen im Vordergrund der Medienberichterstattung: 1. die allgemeine politische Entwicklung, 2. die Sicherheit der Bürger, 3. die Agrar- und Bauernproblematik, 4. Itaipü, 5. die Verbindungen der Exekutivgewalt mit der Colorado-Partei, 6. die Situation in den Haftanstalten, 7. die Gesundheitspolitik, 8. Korruption und Schmuggelwesen. 26

Institutionelle Aspekte der paraguayischen Politik In der vor der Reform von 1992 geltenden Verfassung 27 Paraguays waren Legislative und Judikative der Exekutive untergeordnet. Der ausgeprägte Präsidialcharakter dieses Systems manifestierte sich in den Befugnissen des Präsidenten zur Verhängung des Ausnahmezustandes, dessen Anwendung und Fristen nicht der Kontrolle des Parlaments unterstanden, und seiner unbegrenzten Wiederwahl. So heißt es zwar im Originaltext der Verfassung von 1967, der Präsident dürfe nur eine weitere Wahlperiode amtieren. Mit der Reform von 1977 aber wurde diese Beschränkung aufgehoben und seine unbegrenzte Wiederwahl festgelegt. Kurzum - die Verfassung wurde auf General Alfredo Stroessner maßgeschneidert. Das Recht des Präsidenten, den Kongreß aufzulösen, schränkte die Unabhängigkeit des Parlaments weiter ein und schwächte die Legislative und ihre

26

27

Caballero/Vial 1994, S. 126. Es handelte sich dabei um die Verfassung von 1967 und ihre Reform von 1972.

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Kontrollfunktionen, da sie ständig dem Druckmittel der Parlamentsauflösung ausgesetzt war. In der 1991 gewählten Verfassungsgebenden Versammlung herrschte ein breiter Konsens über die notwendigen Reformen. Man diskutierte nicht wie in Brasilien darüber, ob man ein parlamentarisches oder halbparlamentarischen Regierungssystem einführen sollte. Die Hauptsorge galt der Wiederherstellung des Gleichgewichts zwischen den Mächten. Klar war, daß Paraguays ausgeprägtes Präsidialsystem entschärft werden mußte.

Balmelli

schrieb dazu: "Man stimmte darin überein, daß die staatliche Gewaltenteilung neu strukturiert werden mußte, um die Vorherrschaft der Exekutive zu beseitigen und damit eine unabhängige Rechtssprechung und ein eigenständigeres und funktionelleres Parlament mit mehr politischer Kontrolle über die Exekutive zu schaffen." 28 So schlug die Versammlung vor, dem Parlament das Recht zu geben, seine Sitzungen zu vertagen, sich selbst einzuberufen, Minister der Regierung zur Rechenschaft zu ziehen, einen politische Untersuchung gegen den Präsidenten führen zu können, einen durch den Präsidenten ausgerufenen Ausnahmezustand zu genehmigen oder abzulehnen, gegen ihn vor dem Obersten Gerichtshof zu intervenieren, an der Wahlgesetzgebung teilzuhaben und dem Präsidenten das Recht zu nehmen, das Parlament aufzulösen. In der Umsetzung dieser Vorschläge wurden die unmittelbare Wiederwahl des Präsidenten verboten, die Bildung einer Vizepräsidentschaft im Falle von Unzurechnungsfähigkeit des Präsidenten eingeführt und der Exekutive das Recht entzogen, Gesetze und Verordnungen zu erlassen. Ferner teilen sich Kongreß und Exekutive das Recht, Parlamentssitzungen zu vertagen oder außerordentliche einzuberufen. Der Kongreß kann gegen den Präsidenten und seine Minister politisch prozessieren. Und schließlich muß das Parlament sofort einberufen werden, wenn zwischen den Legislaturperioden der Ausnahmezustand ausgerufen werden sollte. Überdies sicherte die Reform der Verfassung fortan die Souveränität der Rechtssprechung durch die Einsetzung eines autonomen Gremiums zur Ernennung von Richtern. Die Einrichtung einer Gerichtskasse verschaffte der

28

Balmelli 1995, S. 57.

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Justiz finanzielle Unabhängigkeit. Verlängerter Arm der Justiz wurde die neuformierte Kriminalpolizei, Kontrollorgan des Gesetzgebers das Verfassungsgericht. Diese in der neuen Verfassung verankerte Gewaltenteilung und -trennung bildete die Vorbedingung zur institutionellen Modernisierung des Landes. Ein weiterer Schritt auf diesem Weg war die Reform des Wahlsystems, die 1990 vom Kongreß verabschiedet wurde. Die bis dahin gültige Wahlordnung stammte aus dem Jahr 1981 und enthielt verschiedene Normen, die der Verfassung widersprachen. So stand die Abgeordnetenzahl nicht in Relation zur Stimmenzahl. Die Mehrheitspartei - de facto immer die Colorado-Partei - stellte unabhängig von ihrem tatsächlichen Stimmenanteil in Parlament und Kommunen die Zweidrittelmehrheit. Hinzu kam der grassierende Wahlbetrug - unvollständige Stimmzettel, Unregelmäßigkeiten bei der Auszählung und politische Repression vor und in den Wahllokalen. Demgegenüber läßt das neue Wahlrecht Wahlbündnisse zu und schreibt die proportionale Verteilung der Sitze im Kongreß vor. Allerdings haben dieses System fester Listen und die Abschottung der Parteien nach außen viele ihrer Repräsentanten öffentlich in Mißkredit gebracht. So ist es allgemein üblich, ganz oben auf die Liste eine bekannte Persönlichkeit zu setzen, der dann nahezu unbekannte Personen folgen, die aus irgendeinem Grund wichtig für die Partei sind, durch den Spitzenkandidaten 'mitgeschleift' werden und deren politische Integrität und Tauglichkeit oft fragwürdig erscheinen. Auf institutioneller Ebene - und gerade im kommunalen Bereich - stellt sich in Paraguay das Problem der Dezentralisierung der politischen Entscheidungsfindung. Gewählte Gemeindeverwaltungen bilden im modernen Staat einen Machtblock, der in erster Instanz legitimiert ist und die staatliche Gewalt an die Basis bindet. Damit ist der Prozeß der Konsolidierung der Demokratie eng mit der Etablierung lokaler Autoritäten verbunden. Die Verfassung von 1992 legt die Grundlagen für die kommunale Selbstverwaltung fest. Die lokale Exekutive nimmt auf Funktions- und Verwaltungsebene die Interessen der Bevölkerung wahr und garantiert die kommunalpolitische Partizipation des Bürgers. Die Körperschaften der Gemeinde-

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Verwaltung sind der Bürgermeister und der Stadtrat. Diese Autoritäten werden in ihr Amt gewählt durch "direkte Wahl der rechtlich dazu befugten Personen."

29

Dieses Prinzip der Volkssouveranität ist in Artikel 167 der Verfassung festgelegt. Dazu werden in Artikel 166 "politische, administrative und juristische Selbständigkeit und Entscheidungskompetenzen bei der Verwaltung ihrer Finanzmittel den Regionalbehörden zugewiesen." Artikel 169 legt schließlich fest, daß 70 % der erhobenen Grundsteuer der Gemeinde zustehen und die restlichen 30 % in ihrem Verwaltungsbereich und an Gemeinden mit geringeren Einkünften verteilt werden müssen. 30

Auswirkungen auf das politische System Politisch besteht in Paraguay Konsens über die Beibehaltung der demokratischen Ordnung und den durch die Verfassungsreform geschaffenen gesetzlichen Rahmen. Von einigen Minderheiten abgesehen kann das politische System auf die Unterstützung der maßgeblichen politischen Entscheidungsträger und -instanzen im Land rechnen, auch wenn noch autoritäre Spuren politischer Kultur zu erkennen sind. In dieser Hinsicht war die Verabschiedung der neuen Verfassung im Jahre 1992 von grundsätzlicher Bedeutung. In ihr sind die demokratischen Normen und die Zähmung der vormals übermächtigen Exekutivgewalt institutionell verankert. Die Justiz ist formell, finanziell und in der Auswahl ihres Personals unabhängig. Der Kompetenzrahmen der Legislative ist durch die Verfassungsreform erweitert worden. Neben ihrer gesetzgebenden Funktion ist sie nun ein Kontrollorgan anderer politischer Körperschaften, und sie macht von diesen neuen Vorrechten Gebrauch: so ermittelte sie etwa gegen Angehörige der Streitkräfte, die wegen Korruption angeklagt waren. Gerade in derartigen Handlungsmustem manifestieren sich Fortschritte im Demokratisierungsprozeß. Damit sich das System verfestigen kann, muß es aber mehr soziale und

29 30

Ebda., S. 136. Ebda., S. 137.

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ökonomische Flexibilität entwickeln, die es erlaubt, die Armut zu bekämpfen und die Randgruppen gesellschaftlich zu integrieren. Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Glaubwürdigkeit der Demokratie in Paraguay war die Wahl von Juan Carlos Wasmosy, des ersten zivilen Präsidenten seit Jahrzehnten. Diese Wahlen, aus denen Wasmosy siegreich hervorging, waren aber zugleich eine Zerreißprobe für das politische System bestand doch die Gefahr, daß die Colorado-Partei die Wahlen verlöre. Wasmosy war von der Partei als Colorado-Gegner kritisiert worden, weil er keine Parteivergangenheit hatte und außerdem als unpopulärer Unternehmer galt. Überdies stellten einflußreiche Parteikreise vor allem die "ideologische Entgleisung" seines liberalen Wirtschaftsplanes infrage. 31 Und auch die vielzitierte Triade blieb im Wahlkampf nicht untätig. Die Wahlkampagne Wasmosys wurde ausdrücklich von General Lino Oviedo unterstützt. Der reiste durch das Land, inspizierte Kasernen und suchte Kontakt zum Netz der lokalen Parteiführer der Colarado-Partei. Dabei ließen die Militärs keinen Zweifel daran aufkommen, daß sie, bevor die Colorado-Partei ihre hegemoniale Stellung verlöre, der Wahlverordnung zuwiderhandeln würden. Als die Wahlprognosen einen Sieg des Encuentro Nacional

voraussagten,

wurde die Gefahr aus der Bildung einer neuen Bewegung, die sich um Guillermo Vargas Caballero scharte, offenkundig. Mit dem Sieg der ColoradoPartei erübrigten sich Befürchtungen dieser Art. Zumindest formal stellten die Wahlen von 1993 daher das Ende der vom Militär angeführten Regierungen dar. Dagegen blieb die Klientelstrukur des Staates unangetastet. 32 Die paraguayische Gesellschaft weiß um die Notwendigkeit, die demokratischen Institutionen zu stärken und den herrschenden Klientelismus zu bekämpfen. So sieht Wasmosys ehrgeiziges Programm vor, die staatliche Verwaltung zu entbürokratisieren und für alle Parteien zu öffnen, die Institutionen verfassungsmäßig zu stärken, die Streitkräfte zu entpolitisieren und um-

31

Rehren 1994.

32

Ebda., S. 151.

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zustrukturieren, die öffentlichen Ausgaben zu senken und die staatlichen Unternehmen zu privatisieren. 33 Zwei Jahre nach der Formulierung sind viele dieser Ziele noch überhaupt nicht und andere nur zum Teil verwirklicht, weil die Regierungspartei nicht die Mehrheit im Parlament stellt und ihre Fraktion in einen Wasmosy- und einen Argafia-Flügel gespalten ist. So bildet der Argafia-Flügel, der die Mehrheit der Colorado-Sitze im Abgeordnetenhaus auf sich vereint, zusammen mit anderen politischen Gruppierungen eine oppositionelle Koalition gegen die Regierung. 34 Als Maßnahme zur Verbesserung der Beziehungen zwischen Exekutive und Kongreß schlug Domingo Laino einen Regierungspakt vor, dem sich der PLRA, der PDC, der PRF und Teile der Colorado-Partei mit Ausnahme der Argafia-Anhänger und der Fraktion der Traditionalisten anschlössen. Mit Hilfe dieses Paktes sollten jene Gruppierungen, ohne ihr Profil als Opposition zu verlieren, einen Dialog über grundsätzliche Aspekte der staatlichen Verwaltung beginnen. Obwohl die Vermutung naheliegt, daß der Pakt ein Instrument war, dem Encuentro National

den Weg zu versperren 35 , ist es

doch offensichtlich, daß ein solches Abkommen in einem Land, dessen Regierungsstil seit jeher streng hierarchisch war, Raum für Debatten und Kompromisse schafft. Im übrigen eröffnet sich hier die Perspektive, die Monopolstellung einer Partei von hegemonialem Zuschnitt wie der Colorado-Partei zu begrenzen. Nach zwei Jahren Amtszeit unter Juan Carlos Wasmosy werden erste Erfolge seiner Regierung sichtbar. Das Ziel der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Modernisierung des Landes erscheint gegenwärtig nicht mehr so fern, auch wenn es nur langsam vorangeht und die Exekutive bei der Legislative nicht genug Rückhalt findet.

33

Ebda.

34

35

Bei den Wahlen 1993 wurden 38 Colorado-Abgeordnete gewählt, davon 22 Argafia-Anhänger und 16 dem Parteiflügel des Präsidenten angehörige, sowie 33 Liberale und 9 von Encuentro National. Rehren 1994, S. 157.

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Die wichtigsten Vorhaben der Wasmosy-Regierung sind die erfolgreiche Integration Paraguays in den MERCOSUR und die Modernisierung des Landes. Da Paraguay das schwächste der vier MERCOSUR-Länder ist, erhielt es Sonderkonditionen, die seine Integration erleichtern sollen. Hierzu einige Daten: Der Anteil Paraguays am Bruttosozialprodukt der Mitgliedsstaaten des MERCOSUR - Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay - beträgt 1 %; sein Bevölkerungsanteil liegt bei 2,5 %. Das Land nimmt 3,4 % der Gesamtfläche der vier Länder ein. Exporte und Importe haben einen Anteil von 2 % bzw. 4 % am Gesamthandelsvolumen. 36 Der paraguayische Außenhandel hat vom Integrationsprozeß deutlich profitiert. Gegenwärtig gehen 52 % der Exporte in Mitgliedsstaaten des MERCOSUR. Auch in bezug auf die privaten Investitionen, die seit Wasmosys Amtsantritt um 850 Millionen Guarani gestiegen sind, spielen die angrenzenden Länder eine wichtige Rolle. Ein Viertel dieser Summe wird von ihnen aufgebracht. Außerdem ist die Wasmosy-Regierung an der Privatisierung des Wasserkraftwerks Yaciretä interessiert. Dazu muß sie ihre Ziele mit Argentinien, das an dem Werk beteiligt ist, abstimmen. Das Ausmaß dieses Privatisierungsprojekts könnte der Entwicklung Paraguays starke Impulse geben. Das Bruttosozialprodukt Paraguays wuchs 1994 um 3,5 % auf gut 7,9 Millarden Dollar oder pro Kopf gerechnet auf 1.670 Dollar. Für 1995 erwartete die Weltbank ein Wachstum des paraguayischen Bruttosozialproduktes, das noch 1,3 % über dem Vorjahresniveau liegen sollte. Zusammen mit Chile gehört das Land damit zu den wachstumsstärksten Regionen im wirtschaftlich ohnehin expandierenden Raum Lateinamerika und Karibik. Die wirtschaftlichen Prognosen für Paraguay als Mitglied des MERCOSUR fallen noch besser aus. Dort erscheint es als Land mit dem stärksten Wachstum im Vergleich zu 1994/95. 37

36

37

Neue Züricher Zeitung, 28./29. Oktober 1995. Ambito Financiero, 18. Oktober 1995.

327

II. Paraguay Tab. 4: Wachstum in Lateinamerika und der Karibik (in % des BSP) Paraguay* Chile Honduras El Salvador Bolivia Guayana Nicaragua Kolumbien Trinidad -Tobago Panama Guatemala Ecuador Brasilien* Uruguay* Jamaica Costa Rica Peru Venezuela Haiti Argentinien* Mexico

1994 3,5 4,6 1,5 5,8 4,2 5,0 3,0 5,7 4,5 4,0 4,0 3,5 5,7 4,2 0,8 3,5 10,4 -3,3 10,6 7,1 3,8

1995 4,8 5,9 2,5 6,5 4,5 5,0 3,0 5,2 4,0 3,5 3,0 2,5 4,5 2,8 -1,0 1,5 6,0 -1,5 4,5 0,00 -4,8

Quelle: Statistik der Weltbank. »Mitglieder des MERCOSUR. Nach offiziellen Angaben beträgt die Arbeitslosigkeit in Paraguay 4,4 % und die Unterbeschäftigung 17,7 %. Diese Daten sind allerdings in Ermangelung genauer Statistiken mit Vorsicht zu behandeln. Unter der Präsidentschaft Wasmosys erhielt Paraguay internationale Kredite in Höhe von 800 Millionen Dollar für die Modernisierung der technischen und sozialen Infrastruktur. Da die Staatsverschuldung im Verhältnis zu den Devisenreserven relativ gering ist, wird das Land keine Probleme haben, seinen RückZahlungsverpflichtungen nachzukommen. Die vorläufigen Daten zeigen ferner, daß der Anteil des Auslandskapitals in Paraguay nicht zuletzt dank seiner Stellung im MERCOSUR von 28 % (1993) auf 51 % (1994) deutlich gestiegen ist. Nach neuesten Daten profitiert

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die Produktion am meisten von diesem Investitionsboom. Etwa 70 % des Kapitals, das von der lebhaften Konjunktur der paraguayischen Volkswirtschaft angezogen wurde, floß in die Industrie. 38 Im internationalen Kontext hat der Fall des Stroessner-Regimes Paraguay erlaubt, neue diplomatische Bande zu knüpfen. So ist der demokratische Diskurs nicht zuletzt darauf ausgerichtet, das beschädigte internationale Ansehen des Landes zu verbessern, das vor allem in den letzten fünf Jahren des abgesetzten Regimes kritische Ausmaße erreicht hatte. Dabei pflegt die Außenpolitik Paraguays eine starke regionale Komponente - mit engen Beziehungen zu Brasilien und Argentinien, mit denen es wegen ihrer geographischen Nähe in Handel, Transport und Energiegewinnung eng zusammenarbeitet. In den Beziehungen zu Washington spielt die militärische und polizeiliche Zusammenarbeit im K a m p f gegen den Drogenhandel eine wichtige Rolle. Im März 1995 setzten die Vereinigten Staaten Paraguay auf die 'Schwarze Liste', da sie der Ansicht waren, daß das Land nicht genügend Anstrengungen unternimmt, um den Drogenhandel zu bekämpfen. 3 9 Präsident Clinton hat im amerikanischen Kongreß zurecht kritisiert, daß Paraguay ein traditionelles Schmugglerzentrum sei und neuerdings auch eine gewichtige Rolle im Kokainhandel spiele. So werden täglich Hunderte von Kilogramm Kokain durch paraguayisches Gebiet transportiert. Dabei bewegen sich die Schmuggler auf zahlreichen geheimen Routen und profitieren von schlecht bewachten Grenzen.

40

Im Unterschied zu anderen lateinamerikanischen Ländern sind die U S A nicht der wichtigste Handelspartner Paraguays. Der paraguayische Handel orientiert sich vor allem nach Lateinamerika. 50 % seiner Exporte gehen in die Mitgliedsstaaten des M E R C O S U R . Umgekehrt kommen von dort 30 % seiner Importe. Davon abgesehen stellt auch die Europäische Gemeinschaft mit Italien, Deutschland und den Niederlanden an der Spitze einen wichtigen

38

Ebda.

39

La Nación, 24. März 1995.

40

C. Sánchez Bonifato, Paraguay en la Encrucijada, in: La Nación, 24. März 1995.

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Markt für paraguayische Agrarprodukte dar. Die Vereinigten Staaten stehen als Absatzland nach Brasilien auf dem zweiten Platz. 41 Auf dem Weg zur Demokratisierung Paraguays ist der internationale Kontext ein wichtiger Faktor. Demokratisches Ansehen ist eine notwendige Bedingung für wirtschaftliche Integration. So wäre Paraguay nicht Mitglied des MERCOSUR geworden, wenn es keine demokratische Regierung hätte. In diesem Sinne kann man von der Integration als festigendem Faktor für die Demokratie sprechen.

Bewertung des politischen Wandels in Paraguay Präsident Wasmosy ist der erste zivile Präsident Paraguays in diesem Jahrhundert und der erste in der Geschichte des Landes, der in freier öffentlicher Wahl gewählt wurde. Mit der Regierung Juan Carlos Wasmosy hat Paraguay ein neues Stadium der Demokratisierung erreicht. In den ersten Tagen seiner Amtszeit kündigte Wasmosy der Militärführung an, daß er auf keines seiner Befugnisse als Präsident zu verzichten bereit sei. In dieser Hinsicht schien es so, als finge seine Regierung damit an, die Triade aus Militär, ColoradoPartei und Regierung zu zerschlagen. Dann aber setzte Wasmosy als Oberbefehlshaber der Streitkräfte General Lino Oviedo ein - jenen Oviedo, der im In- und Ausland Protestreaktionen ausgelöst hatte, weil er am Vorabend der Wahlen vom Mai 1993 ankündigte, daß die Streitkräfte "zusammen mit der glorreichen Colorado-Partei das Land weiter mitregieren würden." 42 Somit steht auf institutioneller Ebene eine der größten Herausforderungen, die Unterordnung der Streitkräfte unter die demokratisch legitimierte Regierung, noch aus. Aber nicht nur die Armee tut sich mit ihrer neuen Rolle sichtlich schwer. Nach einer öffentlichen Umfrage im Jahr 1995, die von der Europäischen Gemeinschaft bei dem britischen Consulting-Unternehmen Mori in Auftrag gegeben worden war und an der acht lateinamerikanische Länder teilnahmen, sind 70 % der Paraguayer der Meinung, ihr Land brauche eine 'starke Hand'. 41 42

IRELA 1993. La Nation, 20. August 1993.

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In derselben Umfrage wurde gefragt, wer die Macht im Land habe - die Regierung, die großen Firmen oder das Militär. 61 % der Paraguayer antworteten, daß die Streitkräfte die größte Macht im Land darstellten, während nur 22 % dies von der Regierung behaupteten. Diese Daten zeigen deutlich, welches Ansehen die Streitkräfte in Paraguay noch immer genießen und wie sehr die politischen Geschicke Paraguays von einer alten, autoritären politischen Kultur geprägt werden, die beharrlich überlebt und insgeheim weiter gegen das freie Spiel der demokratischen Institutionen arbeitet. So ist es auch nicht verwunderlich, daß die politischen Ambitionen General Oviedos im politischen Klima des Landes gar nicht so schockierend wirken, da sie einfach eine neue Bestätigung der Rolle darstellen, die die Streitkräfte und die Colorado-Partei während der langen Diktatur Alfredo Stroessners gespielt haben. Jede Empfehlung im Hinblick auf Maßnahmen zur Festigung des Demokratisierungsprozesses in Paraguay muß das Weiterleben dieser autoritären politischen Kultur berücksichtigen. Alles, was für die Stärkung der demokratischen Werte in der paraguayischen Gesellschaft getan wird, wird zur Sicherung der Demokratie beitragen. Es ist nutzlos, auf eine größere Professionalisierung der Politik zu pochen, wenn einer der politischen Akteure wie die Armee das Machtmonopol hat und sich der zivilen Macht nicht unterordnet. Der internationale Druck fördert demokratische Institutionen ebenso wie die Gewaltenteilung und vor allem die Unabhängigkeit der Justiz. Er ist ein wichtiger Faktor für den Fortgang des Demokratisierungsprozesses in Paraguay. Anfang 1995 erklärte der Botschafter der Vereinigten Staaten in Asunciön, für seine Regierung habe "die Erhaltung der Demokratie Priorität". In mehreren Jahren demokratischen Wandels haben sich die demokratischen Institutionen in Paraguay noch nicht wirklich verfestigt. Die Grenze zwischen politischer Betätigung, die laut Verfassung der Zivilbevölkerung vorbehalten ist, und den Angelegenheiten eines Militärs, das sich vorbehaltlos der vom Volk gewählten Regierung unterordnet, muß noch deutlicher gezogen und respektiert werden. So wird davon abhängen, welche Rolle die berühmte Triade aus Regierung, Streitkräften und Colorado-Partei in Zukunft auf der politischen Bühne zu spielen gedenkt, ob Paraguay eine demokratische Zukunft hat oder nicht.

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Carlota Jackisch

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II. Peru

333

Raúl Valenzuela Transformation des politischen Systems in Peru* Einführung Das Fundament des gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Wandels in Lateinamerika ist der Aufschwung seiner Wirtschaft. Die Idee der privaten Lenkung der Wirtschaft, die einen freien Markt voraussetzt, muß auch staatsbürgerliches Engagement anregen. Wer wirtschaftlich frei ist, möchte es auch politisch sein. Eine Freiheit ohne Normen aber führt ins Chaos. Es ist daher die Aufgabe der Regierenden, einen festen und zugleich flexiblen gesetzlichen Rahmen zu schaffen, der die Wahrnehmung freiheitlicher Rechte regelt und dafür sorgt, daß der Rahmen respektiert wird. Nur so kann eine harmonische Entwicklung - die Grundlage jeder Demokratie - eingeleitet werden. Nach Alfredo Barnechea hat es in Peru derlei Bedingungen in der Vergangenheit zumindest im Ansatz schon gegeben. Schuld am traurigen Scheitern des Modells tragen demnach die halsstarrigen Eliten des Landes.1 Diese Auffassung stimmt mit der These von Jorge Basadre überein, in Peru habe es immer nur herrschende, aber niemals regierende Klassen gegeben.2 Das atavistische Patriarchat erteilte der Diktatur seinen Segen, blockierte eine bürgerliche Entwicklung und sorgte so dafür, daß jeder Versuch einer Demokratisierung im Keim erstickte. So hat sich das politische Verantwortungsgefühl, das eine demokratische Ordnung verlangt, in Peru niemals verfestigt. Der Peruaner von heute empfindet das gegenwärtige 'Einfrieren' der Politik als Erleichterung. Er widmet sich seiner Arbeit, lebt sein privates Leben und ist zufrieden, daß ihm die Politik nicht dazwischen funkt oder gar seine akti*

Aus dem Spanischen übersetzt von Guillermo Atlas.

1

Barnechea 1995.

2

Basadre 1963.

334

Raúl Valenzuela

ve Beteiligung verlangt. Ein gewisser weiser Zynismus hat ihn gelehrt, so gut es geht mit den Patriarchen zu leben - mit den Inkas, den Vizekönigen und den Diktatoren. Dieses Dareingeben aber kann sich nicht Fortschritt schimpfen. So zeigt sich die Nation noch immer vom schwachen Glanz des neuen und doch immer gleichen Caudillo geblendet - obwohl die Kluft zwischen reich und arm nicht kleiner wird, obwohl das Fundament bürgerlichen und menschlichen Fortschritts nicht über eine stumpfe Technisierung und zunehmendes politisches Desinteresse hinausreicht. Das heutige Peru gleicht einem Fluß, der von zwei Zuflüssen gespeist wird. Auf der einen Seite eine aktualisierte Version des desarrollismo mit all seinen Kapriolen und Auswüchsen, auf der anderen der anschwellende Strom der Massen, die ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen. Die Umgangssprache reflektiert ein Bewußtsein, in dem diese beiden Ströme nebeneinander herfließen, sich überschneiden, sich potenzieren, einander entgegenströmen. Man kann Phrasen lesen wie en busca de la excelencia y la calidad total (auf der Suche nach Vorzüglichem und der vollkommenen Qualität), und gleichzeitig nennt man seinen Chef seinen patrön (Herr). Unternehmer mit nordamerikanischem Universitätsabschluß sagen mi gente (meine Leute), wenn sie von ihren Angestellten sprechen und duzen die Bedienung in ihren Clubs. Eine Art gesellschaftlicher Schizophrenie - demokratische Inkompetenz und diktatorische Perversion. Mein Land hat den Frieden politischer Stabilität niemals erlebt. An dieser Stelle sei ein kleines Traumbild erlaubt: Im Minimarkt einer modernen Tankstelle zahlt ein Autofahrer mit seiner Kreditkarte die Flasche Chianti, die er später auf der Terrasse seines Strandhauses mit seiner Frau zu trinken gedenkt. Er steigt in die klimatisierte Frische seines neuen Landrovers und fährt auf der Autobahn durch die küstennahe Wüste. Die armseligen Hütten, die auf ehemaligen Müllkippen errichtet sind, lassen ihn an ein paar Sätze von Alexander von Humboldt denken, die er in dem feinen Gymnasium, in das seine Kinder gehen, als Aushang in einer Vitrine gelesen hat: "Das Glücksspiel und familiärer Streit zerstören jede soziale Gemeinschaft. Ein

In den sechziger Jahre galt die Entwicklungspolitik als Allheilmittel der Probleme Lateinamerikas und wurde in zuständigen Gremien der U N O - etwa dem CEPAL - sehr stark vertreten (Anm. d. Übersetzers).

335

II. Peru

trauriges Kapitel, das aber auch ein Licht auf die Regierung wirft. So ist es bezeichnend, daß ich in Lima rein gar nichts über Peru in Erfahrung bringen konnte. Dort kümmert sich niemand um die Belange des Königreiches. Lima ist weiter weg von Peru als London. Ich kenne keine Gegend im spanischen Amerika, in der der Patriotismus dermaßen erloschen wäre. Der kalte Egoismus bestimmt jeden Einzelnen." 4 Dann erinnert sich unser Fahrer an die Parole, die die Anhänger von Cáceres nach dem Krieg gegen Chile skandierten: "Lieber die Chilenen als Piérola!". "Macera hat recht", denkt der Fahrer weiter. 5 Das von den Spaniern hinterlassene Machtvakuum konnten die zerstrittenen und seit dem 18. Jahrhundert verarmten kreolischen Eliten, die keinerlei Regierungserfahrung hatten, nicht ausfüllen. Ein Peru ohne Rückgrat, mit einem Bein im 21. Jahrhundert und mit dem anderen in der Urzeit. Ganz gelassen, weil niemand einen Stein von einer Autobahnbrücke auf ihn hinuntergeworfen hat, um ihn zu überfallen, nimmt der Fahrer schließlich die Ausfahrt zu seinem Seebad. Von der Steilküste aus kann er die Fischerboote sehen, die aufs sommerliche Meer hinausgerudert werden wie einst vor hundert Jahren von den Großeltern und Urgroßeltern der Fischer. Der Mann überlegt einen Moment und beschließt, seinem Sohn das importierte Surfbrett aus Hawaii, das er ihm gekauft hat, noch nicht zu geben - zumindest solange nicht, bis der irgend etwas getan hat, um es zu verdienen. "Peru", denkt er verängstigt, "sitzt nicht auf einer Goldader, wie vor hundert Jahren ein italienischer Reisender bemerkte, es sitzt auf einem Pulverfaß."

1.

Tradition, Kultur und Akteure des politischen Systems

Nach Haya de la Torre lebte das formale Peru auf dem Rücken des wirklichen Peru. Für Mariátegui war das Indio-Problem fundamental. Víctor Andrés Belaunde, der 1920 durch das ganze Land ritt, sprach vom "profunden" Peru. Dabei stimmten die drei einflußreichsten peruanischen Politiker des Jahrhunderts - ein Rechter, ein gemäßigter Linker und ein Kommunist - in

4

Moheit 1993.

5

Macera 1978.

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einer Hinsicht überein: Die Oberschicht müsse endlich zu Besinnung kommen. Sie tat es aber nicht. Sie zog es vor, weiter ihre Badewannen aus London und ihre Wäsche aus Paris zu importieren. Unter dem Titel Apogeo y crisis de la república aristocrática

(Höhepunkt

und Krise der aristokratischen Republik) weist der Historiker Alberto Flores Galindo nach, daß die peruanische Demokratie ein künstliches Konstrukt ist, da sie auf enorme soziale Ungerechtigkeit gründet. 6 In Buscando un inca (Auf der Suche nach einem Inka) spricht der gleiche Autor vom gewaltigen Erwachen der indigenen Nation, die irgendwann die von den Weißen gezogenen Grenzen des Hinterlandes über den Haufen rennen werde, um den Mythos von Inkarri Wirklichkeit werden zu lassen - jener historischen Figur des 16. Jahrhunderts, die zurückerobern wollte, was immer den Indios gehört hatte, sobald sich die Zeit dafür erfüllt habe. 7 Flores Galindo hat sich nur in einer Hinsicht geirrt. Sicher ist Peru nicht mehr kreolisch; aber auch nicht in der Hand der Indios. Der Wandel setzte mit dem Urbanisierungsprozeß ein. Sendero

Luminoso,

der Leuchtende Pfad, und die Wirtschaftskrise der achtziger Jahre waren die Auslöser, die einen seit 1950 schwelenden Konfliktherd explodieren ließen. Die Landflucht veränderte das Wesen, Sitten, Gebräuche und Werte der bäuerlichen Migranten und ihrer Nachkommen. Das bereits seit dem Inkareich und der Kolonialzeit bekannte ethnische Konglomerat und der Synkretismus verstärkten sich. Rassen und Kulturen vermischten sich zu bunten und exotischen Formen. Peru wurde ein Land von Mestizen - von Cholos,8

Heute

drücken diese Millionen von Peruanern ihrem Land politisch ihren Stempel auf. 1990 wählten sie Fujimori zum Präsidenten: Damit erteilten sie dem traditionalistischen und ausbeuterischen Peru eine Absage und stimmten zugleich für den, den François Borricaud einen 'Supercholo' genannt hat. 9

6 7

g

9

Burga/Flores Galindo 1980. Flores Galindo 1988. Vgl. Marzal 1985. Cholo ist die peruanische Bezeichnung für Mestize (Anm. d. Übersetzers). Vgl. Barnechea 1995, S. 379.

II. Peru

337

Anfänglich rechnete Fujimori nicht mit seiner Wahl; er wollte in den Senat und kandidierte für die Präsidentschaft, um das Terrain zu sondieren. Als er an die Macht kam, hatte er weder ein Programm noch eine Mannschaft - und kein Geld. Sein Sinn fürs Praktische und eine Tournee durch die politischenund Finanzzentren der Welt lehrten ihn, was er zu tun hatte. So wurden unter Schmerzen der technokratische Plan der internationalen Organisationen zur Kontrolle der Hyperinflation und Stabilisierung der Wirtschaft implementiert und der Terrorismus besiegt. Fujimori ist ein Volkstribun. Er deckt die Dächer der Hütten in den Bergen von Ayacucho - der Wiege des Sendero Luminoso - und schläft darin. Er wandert im Poncho durch die Hochebenen der Anden, die ehemaligen Schlupfwinkel der terrucos, und verbringt mehr Zeit mit der Arbeit in Kiesgruben als im Regierungspalast. Die Ironie des Schicksals will, daß der Supercholo japanischer Abstammung ist. Am 5. April 1992 inszenierte Fujimori seinen berühmten autogolpe (Selbstputsch). Mit Unterstützung von ihm selbst eingesetzter Militärs löste er den Kongreß auf, dessen konstruktive wie destruktive Autonomie den Präsidenten lähmte, und schlug dem Land eine 'direkte Demokratie' vor. 75 % der Bevölkerung applaudierten ihrem Caudillo. Erst der Protest der demokratischen Kräfte und der internationale Druck führten dann zu einem Kompromiß. Im November 1992 wurde ein Verfassungsgebender Kongreß gewählt, in dem die Anhänger des Präsidenten die Mehrheit stellten. Ein Jahr später wurde in einem sehr umstrittenen Referendum, das knapp ausging, die aktuell geltende Verfassung bestätigt. Heute spricht man von einer Verfassungsänderung. Diese Praxis ist niemandem fremd - in 175 Jahren republikanischer Geschichte hat es in Peru 16 Verfassungen gegeben. Im April 1995 wurde Fujimori von 6 4 % der Peruaner wiedergewählt und erlangte die absolute Mehrheit im Parlament. Die traditionellen Parteien kamen als Ausdruck ihrer tiefen Krise zusammen auf nur noch 12 %. Im Juni wurde eine Generalamnestie verkündet, die sowohl jene Militärs betraf, denen der Prozeß gemacht worden war, weil sie der Verfassung von 1979 anhingen, als auch den wegen Mordes an einem Universitätsprofessor und neun Studenten Verurteilten, die man für Mitglieder des Sendero Luminoso gehalten hatte. Die öffentliche Meinung war empört, und der nordamerikanische

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Kongreß strich wegen "staatlicher Verletzung der Menschenrechte" die Militärhilfe für Peru. Ein weiteres außerordentliches Ereignis war der Krieg gegen Ecuador. Es ist nun schon ein Jahr her, daß Ecuador in der Erklärung von Itamaraty das Protokoll von Rio de Janeiro von 1941 anerkannt hat, in dem die endgültige Grenze zwischen beiden Ländern festgelegt worden war. Sobald die Entmilitarisierung der von den Garanten des Protokolls festgelegten Zone abgeschlossen ist, bleibt nur noch ein Grenzstreifen von 78 km Länge abzustekken, für den gemeinsame Integrations- und Entwicklungspläne entwickelt werden müssen. So sollte uns das Jahr 2000 mit unseren wahren Feinden konfrontieren - der Armut, der Ignoranz, der politischen und kulturellen Rückständigkeit beider Länder. In Peru werden augenblicklich Kampagnen, die eine allgemeine moralische Läuterung propagieren, verstärkt - eine Aufgabe, an der der Staat und die bürgerliche Gesellschaft gemeinsam zu arbeiten haben. Der größte Betrüger in der Geschichte des Landes wurde ausgeliefert und eingesperrt, und die Peruaner hoffen, daß die internationale Nachsicht mit Alan Garcia bald ein Ende haben wird, damit ihm ein fairer Prozeß gemacht werden kann und er hinter Gitter kommt. In diesem Zusammenhang wird eine Reform des Justizwesens von unabhängiger Seite gefordert. Und in der Tat sind in jüngster Zeit Richter und Staatsanwälte wegen Korruption bestraft worden. Ein heikleres Thema sind die Militärtribunale mit ihren "Richtern ohne Gesicht", die die Terroristen aburteilten. In internationalen Kreisen sprach man von Menschenrechtsverletzungen. Aber die Richter erinnern sich nur zu gut daran, daß der Sendero Luminoso ihre Verwandten ermordet hat; und jeder in Peru weiß, daß der Leuchtende Pfad - obgleich im Niedergang begriffen dazu noch immer in der Lage ist. Das Bevölkerungsproblem ist in Peru von weltlicher Seite traditionell stiefmütterlich behandelt worden. Die Regierung hat eine Informationskampagne gestartet, und die Sensationspresse hat die Konfrontation mit der Kirche gesucht. Entgegen deren Darstellung gibt es aber keine massive Sterilisationskampagne. Im übrigen aber darf sich der Staat in seiner Politik nicht der Haltung der Kirche unterwerfen. Der 'Kondomkrieg' hat gezeigt, wie weit Peru von einer demokratischen Trennung von Kirche und Staat entfernt ist.

II. Peru Die Mehrheit der Peruaner glaubt - und das zurecht

339 daß Fujimori zu viel

Macht hat. Die kompromißlose Haltung der präsidialen Parlamentsmehrheit und die Zersplitterung der Opposition tragen zu diesem Eindruck bei. So haben bei den Bürgermeisterwahlen in Lima viele Menschen nicht für Jaime Yoshiyama gestimmt, um "dem Chinesen nicht noch mehr Macht zu geben". Um dem Einhalt zu gebieten, legte Premier Dante Cördova dem Kongreß das Papier "Sprung ins Jahr 2000" vor, in dem er die politischen Leitlinien für die nächsten fünf Jahre vorgab - wirtschaftliche Stabilität, sachgemäße Verteilung der Haushaltsmittel, Schaffung produktiver Arbeitsplätze und Modernisierung des Staates. Der Vizepräsident des Kongresses, Victor Joy Way, merkte an, dieser Plan sei vor allem auf die Konsolidierung der Institutionen ausgerichtet. Das klingt widersprüchlich: Sicherlich sind einige der alten staatlichen Institutionen reformiert oder durch effizientere ersetzt worden. Doch richtet sich die Kritik der Opposition gerade gegen den Abbau von Institutionen und die Disproportionalität der Machtverteilung. Die Verfassung von 1993 entspricht in vielem ihrer Vorgängerin - etwa in der Definition des Staatsziels, der bürgerlichen Rechte und der formalen Grundlagen der Regierungsgewalt. Sie fördert die freie Privatinitiative und erhebt die soziale Marktwirtschaft zum Grundsatz. Gleichzeitig beschränkt sie die Interventionsrechte des Staates auf die Ressorts Gesundheit, Sicherheit, öffentliche Dienste und Bau, auf die Beschäftigungspolitik, die Förderung und Kontrolle des freien Wettbewerbs, den Verbraucherschutz und allgemeine nationale Ziele. Der Staat kann nur dann als Unternehmer auftreten, wenn dies einem besonderen öffentlichen Interesse entspricht. In keinem Bereich besitzt er einen Ausschließlichkeitsanspruch. Ausländische und einheimische Investoren werden gleichgestellt. Überdies werden Besitz und Verfügbarkeit ausländischer Währungen gesichert. Eine grundlegende Korrektur bedeutet dagen die Einführung des Einkamm e r s y s t e m s im Parlament. Ursprünglich dazu gedacht, die Gesetzgebung zu beschleunigen, verleitet es zu politischem Leichtsinn und parlamentarischer Diktatur. Mit einer ständigen Kommission und dem Vetorecht des Präsidenten hat man versucht, ein institutionelles Gegengewicht zu schaffen, das einige der Funktionen des alten Senats übernimmt. Die Amtszeit des Präsi-

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denten ist auf eine einzige Legislaturperiode von fünf Jahren begrenzt. Erst nach einer Amtspause kann er wieder kandidieren. Man geht aber davon aus, daß Fujimori diese Regelung so anwendet, daß er im Jahr 2000 wieder kandidieren kann, wobei er sich darauf berufen wird, daß seine jetzige die erste Regierungsperiode unter der neuen Verfassung ist. Die Todesstrafe wurde trotz heftiger Proteste der Opposition auf Hoch- und Landesverat ausgeweitet - ohne Beschränkung auf den Kriegszustand, wie es die vorhergehende Verfassung vorschrieb. Dieser Artikel verletzt das auch von Peru unterzeichnete Abkommen von San José de Costa Rica. Eine Gesetzgebung in diesem Bereich steht noch aus.

1.1. Das Regierungssystem Nach der neuen Verfassung ist Peru eine repräsentative Demokratie, ein in Departements gegliederter Einheitsstaat. Der Präsident wird vom Volk in allgemeiner und geheimer Wahl für fünf Jahre gewählt und hat legislative Vollmachten. Der Kongreß kann ihm die Zuständigkeit übertragen, Gesetze zu bestimmten Themenbereichen und in einer bestimmten Frist zu erlassen.10 Er kann den Kongreß auflösen, wenn dieser zwei Kabinetten sein Mißtrauen ausspricht. Unmittelbar danach müssen Wahlen zu einem neuen Parlament stattfinden. Der Präsident ernennt und entläßt den Premierminister, braucht aber dessen Zustimmung, um die Ressortminister zu ernennen oder zu entlassen. Er kann sein Vetorecht auf Gesetze, die ihm der Kongreß zur Zustimmung vorlegt, ganz oder partiell ausüben. Während seiner Amtszeit darf er lediglich wegen Landesverrats, Eingriff in die Amtsausübung anderer staatlicher Organe oder Vereitelung von Wahlen angeklagt werden. Das Kabinett ist der Legislative Rechenschaft schuldig und ihm kann die Vertrauensfrage gestellt werden. Ein Mißtrauensvotum gegen den Premierminister verpflichtet zum Rücktritt des gesamten Kabinetts. Der Kongreß kann auf Antrag eines Drittels seiner Mitglieder gegen einen Minister oder

10

Gegenwärtig genießt der Päsident dieses Recht noch ohne Begrenzung auf ein bestimmtes Sachgebiet für einen Zeitraum von sechs Monaten - eine Frist, die die Parlamentsferien bei weitem überschreitet.

II. Peru

341

gegen das ganze Kabinett interpellieren. Für ein Mißtrauensvotum werden mehr als die Hälfte der Stimmen benötigt. Entscheidungen des Präsidenten müssen von einem Minister gegengezeichnet werden, in dessen Ressort die politische Verantwortung fällt. Vom Präsidenten abgelehnte Gesetze können vom Kongreß mit absoluter Mehrheit verabschiedet werden. Faktisch aber sind all diese parlamentarischen Kontrollmechanismen außer Kraft gesetzt, wenn die Regierungspartei - wie es gegenwärtig der Fall ist - eine willfährige absolute Mehrheit stellt.

1.2. Die Bevölkerung Peru hat 23 Millionen Einwohner - mit einer schmalen Ober- und Mittelschicht und einem hohen Anteil armer und unter dem Existenzminimum lebender Bevölkerungsgruppen. Das wirtschaftliche Strukturanpassungsprogramm hat diese Unterschichten sehr hart getroffen. So verfugen 12 Millionen Peruaner über ein Pro-Kopfeinkommen von weniger als 500 US-Dollar im Jahr. Nur die Schattenwirtschaft, der sogenannte informelle Sektor, und die traditionelle Gemeinschaftshilfe gewähren zusammen mit direkten staatlichen und internationalen Hilfen ihr Überleben. Die Mittelschicht umfaßt etwa 12 % der Bevölkerung. Sie legt in dem Maße zu, wie ihr Lebensstandard steigt. Interessant ist, daß verhältnismäßig wenige Stimmen aus dieser Schicht 1995 auf Fujimori fielen - vermutlich dank ihrer höheren demokratischen Bildung oder weil sie noch nicht in den Genuß der Früchte der Wirtschaftsreformen gekommen sind. Nur 2 % der peruanischen Haushalte repräsentieren die Oberschicht, die ihrem Einkommen und Lebensstandard nach auch im internationalen Vergleich als wohlhabend gelten kann. "Die Verteidiger des Strukturprogramms sind davon überzeugt, daß der gesellschaftliche Reichtum mit der Zeit nach unten durchsickern wird. Für einen derartigen Trickle-down-Effekt gibt es jedoch keinerlei Anzeichen. Vielmehr schafft die Strukturreform gegenwärtig zwei Wirtschaftssysteme." 11 So wundern sich die Ausländer, die Peru kennen, daß das Land noch nicht explodiert ist.

11

Barnechea 1995, S. 389.

342

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1.3. Die Menschenrechte Es ist an der Zeit, von den Menschenrechten zu sprechen. Mit der Festnahme der führenden Köpfe des Terrorismus hat die politische Gewalt in Peru merklich nachgelassen. Es gibt aber immer noch subversive Brennpunkte, die den Ausnahmezustand, militärische Kontrollen und die Aussetzung einiger konstitutioneller Garantien rechtfertigen; mehr als die Hälfte der Peruaner sind davon betroffen. So erlaubt der Gesetzgeber, daß Zivilisten von anonymen Militärtribunalen abgeurteilt werden. Militärs im Ruhestand wird der Prozeß wegen Gesinnungsdelikten gemacht. Und die Zahl der ohne Verfahren wegen Terrorismus Angeklagten wird auf mehrere Tausend geschätzt. Wegen der Ermordung von Studenten und eines Universitätsprofessors wurden dagegen bis jetzt nur nachrangige Militärs zu geringen Strafen verurteilt, während die hohen Offiziere, die als Drahtzieher und Auftraggeber gelten, nicht vor Gericht standen. Nationale und internationale Organisationen haben diese Zustände verurteilt und eine grundsätzliche Kurskorrektur gefordert. Im Mai 1994 fand in Hochgebirgsregionen der Anden die sogenannte "Operation Widder" statt. Weder dem Roten Kreuz noch der Koordinatorin der Menschenrechte wurde die Einreise in das Gebiet gestattet. Zudem wird gemutmaßt, daß Militärs weiter Zivilisten foltern und ermorden. So ist für das Blutbad an 13 Personen in Barrios Altos im Jahre 1991 niemand verurteilt worden; und auch die acht Zivilisten, die 1992 in der Provinz Santa von der Polizei festgenommen wurden, blieben verschwunden. Ebenso wird Enthüllungen, die auf eine Verquickung militärischer Kommandos mit dem Drogenhandel hinweisen, nicht nachgegangen; man verfolgt vielmehr die Ankläger. Ein festgenommener Drogenhändler gab an die Presse die Höhe des Schweigegeldes, das er einem Militär gezahlt hatte, weiter. Er wurde hinter verschlossenen Türen von einem Militärtribunal abgeurteilt, und der beschuldigte Offizier mit einem wichtigen Botschafterposten belohnt. Schließlich schenkte die Generalamnestie mehr als einem überführten und geständigen Verbrecher die Freiheit. Derlei Praktiken schädigen das internationale Ansehen des Landes. Die schlimmsten Menschenrechtsverletzungen in Peru aber hat sich der Sendero Luminoso zuschulden kommen lassen. In 15 Jahren seiner Gewalt- und Terrorstrategie wurden unschuldige Menschen ermordet, Besitz zerstört und

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ganze Dörfer versklavt. Dennoch glauben Teile der internationalen Öffentlichkeit, der Sendero Luminoso sei eine Bewegung, die für soziale Gerechtigkeit kämpft. Dies ist ein schwerer Irrtum, den es zu korrigieren gilt, damit die weitere Werbung von Sympathisanten und Spendensammlungen unterbunden werden, die nur dazu dienen, Terror und Zerstörung zu verbreiten.

1.4. Elemente demokratischer Kultur Im gesellschaftlichen Mikrokosmos Perus gibt es seit langem Elemente demokratischer Kultur. Die Spanier übernahmen das Gemeinschaftsmodell der Indios mit seinen Normen und Machtstrukturen. Dieses Modell lebt bis heute in den Unterschichten fort. Das belegen die Vereinigungen von Müttern oder die Zusammenschlüsse kleiner Händler. Ihr institutioneller Fortbestand ist durch den Zusammenhalt ihrer Mitglieder gewährleistet. Demgegenüber stehen die alltäglichen Querelen und Auseinandersetzungen innerhalb der Interessenvertretungen der besser gestellten Schichten. Das Gemeinschaftsgefühl ist bei den Armen so verwurzelt wie der Individualismus in der Mittelund Oberschicht. Offenkundig fördert die Armut solidarisches Verhalten, und der Reichtum Habgier und Egoismus. Ist es möglich, die uralte demokratische Kulturtradition des peruanischen Volkes in den modernen Staat zu implantieren? Dem steht entgegen, daß die Mehrheit der indigenen Bevölkerung den Staat niemals als den ihren empfand, sondern immer als Sache der Weißen. Doch begannen in den letzten Jahrzehnten Millionen von Peruanern, die Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. So vertritt der Soziologe Oswaldo Medina die These, daß der traditionelle gesellschaftliche Aufstieg durch ein neues Verhaltensmuster, das in Peru als achoramiento bezeichnet wird, ersetzt worden sei.12 Der Em-

12

Medina 1994. In Peru bedeutet 'achorarse' umgangsprachlich lediglich unruhig werden. In diesem Zusammenhang handelt es sich um einen Begriff peruanischer Sozialwissenschaftler, mit dem die Mitglieder armer Bevölkerungsschichten, die mangels anderer ökonomischer Perspektiven auf eigene Faust einen Beruf oder ein Gewerbe ausüben, umschrieben werden. In der Regel handelt es sich dabei um Kleinstunternehmer, die sich durchschlagen, nach oben zu boxen versuchen und dabei von einem ausgeprägten Entrepreneur-Geist beseelt sind. (Anm. d. Übersetzers).

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porkömmling ist schlecht angesehen. Hingegen verdankt der achorado seinen Erfolg einer gewissen gesellschaftlichen Nivellierung und der - vor allem kommerziellen - Interaktion zwischen den Klassen. Damit ist noch nicht die politische Ebene erreicht; der achoramiento hat mehr mit praktischen Handlungsstrategien zu tun als mit fortdauernden politischen oder sozialen Prozessen. Die demokratische Revolution, die sich am unteren Ende der Gesellschaftsskala abzeichnet, zielt auf das Streben nach Autonomie und Würde. Sie hat die gesellschaftliche Fragmentierung derart weit getrieben, daß manche Soziologen bereits von Anomie sprechen. Es ist in der Tat eine Art egalisierender Anomie - aber nach den Gesetzen des Dschungels. Die Einebnung sozialer Disparitäten kann aber nur der erste Schritt zur Demokratie sein. Es geht um mehr - um eine neue politische Kultur, die Achtung vor dem Andersdenkenden, die Beteiligung an Interessenvertretungen und die loyale Achtung der demokratischen Institutionen. Nach Meinung des Psychologen Juan Carlos Tafur kann der anomische Status quo in Peru nur durch einen gesellschaftlichen Vertrag überwunden werden, dessen Angelpunkt die Rekonstruktion eines Staates ist, der der Bevölkerung Sicherheit bietet und mit dem sie sich identifizieren kann. "Noch sind wir ein unregierbares Land" 13 , sagt Tufur. Dagegen sind die Grundbedingungen für seine künftige Regierbarkeit eine Rückbesinnung auf das wahre Peru und die Stabilität des gesellschaftlichen Rahmens, den die Regierenden dem Land zu geben in der Lage sind. Der Lauf der Dinge zeigt, daß sich diese beiden Bedingungen - wenn auch noch sehr eingeschränkt - zum ersten Mal in der Geschichte des Landes zu erfüllen beginnen.

2.

Eliten und Akteure des Wandels

Eine sachliche Kommunikation und Auseinandersetzung als Ausgangspunkt von Reformen wird in Peru traditionell durch leere Rhetorik überlagert. Statt Ideen und Meinungen auszutauschen, beschimpft man sich; Argumente degenerieren zu Spitzfindigkeiten, Programme zu Wortklauberei. Auch hier handelt es sich eher um ein kulturelles als ein politisches Problem. Die an 13

Tafur 1995.

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starre Traditionen gebundene Gesellschaft fördert eher Spott und Aufbegehren als Dialog und Kritik. Das patriarchalische Erbe verhindert, daß die Menschen sich als gleich begreifen - als Bürger mit denselben Rechten und Pflichten. Aber auch hier zeichnet sich ein Wandel von unten ab. In dem Maße, wie die ökonomische Interaktion die soziale Gleichheit fördert und die gesellschaftlichen Interessen sich bündeln, erneuern sich auch die Formen des Dialogs. Bezüglich der kollektiven Kräfte des Wandels gilt es zu betonen, daß das plötzliche Auftauchen Fujimoris in der politischen Szenerie das Debakel der traditionellen Parteien, die keine politischen Alternativen anboten, hervorrief. Dagegen werden andere Modernisierungsansätze durch altbekannte Probleme überlagert. Wahlbündnisse fallen nach Niederlagen auseinander. Pluralistische Bestrebungen sehen sich einem rohen, aber wirksamen Pragmatismus gegenüber. Dieses Bild einer labilen politischen Parteienlandschaft, die nicht den geringsten Einfluß auf die Zukunft des Landes nimmt, ergänzen der Mißkredit, in den die Ideologien gegenüber diesem Pragmatismus geraten sind, und die Ohnmacht der Arbeiterbewegung. Fujimori fuhrt ein Scheingefecht gegen den Caudillismo mit den Mitteln eines traditionellen Caudillo, und die Nation folgt ihm begeistert. Ihm zur Seite stehen zwei Parteien, der Cambio 90 und die Nueva Mayoría, die nicht als solche tätig sind. Fujimoris Gefolgschaft folgt ergeben seinen Anweisungen. Auch die Unternehmerschaft ist noch nicht in der Moderne angelangt; sie hält an ihrer alten Gewohnheit fest, sich um die Macht zu scharen, um in ihrem Schatten zu florieren. Über ihre Standesvertretungen verteidigen die Unternehmer eisern ihre partikularen Interessen, jammern in ihren Villen und auf ihren Luxusjachten, schaffen ihr Geld ins Ausland, investieren nur zögernd und reklamieren für sich alle möglichen Ausnahmeregelungen. Die Klein(st)unternehmer sind aus anderem Holz geschnitzt. Vom Land kommend besitzen sie viel von der Würde und Unabhängigkeit der achorados. Abseits einiger, aus Armut und Unwissenheit resultierender Defizite waren es die Klein(st)unternehmen, die die Härten des Wirtschaftsanpassungsprogramms aufgefangen haben. Sie produzieren mit hohen Kosten, weil sie keine geordnete Unternehmensstruktur aufweisen. Sie arbeiten auf der Straße oder in kleinen, nicht zugelassenen Werkstätten. Ihre technischen und

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kaufmännischen Kentnisse haben sie sich on the job angeeignet und sind dabei enorm kreativ. Der Klein(st)unternehmer ist das Symbol einer kleinen zweiten Industriellen Revolution. Auf unterschiedliche Weise wird versucht, ihn in die formale Wirtschaft zu integrieren. Da es sich aber um 10 Millionen Peruaner handelt, werden bis dahin wohl noch Jahre vergehen. Die Gewerkschaften haben ihren repräsentativen Charakter, den sie in den achtziger Jahren hatten, als sie das ganze Land lahmzulegen vermochten, verloren. Ihre Unterwanderung durch die Kommunistische Partei ließ nach. Der Sendero Luminoso, für den die Kommunisten Revisionisten waren, ermordete ihre Hauptführer. Heute gibt es Ansätze eines neuen, von Kennern der europäischen Sozialdemokratie entworfenen Gewerkschaftswesens, das als Pendant eines modernen Unternehmertums notwendig ist. Die Einheit der Katholischen Kirche Perus hält sich in Grenzen. An ihrer Spitze steht ein Jesuit. Der Opus Dei ist in letzter Zeit erstarkt, und die Vertreter der Befreiungstheologie haben an Einfluß verloren. Wie am Beispiel der Abtreibungsdiskussion deutlich wurde, versucht die Katholische Kirche sich in Regierungsangelegenheiten einzumischen. 1990 unterstützte sie direkt und indirekt Vargas Llosa. Fujimori dagegen hat seine Wahl zu einem großen Teil der wirkungsvollen Unterstützung der Protestanten zu verdanken. Die verschiedenen protestantischen Kirchen sind durch die Bank sehr aktiv, engagieren sich aber eher im sozialen als im politischen Bereich. Von den Streitkräften war bereits die Rede. Sie sind eine der politischen Stützen Fujimoris, aber nicht gänzlich der zivilen Macht untergeordnet. Mit dem Ausnahmezustand haben sie in weiten Teilen des Landes die politische Macht. Von der Bekämpfung des Drogenhandels mußten sie jüngst abgezogen werden, weil sich einige ihrer Offiziere von Drogenhändlern bestechen ließen. Dennoch genießen die Streitkräfte weiter die Anerkennung der Bevölkerung - sie haben den Terrorismus besiegt und im Konflikt mit Ecuador Geschick bewiesen. Auch die nationale Polizei hat eine wichtige Rolle im Kampf gegen den Terrorismus gespielt. Ihr gelang die Festnahme seiner führenden Köpfe. Der Polizeichef der verantwortlichen Einheit rückte drei Jahre später in die Generalkommandatur auf und versucht, das durch die Korruption geschädigte Ansehen der Polizei wiederherzustellen. Die Gemeinden haben ihrerseits

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kommunale Wachdienste eingerichtet, die in Zusammenarbeit mit der Polizei für ein größeres Sicherheitsgefühl der Bürger sorgen. Mit Bezug auf die politischen Akteure des Wandels darf das Thema des präsidialen Schattenkabinetts nicht unerwähnt bleiben. Fujimori ist von einem Beraterstab umgeben, dessen Mitglieder zum Teil unbekannt sind. Neben seinem Bruder Santiago, dem Chef des Geheimdienstes, Vladimiro Montesinos, einigen Ministern und loyalen Freunden üben mehrere graue Eminenzen Einfluß auf ihn aus. Da sich der Ministerrat kaum einmischt, denken viele Peruaner, daß das Schattenkabinett die wirkliche Macht hat. Die peruanischen Intellektuellen sind durch den rohen pragmatischen Diskurs in Mißkredit geraten. Nichtsdestoweniger wird eifrig geforscht und publiziert. Doch hat ihre kritische und nuancierte Analyse der Dinge keine Chance, das politische Handeln zu bestimmen. Der Akademismus der siebziger Jahre hat eine Gegenreaktion provoziert. So gründete vor zwei Jahren eine Gruppe Intellektueller zur Verteidigung der Bürgerrechte und Konsolidierung der Demokratie die Vereinigung Transparencia. Mit Tausenden von jungen Freiwilligen im ganzen Land beobachtet sie die korrekte Durchführung der Wahlen und widmet sich der Information der Wähler. Von der offiziellen Stimmenauszählung weichen die Statistiken der wegen ihrer neutralen Haltung hochangesehenen Transparencia weniger als 1 % ab. Die Macht der peruanischen Medien ist enorm. Ihre Haltung der Regierung gegenüber reicht von vorsichtiger Kritik bis hin zu offener Unterwerfung. Fernsehprogramme, die ehedem eine seriöse Informationsquelle darstellten, haben sich in Foren für die selbstgefälligen Monologe des Präsidenten verwandelt. Kritik an der Regierung beschränkt sich auf zwei Zeitschriften und eine Tageszeitung, die indes in der Bedeutungslosigkeit versinken. Viele Nicht-Regierungsorganisationen widmen sich unspektakulär der sozialen Basisarbeit. Schwerpunkte sind dabei vor allem die kommunale Selbstverwaltung, Ressourcenerschließung, kulturelle Integration des Landes und politische Bildung. Die Gruppen genießen internationale Unterstützung und haben keine Schwierigkeiten mit der Regierung, wenn sie sich loyal verhal-

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ten. Sie gewinnen langsam an Bedeutung und mischen sich mehr und mehr in gesellschaftliche Belange ein. Andere Massenbewegungen haben gegenüber dem individualistischen Pragmatismus an Bedeutung verloren. Es gibt keine organisierte Studentenbewegung, die Gewerkschaften sind weniger präsent, die bäuerlichen Genossenschaften haben vor der Privatisierung der Ländereien die Waffen gestreckt. Die größte Bedeutung haben wohl noch die Organisationen, die aus der schweren Krise der achtziger Jahre hervorgegangen sind - die Volksküchen, die Müttervereine, die Comités del vaso de leche (Milchglas-Komitees), die von engagierten Frauen geleitet werden, ohne deren Anstrengung die Wirtschaftsreformen unmöglich zu verkraften gewesen wären. Damit sind wir beim wichtigen Punkt Erziehung der Bürger zur Demokratie. Demokratie muß - wie die Barmherzigkeit - vor der eigenen Haustür beginnen. Der demokratische Dialog, gerade wenn er zwischen Menschen verschiedener Gesellschaftsschichten geführt wird, gründet sich auf Respekt vor dem anderen, vor der Wahrheit und der Vernunft. Im hierarchischen und patriarchalischen Peru gilt dies bereits auf der Ebene der persönlichen Beziehungen - zwischen Ehegatten, Eltern und Kindern, Lehrern und Schülern, Vorgesetzten und Untergebenen, Freunden. Der Teufelskreis des "wenn ich einmal groß bin, werde ich dran sein..." kann nur durch eine Erziehung aufgebrochen werden, die das Recht des Stärkeren durch die Kraft der Vernunft ersetzt. Demokratie setzt einen radikalen und tiefgreifenden Wertewandel voraus, der den Starrsinn und die eingeschliffenen Verhaltensmuster der wichtigsten sozialen Gruppierungen auch wirklich überwindet. An dieser Stelle seien einige Gedanken zur Erziehung im allgemeinen erlaubt. In Peru gibt es fast 8 Millionen Schüler; die Mehrheit besucht staatliche Schulen der untersten Kategorie, in denen ein starres Konzept von Auswendiglernen und Frontalunterricht vorherrscht. Die Regierung hat um die tausend neue Schulen gebaut. Gegenwärtig wird eine vollständige Umgestaltung der Curricula, der Unterrichtsmaterialien und eine intensive Schulung der Lehrer vorgenommen. Der Freiraum für die Privatschulen verunsicherte manche Schulleiter, die kaum Erfahrung besitzen, eigenständige Entscheidungen zu treffen. Es besteht jedoch die Hoffnung, daß diese Quelle päd-

349

II. Peru

agogischer Kreativität zur Entwicklung eines modernen nationalen Bildungssystems beiträgt.

3.

Institutionen prozeß

im

demokratischen

Konsolidierungs-

Die politischen Parteien in Peru stecken in einer tiefen Krise. Dies wurde erstmals bei den Kommunalwahlen 1989 spürbar, als die Wahlbeteiligung von 95 % auf 83 % absackte. Dabei errang in Lima ein parteiloser Kandidat eine überwältigende Mehrheit. Bei den Präsidentschaftswahlen im April des Jahres erlebten die politischen Parteien mit der Wahl eines weiteren parteilosen Kandidaten eine erneute Niederlage. Die traditionellen Parteien kamen gerade noch auf einen Stimmenanteil von zusammen nicht einmal 12 %. Diese Krise wurde durch das Unvermögen der Parteien ausgelöst, sich auf den rasanten Wandel im Land einzustellen, und ihre Ignoranz gegenüber neuen sozialen Phänomenen und Gruppen - etwa den in der Schattenwirtschaft tätigen Klein(st)unternehmern. So repräsentierten die Parteien bald niemanden mehr außer ihren eigenen Spitzenkandidaten und Parteiführern. Zweifellos aber kann es ohne politische Parteien in Peru nicht weitergehen. Es muß eine Form gefunden werden, Macht und Volk in eine direkte und angemessene Verbindung zu bringen. Die 'direkte Demokratie' oder diejenigen, die sich als große Retter des Vaterlandes gebärden, stellen eine schwere Hypothek für das Land dar. Deshalb müssen neue Parteien eine dezidiert gesellschaftliche Ausrichtung haben - und eine Funktionärselite, die sich in den Dienst einer integralen Entwicklung der gesamten Nation stellt. Ohnedies ist die institutionelle Frage von entscheidender Bedeutung. So stiftet der aufgeblähte, inkompetente und oftmals korrupte Staatsapparat in Peru ein unglaubliches Chaos. Erste Maßnahmen gegen dieses Übel waren sozial abgefederte Entlassungen, die auf eine Rationalisierung und Verschlankung der Bürokratie zielten. Doch bleibt auf diesem Gebiet noch viel zu tun. Dazu gehört vor allem die weitere Privatisierung. Der Staat ist per se ein sehr schlechter Unternehmer, aber bis vor wenigen Jahren kontrollierte er fast ein Drittel der peruanischen Wirtschaft. Es gab keine Branche, in der er nicht greifbar war. Dank einer klugen Privatisierungskampagne ist es gelun-

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gen, sich einen Anstrich von Wohlstand zu geben, der es dem Staat erlaubt, sich den Aufgaben zuzuwenden, die zu seinen eigentlichen Kompetenzbereichen gehören. Dieses Kapital kam vor allem von spanischen und chinesischen Investoren und in geringerem Maße von Chilenen und Mexikanern. Ein geflügeltes Wort ist mittlerweile die 'Deinstitutionalisierung' in Peru. Präsident Fujimori hat alle ihm zur Verfugung stehenden politischen Mittel ausgeschöpft, um so viel Macht wie möglich zu erlangen. So haben auf der einen Seite Institutionen wie der Ministerrat, die Legislative und die Justiz an Gewicht eingebüßt, auf der anderen Seite wurden neue Institutionen wie FONCODES geschaffen, die unmittelbar dem Präsidialamt unterstehen, das im übrigen mit seinem Etat im Staatshaushalt an zweiter Stelle steht. Damit ist Peru - wenn auch nicht de jure, so offenkundig de facto - ein Präsidialsystem, in dem es keine Gewaltenteilung gibt. Das vielleicht schwierigste Problem in Peru ist der Kampf gegen die Armut, die die politische und soziale Stabilität gefährdet. Um dieses Problem zu lösen, müssen die gesellschaftlichen Ziele neu definiert und makroökonomische Reformen eingeleitet werden. Peru muß für ausländisches Kapital weniger als finanzielles Spekulationsobjekt, sondern vielmehr als produktiver Investitionsstandort interessant werden. Vorbedingung hierfür sind effiziente staatliche Institutionen und ein moderner Justizapparat. Um gegen Armut und soziale Ungleichheit anzugehen, muß die strategische politische Planung in Einklang mit den gesellschaftlichen Produktivkräften gebracht werden. Der Jurist Diego Garcia Sayan 14 hat in diesem Zusammenhang auf sechs Kernpunkte verwiesen, auf die sich die Aufmerksamkeit dringend richten muß: a. eine unabhängige und effektive Justiz, die zuverlässig und schnell arbeitet, Konflikte entscheidet und Verbrechen bestraft; b. Mechanismen, die es erlauben, den Bürgerwillen schnell umzusetzen; c. die Garantie der Sicherheit des Bürgers durch eine grundlegende Revision des Polizeiapparates;

14

Garcia Sayan 1995a, 1995b.

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d. institutionelle Regulierung der Marktwirtschaft, Kampf gegen Monopolbildung, Spekulation und Betrug; e. Erziehungsprinzipien, die auf menschliche und gesellschaftliche Werte gründen; f. Programme zur Gesundheitsvorsorge, die bevölkerungspolitische Maßnahmen - etwa den Zugang zu modernen Mitteln der Empfängnisverhütung und Geburtenkontrolle - unter strikter Achtung des freien Willens des Bürgers beinhalten. Gesellschaftlich tonangebend sind heute in Peru auf der einen Seite die Unternehmer, die ihren Teil zur wirtschaftlichen Entwicklung beitragen, aber gleichzeitig eine rücksichtslose Modernisierung fordern und ihre Pfründe verteidigen. Auf der anderen Seite steht die Dyade Regierung-Volk. Die neue Verfassung verlangt eine grundlegende Reform des politischen Systems: a. Die Macht des Präsidenten muß begrenzt werden. Seinem Recht, bei entsprechendem Bedarf das Parlament aufzulösen, steht kein Äquivalent gegenüber. Der Präsident kann seines Amtes nicht enthoben werden. Sobald er gewählt ist, besteht kaum eine Möglichkeit, ihn abzusetzen. Ein Vorschlag wäre, dem Verfassungsgericht die Vollmacht zu geben, den Präsidenten, wenn er sich eines Verfassungsbruchs schuldig macht, abzusetzen. b. Rückkehr zum Zwei-Kammersystem. Das Ein-Kammersystem läßt für eine angemessene Vertretung der Provinzen keinen politischen Spielraum. Dieser kann nur durch die Einrichtung eines Unterhauses gesichert werden, dessen Zusammensetzung sich aus den Abstimmungen in den einzelnen Wahlkreisen ergibt. Dagegen geht das Oberhaus aus nationalen Wahlen hervor und übernimmt mehr juristische und konstitutionelle Funktionen. c. Über eine regelmäßigen Rotation eines Drittels des Parlamentes könnte das Wahlvolk inkompetente und korrupte Parlamentarier bestrafen. d. Ein neues Dezentralisierungskonzept muß erarbeitet werden. Gegenwärtig überschneiden sich drei Verwaltungsebenen - die nationale, regionale und kommunale. Die Kompetenzen und Verantwortlichkeiten, die Hierarchien und Beziehungen zwischen diesen drei Ebenen sind nicht genau definiert. Einen ersten Vorstoß in diese Richtung stellt das Dekret 776

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dar, das die Verteilung der kommunalen Mittel neu regelt. Durch dieses Dekret erhält Lima gegenwärtig weniger Zuschüsse und die anderen Gemeinden des Landes mehr. Früher war die Einwohnerzahl das Verteilungskriterium; heute ist es die Sterberate, die sicherlich eine Meßlatte für die Armut ist. So erhalten die bedürftigen Gegenden jetzt mehr Mittel, aber sie sind nicht unbedingt in der Lage, sie auch sinnvoll zu verwenden. Sinnvoll wäre es daher, beide Verteilungskriterien zu kombinieren. Das Dekret 776 wurde zu einem Zeitpunkt verabschiedet, als es heftige Auseinandersetzungen zwischen der Stadtverwaltung von Lima und der Zentralregierung gab. So liegt der Verdacht nahe, daß vorwiegend politische Interessen zu seiner Verabschiedung gefuhrt haben. e. Die Parteien müssen gestärkt werden. Ein Parteiengesetz allein reicht hier nicht aus. Die Anerkennung der Parteien als Interpreten und Vermittler heterogener gesellschaftlicher Segmente und Interessen muß in der Verfassung verankert werden. f. Die klassischen Werte müssen sowohl in der Wirtschaft als auch im Bildungs- und Erziehungswesen neu definiert werden - die allgemeinen Grundsätze der Erziehung, der peruanischen Nationalität und Identität müssen in der Verfassung verankert werden. Im übrigen ist es unerläßlich, gesetzliche Grundlagen für die Implementierung demokratischer Schlüsseleinrichtungen zu schaffen - einen Ombudsmann, einen Obersten Gerichtshof, Bürgerinitiativen, ein Verfassungsgericht etc. Seit kurzem gilt in Peru ein neues Wahlgesetz, das den Gegebenheiten verhältnismäßig gerecht wird. Die neue Verfassung sieht drei unabhängige und gleichrangige Behörden vor - ein Wahlregister, ein Wahlbüro und ein Wahlgericht. Ab dem 18. Lebensjahr besteht Wahlpflicht. NichtWähler werden mit Geldstrafen belegt. Das allgemeine Wahlrecht und Wahlgeheimnis sind garantiert. Die Auszählung der Stimmen ist öffentlich und wird im Wahllokal durchgeführt. Peru hat kein Parteiengesetz, und weder die Bürger noch der Gesetzgeber scheinen in naher Zukunft danach zu verlangen. Die Parteien sind offenkundig zufrieden damit, überhaupt im Parlament vertreten zu sein und fürchten, ein Parteiengesetz - als Bewertungsinstrument ihrer politischen Arbeit -

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könnte ihren Handlungsspielraum einschränken, der gegenwärtig praktisch nur durch den politischen Gegner begrenzt ist. Die peruanische Bürokratie ist eine Geißel für das Land. Traditionell dient der Staatsdienst nicht dazu, dem Bürger zu dienen, sondern sich des Staates zu bedienen. Inkompetente Beamte mißbrauchen ihre Stellung und vernachlässigen ihre Aufgaben. Dieses Elend kann nur durch interne Kontrollmechanismen mit professionellen, integren und ordentlich bezahlten Vorgesetzten in jeder Einrichtung beseitigt werden. In den Augen der Bevölkerung streiten sich in Peru die nationale Polizei und die Justiz um den ersten Preis im Korruptionswettlauf. Die Justiz hat schon mehrere Reformprogramme hinter sich. Eines der wichtigsten wurde von Präsident Fujimori unternommen, der eine Kommission von fünf Personen einsetzte, die hohes Ansehen als Juristen besaßen und als integre Persönlichkeiten galten. Sie leiteten eine Neustrukturierung ein, mußten ihre Versuche jedoch nach drei Jahren einstellen. So sind in der Justiz Korruption, Bestechung, politischer Druck und andere Mißstände noch immer an der Tagesordnung. Erst in jüngster Zeit gibt es wieder einige ermutigende Anhaltspunkte für eine effektivere Korruptionsbekämpfung.

4.

Orientierungsmodell für die politische Ordnung der nächsten Dekade

Die Verfassung verteidigt die Rechte des Individuums - garantiert ihm Chancengleichheit, seine Bürgerrechte und die Unabhängigkeit der Rechtssprechung. Neue gesellschaftliche Instanzen sind der Ombudsmann und das Verfassungsgericht. Die demokratische Partizipation der Bürger wird durch die bedarfsweise Amtsenthebung gewählter Autoritäten, das Recht auf Gesetzesvorschläge und Verfassungsklage, durch den Rechenschaftsbericht der Regierung und Volksentscheide gestärkt. Auf politischer Ebene verankert die Verfassung das Prinzip der Gewaltenteilung und -trennung in einem modernen Staat. Als volkswirtschaftliche Ziele sind produktive Investitionen, allgemeiner Wohlstand, freier Wettbewerb und der Schutz des Verbrauchers konstitutionell verankert.

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Auf dem Papier erscheint diese Verfassung kohärent, modern und effektiv. Doch verhindern die realen Bedingungen die konsequente Umsetzung ihres Auftrages; oder aber es fehlt der politische Wille, eine entsprechende Gesetzgebung zu verabschieden. In der Tat nimmt die Wirklichkeit in Peru bisweilen phantastische Züge an - alle zehn Jahre eine neue Verfassung; ein Volk, das einen Namenlosen zum Präsidenten wählt, der gegen sich selbst putscht und daraufhin von fast 80 % der Bürger bestätigt wird; ein Präsident, der eine Verfassung verabschiedet, um sie binnen drei Monaten zu verletzen; ein Land, das mit seiner Inflationsrate weltweit an der Spitze gestanden hat und wenige Jahre danach mit der Wachstumsrate seiner Wirtschaft. Wie kann man für dieses Land Prognosen für die kommende Dekade erstellen? Die sozioökonomischen Erhebungen des Nationalen Instituts für Statistik und Information (INEI) sind niederschmetternd. 56 % der peruanischen Familien können ihre Lebenshaltungskosten nicht bestreiten. 22 % der Bevölkerung stehen an der kritischen Armutsgrenze und leiden unter chronischer Unterernährung. Die Landflucht hat dazu geführt, daß mittlerweile 53 % der Bevölkerung in Städten leben, viele von ihnen unter menschenunwürdigen Bedingungen. Auf dem Lande sind 90 % verarmt. Die Zahl der vom Terrorismus Vertriebenen wird auf über eine halbe Million geschätzt. Seit Ende der vierziger Jahre haben sich die Migranten zu einer Art 'Volksbourgeoisie' entwickelt. Sie schaffen sich ihre eigenen Arbeitsplätze in Branchen, die wenig kapitalintensiv sind - im Dienstleistungssektor, Handel oder in der Textilverarbeitung. Der Weg von der improvisierten, illegalen Hinterhofwerkstatt zum regulären Unternehmen ist sehr dornenreich - aber weniger hart, als sich in der Schattenwirtschaft zu behaupten. Dieses Phänomen, das das Gesicht des Landes nachhaltig verändert hat, wird von José Matos Mar "Aufbruch des Volkes" genannt. 15 Nach Hernando de Soto kann die Produktivität der Schattenwirtschaft indirekt gemessen werden, indem man berechnet, wieviel sie in den letzten vier Jahrzehnten, in die die größte Krise in der Geschichte des Landes fällt, zum Leben, Überleben und für ihre eigene dynamische Entwicklung verbraucht hat. 16

15 16

Matos Mar 1984. De Soto 1986.

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Vom informellen Sektor unterscheidet sich die etablierte Unternehmenslandschaft. Die Wirtschaftsreform hat den Arbeitsmarkt zwar flexibilisiert, aber zugleich die Sicherheit der Arbeitsplätze vermindert. Dies trug zur Schwächung der Gewerkschaftsmacht bei. So bleibt trotz ökonomischer Globalisierung das Engagement der peruanischen Unternehmer für die Entwicklung des Landes begrenzt. Ihre überkommene Rentiersgesinnung offenbart sich im Versuch der Unternehmerverbände, zur Planwirtschaft zurückzukehren und auf wirtschaftspolitische Entscheidungen zu drängen, die einen künstlichen Schutzwall um die nationale Wirtschaft ziehen. Der radikale wirtschaftspolitische Kurswechsel Fujimoris setzte dem rücksichtslosen, dreißigjährigen Populismus ein Ende, der von Alan Garcia auf die Spitze getrieben worden war. Die Hyperinflation erreichte damals fast 7.000 %. Zwischen 1988 und 1990 fiel das Bruttosozialprodukt um 20 % und die Kaufkraft um 38 %. Die internationalen Rücklagen waren aufgebraucht, die Staatsverschuldung überstieg 15 %. Im August 1990 wandte Fujimori den Stabilisierungsplan der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds an und leitete Strukturreformen nach marktwirtschaftlichen Prinzipien ein Liberalisierung des Güterverkehrs, des Dienstleistungssektors, der Finanzund Arbeitsmärkte, Privatisierung der Staatsunternehmen, die große Verluste zu verbuchen hatten, Abbau und Rationalisierung der staatlichen Verwaltung. Das Anpassungsprogramm mündete am Anfang in eine drastische Rezession, deren Kosten das peruanische Volk zu bezahlen hatte. Fünf Jahre später sind erste Fortschritte zu verzeichnen. 1995 betrug die Inflationsrate 10%, die Rücklagen überstiegen 6 Milliarden Dollar, die Kaufkraft hat gegenüber 1993 um 41 % zugelegt. Der Staatshaushalt schloß mit einem kleinen Überschuß. Das verbesserte Image Perus lockte insgesamt 10 Milliarden Dollar Investitionen ins Land. Einheimische Investoren gehen mehr und mehr joint ventures mit Unternehmen aus dem Ausland ein. 1994 wuchs das Bruttosozialprodukt um 13 %. Für den Internationalen Währungsfonds war dies wegen des wachsenden Defizits in der Leistungsbilanz Anlaß zur Sorge. Die üppigen Dollarkredite, die in den privaten Sektor flössen, um die wachsende Nachfrage des Binnenmarktes zu befriedigen, stellen im Falle einer Abwertung der nationalen Währung ein hohes Risiko dar. Dem will man entge-

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genwirken, indem man die Wirtschaft 'einfriert'; die Wachstumsrate lag 1995 bei knapp 7 % und soll 1996 noch bescheidener ausfallen. Die Masse der peruanischen Importe sind Investitionsgüter. Der Export wird durch ein Programm angekurbelt, das die Verbesserung der Infrastruktur und Verbesserung der Ausbildung zugunsten der Produktqualität einschließt. Um den schwankenden Fluß des internationalen Kapitals auszugleichen, versucht der Staat, die Sparquote zu erhöhen. Dazu werden langfristige Investitionen gegenüber kurzfristigen - oft spekulativen - Anlagen begünstigt. Im Oktober 1995 schloß die peruanische Regierung ein Umschuldungsabkommen mit der Weltbank, in dem ein Schuldenabbau von über 4 Milliarden Dollar vereinbart wurde, und kündigte den Beitritt Perus zum Brady-Plan an. Zusammen mit der Einstellung von zwei Prozessen wegen unbezahlter Schulden gegen die vorherige Regierung verspricht dieser Schritt Peru einen Bonus in den Verhandlungen mit dem Pariser Club, von deren Erfolg eine positive Abwicklung des Umschuldungsprozesses abhängt. Weiter dramatisch gestaltet sich in Peru das Problem der Erwerbslosigkeit. Das INEI verzeichnet eine offizielle Arbeitslosenquote von 10 % und 77 % Unterbeschäftigung. Mit Bezug auf die Jugend verschlechtern sich die Zahlen mit einer offenen Arbeitslosigkeit von 16 % und niedrigen Löhnen noch weiter. Die wachsende Unterbeschäftigung verschärft das Armutsproblem, da eine unangemessene Entlohnung zugleich den Zugang zu Bildungseinrichtungen versperrt. Die fehlende Arbeitslosenversicherung wird durch die traditionelle Gemeinschaftshilfe ersetzt. Nach Jorge González Izquierdo, Wirtschaftswissenschaftler der Universidad del Pacífico, ist das Beschäftigungsproblem strukturell bedingt. Seine Lösung wird viele Jahre erfordern, da unter allen Umständen die Effizienz und Qualität der Arbeit verbessert werden muß. So werden vor allem die Investitionen in die Entwicklung des Humankapitals sehr hoch ausfallen. Davon abgesehen entlasten gerade die selbstgeschaffenen Arbeitsplätze und die Klein(st)unternehmen, die einen hohen Bedarf an Arbeitskräften haben, den peruanischen Arbeitsmarkt. Selbständigkeit und die Arbeit in kleinen Familienbetrieben werden der abhängigen Lohnarbeit vorgezogen. Man kann dort mehr verdienen. Daneben eröffnen diese Minibetriebe die Perspektive,

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Kapital zu akkumulieren und zu reinvestieren. In der Summe liegen sie bei der Schaffung neuer Arbeitsplätze ganz vorn. Der Anteil der Sozialausgaben im peruanischen Staatshaushalt ist stetig gewachsen. Für 1996 veranschlagte man für diesen Bereich 48 % des Gesamtvolumens. Diese Quote ist allerdings etwas überhöht, weil sie verschiedene laufende Kosten einschließt. Priorität bei der Mittelvergabe haben die Bereiche Erziehung, Gesundheit und der Kampf gegen existenzbedrohende Armut. Hinzu kommen die Kosten für die Modernisierung der Justiz, die Zuteilung von Land und die regionale Entwicklung. 50 % dieser Mittel verwaltet das Präsidialamt. Damit ist die Unabhängigkeit der lokalen Regierungen erheblich beschnitten und die Gefahr verbunden, daß regionale Anliegen durch den Zerrspiegel einer zentralen Instanz gesehen und verfälscht werden. So krankt das Sozialsystem vielfach noch an einer Anpassung der Zuteilung der Ausgaben an die wirklich vordringlichen Bedürfnisse der Bevölkerung. Ferner müssen die Produktionskosten für den Devisen bringenden und Arbeitsplätze schaffenden Export gesenkt werden. Dabei ist der Instandsetzung der öffentlichen Infrastruktur Priorität einzuräumen. Die Interamerikanische Entwicklungsbank (BID) und andere Organisationen beteiligen sich daran mit einer mittelfristigen Strategie - einer Hilfe zur Selbsthilfe, die von der Bevölkerung initiierte Projekte unterstützt. Und auch staatliche Institutionen finanzieren Projekte dieser Art. Das Präsidialamt investiert in die Energiegewinnung durch Wasserkraftwerke, die Anlage von Bewässerungssystemen und hat als Soforthilfe im sozialem Bereich ein Arbeitsbeschaffungsprogramm durch Vergabe öffentlicher Aufträge aufgelegt. Die effiziente Abwicklung, Analyse und Koordination dieser staatlichen Strukturmaßmahmen wird allerdings von der Vielfalt der damit beauftragten Institutionen erschwert. In diesem Zusammenhang gilt es vor allem in die Erziehung und Technisierung zu investieren. Sie bieten die einzige Gewähr für eine Effizienzsteigerung der Arbeitsprozesse. Den Nachholbedarf auf diesem Gebiet belegen die mangelhafte Ausbildung der Lehrer, ihre mageren Gehälter, die sie zwingen, sich Nebeneinkünfte zu verschaffen, und der erbärmliche Zustand der schulischen Infrastruktur. So haben 64 % der Schulen des Landes keinen Strom, kein Wasser und keine Kanalisation.

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Auch die mangelhafte Gesundheitversorgung schlägt auf die Produktivität. Nach Schätzungen gehen in Peru krankheitsbedingt zwei Arbeitstage pro Mann und Monat verloren. Diese Zahlen resultieren zum Teil aus dem Fehlen von sanitären Anlagen in den extremen Armutszonen. Angesichts der großen Investitionen, die in diesem Bereich anfallen, wirkt die Verteilung des Haushaltsmittel des Gesundheitsministeriums verfehlt. Seine technische Ausstattung überfordert die Qualifikation des Personals bei weitem. Die Volkszählung von 1993 ergab eine chronisch schlechte Ernährung der Bevölkerung. 47 % der Schulkinder - auf dem Land sogar 62 % - zeigen Symptome dauernder Unterernährung. Die Programme gegen den Hunger werden mit internationalen Spenden finanziert. Doch tauchen auch hier die bekannten Probleme wie mangelnde Ausgabenkontrolle, fehlende Koordination zwischen den Institutionen und Versagen des nationalen Ansprechpartners auf. Die Sicherheit der Bürger und ihre politischen Rechte sind abseits von Armut und Ungerechtigkeit, von Gewalt und Krise, weitgehend verbürgt - vielleicht, wie Octavio Paz bemerkte, weil es in Lateinamerika keine organischen Revolutionen mehr, sondern nur noch chaotische Revolten gibt, in denen sich die angestauten Spannungen in der Bevölkerung explosionsartig entladen. Viele Europäer fragen sich, warum ein Land mit derartigen Widersprüchen nicht explodiert. Eine Antwort auf diese Frage haben schon die Spanier gegeben, die einfach eine Religion einführten, die jegliche Hoffnung der Indios auf das Jenseits verlagerte. Nicht umsonst wurde zur Beschreibung der Eigenarten des peruanischen Volkes der Ausdruck Sufrido para el castigo

-

Hart im Nehmen - geprägt. Auf die Regierung und die Anwendung des staatlichen Gewaltmonopols in der Gesellschaft bezogen gilt es aber für die Gegenwart zu betonen, daß die politische Sicherheit in Peru spürbar größer geworden ist. Angst und Schrekken haben merklich abgenommen, und niemand kann mehr von systematischem Staatsterror sprechen. Der Volksmund nennt derlei 'Demokratur' und bringt damit zum Ausdruck, daß die Demokratie im allgemeinen dem Volkswillen entspricht, solange es keine Wahrnehmungsdiskrepanz zwischen Staat und Nation gibt. Tritt ein solcher Widerspruch auf, entscheidet der Wille des Präsidenten oder, je nachdem, das Militär. Mißachtet jedoch der

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Einzelne die allgemein verbindlichen Normen, sind weder seine Begabung, seine Integrität und das Einvernehmen des Tyrannen mit 'seinem Volk' ein ausreichender Trost. Keine Moral rechtfertigt die Allmacht des Uder. Fujimori hat enormen Machthunger. Die politische Sicherheit des peruanischen Citoyen ist nur solange garantiert, wie er mit diesem Vorsatz nicht in Konflikt gerät. Die demokratische Opposition ist nicht verboten; aber sie wird systematisch vereinnahmt und in Verruf gebracht. Manche hegen daher den Verdacht, daß Fujimori Teil eines langfristigen Plans ist, wie ihn in Chile die Militärs über Mittelsmänner implementiert haben. Man glaubt, daß große Teile der Streitkräfte versuchen, nach dem Scheitern ihres Vergesellschaftungsprojekts denjenigen an der Macht zu halten, der ihre Vorstellungen auf lange Sicht durchsetzt. Wahrheit oder Gerücht? Diese Grenze ist in Peru fließend. Zumindest beschäftigen sich die präsidententreuen Kongreßmitglieder schon damit, wie sie die Kandidatur Fujimoris im Jahr 2000 'legalisieren' können. Viele geben dies im privaten Kreis ganz offen zu. Zur Frage der ethnischen Minderheiten und der gesellschaftlichen Integration von Randgruppen in Peru ist zu sagen, daß die ethnischen Minderheiten sehr arm und sehr isoliert sind. Einige Urwaldstämme leben in prähistorischen Verhältnissen und leiden an ansteckenden Krankheiten und chronischer Unterernährung. Der Kontakt mit der Zivilisation bringt andere, schwer zu lösende Probleme mit sich. Der Sendero Luminoso versklavte einige Ethnien des Urwalds, und erst ihre Befreiung durch den Staat machte auf ihre Situation aufmerksam. Die Aymaras und die Uros der Hochebene sind etwas mehr integriert, aber auch ihre Lage läßt noch viel zu wünschen übrig. Die Marginalität der durch Krise und Terrorismus Vertriebenen ist ein anderes Problem, das sich nur langsam zu entschärfen beginnt. An Armut und Vergessen gewöhnt, nehmen sie eine konformistische Haltung ein. Ihr größtes Problem ist ihre Unorganisiertheit. Daher müssen die aus ihrer Gemeinschaft entstehenden Initiativen und lokalen Führungsstrukturen gefordert werden. Die politische, ökonomische und soziale Bilanz der letzten Jahre, das Ende von Terrorismus und Gewalt, führen zu dem Schluß, daß das Strukturmodell der peruanischen Gesellschaft manche Schwierigkeiten überwunden hat, obwohl es immer noch viel zu tun gibt. Die Grundlage dafür ist das wieder-

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gewonnene staatsbürgerliche Bewußtsein der Peruaner, ihre Identitätsfindung und ihr Vertrauen in die Zukunft.

5.

Internationale Rahmenbedingungen

Die folgenden Ausführungen stützen sich auf Interviews mit dem Soziologen Fernando Fuenzalida und dem Wirtschaftswissenschaftler Felipe Ortiz de Zevallos. Sie sind ein Prüfstein für die Haltung internationaler Machtantipoden wie den Vereinigten Staaten oder ehedem der Sowjetunion zur Demokratie. Seit Ende des Kalten Krieges haben sich die Gewichte verschoben. Bis zum Fall der Sowjetunion galt es für die Vereinigten Staaten, dem Kommunismus weltweit Einhalt zu gebieten. Dazu waren sie bereit, selbst Diktaturen der extremen Rechten oder Guerrillagruppen zu unterstützen. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks sind die Vereinigten Staaten die einzige Weltmacht. Wohlwissend, daß die Demokratie das angemessene Modell ist, um ihre ökonomischen und hegemonialen Interessen durchzusetzen, sind sie an einer demokratischen Entwicklung der Nationen interessiert. Um dies zu erreichen, üben sie mit Handelsblockaden oder anderen Wirtschaftssanktionen Druck aus und greifen im Extremfall - wie jüngst in Haiti - auch zu den Waffen. Octavio Paz hat es als eine historische Nemesis bezeichnet, daß die Vorkämpfer der Demokratie gerade in den Beziehungen mit den Ländern, die sie als ihren backyard betrachten, demokratische Grundsätze außer acht lassen. Was bedeutet vor dem Hintergrund der amerikanischen Interventionspraxis eigentlich Demokratie? Der wirtschaftliche und militärische Druck der USA dient der Durchsetzung ihrer Auffassung von Demokratie. Wenn ihr System und ihre Vorstellung von Demokratie richtig sind, ist dies lobenswert und bringt der Welt Gutes. Wenn aber die Vereinigten Staaten nicht recht haben, wenn Demokratie nicht nach einem Einheitsschema funktioniert, wenn einige ihrer spezifischen Merkmale von der kulturellen Identität eines Volkes und vom Stand seiner demokratischen Entwicklung abhängen, dann gleicht dieser Druck imperialistischer Gewalt. Demzufolge ist es auch nicht angebracht, die Festigung

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einer Demokratie von außen pauschal ab- oder aufzuwerten. Vorab steht die Frage, was Demokratie fur das jeweilige Land bedeutet. Die globale Integration ist in letzter Zeit zu einem Motor demokratischer Konsolidierung geworden. Sie ist ein demokratisierendes Instrument auf internationaler Ebene. So ist etwa die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) im Gegensatz zur Vergangenheit inzwischen eine Autorität, die demokratischen Druck ausüben kann. Die Vereinigten Staaten sind sich bewußt geworden, daß sie direkten Druck auf ein Land nicht ausüben können, ohne daß dies zu einer bilateralen Frage wird. Deshalb wurde der OAS als politischem Ordnungsfaktor in Lateinamerika mehr Gewicht gegeben. Auch die Einbindung von Staaten in Organisationen wie der Europäischen Union oder der NAFTA ermöglicht eine Konsolidierung der Demokratie. Um gemeinsam Ziele zu verfolgen, sollte man eine gemeinsame Grundlage - sprich Weltanschauung - haben. Daneben spielen natürlich auch ökonomische Interessen eine Rolle, wie der Handel des westlichen Kapitalismus mit Malaysia oder China zeigt. Die Basis der demokratischen Konsolidierung der Nationen ist ihre Kultur. Ihre Integration verlangt nach einem gemeinsame kulturellen Nenner und einer relativen kulturellen Integration. Es gilt also, nach den gemeinsamen Identitätsmerkmalen der involvierten Nationen zu suchen. Im Falle Lateinamerikas ist eine Integration wegen seiner gemeinsamen kulturellen Wurzeln in Spanien einfach und ebenso wie die europäische naheliegend. Sie ist viel einfacher als die nordamerikanische oder gar die asiatische und afrikanische Integration. Strittig dabei ist aber die Rolle internationaler Entwicklungsorganisationen wie US-AID. Diese und andere Organisationen verstehen sich im Grunde als politische Unterhändler. Sie verkaufen den Regierungen ihre Beratung und Unterstützung im Tausch gegen die Durchsetzung ihrer politischen Interessen. Dies soll jetzt anders werden. So wird in den Vereinigten Staaten diskutiert, ob US-AID im State Department bleiben oder sich von der Regierungspolitik unabhängig machen soll. Ein anderer Streitpunkt ist, ob diese Entwicklungsorganisationen den Regierungen der Partnerländer Kredite und Beratung direkt zur Verfügung stellen sollen, da damit der Staat die alleinige Entscheidungsbefugnis über die Pro-

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jekte erhält. Gegenwärtig sucht man nach Möglichkeiten, diese Hilfe direkt an private Institutionen zu vergeben, ohne den Umweg über die Regierung zu gehen. Die Entwicklungsorganisationen werden von ihren Gegnern oft als Instrumente der politischen Manipulation angesehen. Die Zusammenarbeit mit politisch delikaten Institutionen, etwa einer Wahlaufsichtsbehörde, verschafft ihnen Zugang zu sensiblen politischen Bereichen, die leicht so manipuliert werden können, wie es die Politik eines anderen Landes gern hätte. So werden demokratische Vorstellungen transportiert, die - wie bereits gesagt - für den Absender richtig sein können, jedoch nicht unbedingt für den Adressaten. Im übrigen aber darf auch die mediale und technische Globalisierung nicht unterschätzt werden. Die kostengünstige Einführung internationaler Kommunikationsnetze wie Kabelfernsehen, Mobilfunk und Internet hat völlig neue Bedingungen geschaffen.

6.

Schlußbemerkung zum Transformationsprozeß in Peru

Die Transformation der peruanischen Gesellschaft bietet ein äußerst widersprüchliches Bild. Der formlose demographische Wandel verdichtete sich nicht zu einem organischen sozialen Gefüge, sondern ergab einen riesigen bunten Bienenschwarm. Diese Vielfalt von Ethnien und Glaubensbekenntnissen, sozioökonomischen Entwicklungsstufen, Kulturen und historischen Traditionen macht das Wesen Perus aus. Die verschiedensten Symbiosen fließen zu einem facettenreichen Ganzen zusammen, das sich - je nachdem, wie man es sieht - als Vorteil oder Last entpuppt. Dem Reichtum an Möglichkeiten, verstärkt durch synkretistische Verschmelzungen, steht Diskriminierung und Zwietracht unter den Peruanern gegenüber. Mit Cortázar könnte man sagen, daß die peruanische Gesellschaft einem Modelo para armar einem Modellbaukasten gleicht. Aber in der Packung fehlt die Bastelanleitung. Die Zeitspanne, in der aus dem sozialen Gewebe eine Figur mit Identität und Sinn wird, wird in Generationen gemessen und schließt Scheitern, Stolpern und Neuanfang ein. Die Evolution der sozialen Biologie Perus gestaltet sich wie das Leben im Land -

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stoßweise, brodelnd, überfließend. Sie steuert aber nicht unbedingt auf ein höheres Organisationsniveau zu. Die höheren Organismen sind komplex und verlangen höhere und wirksamere Organisationsprinzipien. Dies ist die Aufgabe des Staates. Das Ancien Régime ist in die Luft geflogen. Es hatte sich als unfähig erwiesen, die gesellschaftlichen Kräfte unter Kontrolle zu halten, die Verschärfung der Krise von Wirtschaft, Politik und Justiz wahrzunehmen, geschweige denn sie zu verhindern. Chaos und Anomie schwächten den Staat dermaßen, daß der Sendero Luminoso ihn mit einem Streich hätte erledigen können, um sein Pol Pot-Regime zu errichten. Heute dagegen haben ein reformierter Staat und eine kompetente Regierung den Terrorismus besiegt, die Wirtschaft saniert und Peru wieder in die internationale Finanzwelt, Wirtschaft und Politik eingebunden. Das peruanische Volk beginnt, sich mit seinem Staat zu identifizieren, obwohl dies Disziplin, Anerkennung von Autoritäten, Loyalität und Gesetzestreue erfordert. Das Sicherheitsgefuhl ist das Ergebnis des wiedergewonnenen Vertrauens in den Staat. Die Modernisierung des Landes ist beeindruckend und hat viel mit seiner internationalen Reintegration zu tun. Ausländische Unternehmen und ausländisches Kapital führen uns abseits von Entwicklung und Produktion Modelle vor, die wir mit kritischem Verstand an unsere Wirklichkeit anpassen und mit unserer Couleur anreichern müssen. Das Risiko einer kritiklosen Assimilation ist hoch. Die kulturelle Durchdringung fordert nicht notwendigerweise eine nationale Identitätsfindung. Die internationale Kommunikation, die kommerzielle Öffnung und die Wiedereingliederung in den Weltmarkt vermitteln vielfältige Handlungsmuster, die nur von einer in ihrem Selbstverständnis halbwegs gefestigten Gesellschaft positiv aufgenommen werden können. Sonst gehen Werte, Gebräuche und Weltanschauungen verloren, die das Wesen und das Handeln der Einwohner Perus jahrhundertelang geprägt haben. Wandel ist per se positiv, aber dieser Wandel muß von einem Organismus verarbeitet werden. Es reicht nicht, sich schlicht und einfach von ihm durchdringen zu lassen. Wandel ja, aber in einem aktiven Prozeß der Bewußtseinsfindung und Affirmation. Nach Toynbee konnten nur die Völker, die sich dem Westen annäherten, seinem Vorstoß in die Neue Welt

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standhalten. Die anderen wurden in ihrem innersten Wesen getroffen, und die meisten von ihnen sind verschwunden. Damit sind wir beim Thema Entwicklungshilfe und internationale technische Zusammenarbeit im Dienste der Konsolidierung von Demokratie. Wie wir bereits im vorigen Kapitel angesprochen haben, reicht es nicht, daß ein Fremder daherkommt, um uns zu sagen, wie die Dinge in seinem Land liegen und daß sie bei uns genauso zu sein hätten. Unsere Ethnizität, unsere Sitten und Gebräuche, unser Wertesystem und der Stand unserer Entwicklung haben großen Einfluß auf den Aufbau unserer Demokratie. Nochmals verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf die althergebrachte Gemeinschaftstradition des peruanischen Volkes, die die entwickelten Länder nicht kennen und noch weniger verstehen. Die Demokratie bleibt ein historisches Ziel. Die entwickelten Länder haben sie auf einem langen, mit Opfern, Rückschlägen und bitteren Lehren gepflasterten Weg eingelöst. Wie auf diesem Weg ist die Schwäche der Demokratie in den Entwicklungsländern nicht endgültig, sondern vorläufig und überwindbar. Viele in der entwickelten Welt gebärden sich mit Vorliebe so, als wüßten sie nicht, wieviel sie selbst zur Stagnation der Demokratie und der Unterentwicklung auf dem übrigen Planeten beigetragen haben - mit ihrem ausbeuterischen monetären Kapitalismus. Es ist notwendig, daß sie ihre Beziehungen zu uns demokratischer gestalten - zum Beispiel Handel mit Waffen durch Handel mit zivilen Gütern ersetzen und keine Kriege anzetteln, um Waffen zu verkaufen. Der Technologietransfer ist lebensnotwendig; aber er muß mit unseren Eigenheiten kompatibel sein, darf unsere Identität nicht gefährden. Es gibt eine gewisse Tendenz, uns als arme Primitive zu sehen, Menschen zweiter Klasse, die das Spiel nicht verstehen und ihren vertraglichen Verpflichtungen nicht nachkommen. Da mag etwas dran sein. Aber die Lösung fuhrt nur über einen Dialog und die strikte Wahrnehmung der Verantwortlichkeiten auf allen Seiten. Dies bedeutet auch, daß die Experten, die einige Jahre in Ländern der Dritten Welt leben, sich auch wirklich auf das Leben in diesen Ländern einlassen. So haben etwa in Peru Ausländer, die länger als zwei Jahre im Land

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leben, kommunales Wahlrecht. Der Prozentsatz, der von diesem Recht Gebrauch macht, ist verschwindend gering. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Professionalisierung der Politik. Wer in der entwickelten Welt politisch Karriere macht, hat in der Regel lange Lehrjahre hinter sich und der Gemeinschaft seine Stärken und Schwächen gezeigt. Nach diesem Muster müßten die Nachwuchskräfte von ihren Schwesterparteien in den entwickelten Ländern ausgebildet werden. Ziellose Improvisation war für das politische Debakel verantwortlich, das Alan Garcia in Peru angerichtet hat. Bei Fujimori hätte es ohne internationale Hilfe wohl nicht anders ausgesehen. Von wesentlicher Bedeutung erscheint es mir auch, daß endlich ein solidarisches Zeichen gesetzt wird, indem man der Dritten Welt einen Großteil ihrer Auslandsschulden erläßt, zumal die reichen Länder sich des ÖldollarÜberschusses auf ihren Banken entledigen mußten und deshalb 'großzügig' Kredite an die Dritte Welt vergaben. Die nächsten zehn Jahre werden sehr schwierig für Peru. Die notwendige Stabilität scheint gegeben, die Bedingungen für den Aufbruch sind bekannt und die gesellschaftlichen Kräfte sind bereit, ihre Rolle zu spielen. Die Oberschichten müssen verstehen, daß die Gleichheit aller in ihrem eigenen Interesse liegt. Die Dynamik und der zunehmende Technisierungsgrad der Klein(st)untemehmen werden der Wirtschaft auf die Sprünge helfen. Ganz zum Schluß gilt es noch einmal zur anfangs aufgeworfenen Frage zurückzukehren. Hat sich Peru unter Fujimori wirklich gewandelt? Oder ist es nur eine neue Version dessen, was es 170 Jahre lang war? Leben wir in einer etwas pervertierten Demokratie oder in einer vorübergehenden Diktatur? Dieser Perversion der Demokratie kann nur entgegengewirkt werden, wenn man ihre Wettbewerbsfähigkeit verbessert. Es ist nicht zu leugnen, daß heute das eigentliche, das wirkliche Peru aus seiner Geschichte aufgetaucht und lebendig ist. In Fujimori hat es seinen Ausdruck gefunden. Fujimori ist der Supercholo. Der Supercholo nimmt sein Land in seine Hände - zuerst in der freien Wirtschaft, danach im Staat und an der Spitze der Regierung. Er sollte dieses Peru nicht mehr loslassen, und niemand soll es ihm jemals mehr streitig machen können. Im Gegenteil, es muß sich entwickeln -

Raúl Valenzuela

366

dem Sinnspruch von Jorge Basadre folgen, nach dem Peru nicht durch die

Tätigkeit oder durch die Untätigkeit der Peruaner verlorengehen darf.

Bibliographie

Barnechea, Alberto 1995: La república embrujada, Lima. Basadre, Jorge 1963: Historia de la República del Perú, Lima. Burga, Manuel/Flores Galindo, Manuel 1980: Apogeo y crisis de la república aristocrática, Lima. De Soto, Hernando 1986: El otro sendero, Lima. Flores Galindo, Flores 1988: Buscando un inca, Lima. García Sayan, Diego 1995a: Ajustes al ajuste, in: El Comercio (Lima), 29. Oktober. - 1995b: Modernizar el Estado, in: El Comercio (Lima), 22. September. Macera, Pablo 1978: Visión histórica del Perú, Lima. Marzal, Manuel 1985: El sincretismo iberoamericano, Lima. Matos Mar, José 1984: Desborde popular y crisis del Estado, Lima. Medina, Oswaldo 1994: Del arribismo al achoramiento, in: Apuntes 35, Lima. Moheit, Ulrike (Hg.) 1993: Alexander von Humboldt, Briefe aus Amerika 1799-1804, Berlin. Tafur, Juan Carlos, 1995: Entre Líbano y Los Angeles, in: El Mundo (Lima), 21. Oktober.

367

II. Venezuela

Miriam Kornblith •

Krise und Wandel des politischen Systems in Venezuela

Einführung Seit Errichtung der Demokratie im Jahre 1958 zeichnete sich Venezuela bis zum Ende der achtziger Jahre durch eine beneidenswerte politische Stabilität aus - sowohl im Vergleich zur Situation anderer lateinamerikanischer Länder als auch mit Blick auf die eigene Vergangenheit. Venezuela erfüllte im großen und ganzen wesentliche Voraussetzungen, die nach wissenschaftlicher Ansicht Teil eines jeden demokratischen Systems sind. Es verfugte über ein solides Zweiparteiensystem, das die Unterstützung der Bevölkerung genoß und die demokratischen Spielregeln respektierte. Das Land war mit beachtlichen wirtschaftlichen Mitteln ausgestattet, mit deren Hilfe es die verschiedenen sozialen Forderungen erfüllen konnte. Die militärische Gewalt wurde erfolgreich der zivilen untergeordnet, und das Militär akzeptierte die demokratischen Spielregeln. Die Beziehungen zwischen der exekutiven und legislativen Gewalt funktionierten selbst dann, als die Regierungspartei nicht über die Mehrheit der Sitze im Kongreß verfügte, relativ reibungslos. Die Bevölkerung beteiligte sich regelmäßig und enthusiastisch an den Wahlen. Es gab ein reges organisiertes politisches Leben und Institutionen, die in der Lage waren, die Interessen der verschiedenen Bereiche der Gesellschaft zu repräsentieren und wahrzunehmen. Die Mittelschicht wuchs und erweiterte das Fundament der demokratischen Ordnung. Die Demokratie in Venezuela und seine politische Führung genossen internationales Ansehen. Trotz dieser ansehnlichen Erfolgsbilanz und günstigen Bedingungen stürzte das politische System Venezuelas in eine ernsthafte Krise, die dem sogenann*

Aus dem Spanischen übersetzt von Heidemarie Markhardt.

Miriam Kombiith

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ten "exceptionalismo" (Ausnahmedasein) ein Ende setzte. 1 Diese Situation wirft verschiedene Fragen auf: Irrten sich die Wissenschaftler, als sie die Gunstfaktoren für den Bestand eines demokratischen Systems definierten? Oder irrten sie sich, weil sie nur diese Aspekte berücksichtigten und andere beiseite ließen, die die demokratische Stabilität in Venezuela ins Wanken brachten? Was sind die Bestimmungsfaktoren der Krise des politischen Systems in Venezuela? Welche Lehren können aus den Erfolgen und Mängeln des funfunddreißigjährigen Bestehens des demokratischen Systems im Lande gezogen werden? Welche kurzfristigen und mittelfristigen Perspektiven hat das politische System in Venezuela? Welche Bedingungen müssen erfüllt werden, um die Stabilität und Legitimität der Demokratie in Venezuela zu garantieren? Diese Fragen spiegeln die gegenwärtige Besorgnis über die Überlebenschancen der demokratischen Ordnung in Venezuela wider.

Die zweite Regierung Carlos Andrés Pérez und die zweite Regierung

Caldera

Aus der historischen Perspektive sind die fünf Jahre von 1989 bis 1993 die dramatischsten seit dem Bestehen der Demokratie in Venezuela. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit bei der Aufzählung der kritischen oder besonderen Ereignisse zu erheben, sind in chronologischer Reihenfolge zu nennen: die Ankündigung und die Einführung eines strengen Sparprogrammes 1989; der Ausbruch von Unruhen am 27. und 28. Februar 1989; die erstmalige Durchfuhrung von direkten Wahlen zur Bestellung von Gouverneuren und Bürgermeistern 1989 und 1992; die Änderung der Wahlordnung und die hohe Wahlenthaltung; die versuchten Putschs im Februar und November 1992; die gescheiterten Bemühungen um eine allgemeine Reform der Verfassung 1992; die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes vom 20. Mai 1993, Präsident Pérez vom Amt zu suspendieren, um ein Verfahren wegen Veruntreuung und Unterschlagung öffentlicher Gelder einzuleiten; die Interimspräsidentschaft von Ramón José Velázquez; der Bruch der Dynamik des Zweiparteiensystems und die hohe Zahl der Enthaltungen bei den nationalen Wahlen im Dezember 1993.

Levine 1994-95; Goodman u.a. 1995, S. 3-27.

II. Venezuela

369

Dieser Zeitraum von 1989 bis 1993 ist aufgrund der extremen Ereignisse mit der Periode von 1945-48 und den ersten fünf Jahren nach der Wiedereinführung der Demokratie in Venezuela ab 1958 vergleichbar. Gemeinsam sind diesen Etappen die politischen und sozialen Unruhen, die wiederholten Übergriffe des Militärs und der Versuch, neue Spielregeln einzuführen, um den gesamten Komplex der soziopolitischen Interaktion neu zu definieren. Zur Zeit befinden sich paradoxerweise viele Prinzipien und Regeln in einer Krise, die zwischen 1945 und 1948 sowie nach 1958 eingeführt wurden. Die Regierung von Präsident Caldera, der im Dezember 1993 gewählt wurde, sieht sich mit gravierenden Schwierigkeiten - hauptsächlich auf dem Wirtschaftssektor - konfrontiert. Noch vor dem Amtsantritt des neuen Präsidenten brach eine beispiellose Finanzkrise mit dem Konkurs der zweitgrößten Bank des Landes aus, auf den 1994 und 1995 eine Welle von Zusammenbrüchen und Konkursen auf dem Banksektor folgte. 2 Im Juni 1994 traf die Regierung die Entscheidung, den Devisenmarkt nach der Höchstabwertung des Bolívar im Mai des Jahres zu schließen und erließ eine Preis- und Devisenzwangsbewirtschaftung. Gleichzeitig wurden die verfassungsmäßigen Grundrechte aufgehoben, was zu einer ernsthaften Konfrontation mit dem Kongreß führte, als dieser sie wiedereinzuführen versuchte. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten veranlaßten die Regierung, in Gespräche mit dem Internationalen Währungsfonds zu treten, obwohl ein wesentlicher Punkt der Wahlkampagne Calderas die Kritik an der Regierung Pérez wegen dessen Befolgung von Auflagen des Währungsfonds gewesen war. Die Einführung eines strengen Anpassungsprogrammes ist für 1996 vorgesehen; seine sozialen Folgen werden gefürchtet. Obwohl sich die politische und soziale Agenda besser kontrollieren ließ als die wirtschaftliche und sich stabiler entwickelte als in den fünf vorhergehenden Jahren, stellen die explosive sozioökonomische Lage und die Unterdrükkung der politischen Konflikte mögliche Ursachen eines soziopolitischen Zwischen 1994 und 1995 gingen 17 Banken in den Konkurs oder wurden verstaatlicht, die über 53,5 % der gesamten Aktiva des Banksystems verfugten. Die Aufwendungen für die Finanzhilfe an die Privatbanken erreichten einen Betrag von 1,1 Mio. Bs. (13,2 % des BIP), was 30,5 % der konsolidierten Gesamtausgaben der öffentlichen Hand entspricht. Vgl. Banco Central de Venezuela 1994, S.

80.

Miriam Kornblith

370

Wandels dar, der weder durch die Geschicklichkeit des Präsidenten noch die konstruktive Haltung verschiedener Gruppierungen leicht zum Stillstand gebracht werden kann. Die Tragweite der Ereignisse der zweiten Regierung Pérez und die Schwierigkeiten, mit denen die zweite Regierung Caldera kämpft, machen es notwendig, die spezifischen Folgen der politischen Entscheidungen für die Krise des politischen Systems in Venezuela zu hinterfragen. Es deutet sich an, daß diese Krise schon keimte, als die Grundbedingungen der 1958 festgelegten demokratischen Ordnung geändert wurden. Seit Anfang der achtziger Jahre verzeichnet das Land eine hartnäckige Krise seiner Wirtschafts- und Einnahmestruktur; eine Verschlechterung des allgemeinen Lebensstandards wurde erwartet, und die Legitimität und das Vertrauen in die wichtigsten Parteien und andere Organisationen, die die demokratische Ordnung ermöglichten, gingen verloren. Der Zusammenhang dieser Prozesse mit den Entscheidungen und Maßnahmen der Regierung Pérez und später der Regierung Caldera führten zu einem ernsthaften Ungleichgewicht in der einst stabilen venezolanischen Demokratie. Die folgende Untersuchung ist der Versuch einer Beschreibung und Analyse der jüngsten Veränderungen im politischen System Venezuelas. Insbesondere soll die Frage nach den Ursachen der Krise beantwortet werden. Dazu werden im einem ersten Abschnitt die allgemeinen Charakteristika des politischen Systems in Venezuela in seiner Form von 1958 bis etwa 1989 beschrieben. Der zweite und umfangreichste Teil beschäftigt sich mit der Krise dieses Systems. Und im dritten Abschnitt werden dann einige kurz- und mittelfristige Herausforderungen dargestellt, mit denen die Demokratie des Landes konfrontiert ist.

1.

Spielregeln, Akteure und Prozesse des politischen Systems in Venezuela

Die grundlegenden Spielregeln für die soziopolitische Ordnung in Venezuela wurden Mitte der vierziger Jahre eingeführt oder vorgeschlagen und mit - je nach Bereich mehr oder weniger bedeutenden Änderungen - ab 1958 ratifiziert. So festigte sich zwischen 1945 und 1948 die Vorstellung vom Staat als

II. Venezuela

371

zentralem Akteur in der venezolanischen Gesellschaft und im Entwurf der Grundzüge der sozioqkonomischen Entwicklung. Diese Ansicht war so weit verbreitet, daß sie während der Diktatur von Pérez Jiménez (1948-58) nicht in Frage gestellt wurde. In diesen drei Jahren wurden auch die Grundfesten für eine pluralistische Ordnung des politischen Systems gelegt. In der Verfassung von 1947 wurden die Bedingungen für die Erweiterung und die Wahrung der politischen Rechte der Bürger und die Rolle der Parteien als legitime Interessenvertreter festgelegt. Letzteres war eine der problematischsten und umstrittensten Fragen dieser Epoche; und die Diktatur bekämpfte diese Prinzipien und Praktiken. Die Rückkehr zur Demokratie nach dem Sturz von Pérez Jiménez im Jahre 1958 bedeutete, erneut den Weg eines politischen Pluralismus einzuschlagen. Gleichzeitig wurde aber in Frage gestellt, wie dieser zwischen 1945 und 1948 verstanden und praktiziert worden war. Ab 1958 wurden zwischen verschiedenen soziopolitischen Sektoren Absprachen über die Aufstellung formeller und informeller Grundregeln für die demokratische Ordnung getroffen. Einige davon wurden in schriftlicher Form und als Rechtstext festgelegt. 3 Die Erdöleinnahmen wurden zum stimulierenden Faktor der Volkswirtschaft. Dem Staat kam eine zentrale Rolle bei der Festlegung der wichtigsten Koordinaten der Nation zu, und der Privatsektor spielte infolgedessen eine untergeordnete Rolle. Der staatliche Interventionismus wurde auf dem Wege der Regulierung, dem Protektionismus und mittels breitgestreuter Subventionen durchgesetzt. Auf politischer Ebene wurde das Fortbestehen des politischen Wettbewerbs in Form von Wahlen garantiert und den politischen Parteien als wichtigsten Kanalisatoren der Vertretung und Wahrung der Interessen der

Die wichtigsten expliziten Übereinkünfte sind: die Acta de Avenimiento ObreroPatronal, die am 24. April 1958 zwischen Vertretern von Fedecámars und dem Comité Sindical Unificado unterzeichnet wurde; der Pacto de Punto Fijo, der am 31. Oktober 1958 zwischen Vertretern der Parteien AD, COPEI und U R D unterzeichnet wurde; die Declaración de Principios y Programa Mínimo de Gobierno, die am 6. Dezember 1958 von den Präsidentschaftskandidaten der Parteien AD, COPEI und U R D unterschrieben wurden; die Ley de Concordato Eclesiástico, die auf einem zwischen dem Staat Venezuela und dem Heiligen Stuhl geschlossenen Abkommen beruhte, wurde am 6. März 1964 zwischen Vertretern von Papst Paul VI. und dem Präsidenten Rómulo Betancourt unterzeichnet. Zu diesen Dokumenten und ihrer Untersuchung vgl. López Maya u.a. 1989.

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Gesellschaft und als privilegierten Vermittlern zwischen Staat und Gesellschaft große Bedeutung beigemessen. In der Verfassung von 1961 wurden viele dieser Prinzipien und Regeln festgelegt; sie bildeten die Grundlage für das soziopolitische Projekt der venezolanischen Gesellschaft. 4 Das Mehrheitsprinzip als Kriterium von Entscheidungsprozessen wurde gemäß den jeweiligen Umständen durch eine Einstimmigkeitsregelung ersetzt und ergänzt, um die Interessen mächtiger Minderheitensektoren zu berücksichtigen. Diesen wurde damit die Möglichkeit eingeräumt, Entschlüsse mit einem Veto zu belegen oder die Stabilität des Systems zu bedrohen. 5 Die daraus folgende Ordnung begünstigte den Konsens und die pragmatische Annäherung an politische Entscheidungen. Es konsolidierte sich ein demokratisches Modell, das von Rey als "populistisches System der Absprache zwischen Eliten" bezeichnet wurde. Es beruhte auf der Anerkennung eines Pluralimus sozialer, wirtschaftlicher und politischer Interessen. Dieses System hing von der Präsenz und dem adäquaten Zusammenspiel von drei fundamentalen Faktoren ab - der relativ hohen Finanzkraft dank der Erdöleinnahmen, mit denen der Staat die Forderungen von heterogenen Gruppen und Sektoren erfüllen konnte; den relativ bescheidenen Ansprüchen, die mit den verfügbaren Mitteln befriedigt werden konnten; der Fähigkeit der politischen Parteien und pressure groups, diese Forderungen aufzufangen, zu kanalisieren und zu präsentieren, was ihnen und ihrer Führung das Vertrauen der vertretenen Gruppen eintrug. 6 Diese drei Faktoren machten einen Ausgleich zwischen den heterogenen Interessen möglich und führten zu einem Stil der Entscheidungsfindung, der auf einem komplexen System aus Verhandlungen und der Berücksichtigung von Interessen basierte. Dieses System garantierte den Sektoren, die mächtige Minderheiten waren - den Streitkräften, der Kirche, Unternehmergruppen, Arbeitnehmerorganisationen und Verbänden - , daß ihre Interessen durch die Anwendung des Mehrheitsprinzips bei der Beschlußfassung über Maßnah-

4 5

Combellas 1991. Rey 1989b und 1991. Die kombinierte Anwendung von Mehrheitsregel und Einstimmigkeitsregel wird erläutert in: Arroyo Talavera 1988.

6

Rey 1991, S. 565-566.

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men der öffentlichen Hand nicht gefährdet würden. Entscheidungen, die diese Sektoren betrafen, wurden nach dem Prinzip der Einstimmigkeit und eines semikorporativen Systems der Teilnahme und Repräsentation, das hauptsächlich auf einer dezentralisierten Administration und einem Komplex beratender staatlicher Körperschaften beruhte, 7 getroffen. Dadurch konnten diese spezifischen Interessen erfüllt werden, ohne daß die regulären demokratischen Kontrollen zu durchlaufen waren. Andererseits sicherte man sich das Vertrauen der Bevölkerung in die Mechanismen der repräsentativen Demokratie, indem das Mehrheitsprinzip weiterhin bei der Wahl von Verwaltungsbehörden angewendet und die Korrektheit und Akzeptanz der Wahlen gewährleistet wurde. 8 Die politische Stabilität, der Konsens zwischen den Eliten und das Vertrauen der Bevölkerung waren die wichtigsten Erfolge dieses Modells. Gleichwohl ergaben sich gravierende Mängel, die in der Gegenwart besonders deutlich zutage treten und die großen Erfolge des politischen Systems in Venezuela schmälern. Die Finanzkrise, das sozioökonomische Ungleichgewicht, der Zentralismus, der Parteienfilz, die Parteilichkeit von Institutionen und Entscheidungen, die Ineffizienz bei der Verwendung der Mittel und die Korruption der Verwaltung sind weitere Folgen der Anwendung dieses Modells. 9

2. Die Krise des politischen Systems in Venezuela Aufgrund der oben erwähnten Punkte kommt den Veränderungen, die im soziopolitischen Modell, insbesondere im sogenannten "populistischen System der Absprache zwischen Eliten" eingetreten sind, besondere Bedeutung zu. Nach Rey führt eine nachteilige Veränderung einer der wesentlichen

A l s dezentralisierte Verwaltung wird ein weitläufiges Gefuge von autonomen Einrichtungen, Unternehmen, Stiftungen, Beteiligungen etc. des Staates bezeichnet, deren Funktionen und Rechtsformen sich von den traditionellen der Ministerien der zentralen Regierung unterscheiden, auch wenn sie diesen angegliedert sind. Vgl. Bigler 1981; Crisp 1992. 8

Rey 1989b, S. 249-323; Rey 1991, S. 533-578.

9

Vgl. unter anderen Malave Mata 1987; Romero 1987; Brewer-Carias 1988; Hellinger 1991.

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Variablen des Modells (Erdöleinnahmen, Erwartungen der Gesellschaft und Representativität der Organisationen) zu einer Bedrohung der Stabilität des Systems, der jedoch in angemessener Weise abgeholfen werden kann. Wenn jedoch gleichzeitig nachteilige Veränderungen der drei Faktoren auftreten, befindet sich das soziopolitische System in einem Grenzbereich, einer Krise. 10 Momentan ist eine solche Grenzsituation eingetreten."

2.1. Die Krise des Wirtschafts- und Einnahmenmodells Das Mitte der vierziger Jahre eingeführte venezolanische Entwicklungsmodell wurde als Modell des Einnahmenkapitalismus beschrieben. 12

Dieses

Modell hing, wie allgemein bekannt ist, direkt von der Dynamik der Erdölindustrie ab, die es seit den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts in Venezuela gibt. Bis zu ihrer Verstaatlichung im Jahre 1976 wurde die Industrie von multinationalen Firmen betrieben, die an den Staat die Steuern abführten, die dieser für die Ausbeutung der Erdölreserven festsetzte. Die wechselnden Beziehungen zwischen Staat und den multinationalen Firmen manifestierten sich in diversen Änderungen der Gesetzgebung in bezug auf die Erdölindustrie und Steuern und ließen eine wachsende Ertragsorientierung des venezolanischen Staates erkennen, da er die von der Erdölindustrie geforderten Abgaben ständig erhöhte. Als Produktionsform und Einnahmequelle ist die Erdölgewinnung von großer Bedeutung für Wirtschaft und Gesellschaft. Sie schafft Arbeitsplätze und technologischen Fortschritt, benötigt Güter und Dienstleistungen, die im Land hergestellt und erbracht werden. Andererseits stellt die Erdölgewinnung eine vom venezolanischen Staat beanspruchte internationale Einnahmequelle dar. Der Staat ist Eigentümer des auf nationalem Territorium gewonnenen Erdöls. Diese zweite Dimension beherrschte die Beziehung des Staates und

10 11

12

Vgl. Rey 1989 und 1991. Einige der folgenden Überlegungen entwickelte ich weiter in: Kornblith 1993 und 1994b. Eine Beschreibung des Einnahmenmodells und seiner Folgen in: Baptista/Mommer 1992; Baptista 1989; España 1989; Espinaza 1989; Karl 1987; Palma 1989; Urbaneja 1992.

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der Gesellschaft zur Erdölindustrie, und von ihr leitet sich die Beschreibung des ökonomischen und soziopolitischen Modells des Einnahmenkapitalismus ab. Seit den Anfängen der Erdölindustrie Venezuelas war ein Prozeß zu verzeichnen, in dem die Dimension der Produktion im Erdölgeschäft gegenüber der Einnahmendimension an Bedeutung verlor. In den achtziger Jahren reichten jedoch die Einnahmen als ausschließliche Quelle, auf die sich das Wirtschaftswachstum stützte, nicht mehr aus. Dies ist auf eine Kombination aus verschiedenen Prozessen zurückzuführen. Einerseits kennzeichneten Instabilität und eine Tendenz zum Preisverfall den Erdölmarkt und die internationale Angebots- und Nachfragesituation bei Erdölprodukten. Andererseits nahmen die wirtschaftlichen und sozialen Verpflichtungen des venezolanischen Staates an Umfang und Komplexität zu. Schließlich wurde der Ertrag aus dem Erdölgeschäft auch aufgrund des Bevölkerungswachstums und der Bedürfnisse der Bevölkerung unzureichend. Diese Beschränkung wird

offensichtlich,

wenn

man

bedenkt,

daß

1981

die

Pro-Kopf-

Erdöleinnahmen 1.631 US-Dollar erreichten und bis 1993 auf 529 US-Dollar fielen. Die Auswirkungen der Anwendung dieses Einnahmenmodells auf die wirtschaftliche, soziopolitische, kulturelle und institutionelle Dynamik des Landes waren tiefgreifend, widersprüchlich und unterschiedlich. 13 Der Staat formierte und entwickelte sich auf der Grundlage der Dynamik der Einnahmen. 14 Damit mußte er sich nicht der Alternative stellen, einem Bereich der Gesellschaft Mittel zu entziehen und diese an andere zu verteilen. Der externe Ursprung und die reichen Steuereinnahmen ermöglichten es ihm, den Forderungen und Erwartungen der verschiedenen Sektoren auf relativ zufriedenstellende Weise - wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß - zu entsprechen, ohne Umverteilungskonflikte hervorzurufen und ohne im großen Rahmen Fragen der Effizienz und Produktivität bei der Verteilung zu berücksichtigen.

13

Zu anderen Aspekten der Auswirkungen des Einnahmenmodells vgl. BricefloLeón 1990; Pérez Schael 1993.

14

Vgl. Blanco 1993, S. 63-81.

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Der Staat bediente sich verschiedener Mechanismen, um diese Einnahmen an die Gesamtheit der Gesellschaft weiterzugeben und ein gewisses soziopolitisches Gleichgewicht bei der Verteilung aufrechtzuerhalten. Erstens erfolgte die Verteilung der Steuereinnahmen mittels öffentlicher Ausgaben. 15 Diese flössen in Löhne und Gehälter (laufende Ausgaben) sowie in Produktionsund Infrastrukturinvestitionen (öffentliche Investitionen) und eine Vielzahl von Darlehen, Subventionen, Steuerbefreiungen, mit deren Hilfe man direkt oder indirekt Steuermittel an diverse Sektoren der Bevölkerung verteilen wollte. 16 Der zweite Mechanismus bestand in der Überbewertung des Wechselkurses und der Devisenfreiheit, durch die der Kauf von Devisen und der Erwerb von Anlagen, Gütern und Dienstleistungen im Ausland ermöglicht wurde, besonders um die Industrialisierung durch den Ersatz der Importe zu unterstützen. 17 Schließlich ist die geringe interne Besteuerung zu nennen, insbesondere die niedrige Besteuerung von natürlichen und juristischen Personen, mit Ausnahme der Erdölindustrie. 18 Der Einsatz dieser Mechanismen basierte auf der Anwendung von drei relativ einfachen Regeln für die Beschlußfassung und die Durchführung der makroökonomischen Politik: die Regierung gab das aus, was sie einnahm; der Wechselkurs blieb fix und am Dollar orientiert; auch die Zinssätze blieben fix.19 Im Rahmen dieses Modells nahmen der Ermessensspielraum, der Zentralismus und die Präsenz des Staates extreme Formen an. Dabei spielten neben der relativ autonomen Verwendung gewaltiger Summen externen Ursprungs auch das Vorherrschen einer am Konzept des Wohlfahrtsstaates basierenden Ideologie und die reale wirtschaftliche Schwäche des Unternehmenssektors eine Rolle. Es entwickelte sich ein hyperaktiver Staat, dessen Hang zum Interventionismus sich nach 1958 im raschen Wachstum der dezentralisierten Verwaltung ausdrückte, die von rund 500 Körperschaften unterschiedlicher juristischer Form gebildet wurde. Zusammen mit der traditionelleren Struktur

15 16

Kornblith/Maingön 1985. Die verschiedenen Mechanismen und ihre Folgen werden untersucht in: Machado de Acedo u. a. 1981; Sabino 1994.

17

Vgl. Purroy 1991.

18

Baptista 1989, S. 122-125.

19

Hausmann 1992, S. 99-100.

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der Ministerien der Zentralregierung übernahm der Staat neben den konventionellen Funktionen eines liberalen Staates (interne Ordnung, Justiz und Gebietshoheit), die Funktionen eines Wohlfahrtsstaates durch Investitionen in die Infrastruktur, Bildung und Gesundheit. Dazu beteiligte er sich auch direkt an weniger konventionellen Aktivitäten wie der Zucker-, Aluminium-, Eisen- und Erdölproduktion oder dem Management von Hotels, Fluglinien und Banken. 20 Die dezentralisierte Verwaltung entsprach der Aufgabe, verschiedene sozioökonomische Interessen zu befriedigen und besondere Sektoren in den Entwurf einer staatlichen Politik miteinzubeziehen. Zu diesem Zweck wurde - wie schon erwähnt - ein semikorporatives System zur Entscheidungsfindung innerhalb der öffentlichen Verwaltung geschaffen. Dieses System führte zu einer großen Rigidität im Entscheidungsprozeß, da die Regierung gezwungen war, eine Maschinerie von multilateralen Beratungen beim Entwurf öffentlicher Politiken einzuführen, die Akteure von geringer Bedeutung und soziopolitischer Repräsentativität miteinbezog. 21 Auch die dezentralisierte und die zentrale Verwaltung wurden zu großen Quellen der Ineffizienz und Korruption. Eine Begleiterscheinung des absoluten als auch relativen Rückgangs der Erdöleinnahmen war, daß die Fähigkeit des Staates, die verschiedenen sozialen Forderungen zu erfüllen und sich auf neue Bereiche auszudehnen, abnahm. Die staatliche Überentwicklung bewirkte verschiedene ineffiziente Situationen, die sich untereinander verstärkten; der Staat mußte eine breite Palette an Verpflichtungen erfüllen, die zu einer kostspieligen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Belastung bei der Wahrnehmung der öffentlichen Funktion im Land wurden. Die stark sichtbare Präsenz des venezolanischen Staates führte dazu, daß ihn die Sektoren, die am meisten unter dem Rückgang der Steuereinnahmen litten, für ihre wirtschaftliche Not verantwortlich machten. Dies unterstrich den Ansehensverlust der traditionellen öffentlichen Institutionen.

20

Vgl. Kornblith/Maingón 1985.

21

Vgl. Crisp/Levine/Rey 1994.

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So vollzog sich eine Entwicklung von einer Situation, in der die Steuermittel ohne Rücksicht auf Prioritäten, Kosten und Zweckmäßigkeit verteilt wurden, zur Notwendigkeit des Wettbewerbs um immer geringere Mittel. Die venezolanische Gesellschaft befindet sich in einem Übergang von einer Ausgangslage, die einem Spiel mit einem variablen positiven Einsatz ähnelte, in dem sich die Teilnehmer die Gewinne aus ständig steigenden Einnahmen teilen konnten, zu einer Situation, die einem Spiel mit Null-Einsatz oder einem konstant negativen Einsatz gleicht, bei dem der Gewinn der einen den Verlust der anderen darstellt oder bei dem man sich die Verluste teilen muß. 22 Das bedeutet, daß es im Gegensatz zur Vergangenheit immer schwieriger wird, den sozialen und politischen Frieden durch die Erdöleinnahmen und die Vermittlertätigkeit des Staates bei deren Verteilung sicherzustellen. Auf dem Höhepunkt der Krise des Einnahmenmodells unter der Regierung Pérez wurden verschiedene Umstrukturierungsmaßnahmen im öffentlichen Sektor in Angriff genommen: die Privatisierung staatlicher Unternehmen, eine Steuer- und Abgabenreform, die Neufestlegung von Prioritäten, Mechanismen und Regeln für die Handlungen des Staates durch die sogenannte "Gran Viraje" (große Wende). 23 Diese Umstrukturierung erfaßte auch die Erdölindustrie. Durch eine Öffnungspolitik sollte privates, lokales und ausländisches Kapital in die verschiedenen Bereiche des Erdölgeschäfts fließen. 24 Die Verhandlungen zur Einfuhrung dieser Veränderungen gestalteten sich zäh und konfliktreich. In einer Situation der Mittelknappheit kam es zu großen Spannungen und Frustrationen, denen nicht leicht mit Mechanismen, 22

23 24

Rey 1989b, S. 275-282. Vgl. Cordiplan, VIII Plan de la

Nación.

Mit Hilfe dieser Politik hofft man, daß 11 Milliarden US-Dollar in sieben Jahren ins Land strömen werden. Es wurden drei Optionen für die Beteiligung von Privatkapital in der Erdölindustrie geschaffen: die Produktion betreffende Übereinkünfte, die für die Programme zur Reaktivierung von Nebenölquellen herangezogen wurden; die strategischen Vereinigungen, die für die Gewinnung und Verflüssigung von Erdgas und für die Entwicklung der Produktion und die Verwertungsverfahren der Ölsand-Vorkommen des Orinoco-Gürtels angewendet wurden; und die Verträge zur Erschließung auf Risiko, die sich eines Schemas zur Verteilung der Gewinne zwischen Pdvsa und dem privaten Investor bedienen. Vgl. Guisti 1994; Escobar 1994, S. 21-25.

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Institutionen und Regeln abgeholfen werden konnte, die ursprünglich für Zeiten des Reichtums entworfen worden waren. 25 Da ein effizienter Modus zur Aufteilung der Mittel fehlte, wurde im Kampf um die Mittel gerade von den Sektoren Druck ausgeübt, die die größte Macht hatten, Beschlüsse mit einem Veto zu stoppen oder die bestehende Ordnung zu bedrohen. Das Einnahmenmodell blieb weiter von zentraler Bedeutung für die venezolanische Gesellschaft - sowohl in seiner streng wirtschaftlichen Dimension als auch im Hinblick auf die weniger eindeutigen Folgen im kulturellen, institutionellen und ideologischen Bereich.

2.2. Die Krise des sozioökonomischen Modells und Erwartungen der Gesellschaft Die Demokratie wurde in Venezuela in einem Moment errichtet, in dem die Institutionen nicht gefestigt waren und pluralistische Praktiken und Gewohnheiten fehlten. Die politische Führung betonte nicht nur die inhärenten Werte der Demokratie - die Meinungsfreiheit oder das Recht, die öffentlichen Vertreter zu wählen. Sie stützte sich auch auf die Entwicklung von Mechanismen, die der Integration in das politische System dienen und gleichzeitig die notwendige Unterstützung für dieses politische System sicherstellen sollten. Es wurde damit argumentiert, daß die Demokratisierung der Zugangskanäle zur Regierung und zum Staat durch ordnungsgemäße und unbeeinflußte Wahlen ihrerseits eine Demokratisierung der Wirtschafts- und Sozialpolitik garantiere und so eine breite Allgemeinheit in den Genuß des Volksvermögens käme. 26 Die üppigen Finanzmittel ließen die Rechnung aufgehen. Die verdeckt oder offen abgeschlossene Wette bestand darin, daß die demokratische Regierung in dem Maße, in dem sie in der Lage war, ihre Überlegenheit durch die Vermehrung des Volksvermögens und die Garantie eines höheren Lebensstan25

26

Zur Beschreibung des Anpassungsprogrammes und der Schwierigkeiten bei seiner Durchfuhrung vgl. Naim 1993a und 1993b; Stambouli 1994. Zu den Widerständen im Erdölsektor vgl. Kornblith 1994a. Rey betonte die Bedeutung der utilitaristischen Mechanismen bei den Bemühungen um Unterstützung des demokratischen Systems. Vgl. Rey 1989b, S. 257-260; Rey 1991, S. 543.

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dards der Bevölkerung unter Beweis zu stellen, autoritären Optionen vorgezogen werde und sich das Vertrauen der Bevölkerung sichern könne. Diese Verknüpfung, die anfänglich auf utilitaristischen Überlegungen beruhte, mußte sich mittel- und langfristig, sobald die Vorteile der demokratischen Ordnung bewiesen waren, zu einem Wertesystem verfestigen. 27 Diese Kriterien wirkten sich auf die Politik der öffentlichen Hand aus, insbesondere die Sozialpolitik. Bei deren Entwurf und Durchführung wurde dem Staat eine entscheidende Rolle beigemessen. Im Hinblick auf die Mittel stand weniger die Effizienz ihrer Verwendung im Zentrum des Interesses als die Möglichkeit, mit ihrer Hilfe Akzeptanz zu erreichen. Und der Sozialpolitik wurde die Funktion zugeschrieben, die Bevölkerung in das soziopolitische Modell einzubeziehen und die Demokratie, ihre Schlüsselpersönlichkeiten und -prozesse zu legitimieren. Bindeglieder zwischen der Bevölkerung und dem Staat auf sozialpolitischer Ebene waren die politischen Parteien, Verbände und Gewerkschaften, die mit der direkten Bereitstellung der Sozialleistungen oder ihrer Durchsetzung in Zusammenhang gebracht wurden. Der Staat schuf ein umfangreiches und komplexes Sozialnetz, von dem die Bevölkerung Gebrauch machte, wenn auch die Inanspruchnahme der angebotenen Leistungen nicht ausgewogen war und von deren Reichweite und Qualität abhing. Das sichtbarste Ergebnis dieser Form von Sozialpolitik waren steigende Alphabetisierungs-, Schulbesuchs-, Gesundheits- und Geburtenraten und Indizes über Kalorienaufnahme, Bevölkerungswachstum etc. in den sechziger und siebziger Jahren. Auch wenn die Kluft zwischen den meistbegünstigten Sektoren und jenen mit geringerer Mittelausstattung weiter bestand und sich im Hinblick auf ihren Anteil am Volkseinkommen sogar vergrößerte, konnten die ärmsten Schichten der Bevölkerung doch ihren Lebensstandard erhöhen. Mit der weitreichenden Subventionierung verschiedener Güter und Dienstleistungen wurde ihnen ein Paket von Sozialleistungen dargereicht. Das Ausgangsniveau war zu Beginn der sechziger Jahre ziemlich niedrig. Nicht anders verhielt es sich mit den Erwartungen der Bevölkerung hinsichtlich einer möglichen Verbesserung ihrer sozioökonomischen Lage. Die

27

Ebda.

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sechziger und siebziger Jahre brachten - betrachtet man Indikatoren wie den Koeffizienten der Vermögenskonzentration oder den Index über den proportionalen Anteil der Löhne und Gehälter am Volkseinkommen - einen wesentlichen Fortschritt bei der Verteilung des Vermögens. 28 Aufgrund der unausgewogenen Einkommensverteilung stellten die Transferzahlungen und die unterstützenden politischen Maßnahmen einen bedeutenderen Anteil des Einkommens der mit weniger Mitteln ausgestatteten Sektoren dar als der besser gestellten Sektoren. 29 Was Ausgaben, Preise, Gehälter und Beschäftigung betrifft, hatte die Regierungspolitik eine Verbesserung der sozioökonomischen Lage wichtiger Bevölkerungsgruppen zur Folge. Dies wirkte sich nicht nur auf deren Lage positiv aus, sondern ließ auch große Erwartungen in das sozioökonomische Modell als Antriebskraft für einen ununterbrochenen Aufschwung des allgemeinen Lebensstandards entstehen. Damit ging die optimistische Gleichung zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und Unterstützung der Demokratie auf und begann, Früchte zu tragen. Das Zusammentreffen von Einnahmenrückgang, Arbeitskräfteabbau, Unwirtschaftlichkeit beim Einsatz der verfügbaren Mittel und der zunehmende Autonomieverlust in der Sozialpolitik zugunsten der Interessen der Parteien und Berufsverbände führten jedoch in den achtziger und in den neunziger Jahren zu Stagnation und großen Einbußen bei den wichtigsten Indikatoren des individuellen und kollektiven Wohlstands. 30 Gleichzeitig kam es zu einem Zusammenbruch der grundlegenden staatlichen Leistungen im Gesundheitsund Bildungswesen, der Justiz, in den Bereichen Wohnen, Wasserversorgung, Abwasser- und Müllentsorgung. Trotz der beträchtlichen Höhe der investierten Mittel zeigte die ab 1958 entwickelte Sozialpolitik inhärente Mängel, die sich in einer Situation knapper Finanzen deutlich manifestierten und verstärkten. 31

28

29

Vgl. Valecillos 1989, S. 63-93. Zu den Widersprüchlichkeiten und Verzerrungen der Sozialpolitik vgl. Navarro

30 31

1992. Valecillos 1989, S. 63-93; Dehollain/Perez Schael 1990. Eine kritische Bewertung der Sozialpolitik und ihrer Ergebnisse bei: Kelly 1995; Navarro 1994; Sabino 1994.

Miriam Kornblith

382

Der aussagekräftigste Indikator dieses Verfalls ist das Bevölkerungswachstum in einer von Armut gekennzeichneten Wirtschaftslage. Der Anteil der Haushalte, die unter der Armutsgrenze lagen, stieg von 17,73 % (1981) auf 34,64 % (1991). Innerhalb dieser Gruppe erhöhte sich der Anteil der Haushalte in extremer Armut von 3,67 % (1981) auf 11,18 % (1991), während der Anteil der Haushalte in einer kritischen Situation von 14,06% (1981) auf 2 3 , 4 6 % (1991) stieg. 32 Die jüngsten Daten zeigen, daß 1994 rund 4 8 , 9 % der gesamten Bevölkerung des Landes in Armut lebten und 21,63 % in einer Situation extremer Armut. 33 Im Hinblick auf die Sicherstellung eines angemessenen Lebensstandards der Bevölkerung zeigten sich die Schwächen und Beschränkungen der Marktmechanismen, der staatlichen Intervention und der konventionellen politischen Organisationsformen. 34 Dies führte dazu, daß eine drastische Neuorientierung der Sozialpolitik in Angriff genommen wurde, die das Wirtschaftsanpassungsprogramm ergänzen sollte. Es wurde als notwendig erachtet, die unmittelbaren negativen Auswirkungen dieses Programms auf die bedürftigeren Kreise der Bevölkerung zu lindern. 35 Das Scheitern des sozioökonomischen Modells und die enttäuschten Erwartungen auf eine Verbesserung der individuellen und kollektiven sozioökonomischen Lage unterminierten die Unterstützung der Bevölkerung für das demokratische System, seine wichtigsten Persönlichkeiten und Einrichtungen und enthüllten die Verwundbarkeit des Bindeglieds zwischen den sozioökonomischen Bedingungen und der soziopolitischen Integration. Obwohl die Anzeichen eines sozioökonomischen Verfalls Mitte der achtziger Jahre offensichtlich waren - insbesondere nach dem sogenannten "schwarzen Freitag" im Februar 1983, als es zu einer drastischen Abwertung des Bolivar und dem Schließen des Devisenmarktes kam - , führten die Regierungen dieser Jahre keine ernsthaften und systematischen Programme zur wirt-

32

Daten aus: Márquez 1992. Daten aus: Ministerio de la Familia 1994. 34

Cartaya/D'Elia 1991.

35

Padrón 1991.

II. Venezuela

383

schaftlichen Anpassung durch. 36 Die Bevölkerung vertraute jedoch weiterhin stark der demokratischen Regierung und deren Hauptakteuren, AD und COPEI, die bei den Wahlen beträchtliche Unterstützung erhielten. Angesichts der grundlegenden Verschlechterung des Lebensstandards gärte in der Bevölkerung eine gefährliche Abneigung gegenüber der Demokratie. 37 Der Putschversuch vom 27. Februar 1989 wurde von vielen als dramatisches Zeichen der Unzufriedenheit der Bevölkerung und als Gefahr für die Stabilität der Demokratie interpretiert - ebenso die Sympathie für die Putschisten vom 3. Februar 1992.38 Die Beziehungen zwischen dem wirtschaftlichen und politischen Bereich sind weder linear noch unmittelbar, aber sie existieren. So wie die Bevölkerung Zeit benötigte, angesichts ihres sozioökonomischen Abstiegs gegen den soziopolitischen Status quo aufzubegehren, wird es dauern, bis ihr Vertrauen wieder zunimmt, selbst wenn Anzeichen einer sozioökonomischen Verbesserung erkennbar sind. Die gefahrliche Interdependenz, die sich zwischen dem wirtschaftlichen Erfolg des demokratischen Modells und der Zustimmung der Bevölkerung entwickelte, ging so lange gut, wie die soziopolitische Ordnung Wohlstand produzierte und die Erwartungen der Bevölkerung einigermaßen erfüllt wurden. In einem von wirtschaftlichen Schwierigkeiten gekennzeichneten Umfeld versiegte allmählich die Unterstützung für die demokratische Regierung und das System als ganzes. Die utilitaristischen Mechanismen zeigen ihre Grenzen, eine Integration weiter Schichten der Bevölkerung in die soziopolitische Ordnung zu gewährleisten. Die mangelhafte Führung der Regierungsgeschäfte durch die demokratischen Regierungen, die sich in der Unfähigkeit widerspiegelte, weiten Kreisen der Bevölkerung ein angemessenes Niveau kollektiven Wohlstands sicherzustellen, unterminierte die Legitimität der demokratischen Ordnung, ihrer wichtigsten Einrichtungen und Funktionseliten in Venezuela. 39

36

Rodriguez 1991.

37

Cariola 1992.

•50

Zum Februarputsch vgl. Kornblith 1989, Ochoa Antich 1992, Revista Politeia

Nr.

13. Zum versuchten Staatsstreich vom Februar 1992 vgl. Daniels 1992, Sonntag/Maingön 1992, Tarre Briceflo 1994. 39

Crisp/Levine/Rey 1994.

Miriam Kornblith

384

2.3. Die Krise des Modells der Repräsentation und Legitimität Wie bereits erwähnt, war eine der entscheidenden Variablen für das Funktionieren der Demokratie in Venezuela - als "populistisches System der Absprache zwischen Eliten" - die Existenz einer relativ kleinen Anzahl von vertrauenswürdigen Organisationen, die fähig waren, die Interessen der verschiedenen Sektoren der Bevölkerung zu erfassen, zu kanalisieren und zu repräsentieren. Neben diesen Organisationen verfügte das Land über eine geschickte, repräsentative Führung, der es gelang, interne Übereinkünfte zu schließen. Die Aktivität dieser Organisationen (Parteien, Berufsverbände, Interessenverbände) führte zu einer "hyperorganisierten und elitären Demokratie." 40 Im Augenblick haben die bedeutendsten Parteien, Acción Democrática und COPEI, und die Organisationen, die besondere Interessen vertreten, etwa Fedecámaras auf Untemehmerseite und die Gewerkschaft CTV, einen Großteil ihrer Fähigkeit eingebüßt, die Ansprüche und Interessen der Sektoren, die sie vertreten sollen, zu erfassen, zu kanalisieren und durchzusetzen. Je komplexer und differenzierter die Interessen und Erwartungen der Gesellschaft werden, desto mehr Forderungen stellen die diversen Gruppen an die verschiedenen Organisationen, diese Interessen zu vertreten. Darüber hinaus können sich wichtige Sektoren nicht mit den verfügbaren Organisationen identifizieren. Die Anzahl der beteiligten Akteure wächst und ebenso die Unterschiede zwischen ihnen; die nationale und sektorale Führung wird gespalten, und komplexere, teurere und unberechenbarere Verhandlungsmuster entstehen. Gleichzeitig führt dies zu einer Ausgrenzung weiter Teile der Bevölkerung aus den bestehenden Organisationen, da sie sich nicht länger mit diesen identifizieren. Andererseits schlugen Institutionen wie die Katholische Kirche und die Streitkräfte einen autonomen Kurs gegenüber der politischen Macht ein. Mit verschiedenen Mitteln und aus verschiedenen Gründen wird von den höchsten, mittleren und untersten hierarchischen Stufen dieser Organisationen die politische und zivile Macht in ihren verschiedenen Manifestationen ebenso in 40

Rey 1991, S. 547.

385

II. Venezuela

Frage gestellt wie die Rolle, die diese Organisationen gemeinsam mit der politischen und zivilen Macht erfüllten. So nannten etwa die Putschisten die Ablehnung der auf Korruption basierenden Beziehungen zwischen hohen militärischen und politischen Kreisen als einen Grund für die versuchten Staatsstreiche im Februar und November 1992. Unter all diesen Organisationen waren die politischen Parteien, insbesondere AD und COPEI, die bedeutendsten und sichtbarsten in der soziopolitischen Ordnung Venezuelas. Aus eben diesem Grund sind sie auch die Organisationen, die nicht als einzige, aber doch am meisten in Frage gestellt werden. Nach der Verfassung und in der politischen Praxis kommt den politischen Parteien eine Vorrangstellung im politischen System Venezuelas zu. Sie entstanden als landesweite Mehrklassenorganisationen mit internen hierarchischen, zentralistischen und geordneten Strukturen. Ursprünglich war dieses Modell von der Acción Democrática

in den vierziger Jahren entwickelt

worden und wurde in weiterer Folge von den restlichen Parteien - unabhängig von ihrer ideologischen Position - übernommen. Die Parteien entwickelten sich zu den wichtigsten Bindegliedern zwischen Staat und Zivilbevölkerung, zu Trägern der Vermittlung demokratischer Werte und Praktiken gegenüber der Bevölkerung und Organisationen, die sektorale Interessen wahrnehmen und vertreten. So erlangten die Parteien eine im Vergleich zu anderen politischen Systemen einzigartige Stellung und Bedeutung. 41 Trotz der beachtlichen Erfolge, die das politische System und das Parteiensystem in Venezuela - sowohl im Vergleich zu der Zeit vor 1958 als auch zu anderen Ländern Lateinamerikas - aufweisen kann, ist die Einstellung zu beiden im Augenblick vorwiegend negativ. Genau jene Faktoren, die die Konsolidierung des Parteiensystems, seine Repräsentativität und Legitimität möglich machten, werden inzwischen kritisch betrachtet. 42 Im Mittelpunkt der Kritik stehen Parteienherrschaft, Korruption, Pragmatismus, Bürokratie, Parteienfilz etc. So wird unter anderem behauptet, daß die übermäßige Dominanz der Parteien die bürgerliche Gesellschaft einenge, daß die Parteienfuhrung dem politischen und intellektuellen Wachstum der übri41

Vgl. Rey 1990.

42

Vgl. Kornblith/Levine 1995.

Miriam Kornblith

386

gen Gesellschaft nachhinke, daß die Parteien zu Organisationen wurden, die sich ausschließlich auf ihre wahlpolitischen Interessen konzentrierten und sich so in pragmatische und korrupte Maschinerien entwickelten, denen jede demokratische und ethische Kontrolle fremd ist.43 Ein Großteil der Parteispitzen zeigt ideologisch und in ihrer Altersstruktur Ermüdungserscheinungen. Noch immer werden hohe Positionen in der Hierarchie von Personen besetzt, die ihre politische Karriere in den dreißiger und vierziger Jahren begannen. 44 Die Machtanhäufung der Parteien und die Entscheidungskonzentration in der Spitze, die durch die bis vor kurzem gültige Wahlordnung verstärkt wurde, verminderten die Einflußnahme der Bürger auf die interne Dynamik der Parteien und auf die Tätigkeit der gewählten Einrichtungen. 45 Die Parteidisziplin schränkte die Möglichkeit der Gewählten ein, direkt die Forderungen der Wählerschaft zu erfüllen. Die hohen Kosten der Wahlkampagne führten zu einem Komplex von wirtschaftlichen Barrieren für die politischen Gruppen mit geringeren finanziellen Mitteln, wodurch in der Praxis das System die Chancengleichheit bei den Wahlen nicht garantierte und sich eine Tendenz zur Bildung eines Oligopols im Spiel der politischen Kräfte entwickelte. Die hohen Kosten führten auch zur privaten Finanzierung der Kampagnen und der regulären Aktivitäten der Parteien, wodurch eine Reihe von undurchsichtigen Verpflichtungen zwischen den Parteien und ihren privaten Geldgebern entstand. 46 Dazu stellten die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Dekade der achtziger Jahre und die Einführung eines wirtschaftlichen Anpassungsprogramms 1989 die Fähigkeit der politischen Parteien als Sachwalter der öffentlichen Interessen in Frage, besonders im Zusammenhang mit häufigen Vorwürfen der Korruption in der Verwaltung.

43

Vgl. MartaSosa 1993.

44

Vgl. Martz 1992.

45

46

Bis 1988 wurden die Kandidaten für die Zusammensetzung der Wahlversammlung nach dem Prinzip der proportionalen Vertretung ausgewählt. Bis 1988 fanden für alle politisch-administrativen Ebenen alle fünf Jahre Wahlen in Form einer einzigen Abstimmung statt (mit Ausnahme der Gemeinderäte, die seit 1979 in einer separaten Wahl gewählt wurden). Eine Untersuchung der politischen Folgen des bis 1988 gültigen Wahlsystems bietet Molina 1991. Rey 1989b, S. 298-304.

II. Venezuela

387

Mit dem Ziel, einige dieser Mängel zu beheben, wurden wichtige Reformen im politischen System sowie im Wahlsystem eingeführt. Beispiele hierfür sind die separate Wahl der Gemeinderäte 1979, die direkte Wahl von Gouverneuren und Bürgermeistern 1989, die Reform des Grundgesetzes über Wahlen 1989 durch die Einführung der Vorzugsstimmen bei der Bildung von Wahlversammlungen und erneute Reformen 1992, 1993 und 1995, um die Einstimmigkeit (Mehrheitsprinzip) bei der Bildung der Wahlversammlungen auf Gemeinde- und Staatsebene und im Abgeordnetenhaus zu bekräftigen und auszubauen. 47 Dazu wurde ein Prozeß zur verwaltungspolitischen Dezentralisierung in Gang gesetzt. Auslösende Faktoren hierfür waren die direkte Wahl der Gouverneure und Bürgermeister und die größere Autonomie der Gemeindewahlen. 48 Innerhalb der Parteien hatten diese wahlpolitischen Reformen bedeutende Nachwirkungen, so zum Beispiel einen größeren Einfluß der regionalen Parteiführer, eine größere Mitbestimmung der Basis bei der Auswahl von internen Führungspersönlichkeiten und der Kandidaten für öffentliche Ämter sowie verstärkte Bemühungen zur Entwicklung von Regierungsformen, die die Forderungen der lokalen Bevölkerung und Wähler berücksichtigten. Nach einer langen Zeit unveränderter Wahlmodi begann eine Phase des Experimentierens und permanenten Wandels. Dies unterstreicht zwar den Willen, die Regeln an die neuen Gegebenheiten im Land anzupassen, um einen vertrauenswürdigeren Wahlvorgang mit einer größeren Wahlbeteiligung zu entwickeln, ruft aber - in Anbetracht der Tatsache, daß die Änderungen des Wahlrechts im Wahljahr selbst stattfanden - den Eindruck des Opportunismus und der Improvisation hervor. Die abrupten und wiederholten Änderungen machten es den Wählern unmöglich, sich mit den neuen Regeln vertraut zu machen und diese zu verstehen. Folgeerscheinungen sind Mißtrauen und Wahlenthaltung. Auch die Reformbestrebungen waren nicht schlagkräftig genug, um die Bevölkerung von den Vorzügen des bestehenden Parteiensystems oder den in Angriff genommenen Neuerungen zu überzeugen. Die steigende Ablehnung

47

Vgl. Kornblith 1995.

48

Zur Untersuchung des Dezentralisierungsprozesses vgl. De La Cruz 1992.

Miriam Kornblith

388

der Parteien, insbesondere der AD und COPEI, spiegelte sich in verschiedenen Meinungsumfragen 49 und im jüngsten Wahlverhalten wider. Besonders auffällig ist dabei die sich verfestigende Tendenz zur Nichtteilnahme an den Wahlen auf lokaler und nationaler Ebene. Bis Ende der achtziger Jahre konnte Venezuela stolz auf die hohe Beteiligung an den Wahlen im Land verweisen, die 90 % der stimmberechtigten Bevölkerung mobilisierten. Dagegen nahm seit den ersten separaten Gemeinderatswahlen und bei den folgenden Wahlen auf nationaler und lokaler Ebene die Enthaltung drastisch zu. Bei den landesweiten Wahlen 1988 stieg die Wahlenthaltung auf 18,3 %, und 1993 erreichte sie 39,8 %. 1989 betrug die Enthaltung bei den Gouverneurs-, Bürgermeister- und Gemeinderatswahlen 5 4 , 9 6 % und bei den Wahlen von 1992 50,84%. Schließlich wird die Enthaltung bei den lokalen Wahlen von 1995 auf durchschnittlich 5 3 , 8 % geschätzt. Eine weitere bemerkenswerte Tendenz der letzen Wahlen war die Schwächung der Zweiparteiendynamik zwischen AD und COPEI, die 1958 begründet worden war und ab 1973 eine Vorrangstellung einnahm. 50 Bei den Wahlen 1988 konnten AD und COPEI 90 % der Stimmen für das Amt des Präsidenten der Republik und 80 % der Stimmen für das Abgeordnetenhaus auf sich vereinen. Bei den Präsidentenwahlen 1993 erhielten die Kandidaten dieser Parteien kaum 46 % der Stimmen, und bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus erzielten sie 53 % der Sitze. 51 Der gewählte Präsident, Rafael Caldera, trug mit 30,45 % der Stimmen einen knappen Sieg davon. 52 Das 49

50

Die Entwicklung der öffentlichen Meinung über die Parteien und die Demokratie wird untersucht in: Baloyra 1986; Data Analysis C.A. 1989; Keller 1995; Myers 1993; Templeton 1995; Torres 1993. Vgl. Rey 1989a.

51

Hinsichtlich einer Untersuchung der Wahlen 1993 vgl. Molina/Pérez Baralt 1994;

52

Caldera, Gründer und wichtigster Führer der Partei COPEI, präsentierte sich nachdem er sich von seiner Partei distanziert hatte - als Kandidat einer neuen Gruppierung, der sogenannten Convergencia, des M A S und anderer linksgerichteter Organisationen, die unabhängige und ehemalige Mitglieder des COPEI waren. Die übrigen Ergebnisse der Präsidentenwahl waren: Fermin ( A D ) mit 23,59 %, Alvarez Paz (COPEI) mit 22,72 % und Velázquez (LCR) mit 2 1 , 9 4 % der Stimmen. Vgl. Consejo Supremo Electoral 1993.

Baloyra 1994.

II. Venezuela

389

bedeutete, daß seit 1958 zum ersten Mal ein Kandidat einen Wahlsieg verbuchte, der nicht von den Parteien AD oder COPEI unterstützt wurde - obwohl Caldera in beträchtlichem Maß organisatorische Segmente und Stimmen des COPEI auf sich vereinte - und daß zum ersten Mal seit 1968 mit Andrés Velásquez ein Präsidentschaftskandidat der Linken bzw. einer radikalen Partei mehr als 20 % der Stimmen erhielt. 53 Als Folge dieses Stimmverhaltens änderte sich die Zusammensetzung der gesetzgebenden Körperschaften, was die Beziehungen zwischen der exekutiven und legislativen Gewalt beeinflußte. So erhielt der gewählte Präsident nicht die mehrheitliche Unterstützung einer Partei oder einer Koalition im Kongreß. 54 Diese Situation unterschied sich sehr von jener, in der die Regierung über die absolute Mehrheit in den beiden Häusern verfugte, oder als AD und COPEI zwischen 70 und 80 % der Sitze im Kongreß aufeinander vereinten. Zur Schwächungstendenz des Zweiparteiensystems kam eine Konstellation, in der die Oppositionsparteien als Folge der direkten Gouverneurs- und Bürgermeisterwahlen in eine Machtposition gelangten. Nach den Wahlen 1989 stellten der Movimiento al Socialismo (MAS) und die Causa Radical (LCR) jeweils einen Gouverneur. Bei den Wahlen 1992, die durch die Stimmung nach dem Putsch und einen ernsthaften Vertrauensverlust in die Regierung Pérez (AD) geprägt waren, fielen die globalen Ergebnisse zugunsten der AD und besonders des COPEI aus, die 11 Gouverneursposten und das wichtige Bürgermeisteramt von Caracas gewannen (während der AD 7, dem MAS 3 und der LCR 1 Posten zufielen). 55 Die Regionalwahlen von 1995 führten zu interessanten Resultaten, was die Umstrukturierung des traditionellen Zweiparteiensystems betrifft. Die Acción

53

Seit 1973 wurde der dritte Rang der Präsidentenwahl von Linkskandidaten besetzt, deren Stimmenanteil bestenfalls knapp über 5 % der Gesamtstimmen lag.

54

55

Im Senat entfielen auf ihn 16 Repräsentanten der AD, 14 des COPEI, 9 der LCR, 6 der Convergencia und 5 des MAS. Im Abgeordnetenhaus waren dies 55 Repräsentanten der AD, 53 des COPEI, 40 der LCR, 26 der Convergencia, 24 des MAS und jeweils ein Vertreter der ORA, NGD, MEP und URD. Datenbasis: Consejo Supremo Electoral 1993. Vgl. Kornblith und Levine 1995.

Miriam Kornblith

390 Democrática

erzielte einen überzeugenden Sieg auf verschiedenen Ebenen.

Sie stellte 11 Gouverneure im Vergleich zum COPEI mit 3, dem MAS mit 4, der LCR mit 1 und der Convergencia ebenfalls mit 1. Auf die AD entfielen 60 % der Bürgermeister und auf COPEI an die 30 %. 56 LCR und Convergencia verzeichneten große Stimmeneinbußen im Vergleich zu 1992 und 1993. LCR verlor auch das wichtige Amt des Gouverneurs im Staat Bolívar und das Bürgermeisteramt von Caracas. Die Regierungspartei wurde auf den letzten Platz zurückgedrängt. Dieses Szenarium zeichnet sich durch vier bedeutende Charakteristika aus: den Anstieg der Wahlenthaltung auf nationaler sowie lokaler Ebene; den Stimmenverlust von AD und COPEI, die zwar noch immer an führender Stelle stehen, aber im Vergleich zur Vergangenheit ihre Präsenz verringerten; die Formierung und die Gewinne alternativer Parteien, insbesondere der Causa R, deren oben erwähnter Vorstoß von besonders großer Bedeutung ist, da sie diesen in dicht besiedelten Regionen wie Aragua, Bolívar, Carabobo, Distrito Federal und Miranda machten; 57 die Unbeständigkeit der Wählerschaft und ihre ständig wechselnden Präferenzen stehen im starken Kontrast zu mehreren Jahrzehnten der Stabilität und weitgehend vorhersehbaren Verhaltensweisen. Zu bedenken ist auch die Teilnahme von nicht parteigebundenen Akteuren am politischen Spiel und an den Wahlen - Bürgervereinigungen, Persönlichkeiten aus Kunst und Sport und neue politische Gruppierungen, die zwar bei den Wahlen keine hohen Gewinne verbuchen, aber doch eine Neuheit darstellen, der eine demonstrative Wirkung in der Gesamtheit des Systems zukommt. 58

56

Hierbei handelt es sich um vorläufige Daten.

57

Eine Untersuchung der Causa R in: Lopez Maya 1994.

58

Der bemerkenswerteste Fall ist vielleicht der Erfolg der Bürgermeisterin der Gemeinde Chacao (Staat Miranda), Irene Säez, ehemalige Miss Universum, die 1992 gewählt und 1995 mit großer Unterstützung wiedergewählt wurde. Einen anderen interessanten Fall stellt die Wahl von Henrique Salas Feo 1995 zum Gouverneur des Staates Carabobo dar, dessen Hauptverdienst darin besteht, Sohn von Henrique Salas Römer zu sein, der zweimal Gouverneur dieses Staates war. Als er von seiner Partei, der COPEI, abgelehnt wurde, entschied er sich, als Unabhängiger zu kandidieren und trug einen überzeugenden Wahlsieg davon.

II. Venezuela

391

All diese Änderungen lassen darauf schließen, daß ein wesentlicher Wandel in den soziopolitischen Präferenzen der Bevölkerung eingetreten ist. Das politische System sowie das Wahlsystem in Venezuela wurden wesentlich komplexer. Die Zahl der Wahlen steigt, neue Akteure beteiligen sich am Wahlkampf, und die Enthaltung gewinnt an Bedeutung. Der Kampf um die Wähler findet noch immer in Form eines Zweiparteiensystems statt, verändert sich aber - sowohl auf nationaler als auch lokaler Ebene - zugunsten der Teilnahme neuer Akteure. 59 Die Änderungen der Verhaltensmuster und Wahlpräferenzen spiegeln die Krise wider, in der sich die traditionellen Parteien - und mit ihnen die Grundlagen für die Funktionsweisen des soziopolitischen Modells - befinden. Diese Änderungen lassen tiefgehende und wichtige Tendenzen erkennen: im Bereich der Demokratie das Auftreten alternativer Organisationsformen und die Neudefinition der Beziehungen zwischen den Parteien und innerhalb der Parteien selbst, sowie das Auftreten neuer Formen von Zusammenschlüssen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft. 60 Daneben bilden sich auch neue Quellen für die Entwicklung nationaler politischer Führungspersönlichkeiten, wie die lokalen und regionalen Ämter, pressure groups und Interessenvertretungen. Außerhalb des demokratischen Bereichs erfolgte inmitten einer schweren politischen Krise in den Jahren 1992 und 1993 eine gewisse Aufwertung der autoritären, militärischen und/oder revolutionären Optionen. Als Zwischenform entwickelte sich eine persönlichkeitsorientierte Alternative, die auf einem plebiszitären Aufruf um die Unterstützung des Volkes basiert. All dies vollzog sich in einem Umfeld, das von Ungewißheit und der Ablehnung der Schlüsselfunktionen und -institutionen, auf denen die Demokratie seit 1958 aufbaute, geprägt war. Es wäre übereilt vorauszusagen, worauf diese Prozesse hinauslaufen. Die verschiedenen Alternativen zur AD und COPEI genießen weder ausreichend Unterstützung, noch konnten sie diese Parteien verdrängen. Die verschiedenen kleinen Gruppierungen alter und neuer Prägung spielten bei den Wahlen mit Ausnahme der Causa R eine geringe Rolle. Die Führer der Putschversu59 60

Vgl. Aveledo 1995; Kornblith 1995. Zur bürgerlichen Gesellschaft vgl. Gómez 1987; Salamanca 1993; Santana 1992; Hernández 1993.

392

Miriam Kornblith

che vom Februar und November 1992 (insbesondere Kommandant Chávez) wie auch revolutionäre Bewegungen errangen die Sympathie weiter Kreise der Bevölkerung, die sich jedoch gegenwärtig verflüchtigt zu haben scheint. Zuvor haben einige Führer des Putsches erfolgreich in die demokratische Politik eingegriffen. So gelang es Oberstleutnant Arias Cárdenas, dem Anführer des Putschversuchs vom Februar 1992, als Gouverneur des wichtigen Staates Zulia gewählt zu werden. Die Situation zeichnet sich dadurch aus, daß die alten Organisationen ihre Unterstützung in der Bevölkerung, ihre ideologische Anziehungskraft und ihre Fähigkeit verloren, die pragmatischen Notwendigkeiten der Bevölkerung zu befriedigen, während es den neuen Organisationen nicht gelang, den Platz der alten einzunehmen. 61 Bei den Wahlen kommt diese Realität in der steigenden Wahlenthaltung und der Attraktivität einzelner Persönlichkeiten oder Organisationen zum Ausdruck, die den politischen und wirtschaftlichen Status quo in Frage stellen. Auf der weitreichenden soziopolitischen Ebene sind Entfremdungsprozesse großer Teile der Bevölkerung festzustellen, deren Eingreifen in die soziopolitische Ordnung sich durch gewalttätige und rechtswidrige Akte (Plünderungen, Besetzungen, Urbane Gewalt) manifestiert, die außerhalb der traditionellen Organisationen stattfinden. 62 Die einst als "hyperorganisiert und elitär" bezeichnete Demokratie in Venezuela verliert langsam diese Attribute.

2.4. Krise der Mechanismen zur Konsensbildung und Konfliktregelung Eines der wichtigsten Ergebnisse des "populistischen Systems der Absprache zwischen Eliten" in Venezuela war die demokratische Stabilität, die durch die Fähigkeit des Systems gewährleistet wurde, Konflikte unterschiedlichster Natur zu kanalisieren und mittels formeller und informeller Mechanismen einen Konsens zu erzielen. Dies erlaubte eine relativ harmonische Koexistenz einer Vielfalt von Interessen der Gesellschaft.

61 62

Vgl. Urbaneja 1994. Vgl. Ugalde u.a. 1994.

II. Venezuela

393

Ausdruck und Folge der Krise dieses Systems sind jedoch seit den nachteiligen Änderungen seiner drei Grundpfeiler die wachsenden Probleme, einen Ausgleich zwischen verschiedenen Interessen herbeizufuhren, wenn für die gesamte Gesellschaft verbindliche Entscheidungen getroffen werden. Hinzu kommt die geringe Effizienz der Mechanismen, die ehemals für die Regelung von Konflikten und die Konsensbildung geschaffen worden waren. 63 Da das frühere System der Verhandlungen relativ erfolgreich war und ein Gleichgewicht bewirkt hatte, entwickelten sich keine institutionellen Formeln, um Konflikte zu kanalisieren und einen Konsens zu erzielen. Angesichts der mangelnden Wirksamkeit der einstigen Regeln und Mechanismen und in einer ungünstigen soziopolitischen und sozioökonomischen Lage, die zu Antagonismen unterschiedlichster Natur führten, fehlt es dem politischen System in Venezuela an ausreichenden "Sicherheitsventilen" in Form von vertrauenswürdigen Institutionen oder formellen Strukturen für Verhandlungen und die Lösung von Konflikten. 64 Der natürliche institutionelle Rahmen für Konfliktlösungen innerhalb eines jeden Rechtsstaates, die Justiz, nimmt in Venezuela im Vergleich zu den anderen Gewalten eine untergeordnete Stellung ein. Sie ist der starken Mediatisierung und Einflußnahme der sogenannten "realen Machtfaktoren" (Parteien, Wirtschaftsverbände, Kommunikationsmedien, einflußreiche Persönlichkeiten) ausgesetzt und wird von internen Mängeln und Beschränkungen geplagt. Sie kann sich nicht in eine vertrauenswürdige Institution entwickeln, da ihre Handlungen der Unparteilichkeit entbehren. 65 Die immer stärker werdende Konfrontation zwischen den Eliten, das Auftreten sozioökonomischer Antagonismen außerhalb des etablierten organisatorischen Rahmens, der Rückgriff auf Gewalt innerhalb und außerhalb der Institutionen, die Willkür bei der Beschlußfassung, um Konflikte zwischen und innerhalb der Gewalten zu schlichten, dominieren angesichts des Fehlens klarer Regeln und vertrauenswürdiger Schiedsrichter und Repräsentanten den

63

Vgl. Guevara 1989; Navarro 1993.

64

Vgl. Naim/Piñango 1986.

65

Zu den Beschränkungen der Justiz vgl. Quintero 1988; Fernández 1990; Pérez Perdomo 1993.

Miriam Kombiith

394

soziopolitischen Bereich immer stärker und dienen als Ersatz für Verhandlungen und die Isolierung von Konflikten. Andererseits gelang es der politischen, unternehmerischen, gewerkschaftlichen und militärischen Führung auf nationaler Ebene immer weniger, einen grundlegenden und weitreichenden Konsens zu erzielen. Im Zentrum dieser Problematik stehen drei Überlegungen: die Eignung und Repräsentativität der an der Einigung beteiligten Akteure; die Gültigkeit und Richtigkeit von Konsens als Methode, um für die gesamte Gesellschaft gültige Übereinkünfte und Entscheidungen zu treffen; die grundlegenden Aspekte, die den Einigungsprozeß beeinflussen. Die Absprachen, Einigungen oder Kompromisse nahmen im steigenden Maße den Charakter eines gelegentlichen nützlichen und kurzfristigen Meinungsaustausches an, der die spezifischen Interessen des jeweiligen Teilnehmers befriedigen sollte. Kompromisse in der Art des Facto de Punto Fijo oder der Verfassung von 1961 wurden seit Mitte der sechziger Jahre nicht geändert, und alle Versuche in diese Richtung, wie der Pacto Social der Regierung von Jaime Lusinchi oder der gescheiterte Versuch zur Verfassungsreform, der 1989 in Angriff genommen, 1992 unterbrochen wurde und zur Zeit mit erheblichen Schwierigkeiten weitergeführt wird 6 6 , verdeutlichen die gegenwärtigen Schwierigkeiten, wichtige Abkommen zu schließen. Dies gilt insbesondere in bezug auf die Aufstellung von neuen Spielregeln für die Gesamtheit der Gesellschaft. In anderen Bereichen, wie der Festlegung von Wirtschaftsstrategien, treten bei der Suche nach einem gangbaren und wirksamen Weg die gleichen Schwierigkeiten zutage. Daraufläßt die Vielzahl der Anpassungs- und Wirtschaftsreformprogramme von 1989 bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt schließen. Es soll jedoch festgehalten werden, daß die Beziehungen zwischen der exekutiven und legislativen Gewalt ihren problemlosen und konstruktiven Charakter bewahrten. Die Spitzen der Parteien, insbesondere der AD und COPEI (der MAS ist Teil der Regierungskoalition), erachtete es für unumgänglich, die Regierung zu unterstützen, um den Bestand der Demokratie zu garantieren. Auch wenn keine ausdrückliche Absprache getroffen wurde, so besteht

66

Vgl. Combellas 1993; Kornblith 1992 und 1995.

II. Venezuela

395

doch ein stillschweigender Kompromiß zwischen den traditionelleren politischen Kräften, sich des institutionellen Rahmens zu bedienen, um die demokratische Regierbarkeit in einer Wirtschaftskrise und heiklen politischen Lage der Regierung zu gewährleisten. Dadurch wird deutlich, daß das Vermeiden eines politischen Konflikts mit destabilisierenden Folgen noch immer der höchste Wert der traditionellen politischen Führung ist.

3.

Bilanz und Schlußfolgerungen

Der Höhepunkt der im letzten Jahrzehnt verzeichneten Änderungen im politischen System Venezuelas und die verschiedenen Ausdrucksformen der Krise der jüngsten Jahre beinhalten widersprüchliche Tendenzen. Einerseits wird die Kritik am seit 1958 bestehenden demokratischen Modell seitens der Bevölkerung und einiger - neuer und alter - Organisationen immer stärker. Dieses deutet auf die Suche nach einer pluralistischeren und gerechteren Ordnung hin. Auch verschiedene sozioökonomische und institutionelle Reformversuche weisen in diese Richtung, während gleichzeitig neue Organisationsformen der Gesellschaft in Erscheinung treten. Die Kritik an den Regeln, Verhaltensweisen und Strukturen, die das sogenannte "populistische System der Absprache zwischen Eliten" stützten, veranlaßte bestimmte Gruppen und Persönlichkeiten, die Demokratie als solche in Frage zu stellen, ihre Lebensfähigkeit in Venezuela anzuzweifeln und offen oder versteckt nicht-demokratische Alternativen zu suchen. Die Putschversuche und die diversen damit in Zusammenhang stehenden Sympathiekundgebungen sind Teil dieses Trends. Aber selbst in diesem Fall herrscht ein Diskurs vor, der die Demokratie als wertvollstes und erstrebenswertestes politisches System anerkennt. Die Bedingungen für bedeutende Konsensentscheidungen in der Gesellschaft sind anspruchsvoller geworden. So sind immer weniger Sektoren bereit, bestehende Vergünstigungen für eventuelle Gewinne in der Zukunft zu opfern. Eine Stabilität, die auf einem Hinausschieben von Entscheidungen, Straflosigkeit und Ineffizienz dem Komplizentum gegenüber beruht, auf der ungleichen Verteilung des Vermögens und auf der trägen Anwendung tief verwurzelter Regeln und Verhaltensweisen, ist nicht länger möglich und auch

Miriam Kornblith

396

nicht wünschenswert. Und es ist auch nicht wünschenswert und durchfuhrbar, neue Spielregeln aufzustellen, die ausschließlich auf politischer, technokratischer oder militärischer Willkür basieren. In einem Umfeld, das von sozioökonomischen Schwierigkeiten, einem schwachen juristisch-institutionellen Rahmen, einer von der traditionellen politischen Führung enttäuschten Bevölkerung, deren Erwartungen eines sozioökonomischen Fortschritts nicht erfüllt wurden, einer an ihren alten Gewohnheiten und Gebräuchen festhaltenden Führung und einer wenig klar definierten neuen Führung mit wenig Einfluß und Unterstützung im Volk geprägt ist, kann sich eine demokratische und moderne Option nur schwer manifestieren und durchsetzen. Trotz der Wechselfälle und Schwierigkeiten der letzten Jahre ist den Meinungsumfragen weiterhin zu entnehmen, daß die Mehrheit der Bevölkerung die demokratische einer autoritären Ordnung vorzieht. Ihnen ist aber auch zu entnehmen, daß die Bevölkerung eine andere - bessere - demokratische Ordnung als die bestehende wünscht. Einer der Demokratie verpflichteten Führung müßte es gelingen, das Reservoir an Unterstützung zu vergrößern, das dem wirtschaftlichen, politischen und moralischen Verfall standhielte. Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung, neue Wege zu gehen, um Konflikte zu kanalisieren, Konsens zu erzielen, wirksame und gerechte Mechanismen zur Bildung und Verteilung von Vermögen zu entwickeln und neue ideologische und organisatorische Rahmen zu schaffen, um die Partizipation der Bürger und die Interessenvertretung zu fördern. In diesem Kontext entstanden verschiedene Visionen über die kurz- und mittelfristige Weiterentwicklung des venezolanischen politischen Systems. Die in Betracht gezogenen Optionen sind: -

die Wiedererlangung des Gleichgewichts und die Wiederherstellung der demokratischen Ordnung 6 7 ;

-

der Ausbau der Demokratie 6 8 ;

-

der Sturz der demokratischen Ordnung durch einen Militärputsch;

67

Vgl. McCoy/Smith 1994.

68

Vgl. Rey 1989, S. 309-311.

II. Venezuela -

397

der Zusammenbruch der demokratischen Ordnung durch eine Revolution des Volkes;

-

langsamer Verfall ohne unmittelbaren Zusammenbruch. 69

Zur Zeit manifestieren sich widersprüchliche Tendenzen, die gleichzeitig Druck ausüben, das Land in eine der erwähnten Richtungen zu fuhren. Der kritischste Aspekt besteht im sozioökonomischen Verfall und der Enttäuschung der allgemeinen Erwartungen. Der Umgang mit dieser Frage und deren vorteilhafte (oder nachteilige) Lösung wird den Ausschlag zugunsten einer der zur Verfugung stehenden soziopolitischen Optionen geben. Das politische System Venezuelas befindet sich in einer schwierigen Phase. Seine alten Regeln, seine Vertreter und repräsentativsten Institutionen stehen in Frage. Auch der sozioökonomische Kontext ist ungünstig. Bis jetzt verfestigten sich jedoch keine politischen und institutionellen demokratischen Optionen, die eine Erneuerung bringen und die gegenüber den bestehenden einen Fortschritt und eine Verbesserung darstellen. Die Garantie für das Bestehen des Rechtsstaates, sozioökonomische Gerechtigkeit und die Stabilität des politischen Systems wurden unter den gegenwärtigen neuen Bedingungen wieder zu den wichtigsten Herausforderungen, vor denen die venezolanische Gesellschaft steht.

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III. Bewertungen

III. Parlamentarische Elite

409

Manuel Alcántara Sáez Die parlamentarische Elite in Lateinamerika und das Kontinuum von links bis rechts* 1.

Einführung

Die einschlägigen Studien über die Regierbarkeit in einem politischen System bleiben auf jenen Bereich beschränkt, in dem die Regierung aktiv wird oder passiv bleibt, so daß man im spanischen Sprachgebrauch einen redundanten Begriff wie "gobernabilidad" (Regierbarkeit) bilden muß, der die "acción de gobernar" (Führung der Regierungsgeschäfte) oder den eher für das 19. Jahrhundert tauglichen Begriff "gobernación" (Regieren/Statthalterschaft) ersetzt. Dieser ist zwangsläufig mit einer positiven Erwartungshaltung verbunden, die im "buen gobierno" (der guten Regierung) gipfelt. Daher ist unter "gobernabilidad" 1 eine Konstellation zu verstehen, in der günstige Bedingungen für die Führung der Regierungsgeschäfte im Umfeld oder innerhalb der Regierung zusammentreffen. Das Umfeld für die Führung der Regierungsgeschäfte beinhaltet gesellschaftliche und internationale Aspekte. An erster Stelle sind in diesem Zusammenhang die politischen Parteien zu nennen, die als Vertreter des Volkes eine sehr aktive Rolle spielen. Dieser inhärente Aspekt der Führung der Regierungsgeschäfte entspricht dem eigentlichen politischen Schöpfungsprozeß, der den Beziehungen zwischen den staatlichen Gewalten und der Teilhabe verschiedener organisierter Gesellschaftsgruppen eine grundlegende Funktion zubilligt. Bemerkenswerten Einfluß auf die Amtsführung der Regierung nimmt aber auch die politische Elite oder - um es mit von Beyme auszudrücken - "die

*

Aus dem Spanischen übersetzt von Heidemarie Markhardt.

1

Alcántara 1994.

Manuel Alcántara Sáez

410

politische Klasse". 2 Bei der großen Mehrheit der Studien zu diesem Thema liegt der Schwerpunkt jedoch in der Regel auf den strukturellen oder institutionellen Aspekten, die erklärende Faktoren darstellen: der Staat, die Verfassung oder die übrigen Rechtsnormen, die Parteien (als Entscheidungsträger) und die Gesellschaft. Dagegen unterstrichen Studien in der Tradition von Downs 3 die Bedeutung von individuellen Verhaltensweisen. Diese Auffassung, die an Untersuchungen über die Rolle der politischen Eliten anknüpft, die vor einem Jahrhundert von Mosca begründet und in verschiedenen Formen der Annäherung von Pareto, Weber, Michels und Schumpeter fortgesetzt wurden, rechtfertigt die Analyse der Politik aus der Perspektive der Politiker. Bezieht man einen theoretischen Standpunkt, der eindeutig nicht mit dem Elitismus verbunden ist, und verzichtet man darauf, die Politiker als schweigende und der Parteidisziplin gehorchende Subjekte zu betrachten, gewinnt ihre Rolle eine nicht zu bezweifelnde Bedeutung bei der Untersuchung ihrer Einflußnahme auf verschiedene, j e nach den Umständen eintretende Prozesse der Regierbarkeit bzw. Nichtregierbarkeit. In gewisser Weise stellen die Politiker einen beträchtlichen Anteil der "strategischen Akteure", von denen Coppedge spricht. 4 Ihr Verhältnis untereinander, das auf fixen und wechselseitig akzeptierten Formeln aufbaut, wurzelt in den Fundamenten der Regierbarkeit. In mindestens vier Szenarien können durch die Einbeziehung der Politiker Richtwerte über den möglichen Einfluß auf die beiden oben erwähnten Prozesse ermittelt werden. Das demokratische politische System gilt als unerläßliches Szenarium, in dem politische Auseinandersetzung stattfindet. Der Grund hierfür liegt darin, daß das entschiedene Bekenntnis zu Grundsätzen und Praxis der Demokratie die Institutionalisierung der Konflikte in der gewählten Struktur gewährleistet. 5 An zweiter Stelle steht die Kategorisierung einiger institutioneller Elemente des politischen Systems - etwa der Parteien, des Wahlsystems und der Regie-

2 3 4 5

Von Beyme 1995. Downs 1957. Coppedge 1994, S. 63. Linz 1987.

III. Parlamentarische Elite

411

rungsform. 6 Die gängige Kombination des Mehrparteien- mit dem Präsidialsystem fuhrt oft dazu, daß das Risiko einer schwierigen Regierungssituation höher ist als im Falle des Zusammentreffens eines Zweiparteien- mit einem Präsidialsystem. Dazu ist das Modell des jeweiligen Wahlsystems von größter Bedeutung - gerade wenn es gilt, eine stabile Mehrheit und mehr oder weniger durchsetzungsfähige Parteien zu bilden. Drittens werden die wichtigsten Probleme behandelt, mit denen das Land konfrontiert wird. Dabei unterscheiden sich die ökonomischen (Armut, Budgetdefizit, Verschuldung) stark von den soziokulturellen (Korruption, Gewalt, Unsicherheit) und institutionellen Problemen (Konfrontation zwischen Exekutive und Legislative, chronische Schwäche der Parteien). Wird die politische Klasse als Verursacher des einen oder anderen Problems betrachtet und handelt es sich um ein gravierendes Problem, deutet dies auf eine potentielle Krise in der Führung der Regierungsgeschäfte, besonders wenn ein Problem als "unlösbar" erachtet wird. Dank ihrer erkennbaren ideologischen Polarisierung 7 läßt sich die politische Klasse im politischen Spektrum sehr wohl verorten. Damit wird absehbar, ob der Abstand zwischen den Komponenten der politischen Klasse dazu fuhrt, daß sie zu Konsensformeln neigen, die die Amtsführung der Regierung erleichtern, oder ob im Gegenteil die Distanz Uneinigkeit verursacht, die den Grad der Regierbarkeit herabsetzt.

2.

Methodologie

Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, einen erklärenden Rahmen in der Diskussion zu schaffen, ob sich das Kontinuum von rechts bis links tatsächlich als mitbestimmender Faktor in den verschiedenen Szenarien der Regierbarkeit in den lateinamerikanischen Ländern erweist. Dieser Rahmen soll durch die Analyse der Einstellung der aktuell gewählten Abgeordneten in acht

6

Lijphart 1995; Mainwaring 1995.

7

Sartori 1980.

Manuel Alcántara Sáez

412

Ländern abgesteckt werden. 8 Für gewöhnlich wurde die Gültigkeit der Unterscheidung zwischen links und rechts in Lateinamerika in Frage gestellt, da es sich dabei um eine eurozentrische Interpretation handele, die nicht der politischen Realität der Region entspreche. Abgesehen vom Fehlen besagten Kontinuums konnte jedenfalls der unklare Charakter der Politik aufgrund ihrer schwierigen Einordnung und der Gruppierung der verschiedenen Akteure um das klassische Binom festgestellt werden. 9 Die Phase der demokratischen Institutionalisierung, die der Welle des politischen Übergangs der achtziger Jahre folgte, erlaubte die Normalisierung der Politik. Dies ließ ein offenes und freies Spiel der politischen Kräfte zu, wodurch es den Parteien ermöglicht wurde, ihre jeweilige politische Position zu konzipieren, zu präsentieren und zu verfechten. Dies vollzog sich in einem Zeitraum, der lang genug war, um den Inhalt der jeweiligen politischen Haltung bewerten zu können. Dem vorliegenden Beitrag liegt die Annahme zugrunde, daß die Abgeordneten ein getreues Spiegelbild des Denkens und Handelns der Parteien sind. In gewisser Weise sind die Abgeordneten in die tägliche Debatte eingebunden, und ihre jeweilige politische Haltung ist eine Reaktion auf Stimuli des täglichen politischen Wettstreits - auch wenn die Rolle der Parlamente in Lateinamerika angesichts der präsidialen Entscheidungsgewalt ziemlich schwach ist. Obwohl ihre Rolle als "policy-makers" nur sehr diffus und manchmal völlig unbedeutend ist, spiegelt ihre jeweilige Haltung trotz allem ein Wertesystem wider, das sie weitgehend mit der Gruppe, der sie angehören, teilen.

Die empirische Quelle ist eine von Oktober 1994 bis Juli 1995 mittels persönlicher Interviews durchgeführte Umfrage mit einer Stichprobe von 81 Abgeordneten aus Chile, 61 aus Kolumbien, 65 aus Venezuela, 103 aus Mexiko, 66 aus Honduras, 62 aus der Dominikanischen Republik und 41 aus Argentinien. Die acht ausgewählten Länder stellen eine bestimmte Stichprobe der lateinamerikanischen Welt im Sinne der Repräsentativität der geographischen Lage und Größe der Bevölkerung dar. Diese Untersuchung stand unter der Schirmherrschaft des nationalen Forschungs- und Entwicklungsplans des spanischen interministeriellen Wissenschafts- und Technologieausschusses (Plan Nacional de I+D de la Comisión Interministerial de Ciencia y Tecnología de España). 9

Alcántara 1991.

III. Parlamentarische Elite

413

Die Ausgangshypothese umfaßt zwei Aspekte. Einerseits wird davon ausgegangen, daß die einer bestimmten Partei zugeordneten Abgeordneten sich deutlich von jenen einer anderen Partei sowohl hinsichtlich ihrer ideologischen Einstellung als auch der Bewertung der Mechanismen der Demokratie und diverser politischer Fragen unterscheiden. Zwischen diesen Unterschieden, die bei weitem keine schwankenden Muster zeigen, besteht eine klare Verbindung, durch die die Existenz von Verhaltensmodellen belegt werden kann. Die Vermutung einer Vermischung oder Überlappung zwischen den wichtigsten Parteien - sei es in bezug auf ihre Ideologie oder ihr Programm wird daher zurückgewiesen. Die zweite Hypothese besteht in der Annahme eines Kontinuums von links bis rechts, das sich durch die relativ größere Polarisierung der Parteien (bezogen auf die Abgeordneten) im Bereich der Wirtschaftspolitik erklärt, und weniger durch andere politische Positionen, wie die Bewertung der Demokratie im politischen System oder die internationale Politik. Im folgenden werden die Konzepte der "Distanz des Bezugrahmens" und der "programmatischen Distanz" Verwendung finden. Ersteres bezieht sich auf den Unterschied bei der Selbsteinstufung der interviewten Abgeordneten in einer Skala von 1 bis 10 (von der extremen Linken zur extremen Rechten) hinsichtlich ihrer eigenen politischen Stellung, ihrer Partei und die Bewertung ihrer Partei seitens der übrigen interviewten Abgeordneten. Daneben wird die Einstellung der Befragten zur Abtreibung, Scheidung und ihre Religiosität (wieder durch Sebsteinstufung der Befragten auf einer Skala von 1 bis 10 - "überhaupt nicht religiös" bis "sehr religiös" - und das Ausmaß der Religionsausübung durch die Häufigkeit des Gottesdienstbesuchs) analysiert. Die "programmatische Distanz" unterscheidet die Durchschnittswerte der Abgeordneten einer Partei von jenen einer anderen Partei hinsichtlich der Themen auf der politischen Tagesordnung, in denen sich ein bestimmtes Programm niederschlägt. Hier werden fünf verschiedene Bereiche herangezogen: -

die Bewertung von demokratischen Grundsätzen und Verfahrensweisen (Bedeutung von Wahlen, Parteien und der Demokratie selbst);

-

die Bewertung von potentiellen Risiken für die Demokratie (Wirtschaftskrisen, Arbeitslosigkeit, extreme Armut, Kriminalität, politisches Desin-

Manuel Alcántara Sáez

414

teresse, Entwicklung der Beziehungen zwischen exekutiver und legislativer Gewalt); -

das Maß staatlicher Intervention (Preiskontrolle, Arbeitsmarktpolitik, öffentliche Ausgaben, Steuern);

-

die Beurteilung der Probleme, mit denen das Land konfrontiert ist (Arbeitslosigkeit, Gewalt, Stabilität der Demokratie, Menschenrechte, Konflikte zwischen den staatlichen Gewalten, Korruption);

-

und schließlich die Trends in der Außenpolitik. Hierbei steht das jeweilige Interesse an den Vereinigten Staaten, der Europäischen Union, Japan, Lateinamerika, Weltbank und Internationalem Währungsfonds im Mittelpunkt.

Es geht darum festzustellen, ob eine Verbindung zwischen der Selbsteinstufung im Bezugsrahmen einerseits und der Haltung der politischen Klasse zu den Punkten eines bestimmten Programms andererseits besteht. Hierbei ist die "Distanz des Bezugsrahmens" der politischen Klasse im Kontinuum von links bis rechts weniger bedeutend, da die Zuordnung zur Linken oder Rechten zu entgegengesetzten - wenn nicht gar einander ausschließenden politischen Visionen führt. In diesem Sinn wird es durch die Herstellung einer Verbindung zwischen der Position in besagtem Kontinuum und bestimmten Mustern bei der Einstellung zu den Spielregeln und zu bestimmten politischen Maßnahmen der öffentlichen Hand möglich, die "programmatische Distanz" festzustellen. Die Zuordnung dieser beiden Distanzen erlaubt es, eine mehr oder weniger große Polarisierung - und damit ein größeres oder kleineres Risiko, daß eine Situation der Nichtregierbarkeit von den Parteien ausgeht - zu bestimmen. Beim Studium der Tabellen am Ende des Beitrags ist zu beachten, daß diese mit Rücksicht auf eine homogenen Aussage standardisiert wurden. Die zwischen zwei Parteien bestehende Distanz wurde durch Subtraktion der Durchschnittswerte jeder Partei errechnet und durch die in der Antwort enthaltenen Positionen dividiert (z.B. 10 in der Links-Rechts-Skala).

415

III. Parlamentarische Elite

3.

Ideologische Stellung im Kontinuum von links bis rechts

Die Skala der ideologischen Bandbreite ergibt (in Durchschnittswerten und unter Berücksichtigung der typischen Abweichung) das folgende Bild der acht untersuchten Länder: Durchschnittswerte und typische Abweichung bei der Selbsteinschätzung der Abgeordneten der jeweiligen Staaten auf der Links-Rechts-Skala (1-10)

Venezuela Chile Argentinien Mexiko Dominik. Republik Costa Rica Kolumbien Honduras

Durchschnitt 4.89 4.98 5.03 5.28 5.44 5.52 6.02 6.10

Selbsteinschätzung typische Abweichung 1.43 1.77 1.25 1.70 1.78 1.31 1.93 1.69

Der errechnete Durchschnitt ergibt ein Bild der acht Staaten, das sich durch eine erhebliche Differenzierung ihrer politischen Klassen hinsichtlich der Eigendefinition im Kontinuum von links bis rechts auszeichnet, so daß der Unterschied zwischen Venezuela, dem am weitesten linksstehenden Land und Honduras, dem rechtesten Staat, keineswegs vernachlässigbar ist. Andererseits zeigt die typische Abweichung in jenem Bereich, der hier als "Distanz der Einstellungen" bezeichnet wird, daß diese a priori im Falle Kolumbiens höher ist, wo größere Unterschiede bei der Selbsteinstufung der Abgeordneten zu verzeichnen sind. Dieser Beitrag konzentriert sich - außer im Falle von Chile, Mexiko und Venezuela - auf die beiden wichtigsten Parteien eines Landes. In den anderen Staaten ist die Tendenz zu einem Zweiparteiensystem stark ausgeprägt, wobei die Abgeordneten der beiden wichtigsten politischen Gruppierungen (mit Ausnahme von Argentinien) mehr als 90 % des gesamten Abgeordnetenhauses stellen. Im Fall Chiles wurden in Anbetracht der historischen Tradition der Einheit der Rechten in diesem Land die beiden Parteien Unión Democrática Independiente (UDI) und Renovación Nacional (RN) unter der

Manuel Alcántara Sáez

416

Rubrik "rechts" zusammengefaßt. Die drei mexikanischen Parteien stellen nach den Wahlen von 1994 98 % der Abgeordneten. Im Falle von Venezuela wurden zwei traditionelle Parteien, der Comité de Organización Electoral Independiente

(Copei) und die Acción Democrática

Política

(AD), sowie

eine dritte Gruppe, die Causa R, ausgewählt, die noch nicht lange besteht und als "Anti-Partei" auftritt. Durchschnittswerte der wichtigsten politischen Parteien und typische Abweichungen auf der Links-Rechts-Skala (1-10) Land/ Partei Venezuela Causa R Acción D. COPEI Chile P. Social. D. Crist. R. Nacion. UDI Mexiko PRD PRI PAN Dominik. Rep. PLD PRD Costa Rica PLN PUSC Kolumbien P. Liberal P. Conserv. Honduras PL PN Argentinien UCR PJ

Selbsteinstufung typische AbDurchschnitt weichung

Einstufung der anderen typische AbDurchschnitt weichung

3,60 4,43 5,35

1,43 0,93 1,45

3,32 6,87 7,33

1,61 2,05 1,61

2,92 4,51 6,75 6,08

0,95 0,92

0,82 1,15

1,11 2,19

2,56 4,72 7,47 8,87

3,88 5,04 6,14

1,64 1,59 1,62

2,97 6,91 9,01

1,28 2,22 0,91

4,33 5,00

1,07 1,31

4,09 5,71

1,24 2,07

4,37 6,17

1,28 1,40

5,46 8,14

1,42 1,35

5,17 7,07

1,84 2,01

6,54 8,46

1,94 1,46

5,05 6,17

1,30 1,62

4,78 8,53

1,95 1,54

4,53 4,89

0,79 1,17

5,19 6,51

1,22 1,53

1,11 1,28

III. Parlamentarische Elite

417

Die Unterschiede bei der Einstufung von links bis rechts der diversen untersuchten Parteien sind markant. Die Differenz ist noch größer, berücksichtigt man die Meinung der übrigen Abgeordneten über eine bestimmte Partei, da diese dazu tendieren, ihr extremere Werte zuzuschreiben. Nur in der Dominikanischen Republik, in Costa Rica und in Kolumbien sind die Unterschiede zwischen den Parteien relativ gering.

4.

Ideologische Distanz

Tab. 1 verbindet die sogenannte Distanz des Bezugsrahmens, die aus der Subtraktion und Standardisierung (Division durch 10) der durchschnittlichen Einstellung der Abgeordneten der genannten Parteien gewonnen wird, mit der Distanz der Werte. In den untersuchten Fällen stellt man erneut fest, daß die Distanz, die auf die Einstufung einer Partei durch die übrigen Parteien zurückgeht, größer ist als jene, die sich von der jeweiligen Einstellung des Abgeordneten oder jener, die dieser seiner Partei zuschreibt, ableitet. Eine sehr große Distanz - und damit eine stärkere Unterscheidung zwischen links und rechts - zeigt sich in Chile, wo sich der Partido Socialista stark von den Parteien der Rechten abhebt, und in Mexiko, wo zwischen dem Partido de la Revolución Democrática (PRD) und dem Partido Acción Nacional (PAN) eine vergleichbare Distanz besteht. In Venezuela unterscheidet sich zwar die Causa R deutlich von der AD und dem COPEI, der Unterschied zwischen letzteren ist jedoch unerheblich. Während in Chile und Mexiko Zwischenpositionen zwischen links und rechts zu finden sind, ist dies in Venezuela, wo sich die Causa R von den anderen beiden Parteien abhebt, diese sich jedoch nicht unterscheiden, nicht der Fall. Die Distanz der Werte erlaubt, eine weitläufige Verbindung zur Distanz des Bezugsrahmens festzustellen. In Chile, Mexiko und Venezuela werden wiederum die höchsten Werte erzielt, obwohl im Fall Chiles der

Partido

Demócrata Cristiano Werte mit den rechtsstehenden Parteien teilt, so daß die Differenz zwischen den jeweiligen Gruppierungen sehr gering ist. Die Einstellung zur Abtreibung, Scheidung und die Religionsausübung sind deshalb Variablen, die die Einstufung im Kontinuum von links bis rechts in der Mehrheit der untersuchten Fälle erklären.

Manuel Alcántara Sáez

418

5.

Bewertung der Demokratie

Die Bewertung der Demokratie wurde mittels vier Fragen überprüft. In welchem Ausmaß stellt Demokratie eine Gefahr dar, weil sie zu Unruhe und Desorganisation fuhren kann? Sind Wahlen das beste Mittel, politische Präferenzen auszudrücken? Sind die Parteien unerläßliche Träger der Demokratie? Ist der Ausschluß einer Partei aus bestimmten Gründen vertretbar? Standardisierte Distanzen der Durchschnittswerte bestehen zwar, sind jedoch sehr gering (Tab. 2). Höhere Werte werden nur im Fall Chiles bei der Distanz von den Rechten zu den Christdemokraten und Sozialisten sowie im Fall Venezuelas zwischen Causa R und den Anhängern von AD und COPEI erreicht. In letzterem Fall unterscheidet sich die Causa R von den zwei traditionellen Parteien durch die größere Neigung, in der Demokratie auf Wahlen und Parteien zu verzichten. In Chile hingegen scheiden sich die Meinungen an der Frage, ob Demokratie unter besonderen Umständen gefahrlich sein könnte. Die Meinungen der Befragten, denen diese vier Fragen gestellt wurden, zeigen - ohne Unterscheidung der Parteizugehörigkeit - bei allen acht untersuchten Nationen ein ähnliches Ergebnis. Somit läßt sich eine deutliche Tendenz zugunsten der Demokratie feststellen, wobei Costa Rica und Argentinien die günstigsten Werte erzielten. Die Durchschnittswerte der in den Tab. 1 bis 3 zusammengefaßten Antworten zeigen eine Bandbreite mit relativ engen Grenzen, die die bestehende homogene Situation belegen.

6.

Risiken für die Demokratie und die Probleme des Landes

Die analysierten Variablen, die sich daraus ableiten, in welchem Maß der Befragte verschiedene Probleme als eine Bedrohung der Demokratie in seinem Land bewertet oder sie als Problem betrachtet, unter dem das Land leidet, bilden einen sozioökonomischen und einen institutionellen Block. Der sozioökonomische Block umfaßt die Risiken von Wirtschaftskrisen, Arbeitslosigkeit, extremer Armut und Kriminalität und die Problemkreise Arbeit, Gewalt und Korruption. Die institutionellen Variablen stellen die Risiken für das demokratische System infolge des Desinteresses an der Politik und der Konfrontation zwischen exekutiver und legislativer Gewalt dar. Hinzu kom-

419

III. Parlamentarische Elite

men Fragen der Instabilität der Demokratie, der Menschenrechte und der Konflikte zwischen den staatlichen Gewalten. In praktisch allen Fällen finden sich Unterschiede zwischen den vereinheitlichten Mittelwerten (Tab. 2 und 4). Doch fallen sie nicht übermäßig groß aus. Die Risiken für die Demokratie werden also - außer in Argentinien und in Costa Rica - von den politischen Kräften in sehr ähnlicher Form empfunden, wobei diese Wahrnehmung kein entscheidendes Kriterium für deren Differenzierung darstellt. So ist allgemein festzustellen, daß die sozio-ökonomischen Variablen mehr trennen als die institutionellen. Bei der Bewertung der Probleme besteht in Argentinien zwischen den Anhängern des Partido Justicialista und den Radikalen sowie in Chile zwischen den Rechten einerseits und den Sozialisten und Christdemokraten andererseits ein Unterschied, während bei den anderen untersuchten Fällen eine geringere Distanz zu verzeichnen ist. Diese Ungleichheit erklärt sich weniger aus ideologischen Überzeugungen als aus dem Umstand, daß die Parteien in der Regierung oder in der Opposition vertreten sind. So unterscheiden sich in Argentinien die Radikalen von den Vertretern des Partido Justicialista

durch ihre sehr unterschiedliche

Wahrnehmung der Folgen der Wirtschaftskrise oder der Kriminalität. Beide Aspekte sind als klassische Indikatoren für die Führung der Regierungsgeschäfte zu werten. In gleicher Weise können die Unterschiede zwischen den Vertretern der Liberación Nacional in der Regierung und den Christlich-Sozialen in der Opposition in Costa Rica interpretiert werden. Es sollte darauf hingewiesen werden, daß in Chile die Menschenrechte als das Problem wahrgenommen werden, das von den Abgeordneten als größter trennender Faktor zwischen der Rechten und der Sozialistischen und Christdemokratischen Partei genannt wird. Darüber hinaus wird die Bewertung des Konflikts zwischen den staatlichen Gewalten als ein Problem gesehen, das die Regierungs- von den Oppositionsparteien in Chile, Costa Rica, Argentinien und - in geringerem Ausmaß - in Mexiko unterscheidet.

Manuel Alcántara Sáez

420

7.

Interventionen des Staates

Das Ausmaß staatlicher Intervention wird mit Hilfe von sechs Fragen untersucht. Die erste bezieht sich auf die Fähigkeit des Staates, die Probleme der Gesellschaft zu lösen (Tab. 7). Danach steht die Frage nach dem Ausmaß, in dem der Staat bei der Kontrolle der Preise (Tab. 8) und bei der Schaffung von Arbeitsplätzen (Tab. 9) intervenieren soll. Darüber hinaus werden qualitative Aspekte der wichtigsten staatlichen Politikfelder erhoben, um festzustellen, inwieweit der Staat sich zu Positionen bekennt, die von neoliberalen Werten geprägt sind und bei denen kein hohes Konsensniveau besteht. Potentiell gehören dazu die Bildungs-, Gesundheits-, Wohn- oder Umweltpolitik. Zuletzt wird um eine Stellungnahme gebeten, ob die öffentlichen Aufwendungen (Tab. 5), die direkten Steuern (Tab. 6) und die Sozialausgaben erhöht, gleichbleiben oder vermindert werden sollen. Die acht untersuchten Nationen unterscheiden sich stark in der Beantwortung dieser Fragen, so daß kein allgemeines Muster erkennbar wird - weder in einzelnen Fragen noch auf den gesamten Fragenkomplex bezogen. Das hinsichtlich seiner Problemlösungskompetenz in den Staat gesetzte Vertrauen weist Chile und Mexiko als Länder aus, deren Abgeordnete weniger zuversichtlich sind als jene von Argentinien und Venezuela. Dazu sind auch größere Unterschiede bezüglich staatlicher Maßnahmen zur Preiskontrolle zu verzeichnen. Hier zeigen sich die Chilenen und Argentinier stärker neoliberal orientiert als die Abgeordneten aus Kolumbien, die die größte Neigung zum Interventionismus erkennen lassen. In der Frage der Staatsausgaben weisen wiederum Mexiko und Kolumbien den größten Prozentsatz von Abgeordneten aus, die sich für eine Erhöhung aussprechen, wenn auch im Rahmen des allgemeinen Ziels, sie zu senken (sehr extrem in Venezuela). Hingegen sprechen sich die chilenischen Abgeordneten hinsichtlich der zukünftigen Entwicklung der direkten Besteuerung im größerem Maße für eine Erhöhung aus - ganz im Gegensatz zu den mexikanischen Abgeordneten, die in ihrer Mehrheit für eine Verminderung eintreten. Hinsichtlich der sogenannten programmatischen Distanz treten hier die gravierendsten Unterschiede zwischen den untersuchten Parteien auf. Eine Ausnahme bildet dabei Argentinien, wo - außer in der Frage der öffentlichen Ausgaben - keine Diskrepanz zu bestehen scheint. Die statistische Variable,

III. Parlamentarische Elite

421

die sich ihrerseits aus den Variablen ableitet, die sich auf die dem Staat zugestandene Rolle beziehen, unterscheidet die Parteien deutlich und steht mit deren oben erwähnten ideologischen Überzeugung in Zusammenhang. Die Frage der öffentlichen Ausgaben ist ebenfalls ein Indikator, der mit der Unterscheidung zwischen links und rechts in Verbindung steht.

8.

Außenpolitik

Der letzte Abschnitt untersucht, in welchem Ausmaß die Außenpolitik (Bewertungsmaßstab ist das Interesse, das bestimmte zentrale Themen bei den interviewten Abgeordneten erwecken) eine Variable ist, die zu einer Distanzierung zwischen den untersuchten Parteien fuhrt. Obwohl die Durchschnittswerte einen Unterschied erkennen lassen, der zu einer gewissen Distanz fuhrt, ist diese doch sehr gering und praktisch in allen Fällen vernachlässigbar (Tab. 18). Keines der zentralen Themen scheint ein abweichendes Verhalten hervorzurufen. Somit kann festgestellt werden, daß die Außenpolitik die Position im Kontinuum von links bis rechts nicht definiert - im Gegensatz zu dem, was a priori anzunehmen war, besonders im Hinblick auf das Interesse an den Vereinigten Staaten oder der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds.

9.

Schlußfolgerung

Gemäß der ideologischen Eigenbewertung im Rahmen des Kontinuums von links bis rechts und der Perzeption, die die politische Klasse im allgemeinen von ihren Komponenten hat, kann die Verwendung der Kategorien "links" und "rechts" in der lateinamerikanischen Politik als zutreffend bestätigt werden, während gleichzeitig die Polarisierung der Parteien in den acht untersuchten lateinamerikanischen Länder beschränkt ist. Nicht nur die Akteure fugen sich kohärent in besagtes Kontinuum, sondern auch ihre mit Hilfe verschiedener Variablen ermittelten Werte stimmen mit ihrer ideologischen Selbsteinschätzung überein. Die geringe Polarisierung in einer linearen Bezugsgröße, wie es besagtes Kontinuum darstellt, erhöht sich nicht, wenn man die Meinungen der politischen Klasse über Sensoren des demokratischen Lebens und der zukünftigen Rolle des Staates auswertet. Innerhalb dieses

422

Manuel Alcántara Sáez

Komplexes von Variablen bewirken jene mit wirtschaftlichem Inhalt und die die Einflußnahme des Staates betreffenden größere Distanzen zwischen den Parteien, wobei diese Variablen mit der Einordnung in besagtem Kontinuum in Zusammenhang stehen. Die Variablen, die sich auf institutionelle Aspekte sowie die Bewertung der Demokratie und Außenpolitik beziehen, wirken sich sehr beschränkt aus. Was die verschiedenen in diesem Beitrag behandelten Länder betrifft, ist in Chile eine stärkere Verbindung zwischen den diversen untersuchten Variablen und der ideologischen Überzeugung festzustellen, so daß die Zugehörigkeit zur Linken oder Rechten mit der Annahme bestimmter Werte und programmatischer Positionen verbunden zu sein scheint. Diese Situation untermauert somit die These der jüngsten Literatur, derzufolge das chilenische Parteiensystem sich durch ein höheres Niveau der Institutionalisierung als andere lateinamerikanische Länder auszeichnet, die durch einen höheren Grad ideologischer Strukturierung charakterisiert werden. Im Falle von Argentinien, Costa Rica und Mexiko ist diese Verbindung ebenfalls festzustellen, wenn auch in geringerem Maße als in Chile. Letztendlich sind die Distanzen zwischen den wichtigsten Parteien in Kolumbien, Honduras, der Dominikanischen Republik und Venezuela sehr geringfügig, wodurch sich schließlich eine größere Ambiguität ergibt, wenn auf die politischen Implikationen der Dimension "links-rechts" Bezug genommen wird. Von der Polarisierung zwischen den Parteien kann daher ironischerweise keine Bedrohung der Regierbarkeit abgeleitet werden. Ganz im Gegenteil und das ist eine neue Hypothese, die in aller Vorsicht aufzustellen ist - verzeichnen gerade Kolumbien und Venezuela, die sich durch eine strukturlose Parteienlandschaft auszeichnen, das höhere Risiko.

III. Parlamentarische Elite

423

Bibliographie

Alcántara Sáez, Manuel 1991: La relación izquierda-derecha en la política latinoamericana, in: Leviatán (Madrid) 43-44, S. 73-93. - 1994: Gobernabilidad, crisis y cambio. Madrid. Coppedge, Michael 1994: Instituciones y gobernabilidad democrática en América Latina, in: Síntesis (Madrid) 22, S. 61-88. Downs, Anthony 1957: An Economic Theory of Democracy, New York. Lijphart, Arendt 1995: Sistemas electorales y sistemas de partidos, Madrid. Linz, Juan 1987: La quiebra de las democracias, Madrid. Mainwaring, Scott 1995: Presidencialismo, multipartidismo y democracia: la difícil combinación, in: Revista de Estudios Políticos (Madrid) 88, S. 115-144. Sartori, Giovanni 1980: Partidos y sistemas de partidos, Madrid. Von Beyme, Klaus 1995: La clase política en el estado de partidos, Madrid.

Manuel Alcántara Sáez

424

Anhang

Tab. 1: Demokratie als Gefahr für Unruhe und Desorganisation (%) + +

Argentinien Kolumbien Costa Rica Chile Mexiko Venezuela Honduras Dom. Rep.

-

3 1 -

1 3 -

+ 2 15 6 7 8 8 21 6

-

-

5 20 4 11 16 9 59 14

-

93 62 88 81 76 81 17 80

Mw 3.90 3.41 3.79 3.74 3.68 3.71 2.89 3.74

N 41 61 52 81 103 65 66 50

Frage: Für wie zutreffend halten Sie die Aussage, daß Demokratie gefährlich ist, weil sie zu Unruhe und Desorganisation führen kann? ++ + —

Sehr zutreffend Ziemlich zutreffend Ziemlich unzutreffend Sehr unzutreffend

Mw N

Mittelwert Summe der Abgeordneten

Tab. 2: Artikulierung politischer Präferenzen durch Wahlen + + + - Argentinien 93 5 2 Kolumbien 72 25 3 Costa Rica 92 8 Chile 73 22 5 Mexiko 81 18 1 Venezuela 71 26 3 Honduras 63 36 19 Dom. Rep. 82 18 -

(%) Mw 1.10 1.31 1.08 1.32 1.20 1.32 1.39 1.18

N 41 61 52 81 103 65 66 50

Frage: Halten Sie in einem pluralistischen politischen System mit einem ausgeprägten Wettbewerb zwischen den Parteien die Aussage für zutreffend, daß Wahlen immer das beste Mittel sind, um bestimmte politische Präferenzen auszudrücken?

425

III. Parlamentarische Elite Tab. 3: Ohne Parteien keine Demokratie? (%) Argentinien Kolumbien Costa Rica Chile Mexiko Venezuela Honduras Dom. Rep.

+ +

+

93 66 90 80 53 74 65 86

5 23 8 16 28 17 17 10

-

-

2 5 -

4 11 5 15 4

-

5 2 -

8 5 2 -

Mw 1.18 1.48 1.13 1.23 1.73 1.40 1.56 1.18

N 41 61 52 81 103 65 66 50

Frage: Beim Übergang zur Demokratie und ihrer Konsolidierung kommt den politischen und sozialen Akteuren und dem Grad ihrer Einigkeit fundamentale Bedeutung zu. Inwieweit stimmen Sie der Aussage zu, daß es ohne politische Parteien keine Demokratie geben kann?

Tab. 4: Zulassung von Parteien (%) Argentinien Kolumbien Costa Rica Chile Mexiko Venezuela Honduras Dom. Rep.

Alle Parteien 77 67 94 70 77 68 79 62

Mit Ausnahmen 22 26 2 30 14 25 15 18

Nicht alle Parteien -

5 4 -

9 8 6 20

N 41 61 52 81 103 65 66 50

Frage: Zum Problem der Zulassung von politischen Parteien. Welche der folgenden Aussagen ist für Sie am zutreffendsten? "Alle politischen Parteien sollen stets zugelassen werden"; "Grundsätzlich sollen alle Parteien zugelassen werden. Es gibt jedoch bestimmte Parteien, die aufgrund ihres eindeutig undemokratischen Charakters nicht zugelassen werden dürfen"; und "Nicht alle Parteien dürfen zugelassen werden, da dies ein Destabilisierungsrisiko für das politische System nach sich ziehen würde".

Manuel Alcántara Sáez

426 Tab. 5: Öffentliche Ausgaben (%) Argentinien Kolumbien Costa Rica Chile Mexiko Venezuela Honduras Dom. Rep.

Erhöhen 6 31 4 22 38 6 2 44

Nicht verändern 29 13 28 37 16 3 -

16

Senken 65 49 68 41 45 91 98 36

N 41 61 52 81 103 65 66 50

Frage: Was ist Ihrer Meinung nach im Hinblick auf die öffentlichen Ausgaben besser für ihr Land?

Tab. 6: Direkte Steuern (%) Argentinien Kolumbien Costa Rica Chile Mexiko Venezuela Honduras Dom. Rep.

Erhöhen 27 15 29 46 10 34 41 20

Nicht verändern 41 69 45 31 27 51 -

34

Senken 29 15 25 23 60 11 59 42

N 41 61 52 81 103 65 66 50

Frage: Was ist Ihrer Meinung nach im Hinblick auf die direkten Steuern besser für ihr Land?

427

III. Parlamentarische Elite Tab. 7: Rolle des Staates bei der Lösung von Problemen (%) Argentinien Kolumbien Costa Rica Chile Mexiko Venezuela Honduras Dom. Rep.

fast alle 12 18 15 5 14 17 22 26

viele 49 28 42 36 32 37 24 46

wenige 2 5 4 9 16 6

einige 37 49 38 50 38 40 54 26

-

2

Mw 2.29 2.41 2.31 2.63 2.57 2.35 2.31 2.04

N 41 61 52 81 103 65 66 50

Frage: Häufig wird behauptet, daß der Staat die Probleme unserer Gesellschaft lösen kann. Ihrer Meinung nach kann der Staat... Probleme lösen.

Tab. 8: Intervention des Staates - Kontrolle der Preise (%) -

Argentinien Kolumbien Costa Rica Chile Mexiko Venezuela Honduras Dom. Rep.

-

58 7 10 57 15 17 14 4

-

15 2 15 27 22 14 10 8

+ -

+

++

12 20 17 12 30 30 10

2 23 23 1 10 17 11 12

12 49 35 2 22 21 55 54

-

Mw 1.95 4.07 3.58 1.65 3.01 3.10 3.82 4.04

N 41 61 52 81 103 65 66 50

Frage: In welchem Ausmaß sollte Ihrer Meinung nach der Staat bei der Kontrolle der Preise intervenieren? [ — ] Minimale Intervention ... maximale Intervention [+ +].

Manuel Alcántara Sáez

428

Tab. 9: Intervention des Staates - Arbeitsplatzbeschaffung (%) -

Argentinien Kolumbien Costa Rica Chile Mexiko Venezuela Honduras Dom. Rep.

-

+ 27 21 15 17 24 26 16 26

-

22 5 10 40 21 17 14 2

7 3 31 29 16 15 13 16

+ 12 16 17 51 12 15 13 12

+ +

Mw 3.24 4.11 3.21 2.14 3.05 3.18 3.58 3.80

32 54 30 9 26 26 44 44

N 41 61 52 81 103 65 66 50

Frage: In welchem Ausmaß sollen Ihrer Meinung nach durch staatliche Intervention Arbeitsplätze geschaffen werden? [ ] Minimale Intervention ... maximale Intervention [+ +].

Tab. 10: Privatisierung - Staatsunternehmen (%) Argentinien Kolumbien Costa Rica Chile Mexiko Venezuela Honduras Dom. Rep.

A 25 3 12 25 17 11 21 62

B 5 66 14 28 12 15 37 46

C 70 29 68 36 68 74 39 40

D -

2 6 11 3 -

3 4

N 41 61 52 81 103 65 66 50

Frage: Welche der folgenden Aussagen faßt Ihre persönliche Einstellung zum Thema Privatisierung von Staatsunternehmen am besten zusammen? A Ich würde die gesamte staatliche Industrie privatisieren. B Ich würde nur die Staatsunternehmen mit geringer Rentabilität privatisieren. C Ich würde alle Betriebe privatisieren, die für die Entwicklung des Landes nicht von strategischer Bedeutung sind. D Ich würde alles beim gegenwärtigen Zustand belassen.

429

III. Parlamentarische Elite Tab. 11: Privatisierung - Öffentliche Dienstleistungen (%) Argentinien Kolumbien Costa Rica Chile Mexiko Venezuela Honduras Dom. Rep.

A 29 16 8 20 9 25 11 6

B 12 34 15 15 14 14 26 28

C 59 34 48 35 70 52 56 50

D -

5 17 15 7 2 7 10

N 41 61 52 81 103 65 66 50

Frage: Welche der folgenden Aussagen faßt Ihre persönliche Einstellung zum Thema Privatisierung von öffentlichen Dienstleistungen am besten zusammen? A Ich würde alle öffentlichen Dienstleistungen privatisieren. B Ich würde nur die öffentlichen Dienstleistungen mit geringer Rentabilität privatisieren. C Ich würde alle öffentlichen Dienstleistungen mit Ausnahme jener privatisieren, die Auswirkungen auf die Mehrheit der Bevölkerung hätten. D Ich würde alles beim gegenwärtigen Zustand belassen.

Manuel Alcántara Sáez

430 Tab. 12: Parteien - Ideologische Unterschiede (%) Argentinien Kolumbien Costa Rica Chile Mexiko Venezuela Honduras Dom. Rep.

A 22 93 76 56 39 25 81 53

B 19

C 37 3 11 4 1 20 4 17

-

4 4 16 9 4 14

D 22 2 6 4 25 46 9 17

N 41 61 52 81 103 65 66 50

Frage: Im Augenblick wird viel über die Schwäche der politischen Parteien diskutiert. Welche der folgenden Aussagen ist die für Sie am zutreffendsten? A Die wichtigsten politischen Parteien unterscheiden sich in ideologischer Hinsicht nicht stark. B Die Ideologie der Linksparteien ist solider als die anderer Parteien. C Ideologie ist etwas Irrelevantes. D Die ideologische Polarisierung der Parteien ist extrem und erschwert die Führung der Regierungsgeschäfte.

Tab. 13: Steuerpolitik (%) Argentinien Kolumbien Costa Rica Chile Mexiko Venezuela Honduras Dom. Rep.

A 80 77 85 53 66 85 74 68

B -

8 -

3 6 4 6 5

C 18 15 15 40 25 11 18 26

N 41 61 52 81 103 65 66 50

Frage: Zum Thema der Steuerpolitik: Welcher Art von Steuern messen Sie größere Bedeutung bei? A Direkten Steuern auf Kapital. B Direkten Steuern auf Arbeit. C Indirekten Steuern.

431

III. Parlamentarische Elite Tab. 14: Programmatische Distanz - Intervention des Staates

Politik der öffentlichen Hand Einnahmen und Ausgaben D E F A B C Chile DCHA-PS DCHAPDC PDC-PS Kolumbien PC-PL Costa Rica PUSC-PLN Honduras PN-PL Dom. Rep. PRD-PLD Argentinien PJ-UCR Mexiko PAN-PRD PAN-PRI PRI-PRD Venezuela COPEI-CR COPEI-AD AD-CR

0.22 0.14

-0.16 -0.14

-0.30 -0.26

0.46 0.29

0.09 0.09

0.47 0.39

0.08

-0.02

-0.04

0.18

-

0.07

-0.03

-0.07

-0.15

0.17

0.01

0.01

0.11

-0.30

-0.07

0.14

0.03

0.14

-0.01

-0.13

-0.09

0.02

0.02

0.09

0.03

0.22

0.16

0.02

-0.02

-0.04

0.17

-0.36 -0.20 -0.16

-0.33 -0.13 -0.20

0.49 0.20 0.29

0.09 0.09 -

0.11 0.21 -0.10

0.44 0.04 0.40

0.02 0.02

0.04 0.04 0.08

0.29 0.19 0.10

-0.08 -0.19 0.11

0.09 0.09 -

0.05 0.04 -

A Problemlösung B Preiskontrolle C Beschäftigungspolitik

-

D Öffentliche Ausgaben E Sozialausgaben F Steuern

-0.02 -

-0.06

432

Manuel Alcántara Sáez

Tab. 15: Programmatische Distanz - Bewertung der Demokratie Chile DCHA-PS DCHA-PDC PDC-PS Kolumbien PC-PL Costa Rica PUSC-PLN Honduras PN-PL Dom. Rep. PRD-PLD Argentinien PJ-UCR Mexiko PAN-PRD PAN-PRI PRI-PRD Venezuela COPEI-CR COPEI-AD AD-CR A B C D

A

B

C

D

0.08 0.12 -0.04

-0.19 -0.17 -0.02

0.09 0.10 -0.01

0.13 0.12 0.01

0.02

0.02

-

-0.14

-

-0.02

-0.05

0.02

-0.04

-0.03

-0.02

0.04

0.03

-

-0.05

0.06

-

0.02

0.03

0.06

-

0.03 0.03 0.06

0.06 0.06 -0.01

0.07 0.05 0.02

-0.18 0.01 0.19

-0.11 -0.01 -0.10

-0.23 -0.07 0.16

0.80 0.17 0.25

0.03 0.02

Wahlen Gefahren der Demokratie Demokratie ohne Parteien Zulassung von Parteien

III. Parlamentarische Elite

433

Tab. 16: Ideologische Distanz Distanz Bezugsrahmen A B C Chile DCHA-PS DCHA-PDC PDC-PS Kolumbien PC-PL Costa Rica PUSC-PLN Honduras PN-PL Dom. Rep. PRD-PLD Argentinien PJ-UCR Mexiko PAN-PRD PAN-PRI PRI-PRD Venezuela COPEI-CR COPEI-AD AD-CR *

Keine Daten

A B C D

Selbsteinstufung eigene Partei andere Parteien Scheidung

D

Distanz der Werte E F F1 F2

0.34 0.19 0.15

0.37 0.20 0.12

0.56 0..34 0.22

0.29 0.13 0.16

0.28 -0.01 0.29

-0.40 -0.38

0.36 -0.02 0.38

0.19

0.17

0.19

0.13

0.02

0.16

0.06

0.18

0.18

0.27

0.06

0.10

-0.08

0.02

0.11

0.12

0.37

0.02

0.02

*

0.04

0.07

0.03

0.16

0.07

0.12

-0.12

0.17

0.03

0.03

0.13

0.03

0.10

-0.17

0.15

0.23 0.11 0.12

0.24 0.10 0.14

0.60 0.21 0.39

0.20 0.13 0.07

0.16 0.28 0.12

-0.55 -0.30 -0.25

0.37 0.20 0.18

1.75 0.92 0.83

0.19 0.10 0.08

0.44 0.04 0.40

0.06 0.09 -0.02

0.19 0.06 0.13

-0.21 -0.13 -0.08

0.29 0.19 0.10

E F F1 F2

Abtreibung Religiosität Häufigkeit Selbsteinstufung

-

434

Manuel Alcántara Sáez

Tab. 17: Programmatische Distanz - Risiken für die Demokratie Chile DCHA-PS DCHAPDC PDC-PS Kolumbien PC-PL Costa Rica PUSC-PLN Honduras PN-PL Dom. Rep. PRD-PLD Argentinien PJ-UCR Mexiko PAN-PRD PAN-PRI PRI-PRD Venezuela COPEI-CR COPEI-AD AD-CR A Wirtschaftskrise B Arbeitslosigkeit C extreme Armut

A

B

C

D

E

F

-0.14 -0.04

-0.10 -0.02

-0.05 -0.07

-0.04 0.17

-0.13 -0.12

-0.08 -0.16

-0.10

-0.09

-0.02

-0.02

-0.02

0.07

-0.10

-0.10

-0.09

-0.03

-0.11

0.1

-0.29

-0.06

-0.24

-0.74

0.09

0.17

0.06

-

0.03

0.02

0.03

0.10

0.04

-0.1

-0.08

-

0.06

0.1

-0.69

-0.15

-0.2

-0.35

-0.25

-0.10

-0.05 -0.02 -0.03

0.07 -0.07

-0.09 0.06 0.03

0.08 0.10 -0.02

0.06 0.10 -0.04

0.09 0.04 -0.13

0.11 -0.02 -0.09

-0.12 0.12 -0.24

-0.13 0.04 -0.17

0.04 0.1 0.18

-0.12 0.08 -0.20

-0.02 -0.17 0.15

-

D Kriminalität E politisches Desinteresse F Balance Legislative-Exekutive

435

III. Parlamentarische Elite Tab. 18: Programmatische Distanz - Außenpolitik Chile DCHA-PS DCHAPDC PDC-PS Kolumbien PC-PL Costa Rica PUSC-PLN Honduras PN-PL Dom. Rep. PRD-PLD Argentinien PJ-UCR Mexiko PAN-PRD PAN-PRI PRI-PRD Venezuela COPEI-CR COPEI-AD AD-CR WB IWF EU

Japan

USA

0.08 -0.06

-0.02 -0.06

0.15

LA

EU

-0.03 -0.03

-0.03 -0.06

0.01 -0.04

0.04

-0.72

-0.02

0.05

0.10

0.13

-0.03

-0.04

0.09

0.02

0.09

-0.12

-0.03

0.08

0.06

0.03

-0.10

0.05

0.07

0.03

-

-0.07

0.02

-

0.04

0.04

-0.05

-0.02

-0.10

-0.09 -0.09

-0.07 0.01 -0.08

0.03 0.01 0.01

-0.09 -0.04 -0.05

0 0.04 -0.03

-0.05 -0.06 0.01

-0.09 -0.01 -0.09

-0.06 -0.01 -0.05

-0.08

-

-

0.05 -0.05

Weltbank Internationaler Währungsfonds Europäische Union

| WB/IWF

-

-0.08

436

Manuel Alcántara Sáez

Tab. 19: Programmatische Distanz - Probleme des Landes Chile DCHA-PS DCHAPDC PDC-PS Kolumbien PC-PL Costa Rica PUSC-PLN Honduras PN-PL Dom. Rep. PRD-PLD Argentinien PJ-UCR Mexiko PAN-PRD PAN-PRI PRi-PRD Venezuela COPEI-CR COPEI-AD AD-CR

A

B

C

D

E

F

-0.13 -0.18

0.15 0.12

-0.31 -0.35

-0.32 -0.35

-0.16 -0.18

0.13 0.08

0.05

0.02

0.04

0.03

0.02

0.05

-0.08

0.07

0.11

-0.06

0.05

0.01

-0.17

-

0.03

-0.02

0.29

-0.07

-0.01

0.06

-

0.02

0.07

0.02

0.09

0.14

-0.02

0.05

-0.01

0.07

-

-0.27

-0.32

0.02

-0.34

-0.20

-0.04 -0.02 -0.01

0.06 -0.25

-0.02 0.15 -0.17

-0.09 0.14 -0.24

0.02 0.13 -0.10

0.01 0.10 -0.08

0.02 0.03 -0.01

-0.02 -0.01

-0.11 0.11 -0.23

0.16 0.09 0.07

-0.02 0.03 -0.05

-

0.04 -0.04

A Arbeitsbeschaffung B Gewalt C Stabilität der Demokratie

-

-

D Menschenrechte E Machtkonflikte F Korruption

III. Semipräsidialsystem

437

Gutenberg Martinez Ocamica Politische Regime in Lateinamerika ein Semipräsidialsystem als Lösung? Einführung Wie in allen lateinamerikanischen Ländern ist auch in Chile in der letzten Dekade eine Diskussion über die Entwicklungsmöglichkeiten eines neuen politischen Systems oder Regimes aufgekommen. Im großen und ganzen wiesen die lateinamerikanischen Länder bisher präsidiale Systeme auf - auf den Unterschied zu den eigentlichen präsidentialen Systemen werde ich noch eingehen - , die früher oder später in eine Krise gerieten und sich de facto in Militärregime verwandelten. Diese versuchten im nachhinein, sich mit der Verankerung deutlich präsidialer Strukturen in der Verfassung politisch zu legitimieren, wobei verschiedene, konstitutive demokratische Elemente ausgeklammert wurden. Derweil begannen noch zu Zeiten autoritärer Herrschaft Verfassungsrechtler - so in Chile der Grupo de los 24 - auf ein semipräsidiales System als die Staatsform hinzuweisen, die den lateinamerikanischen Gegebenheiten am ehesten gerecht zu werden verspreche. In einem ersten Schritt werde dieses System die Strukturprobleme der in die Krise geratenen Regime beseitigen, um dann - nach der demokratischen Erneuerung - voll ausgebaut werden zu können. Heute, da wir in den meisten lateinamerikanischen Ländern in einer Demokratie leben oder uns zumindest in einem Prozeß der Verfestigung demokratischer Strukturen befinden, ergibt sich aus dieser rein akademischen Debatte

Aus dem Spanischen übersetzt von Guillermo Atlas.

438

Gutenberg Martínez Ocamica

ein Ansatz zur Analyse der politischen Handlungsmöglichkeiten bei der Errichtung eines semipräsidialen Systems. So geht es im folgenden darum, eine Synthese des Ursprungs des lateinamerikanischen Präsidentialismus herzustellen und seine praktische Funktionsweise zu analysieren - die ihm eigenen Merkmale, Hauptdefizite und die Herausforderungen für die Stabilität der lateinamerikanischen Demokratien herauszuarbeiten. Daran anknüpfend rückt die These in den Mittelpunkt, die die Einrichtung parlamentarischer Systeme in Lateinamerika als nicht angemessen beschreibt. Schließlich sollen die Grundlagen eines semipräsidialen Systems untersucht werden, welches in Ländern wie Chile anwendbar wäre, wobei weitere Elemente berücksichtigt werden, die diese Option vervollständigen sollten.

1.

Der lateinamerikanische Präsidentialismus

1.1. Der Ursprung des lateinamerikanischen Präsidentialismus - das nordamerikanische Präsidialsystem Verfassungsrechtler und Politikwissenschaftler stimmen darin überein, daß der Ursprung des lateinamerikanischen Präsidentialismus im nordamerikanischen Präsidialsystem liegt. Ohne dabei zu sehr ins Detail gehen zu wollen, soll daher das Modell der Vereinigten Staaten kurz charakterisiert werden. Seine spezifischen Eigenarten lassen sich in den folgenden Punkten zusammenfassen: a. Strikteste Trennung von staatlichen Gewalten und Funktionen; b. Wechselseitige Unabhängigkeit von Judikative, Legislative und Exekutive; c. Gleichgewicht der staatlichen Gewalten, gestützt auf die wechselseitige Unabsetzbarkeit von Parlament und Exekutive als eine der Grundlagen des Systems der strikten Gewaltentrennung; d. Ein starker Präsident als staatstragende Instanz in einem traditionell föderalistischen System. Die Funktionsfähigkeit des nordamerikanischen Präsidialsystems gründet sich im wesentlichen auf reale landesspezifische Gegebenheiten. Diese Er-

III. Semipräsidialsystem

439

kenntnis ist für die Analyse der Einrichtung dieses Systems in den lateinamerikanischen Staaten, die am Anfang ihrer Unabhängigkeit stehen, elementar. In der Praxis weist das politische System der U S A folgende Merkmale auf: a. Ein Zweiparteiensystem, bei dem Demokraten und Republikaner als 'pragmatische' Parteien bezeichnet werden können. Sie charakterisieren sich dadurch, daß sie im Interesse der Union oder des Bundesstaates handeln, den die jeweiligen Parlamentarier vertreten. Praktische Entscheidungen bleiben in der Regel frei von partei-internem ideologischen Streit und vor allem von prinzipiellen Werten, die unverrückbar sind und sich von denen des politischen Gegners unterscheiden ('ideologische' Parteien). Genauso wenig haben sich die Parteien einem bestimmten Regierungsprogramm zu unterwerfen, das der amtierende Präsident in seiner Wahlkampagne vertreten hat, selbst wenn sie seine Forderungen seinerzeit unterstützten ('programmatische' Parteien). b. In der Konsequenz sind beide Parteien nicht allzu stark strukturiert. Ihre Organisationen auf nationaler, bundesstaatlicher oder lokaler Ebene sind vergleichsweise schwächer als die der meisten europäischen und lateinamerikanischen Parteien. Die Basis findet sich lediglich in den - spanisch - sogenannten 'Caucas' zusammen, sporadischen Versammlungen, auf denen eine eher knappe programmatische Diskussion geführt und die Wähler auf das Parteiprogramm eingeschworen werden. c. Die Parteidisziplin ist eher lax. Dies ist auch logisch, da aufgrund der losen Parteistrukturen und der politischen Ungebundenheit vom Programm des Präsidenten sich die Parlamentarier vor allem den Interessen ihrer Wählerklientel und ihres Wahlkreises verantwortlich fühlen. So stellen sich demokratische und republikanische Kongreß- und Senatsmitglieder politischen Initiativen des Präsidenten nicht selten entgegen; d. Dank ihrer pragmatischen Ausrichtung herrscht zwischen beiden politischen Lagern im allgemeinen Konsens über die politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Struktur des Staates und darüber, welchen Lebensstil man den Bürgern geben will. e. Beide Parteien versuchen ganz einfach, eine gegebene, von beiden akzeptierte und geteilte Wirklichkeit auf die bestmögliche Art und Weise zu verwalten.

Gutenberg Martínez Ocamica

440

f. Im Ergebnis lassen sich anstehende Probleme leichter lösen und Konflikte, die keine Grundsatzfragen berühren, schneller beilegen.

1.2. Das lateinamerikanische Präsidialsystem: die Anpassung des nordamerikanischen Präsidialsystems Bei der Übernahme des nordamerikanischen Präsidialsystems in Lateinamerika wurden wesentliche Anpassungen notwendig, die zu der oben getroffenen terminologischen Differenzierung zwingen. So verweisen Autoren wie Jacques Lambert 1 darauf, daß der lateinamerikanische Präsidentialismus einer doppelten Notwendigkeit entspricht - einerseits dem Regierungschef die Machtmittel in die Hand zu geben, die die besondere Situation von im Entwicklungsprozeß befindlichen Ländern erfordert; und andererseits dem Gebot, diese Vollmachten zu begrenzen, damit diese Länder nicht Willkür und Machtmißbrauch anheimfallen, sondern sich zu wirklichen demokratischen Rechtsstaaten entwickeln. Die bereits in diesem Jahrhundert analysierten Merkmale dieser Regierungsform sind: a. Der Präsident der Republik hat umfassende Machtbefugnisse: -

Er ist Staats- und Regierungschef;

-

Als Regierungschef ernennt er sein Kabinett, dessen Mitglieder sich zumindest ursprünglich nicht politisch vor dem Parlament zu verantworten haben;

-

Als Staatschef repräsentiert er das Land in Wahrnehmung seiner Souveränität im Bereich der internationalen Beziehungen; er verkörpert die geschichtliche Kontinuität und die bleibenden Werte der Nation;

-

Er übt die Regierungsgewalt in einem festgelegten Zeitraum aus - in der Regel nicht mehr als sechs Jahre;

-

Er ist eine repräsentative Autorität, aus allgemeinen und direkten Wahlen hervorgegangen. Daher vereint er auf seine Person ein enormes Maß an politischer Souveränität und demokratischer Legitimität mit umfassenden Befugnissen, die ihm ursächlich und vielfach als einzigem erlauben, poli-

Lambert 1963, S. 581.

III. Semipräsidialsystem

441

tische Prozesse in Gang zu setzen und politische Entscheidungen zu treffen; -

Er ist nicht absetzbar, kann aber zumindest für die folgende Amtsperiode nicht erneut kandidieren;

-

Er ist der Oberbefehlshaber der Streitkräfte;

-

Er ist Sprecher der Regierung;

-

Als Inhaber und Kopf der Exekutivgewalt steht er gleichzeitig an der Spitze der Verwaltung;

-

Der Präsident ist ermächtigt, an der Gesetzgebung mitzuwirken. Diese Beteiligung der Exekutive an der Legislative ist wie folgt geregelt: •

Der Präsident hat das Recht 3 , dem Parlament Gesetzesentwürfe vorzulegen;



In bestimmten Bereichen übt er dieses Recht exklusiv aus. 4 Mit diesem Privileg verfugen einige lateinamerikanischen Präsidenten fast ungehindert über die öffentlichen Haushalte ihrer Länder. 5

3

4

Gemäß Artikel 79 und 118, Nr. 7 der Verfassung von Kolumbien; Artikel 133 und 168, Nr. 7 der Verfassung von Uruguay; Artikel 68 der Verfassung von Argentinien; Artikel 73 der Verfassung von Bolivien; Artikel 71, Nr. 1 der Verfassung von Mexiko; Artikel 55 und 77 der Verfassung von Paraguay; Artikel 66, Abs. 2 der Verfassung von Haiti; Artikel 165, Nr. 2 der Verfassung von Venezuela; Artikel 123 und 140, Nr. 5 der Verfassung von Costa Rica; Artikel 45, Abs. 2 der chilenischen Verfassung von 1925 und Artikel 62, Abs. 2 der chilenischen Verfassung von 1980. In Chile überläßt die Verfassung von 1980 dem Präsidenten der Republik in vielen Bereichen die ausschließliche Initiative. Dies geht deutlich aus den Absätzen 31 und 41, Nummer 11 und 21 des Artikels 62 in Verbindung mit Artikel 32, Nummer 101 und 131 hervor. Darunter fallen a.) die Änderung der politischen oder verwaltungstechnischen Aufteilung des Landes und der Finanz- und Haushaltsverwaltung des Staates, einschließlich der Änderungen von Haushaltsgesetzen; b.) Regelungen über die Veräußerung von Staats- oder Gemeindeeigentum und dessen Vermietung und Verpachtung; c.) Heer, Marine und Luftstreitkräfte in Friedens- und Kriegszeiten, Regelungen fiir den Eintritt der auf Staatsterritorium zugelassenen ausländischen Truppen ebenso wie den Aufenthalt nationaler Truppen außerhalb desselben. Der Präsident kann zudem d.) Abgaben jeglicher Art erheben, abschaffen, reduzieren oder nachlassen, Konzessionen vergeben, bereits existierende ändern und deren Form, Angemessenheit oder Progression bestimmen; e.) neue öffentliche Dienstleistungen oder mit Einnahmen verbundene Posten vergeben - ob staatliche, halbstaatliche, selbständige, aus staats- oder gemeindeeigenen Unternehmen diese auflösen und deren Funktionsweise oder

Gutenberg Martínez Ocamica

442



Der Präsident kann sich der Formulierung eines Gesetzentwurfes, der im Parlament verabschiedet wurde, mit dem Vorschlag eines alternativen Wortlauts entgegenstellen, ohne die Verabschiedung des Entwurfs in Teilbereichen, die seinem Interesse entsprechen, zu verzögern. Mit diesem 'Teil'-Veto hat er ein politisch weitaus wertvolleres Instrument zur Hand als der Präsident der Vereinigten Staaten mit seinem 'Voll'-Veto.6

Zuständigkeitsbereich festlegen. Außerdem übertragen ihm Nummer 31 bis 61 von Absatz 41 des Artikels 62 die ausschließliche Befugnis a.) zur Aufnahme von Darlehen und Durchführung jeglicher Art von Maßnahmen, welche eine Kreditverpflichtung oder finanzielle Haftung des Staates, der halbstaatlichen, selbständigen oder städtischen Einrichtungen nach sich ziehen, sowie Nachlaß, Senkung oder Änderung von Zahlungsverpflichtungen, Zinsen oder sonstigen finanziellen Belastungen jeglicher Art zugunsten des Staates oder der erwähnten Organismen oder Einrichtungen; b.) zur Festlegung, Änderung, Gewährung oder Anhebung von Vergütungen, Altersrenten, Pensionen, Versorgungsleistungen und sonstigen Gehältern, Darlehen oder Begünstigungen des aktiven oder im Ruhestand befindlichen Personals und der Versorgungsempfänger, im jeweiligen Fall von Seiten der öffentlichen Verwaltung und der weiteren zuvor aufgeführten Organismen und Einrichtungen, sowie zur Festsetzung der Mindestvergütungen der im Privatsektor Beschäftigten, zur obligatorischen Anhebung ihrer Vergütungen und sonstigen wirtschaftlichen Vergünstigungen oder zur Änderung der dazu nötigen Festsetzungsgrundlagen; c.) zur Festlegung der Modalitäten und Abläufe von Kollektivverhandlungen und zur Entscheidung der Fälle, in denen nicht verhandelt werden kann; d.) zur Festlegung und Änderung der Normen sozialer Sicherung und angrenzender Bereiche für den öffentlichen und privaten Sektor. Schließlich weist der letzte Absatz des Artikels 62 darauf hin, daß das Parlament die Dienstleistungen, Posten, Bezüge, Darlehen, Vergünstigungen, Ausgaben und sonstigen Maßnahmen des Präsidenten lediglich akzeptieren, verringern oder ablehnen kann. 5

Als Beispiele für das übrige Lateinamerika sei auf folgende Artikel der jeweiligen Verfassungen verwiesen: Artikel 57 der Verfassung Brasiliens, die Artikel 199 und 211, Nr. 20 der Verfassung Perus, Artikel 140, Nr. 15 der Verfassung Costa Ricas, die Artikel 86, Absatz 21 und 133 der Verfassung Uruguays, Artikel 218 der Verfassung Kolumbiens, Artikel 59, Nr. 2, 3 und 11 sowie Artikel 97, Nr. 7 der Verfassung Boliviens, Artikel 76, Nr. 4 der Verfassung Paraguays und schließlich Artikel 66 der Verfassung Haitis.

6

Dieses Recht ist in folgenden Artikeln festgelegt: Artikel 193, Abschnitt Verfassung Perus, Artikel 173 der Verfassung Venezuelas, Artikel 59, § Verfassung Brasiliens, Artikel 87 der Verfassung Kolumbiens, Artikel Verfassung Ecuadors, Artikel 72 der Verfassung Mexikos, die Artikel 53,

21 der 11 der 68 der 54 und

III. Semipräsidialsystem

443



Das Parlament kann den Präsidenten ermächtigen, Gesetze zu erlassen - und dies selbst in Bereichen, die die Legislative selbst betreffen. Diese gesetzgeberische Kompetenz, die die präsidentiale Amtsführung erheblich erleichert, ist aber an bestimmte Voraussetzungen, Fristen, Sperren und Formalien gebunden, deren Striktheit von der jeweiligen Verfassung abhängt.7



Der Präsident ist weiter befugt, die Bearbeitung eines Gesetzentwurfs als dringlich zu erklären oder dies zumindest vorzuschlagen



und über seine zuständigen Minister an Parlamentsdebatten teilzunehmen. Dazu kommen in Krisenzeiten noch verschiedene außerordentliche Vollmachten, die sich in erster Linie aus der Restriktion der Teilnahme des Parlaments an bestimmten, normalerweise ihm allein vorbehaltenen oder gemeinsam mit der Exekutive zu treffenden Entscheidungen ergeben.



b. Das Parlament seinerseits besitzt offenkundig gesetzgebende Funktionen, ist aber dazu mit Befugnissen ausgestattet, die darauf zielen, die in der lateinamerikanischen Version des Präsidialsystems innewohnende Machtkonzentration auszugleichen. So sind der Legislative bis zu einem gewissen Grad Eingriffe in den Kompetenzbereich der Exekutive erlaubt. Grundsätzlich handelt es sich dabei um folgende Befugnisse:

55 der Verfassung Chiles von 1925 und Artikel 70 der Verfassung Chiles von 1980. Im Fall Chiles wird dem Präsidenten der Republik sowohl durch die Verfassung von 1925 (Artikel 45, Nr. 15) als auch der von 1980 (Artikel 61) eine recht umfassende, auf ein Jahr befristete Vollmacht erteilt. Andere lateinamerikanische Verfassungen treffen strengere Vorsichtsmaßnahmen bei der dem Präsidenten erteilten Ermächtigung zur Gesetzgebung, über deren Gebrauch innerhalb einer bestimmten Frist vor dem Parlament Rechenschaft abgelegt werden muß oder deren Ergebnis gar einer obligatorischen Untersuchung durch das Parlament unterzogen wird. Dies ist in unterschiedlichen Abstufungen in Brasilien, Paraguay und Peru der Fall.

Gutenberg Martínez Ocamica

444

-

Parlamentarische Kontrolle der Amtsführung der Regierung;

-

Anklage wegen Verfassungsbruchs gegen den Präsidenten der Republik; 8

-

Mitwirkung bei der Ernennung von Botschaftern;

-

Mitbestimmung bei der Beförderung von hohen Militärs.

Im Fall Chiles, dessen unbeschränkter Präsidialismus inzwischen als Cäsarismus definiert wird, existieren die beiden letzten Befugnisse nicht. Eingedenk dieser wichtigen Transformationen bezeichnen wir das in Lateinamerika lange vorherrschende politische System als Präsidentialismus nicht als Präsidialsystem.

und

Dieser Befund erhärtet sich mit der Analyse der

tatsächlichen und konstitutionellen Entwicklung dieses Systems - insbesondere der Verschiebung der Machtbalance zwischen den drei klassischen Gewalten.

2.

Defizite des lateinamerikanischen Präsidentialismus

Die Realität in Lateinamerika unterscheidet sich grundlegend von der der Vereinigten Staaten - zumindest bei der Einrichtung des politischen Systems und bis zu seiner Ablösung durch autoritäre Regime. Es handelt sich um Entwicklungsländer mit gravierenden sozioökonomischen und kulturellen Problemen, mit immenser gesellschaftlicher, ökonomischer und sozialer Ungleichheit. Aus diesen Defiziten entstehen vielfach tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten, wie sie in den Vereinigten Staaten nicht existierten. Hinzu kommt eine große Vielfalt an unterschiedlichen historischen Erfahrungen und Wertorientierungen, die einen gesellschaftlichen Konsens erschweren und dazu fuhren, daß weiter politische Verbindungen, Ausdrucksformen und Konfrontationsstile gepflegt werden, in denen der Gegner als

Dieses trifft nicht unbedingt auf ganz Lateinamerika zu. Eine genauere Untersuchung, die den Rahmen dieser Abhandlung sprengen würde, zeigt zumindest drei Varianten auf: Reines Präsidialsystem (Argentinien, Kolumbien, Ecuador und Chile unter der Verfassung von 1925); abgeschwächter Präsidentialismus (Bolivien unter der Verfassung von 1945, Venezuela, Costa Rica und Uruguay) und gelenkter Präsidentialismus (Kolumbien unter der Zweiparteienregierung oder Nationalen Front von 1958 und Mexiko unter der Herrschaft der Institutionalisierten Revolutionspartei und der eingeschränkten Vertretung der Opposition im Parlament).

III. Semipräsidialsystem

445

Feind erscheint, den es zu besiegen gilt. Diese Tatsache erklärt, unter anderem, die vorhandene Vielparteienlandschaft als natürliches Parteiensystem in vielen Ländern Lateinamerikas. Dieses wird im folgenden thematisiert.

2.1. Der Präsident der Republik als Zentrum des Regierungssystems Der Präsident der Republik wird in einem Präsidialsystem durch allgemeine und direkte Wahlen bestimmt. Als wirklich vom Volk gewählt kann er nur gelten, wenn er die absolute Mehrheit der Stimmen erringt. Gewinnt indes kein Kandidat 50 % der Stimmen, fällt unter Umgehung einer Stichwahl in mehreren Staaten Lateinamerikas dem Parlament die Aufgabe zu, zwischen den beiden Bewerbern mit relativer Stimmenmehrheit zu entscheiden. 9 Aus einer derartigen Praxis resultiert offenkundig ein Problem. Die parlamentarische Mehrheit, die sich aus diesem Anlaß ümstandshalber zusammengefunden hat, muß nicht unbedingt - und in der Tat war dies fast nie der Fall - mit der Unterstützung des Programms und der Politik der gewählten Regierung einhergehen. Dies widerspricht dem demokratischen Prinzip der Mehrheitsregierung, die im Präsidialsystem als Ideal gelten muß. Dagegen ermöglicht dieser Mechanismus eine politisch unverantwortliche Haltung des Parlaments, das schon am Tag nach der Präsidentenwahl mehrheitlich eine oppositionelle Haltung einnehmen kann. Damit rückt das Problem der Obstruktionspolitik in den Mittelpunkt - ein Problem, das weiter unten noch Gegenstand der Analyse sein wird.

Artikel 39 der Verfassung Chiles von 1925; Artikel 48 der Verfassung Chiles von 1980; die Artikel 183 und 184 der Verfassung Perus; Artikel 59 der Verfassung Ecuadors; Artikel 150, Nr. 8 der Verfassung Venezuelas und Artikel 151 der Verfassung Costa Ricas. Dies geschah zum Beispiel in Chile unter der Verfassung von 1925.

446

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2.2. Vielparteiensystem und Präsidialsystem Abgesehen von den Ländern, in denen ein System von zwei oder 'zweieinhalb' politischen Parteien existiert, treten in einem Präsidialsystem zwei Arten von Blockaden der Regierung auf, die durch das eben erwähnte Vielparteiensystem bedingt sind. Erstens kann zwischen der Präsidentenmehrheit und der Parlamentsmehrheit, d.h. zwischen dem Präsidenten und dem Parlament, eine interorganische Blockade auftreten. Sie resultiert aus einer zersplitterten Parteienlandschaft, die die Repräsentation politisch sehr heterogener Kräfte begünstigt, von denen keine allein die parlamentarische Mehrheit zu stellen vermag. Das fuhrt dazu, daß der Präsident vielfach nicht die zur Umsetzung seines Regierungsprogramms nötige mehrheitliche Unterstützung des Parlaments erlangt. Zweitens, die interparlamentarische Blockade, die sich aus den zeitversetzten Wahlen der verschiedenen Kammern des Parlaments ergibt. (Üblicherweise wird eine Teilerneuerung der ersten Kammer nach Ablauf der halben Amtszeit der zweiten Kammer vorgenommen). Dies bedeutet im allgemeinen, daß sich in der ersten Kammer das politische Kräfteverhältnis verschiebt und nicht mehr der politischen Konstellation entspricht, durch die die Präsidentenwahl entschieden wurde. In jedem Fall, auch bei dieser Blockade, ist das Vielparteiensystem zumindest eine Ursache.

2.3. Erweiterte präsidiale Vollmachten zur Vermeidung von Blockaden Die politische Praxis zeigt, daß das Präsidialsystem eher schwach ist. Daher eignet sich der Präsident mit der Zeit immer mehr Rechte an, um die aufgezeigten Blockaden zu überwinden. Dabei verschafft er sich in erster Linie einen größeren Handlungsspielraum in der Gesetzgebung und letztendlich die verfassungsrechtliche Vollmacht zur Übertragung von Gesetzgebungsbefugnissen auf seine Person. Aber auch diese Konzentration von Zuständigkeiten erlaubt es dem Präsidenten nicht, sein Regierungsprogramm umzusetzen. Das hat die Geschichte Lateinamerikas zur Genüge gezeigt. In der Tat werden seine gesetzgeberi-

III. Semipräsidialsystem

447

sehen Impulse vielfach lahmgelegt - die entsprechenden Entwürfe im Plenum und den Parlamentsausschüssen entstellt. Auch diese mißliche Lage resultiert aus einer zersplitterten Parteienlandschaft, die den Präsidenten daran hindert, die notwendigen Mehrheiten zur Annahme seiner originären Gesetzesvorhaben zu erlangen. So erweist sich die formale gesetzgeberische Dominanz des Präsidenten unter den Gegebenheiten eines lateinamerikanischen Vielparteiensystems als sehr vordergründig. Ähnlich verhält es sich mit der Übertragung von gesetzgeberischen Vollmachten an den Präsidenten. Dieser Freibrief, der in den meisten Verfassungen sehr restriktiv gehandhabt wird, existiert unter den realen Bedingungen eines Vielparteiensystems nur dem Namen nach. Wenn der Präsident nicht über eine Mehrheit verfügt, die ihm legislative Rechte abtritt, bleiben auch diese rein theoretisch.

2.4. Die Suche nach dem Gleichgewicht durch die Verfassungsklage Um ein Gleichgewicht zwischen Präsident und Parlament zu schaffen, ist mit der Erteilung erweiterter legislativer Rechte an den Präsidenten in mehreren lateinamerikanischen Verfassungen die Anklage wegen Verfassungsbruchs verankert. Dieses Instrument soll eigentlich eine korrekte Amtsführung der Minister gewährleisten und eine strafrechtliche Handhabe gegen sie bieten. Im Vielparteiensystem wird dieser Mechanismus dergestalt mißbraucht, daß die parlamentarische Oppositionsmehrheit ihn als eine neue Form der Blokkade gegen die Regierung einsetzt, indem sie die die Minister nicht auf strafrechtlicher, sondern auf politischer Ebene zur Rechenschaft zieht. Im Endeffekt wurde in der parlamentarischen Praxis ein Werkzeug aus dem Schrank geholt, mit dessen Hilfe nun die einzelnen Kabinettsmitglieder politisch in Frage gestellt werden. Dies führte zu Absurditäten, beispielsweise in Chile, indem der Präsident den angeklagten Minister seines Ressorts enthob und eine Rochade mit einem nicht angeklagten Minister vornahm. Dieses Procedere kam einer doppelten Verhöhnung des eigentlichen Verfassungsauftrages gleich.

448

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2.5. Fluktuation der Minister Gerade der inflationäre Mißbrauch der Anklage wegen Verfassungsbruchs führt zu einer Fluktuation der Minister, die die Regierungsfähigkeit unweigerlich beeinträchtigen muß. Auch in diesem Punkt werden die von außen implantierten politischen Systeme von der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit in Lateinamerika eingeholt. Hier muß, vor allem im Fall Chiles, ein Mythos zerstört werden. Unser Land wurde von vielen - sogar wir selbst glaubten daran - als gefestigte Demokratie bewundert. Tatsächlich aber wurde in der letzten Dekade vor dem Militärputsch nicht weniger als neunzehn Mal Anklage gegen Minister wegen Verfassungsbruchs erhoben. Elf davon wurden von der zweiten Kammer des Parlaments gebilligt; in neun Fällen führte dies mit der Zustimmung der ersten Kammer zur Amtsenthebung. Das ergibt eine durchschnittliche Amtszeit der Minister von einem Jahr und zwölf Tagen, eine der niedrigsten Quoten in Lateinamerika, die selbst unter dem Durchschnitt parlamentarischer Systeme liegt. Dazu ist die Rückkehr der Minister in ihre angestammten Ressorts eher selten. So zeichnen sich die jeweiligen Amtsinhaber oft durch Unerfahrenheit aus, da sie einen Großteil ihrer Amtszeit damit verbringen, sich erst einmal in die Problematik ihres Aufgabengebiets einzuarbeiten. So sind Erfahrung, Beständigkeit, Kohärenz und Effizienz in der Amtsführung der Regierungen oft nicht gewährleistet.

2.6. Das Scheitern des Systems: Unkenntnis der politischen Wirklichkeit Die einschlägigen Verfassungsvorschriften, die die Rangordnung und Beziehungen zwischen Exekutive und Legislative festlegen, ermöglichen wohl die formelle Abgrenzung ihres rechtlichen Status, nicht aber ihrer praktischen Aufgabenbereiche und Vollmachten. Zurecht konstatieren daher viele Politikwissenschaftler und Verfassungsrechtler, daß eine allein auf Verfassungsnormen gestützte politische Ordnung die Gewaltenteilung lediglich formal widerspiegelt, aber keineswegs immer der Wirklichkeit entspricht. In den Worten von Maurice Duverger heißt dies: "Wer das klassische Verfassungs-

III. Semipräsidialsystem

449

recht, nicht aber die Rolle der Parteien kennt, hat ein falsches Bild der zeitgenössischen politischen Systeme; wer dagegen die Rolle der Parteien, nicht aber das klassische Verfassungsrecht kennt, hat ein unvollständiges, aber zutreffendes Bild der zeitgenössischen politischen Systeme." 10 Daran anknüpfend heißt es bei George Burdeau: "So bedeutend die [den staatlichen Gewalten, d. Verf.] durch die Verfassung verliehenen Vorrechte auch sein mögen, kann ihre Schwäche dadurch nicht ausgeglichen werden, wenn die Parteien ihnen ihre Unterstützung verweigern. Umgekehrt ersetzt die Unterstützung durch die Parteien auf einfache Weise die Unzulänglichkeiten der durch die Verfassung verliehenen Befugnisse." 11 So müssen bei einer Analyse einer Regierungsform und des Verhältnisses von Exekutive und Legislative letztere als " eingebettet in ein soziales System, dessen Rahmen und Regelmechanismus sie bilden", verstanden werden. 12 In der Konsequenz führen die Präsidialregime in Lateinamerika, die die sozio-politischen Gegebenheiten - das von Natur aus unflexible Vielparteiensystem, die Vielfalt der verwurzelten und inkompatiblen politischen Visionen und Ideologien, die unvermeidlichen parlamentarischen Blockaden und die daraus resultierende, permanente Kritik der Amtsführung der Regierung und die vor dem Hintergrund fehlender Parlamentsmehrheiten mangelnde Legitimität des Präsidenten - nicht einkalkulieren, im Normalfall zu einer bloßen Verwaltung. In der Tat hat ein Präsident, der sich nicht auf eine parlamentarische Mehrheit stützen kann, zwei Alternativen: entweder er resigniert vor der Obstruktionspolitik der parlamentarischen Opposition gegen seine Gesetzgebung und Regierung oder er läßt sich auf einen Machtkampf ein, den nur einer von beiden gewinnen kann. Und wenn nur einer der Kontrahenten oder die von ihm repräsentierten politischen Kräfte nicht mit dem Ergebnis dieses Kampfes einverstanden sind, kann dies zum Rückgriff auf verfassungswidrige Mechanismen zur Lösung der festgefahrenen Situation führen.

10

Duverger 1982, S. 382.

11

Burdeau 1980, S. 143.

12

Duverger 1973, S. 20.

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450

Theoretisch verfügt der Präsident noch über eine dritte Alternative: eine auf einem parlamentarischen Konsens fußende neue Regierung zu bilden. Diese Alternative ist, wie weiter unten deutlich wird, in einem Semipräsidialsystem ohne weiteres vorstellbar und sogar vorgesehen. Dagegen ist sie in einem Präsidialsystem mit seinen starren Mechanismen der Konsensfindung, die gerade sein größtes Manko darstellen, nur schwer umsetzbar. So sieht sich der Regierungschef pausenlos Konflikten gegenüber - Konflikten, die gerade die Bewältigung der Probleme verbieten, die in der Formulierung des Programms, das der Regierungsbildung zugrunde lag, an erster Stelle standen. Dazu schafft die potentielle Ineffizienz der Verfassungsmechanismen des Präsidentialismus Anreize für politische Versuchungen jeder Art. In der Geschichte Lateinamerikas tauchen eine ganze Reihe von verfassungswidrigen Versuchungen auf, die sich durchweg aus den eben beschriebenen Systemschwächen erklären. All diese Überlegungen führen zu dem Schluß, daß es in vielen Ländern Lateinamerikas eine Alternative zum Präsidialsystem zu finden gilt, die es erlaubt, dessen Defizite zu korrigieren, wobei die lateinamerikanische Realität und deren Eigenarten respektiert werden müssen. Lateinamerika muß sich den Herausforderungen der Zukunft stellen - nicht nur aus ökonomischer, sondern auch aus institutioneller Sicht.

3.

Herausforderungen an ein politisches System in Lateinamerika

3.1. Die Rechtsordnung und ihre Beziehung zur Wirklichkeit Die Stabilität von Institutionen gründet sich auf die Diagnose gesellschaftlicher Prozesse, die sich dann im positiven Recht niederschlagen. Den Beginn oder das Ende von Stadien gesellschaftlicher Entwicklung bestimmt die Gesetzgebung dagegen nicht. Eine derartige gesellschaftliche Hypothese entspricht einer falschen strukturalistischen Sicht der Gesellschaft.

III. Semipräsidialsystem

451

Das Recht ist funktional einem fortgesetzten Wandel unterworfen. Im Idealfall bildet es die permanente Umgestaltung sozialer Wirklichkeit ab und kodifiziert sie. Das Recht muß, damit es sich nicht in ein lebloses Statut ohne Bezug zu der Gesellschaft verwandelt, deren Zusammenleben es regeln soll, ständig aktualisiert werden. Andererseits kann es auch normativ wirken, sozialen Prozessen vorgreifen und ihnen einen Impuls in eine bestimmte Richtung geben. In diesem Fall darf es sich - ungeachtet seiner Koerzitivkraft und Heteronomie - den gesellschaftlichen Wahrnehmungsformen des 'Gerechten' im zwischenmenschlichen Bereich nicht radikal entfremden, sonst endet es in einem Chaos, statt Vernunft stiftender Faktor in der Regelung zwischenmenschlicher Beziehungen zu sein.

3.2. Kriterien einer staatlichen Ordnung für Lateinamerika Aus dem eben Gesagten ergeben sich vielfältige Herausforderungen an ein den lateinamerikanischen Gegebenheiten angepaßtes politisches System. Zunächst muß es dem verbreiteten Vielparteiensystem, das infolge des starken sozioökonomischen Gefälles zu einer dogmatischen politischen Fraktionierung geführt hat, eine gemeinsame Richtung geben. Auch wenn in einigen Ländern bereits eine solche Annäherung der Denkansätze gelungen ist, ist auf dem Subkontinent vielfach noch immer eine Parteienvielfalt verwurzelt, die sich nicht einfach abschaffen läßt. Dazu muß ein Wahlmodus geschaffen werden, der der gewählten Regierung eine solide Basis gibt, vom Prinzip der Proportionalität ausgeht und korrektive Instrumente beinhaltet, um das Überangebot an Parteien auf ein Maß zu reduzieren, das die wirkliche politische Machtverteilung widerspiegelt. Ferner muß das Gleichgewicht zwischen Exekutive und Legislative ausbalanciert werden. Nur so lassen sich parlamentarische Blockaden, Regierungsunfähigkeit und Verletzungen des demokratischen

Verfassungsgrundsatzes

verhindern. Nur ein System von Gegengewichten, das ein perfektes Gleichgewicht schafft, spiegelt das physikalische Gesetz des Ausgleichs von Schubund Zugkräften wider - eine Aufhebung dieses Prinzips bedeutet die Aufhebung des Systems.

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Eine Überlegung wert sind auch kurze Amtszeiten des Präsidenten. Die Geschichte lehrt uns, daß übermäßig lange Amtsperioden ein Scheitern tendenziell begünstigen. Im Idealfall handelt es sich um eine Frist, die ausreicht, ein Regierungsprogramm zu entwickeln, umzusetzen und gleichzeitig ein regelmäßiges Wählervotum über die politische Bilanz und Amtsführung des Staatschef sowie die anschließende Rückgabe der Macht an den Souverän verbürgt. In diesem Sinne erscheint eine Amtszeit von vier oder fünf Jahren angemessen, um ein öffentliches Werk zu entwickeln und sogar Ergebnisse vorzuweisen. Eine in dieser Weise begrenzte Präsidentschaft stärkt maßgeblich die Effektivität der Regierung und unterdrückt das Begehren nach schrankenloser Machtausübung. Sie garantiert eine stärkere Rotation der politischen Führung; so bekommen neue Ideen und Führungsstile eine Chance und erschöpfen sich nicht in der Warteschleife einer langen und gewöhnlich zermürbenden Amtszeit. Die Mehrheit der Länder Lateinamerikas - mit Ausnahme von Argentinien, Mexiko und Nicaragua - haben sich für eine kurze Amtszeit des Präsidenten von vier oder fünf Jahren entschieden. 13 Und auch Chile wird sie wahrscheinlich in nächster Zukunft von acht auf vier, fünf oder sechs Jahre reduzieren.

3.3. Eindeutige Entscheidungen Die konkrete Bestimmung einer Regierungsform setzt eindeutige Entscheidungen voraus, die Doppeldeutigkeiten des Systems vermeiden. So gibt es etwa die simple und gefährliche Tendenz, Präsidialsysteme mit einem schwachen Präsidenten und einem starken Parlament einzurichten. Eine solche Konstellation lehne ich rundweg ab. In einem präsidialen System muß es unbedingt einen starken Präsidenten geben. Im Vergleich zur Ohn-

13

Dies ist der Fall in Guatemala, El Salvador, Panama, Peru, Uruguay, Venezuela und Brasilien, die eine Amtszeit des Präsidenten von fünf Jahren in Erwägung ziehen, und Bolivien, Honduras, der Dominikanischen Republik, Kolumbien, Costa Rica, Ecuador und Paraguay, die sich fur vier Jahre entschieden haben.

III. Semipräsidialsystem

453

macht, politische Konflikte zu entschärfen und zu lösen, ist dies nach meiner Meinung das kleinere Übel. Derlei Regierungsformen schwächen die Demokratie und bereiten nur den altbekannten Verlockungen der Macht den Weg. So plädiere ich auf der Suche nach einem modernen, wirklichkeitskonformen, effizienten und zukunftsweisenden politischen System für Länder, die sich im Entwicklungsprozeß befinden, für ein klar umrissenes semipräsidiales System, dessen Eigenschaften ich noch erläutern werde. Dagegen lehne ich ein parlamentarisches System für Lateinamerika aus verschiedenen Gründen ab. Es ist klar, daß der Parlamentarismus nicht der Tradition unseres Subkontinents entspricht, in dem der Präsidentialismus in seinen verschiedenen Varianten ständig eng mit unserer republikanischen Geschichte verbunden war. Dies ist ein Faktum, das auf keinen Fall außer acht gelassen werden darf. Überdies bin ich der Meinung, daß in den lateinamerikanischen Staaten generell noch keine politischen Parteien mit den für einen Parlamentarismus notwendigen Strukturen existieren. Die Übernahme von Regierungsverantwortung - das ist eine Perspektive, die in unserer Wirklichkeit nicht immer präsent ist. Oft ist eine oppositionelle Haltung einfacher als die Verantwortung, die amtierende Regierung zu unterstützen. Noch sind nicht alle Bedingungen gegeben, die es den Parlamentariern gestatten, durch eine effektive Repräsentation ihrer Parteien die gesamte politische Verantwortung für die Beteiligung an der Regierungsbildung und Staatsführung zu übernehmen. Ansonsten ist in Lateinamerika ein umfassendes Programm zur Modernisierung der Institutionen in vollem Gang. Dabei geht es um die Reform der öffentlichen Verwaltungen, die Neuregelung der staatlichen Interventionsrechte im Bank- und Börsenwesen, im Bereich öffentlicher Fürsorge, der Wirtschaft und anderswo. Ferner gilt es, eine Infrastruktur für unser Wirtschaftswachstum zu schaffen, das Bildungsangebot für die Jugend zu verbessern und sorgfältig die Rolle des Staates in der Marktwirtschaft mit einer Stärkung ihrer sozialen Komponente zu klären. Und nicht zuletzt ist es notwendig, eine klare Führungsstruktur der Streitkräfte zu schaffen, die nach und nach in ihre traditionelle Rolle zurückkehren. All diese grundsätzlichen institutionellen Fragen sind in Ländern mit einem parlamentarischen System bereits auf die eine oder andere Weise geklärt. In Lateinamerika dagegen ist

454

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als Symbol staatlicher Ordnung auch in Zukunft die herausragende Figur des Präsidenten gefragt, der abseits des politischen Tagesgeschäftes die einzuschlagende Richtung bestimmt, Kontinuität verspricht und als Garant eines möglichst breiten politischen Konsenses auftritt. Regierungskrisen, die in Europa als relativ normal gelten, rufen in Lateinamerika starke Spannungen hervor. So ist die Entstehung eines Machtvakuums, so kurzfristig es auch sein mag, für die dortigen Gesellschaften und Parteienlandschaften eine nicht einfach zu tolerierende Situation.

3.4. Zukunftsperspektiven der Demokratien in Lateinamerika Der Zeitpunkt für eine Analyse und einen Entwurf einer künftigen Regierungsform für Lateinamerika könnte nicht günstiger sein. Bis in die Gegenwart hat der Subkontinent fortwährend demokratische und autoritäre Zyklen durchlaufen. Bis vor wenigen Jahren war er von Militärdiktaturen beherrscht. Gleich einer Kette umfallender Dominosteine hat sich der Niedergang der Demokratien in benachbarten Staaten schwächend auf die anderen ausgewirkt, bis die Landkarte Lateinamerikas nur noch demokratische Inseln in einem Meer von Diktaturen aufwies. Nach eben diesem Prinzip vollzog sich nach und nach auch die Renaissance der Demokratien. Dabei blieben immer weniger autoritäre Militärregime isoliert übrig. Die Herausforderungen der Zukunft an die wiedergeborenen Demokratien sind eindeutig - wirtschaftliche Stabilität und tunlichst Wirtschaftswachstum; gleichzeitig soziale Stabilität durch eine gründliche Korrektur der von den untergegangenen Regimen vererbten Mißstände; Verminderung der für Lateinamerika typischen Ungleichheiten und die Lösung der Menschenrechtsproblematik. Analog dazu - und sicher nicht weniger dringend - geht es um die Sicherung politischer Stabilität, um die Verhinderung demokratischer Schiffbrüche und neuer Diktaturen gleich welcher Art. Es muß eine Regierungsform gefunden werden, die mit der Wirklichkeit harmoniert und zugleich stabile Mehrheiten verspricht. Diese letzte Herausforderung ist in der Mehrheit der lateinamerikanischen Länder noch immer unbewältigt.

III. Semipräsidialsystem

455

4.

Das Semipräsidialsystem - eine realistische Alternative

4.1.

Grundlagen

Das von uns als mögliche Alternative auserkorene System muß eine Auflösung der interorganischen und innerparlamentarischen Blockaden ermöglichen, muß politischen Kompromiß und Verantwortlichkeit, Regierungskoalitionen und nicht nur Wahlbündnisse fördern. Es muß die Bildung starker Regierungen erlauben, die auf eine Parlamentsmehrheit und deren aktive Zustimmung gründen. Damit werden Minderheitsregierungen verhindert, die sich weder auf ein Wählervotum noch auf eine parlamentarische Mehrheit berufen können. Hier geht es in erster Linie um Chile, da in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern verschiedene Voraussetzungen herrschen, die sich nur schwer verallgemeinem lassen. Dessenungeachtet scheint das sogenannte Semipräsidialsystem eine adäquate Alternative zu sein. Diese Regierungsform beinhaltet einen Präsidenten der Republik. Er ist das vom Volk - notfalls in einer Stichwahl im zweiten Wahlgang - direkt gewählte Staatsoberhaupt. Notwendigerweise stützt er sich damit auf eine Bevölkerungsmehrheit, die sein Mandat legitimiert. Der Präsident verfugt über entscheidende Befugnisse in Fragen der nationalen Verteidigung, Auslandsbeziehungen, Justiz und öffentlicher Verwaltung. Er schlägt der zweiten Kammer des Parlaments den Premierminister vor, kann diese auflösen und Neuwahlen ausrufen, falls sich die Bildung einer neuen Regierung als unmöglich erweist. Regierungschef ist der Premierminister, der alle politischen und programmatischen Angelegenheiten koordiniert. Er wird auf Vorschlag des Präsidenten von einer Mehrheit der zweiten Kammer des Parlaments gewählt, die sowohl eine Regierungskoalition als auch ein Wahlbündnis repräsentiert und ein substantielles Übereinkommen in bezug auf die Ziele und Politik der Regierung getroffen hat, die sie zusammen mit der Person des Premierministers stützt. In diesem Schema bestimmt die Zusammensetzung der zweiten Kammer das politische Schicksal der Regierung. Ihr muß sich die Regierung politisch verantworten. Bei Beibehaltung eines Zweikammersystems übt die erste

456

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Kammer eine Kontrollfunktion in Fragen der Legislative aus. Dazu verfugt sie über spezifische Funktionen, etwa die Zustimmung zur Ernennung hoher Staatsbeamter, Diplomaten und Militärs; sie ist beratendes Organ des Staatsoberhauptes und vertritt die Regionen des Landes und dessen Behörden.

4.2.

Vorteile und Verbindlichkeiten des Systems

Das Semipräsidialsystem bietet einige Vorzüge, die im folgenden kurz skizziert werden: 1. Es garantiert der Regierung eine repräsentative Mehrheit im Parlament und deren tatsächliche Affirmation. Diese - absolut unverzichtbare - Wechselbeziehung zwischen Parlament und Exekutivgewalt gewährleistet eine leistungsfähige Regierung. Bei einer Änderung der Mehrheitsverhältnisse besteht die Möglichkeit, die amtierende Regierung durch ein Mißtrauensvotum abzusetzen. Dieses sollte in Gestalt eines konstruktiven Mißtrauenvotums geschehen, wie es auch in der spanischen Verfassung von 1978 verankert ist. Ein solches Votum schiebt einen Riegel vor die wenig konstruktive Verfahrensweise in traditionellen parlamentarischen Systemen, die durch den Schulterschluß einer Opposition, deren einziger gemeinsamer Nenner die Kritik an der Regierung ist, die Amtsenthebung des Staatschefs und dessen Kabinetts ermöglichen. Es verlangt eine Mehrheit in der zweiten Kammer, die sich mit der Amtsenthebung des amtierenden Premierministers und eines Alternativvorschlags (wie in Spanien und Deutschland) zu seiner Person zugleich auf ein neues Regierungsprogramm einigen muß. Es ist also eine konstruktive absolute Mehrheit vonnöten, die eine politische Alternative eröffnet und echte Chancen besitzt, eine neue Regierung mit klaren und abgestimmten politischen Zielen zu bilden. 2. Ein solches System bindet die politischen Parteien stärker in die Verantwortung ein. Wahlbündnisse werden zu echten Regierungskoalitionen. Es entsteht eine große Verantwortung bei der Regierungs- und Parlamentstätigkeit. Die Opposition kann nicht nur obstruieren, sondern muß einen Konsens finden bzw. sich dem Wahlvolk als künftige Regierungsalternative empfehlen.

III. Semipräsidialsystem

457

3. Dieses dem System immanente Gebot konstruktiven und pragmatischen Handelns verstärkt wiederum die Tendenz zu mehr ideologischer Flexibilität, die sich - gerade in Chile - in letzter Zeit abgezeichnet und zu mehr politischer Kompromißbereitschaft geführt hat. So läßt sich ein ideologisch überfrachtetes Partei- und Regierungsprogramm nicht mehr durchsetzen, ohne dabei die mehrheitliche Zustimmung des Wahlvolkes außer acht zu lassen. 4. Dazu kommt der Exekutive eine Doppelrolle zu. Auf der einen Seite steht der Präsident der Republik, der als Staatsoberhaupt mit fundamentalen Funktionen betraut ist. Er ist Garant der Verfassung und Schiedsrichter in der politischen Arena. So fungiert der Präsident als Moderator der zwischen Regierung und Parlament auftretenden Konflikte und kann jederzeit auf das Votum des Volkes zur Bereinigung eines aktuellen Problems zurückgreifen. Der Premierminister ist die zweite Autorität der Exekutive. Mit seiner Parlamentsmehrheit fuhrt er die Regierungsgeschäfte und ist mit der Umsetzung des politischen Programms beschäftigt, das dem Übereinkommen, das ihn an die Macht brachte, zugrundelag. Der Premierminister bleibt im Amt, solange er nicht durch ein konstruktives Mißtrauensvotum von einer neuen Mehrheit der zweiten Kammer abgesetzt wird. Hierzu ist ein ernsthafter, verantwortlicher und auf eine absolute Mehrheit angewiesener Vorschlag einer neuen Regierung unerläßlich. 5. Wichtig ist ferner, daß die den parlamentarischen Systemen eigenen Kabinettskrisen vermieden werden. Bei Auflösung der zweiten Kammer und der Ansetzung von Neuwahlen bleiben sowohl der Präsident der Republik als auch die erste Kammer, die als Notparlament fungiert, im Amt. Damit bleibt die funktionale Kontinuität von Regierung und Staat im wesentlichen gewährleistet. 6. In einem Semipräsidialsystem sollten beide Kammern die gleiche Amtsperiode haben. Der Vorteil liegt auf der Hand: innerparlamentarische Blokkaden durch Überlagerung verschiedener politischer Wirklichkeiten, von denen die lateinamerikanischen Präsidialsysteme so stark gezeichnet waren, werden verhindert. 7. Schließlich erschwert das Semipräsidialsystem, indem es kein Machtvakuum zuläßt, verfassungswidrigen Aktionismus. Wenn zwischen Regierung

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458

und Parlament kein Konsens mehr möglich ist, setzt sofort der doppelte Mechanismus der Bildung einer neuen konstruktiven Mehrheit oder aber der Ansetzung von Neuwahlen durch den Präsidenten zur Auflösung der zweiten Kammer ein.

4.3. Bedeutung des Wahlsystems In der Diskussion einer Regierungsform ist die Frage nach dem Wahlsystem von entscheidender Bedeutung. Die Wahlbedingungen selbst können ernsthafte Probleme für den demokratischen Charakter eines politischen Regimes aufwerfen. Zurecht meint deshalb Dieter Nohlen, daß die Debatte über Wahlsysteme, ihre Vor- und Nachteile und ihre politischen Konsequenzen schon immer einen wichtigen Platz auf dem Feld der vergleichenden Politik eingenommen hat. 14 Die Zusammenhänge lassen sich leicht herstellen. Ein Präsidialsystem erfordert ein Parteiensystem, das diese Regierungsform durchsetzbar macht zwei oder 'zweieinhalb' Parteien, die über ein Monopol in der Machtablösung verfügen; dazu einen Wahlmodus, der die Lagerbildung zwischen diesen Parteien begünstigt und kleinere politische Gruppierungen benachteiligt. Was letzteres betrifft, so wurde schon gezeigt, wie kontraproduktiv ein Wahlmodus sein kann, der nicht der politischen Wirklichkeit eines Landes entspricht, wie es momentan in Chile der Fall ist. Dagegen ist in einem Semipräsidialsystem ein Mehrparteienspektrum - wie es gegenwärtig in den meisten lateinamerikanischen Ländern existiert denkbar. Bei Anwendung eines objektiven Verhältniswahlrechts, für das ich entschieden eintrete, sind dort mehrere Parteien repräsentativ vertreten. Dazu die folgenden Erläuterungen: a. Das Verhältniswahlrecht garantiert, daß jede Partei ihrem Wahlergebnis entsprechend 'gerecht' an der politischen Repräsentation beteiligt wird und ihr damit Legitimität verschafft. Voraussetzung ist natürlich eine gerechte Einteilung der Wahlbezirke nach Größe, geographischen, geschichtlichen und kulturellen Gegebenheiten, im Hinblick auf Kommuni14

Nohlen 1987, S. 17.

III. Semipräsidialsystem

459

kationsmöglichkeiten und Bevölkerungszahl. So wird jeder Anschein von Manipulation schon im Ansatz vermieden. b. In labilen Demokratien wie den lateinamerikanischen, in denen etliche Parteien das Bild bestimmen, muß das Wahlsystem zur einfacheren Bildung von regierungsfähigen politischen Mehrheiten eine vernünftige Reduzierung der Parteienzahl gewährleisten - im Verhältniswahlrecht durch eine 5 %-Hürde. Diese Hürde stellt zugleich die Grenze für die staatliche Parteienfinanzierung dar, so daß eine Partei bei Verfehlen der 5 % verpflichtet ist, den vom Staat erhaltenen Zuschuß innerhalb einer festgelegten Frist zurückzuerstatten. c. Überdies plädiere ich dafür, innerhalb des proportionalen Systems die Methode des sogenannten parlamentarischen Assignats nach d'Hondt anzuwenden. Wenn auch das UDDA-System theoretisch eine genauere Proportionalität gewährleistet, ist d'Hondt einfacher - und aus diesem Grund klarer durchschaubar für die Wählerschaft. Gleichzeitig stellt es eine gute Methode für die notwendige Beschaffung von Mehrheiten dar.

4.4. Bedeutung des Parteienystems Als entscheidend für den Erfolg eines sich in einigen Ländern Lateinamerikas eventuell durchsetzenden Semipräsidialsystems darf ein weiteres Element nicht unerwähnt bleiben. Ich meine das Parteiensystem, das sich - wie Dieter Nohlen hervorhebt - zusammen mit dem Wahlmodus durch eine zirkuläre und interdependentielle Wechselbeziehung auszeichnet. 15 Der rudimentäre Entwicklungsstand und die fehlende oder schwache Verankerung in der Verfassung - Faktoren, die die politischen Parteien unseres Subkontinents lange behinderten - trugen zweifellos zur Schwächung der Demokratie bei. Heute läßt sich dagegen nicht bezweifeln, daß die Stärke der Parteien und ihre klare Funktionsweise die Stabilität und Leistungsfähigkeit unserer demokratischen Institutionen positiv beeinflussen.

15

Ebda., S. 59.

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460

Daher erscheint die angemessene Sicherung ihrer Existenz und ihres rechtlichen Status auf Verfassungsebene unumgänglich. Politische Parteien müssen als juristische Personen öffentlichen Rechts anerkannt werden, denen eine Vorreiterrolle in der politischen Meinungsbildung und der Definition des Allgemeinwohls zusteht. Sie müssen die Grundlage der Regierung und des Parlaments, den normalen und einzigen institutionellen Weg zur Macht bilden. Durch das Semipräsidialsystem rückt ihre Ausübung politischer Verantwortung weiter in den Vordergrund. Andererseits bin ich überzeugt, daß - während Vereinigungen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen rasend schnell in ihrer Modernisierung und dem Einsatz von immer effektiveren und leistungsfähigeren Verwaltungsmethoden und -Werkzeugen fortschreiten

die politischen Parteien und im gerin-

gerem Maße auch Regierung und Parlament in mancher Hinsicht hinterher hinken. Dieses kann nicht länger toleriert werden, weil sich daraus zwei schlimme Konsequenzen ergeben: entweder werden das Interesse und der Dienst am politischen Gemeinwohl immer obsoleter, oder die Parteien werden nach und nach ersetzt. In beiden Fällen werden Ansehen und Wirkungsradius der Parteien geschwächt, bis das System schließlich scheitert. Deshalb stellt meiner Ansicht nach die staatliche Finanzierung von Parteien definitiv einen Wechsel auf die Zukunft des Landes dar. Ein solches System staatlicher Finanzierung politischer Arbeit muß sicherlich an einen Wahlmodus mit einer 5 %-Sperrklausel gekoppelt werden. Diese Hürde bestätigt die organisierten politischen Gruppen in ihrer Eigenschaft als Parteien - als juristische Personen öffentlichen Rechts mit verfassungsrechtlicher Anerkennung und Finanzierung. An dieser Stelle kann die Frage der internen Parteistrukturen und der Aufstellungsverfahren ihrer Kandidaten für Präsidentschaft, Parlament und Funktionen auf anderen Ebenen nicht erörtert werden. Dieser Aspekt muß - wie viele andere, die hier nicht zu Papier gebracht wurden - bei anderer Gelegenheit behandelt werden. Abschließend möchte ich noch betonen, daß eine Reflexion über die politischen Systeme in den Staaten Lateinamerikas unumgänglich ist. Nicht weni-

461

III. Semipräsidialsystem

ger als die Existenz und der Fortbestand unserer Demokratien hängt davon ab. Früher konzentrierten wir uns auf die politisch-wahltaktische

Dimension des

Themas. Damals ging es darum, erst einmal das Recht des Volkes auf freie Wahlen und Information einzuklagen. Später machten wir jene traumatischen Erfahrungen, die uns dazu brachten, Demokratie aus einer anderen Warte zu sehen - als Garanten und besten Advokaten der systematisch vergewaltigten elementaren Menschenrechte. Bei der Rückkehr zur verfassungsmäßigen und politischen Normalität verschob sich der Blickwinkel auf die ökonomischen Kriterien, die für ein demokratisches System gelten. Dabei lautete die Frage: Wie können wir von Demokratie reden, wenn wir nicht einen unermüdlichen Kampf gegen die allgegenwärtige Armut führen? Gibt es angesichts dieser Vielfalt von Denkansätzen in der Demokratie eine Säule, die mehr trägt als die anderen? Ich meine, als Teil eines Ganzen ist jede von ihnen wichtig und unverzichtbar für die Standfestigkeit der anderen. Und gerade aus diesem Grund darf keine von ihnen hintangestellt werden. Die Reflexion über das adäquate politische Regime für die Staaten Lateinamerikas ist daher lebenswichtig. Es ist unsere Pflicht, der Demokratie politische Stabilität zu verleihen, damit unsere wirtschaftlichen Demokratisierungsanstrengungen nicht in einem erneuten Zusammenbruch unseres institutionellen Fundaments enden. Die demokratisch-politische Stabilität muß unsere vornehme Sorge bleiben, die wir nicht im Rausch unseres Wirtschaftsaufschwungs außer acht lassen dürfen.

Bibliographie

Burdeau, George, 1980: Traité de Science Politique, Band IX, Paris. Duverger, Maurice, 1982: Les partis politiques, Paris. - , 1973: Institutions politiques et droit constitutione!, Paris.

462

Gutenberg Martínez Ocamica

Lambert, Jacques, 1963: La transposition du régime présidential hors les États Unis: le cas de l'Amérique Latine, in: Revue de Sciences Politiques Françaises, septembre, S. 581. Nohlen, Dieter, 1987: La Reforma Electoral en América Latina, San José.

463

III. Zusammenfassung

Wilhelm Hofmeister Politischer Systemwandel in Lateinamerika: Zusammenfassende Beobachtungen und Schlußfolgerungen für die internationale Zusammenarbeit In Lateinamerika ist mit Beginn der achtziger Jahre ein Prozeß des politischen Systemwandels in Gang gekommen, der mittlerweile außer Kuba alle Länder der Region erfaßt hat. Zentraler Angelpunkt dieses Systemwandels ist der Versuch der Institutionalisierung von Demokratie. Die achtziger Jahre, wegen der wirtschaftlichen und sozialen Rückschritte häufig als "verlorenes Jahrzehnt" bezeichnet, stehen somit gleichzeitig für das Aufbrechen des Autoritarismus und den Übergang zur Demokratie. Für manche Länder wie Argentinien, Brasilien, Uruguay oder Chile war das eine Rückkehr zu früher schon, teils mit beachtlicher Kontinuität, gemachten Erfahrungen mit demokratischen Institutionen und Verfahren. In anderen Ländern, vor allem in Zentralamerika, aber auch in Bolivien und Paraguay, ist der Systemwandel der Gegenwart der erste ernsthafte Versuch in ihrer Geschichte zur Einführung einer demokratischen Staats- und Regierungsform. Der politische Systemwandel setzte in Lateinamerika vor den Transformationsprozessen in anderen Regionen und den Umbrüchen innerhalb des internationalen Systems ein. Mittlerweise wird der Fortgang der Demokratieentwicklung in Lateinamerika zweifellos auch von den Transformationsprozessen in anderen Erdteilen stimuliert und inspiriert; das gilt vor allem für die wirtschaftlichen Transformationsprozesse. Nach der Einfuhrung demokratischer Ordnungen haben mittlerweile in einer ganzen Reihe von Ländern wiederholt demokratische Wahlen stattgefunden und - was fast noch wichtiger erscheint - wurden demokratisch herbeigeführte Regierungswechsel vollzogen, zum Teil zum ersten Mal in der Geschichte einzelner Länder. Das ist freilich noch kein Beleg für die Konsolidierung der neuen demokratischen Regierungen. Vielmehr lehrt die Erfahrung, daß Wahlen und demokratische Regierungswechsel eher am Anfang einer Entwicklung stehen, die erst nach verschiedenen Etappen zu einer Kon-

Wilhelm Hofmeister

464

solidierung demokratischer Verhältnisse fuhren kann. Prozesse des Wandels autoritärer aber auch totalitärer Systeme durchlaufen in der Regel drei Etappen: 1 -

eine Etappe der Liberalisierung, d.h. der Ablösung des vorhergehenden Regimes und des Machtverlustes der bislang dominierenden Gruppe (das waren in Lateinamerika in der Regel die Militärs);

-

eine Etappe der Demokratisierung, d.h. des Aufbaus oder demokratischen Umbaus der staatlichen und politischen Institutionen, wozu in der Regel eine Reform der Verfassung und des Regierungssystems, die Durchsetzung und Einhaltung von politischen Regeln, die Regelung der Wahlordnung, der Parteiengesetze, die Neudefinition der Rolle der Kommunen oder der Aufbau und die Öffnung von politischen Handlungsspielräumen für gesellschaftliche Organisation, die Eingliederung der Streitkräfte in die neue Ordnung etc. gehören;

-

eine Etappe der Konsolidierung, die nach Abschluß der "Gründerphase" beginnt, wobei der politische Prozeß aber niemals ein "Endstadium" erreicht, weil Rückschläge in der demokratischen Entwicklung immer möglich sind und selbst langlebige Demokratien bei einem Leistungsund Legitimitätsverlust des Systems und seiner maßgeblichen Akteure, wie der Fall Venezuela zeigt, unter erheblichen Druck geraten können.

Demokratische Wahlen stehen somit in der Regel am Beginn des langwierigen Übergangsprozesses, der den Systemwandel ausmacht. Ob dieser erfolgreich ist im Sinne der dauerhaften Etablierung einer demokratischen Ordnung, "darüber entscheiden nicht zuletzt -

die Art und Weise, wie die jeweiligen demokratischen Ordnungen institutionalisiert werden,

-

welches Lösungspotential die demokratischen Institutionen gegenüber den postautoritären Herausforderungen bergen,

-

welche Legitimität sie dadurch dem neuen politischen System insgesamt zuwachsen lassen." 2

1

Vgl. Rüb 1996, S. 47f.

2

Vgl. Merkel/Sandschneider/Seger 1996, S. 11.

465

III. Zusammenfassung

Im Hinblick auf Lateinamerika läßt sich auf der Grundlage dieser Erfahrungswerte feststellen, daß nach der Etappe der Liberalisierung in den achtziger Jahren eine Etappe der Demokratisierung begann, die in kaum einem Land bereits endgültig abgeschlossen ist. Gewiß hat es wichtige Fortschritte bei der Entwicklung von Demokratie gegeben, in manchen Ländern mehr, in anderen weniger. Doch in keinem Land kann bislang von einer "endgültigen" Konsolidierung der Demokratie gesprochen werden. Das wirft die Frage auf, wie die politische Entwicklung in den einzelnen Ländern der Region einzuschätzen ist und wie sie aktiv im Sinne einer Stärkung freiheitlicher und demokratischer Ordnungen unterstützt werden kann. Bei der Beantwortung dieser Frage sind auf der Grundlage der Erfahrungen der letzten anderthalb Jahrzehnte politischer und gesellschaftlicher Entwicklung in Lateinamerika und besonders auch anhand der Länderstudien in diesem Band einige verallgemeinernde Schlußfolgerungen zu ziehen, die im folgenden thesenartig zusammengefaßt und jeweils kurz erläutert werden.

Demokratie

ist das zentrale politische

Entwicklungsleitbild

Lateinamerikas.

Seit der Unabhängigkeit in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts streben die lateinamerikanischen Staaten die Errichtung demokratischer Ordnungen an. Doch die politische Entwicklung war vielerorts zunächst durch Instabilität, häufige Umstürze und Palastrevolutionen und die Herrschaft sogenannter caudillos,

Anführern von Heerestruppen oder bewaffneten Banden,

gekennzeichnet. Eine kleine Schicht von Großgrundbesitzern und städtischen Wirtschaftseliten verstand es, die wirtschaftliche Macht, die sie teilweise schon während der Kolonialzeit besessen hatten, aufrechtzuerhalten. Die Mehrheit der Bevölkerung lebte in Armut und Abhängigkeit. Die politische Entwicklung stagnierte. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts bildeten sich allmählich politische Parteien aus, welche die Interessen der Mittelschichten vertraten und ihnen einen, wenn auch häufig nur bescheidenen Anteil an der politischen Herrschaft und dem wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt eroberten. Versuche, die politischen und sozialen Partizipationsmöglichkeiten zu erweitern und die ungerechten Einkommens- und Besitzverhältnisse zu ändern, gab es vereinzelt schon in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts (z.B. durch APRA

Wilhelm Hofmeister

466

in Peru oder NCR in Argentinien). Doch flächendeckend kamen solche Anstrengungen erst ab Mitte unseres Jahrhunderts in Gang. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung war die "Revolution in Freiheit" der Christlichen Demokraten in Chile unter dem Präsidenten Eduardo Frei (1964-1970). 3 Die Ansätze zu der allmählichen Ausweitung der politischen Partizipationsmöglichkeiten waren jedoch auch in unserem Jahrhundert in allen Ländern Lateinamerikas immer wieder von Rückschlägen hinsichtlich der Einführung von demokratischen Staats- und Regierungsformen begleitet. Zuletzt während der sechziger und siebziger Jahre putschten sich in vielen Ländern Militärs an die Macht, die die Menschenrechte mit Füßen traten, politisch Andersdenkende verfolgten und ermordeten, wenig Interesse an einem sozialen Ausgleich hatten und die angeschlagenen Volkswirtschaften weiter ruinierten. Die Lebensverhältnisse vieler Menschen und ganzer Bevölkerungsteile verschlechterten sich zunehmend, die Staaten verschuldeten sich immer mehr, die Armut nahm zu. Doch gerade die Erfahrungen des Autoritarismus hielten die Erinnerung an Demokratie wach. Dabei zeigte sich immer wieder, daß "Demokratie" im Sinne einer liberalen, repräsentativen Demokratie gedacht und konzipiert wurde. 4 Daran hat sich bislang wenig geändert. Vielmehr ist das Konzept einer liberalen Demokratie das wesentliche Entwicklungsleitbild 5 - wobei jedoch in der Regel dieses Konzept um das Adjektiv "sozial" zu ergänzen ist. Das bedeutet, daß Demokratie zunächst als Ordnung zur Verwirklichung individueller Freiheit, des Respekts der Menschenrechte und der Eröffnung von Partizipationschancen gedacht wird. Zugleich aber verbindet sich damit die Erwartung, daß eine solche Ordnung auch soziale Leistungen ermöglicht, welche die Armut und die krassen sozialen Gegensätze überwinden helfen. Sollten die demokratischen Ordnungen dazu nicht in der Lage sein, könnte dies mittelfristig zu einer Desavouierung des Demokratiegedankens führen.

3

Vgl. Hofmeister 1995.

4

Vgl. Mols 1985, S. 37 ff.

5

Zur neueren Diskussion um den Demokratiebegriff in Lateinamerika vgl. Nohlen 1995.

467

III. Zusammenfassung Die politische

Entwicklung

der Länder Lateinamerikas

stellt sich heute

differenzierter dar als in der Vergangenheit. Lateinamerika ist eine "Einheit", und gewiß gibt es eine Vielzahl struktureller Gemeinsamkeiten, die es nach wie vor erlauben, von der "Einheit" Lateinamerikas zu sprechen - nicht zuletzt die Erfahrung der Demokratisierung in den letzten zehn Jahren gehört zu diesen verbindenden Elementen. Doch der politische Prozeß weist in den einzelnen Ländern bemerkenswerte Unterschiede auf. Das gilt sowohl für die Erfahrung des Übergangsprozesses in einzelnen Ländern und einzelne Aspekte des politischen Prozesses, etwa die Bewertung der Rolle der Parteien und des Militärs, die Erfahrung mit den Verfassungsreformen, den Dezentralisierungsansätzen oder die Bedeutung und Wahrnehmung externer Einflußfaktoren. Das gilt aber auch für Erfahrungen im wirtschafts- und sozialpolitischen Bereich bei der Umsetzung der notwendigen Anpassungsmaßnahmen. Mit Ausnahme von Kuba lassen sich die lateinamerikanischen Länder im Hinblick auf die Entwicklung ihrer demokratischen Systeme aus gegenwärtiger Sicht in drei Gruppen zusammenfassen: -

Länder mit relativ gefestigten demokratischen Verhältnissen, in denen allerdings - neben den überall auf dem Subkontinent vorhandenen großen sozialen Problemen und entsprechenden Herausforderungen für die Wirtschafits- und Sozialpolitik - ein belastendes Erbe aus der Zeit des Autoritarismus in den staatlichen und politischen Institutionen und in der politischen Kultur erkennbar ist, das die Konsolidierung der Demokratie noch behindert: Argentinien, Chile, Uruguay, eventuell auch Brasilien, sowie Costa Rica zählen zu dieser Gruppe.

-

Länder mit relativ prekären demokratischen Verhältnissen, in denen praktisch erst seit wenigen Jahren zum ersten Mal eine demokratische Institutionenordnung und demokratische Verfahren Geltung haben, und wo neben komplexen sozialen und innenpolitischen Problemstellungen eine demokratische politische Kultur erst rudimentär entwickelt ist: das sind die zentralamerikanischen Länder Guatemala, Honduras, Nicaragua, El Salvador, Panama sowie Bolivien und Paraguay im Süden des Kontinents.

Wilhelm Hofmeister

468 -

Länder, in denen die demokratische Entwicklung erhebliche Strukturdefizite aufweist und deren demokratisches System sich vor allem aufgrund von Korruption und Mißwirtschaft in einer offenen Krise befindet, so daß als Extrem sogar ein autoritärer Rückschlag zumindest vorübergehend möglich erschien; als eines der wichtigsten Strukturdefizite erscheint die allgemeine Erschütterung des Parteiensystems und Desavouierung der politischen Parteien, so daß auch keine demokratische Opposition als glaubwürdige Herrschaftsalternative zur Verfugung steht: Kolumbien, Peru, Ecuador und auch Venezuela zählen zu dieser Gruppe.

Wenn wir nun den politischen Prozeß der einzelnen Staaten miteinander vergleichen, können wir eine Reihe von Belastungen aber auch von günstigen Elementen im Hinblick auf die Entwicklung von Demokratie in Lateinamerika feststellen.

1.

Belastungen für die Demokratie

Die demokratischen

Institutionen sind noch nicht endgültig

gefestigt.

Der Übergang zu demokratischen Regierungsformen ist formal zwar in den meisten Ländern vollzogen, doch waren bzw. sind die politischen und staatlichen Institutionen vielerorts noch zu schwach oder nicht angemessen zur Abstützung und Absicherung der politischen Modernisierung und des sozialen Wandels. Die Verfassungsentwicklung hinkte bisher der politischen Entwicklung hinterher, wenngleich in den vergangenen Jahren in den meisten Ländern wichtige Verfassungsreformen durchgeführt wurden. Diese müssen sich in den meisten Ländern erst noch bewähren. Zum Teil werden die durchgeführten Reformen sogar schon wieder als unbefriedigend empfunden. Rechtsstaatlichkeit im Sinne einer Verwirklichung der Herrschaft des Rechts, der Transparenz und Nachvollziehbarkeit von Rechtsakten und Regierungshandeln sowie der Gleichheit vor dem Recht ist in vielen Ländern noch nicht verwirklicht, was vielfach eng korrespondiert mit einer schlechten, ineffizienten und korrupten Justizverwaltung.

III. Zusammenfassung

469

Die Dezentralisierungsvorhaben sind ebenfalls noch nicht recht vorangekommen. 6 Möglicherweise wäre es notwendig, zunächst den Bereich der kommunalen Demokratie weiterzuentwickeln, damit sich auf dieser Ebene die Erfahrungen mit Selbstverwaltung weiter festigen können, bevor Dezentralisierungsprojekte größerer Territorien (Regionen, departamentos) in Angriff genommen werden. In einigen Ländern, beispielsweise in Bolivien, gibt es dazu ermutigende Ansätze. Vielerorts sind die politischen Partizipationsmöglichkeiten auf der Gemeindeebene jedoch zum Teil noch ebenso eingeschränkt wie der Handlungsspielraum der Kommunen, abgesehen von der mangelnden Erfahrung mit kommunaler Selbstverwaltung. Die präsidentialistischen Regierungssysteme bedeuten in der Praxis eine disproportionale, mithin nur eingeschränkt funktionierende Gewaltenteilung zugunsten der Position der Präsidenten; allerdings ist vor einer pauschalen Kritik am Präsidentialismus und dem Plädoyer für einen Parlamentarismus auch die eingeschränkte Funktionsfahigkeit der Parlamente, ihre unzureichende Organisation und personelle wie sachliche Ausstattung sowie insbesondere auch die ungenügende parlamentarische Erfahrung der Abgeordneten und Senatoren in Rechnung zu stellen. Ein zentrales Problem sind die unzureichenden checks and balances zwischen Exekutive und Legislative und fehlende Mechanismen in Regierungs- und Wahlsystemen zur Begünstigung von tragfähigen parlamentarischen und Regierungsmehrheiten. Die Debatte um das Regierungssystem7 - Präsidentialismus versus Parlamentarismus - wird zwar nicht mehr so intensiv geführt wie im Kontext der Verfassungsreformdiskussionen, doch erscheint es unumgänglich, weiter über ein angemessenes Regierungssystem und das Verhältnis zwischen Exekutive und Legislative nachzudenken.8 Eng damit zusammen hängen die Probleme der politischen Parteien, deren Leistungs- und Funktionsfähigkeit eine maßgebliche Bedeutung für den Verlauf des politischen Entwicklungsprozesses hat. Politische Parteien werden in der Regel als wichtige politische Akteure wahrgenommen, allerdings 6 7

Vgl. Hofmeister 1992. Vgl. Nohlen/Fernändez 1991. Vgl. dazu beispielsweise noch einmal den Beitrag von G. Martinez in diesem Band.

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üben sie ihre Funktionen auf höchst unterschiedliche Weise aus. Neben der traditionellen Fragmentierung der Parteiensysteme ist auch in Lateinamerika der weltweite Trend einer Auflösung der Integrations- und Bindefähigkeit der politischen Parteien zu beobachten, was sowohl mit dem Abschleifen oder dem Verlust früherer ideologischer Bastionen als auch einer weit verbreiteten Skepsis hinsichtlich der Problemlösungskapazitäten der politischen Parteien zu tun hat. 9 Diese Entwicklung ist insofern problematisch, als wir einen engen Zusammenhang zwischen funktionsfähigen Parteien und der Konsolidierung von Demokratie unterstellen. Die Chance zur Konsolidierung der Demokratieentwicklung und zur Durchsetzung notwendiger wirtschaftsund sozialpolitischer Reformen hängt in hohem Maße ab von der Performanz der Parteien. Die Förderung von Parteien ist von daher ein wichtiger Beitrag zur politischen Entwicklung.

Die Leistungsfähigkeit

der demokratischen Regierungen ist eingeschränkt.

Der Systemwandel ist in allen Ländern angesichts der schwierigen politischen und sozioökonomischen Rahmenbedingungen mit hohen Anforderungen an die Kompetenz der Regierenden in einer Vielzahl von Aufgabenfeldern verbunden. Dabei hatten in den ersten Jahren nach dem Systemwechsel viele der Zivilisten, die nun erstmals Regierungsverantwortung übernahmen, nur in den wenigsten Fällen Erfahrung in hohen Staats- und Verwaltungsämtern; die Zahl qualifizierter Fachkräfte ist vielerorts weiterhin noch relativ gering. Hinzu kommt, daß die Performanz im Sinne einer effektiven Durchsetzung von Regierungsentscheidungen aufgrund traditioneller Verhaltensweisen der öffentlichen Verwaltung, Schlamperei, Unfähigkeit oder offenen Widerstandes seitens der Exekutivorgane besonders in den "jungen" Demokratien noch erheblich eingeschränkt ist. Etwas anderes sind die von den Regierungen verfolgten Konzepte und Modelle. Die Demokratieentwicklung in Lateinamerika ist mittlerweile in vielen Ländern begleitet von einer Neudefinition der Rolle des Staates, einer Absage an früher vertretene etatistische Entwicklungsvorstellungen und der mehr oder weniger rigiden Anwendung neoliberaler Ordnungskonzepte - eingeVgl. dazu neuerdings Perelli/Picado/Zovatto 1995 und Mainwaring/Scully 1995.

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führt nicht zuletzt auf Druck des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank im Kontext der Bemühungen zur Überwindung der Krise des "Schuldenjahrzehnts". Diese Anpassungspolitiken erfordern ein hohes Maß an Kompetenz und Steuerungskapazität der Regierung, weil sie mit einem einschneidenden Umbau des Staatsapparates und hohen sozialen Kosten verbunden sind. Gelegentlich erschien es schon so, insbesondere aufgrund der chilenischen Erfahrungen, daß nur die Militärs zur Durchführung solcher Prozesse in der Lage wären. Seit einigen Jahren verfestigen sich jedoch die Hinweise, daß auch demokratische Regierungen solche Anpassungspolitiken einigermaßen erfolgreich durchführen können (z. B. in Argentinien oder Bolivien). Das fuhrt die Breite des Anspruchs nach der Leistungsfähigkeit der Regierung deutlich vor Augen. Auch Demokratien müssen sich letztlich über Leistungen legitmieren - unabhängig von ihren im Vergleich mit autoritären Regimen größeren Legitimationsreserven.

Die gesellschaftlichen

Organisationen haben vielerorts an Bedeutung

ver-

loren. Auch früher bedeutendere Organisationen wie die Gewerkschaften oder die Vereinigungen von Studenten und Hochschullehrern, die im Rahmen der Proteste gegen die autoritären Regime und der Einleitung der Demokratisierungsprozesse noch eine wichtige Rolle spielten, haben deutlich an Einfluß verloren. Für die Demokratieentwicklung kann das besonders dann problematisch werden, wenn die Parteien versagen. Andererseits sind mancherorts neue gesellschaftliche Ausdrucksformen zu beobachten, die wichtig für die Förderung von Demokratieprozessen werden können.

Die wirtschaftlichen und sozialen Probleme bleiben

gravierend.

Die soziale Situation ist in den meisten Ländern schwierig und hat sich - mit Ausnahme Chiles - in den letzten Jahren fast überall verschlechtert. Zwar stellt sich die makroökonomische Entwicklung in vielen Ländern durchaus günstig dar, wenngleich sie mancherorts noch prekär ist, doch die Lebenssituation der Menschen verbessert sich nicht. "Der Wirtschaft geht es gut, den Menschen schlecht," sagen viele Lateinamerikaner. Die Armut wächst, und

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der Unterschied zwischen armen und gut situierten Sektoren nimmt zu. Das ist eine schwere Hypothek für die Demokratie. Während der achtziger Jahre hat die Armut in den meisten Ländern der Region zugenommen und die Realeinkommen sanken. Armut und Ungleichheit besitzen zwar eine lange Tradition auf dem Kontinent, doch verhindert das weder die Proteste und Plünderungen der Armen wie vor einiger Zeit in Caracas oder Rio de Janeiro oder Buenos Aires - den früheren Vorzeigestädten des Kontinents (!)

noch dämmt es die Gefahren für die Demokratie ein, die

aus der sozialen Krise erwachsen können. Nicht zuletzt deshalb fordern Weltbank und Währungsfonds neuerdings sozialpolitische Komplementärprogramme zur Abfederung der wirtschaftlichen Strukturanpassungspolitiken. Doch die Verwirklichung solcher Vorhaben mittels neuer sozialpolitischer Konzepte ist noch schwieriger als die Durchführung der marktwirtschaftlichen Reformen, die übrigens dort, wo sie konsequent durchgeführt wurden, wenigstens makroökonomisch relativ erfolgreich waren. Auch wenn die Stabilität von Demokratien nicht allein von wirtschaftlichem Wachstum abhängt, ist diese Herrschaftsform mit sozialer Ungleichheit und extremen Einkommensunterschieden auf Dauer nicht vereinbar.

Korruption und Gewalt bedrohen den demokratischen Prozeß zusätzlich. Auch wenn Korruption und Gewalt zu den traditionellen Stilelementen lateinamerikanischer Politik gehören, scheinen sie in den letzten Jahren eine neue Dimension angenommen zu haben. 10 Die Länder mit den deutlichsten Anzeichen für Korruption oder mit den spektakulärsten Korruptionsfällen sind diejenigen mit den prekärsten demokratischen Verhältnissen: in Kolumbien belastet der Vorwurf, Präsident Samper habe eine Wahlkampagne mit Drogendollars finanziert, den gesamten politischen Prozeß, in Brasilien und Venezuela wurden 1992 und 1993 die Staatspräsidenten wegen Korruption aus ihrem Amt verjagt, in Guatemala hat der Korruptionsvorwurf gegen quasi das gesamte Parlament eine Systemkrise heraufbeschworen, in Peru hatte unter der vorherigen Regierung das Ausmaß an Korruption dermaßen

10

Vgl. dazu die Zeitschrift "Contribuciones", Nr. 1/1996, mit dem Schwerpunktthema Korruption.

III. Zusammenfassung

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zugenommen, daß davon die politischen Institutionen nachhaltig erschüttert wurden. Der Schaden, den die Korruption für den demokratischen Prozeß und für die Entwicklung einer demokratischen politischen Kultur hervorrufen kann, ist nicht geringzuschätzen, scheint aber allmählich deutlicher erkannt zu werden. Die Gewalt zeigt sich ebenfalls in einer neuen mehrschichtigen Dimension." Wurde Gewalt in der Zeit des Autoritarismus vor allem als Herrschaftsinstrument des Staates wahrgenommen oder als "strukturelle Gewalt" diskutiert, so ist es heute die kriminelle Gewalt, die in den Großstädten und/oder im Zusammenhang mit dem Drogenhandel dominiert. Daneben existiert z.B. in El Salvador, Guatemala, Brasilien, Peru staatliche und parastaatliche Gewalt, verkörpert u.a. von den berüchtigten Todesschwadronen, die Menschenrechtsverletzungen hervorbringt und insgesamt der Entwicklung demokratischer Rechtsstaatlichkeit entgegensteht.

Die Eingliederung

der Militärs in die demokratische

Gesellschaft

erweist

sich als mühsam. Das Rollenverständnis der Militärs gegenüber dem demokratischen Staat bleibt vielerorts ambivalent. Zwar haben die Militärs in den meisten Fällen während der autoritären Perioden im wahrsten Sinne "abgewirtschaftet", doch bleibt ihr Vertrauen in die Fähigkeit der demokratischen Regierungen zur Aufrechterhaltung der staatlichen Ordnung ebenso gering wie ihre Neigung zur Schuldanerkennung für die Menschenrechtsverletzungen während ihrer Herrschaftszeiten. Zudem schützen sie nicht selten die Interessen der wirtschaftlichen Eliten, und sie haben darüber hinaus noch wenig Erfahrungen im Zusammenleben mit demokratischen Regierungen. Das alles trägt dazu bei, daß die Militärs sich nur ganz allmählich mit zivilen Regierungen arrangieren und deren Superiorität anerkennen. Auch wenn den Militärs momentan in der Regel wenig Neigung zu autoritären Abenteuern unterstellt wird und der Annäherungsprozeß zur zivilen Gesellschaft langsam voranschreitet, sind sie in den letzten Jahren stärker bei der Bekämpfung des Drogenhandels und der Kriminalität eingesetzt worden, was neue politische 11

Vgl. Waldmann 1994.

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Ambitionen wecken könnte. Insgesamt muß man heute aber die Rolle der Militärs wohl differenzierter sehen. Während sie in Argentinien, Brasilien, Peru oder Mexiko keinen größeren Einfluß zu besitzen scheinen, gelten sie in Ländern wie Nicaragua, Venezuela oder Bolivien zumindest als unberechenbar; in Paraguay und Chile besitzen sie dagegen einen anhaltend hohen Einfluß.

Das Fortbestehen traditioneller

Einstellungsmuster

Personalismus, das Denken in hierarchischen Ordnungen und eine übertrieben expressiv-transzendentale Geisteshaltung sind als kennzeichnende Einstellungsmuster der politischen Kultur Lateinamerikas genannt worden, die trotz der Möglichkeiten einer korrigierenden politischen Sozialsituation, welche Veränderungen in den obwaltenden Ausprägungen jener Elemente anstoßen kann, noch immer "belastend (...) für Entwicklungen in Richtung auf demokratische oder zumindest partizipatorische politische Systeme geblieben ist."12 Die Wandlung der politischen Kultur aber wird sich in dem Maße vollziehen, in dem die demokratischen Ordnungen an Stabilität und Kohärenz hinzugewinnen und Leistungsfähigkeit bei der Lösung der vielschichtigen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Problemstellungen beweisen.

2.

Chancen für die Demokratie

Trotz dieser Belastungen gibt es in Lateinamerika Chancen für die Demokratie, die sich ebenfalls in einigen Thesen zusammenfassen lassen.

Die demokratischen

Ordnungen haben sich trotz aller Schwächen

als haltbar und reformfähig

bisher

erwiesen.

Der demokratische Prozeß der Gegenwart ist einzigartig in der Geschichte Lateinamerikas. Noch nie gab es hier so viele demokratische Regierungen und Systeme. Zudem sind in den vergangenen Jahren in nahezu allen LänMols 1985, S. 132.

III. Zusammenfassung

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dem wichtige politische Verfassungs- und Wirtschaftsreformen durchgeführt worden, was eine bislang kaum für möglich gehaltene Reformfähigkeit der Staaten und der sie tragenden Gruppen beweist. Wichtige Debatten werden beispielsweise über die Veränderung der Regierungssysteme oder die Dezentralisierung der Staaten geführt, und es ist auch, bisweilen vielleicht ein bißchen zu zögerlich, mit ihrer Umsetzung begonnen worden. Dennoch besteht z.B. im Hinblick auf den entwicklungspolitisch so bedeutsamen Parteienbereich noch viel Handlungs- und Modernisierungsbedarf. Schließlich muß die Entwicklung der politischen Institutionen, das haben wir schon vor langer Zeit gelernt, Schritt halten mit der gesellschaftlichen Modernisierung. Die Lücke zwischen beiden Faktoren erscheint heute geringer, auch wenn sie noch lange nicht geschlossen ist.

Der Konsens über das leitende soziopolitische und sozioökonomische wicklungsparadigma ist größer als je zuvor.

Ent-

Mit dem Niedergang des Sozialismus ist auch in Lateinamerika die Anziehungskraft und Akzeptanz von repräsentativer Demokratie und marktwirtschaftlicher Ordnung größer geworden. Die alten ideologischen Konflikte sind weitgehend obsolet geworden, der Konsens über Parteigrenzen ist heute einfacher. Für die Konsolidierung der Demokratie ist das nur förderlich.

Die makroökonomischen Rahmenbedingungen haben sich verbessert. Die wirtschaftliche Performance von Lateinamerika ist heute so gut wie schon lange nicht mehr. Die makroökonomische Situation in bezug auf Exportsteigerung, Inflationsbekämpfung und Reduzierung der Auslandsschulden hat sich in den meisten Ländern deutlich verbessert, wenngleich der angesprochene soziale Problemstau und die weitere Verschlechterung der terms of trade anhaltende Belastungen mit sich bringen. Für die Konsolidierung der Demokratien kommt es jetzt darauf an, die günstigeren makroökonomischen Daten in konkrete soziale Verbesserungen für die Menschen umzuwandeln. Daran wird die Glaubwürdigkeit der demokratischen Systeme gemessen. Ausländische Investitionen können hier eine wirtschafts- und eine demokratiepolitisch wichtige Rolle spielen.

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In engem Kontext dazu steht die wachsende Fähigkeit, Integrations- und Kooperationsprozesse voranzubringen. Am Beispiel des MERCOSUR wird das besonders deutlich. Sofern diese Prozesse, wozu neben bilateralen Abkommen natürlich auch die NAFTA gehört, weiter vorankommen, können sich daraus positive Entwicklungen für die Gesamtregion ergeben.

Mit der Beständigkeit und Effizienz der demokratischen Institutionen bliert und festigt sich eine demokratische politische

eta-

Kultur.

Ein Jahrzent der Demokratie, zumal vor dem Hintergrund der genannten Probleme, ist noch zu wenig für die unerschütterliche Verankerung der demokratischen politischen Kultur. Dennoch ist das Überleben der demokratischen Ordnungen und die Anwendung demokratischer Verfahren, wie sie in Wahlen und Regierungswechseln besonders deutlich zum Ausdruck kommen, ein wichtiges Element zur Schaffung von Legitimität durch Verfahren (Luhmann). Für die Bestärkung einer demokratischen politischen Kultur kann das nur förderlich sein.

3. Perspektiven der Demokratie und Anforderungen an die internationale Zusammenarbeit in Lateinamerika Der Demokratie stehen in Lateinamerika noch immer erhebliche Behinderungen entgegen. Rückschläge in der demokratischen Entwicklung sind daher nicht auszuschließen. Dennoch haben die Akzeptanz von repräsentativer Demokratie und die Entwicklung einer demokratischen Infrastruktur an Kohärenz hinzugewonnen. Ohne hier nur ein monokausales Erklärungsmuster anbieten zu wollen, entsteht doch bei dem Überblick über die Demokratieentwicklung Lateinamerikas der Eindruck, daß dort, wo gefestigte Parteiensysteme vorhanden sind bzw. sich die Parteiensysteme konsolidieren, die größten Chancen für die Demokratie bestehen. Daneben zeigt sich, daß die Leistungsfähigkeit der Regierungen, aber auch die Korruption, die Entwicklung von Demokratie entscheidend beeinflussen und beeinträchtigen kann. Darauf muß eine demokratiefördernde entwicklungspolitische Zusammenarbeit abstellen.

III. Zusammenfassung

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Insgesamt aber erscheinen drei Faktoren besonders wichtig im Hinblick auf die Festsetzung des politischen Systemwandels im Sinne der Konsolidierung von Demokratie.

Die lateinamerikanischen Gesellschaften müssen den Prozeß des Systemwandels selbst voranbringen. Die Lateinamerikaner dürfen in ihren eigenen Anstrengungen zur Realisierung (nicht nur Diskussion) demokratischer Reformen nicht müde werden. Nur wenn der Wille zur Veränderung und zu eigenen Anstrengungen vorhanden ist, kann internationale Kooperation wirksam werden.

Die gesellschaftlichen Eliten müssen an der Verwirklichung von Demokratie tatsächlich interessiert sein. Das Bekenntnis zu Demokratie genügt nicht. Sie kann nur Stabilität erlangen, wenn sie gleichzeitig die Prinzipien von Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit zu verwirklichen sucht. Dabei sind insbesondere die lateinamerikanischen Eliten gefragt, die sich in der Vergangenheit mehr durch soziale Gewissenlosigkeit und Phraseologie auszeichneten als durch wirkliche Bereitschaft und Anstrengungen zur Überwindung der sozialen Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Die Zunahme von "sozialer" Gewalt und Kriminalität zeigt, daß die hergebrachten Formen und Verfahren zur Ruhigstellung

gesell-

schaftlicher Unzufriedenheit und Fehlentwicklungen nicht mehr ausreichen. Sofern nicht große Anstrengungen unternommen werden, um die sozialen Probleme zu lösen - und das bedeutet auch Anstrengungen in Richtung U m verteilung - , wird es keinen Frieden und keine Demokratie geben.

Die internationale Gemeinschaft sollte die Prozesse des Systemwandels und der Errichtung von Demokratie aktiv unterstützen. Dabei kann es selbstverständlich nicht um die Übertragung andernorts konzipierter und angewendeter Modelle gehen. Wichtig scheint aber der Erfahrungsaustausch und der offene Dialog über einzelne Aspekte der politischen

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und gesellschaftlichen Entwicklung. Das kann von der internationalen Zusammenarbeit geleistet werden. Bei der Gestaltung eines solchen Dialogs besitzen sogenannte nichtstaatliche Akteure wie etwa die Konrad-AdenauerStiftung sicherlich mehr Handlungsspielraum und Flexibilität, um auf die Interessen ihrer lateinamerikanischen Partner einzugehen, als es im Rahmen der Zusammenarbeit auf der staatlichen Ebene möglich ist. Handeln müssen aber in jedem Fall die Lateinamerikaner selbst. Die Verwirklichung von Demokratie ist und bleibt die zentrale Voraussetzung zur Überwindung der Unterentwicklung und Verwirklichung von Freiheit und Gerechtigkeit. Demokratie basiert auf der Anerkennung der Menschenrechte und der Öffnung von Möglichkeiten der sozialen und politischen Partizipation. Diese Überzeugung hat in Lateinamerika in den vergangenen Jahren mehr und mehr Anhänger gewonnen. Der politische Systemwandel hat das Ziel, diese Überzeugung in praktische Politik umzusetzen. Der Wandlungsprozeß in Richtung Demokratie ist noch nicht abgeschlossen. Doch es gibt gute Gründe für die Annahme, daß die Demokratie in Lateinamerika sich mehr und mehr stabilisieren kann.

Bibliographie

Hofmeister, Wilhelm 1992: Dezentralisierung in Lateinamerika, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 28/92, S. 3-13. - 1995: La opción por la democracia. El Partido Demócrata Cristiano y el desarrollo político en Chile, 1994-1995, Santiago de Chile. Mainwaring, Scott/Scully, Timothy R. 1995: Building Democratic Institutions. Party Systems in Latin America, Stanford, Cal. Merkel, Wolfgang/Sandschneider, Eberhard/Segert, Dieter 1996: Die Institutionalisierung der Demokratie, in: dies. (Hg.), Systemwechsel 2. Die Institutionalisierung der Demokratie, Opladen. Mols, Manfred 1985: Demokratie in Lateinamerika, Stuttgart u.a.

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Autoren

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Die Autoren Manuel Alcántara Sáez Direktor des Instituto de Estudios de Iberoamérica y Portugal, Universidad de Salamanca/Spanien

Dr. Rafael Guido Béjar Leiter des Fachbereichs Sociología y Ciencias Políticas, Universidad Centroamericana José Simeón Cañas, San Salvador/El Salvador

Dr. Mario Fernández Baeza Politikwissenschaftler, Chefredakteur der Tageszeitung La Época, Santiago de Chile

Dr. Wilhelm Hofmeister Stellv. Leiter des Arbeitsbereichs Internationale Zusammenarbeit Konrad-Adenauer-Stiftung, Sankt Augustin

der

Dr. Carlota Jackisch Leiterin des Bereichs Politische Wissenschaften, Centro Interdisciplinario de Estudios sobre el Desarrollo Latinoamericano (CIEDLA), Buenos Aires/ Argentinien

Dr. Miriam Kornblith Instituto de Estudios Superiores de Administración (IESA) - Centro Políticas Públicas, Caracas/Venezuela

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Autoren

Bolívar Lamounier Direktor des Instituto de Estudios Económicos, Sociais e Políticos de Säo Paulo/Brasilien

Gutenberg Martínez Ocamica Anwalt, Mitglied der Abgeordnetenkammer des chilenischen Parlaments, Santiago de Chile

Prof. Dr. Manfred Mols Direktor des Instituts für Politische Wissenschaften der Johannes-GutenbergUniversität, Mainz

Dr. Detlef Nolte Stellv. Direktor des Instituts für Iberoamerika-Kunde, Hamburg

Dr. Josef Thesing Mitglied der Geschäftsleitung und Leiter des Arbeitsbereichs Internationale Zusammenarbeit der Konrad-Adenauer-Stiftung, Sankt Augustin

Dr. Raúl Valenzuela Lama Universidad del Pacífico, Lima/Peru

René Herrera Zúniga Alcaldía de Managua, Managua/Nicaragua